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German Pages 536 [537] Year 2000
Beiträge zur
Verhaltensforschung
Die von Günter Schmölders 1959 begründete Buchreihe „Beiträge zur Verhaltensforschung 4 ' hatte es sich zum Ziel gesetzt, die vorherrschende, weitgehend deduktiv operierende und den lebensweltlichen Prozessen entrückte Volkswirtschaftslehre mit erfahrungswissenschaftlicher Evidenz über das reale Verhalten der Menschen im Wirtschaftsprozeß zu konfrontieren. Inzwischen, eine Generation später, hat sich die Nationalökonomie vielen in den anderen Sozial- und Verhaltenswissenschaften heimischen Konzepten und Betrachtungsweisen gegenüber geöffnet. Die lebhafte Diskussion um die Logik des kollektiven Handelns, der rationalen Erwartungen und der Wahl zwischen privaten und kollektiven Gütern, die Konzeptionen der spieltheoretischen, der institutionenökonomischen und der produktionstheoretischen Analyse mikroökonomischer Prozesse lassen den Abbau von Berührungsängsten zwischen der Ökonomie und den benachbarten Wissenschaften erkennen. Die „splendid isolation" der Ökonomie ist von außen her durch Methodenkritik, von innen durch Reflexion aufgebrochen worden. Nach wie vor aber bedürfen politikrelevante Konzepte der ökonomischen Theorie wie Angebotsorientierung, Flexibilisierung, Konsumentensouveränität dringend der empirischen Fundierung, Differenzierung und Erprobung, damit sie nicht als pseudopräzise positive Weltbilder - mit der Autorität der Wissenschaft versehen - für Interessenpositionen herhalten müssen. Die ökonomische Verhaltensforschung muß daher die der Wirtschaftswissenschaft immanenten Welt- und Wertvorstellungen, ihre Logik und Struktur ebenso wie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, kritisch untersuchen. Dazu wird sie weiterhin, ganz im Sinne ihres Gründers, mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Prozesse analysieren und bestrebt sein, mit diesen Analysen auch ein außerakademisches Fachpublikum zu erreichen. Wie bisher wird also das Profil der Reihe durch Arbeiten charakterisiert sein, die von dieser methodologischen Orientierung geleitet sind. Die Arbeiten werden darüber hinaus manche inhaltlichen Fragen aufnehmen, die bislang von der ökonomischen Verhaltensforschung weniger beachtet wurden. Die ersten Beiträge der neuen Folge befassen sich mit gesellschaftlichen Problemen und Politikfeldern in den sensiblen Bereichen Umweltschutz, Beschäftigung, Technologiegestaltung, Verbraucherpolitik und Produktentwicklung; sie orientieren sich an dem Triangel Produzenten - Konsumenten - Staat. Wie geht die Konsumgüterindustrie mit einer neuen Schicht unzufriedener und selbstbewußter Kunden um? Wie wirken sich gängige Leitbilder der Wissenschaft in der Praxis wirtschaftspolitischer Beratung aus? Wie werden staatliche Aufrufe und Anreize zur Beschäftigung jugendlicher Arbeitsloser in Unternehmen wahrgenommen und strategisch und organisatorisch umgesetzt? Wirken sich Deklarationen unternehmerischer Verantwortung in realen Strategien des Umwelt- und Ressourcenschutzes aus? Hat der vielbeschworene Wertewandel, die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse Konsequenzen für Lebenspläne, Arbeits- und Konsumstile? Es ist das Ziel der Herausgeber, in dieser Reihe Arbeiten zusammenzufassen, die in zugleich theoriegeleiteter und theoriekritischer, politikbezogener und anwendungsorientierter Weise die Fruchtbarkeit verhaltenswissenschaftlicher Ansätze für die Ökonomie vor Augen führen.
CHRISTIANE LAMBERTY
Reklame in Deutschland 1890-1914
B e i t r ä g e zur Verhaltensforschung Herausgegeben von
Prof. Dr. Meinolf Dierkes, Berlin Prof. Dr. Gerhard Scherhorn, Hohenheim Prof. Dr. Burkhard Striimpel t, Berlin
Heft 38
Reklame in Deutschland 1890-1914 Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung
Von
Christiane Lamberty
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Lamberty, Christiane: Reklame in Deutschland 1890 - 1914 : Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung / von Christiane Lamberty. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Beiträge zur Verhaltensforschung ; H. 38) Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09794-7
D 83 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0522-7194 ISBN 3-428-09794-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Seit 1990 schon beschäftigt mich die Geschichte der Reklame. A m Anfang stand ein Hauptseminar von Karin Hausen. Diese Arbeit stellt nun in leicht überarbeiteter Form meine Dissertation dar, die i m März 1998 am Fachbereich Kommunikations- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Berlin angenommen wurde. Betreut wurde sie von Karin Hausen und Heinz Reif, denen ich hiermit für ihre K r i t i k , ihre beharrlichen Fragen und ihre Geduld danken möchte. Bei Beate Binder, Sybille Brändli und Iris Kronauer stieß ich mit all meinen Gedanken und Fragen stets auf offene Ohren. Sie waren mir eine wertvolle Unterstützung. Ohne ein Promotionsstipendium der Nachwuchsförderung des Landes Berlin hätte ich diese Arbeit nicht realisieren können. Aber auch ohne die große Hilfe und Gelassenheit meiner Familie - Thomas, Laurens und Luise - wäre es bei einer bloßen Idee geblieben. Berlin, i m Dezember 1999
Christiane Lamberty
Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung
13
Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
37
I.
II.
Reklame als Medium der Großstadt
37
1. Reklame auf der Straße
39
2. Die Schauseite der Waren
47
a) Der Anblick der Ware
49
b) Schaufensterbummel
54
Reizüberflutung durch Reklame
59
4
III. Der demokratisierte Einkauf
65
1. Das Warenhaus als »Paradies der Damen' 4
4
2. Vom ,Publikum zur ,Masse - Bilder aus dem Warenhaus IV. Grenzenlose Verführung: Die ,Magazinitis
4
C. Reklame im Geschäftsalltag I.
Waren- und Kaufhäuser
II.
Versandgeschäfte
III. Markenartikel und Automatenverkauf
76 88 96 98 107 109
1. Markenartikel verändern den Einzelhandel
109
2. Das Erscheinungsbild des Markenartikels
114
3. Warenautomaten
123
IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte
V.
65
126
1. Die Kleinstgeschäfte
127
2. Die Spezialgeschäfte
130
Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel
134
VI. Der reklametreibende Kaufmann als neues Selbstbild 1. Fortbildungskurse für Kaufleute
140 141
8
Inhaltsverzeichnis 2. Fachzeitschriften und -bücher
143
3. Der Verband Berliner Spezialgeschäfte als Vorreiter moderner Reklame.... 147 4. Schaufensterwettbewerbe
150
VII. Gesetzliche Reglementierungen der Reklame
155
1. Gesetze gegen den unlauteren Wettbewerb
157
2. Warenhaussteuer
161
D. Neue Medien und ihre Produktion
166
I.
II.
Reklamemedien
166
1. Annoncen
166
2. Kunstdruck- und Luxuspapierwaren
170
a) Kalender, Agenden und Firmenschriften
173
b) Beilage- und Sammelbilder
174
c) Reklamemarken
175
d) Reklamepostkarten
176
e) Kataloge
178
3. Schaufenster und Beleuchtungstechnik
180
4. Plakate
185
5. Firmenschilder, Giebelreklame und Luftbuchstaben
199
a) Firmenschilder
199
b) Giebelreklame und Luftbuchstaben
202
6. Lichtreklame
205
7. Reklamefilme
212
a) Latema Magica
212
b) Reklamefilme
214
Spezialisierte Vermittler
224
1. Annoncenexpeditionen
224
2. Plakatierungsinstitute
230
E. Die Berufszweige der Reklamebranche I.
234
Die Professionalisierung der Spezialisten für Reklameorganisation
234
1. Das Aufgabenfeld und seine Organisation
236
Inhaltsverzeichnis 2. Erste Reklameberater: Ihre Qualifikation und Selbstanpreisung
247
3. Abgrenzungen
258
a) Annoncenexpediteure b) , Reklame-Nepper
4
4. Berufsverbände
II.
258 260 263
a) Die Vereinigung von Reklame-Fachleuten
263
b) Der Verein Deutscher Reklamefachleute (VDR)
264
5. Reklameberuf und Ausbildung
266
Berufe der Reklamegestaltung
273
1. Reklamegraphiker
273
a) Wegbereiter moderner Reklameplakate: Die Kunstanstalt Hollerbaum & Schmidt
278
b) Weitere Werkstätten
283
c) Ausbildungsstätten angewandter Kunst
286
2. Schaufensterdekorateure a) Fachverbände
288 293
aa) Verband der Schaufenster-Dekorateure aller Branchen
293
bb) Verband Künstlerischer Schaufenster-Dekorateure
294
3. Neue Berufe als Chance für Kunstgewerblerinnen III. Zur Charakterisierung der Reklamefachleute
295 307
1. Selbstdarstellungen: Reklamefachleute als Genies, Autodidakten, Großstädter 2. Fremdeinschätzung: Reklamefachleute und Warenhausbesitzer als Verführer der Masse F. Die Einbindung der Reklame in die Kunst
307 314 321
I.
Reklame, Kunst und Kultur: Die Besetzung der Begriffe
323
II.
Reklame und Konsumentenerziehung im Deutschen Werkbund
328
1. Deutsche Werkbund-Ausstellung Köln 1914
335
III. Die Umsetzung der Geschmacksbildung in die Praxis
339
1. Das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe
339
2. Die Vereinigung für Kunst in Handel und Gewerbe
350
10
Inhaltsverzeichnis 3. Vorträge ,Zur Geschmacksbildung des deutschen Kaufmanns'
353
IV. Die Höhere Fachschule für Dekorationskunst
357
V.
362
Das Plädoyer für den Zweck der Reklamekunst
VI. Das wirtschaftliche Interesse an der Geschmacksbildung
365
G. Die Anfange einer Reklamewissenschaft
378
I.
Ansätze im Rahmen zeitungswissenschaftlicher Forschungen
378
II.
Nationalökonomie und Handelswissenschaften
381
1. Die Frage nach der volkswirtschaftliche Funktion der Reklame
383
2. Die Debatte um Sombart 1908
391
3. Reklame als Thema an den Handelshochschulen
396
III. Reklame als Gebiet der Psychologie
405
1. Die Psychologie der (weiblichen) Masse
406
2. Reklamepsychologie in der Psychotechnik
415
H. Reklame als Projektionsfläche der Gesellschaftskritik I.
Reklame und Warenhäuser als Zeichen jüdischer Erwerbsgier
II.
Reklame als Zeichen des ,amerikanischen Kapitalismus4
III. Reklame und Heimatschutz
430 4
431 443 456
1. Reklame als Angriff auf eine intakt gedachte Landschaft
456
2. Gesetze gegen die Verunstaltung der Landschaft
477
I. Schluß
491
Literaturverzeichnis
494
Personen- und Sach wort Verzeichnis
532
Abbildungsverzeichnis Abb.
1 : Spittelmarkt in Berlin um 1909
13
Abb. 2: Odol-Kostüm von 1911
15
Abb. 3 : Farbige und wechselnde Lichtreklame am Potsdamer Platz um 1907
43
Abb. 4: Straßenschilder in Hamburg
46
Abb. 5: Dekoration anläßlich des Schaufensterwettbewerbes in Berlin 1909
53
Abb. 6: Karikatur zum Ladendiebstahl
93
Abb. 7: Das Warenhaus Tietz am Dönhoffplatz in Berlin, um 1912
106
Abb. 8: Glas-und Porzellanhandlung, ca. 1912
128
Abb. 9: Plakat von Lucian Bernhard, 1907/08
197
Abb. 10: Kolonialwarenladen, um 1914
201
Abb. 11: Wallstraße in Berlin, 1907
204
Abb. 12: Lichtreklame in Berlin
208
Abb. 13 : Lichtreklame bei Tag und bei Nacht
210
Abb. 14: Aufnahmen in Pinschewers Studio
217
Abb. 15: Karikatur zur Filmreklame
221
Abb. 16: Anzeige aus einem Frauenhandbuch, 1913
304
Abb. 17: Selbstbildnis von E. Deutsch
312
Abb. 18: Plakat von Willi Roerts, um 1914
332
Abb. 19: Die Ladenstraße
337
Abb. 20: Plakat von J. Gipkens, 1910
344
Abb. 21 : Plakat von W. Deffke, 1912
360
Abb. 22: ,Reklamebefreites' Stadtbild bei Högg
463
Α. Einleitung Unübersehbar prägten Plakatsäulen, Reklamewagen, Schaufenster, Lichtreklamen und riesige Reklameaufbauten auf den Dächern die zentralen Plätze und Kreuzungen im Berlin der Jahrhundertwende. Diese wurden, neben dem dichten Verkehr und der Elektrizität, als Inbegriff moderner Urbanität wahrgenommen. Reklame wurde zu einer Metapher der Großstadt und der Moderne. 1896 gilt in Deutschland als das Jahr des Durchbruchs des modernen Reklameplakats, das Jahr der ersten Lichtreklame, des ersten Reklamefilms, aber auch der ersten einschränkenden Gesetzgebung in Gestalt des ,Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes4. Die expandierende Metropole Berlin war hierbei der Vorreiter in Deutschland. Die wachsende Präsenz der Reklame um 1900 läßt sich an zahlreichen Fotografien ebenso ablesen wie anhand des sprunghaften Anstiegs des Schlagwortes Reklame in Lexika, Stadtführern oder Romanen. Reklame als Attraktion des Neuen taugte selbst als Motto eines Kostümballs, suchte man doch immer wieder nach „ neuen und originellen Einßllen für Fes-
Quelle: Landesbildstelle Berlin
Abb. 1: Spittelmarkt in Berlin um 1909
14
Α. Einleitung
te. Die Firma Odol offerierte 1911 dem Publikum zu Beginn der Ballsaison entsprechende Kostüme. Gegen Einsendung eines an jeder Flasche befestigten Kupons verschickte Odol ein „Originelles Maskenkostüm", das aus „diversen Odol-Plakaten und kleinen Reklame-Gegenständen " 2 kombiniert wurde. Diese Art der Kostümierungen machte Schule. Als die Berliner Freie Studentenschaft 1913 , Reklame4 zum Motto ihres Kostümfestes machte, konnte man Imitate der populärsten Plakate und Inserate bewundern. „ Bis in die späten Morgenstunden tanzten Zigaretten mit Littfass äulen, Bollejungen und -Mädels mit Keksen und Sekt. Im buntesten Wirrwarr stepten die Menschen gewordenen Reklamefiguren. " Die bekannten Plakatzeichner Julius Klinger und Ernst Deutsch trafen dort die „ihren Plakaten entsprungenen Typen"} Klinger notierte, sein Kollege Deutsch habe mit seinen Reklamefiguren einen „ Typ " kreiert, den immer mehr junge Berliner und Berlinerinnen nachahmten. Wie schon 1907 der Zeichner Hajduk mit seiner KaDeWe-Reklame das Aussehen der jungen Großstädter mitbestimmt habe, so präge jetzt Deutsch das „elegante Berlin": „Im Bristol zum Frühstück, im Grand-Gala zum Souper kann man die korrekten Gents und die raffinierten Mondainen im Stile Ernst Deutschs sehen, nur daß die Lebenden die Gezeichneten an Charme bei weitem nicht erreichen können. " 4 Die Reklame veränderte den Alltag. Sie machte das Massenpublikum zum Träger eines neuen (demokratischen) Konsumverhaltens, begleitete den Übergang zu völlig veränderten Geschäftsmethoden und wurde zum Medium einer neuen Ästhetik. Mit der Herstellung und Organisation von Reklame befaßte sich eine neu entstandene, spezialisierte Branche. Diese Neuerungen provozierten Hoffnungen, aber auch Ängste, die ihren Ausdruck in Zivilisationskritik suchten. Reklame war schon um 1900 weit mehr als nur das Anpreisen von Produkten mit dem Ziel der Absatzsteigerung, sie wirkte als Medium für vielfältige Botschaften. Die neuen Formen der Reklame, die zuerst in den Großstädten eingesetzt wurden, faszinierten und ängstigten zugleich, veranlaßten zu Fortschrittseuphorie und -kritik gleichermaßen. Die anhaltenden Debatten um die
1 George Grosz : Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Reinbek 1974, S. 98. 2 Redaktionelle Notiz, in: Zeit im Bild, Heft 5/1911, S.III. (Auch Heft 5 und 6/1912). In wiederholter redaktioneller Reklame, illustriert mit Zeichnungen und Fotos, die die Kostüme zeigten, warb die Firma für diesen ,Service4. Abb. eines ähnlichen Kostüms der Firma Bahlsen von 1912 in: Die Kunst zu Werben, hg. von Susanne Bäumler, Antwerpen 1996, S. 36. 3 Kostümfest der Berliner Freien Studentenschaft, in: Das Plakat, Heft 2/1913, S. 98100. Julius Klinger hielt bei den Studenten vorher einen Vortrag über die Reklame, vg. ebd. S. 98 4 Julius Klinger. Ernst Deutsch, in: Mitteilungen des VDR, Heft 38/1913, S. 83. Das gesamte Heft war Deutsch gewidmet. Haiduk (Hayduk) mit seinen „Reklamekarikaturen " und der Plakatzeichner Julius Klinger wurden zum Vorbild für George Grosz, vgl. Grosz , S. 54; S. 88.
Quelle: Zeit im Bild, Nr. 5/1911, S. III, Staatsbibliothek Berlin
Abb. 2: Odol-Kostüm von 1911
16
Α. Einleitung
Reklame belegten das neue Medium mit den unterschiedlichsten Zuschreibungen und versuchten, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu definieren. Sie waren zugleich immer auch Anlaß, in der Auseinandersetzung mit der Moderne positive wie negative Zukunftsentwürfe zu formulieren. Die Debatten um die Reklame gerieten zur Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen insgesamt.5 Die neuen Möglichkeiten und Wirkungen der Reklame wurden als Argument im umfassenden kultur- und gesellschaftskritischen Diskurs ebenso eingesetzt, wie sie in fortschrittseuphorischen Kommentierungen des gesellschaftlichen Wandels Verwendung fanden. Die Schärfe, mit der diese Diskussionen gerade auch im Hinblick auf Reklame gefuhrt wurden, zeugen davon, daß Reklame als etwas qualitativ Neues wahrgenommen wurde. Was aber machte die Faszination, aber auch das Beängstigende dieser Form der Kommunikation aus, und wie wurde die in den Städten allgegenwärtige Präsenz der Reklameträger auf- und wahrgenommen? Wie wurde sie in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Veränderungen gesetzt? Welche Kritik wurde formuliert und wie wurde der Einsatz der Reklame legitimiert? Welche Bedeutung wurde diesem Medium und seinen Produzenten zugewiesen und wie wurde die Reklame im gesellschaftlichen Kontext gedeutet? In der historischen Forschung sind bislang zwar die veränderten Produktionsbzw. Konsumbedingungen, die ästhetische und künstlerische Gestaltung einzelner Reklameträger und die damit einhergehende Veränderung visueller Gewohnheiten sowie einzelne Reklamekampagnen je einzeln untersucht, kaum miteinander in Beziehung gesetzt worden. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie will durch die Verknüpfung dieser Einzelaspekte herausarbeiten, welche Bedeutungen der Reklame in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugewiesen wurden. Daher wird die Entstehung der modernen Reklame als Phänomen der Jahrhundertwende in dieser Untersuchung unter einer doppelten Fragestellung betrachtet. Zum einen soll der Prozeß der Etablierung dieser neuen Form der Massenkommunikation rekonstruiert werden. Die Reklameträger und ihr Einsatz als Absatzinstrumente werden ebenso untersucht wie die Konstituierung neuer Berufsbilder im Reklamewesen. Zum anderen werden die Diskussionen nachgezeichnet, in deren Verlauf das Für und Wider von Reklame abgewogen wurde. Hier interessieren die Legitimationsstrategien, mit denen die Reklamebranche ihre Existenz und Weiterentwicklung gegenüber der Kritik aus den verschiedensten Richtungen verteidigte. Die Arbeit befaßt sich mit der Ent-
5 In der Forschung wird zwar auf den Stellvertretercharakter der Debatten um die Reklame hingewiesen, doch ist dieser Stell vertretercharakter als Kritik an der Moderne bislang nicht für die Frühzeit der Reklame aufgezeigt worden. Reinhardt erklärt in seiner Arbeit diesen Stellvertretercharakter erst zu einem Phänomen der kultur- und gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen um die Reklame seit den 1950er Jahren, vgl. Dirk Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993, S. 1.
Α. Einleitung
wicklung von 1890 bis 1914 in Deutschland, da in diesem kurzen Zeitraum Professionalisierung und Kritik der Reklame eine entscheidende Phase durchliefen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Zentren der Reklameentwicklung, d. h. die Großstädte und hier besonders Berlin. Zu Beginn dieses Zeitraumes wurden neben der Bezeichnung , Reklame4 nahezu synonym auch die Ausdrücke ,Annonce4, ,Propaganda4 und ,Werbung' verwendet; diese müssen daher zunächst geklärt werden. Folgt man den Ausfuhrungen von Otto Basler und Fritz Redlich, dann kam die Bezeichnung Reklame4 im 19. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche. Entgegen den meisten Herleitungen lägen die Wurzeln des Begriffs nicht in dem Wort ,le réclame4 als Lockruf der Falknersprache, sondern in der Buchdruckersprache. ,La réclame4 bezeichnete ursprünglich bestimmte Satzanordnungen und später auch den entsprechenden Inhalt, nämlich die um 1820 auftauchenden bezahlten Buchbesprechungen.6 In Deutschland war zu dieser Zeit noch die Bezeichnung , Annonce4 üblich, die mehr als nur Zeitungsanzeigen umfaßte. 7 1842 erschien in der Zeitschrift ,Grenzboten4 ein kurzer Artikel über die ,Reclame4. Der Begriff bedurfte zwar noch Erklärungen, war aber schon fest mit „Lobhudelei" 8 und Raffinesse konnotiert. Erst im Laufe der sechziger Jahre, so Basler und Redlich, verbreitete sich die Bezeichnung ,Reklame4 in Deutschland und begann den bisherigen Ausdruck ,Annonce4 abzulösen.9 1864 finden sich in der Allgemeinen deutschen Realenzyklopädie erstmals die Stichworte ,Annonce4 und Reclame4 in einem Lexikon. ,Annonce4, so hieß es dort, sei eine mündliche oder schriftliche Ankündigung an einen größeren Kreis. Für Annoncen, die mit be6 Vgl. auch im folgenden Otto Basler/Fritz Redlich: Reklame, der Begriff und seine Geschichte, in: Preußische Jahrbücher, 1933, Bd. 234, S. 244-251, S. 244 f.; Hugo Schramm: Zur Geschichte der Reclame, in: Hausblätter, Bd. 4/1866, Teil I, S. 227-235, S. 229 beruft sich auf den Falknerterminus. Spätere Begriffserläuterungen beschränken sich auf knappe Ansätze: Vgl. ζ. B. John Schlepkow: Reklame - Propaganda - Werbung. Eine etymologische Studie, Hamburg 1951; Hans Buchli: 6000 Jahre Werbung. Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda, 4 Bände, Berlin 1962-66, Bd. 1, S. 11-47. Erst jüngst erschien ein Aufsatz Heidrun Homburgs, der in einem fundiertem Abschnitt Werbung und Markt in den Definitionen des 19. und 20. Jahrhunderts erfaßt: Heidnin Homburg: Werbung - „Eine Kunst, die gelernt sein will in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1/1997, S. 11-52. 7 Basler/Redlich verweisen auf Max Schlesinger, der 1852 das „Annoncenwesen" in London beschrieb. Dieser faßte unter der Bezeichnung Annoncenwesen alle Formen der Reklame, wie Handzettel, Reklamebeleuchtungen („Feuerannonce" in Schaufenstern, Reklamewagen, Plakate, Anzeigen, Wandmalereien), vgl. Max Schlesinger: Wanderungen durch London, Bd. 1, Berlin 1852, S. 32-45. 8 Reclamen, in: Grenzboten, Jg. 2, Bd. 1/1842, S. 133. Vgl. zur Bedeutung in den vierziger Jahren Otto Ladendorf: Moderne Schlagworte, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 5/1903-04, S. 105-126, S. 120 f.; Wilhelm Feldmann: Büchmanniana und Ladendorfiana, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Bd. 13/1911-12, S. 91106, S. 104 f. 9 Vgl. Basler/Redlich, S. 249 f. Vgl. auch Schramm 1866, Teil I. 2 Lamberty
18
Α. Einleitung
sonderem „Scharfsinn " abgefaßt wurden, um die „Aufmerksamkeit zu fesseln",™ wurde auf den Eintrag ,Reclame' verwiesen. Dieser französische Terminus bezeichne das „bezahlte Lob" und wurde kritisiert: „Diese Rubrik der heutigen Zeitungen gehört nicht unter die erfreulichsten und macht sich über Gebühr breit. Die Charlatanerie des Reclamewesens entspricht ganz der Marktschreierei der Annoncenwirthschaft. " Und man räumte ein: „Auch in Deutschland hat sich der Ausdruck und die Sache eingebürgert. " n Die 1857 von dem Staatswissenschaftler Karl Knies aufgestellte Definition der , Annonce4 machte Schule. Für Knies war die ,Annonce' wesentliches Mittel zur Beeinflussung des Absatzes, da sie Angebote bekannt geben und mit der Nachfrage zusammenfuhren könne.12 Er betonte das wachsende geschäftliche Interesse an der Annonce und ihre steigende Bedeutung für die Zeitungen. Meyers Konversationslexikon folgte 1874 weitgehend dieser Definition. 13 Die Reklame' dagegen sei „die Anwendung mehr oder weniger schlau berechneter Mittel zur Erweckung des öffentlichen Interesses [...]. Trotz der Ausschreitungen des Reklamewesens und des Vorschubs, den es dem Schwindel leistet, ist es ein bedeutendes Kulturmoment unserer Zeit, eine Macht, die sowohl segensreich als auch verhängnisvoll auf den modernen Handel und Wandel einwirkt. " 14 Ahnlich differenziert Brockhaus' Conversationslexikon 1882 deutlich zwischen ,Annonce' und ,Reklame'.15 Neben diesem verbreiteten Verständnis bildete sich im Zeitungswesen in Anlehnung an die bezahlten Buchbesprechungen ein engerer ,terminus technicus' heraus, der zwischen der Annonce als bezahltes, meist gewerbliches Inserat und der Reklame als redaktionellem Beitrag unterschied. 16
10
Art. Annonce, in: Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände, Conversations-Lexikon, Leipzig 1864 (Brockhaus-Verlag). In der vorangegangenen Ausgabe von 1851 findet sich weder ein Eintrag zur Reklame (Reclame), noch zur Annonce oder Anzeige. 11 Art. Reclame, in: Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände, Conversations-Lexikon, Leipzig 1867. 12 Vgl. Karl Knies: Der Telegraph als Verkehrsmittel. Mit Erörterungen über den Nachrichtenverkehr überhaupt, Tübingen 1857, S. 50 ff. Fast wortwörtlich aufgenommen bei Rudolf Cronau: Das Buch der Reklame. Geschichte, Wesen und Praxis der Reklame, Abt. 1-5, Ulm 1887, S. 55, und C. von Dillmann: Die Presse im Dienste des Kaufmanns, in: Moderne Reklame. Separatabdruck bemerkenswerter Fachartikel, Feuilletons und Notizen über Reklamemittel und Reklamestückchen der verschiedensten Art aus der Fachzeitschrift ,Die Reklame', hg. von Robert Exner, Zittau 1892, S. 21-27, S. 22. Auch das Reklame-Lexikon, hg. von Hans Heinz Moor, Kattowitz/Breslau/Leipzig 1908, S. 5 f., bezog sich noch auf die Definition Knies'. 13 Art. Annonce, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig 1874 f. 14 Art. Reklame, in: ebd. Dieser Abschnitt findet sich nahezu wortgleich noch in der Ausgabe von 1906. 15 Vgl. Art. Annonce, in: Brockhaus' Conversationslexikon, Leipzig 1882. Ähnlich der Art. Annonce, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig/Wien 1906 f. 16 Vgl. Basler/Redlich, S. 250 f. Siehe auch Kap. C. I.
Α. Einleitung
Die enge Rückführung der , Reklame4 auf den Bereich der Anzeigen war bis weit in die neunziger Jahren üblich. Zahlreiche Auflistungen der Reklamearten unterschieden zwischen der Reklame als Anzeige und der Schaufensterdekoration. 17 Mit dem vermehrten Einsatz von Reklame hielt nach der Jahrhundertwende eine neutralere Definition in den Lexika Einzug. Herders KonversationsLexikon definierte 1909: „Bekanntmachung geschäftlicher Art zum Anlocken von Kunden, nahm, mit Anwendung besonderer Kunstgriffe, wie ungewöhnliche Größe, Gebrauch von Schlagwörtern, Vermeidung der Annoncenform etc. Das R.wesen hat im modernen Geschäftsverkehr einen gewaltigen Umfang angenommen. " Gleichzeitig tragen Hinweise auf die wichtigsten Reklamemittel, auf „besondere R.abteilungen" in den großen Firmen und den neuen Beruf der „ R.anwälte" ]8 der neuentstandenen Reklamebranche Rechnung. Nahezu synonym zum Begriff ,Reklame4 tauchte kurz vor 1900 zusätzlich die Bezeichnung propaganda 4 als geläufiger Terminus der Geschäftssprache auf. 19 Meyers Konversationslexikon hielt 1909 fest: „Der Ausdruck Ρ. ist neuerdings auch in die Geschäftssprache übergegangen und bedeutet hier die Gesamtheit der zur Verbreitung von Erzeugnissen (Waren, Schriften) erforderlichen Mittel (Anzeigen, Reklame etc.). " 2 0 Dieser Eintrag könnte eine Reaktion auf die 1897 gegründete Fachzeitschrift ,Die Propaganda4 bzw. auf die Praxis einiger Firmen sein, ihre Reklameabteilungen in Propagandaabteilung umzubenennen. Sie verstanden darunter eine geschmackvollere und vornehmere Art zu werben. 21 Auch für das, was heute als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnet wird, 17
Vgl. z.B. Max Horwitz: Berliner Straßenreklame, in: Moderne Reklame 1892, S. 69-75, S. 70. Er unterschied zwischen der Schaufensterdekoration und der „Kunst des Anzeigens und der Reklame", wobei sich die Reklame aus der Anzeige entwickelt habe. 18 Art. Reklame, in: Herders Konversations-Lexikon, Freiburg 1909. 19 Ursprünglich wurde der Ausdruck propaganda' von der katholischen Kirche für die Verbreitung des christlichen Glaubens verwendet. Daneben bildete sich eine politische Definition heraus, angelehnt an den Propaganda-Begriff der Französischen Revolution. Dieser Terminus war in Deutschland wegen seines verschwörerischen Charakters negativ besetzt, und diese Verknüpfung galt auch für die politische Propaganda des Vormärz und der Jahre 1848/49, vgl. Wolfgang Schieder/Christof Dipper. Propaganda, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1984, S. 69-112, S. 77 ff. Von Sozialdemokraten wurde folglich der Ausdruck propaganda4 vermieden und statt dessen ,Agitation4 verwendet, vgl. ebd., S. 96. Die politischen Assoziationen, die wir heute mit propaganda' verbinden, spielten vor dem Ersten Weltkrieg keine Rolle. 20 Art. Propaganda, in: Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1909. 21 Propaganda. Zeitschrift für das Reklame-, Inseraten-, Plakat-, Ausstellungs-, Offerten-, Adressen- und Zeitungswesen. Mit der Beilage: Internationale Plakatgalerie. Mitteilungen über Insertionsmittel, hg. von Robert Exner, Berlin, Jg. 1/1897-98 f. Auch der neue Ausdruck des Propagandafachmannes löste häufig den älteren des Reklamefachmannes ab, obwohl sich an dem Inhalt der Arbeit nichts Entscheidendes geändert hatte. Die Verschiebung in der Berufsbezeichnung läßt sich gut an den Stellenanzeigen in der Zeitschrift,Organisation' verfolgen.
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wurde der Ausdruck ,Reklame4 durch propaganda 4 ersetzt. 22 Allerdings unterschieden sich der Umfang und die Art dessen, was die jeweilige Bezeichnung umfassen sollte. Reklame, so ein Autor der Organisation 4 , ziele „auf die Beeinflussung der großen Masse. " Dazu werden Mittel wie Anzeigen, Plakate oder Lichtreklame eingesetzt, propaganda 4 dagegen wende sich an kleine Gruppen und Einzelpersonen. „Propaganda packt den Einzelnen — Reklame packt die Masse. " 23 Seit 1910 fand neben ,Reklame4 und Propaganda 4 auch der Ausdruck Werbung4 breitere Verwendung. Er wurde vor allem durch den Werbefachmann Hans Weidenmüller propagiert, der versuchte, eine Reform der Reklamesprache einzuleiten. , Werbung 4 wurde dabei ähnlich bewertet wie der Ausdruck Propaganda4. Beide dienten der Distanzierung von der negativ konnotierten ,Reklame4 und beanspruchten für sich Wissenschaftlichkeit und Klarheit in Inhalt und Form. ,Werbung 4, so Weidenmüller, sei der dem Fortschritt auf diesem Gebiet adäquatere Begriff; ,Reklame4 dagegen sei durch „unwissenschaftlichen Gebrauch so vergriffen und abgenutzt worden, daß seine Grenzen heute völlig verwaschen und undeutlich sind [...], die wissenschaftliche Werbelehre tut gut daran, diesen gehaltlosen erweichten Begriff nicht weiter zu fuhren. " Auch sei der Ausdruck wenig praktikabel, er könne „ebensogut das einzelne Werbstück oder die einzelne Werbeangelegenheit bedeuten wie das gesamte Werbewesen. " 2 4 ,Werbung 4 dagegen lasse sich vielfältig und dadurch sehr spezifisch als Substantiv und Adjektiv kombinieren, auch ein entsprechendes Verb stehe zur Verfügung. Durch zahlreiche Publikationen und die Übernahme der Redaktion der wichtigsten Fachzeitschrift 1914 trug Weidenmüller entscheidend zu der Verbreitung des Terminus' »Werbung4 bei. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Verwendung dieser Bezeichnung zu, auch, weil diese eine Eindeutschung bedeutete.25 Besonders dem Werkbund nahestehende Reklamefachleute zogen den Ausdruck vor. Die Bezeichnung ,Reklame4 blieb allerdings bis 1933 durchaus üblich. Als der am häufigsten und trotz aller Anfeindungen
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So sprach sich Ignaz Jastrow, Professor für Staatswissenschaften, dafür aus, den schlecht konnotierten Terminus ,Reklame4, den man bisher für das Bekanntmachen einer Verbandstätigkeit verwendet hatte, durch den Begriff Propaganda4 zu ersetzen, vgl. Ignaz Jastrow. Die Reklame im Dienst der allgemeinen öffentlichen Arbeitsnachweise, Berlin 1906, S. 76. Schieder/Dipper vermuten, daß der Begriff erst durch diese positive Umwertung durch seine Verwendung in der Geschäftssprache wieder frei wurde für eine erneuerte, weniger negativ konnotierte politische Verwendung, vgl. Schieder/Dipper, S. 70. 23 Unterschied zwischen Reklame und Propaganda, in: Organisation, Nr. 10/1912, S. 260. Vgl. auch Das literarische Büreau eines Grossbetriebes, in: Volkswirtschaftliche Blätter, Heft 11-12/1907, S. 222. 24 Hans Weidenmüller: Beiträge zur Werbelehre, Werdau 1912, S. 61 f. 25 Für Weidenmüller spielte dieser Aspekt nur eine untergeordnete Rolle, vgl. ebd., S. 64.
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auch von der Branche selbst gebrauchte Begriff wird ,Reklame4 auch von mir genutzt. Der Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland einsetzende ,Reklame-Boom4 ist eingebunden in den säkularen Prozeß der Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung. Die Reklame entfaltete sich im Zuge der Liberalisierung der Wirtschaft und wurde um so unverzichtbarer, je mehr die Märkte sich ausweiteten und das Warenangebot diversifizierter und massenhafter wurde. Die Depression nach 1873 machte den Unternehmern die Bedeutung neuer oder verbesserter Absatzstrategien deutlich. Mit der industriellen Massenproduktion erhielt die Reklame eine notwendige Funktion in der Kommunikation zwischen Produzenten und Kunden. Veränderungen in der Produktion zogen neue Absatzformen nach sich. Allein schon die räumliche Distanz zwischen Fabrikations- und Absatzort erforderte das Einschalten des Handels. Das im 19. Jahrhundert entscheidend ausgebaute und verbesserte Transportwesen brachte dem Verbraucher zum Teil völlig neue Waren. 26 Mit verbesserten Kühlsystemen konnten Fleisch und Milchprodukte über weite Distanzen transportiert werden. Neues Wissen im Vertrieb war gefragt und das Verhältnis des ehemals eigenständigen Händlers zum Produzenten änderte sich grundlegend. Besonders die rasch wachsende Markenartikelindustrie versuchte Einfluß auf den Vertrieb zu nehmen. In der Reklame kam es in Form und Strategie zu einem quantitativen und qualitativen Bruch. Systematische Reklamekampagnen lösten sporadische Anzeigen ab. Markenartikelproduzenten, vor allem von Nahrungs- und Genußmitteln, aber auch Waren- und Versandhäuser gehörten seit den neunziger Jahren zu den Vorreitern umfassender Reklame. Der Historiker Fritz Redlich sah 1935 in der Reklame die der Massenproduktion adäquate Absatzmethode, um das Massenpublikum zu gewinnen. Wenn ein „großer, gleichartiger Käuferkreis zu Gunsten nicht zu geringwertiger Massenerzeugnisse bearbeitet werden muß" und eine kollektive „Bearbeitung" 21 dieser potentiellen Käuferschar kostensparender als eine individuelle Bearbeitung erscheine, dann biete sich die Reklame als Absatzmethode an. Zu der Massenproduktion trete der Käufer als Massenerscheinung. Je größer die Käufermasse in ihrer Einheitlichkeit, desto eher greife die Reklame als billige Absatzmethode. Im Durchschnitt stiegen die Realeinkommen der privaten Haushalte und die Nachfrage nach Konsumgütern, wenn auch nicht alle Schichten an diesem Wohlstand partizipierten. Zugleich führte eine veränderte Erwerbsstruktur und die zunehmende Verstädterung zu einschneidenden Veränderungen im Kon-
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Vgl. Karl Oldenberg: Die Konsumption, in: Grundriß der Sozialökonomie, Bd. 2, bearb. von Fr. von Gottl-Ottilienfeld u. a., Tübingen 1914, S. 103-164, S. 149 ff. 27 Fritz Redlich: Reklame. Begriff - Geschichte - Theorie, Stuttgart 1935, S. 7.
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sumverhalten. 28 Ein wachsender Teil des Einkommens wurde für andere Dinge als die reine Subsistenz ausgegeben und zur Bedarfsdeckung auch der Grundbedürftiisse konnte zwischen verschiedenen Anbietern und Waren gewählt werden. Die Ausgaben für Kleidung, Möbel und Freizeitvergnügungen wuchsen. Auch wenn der relative Teil des Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wurde, nicht anstieg, so nahm er doch absolut zu und wurde für andere Produkte als bislang verwendet. 29 In den städtischen Haushalten wurde der Bedarf an fertigen oder halbfertigen Waren, vor allem Lebensmittel und Kleidung, immer ausschließlicher über den Handel befriedigt. 30 Käufer nutzten die neuen Verkehrsmittel, um die neuen Geschäftsviertel der Städte zu erreichen. Parallel zu den Waren, die auf die knappere Zeiteinteilung abgestimmt waren, 31 stieg allerdings auch das Maß der Freizeit, wovon Branchen wie Vergnügungsinstitutionen, Sportartikelproduzenten und Reiseveranstalter profitierten. Die Reklame reagierte auf den neuen Lebensstil und prägte ihn gleichzeitig mit. Nicht mehr lediglich das Vorhandensein, die Verfügbarkeit einer Ware wurde angekündigt, sondern ihr Gebrauch im Rahmen der neuen Anforderungen eines gewandelten Lebensstils propagiert. Reklame trug dazu bei, diesen Lebensstil zu definieren und band ihn eng an den Besitz bestimmter Produkte. 32 Weiter trug die Reklame zu einer Vereinheitlichung des bisweilen rasch wechselnden Geschmacks bei. Schließlich zeichneten sich im Handel selbst vielfaltige Veränderungen ab. Gewerbefreiheit, Urbanisierung und Bevölkerungszunahme zogen ein rasches Anwachsen der Zahl und Größe von Geschäften aller Art nach sich. Zwischen 1882 und 1907 stieg die Anzahl der Handelsbetriebe im Deutschen Reich insgesamt von 616.836 auf 1.088.298. Die Zahl der dort arbeitenden Personen
28 Zahlen bei Walter G. Hoffmann : Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 176 f. 29 Vgl. hierzu ebd. S. 115 f.; W. Hamish Fräser. The Coming of the Mass Market 1850-1914, London 1981, v. a. S. 27 ff. 30 Vgl. Julius Hirsch: Der moderne Handel, seine Organisation und Formen und die staatliche Binnenhandelspolitik, Tübingen 1925, S. 9. 31 Korff nennt als Beispiel die Zigarette und das Flaschenbier, vgl. Gottfried Korff. Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ,inneren Urbanisierung1, in: Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, hg. von Hermann Bausinger/Theodor Kohlmann, Berlin 1985, S. 343-361, S. 349 ff. 32 Vgl. auch Robert Gellately: Zur Entstehungsgeschichte der Massenkonsumgesellschaft Deutschlands: Der Kleinhandelsmarkt, 1871-1914, in: Tradition und Neubeginn. Internationale Forschungen zur Deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Joachim Hütter u.a., Köln 1975, S. 467-480, S. 472. Die einen bestimmten Lebenstil vermittelnden Inhalte der Reklame machen einige Aufsätze der Bände Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, hg. von Peter Borscheid/Clemens Wischermann, Stuttgart 1995, und Die Kunst zu Werben zum Inhalt.
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wuchs von 838.392 auf 2.063.635.33 1837 kamen 33 Geschäfte auf 10.000 Einwohner, 1861 schon 44, 1895 dann 77. 34 Im Vergleich mit anderen Bereichen der Wirtschaft zeigte der Handel die stärkste Zunahme. Die Neuorganisation im Handel führte zur Differenzierung. Es entstanden einzelne Spezialgeschäfte für Tabak, Kaffee, Blumen, Haushaltswaren, Delikatessen etc.35 Sombart rechnete auch die gegenläufige Tendenz, das Zusammenfassen mehrerer Branchen in einem Warenhaus sowie die Ausschaltung des Detailhandels durch Einkaufsgenossenschaften oder Filialen großer Firmen dieser Neuorganisation zu. 36 Mit der wachsenden Konkurrenz erhielt die Reklame als Absatzinstrument einen immer größeren Stellenwert. Zur Frühzeit der Reklame in Deutschland sind in den letzten 15 Jahren eine Reihe von Untersuchungen zu Einzelaspekten erschienen. In seinem Blick auf die Reklame als umfassendes Phänomen hat bislang einzig Dirk Reinhardt 1993 an die frühen Arbeiten der Reklamegeschichtsschreibung angeknüpft. 37 Er begreift seine Untersuchung explizit als sozialwissenschaftlich orientierten Beitrag zur Kommunikationsgeschichte und verfolgt das Ziel, die kommunikative Struktur der Werbung offenzulegen. Diese Struktur interpretiert er als Beispiel für die Wandlungen der gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen. 38 Aufgrund des großen Zeitraums und des Versuchs, große Entwicklungslinien zu zeichnen, beschränkt sich seine Analyse der Frühzeit jedoch auf einen rein phänomenologischen Zugriff. 33 Vgl. Hirsch S. 20. Während es 1882 300.655 und 1907 318.300 Alleinbetriebe gab, stieg die Zahl der Betriebe, die mehr als 5 Personen beschäftigten im gleichen Zeitraum von 12.286 auf 51.362 mit insgesamt 763.695 Beschäftigen, vgl. Emil Lederer. Mittelstandsbewegung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Edgar Jaffé, Tübingen, Bd. 31/1910, S. 970-1026, S. 975. 34 Vgl. Josef Wein: Die Verbandsbildung im Einzelhandel. Mittelstandsbewegung, Organisationen der Großbetriebe, Fachverbände, Genossenschaften und Spitzenverband, Berlin 1968, S. 28 f. 35 Vgl. Hirsch, S. 230. 36 Vgl. Werner Sombart: Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel, in: Verhandlungen der am 25., 26. und 27. September 1899 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 88. Bd.), Leipzig 1900, S. 137-157, S. 152 f. 37 Dirk Reinhardt: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993. Bei den älteren Arbeiten handelt es sich um Victor Mataja: Die Reklame. Eine Untersuchung über Ankündigungswesen und Werbetätigkeit im Geschäftsleben, München 1910 (4., überarbeitete Auflage 1926) und Fritz Redlich: Reklame. Begriff - Geschichte - Theorie, Stuttgart 1935. Theodor Geigers ,Kritik af Reklamen4, Kopenhagen 1943, ist bislang nur auszugsweise auf deutsch erschienen. Neuere Sammelbände sind Bilderwelt des Alltags; Die Kunst zu Werben. Unter wirtschaftgeschichtlichen Aspekten der von Karin Hausen herausgegebene Band Werbung des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1/1997, sowie die letzten Jahrgänge der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. 38 Reinhardt, S. 17 f.
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Α. Einleitung
Zahlreich sind die Arbeiten zu einzelnen Reklameträgern. Etliche kunst- oder technikgeschichtliche Forschungen haben einzelne pittoreske Formen des Plakates, der Blechdose oder des Sammelbildes zum Thema.39 Seit den frühen achtziger Jahren thematisieren Volkskunde- und Kunstgewerbemuseen die Reklame als Teil der industriellen Alltagskultur, zunächst allerdings vorwiegend als Illustration der ständigen Ausstellungen, seltener unter eigenen Fragestellungen.40 Die Erforschung des frühen Films steckt noch in den Anfangen und richtet das Augenmerk fast ausschließlich auf den ,Kunstfilm'. 41 Zu weiteren Reklameträgern, wie Schaufenstern oder der frühen Lichtreklame fehlen Arbeiten. Für die künstlerische Gestaltung der Reklame kann auf Untersuchungen 39
Grundlegend zur Plakatkunst: Hanna Gagel·. Studien zur Motivgeschichte des deutschen Plakates 1900-1914, Diss. FU Berlin 1971; Plakate in München, Ausstellungskatalog, München 1975; Das frühe Plakat in Europa und den USA, Ein Bestandskatalog, hg. von Klaus Popitz u. a., Bd. 3, Teil 1 und 2, Berlin 1980; Ludwig Hohlwein. Plakate der Jahre 1906-1940 aus der Graphischen Sammlung Staatsgalerie Stuttgart. Bestandskatalog bearbeitet von Christian Schneegras, Stuttgart 1985; Plakate 1880-1914. Inventarkatalog der Plakatsammlung des Historischen Museums Frankfurt, hg. von Viktoria Schmidt-Linsenhoff u. a., Frankfurt a. M. 1986. Zur Einbeziehung von Inseraten: Henriette Väth-Hinz: Odol. Reklame-Kunst um 1900, Gießen 1985. Unter Einbeziehung biographischer Aspekte: Anita Kühnel: Julius Klinger. Plakatkünstler und Zeichner (Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin, Heft 89), Berlin 1997. Mit der Aufnahme des firmengeschichtlichen Hintergrundes: Klaus Popitz: Syndetikon. Eine kleine Firma macht große Reklame, Berlin 1978. Zur Blechreklame: Ulrich Feuerhorst/Holger Steinle: Die bunte Verführung. Zur Geschichte der Blechreklame, Berlin 1985; Sylke Wunderlich: Emailplakate. Ein internationaler historischer Überblick, Leipzig 1991; Email-Reklameschilder von 1900 bis 1960, hg. vom Museum für Gestaltung Zürich/Kunstgewerbemuseum, Zürich 1986, S. 226-273. 40 Die schöne Hülle. Zur Geschichte und Ästhetik der Verpackung. Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen, Redaktion: Michael Dauskardt/Hans-Georg Schmeling, Göttingen 1982; „Mein Feld ist die Welt" - Musterbücher und Kataloge 1784-1914, Katalog zur Ausstellung des Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, hg. von Ottfried Dascher, Dortmund 1984; Eugen Leitherer/Hans Wichmann: Reiz und Hülle, gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel/Boston/Stuttgart 1987. Das Württembergische Landesmuseum verfügt mittlerweile über einen eigenen Sammlungsbereich Reklame, vgl. Gaby Mentges: Volkskundliche Sammlungsstrategien im Bereich der industriellen Alltagskultur, in: Museumsmagazin 5, hg: v. d. Landesstelle für Museumsbetreuung Baden-Württemberg, Stuttgart 1992, S. 53-62. Im Dresdner Hygienemuseum fand eine Ausstellung zu ,Odol4 statt: In aller Munde. Einhundert Jahre Odol, hg. von Martin Roth/Manfred Scheske/Hans-Christian Täubrich, Dresden 1993; Thomas Gubig/Sebastian Kopeke: Clorodont: Biographie eines deutschen Markenproduktes, Dresden 1994. 41 Zur schwierigen Quellenlage und dem durch die Forschungen verstellten Blick auf die meist abgewertete Frühzeit und den neuesten Forschungsansätzen vgl. Thomas Elsaesser: Wilhelminisches Kino: Stil und Industrie, in: KINtop 1. Früher Film in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 10-28. Zum Reklamefilm: Ingrid Westbrock: Der Werbefilm. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Genres vom Stummfilm zum frühen Ton- und Farbfilm, Hildesheim/Zürich/New York 1983; Harald Pulch: Werbefilm im Wandel. Zur Geschichte des deutschen Werbefilms, in: Die Kunst zu werben 1996, S. 371-382.
Α. Einleitung
zum Deutschen Werkbund oder zum Deutschen Museum für Kunst in Handel und Gewerbe und dessen Sammlung künstlerischer Reklame zurückgegriffen werden. 42 Die Kooperation dieser Initiativen mit Vertretern der Reklamebranche blieb in diesen Arbeiten jedoch ausgeklammert. In der Medienwissenschaft ist zwar seit längerem ein Interesse für Medien- oder Kommunikationsgeschichte festzustellen, die frühe Reklame wird dabei jedoch vernachlässigt. Einzig zu den Anzeigen und ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die Presse gibt es Arbeiten. 43 Für die Frage nach der Perzeption des neuen Massenmediums im Rahmen der visuellen Großstadtwahrnehmung der Jahrhundertwende gibt es bislang nur erste methodische Versuche. 44 Eine zweite, vorwiegend volkskundlich orientierte Gruppe von Forschungen befaßt sich mit den Inhalten, die durch die Reklame vermittelt werden. Hier steht vor allem die Durchsetzung einzelner Hygieneartikel und Lebensmittel im Mittelpunkt des Interesses.45 Beiträge in den neueren Sammelbänden zur Re42
Sebastian Müller. Industrialisierung und angewandte Kunst. Deutscher Werkbund zwischen 1907 und 1914, Diss. Bochum 1969; Packeis und Pressglas. Von der Kunstgewerbe-Bewegung zum Deutschen Werkbund, hg. von Angelika Thiekötter/Eckard SiepStein: Markenware - Werkbundmarke. mann, Gießen 1987; Angelika Thiekötter/Laurie Der Deutsche Werkbund, in: Die Kunst zu werben 1996, S. 241-249. Karl Ernst Osthaus. Leben und Werk, hg. von Herta Hesse-Frielinghaus, Recklinghausen 1971; Der westdeutsche Impuls 1900-1914. Von der Künstlerseide zur Industriefotografie. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet, Bd. 3. Hagen. Die Folkwang-Idee des Karl Ernst Osthaus, Hagen 1984. 1997 wurde eine große Ausstellung über dieses Museum eröffnet, vgl. den Begleitband Deutsches Museum für Kunst in Handel und Gewerbe 1909-1919, hg. vom Kaiser Wilhelm Museum Krefeld und Karl Ernst Osthaus-Museum der Stadt Hagen, Antwerpen 1997. 43 Dieses Thema gehört allerdings zu den ersten Themen der Zeitungswissenschaft, nachdem zuvor sich die Nationalökonomie damit beschäftigt hatte. Auch der Beginn der Anzeigenwerbung ist untersucht, z. B. Josef Peter Bachem: Das Eindringen der Reklame in die deutschen politischen Tageszeitungen, Köln 1929; Hans-Heinz Meissner. Das Inserat in den großen deutschen politischen Tageszeitungen von 1850 bis 1870, Diss. Leipzig 1931. 44 Arbeiten zur Großstadtwahrnehmung beziehen sich in der Regel auf Armut, Hygiene, Wohnungswesen oder Verkehr. Zu einem neuen methodischen Vorgehen Alexandre Métraux : Lichtbesessenheit. Zur Archäologie der Wahrnehmung im Urbanen Milieu, in: Die Großstadt als Text, hg. von Manfred Smuda, München 1992, S. 13-35. Einen semiohistorischen Ansatz vertritt Sabine Guckel-Seitz für die ,Zeichen der Stadt' (einschließlich der Reklame), vgl. Sabine Guckel-Seitz: Stadtreklame als Text. Die(se) Geschichte mit der Semiotik, in: Werkstatt-Geschichte 7/1994. Diskurs-Experimente, S. 1830. 1996 wurden auf der ,Third International Conference on Urban History' in Budapest Arbeiten vorgestellt, die die Reklame als Großstadtphänomen näher beleuchten, vgl. Stefan Haas: Geschichte der Werbung als Kulturgeschichte der Großstadt (Tagungsbericht), in: IMS. Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Berlin Heft 2/ 1996, S. 40-43. 45 Z. B. ,Das strahlenste Weiss meines Lebens'. Waschmittelwerbung im Wandel der Zeit, Ausstellungskatalog, hg. vom Staatsarchiv Bremen 1983; Ulf Biedermann: Ein amerikanischer Traum. Coca-Cola: Die unglaubliche Geschichte eines 100-jährigen Erfolges, Hamburg/Zürich 1985; Kirsten Schlegel-Matthies: Anfänge der modernen Lebens- und Genußmittelwerbung: Produkte und Konsumgruppen im Spiegel von Zeitschriftenannon-
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Α. Einleitung
klamegeschichte befassen sich ebenfalls mit einzelnen Reklamekampagnen.46 Obwohl in der neueren Forschung zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge4 angerissen, fehlt in diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Analyse der Reklame als Vermittlungsform zwischen Ware und Verbraucher. 47 Entscheidend fur das zögernde Herangehen der historischen Forschung an Fragen nach Absatz und Konsum war lange der vorherrschende Blick auf die Produktion. Im Bereich der historischen Konsumforschung herrschte lange Zeit eine klare Trennung in Distribution einerseits und in Konsum als Warenverbrauch im engeren Sinne andererseits. Letzteres wurde seit langem vor allem in Hinblick auf Veränderungen im Ernährungsverhalten untersucht. Die Kulturgeschichte des (Massen-)Konsums4 unter Einbeziehung der Reklame ist erst jüngst zum Forschungsgebiet der Historiker und Volkskundler geworden. 48 Ebenso hinkte die Forschung zur Entwicklung des Handels und seiner Berufe bislang den Arbeiten zur Industrie und Produktion deutlich hinterher. 49 Eine
cen, in: Durchbruch zum Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, hg. von Hans Jürgen Teuteberg, Münster 1987, S. 277-308; Friedrich Orend: Henriette Davidis und Liebig. Erfindung und Vermarktung, in: Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und Bürgerliches Frauen Verständnis im 19. Jahrhundert, hg. vom Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Oberhausen 1988, S. 167-176; Hans Jürgen Teuteberg: Entwicklung und Funktionen der Lebensmittelwerbung, in: Medien und Emährungsverhalten. Beeinflußung durch Information und Kommunikation, hg. von Sigrid Weggemann, Frankfurt a. Μ. 1989, S. 17-31; Gaby Mentges: ,Gesund, bequem und praktisch' oder die Ideologie der Zweckmäßigkeit. Strategien der Konfektionsindustrie zu Anfang des 20. Jahrhunderts am Beispiel der württembergischen Firma Bleyle, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung, Bd. 25/1989, S. 131-152. 46 Vgl. Bilderwelt des Alltags; Die Kunst zu Werben. Zur Problematik solch einzeln untersuchter Reklamekampagnen vgl. Konrad Dussel: Wundermittel Werbegeschichte? Werbung als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur, Jg. 42/1997, S. 416-430. 47 Vgl. Wolfgang Ruppert: Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, in: Fahrrad, Auto, Femsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, hg. von Wolfgang Ruppert, Frankfurt a. M. 1993, S. 14-36, S. 35. 48 Durchbruch zum modernen Massenkonsum, hg. von Hans Jürgen Teuteberg, Münster 1987. Kurzer Forschungsstand bei Wolfgang Kaschuba: Konsum - Lebensstil Bedürfnis. Zum Problem materieller Indikatoren in der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, in: Sozial wissenschaftliche Informationen, Siegen, Jg. 17. Heft 3/1988, S. 133138; Michael Wildt: Am Beginn der Konsumgesellschaft'. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994; Konsumgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, hg. von Helmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hannes Siegrist, Frankfurt a. M./New York 1997. 49 Zu dieser Einschätzung kommt auch Hans Jaeger. Untemehmensgeschichte in Deutschland seit 1945. Schwerpunkte - Tendenzen - Ergebnisse, in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 1/1992, S. 107-132, S. 112; S. 120. Als sozialgeschichtliche Arbeiten: Heinz-Gerhard Haupt: Kleinhändler und Arbeiter in Bremen zwischen 1890 und 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 22/1982, S. 95-132; David Blackbourn: Between Resignation and Volatility: the German Petite Bourgeoisie in the Nineteenth Century, in:
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Ausnahme zur Sozialgeschichte des Handels bildet ein Sammelband zum Bremer Kleinhandel.50 Darin wird die meist vernachlässigte politische und soziale Differenzierung innerhalb des Kleinhandels beachtet und erste Einblicke in den Arbeitsalltag gegeben. Die breite Diskussion um Reklame und Warenhäuser sind Punkte, an dem sich die Unterschiede in der Geschäftsauffassung und -praxis innerhalb des Kleinhandels aufzeigen lassen; sie werden in dem Bremer Band allerdings lediglich am Rande behandelt. Kürzlich behandelte Heike Hoffmann in einem fundierten und quellenreichen, aber leider nur kurzen Aufsatz die antisemitische Warenhauskritik im Kaiserreich vor dem Hintergrund der völkischen Kapitalismuskritik. 51 Einige neuere Forschungen zum Warenhaus beziehen bisweilen Veränderungen im KaufVerhalten ein. 52 Die großen Spezialgeschäfte wurden jedoch bislang außer acht gelassen, obwohl gerade sie, neben den Warenhäusern und Markenartikelherstellern, besonders aktiv Reklame betrieben. 53 Es fehlt aber noch immer an sozialhistorischen Arbeiten, die den Geschäftsalltag im Einzelhandel und dessen Wandel untersuchen. Erstaunlicherweise werden Absatzstrategien auch in der Literatur zur Industrie nur selten behandelt, obwohl allen voran die Markenartikelproduzenten schon früh eigene Verkaufsorganisationen aufbauten und als Produzenten der Ware eigene Reklame entwickelten. Eine Ausnahme ist die Untersuchung der Maschinenbauindustrie orientiert von Fritz Blaich. Aufgrund der völlig anderen Produktionspa-
Shopkeepers and Master Artisans in Nineteenth-Century Europe, ed. by Geoffrey Crossick/Heinz-Gerhard Haupt, London/New York 1984, S. 35-61. Häufiger wurden Interessengruppen, Verbände und Mittelstandspolitik untersucht: Wein: Verbandsbildung im Einzelhandel; Heinrich August Winkler: ,Der rückversicherte Mittelstand4. Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich, in: Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, hg. von Walter Rüegg/Otto Neuloh, Göttingen 1971, S. 163-179; Robert Gellately: The Politics of Economic Despair: Shopkeepers and German Politics 1890-1914, London 1974. 50 Geschäfte, Teil 1: Der Bremer Kleinhandel um 1900 (Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, Heft 4), Bremen 1982. 51 Heike Hoffmann: Völkische Kapitalismuskritik: Das Beispiel Warenhaus, in: Handbuch zur ,Völkischen Bewegung' 1871-1918, hg. von Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht, München u. a. 1996, S. 558-571. 52 Klaus Strohmeyer: Warenhäuser. Geschichte, Blüte und Untergang im Warenmeer, Berlin 1980; Axel Kuhn: „Verkauf von Waren und Träumen" Die Warenhausgesellschaft, in: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, hg. von August Nitschke/Gerhard A. Ritter/Detlev J. K. Peukert/Rüdiger vom Bruch, Reinbek 1990, S. 61-75; Konrad Fuchs: Ein Konzern aus Sachsen. Das Kaufhaus Schocken als Spiegelbild deutscher Wirtschaft und Politik 1901-1953, Stuttgart 1990; Heidrun Homburg: Warenhausunternehmen und ihre Gründer in Frankreich und Deutschland oder: eine diskrete Elite und mancherlei Mythen, in: Wirtschaftsgeschichte, Berlin, Heft 1/ 1992, S. 183219; zur Kritik an Warenhäusern: Robert Gellately: An der Schwelle der Moderne. Warenhäuser und ihre Feinde in Deutschland, in: Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, hg. von Peter Alter, Göttingen/Zürich 1993, S. 131-156. 53 Eine Ausnahme bildet: Das Leinenhaus Grünfeld, hg. von Stefi Jersch-Wenzel, Berlin 1967.
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lette und der wesentlich engeren Zielgruppe können seine Ergebnisse jedoch nicht auf den Bereich der Konsumgüter übertragen werden. 54 ,Reklamefachleute 4 und ihr Berufsbild werden selten thematisiert. In den Veröffentlichungen zu den kleineren Angestellten, zu ihren Organisationsformen und Arbeitsbedingungen werden Reklamefachleute nicht erwähnt. 55 Diese fallen, wenn überhaupt, meistens unter die höheren Angestellten - oft arbeiteten sie aber als ,Freie'. So vage wie ihre Eigenbezeichnungen, so schwierig wird die Suche nach ihnen in Angaben über Angestelltenstruktur und Berufszählungen. Die historische Arbeitsmarktforschung zum Handel kann höchstens Aufschluß geben über die fortschreitende Arbeitsteilung und die Diskussion über Aus- und Fortbildung. 56 Die Reklamebranche wurde nicht als eigenes Berufsfeld statistisch erfaßt. Der Reklamefachmann Johannes Schmiedchen unternahm 1953 einen Versuch, die Geschichte seines Berufes über biographische Anekdoten hinaus zu erhellen, ist jedoch mit seinen Datierungen nicht sehr genau.57 Wegers Arbeit zu den Werbeagenturen streift die Zeit vor 1914 nur knapp als „ lediglich vorausgehende Erscheinungsformen " 5 8 der nichtigen' Werbeagenturen. Neuere Ansätze zur Berufsgeschichte im Medienbereich beschränken sich in herkömmlicher Weise auf den Bereich der Zeitungen, also auf Journalisten. 59 Erst kürzlich beschäftigen sich zwei Aufsätze mit der Frage der Professionalisierung der Reklamefachleute, beleuchten die frühe Zeit jedoch nur kurz bzw. konzentrieren
54 Fritz Blaich: Absatzstrategien deutscher Unternehmen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Absatzstrategien deutscher Unternehmen, hg. von Horst A. Wessel, Wiesbaden 1982, S. 5-46. Das gleiche trifft auf eine Arbeit über amerikanische Landwirtschaftsmaschinen zu. Hubert Kiesewetter. „Mein Vater ist mit seinen McCormick Ma(s)chinen sehr zufrieden". Verkaufsstrategien eines internationalen Unternehmens in Deutschland, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Jg. 34/1989, S. 91-123. Vgl. auch Jaeger, S. 117. 55 Angestellte im europäischen Vergleich. Die Herausbildung der Mittelschicht seit dem späten 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1981; Ursula Nienhaus: Berufsstand weiblich. Die ersten weiblichen Angestellten, Berlin 1982. 56 Hier v. a. der Sammelband Historische Arbeitsmarktforschung, hg. von Toni Pierenkemper/Richard Tilly, Göttingen 1982; Toni Pierenkemper. Arbeitsmarkt und Angestellte im Deutschen Kaiserreich 1880-1913. Interessen und Strategien als Elemente der Integration eines segmentierten Arbeitsmarktes, Stuttgart 1987. 57 Johannes Schmiedchen: Kurzer Beitrag zur Geschichte der deutschen Wirtschaftswerbung, ihrer Männer, ihrer Organisationen, ihrer Presse, Tübingen 1953. 58 Erwin R. Weger: Die Werbeagentur in Deutschland. Entwicklung, Wesen, Funktionen, Organisation, Nürnberg 1966, S. 11. 59 Vgl. Walter Homberg: Von Kärrnern und Königen. Zur Geschichte journalistischer Berufe, in: Wege zur Kommunikationsgeschichte 1987, S. 619-629; Rüdiger Vom Bruch: Zeitungswissenschaft zwischen Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich, in: Publizistik, Jg. 25/1980, S. 579-607.
Α. Einleitung
sich auf Frankreich. 60 Zwei weitere Aufsätze haben die Entstehung der Werbeagenturen zum Thema, auch sie konzentrieren sich jedoch im wesentlichen auf eine spätere Phase.61 Nach langer Zeit ist kürzlich wieder eine Studie zur Geschichte der Marketingtheorie erschienen, die auch und Aufschluß über die Verwissenschaftlichung der Reklame gibt. 62 Nahezu unbeachtet blieb in der historischen Forschung auch die Geschichte der Reklamepsychologie. Die in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten zur Psychotechnik befassen sich fast ausschließlich mit der arbeitstechnischen, innerbetrieblichen Seite der Psychotechnik im Rahmen der Rationalisierung. In der Psychologie selbst wird der Beginn der Reklamepsychologie nur kurz gestreift. 63 Hier kann aber auf amerikanische Arbeiten zurückgegriffen werden. 64 In den traditionellen Forschungsgebieten der Medienwissenschaft, wie Wirkung und Rezeption, fand bislang keine Thematisierung der frühen Reklamepsychologie statt.65 Die Literatur zur Konsumforschung in den USA zeigt ein völlig anderes Bild. Zwar begegneten auch dort die Historiker der Reklame lange mit größter Zurückhaltung, was Pollay auf den „basic distrust of advertisers by academics"
66
60 Stefan Haas: Psychologen, Künstler, Ökonomen. Das Selbstverständnis der Werbetreibenden zwischen Fin de siècle und Nachkriegszeit, in: Bilderwelt des Alltags, S. 78-89; Marie-Emmanuelle Chessel: Die Werbefachleute in Frankreich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Geschichte einer Professionalisierung?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1/1997, S. 79-92. 61 Dirk Schindelbeck: „Asbach Uralt" und „Soziale Marktwirtschaft". Zur Kulturgeschichte der Werbeagentur in Deutschland am Beispiel von Hans Brose (1899-1971), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Heft 40/1995, S. 235-252; Dirk Reinhardt: Zur Historizität der Phänomene „Kommunikationsgesellschaft" und „Dienstleistungsgesellschaft" . Die Geschichte der Werbeagentur und ihrer Vorläufer in Deutschland, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Heft 41/1996, S. 28-39. 62 Eugen Leitherer: Geschichte der handels- und absatzwirtschaftlichen Literatur, Köln/Opladen 1961; Roland Bubik: Geschichte der Marketingtheorie. Historische Einführung in die Marketing-Lehre, Frankfurt a. M. 1996. 63 Helmut Jacobi: Werbepsychologie. Ganzheits- und gestaltspsychologische Grundlagen der Werbung, Wiesbaden 1972; Friedhelm Jaspert: Werbepsychologie. Grundlinien ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 13, hg. von Francois Stoll, Zürich 1981, S. 170-189. 64 Edmund C. Lynch: Walter Dill Scott: Pioneer Industrial Psychologist, in: Business History Review, Vol. 42/1968, S. 149-170; Michal McMahon: An American Courtship: Psychologists and Advertising Theory in the Progressive Era, in: American Studies, Nr. 2/1972, p. 5-18; Merle J. Moskowitz: Hugo Münsterberg. A Study in the History of Applied Psychology, in: American Psychologist, Vol. 32, No. 10/1977, S. 824-842. 65 Vgl. Wolfgang R. Langenbucher: Vorwort, in: Wege zur Kommunikationsgeschichte 1987, S. 13-17. Langenbucher fordert zwar die Beschäftigung mit historischer Wirkungsforschung, aber auch in diesem Zusammenhang wird offenbar nicht an die Reklamepsychologie gedacht. 66 Richard W. Pollay: Types of Literature on Advertising in History: Inadequacies and Needs, in: Information Sources in Advertising History, ed. by Richard Pollay, West-
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zurückfuhrt. Seit Anfang der achtziger Jahre wird nun aber die Reklame, neben zahlreichen Arbeiten zu Reklameträgern, die schon lange selbstverständliches Sammlungsgebiet renommierter Museen sind,67 auch darüber hinaus thematisiert. So hat sich inzwischen ein eigener Forschungsbereich zur ,culture of consumption' etabliert. 68 Im Mittelpunkt steht vor allem das Warenhaus und dessen Einfluß auf ein verändertes Konsumverhalten. 69 Der Bereich der Professionalisierung innerhalb der Reklamebranche wird als exemplarisch für Vertreter einer modernity 4 erforscht. 70 Diese Forschungen sind in ihren Fragestellungen oft sehr anregend, bedeuteten sie doch eine Abkehr von den in Deutschland bislang vertretenen manipulationstheoretischen Ansätzen. Allerdings unterschied sich die Entwicklung in Deutschland sowohl zeitlich als auch besonders in der Legitimierung der Reklame und ihrer Auseinandersetzung mit Kritikern stark von der in den USA. Dem für meine Fragestellung wenig ergiebigen Forschungsstand steht ein reichhaltiges Angebot an Quellen der verschiedensten Gattungen gegenüber. Diese Quellen spielen für die vorliegende Arbeit nicht nur als auszuwertendes Material, sondern auch für die Formulierung eigener Fragen zur Reklamegeschichte eine doppelt wichtige Rolle. Ein genauer Blick für die Punkte, unter denen das Thema Reklame für die Zeitgenossen von Bedeutung war und die Breite der Auseinandersetzung um die Reklame - sie tauchte in den unterschiedlichsten Kontexten auf - erwies sich für das eigene Vorgehen als sinnvoll. Auf diese Weise konnte die Struktur der Arbeit aus den Quellen entwickelt werden. Die Themen der Reklame als Reizüberflutung oder nach dem Selbstbild der port 1979, p. 3-14, p. 8. Ähnlich für Deutschland Clemens Wischermann: Einleitung: Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung, in: Bilderwelt des Alltags, S. 8-19. S. 12. 67 Vgl. Christa Pieske: Zur Kultur-, Wirtschafts-, und Sozialgeschichte des Luxuspapiers, in: Das ABC des Luxuspapiers, S. 9-70, S. 12; S. 14 f. 68 Z. B. Rosalind H. Williams: Dream Worlds. Mass-Consumption in NineteenthCentury France, Berkeley/Los Angeles/London 1982; The Culture of Consumption, ed. by Richard Wrightman Fox/T. J. Jackson Lears, New York 1983; Susan Strassen Satisfaction Guaranteed. The Making of the American Mass Market, New York 1989. Für Großbritannien ζ. Β. Diane Hindley/Geoffrey Hindley: Advertising in Victorian England, 1837-1901, London 1972; Terry R. Nevett: Advertising in Britain. A History, London 1982. 69 Ζ. Β. William R. Leach: Transformations in a Culture of Consumption: Woman and Department Stores, 1890-1925, in: The Journal of American History, Vol.71, No. 2/1984, p. 319-342; Susan Porter Benson: The Cinderella of Occupations: Managing the Work of Department Store Saleswoman 1900-1940, in: Business History Rewiew, Vol. 55, No. 1/1981, S. 1-25; Erika D. Rappaport : ,A New Era of Shopping': The Promotion of Women's Pleasure in London's West End, 1909-1914, in: Cinema and the invention of modem life, ed. by Leo Charney/Vanessa R. Schwartz, Univ. of California Press, Berkeley/Los Angeles 1995, p. 130-155. 70 Für einen späteren Zeitraum Roland Marchand: Advertising the American Dream. Making Way for Modernity, University of California Press, Berkeley/Los Angeles/ London 1985.
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Reklamefachleute stellten sich erst nach Quellenstudien, während sie in den Forschungen bislang unberücksichtigt blieben. Die wichtigste Quellengruppe sind die zahlreichen, seit den neunziger Jahren erschienen Reklamefachzeitschriften, 71 sowie die zahlreichen Hand-, Fach- und Lehrbücher. 72 Diese Quellen geben einen guten Einblick in den Wandel der Reklameorganisation und der Auffassung über ihre Lehrbarkeit. Fachzeitschriften und -bücher stellen die Hersteller der Reklame vor und versuchen, das Arbeitsfeld der Reklamefachleute näher zu bestimmen. Daneben gibt es Zeitschriften, die sich vorwiegend auf die graphische, dekorative oder technische Seite der Reklameträger konzentrierten. 73 Auch das Selbstbild der Reklamefachleute spiegelt sich in diesen Quellen; ergänzt durch die entsprechenden Stellenangebote und -gesuche, die ab 1905 verstärkt auch in Tageszeitungen zu finden sind. Diese Selbstanpreisungen informieren über die Bilder, die mit den neuen Berufen verknüpft werden. Darüber hinaus berichten häufig volkswirtschaftlich orientierte Blätter und die ersten Zeitschriften für Betriebsorganisation und frühe Formen des Management über Reklame.74 Die Effizienz der Reklame und die Diskussion um ihre Wissenschaftlichkeit waren in diesen Blätter wichtige Themen. Nach und nach fand die Reklame auch Eingang in handelswissenschaftliche Zeitschriften. 75 Fachzeitschriften des Handels beleuchten die Positionen der mittleren und kleineren Geschäfte gegenüber der Reklame.76 Schriften, die sich 71
Die Reklame. Fachzeitschrift für praktische Geschäftsreklame und Anzeigeblatt für die mit der reklamemachenden Geschäftswelt in Verbindung stehenden Branchen, Zittau, Jg. 1/1891; Mitteilungen über Insertionsmittel, Berlin, Jg. 1/1891; Propaganda. Zeitschrift für das Reklame-, Inserenten-, Plakat-, Ausstellungs-, Offerten-, Adressen-, und Zeitungswesen, Berlin, Jg. l./l897-98 ff.; Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute, Berlin, Jg. 1/1909; Seidels Reklame, Berlin, Jg. 1/1913; Reklame-Rundschau, Wien, Jg. 1/1914. 72 Hier nur zwei Beispiele, das erste für den Mustercharakter der frühen Bücher, das zweite für die Einbettung der Reklame in die gesamte, professionelle Geschäftsorganisation: Robert Exner: Moderne Schaufenster-Reklame. 100 neue Ideen für SchaufensterAusstellung und Ausstattung mit 100 Illustrationen, Berlin 1896 und Friedrich Karl Sander: Verkaufsorganisation und Geschäftsreklame, Leipzig 1910. 73 Moderne Reklame, Berlin, Jg. 1/1902-03; Zeitschrift für moderne Reklame, Berlin, Jg. 1/1904; Das Plakat. Mitteilungen des Vereins der Plakatfreunde, Berlin, Jg. 1/1909. Für Schaufensterdekoration: Architektur und Schaufenster, Berlin, Jg. 9/ 1913. In sporadischen Berichten auch: Kunstgewerbeblatt, Neue Folge, Leipzig, Jg. 1/1890; Ex libris. Buchkunst und angewandte Graphik, Neue Folge, Magdeburg/Berlin, Jg. 1/1907. 74 Organisation. Fachblatt der leitenden Männer in Handel und Industrie, Berlin, Jg. 1/1898-99; Plutus. Kritische Wochenschrift für Volkswirtschaft und Finanzwesen, Jg. 1/1904. 75 Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, hg. von Hermann Rehm/ Georg Obst/Heinrich Nicklisch/A. Schmidt, Leipzig, Jg. 1/1908-09; Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, hg. von E. Schmalenbach, Köln, Jg. 1/1906-07. 76 Der Deutsche Kaufmann. Fachblatt für Kaufleute. Hauptorgan der kaufmännischen Vereine, hg. von Robert Austerlitz, Berlin, Jg. 3/1891-92; Der Detaillist. Offizielles Organ des Detaillistenverbandes von Rheinland und Westfalen, Düsseldorf, Jg. 1/1906.
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als Bewahrer einer ,deutschen Kultur' definierten, werden in Hinblick auf die Mittelstandsbewegung und antisemitische Reklamekritik betrachtet. 77 Sie werden ergänzt durch zahlreiche Streitschriften' gegen die Warenhäuser. 78 Tageszeitungen berichteten über aktuelle Ereignisse wie Ausstellungen oder Wettbewerbe. In nahezu allen Blättern fand auch eine Auseinandersetzung mit der Kritik an der Reklame statt. So nahm ab 1910 die Kontroverse mit den Heimatschützern einen großen Raum ein. Für den Heimatschutz stehen darüber hinaus auch eigene Zeitschriften zur Verfügung. 79 Akten der Bau- und Verkehrspolizei stehen als weitere Quellengattung im Rahmen gesetzlicher Reglementierungen der Reklame zur Verfügung. Die Debatten im Vorfeld neuer Gesetzgebungen lassen sich anhand der Stenographischen Berichte des Reichstages bzw. des Preußischen Abgeordnetenhauses verfolgen. Leider konnten keine Dokumente zu Fachverbänden der Reklamebranche, wie dem Verein der Deutschen Reklamefachleute oder dem Verein künstlerischer Schaufensterdekorateure gefunden werden; sie sind offenbar ebenso verloren gegangen, wie die des in Reklamefragen sehr innovativen Verbandes Berliner Spezialgeschäfte. Zum ,Deutschen Werkbund und zum Deutschen Museum für Kunst in Handel und Gewerbe konnte Archivmaterial eingesehen werden. Fast erfolglos verliefen dagegen Recherchen in den Archiven früher Markenartikelhersteller. Reklame galt offensichtlich als nicht zu bewahrender Teil der Geschäftsunterlagen, obwohl Reklamekampagnen als Firmengeheimnisse streng gehütet wurden. Erschwerend kommt hinzu, daß viele Archive der frühen Zeit durch Krieg oder Fusion verlorengegangen sind. 80 Andere Firmen möchten ihre Archive nicht öffnen. Firmenschriften selbst sind zum Komplex Absatz und Reklame meist wenig ergiebig. 81 Nur selten werden Hintergründe der Reklame als Absatzstrategie dargestellt. Die Aufmerksamkeit wird vornehmlich auf Produktionsfragen, Investitionen und das Sozialwesen des Betriebs gelenkt. Jüngere Firmenschriften werben wiederum mit der Geschichte ihrer Reklame, die aller77
Hammer. Blätter für den deutschen Sinn, Jg. 1/1901. Ζ. B. Albert Gràvéll: Zum Kampfe gegen die Waarenhäuser. Eine Zeit- und Streitschrift, Berlin 1899; Paul Dehn: Die Großbazare und Massenzweiggeschäfte, Berlin 1899; Emil Suchsland: Schutz- und Trutzwaffen gegen Konsumvereine und Warenhäuser, Halle 1904; Ders.: Die Klippen des sozialen Friedens. Ernste Gedanken über Konsumvereine und Warenhäuser, Halle 1904. 79 Die Denkmalpflege, Berlin, Jg. 3/1901; Bayrischer Heimatschutz, München, Jg. 10/1912; Mitteilungen des Bundes Heimatschutz, Jg. 1/1904; auch: Kunstwart, Leipzig, Jg. 12/1898. 80 So ζ. B. von Odol. Die Zigarettenfirmen Manoli und Batschari, beide wegweisend in ihrer Reklame, gingen in der Firma Reemtsma auf - ohne Archive. Mündliche Auskunft von Nils Dorén, Reemtsma. 81 Jaeger sieht den Wert der Firmenschriften als Quelle schon dadurch beeinträchtigt, daß sie Auftragsarbeiten sind. Jaeger , S. 115. Vgl. auch Blaich: Absatzstrategien, S. 6. 78
Α. Einleitung
dings meist wenig kommentiert als reines Bildmaterial präsentiert wird. 82 Im Archiv der Firma Stollwerck (heute Imhoff-Stollwerck-Museum, Köln) konnten Unterlagen zur Reklame, die als ,Chefsache 4 einem der Firmeninhaber unterstand, eingesehen werden. Über den Alltag der Reklameorganisation ist in diesen Beständen jedoch wenig zu finden. Wie Reklame wahrgenommen wurde schlägt sich in zahlreichen literarischen Quellen (ζ. B. Warenhaus- und Reklamebranchenromane), in Bildquellen oder Stadtführern (in denen Geschäftsstraßen und Warenhäuser als Sehenswürdigkeit beschrieben wurden) und in den Diskussionen in der zeitgenössischen Presse nieder. In zahlreichen Publikationen werden Warenhäuser und moderne Reklamemethoden kontrovers diskutiert. Literarische Quellen sind sicherlich für Historiker und Historikerinnen nur mit Vorsicht zu benutzen. Allerdings ist auffallend, wie sehr sich, besonders in den Bildern der konsumierenden ,Masse' und der ,Verführbarkeit' der Frauen durch die Reklame Fiktion und Wissenschaft (ζ. B. die Massenpsychologie) überschneiden. Entsprechende Ausführungen mit wissenschaftlichem Anspruch unterscheiden sich in den Bildern des Warenhauses keineswegs von denen der Romane. Diese Überschneidungen in den Bildern fordern zu einer näheren Betrachtung heraus. In den Quellen wird insbesondere eine Diskrepanz zwischen der Betonung der Reklamekunst und der offensichtlich verbreiteten, wenig künstlerisch gestalteten Reklame deutlich. Die sogenannte künstlerische 4 Reklame wird ausführlich beschrieben, nicht zuletzt von den Reklamefachleuten. Ihr wurde eine wichtige Rolle im Rahmen der allgemeinen ,Geschmacksbildung' der Bevölkerung zugeschrieben, sie wurde rasch anerkannt, in diversen Zeitschriften und Büchern dokumentiert und ihre Künstler namentlich überliefert. Die Quellen vernachlässigen dagegen die Formen der Reklame, die mit Abstand die große Menge ausmachten: die zahllosen billigen Handzettel, Plakate, die mit ein und derselben Frauenabbildung für Schokolade und Schreibmaschinen warben, oder Schaufenster, in denen Warenmassen zu ,Bismarckbüsten' aus Schokolade aufgebaut wurden. Diese Reklame wurde nur thematisiert, wenn man sich von ihr distanzierte und sie als marktschreierisch verurteilte. Gegen sie wurde polemisiert, sie stand im Blickpunkt der Kritik und war Auslöser für die Gesetzgebung gegen die Reklame. Aber wie sie zustande kam, wer sie herstellte u. a. m., dar-
82 Ζ. B. Nils Dorén : Das Cigarettenplakat im Laufe der Reemstma-Firmengeschichte, Hamburg 1974; Ders.: Werbung im Tabak-Fachgeschäft im Laufe der ReemtsmaFirmengeschichte, Hamburg 1977; Persil - der Weg einer Marke, hg. von der Henkel & Cie. GmbH, Düsseldorf 1962; 75 Jahre Persi 1-Plakate, hg. von der Henkel KGaA, Düsseldorf 1982; 75 Jahre Persil - eine Marke macht Geschichte, hg. von der Henkel KGaA, Düsseldorf 1982. Teilweise wurden diese Bestände auch in anderen Veröffentlichungen aufgearbeitet, z. B. zu Bahlsen: Frauke Engel: Reiz der Hülle - Gebrauchsverpackung zwischen Schutzfunktion, Werbung und Kunst, in: Die Kunst zu werben, S. 121-141; Frank Wedekinds Maggi-Zeit, hg. von Hartmut Vinson, Darmstadt 1992. 3 Lamberty
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über findet sich in den Quellen wenig. Diese Reklame und ihre Produzenten blieben anonym und fanden keine Verteidiger. In der vorliegenden Arbeit wird zunächst das Verhältnis zwischen Publikum und Reklame sowie das Neuartige der Reklame untersucht. Die Debatten um eine durch die Reklame veränderte Kommunikation, ein neues Konsumverhalten und die Reaktionen des Publikums werden im zweiten Kapitel analysiert. Die Reklame nutzte für ihre visuelle Präsenz und die Ausrichtung auf ein anonymes und massenhaftes Publikum nahezu alle frühen Massenmedien. Großstadtwahrnehmung ohne Reklame, ohne Konfrontation mit Konsum war nahezu unmöglich geworden. In zeitgenössischen Diskussionen über Reizüberflutung in der Großstadt räumte man der Reklame folglich einen großen Raum ein. Darüber hinaus veränderte die Reklame den Begriff des Konsumenten. Nicht mehr das Individuum wurde umworben, sondern ein breites, anonymes und zunehmend als rein passiv definiertes Publikum mußte angesprochen werden. Vor allem die im Warenhaus einkaufenden Frauen wurden von zeitgenössischen Beobachtern nun als , Masse4 wahrgenommen und ihr Konsum verhalten sehr kontrovers diskutiert. Das dritte Kapitel zeigt, wie sich die Nutzung von Reklame als Bestandteil moderner Geschäftsorganisation im Einzelhandel vollzog. Vorboten einer umfassenden und professionellen Reklame wie Warenhäuser, Versandgeschäfte, Markenartikelproduzenten und Warenautomaten werden genauer untersucht und den traditionellen Formen des Einzelhandels gegenübergestellt. Hier offenbarte sich am deutlichsten die Widersprüchlichkeit und Diskontinuität im Umgang mit der Moderne. Während ein liberaler Flügel sich zunehmend an modernen Geschäftsmethoden orientierte, diese als Chance für sich begriff und in den Zeiten verschärfter Konkurrenz auf Selbsthilfe setzte, appellierte der eher reaktionäre Flügel an staatliche Hilfe. Für ihn kennzeichnete die Reklame die mit der Gewerbefreiheit schärfer gewordene Konkurrenz und wurde zum Mittel des ,unlauteren Wettbewerbs 4. Zugleich wurden innerhalb des mittelständischen Handels Strategien entwickelt, die eine Aneignung bestimmter Reklameformen ermöglichten und zugleich eine öffentliche Distanzierung von den Formen der Reklame erlaubte, die die Warenhauskonkurrenz praktizierte. Das Selbstbildes eines modernen Kaufmannes wurde auf verschiedene Weise im mittelständischen Einzelhandel propagiert. Insbesondere der Verband Berliner Spezialgeschäfte zeigte sich rege und unternahm verschiedene Initiativen, um seine Mitglieder in den modernen Absatzmethoden zu schulen und um nach außen als Vorreiter gelungener Geschäftsreformen aufzutreten. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die materielle Ebene der Medien. Von der Voraussetzung einer Massenproduktion war auch die Reklame selbst betroffen; erst die technischen Voraussetzungen preiswerte Reklameträger herzustellen, ermöglichte die breite Anwendung der Reklame auch für Massenprodukte und Pfennigartikel. Ihre technische Entwicklung wird untersucht und ge-
Α. Einleitung
zeigt, wie sehr sich die entwickelnde Reklameindustrie mit viel Energie und Hoffnung der jeweils neuesten Massenmedien bediente und mit Schaufenstern oder Lichtreklamen sogar eigens neue Medien für die Reklame entwickelte. Originalität und massiver Medieneinsatz standen in der Anfangszeit im Vordergrund. Noch wurde die Rezeption durch potentielle Kunden wenig reflektiert. Mit der Entwicklung der Reklameträger entstanden neue, spezialisierte Berufe. Ein in seiner Konzeption nur wenig an Vorläufer anknüpfender Beruf wurde in den frühen Reklamezeitschriften propagiert: 1893 berichtete die erste deutsche Fachzeitschrift über den Beruf eines „ Reklameanwaltes " 8 3 in Amerika und wies zugleich auf Durchsetzungsprobleme eines solchen Berufsbildes in Deutschland hin. Bald aber mehrten sich die 'Reklamefachleute' und schlossen sich ab 1906 zu Fachverbänden zusammen. Im fünften Kapitel interessieren die Reklamefachleute als innovative Vertreter einer sich entwickelnden Branche, denn sie verteidigten mit der Reklame ihre eigene, noch keineswegs gesicherte Existenz. Untersucht wird die Art und Weise, wie sich dieser neue Berufsstand konstituiert und welche Strategien auf dem Weg der Professionalisierung entwickelt werden. Zusätzlich werden die Selbstbilder und Fremdeinschätzungen der Reklamefachleute analysiert. Gerade in den letzteren kommen wiederum die Ängste zum Tragen, die mit der Reklame generell verknüpft und hier personifiziert wurden. Wie schaffte es eine Branche, deren Notwendigkeit keineswegs einsichtig und noch stark umstritten war, sich Anerkennung zu verschaffen? Verschiedene Legitimierungsstrategien versprachen die Akzeptanz für Reklame in der Bevölkerung und bei ihren Kritikern zu erhöhen: Im sechsten Kapitel wird die Kooperation von Reklamebranche, Wirtschaft und Kunstgewerbebewegung als Möglichkeit untersucht, die Reklame zum Medium einer ,Geschmacksbildung4 zu machen. Die zwar etablierte, aber kaum anerkannte Reklame nicht länger in Bausch und Bogen abzulehnen, sondern als reformbedürftig darzustellen, bedeutete eine Annäherung des Bildungsbürgertums an das moderne Phänomen Reklame. Das siebte Kapitel widmet sich dem Versuch, Reklame als Wissenschaft an den Universitäten zu verankern. Innerhalb der Reklamebranche hoffte man, durch eine wissenschaftliche Untermauerung der Reklame an den Hochschulen die nur wenig angesehene Branche aufzuwerten. In den bestehenden wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten stieß die Reklame allerdings auf nur geringes Interesse. Wichtige Nationalökonomen standen ihr sehr kritisch gegenüber. Bis zum Ersten Weltkrieg konnten allenfalls Teilbereiche im Rahmen neuer Wissenschaften wie der Handelswissenschaft, der Zeitungswissenschaft und der Psychotechnik an den Hochschulen integriert werden. 83
Die Reklame, Heft 1/1893, S. 5.
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Die Reklame wurde zu einer Chiffre der Moderne. Diese Zuschreibung basierte sowohl auf positiven Erwartungen als auch auf massiven Zukunftsängsten. Neben der konkret auf ein Produkt bezogenen Botschaft existierte eine zweite Informationsebene der Reklame, die sich in den zahlreichen Debatten manifestierte. Im Verlauf dieser Debatten wurde die Reklame mit als spezifisch modern 4 begriffenen Zuschreibungen aufgeladen und konnte so als Projektionsfläche fur sehr verschiedene Ängste vor allem konservativer bildungsbürgerlicher Kreise in Bezug auf die Moderne dienen. Die Reklame wurde verknüpft mit einer Fülle apokalyptischer Assoziationen, die ihre Wurzeln in weiten Bereichen der Wirtschaft und des alltäglichen Lebens hatten. Diese Auseinandersetzungen um die Reklame wurden zu Stellvertreterdiskussionen um eine bestimmte Geisteshaltung und Wirtschaftsordnung. Drei Debatten sollen dazu im abschließenden achten Kapitel näher beleuchtet werden. Antisemiten griffen Argumente der Mittelstandsbewegung in ihrer Kritik an der Reklame auf. Das Stereotyp der Juden als , Wucherer 4 wurde aktualisiert und auf reklametreibende Warenhausbesitzer übertragen. Die Reklamebranche galt ebenso wie Warenhäuser als jüdisch 4 in dem Sinne, da sie ,unproduktiv 4 und im Gegensatz zum ,deutschen Handwerk 4 - eine „ Schmarotzer-Industrie" 84 sei. Auch galt die Reklame als Zeichen einer amerikanischen und somit rein kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Während man vor der Jahrhundertwende meist mit einer positiven Mischung aus Staunen und Neugier auf das ,moderne Amerika 4 schaute, wurde die als grenzenlos übertreibend und schrill beschriebene amerikanische Reklame nach der Jahrhundertwende zunehmend kritisiert. Besonders in der Kunstgewerbebewegung versuchte man, der amerikanischen Reklame geschmackvolle deutsche ,Reklame-Kultur 4 entgegenzusetzen. Der amerikanischen Wirtschaftsmacht wurde das Bild der deutschen Kulturnation gegenübergestellt. In der Diskussion um das Erscheinungsbild der Reklame, vor allem in der , freien 4 Natur, kamen die vehementesten Gegner der Reklame aus den Reihen der Heimatschützer. Stärker als die vage Vorstellung einer deutschen Kulturnation wurde im Kampf der Heimatschützer gegen die Reklame die Ästhetik als ein Äquivalent des Begriffs Kultur zur Argumentationslinie. Dieser Begriff der Ästhetik konnte durch den Erlaß von Verunstaltungsgesetzen und breite öffentliche Unterstützung in konkrete Handlungsrichtlinien umgesetzt werden. Um 1910 bahnte sich, wenigstens in der ,freien Landschaft 4, allmählich ein Rückgang der Außenreklame an. Auch hier scheint hinter den Argumenten der Ästhetik Kritik am modernen Kapitalismus durch.
84 Johannes Gaulke: Der Reklame-Schwindel, in: Hammer, Nr. 100/1906, S. 495498, S. 495.
Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum „Die Luft bebt und erschrickt von Weltleben. Bis zu den Dächern hinauf und über die Dächer hinaus schweben und kleben Reklamen. Große Buchstaben fallen in die Augen. Und immer gehen hier Menschen. " Robert Walser: Friedrichstraße, 1909
I. Reklame als Medium der Großstadt Die Großstadt galt und gilt als der Ort der Moderne, als deren ästhetischer, technischer oder wirtschaftlicher Ausdruck. 1 Vor dem Ersten Weltkrieg wurden Verkehr, Menschenmassen, Mode, Beleuchtung, Warenhäuser und immer häufiger die Reklame zu Indikatoren der Großstadt und damit zugleich der Moderne.2 Sie waren Anlaß um über die neuartige Koppelung von Konsum, Genuß und Reizüberflutung zu diskutieren. In der Reklame spiegelte sich der Charakter der Großstadt als Zentrum des Konsums, als Ort der Erfüllung aller materiellen Wünsche.3 Illustrierten berichteten in der gleichen Rubrik, wie über Erfindungen und Verkehr, auch über aufsehenerregende Reklame in Amerika und seit den späten neunziger Jahren auch in Deutschland. Karikaturen und Witze bedienten sich der Reklame als Chiffre für großstädtisches Leben.4 Nach Bienert
1
Vgl. ζ. B. Lothar Müller. Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel, in: Die Unwirklichkeit der Städte, hg. von Klaus Scherpe, Reinbek 1988, S. 14-36, S. 14. 2 Vgl. Die Bedeutung der Reklame für die Großstadt, in: Die Reklame, Heft 4/1894, S. 69-70. Anselm Heine: Berlins Physiognomie, in: Ich weiß Bescheid in Berlin. Vollständiger systematischer Führer durch Groß-Berlin für Fremde und Einheimische, Ausgabe 1908/09, o. O., o. J., S. 1-25; Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, Berlin 1912, zit. nach Die Berliner Moderne 18851914, hg. von Jürgen Schutte/Peter Sprengel, Stuttgart 1987, S. 95-99, S. 97; Emil Peschkau: Berliner Straßenleben, in: Universum, Heft 30/1914, S. 715-718. In der Forschung wurde dieser Zusammenhang erst kürzlich entdeckt. Publikationen dazu sind in der Vorbereitung, vgl. Haas: Geschichte der Werbung. 3 Vgl. Die Bedeutung der Reklame für die Großstadt, in: Die Reklame, Heft 4/1894, S. 69-70. 4 Ζ. B. als Litfaßsäule, Sandwichman oder Warenautomat. Für Berlin vgl. v. a. die Berliner Illustrirte Zeitung ζ. B. Nr. 37/1896, S. 2 über Straßenreklame in New York; Nr. 15/1899, S. 12 eine Karikatur über einen Straßenbahnzusammenstoß als Folge einer Reklame für die Likörfabrik Mampe; Nr. 47/1899, S 16: ein Sandwichman als typische , Berliner Silouette'.
Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
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boten derartige Feuilletons Hilfestellung bei der Aneignung der „modernen Umwelt als ,Heimat'" 5, indem sie Wahrnehmungsmuster prägten und eine Sichtweise schulten, die die Stadt bejahte. In Deutschland symbolisierte insbesondere das erst seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert rasch gewachsene Berlin für die Zeitgenossen das, was ebenfalls häufig mit Reklame assoziiert wurde: Maßlosigkeit, den Bruch mit Traditionen, das Vorherrschen des Konsums. Reklame bedeutete den Verzicht auf persönliche Beziehungen. Sie wurde auf ein anonymes Publikum, die Passanten, zugeschnitten. Sie sollte ein großes Publikum erreichen; dazu mußte sie in Form und Inhalt „auf neue Mittel sinnen, welche auf Massen zu wirken imstande sind. " Der Reklamefachmann Franz Seidt stilisierte sie zum Ausdruck des neuen „Massenzeitalters". 6 Die Quantität der Reklame wurde besonders in der Großstadt zum Reklamemittel.7 Um die Jahrhundertwende waren Schaufenster, Plakate, Reklameschilder, Giebelreklamen, Ausrufer, Zettelverteiler und Reklamewagen aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. 1896 brachte den Durchbruch des modernen Plakats, im selben Jahr folgten die ersten Lichtreklamen als typische Reklameträger der Großstadt. Daneben wurden ältere Reklameträger wie Anzeigen und Kataloge stärker als zuvor eingesetzt, um auch das ländliche Publikum zu erreichen. Die Allgegenwärtigkeit der neuen Reklameträger und die veränderte Rezeption beschrieb die Autorin einer Fachzeitschrift 1908: „Es erscheint uns so selbstverständlich, daß uns die Post am Morgen eine Reihe von Katalogen, Offerten, Probenummern von neu gegründeten Zeitungen bringt, daß an den Straßenecken die schreienden Plakate der Anschlagsäulen uns in die Augen fallen, daß hoch auf den Dächern eine Alpenlandschaft uns Suchard-Schokolade anpreist, und daß wir in den verschiedenen Schaufenstern sehen, wie das kräftige, rosige Baby sich nur von Nestles Kindermehl nährt und die einst kahle Anna Czillag jetzt die Fülle ihres Haares kaum bewältigen kann. Und es geht weiter, wenn wir die Zeitung aufmachen, sehen wir zuerst die Fülle der Inserate; auf den Straßen können wir uns der Reklamezettel, die uns im Vorübergehen angeboten werden, kaum erwehren, in den Theaterpausen belehrt uns das Skioptikon, wo alles am besten und billigsten zu haben ist, und beim abendlichen Spaziergang müssen wir jeden Augenblick, von einem Lichtschein geblendet, die 5
Michael Bienert: Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart 1992, S. 20; S. 121 ff. Katrin Dördelmann: Die Darstellung Berlins in der populären Zeitschriftenpresse, 1870-1933, in: Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte 1871-1939, Bonn/Berlin 1992, S. 127150, S. 138 ff. 6 Franz Seidt: Neues Handbuch der Reklame, zum praktischen Gebrauch für Kaufleute, Berlin 1914, S. 9. 7 Vgl. Walter Behrend: Reklame. Entstehung, Bedeutung und wirtschaftliche Organisation, in: Gewerbliche Einzelvorträge, gehalten in der Aula der Handelshochschule Berlin, hg. von den Altesten der Kaufmannschaft von Berlin, Berlin 1916, S. 35-54, S. 38.
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Augen zumachen, weil irgendwo oben in großen Lettern das Wort Rügers Schokolade aus kleinen Glühlampen zusammengesetzt, erscheint, oder uns auf dieselbe sehr eindringliche Art empfohlen wird, nur Manoli zu rauchen. An das alles sind wir so gewöhnt, daß wir uns ein Geschäftsleben ohne Reklame gar nicht mehr vorstellen können. " 8 Nicht nur das Geschäftsleben war ohne Reklame nicht mehr vorstellbar auch die Stadt wurde in ihrer visuellen Erscheinung durch sie geprägt. Die Autorin fand eine Sprache, um die Wirkung der neuen Reklamemedien zu erfassen: Sie ,schreien 4, sie ,fallen in die Augen', man kann sich ihrer ,kaum erwehren 4. Die Reklame war um die Jahrhundertwende offenbar ein Medium, das vom Publikum Aufmerksamkeit erzwingen konnte und zugleich als Ursache und Ergebnis einer veränderten Öffentlichkeit wirkte. Man informierte sich nicht zielgerichtet in einer Zeitung über bestimmte Angebote, man wurde informiert. Der Betrachter war nicht mehr aktiver Sehender, sondern die zum ,Blickfang' gestalteten Reklameträger machten ihn zum ,gefangenen' Sehenden, zum Teil eines rezipierenden Publikums. Ausdruck fand diese Veränderung der Kommunikation in dem Begriff,Publikum', der das Passive, Rezipierende, Aufnehmende betonte und der nun auch für die Konsumenten galt. Um den Zusammenhang zwischen der Reklame und der visuellen Wahrnehmung der Stadt durch das Publikum genauer zu beleuchten, sollen im folgenden zunächst die durch die Reklame verursachten Veränderungen im Erscheinungsbild der Stadt untersucht werden. Anschließend werden die um die Jahrhundertwende konstatierten veränderten Wahrnehmungsformen der Großstädter, die meistens als Bestandteil einer breiten Reklamekritik unter den Stichworten ,Nervosität' und ,Reizüberflutung' diskutiert wurden, analysiert.
1. Reklame auf der Straße Die Reklamemedien der Straße, Plakate, Lichtreklame und Schaufenster, waren speziell auf die Stadt und die spezifische Wahrnehmung der angeblich überreizten Großstädter abgestimmt. Diese Reklameformen veränderten die Räume der Stadt; große Schaufenster schienen die Straßen transparent zu machen und beleuchtete Fenster in den oberen Stockwerken, mehr noch Lichtreklamen auf den Dächern, lenkten die Blicke in die Höhe. Sponsel, der 1897 die erste umfassende Plakatanthologie in Deutschland herausgab, war überzeugt, daß die Plakatkunst verschärfter geschäftlicher Konkurrenz und damit der „Grossstadtluft" bedürfe. „Nur auf dem breiten Boden der verschiedenartigsten Interessengegensätze, der mannigfaltigsten Reklamebedürfnisse, der allenthalben im Kampfe 8 Grete Cohn: Reklame im Plakat, in: Plutus, Heft 9/1908, S. 169-171, S. 169. Das Skioptikon ist eine Form der Laterna magica.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
ums Dasein angestrengten Thätigkeit kann sie wachsen und blühen. " 9 Auch der Kunsthistoriker Peter Jessen beschrieb 1894 das Plakat als das adäquate Medium der Großstadt. Es sei genau auf den Großstadtmenschen zugeschnitten. Durch wenige, klare Farben und Formen werde eine bislang nicht gekannte Fernwirkung erreicht. Die Reduzierung des Textes zugunsten des Bildes sei notwendig, da es „den hastenden Blick im verwirrenden Getriebe des Straßenlebens auf sich ziehen, die Neugier wecken" l0 müsse. Nur grelle Farben, so ein anderer Autor 1900, fesselten die Passanten.11 Auch der Kunstkritiker Paul Westheim erkannte 1908 in den klaren Formen und leuchtenden Farben der Plakate eine Reaktion auf die veränderte Rezeptionsweise der Großstädter. „Eine Ausdrucksweise ist hier geschaffen worden, die mit den Verkehrsformen unserer Zeit und der Aufnahmefähigkeit des menschlichen Auges geschickt rechnet. Dieser Stil ist im letzten Grunde nichts als ein Entgegenkommen gegen die Gewohnheiten und die Veranlagung der hastenden Massen. " 1 2 Ein anderer Autor sah in den Plakaten „gemalte Telegramme"\ beide böten eine Reduzierung auf das Wesentliche und überließen es dem Leser, die übermittelten „Fragmente" ,3 zu ergänzen. Sie kämen damit den Erfordernissen der modernen, schnellebigen Zeit entgegen. Der gesamte Aufbau des Plakats sei auf diese rasche Wahrnehmung abgestimmt. „Da hat der einzelne Passant nicht viel Zeit, zu lesen, folglich muß sich die Plakatreklame kurzer Schlagworte bedienen. " 14 Zeitgenossen fühlten sich um die Jahrhundertwende von den neuen, von der Reklame genutzten Medien und den neuen Anforderungen an das Sehen häufig überfordert. Auch wenn nicht mehr schwarze Fraktur auf weißem Papier den Text bildete, so wurde die Lesbarkeit des Plakats doch weiterhin an den Kriterien des Buchs gemessen. Aus der Sicht des Publikums beklagte man 1904 eine erschwerte Lesbarkeit. „Die moderne Schrift der Firmen wird aber nachgerade ein Übel, statt,Kunst' liest man in der neuen Schnörkelei stets ,Konst'. Wie es denn überhaupt eines Buchstabierens bedarf, um ganz sezzionistische Schrift zu entziffern. Das sich in unserer hygienisch so vorsichtig sein wollenden Zeit noch kein Fachmann gegen die Art des Sehens gewendet, die jetzt dem Großstädter zugemutet wird! Unlesbare, oder bei eintretender Dämmerung leuchtende und
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Jean Louis Sponsel: Das moderne Plakat, Dresden 1897, S. 108. Peter Jessen: Die Kunst im Plakatwesen, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 4/1894, S. 8191, S. 83. 11 Vgl. ζ. B. Emil Richter Placat und Reclame, in: Die Gegenwart, Heft 13/1900, S. 196-198, S. 197. 12 Paul Westheim: Plakatkunst, in: Augur. Reklame-Handbuch und Ausstellungskatalog, hg. von Emst Growald, Berlin 1908, S. 105. Ähnlich auch Gustav Gugitz: Das Placat, in: Ver sacrum, Heft 11/1898, S. 13-18, S. 13. 13 Franz Servaes: Künstler und Lithographien, in: Ver sacrum, Heft 9/1898, S. 3-10, S.3. 14 Großstadt-Reklame, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 18/1910, Sp. 335-337, Sp. 336. 10
I. Reklame als Medium der Großstadt
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stets wechselnde, oder erscheinende und dann wieder verschwindende Lichtschrift. Blendlichter und dann wieder Dunkelheit. Man tut, was nur möglich ist, um die Augen der Zeitgenossen zu verderben, denn was man ihnen zumutet, ist gerade unverantwortlich. Die Anzeigen der Kunstanstalten sind auf zeitgemäßer Höhe, dunkelstes Grau und Braun das Papier, Silber- oder Goldschrift, die man drehen und wenden muß, verschnörkelte Buchstaben. " 1 5 Nicht nur die konkrete Gestaltung mit ihrem fragmentarischen Text und den grellen Farben machte zu schaffen. Die planlose und durcheinander gewürfelte Plakatierung, so hieß es, erschwere ebenfalls jede Orientierung. „So kommen Kunst undHauswirthschaft, Mode und Politik, Malzcaffee und Bismarckwerke, Theaternachrichten und Leih[h]ausversteigerungen - Alles in buntem Wirrwarr durcheinander. " 1 6 Der Autor forderte ein einheitliches Arrangement, in dem die Plakate nach Themen geordnet würden. Allein schon die Vielzahl der Reklamen verwirre den Betrachter. 17 Möglicherweise hätten sich routinierte Großstädter schon an diese Veränderungen gewöhnt, doch überfordert werde der Großstadtbesucher aus der Kleinstadt und vom Lande. „Hat er sich aber in diesem Wirrwarr zurecht gefunden, so wird er beschämt eingestehen, daß es anders eben nicht geht. Durchzudringen im Kampf der Konkurrenz ist die Losung für das Leben in der Großstadt. " I 8 Gerade der Kleinstädter sei empfänglicher für die Reklame, argumentierte Gustav Stresemann, dieser sei noch nicht so abgestumpft wie der Großstädter, dessen Aufmerksamkeit nur noch besonders auffallende Reklame erregen könne.19 Die Gegenüberstellung des gleichgültig gewordenen Großstädters mit dem noch staunenden Kleinstädter war beliebt. Der Großstädter bedürfe stärkerer Reize, er sei nervös und übersättigt und reagiere in der Regel nur sehr schwer. Dadurch sei die Reklame „ein wichtiges Hilfsmittel geworden, um die erschlafften Nerven der Berliner durch irgend ein großes Versprechen in Aufre-
15 E. Vely: Berliner Plaudereien. Die Litfaßsäulen, in: Neues Frauenblatt, Heft 3/ 1904, S. 3. 16 Emil Richter: Placat und Reclame, in: Die Gegenwart, Heft 13/1900, S. 196-198, S. 197, S. 198. Vgl. auch Karl Friedrich Heitmann: Vor der Litfaßsäule, in: Die Gegenwart, Heft 6/1902, S. 93-94. 17 Im Kladderadatsch, Jg. 47, Nr. 28/1894, S. 111 erschien anläßlich der Freigabe der Eisenbahnen für die Plakatierung ein Gedicht über diese visuelle Verwirrung und mit einer Spitze gegen den Finanzminister Miquel, der mit der Plakatierung neue Geldquellen erschloß. 18 Eugen Zabel·. Reklame in Berlin, in: Groß-Berlin. Bilder von der Ausstellungsstadt, hg. von Albert Kühnemann, Berlin 1896-97, S. 240-248, S. 242. 19 Vgl. Gustav Stresemann: Die Warenhäuser. Ihre Entstehung, Entwicklung und volkswirtschaftliche Bedeutung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 56/ 1900, S. 696-733, S. 713. Genauso: Berlin bei Nacht. Ein gründlicher Wegweiser durch das nächtliche Berlin, bearb. von Willi Wolff-Jeanquirit, Berlin um 1910, S. 17; G. B. Haucks: Das Plakat, in: Organisation, Nr. 6/1907, S. 96-97; Strecken- und Strassenreklame, in: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Annoncen-Expeditionen, Heft 5/ 1913, S. 74.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
gung zu versetzen. " 2 0 Aufgabe der Reklametreibenden sei es in jedem Fall, diese Abgestumpftheit der Großstädter zu überwinden, deshalb sei „ das Sinnen und Denken all dieser Geschäftsleute darauf gerichtet, die ihnen zu Gebote stehenden Mittel immer zu verstärken, um mit immer schärferen Reizmitteln die Kauflust anzustacheln und die Gleichgültigkeit zu überwinden. " 2 1 Gerade das Durchschnittspublikum lasse sich eher durch Sensationen als durch geschmackvolle, künstlerische Reklame beeindrucken. „ Die prickelnde, grellfarbige Sensation, die schnodderige Bosheit, die halbaufgeschürzte Pikanterie reizen die meisten noch stärker als das erlesenste Kunstwerk. " 21 Das Gros der Reklame setzte auf die auffallenden Effekte. Neben beeindruckenden Motiven könne auch die Art der Gestaltung die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. „Der Blick springt von Erscheinung zu Erscheinung, wird leicht ermüdet von dem bunten, tanzenden Geflimmer des Strassenbildes und haftet gern an dem besonders hervortretenden Gegenstand, der ihm einen Ruhepunkt gewährt. Der Mensch bevorzugt die Erscheinung, die er trotz des eiligen Gedränges ganz überschauen kann. " 2 3 Hier müsse ein gutes Plakat als der perfekte Blickfang einsetzen. Während in den neunziger Jahren die Kritik an der verwirrenden Reklame vorherrschte, schien der routinierte Großstädter um 1910 die Reklame nur noch als Informationsträger wahrgenommen zu haben. Plakate als Service rund um die Uhr. 24 Litfaßsäulen als Orientierungspunkte des Großstädters auf der Suche nach Unterhaltung; sie boten dem Vorüberbummelnden an: „Zerstreue Dich!" 25 und lieferten die Angebote gleich dazu. Für Julius Klinger, einen der erfolgreichsten Plakatzeichner um 1910, waren Plakate die Kennzeichen und Charaktermerkmale einer Weltstadt. „Plakate sind die Schönheitspflästerchen im Gesicht der Großstadt. Aus den Plakaten einer Stadt kann man erkennen, ob sie langweilig oder amüsant, ob sie kunstliebend oder gleichgültig ist. " 2 6 Plakate sollen selbst die Unterschiede der Städte, vor allem der beiden deutschen Hauptzentren der Plakatkunst, München und Berlin gespiegelt haben. In der 20
Zabel, S. 248. Großstadt-Reklame, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 18/1910, Sp. 335 f. 22 Paul Westheim: Die Ästhetik der Plakatsäule, in: Organisation, Nr. 12/1907, S. 195. 23 Ders:. Das wirksame Plakat, in: Organisation, Nr. 19-20/1907, S. 334-338, S. 338. 24 So riet ein Schlager: „ Willst du mal so richtig bummeln/Eine Flotte Nacht durchtummeln/Sieh' dir auf der Säule an/Was man unternehmen kann!/Hast du noch von nem Kitt was/Frage blos den kleinen Littfass/Der sagt dir bei Tag und Nacht/Wo m Pinke alle macht. " Julius Freund: Die Nacht von Berlin [Schlagertext], in: Berliner Bummel. Ein lustiger Bärenführer durch das amüsante Berlin, hg. von Edmund Edel/ Felix Schloemp, Berlin 1913, S. 10. 25 E. Vely: Berliner Plaudereien. Die Litfaßsäulen, in: Neues Frauenblatt, Heft 3/ 1904, S. 3-4, S. 3. 26 Julius Klinger: Tagebuchnotizen eines Plakatmalers (I.), in: Das Kontor, Heft 12/ 1909, S. 682-685, S. 682. 21
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Plakatkonkurrenz zwischen den beiden Städten wurde stets der großstädtischere Charakter Berlins herausgestellt. 27 München fehle „die Fülle kommerzieller Energien " 2 8 , die Städte wie Paris oder Berlin beherrsche und in Form vielfacher Lichtreklame in Erscheinung trete, ergänzte ein anderer Autor. Eine Steigerung der Plakatreklame war die Lichtreklame. Als typisches „ Großstadtkind war sie in ihrem ganzen Wesen darauf zugeschnitten, auf die Massen zu wirken. " 2 9 A n ihr entzündete sich, zehn Jahre nach den Plakaten, eine
Quelle: Mitteilungen der Berliner Elektrizitäts-Werke, Heft 12. 1907, S. 183. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 3: Farbige und wechselnde Lichtreklame am Potsdamer Platz um 1907 ähnliche Debatte über die Wirkung neuer Medien. Lichtreklame sei das wirksamste Reklamemittel, um den eiligen Großstädter zu erreichen, glaubte ein Autor 1911 : „Jeder mitten im Kampfe Stehende weiß, daß wir wenig oder keine Zeit zum Lesen und kaum noch Zeit zum Denken haben. Was wir erfahren müssen, kommt uns ungefragt, unverlangt, von allen Ecken und Enden schreit es uns entgegen. Der Großstädter hat keinen Sternenhimmel mehr, die Nacht hat sich zum Tage verwandelt, seine Stadt erstrahlt von hunderttausenden von Lichtern und Flammen; riesenhafte Feuerschlangen winden sich an den Dächern der Häuser, kreisen zuckend um die Namen von Weltfirmen oder deren Erzeugnisse. [...] Wie raffiniert ist die Spekulation auf das gegen Reklame ach so abge27 Vgl. Emil Richter. Placat und Reclame, in: Die Gegenwart, Heft 13/1900, S. 196198, S. 197; Walter Zur Westen: Neue deutsche Plakate, in: Archiv für Buchgewerbe, Heft 11-12/1905, S.486-494, S. 491; Hans Sachs: Bedeutet der Aufschwung Berlins in der Plakatkunst den gleichzeitigen Rückgang Münchens auf diesem Gebiete?, in: Archiv für Buchgewerbe, Heft 3/1907, S. 87-89, S. 89. 28 Georg von Pechmann: Münchner Plakatkunst, in: Seidels Reklame, Heft 4/1914, S. 169-174, S. 169. 29 Richard Kropeit: Die Reklameschule. Leitfaden zum Selbstunterricht im kaufmännischen Reklame-, Inseraten-, Plakat-, Agitations-, Ausstellungs- und Offertenwesen, 2 Bände, Berlin 1907-08, S. 734.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
stumpfte Wahrnehmungsvermögen des blasierten Großstädters. Wenn alle Mittel versagen, die Lichtreklame zwingt ihm allen Respekt ab, appelliert sie doch an den Gesichtssinn, der unvermeidlich und am sichersten auf starke Eindrücke reagiert. " 30 Die Blinkreklame galt als besonders aufdringlich. 31 Nur in einer ruhigen, dunklen Straße könnten dauernd leuchtende Schilder einen starken Eindruck hinterlassen. In einer belebten Geschäftsstraße versuchten mehrere Lichtreklamen durch auffallige Schalteffekte die größte Aufmerksamkeit zu erringen. Je deutlicher das Auf- und Abblinken der Schilder, desto größer sei die Wirkung. 32 In Berlin sorgte die Einweihung der neuen Lichtreklame des kaufenden' JosettiMännchen kurz vor Weihnachten 1912 fur einen so großen Menschenandrang, daß der Polizeipräsident über die Feiertage deren Betrieb verbot. 33 In der Lichtreklame ,kippte' die Schrift: vertikale Schilder durchzogen nach und nach die Geschäftsstraßen, begannen in den obersten Stockwerken und liefen bis zum Erdgeschoß nach unten. Zunächst wurden die Buchstaben auf einfachen Geschäftsschildern in herkömmlicher Leserichtung nebeneinander geordnet und dann um 90° gekippt, so daß die Betrachter ihren Kopf ebenfalls zur Seite neigen mußten, um diese Schilder zu lesen. Ein Grund für diese Anordnung waren die strengen Vorschriften der Baupolizei, die ein Hineinreichen der Schilder in den Luftraum beschränkten. Um 1911 wurden dann die Buchstaben untereinander angeordnet und dadurch die Leserichtung wie im Kreuzworträtsel ausgerichtet. 34 Ein Autor verwies 1924 auf die Parallelen zwischen den verschiedenen Medien der Reklame und dem Film: die Bewegung als wichtiges Element im Wahrgenommenen, nicht mehr im Wahrnehmenden. Vor allem in der Lichtreklame, in der ab 1912 einzelne Bewegungsphasen hintereinandergeschaltet wurden, erkannte er eine Nähe zum Film. Aber auch andere Reklameträger erforderten ein ,filmisches' Sehen. Die Plakate an den vorbeifahrenden Bussen, ihr „flimmerndes Vorübergleiten sowie die Reihung von gleichen Plakaten entlang eines Bauzaunes ließen solche Parallelen erkennen. „Es entsteht dadurch ein starkes Moment weiterschreitender Bewegung, und wohl jeder hat den Eindruck schon gehabt, daß die Aufmerksamkeit ungewöhnlich stark von sol-
30
Paul Lorenz: Moderne Lichtreklame, in: Das Kontor, Heft 9/1911, S. 482. Vgl. Schaufenster-Wettbewerb, in: Organisation, Nr. 13/1910, S. 311. 32 Vgl. Arthur von Alkier. Elektrische Lichtreklame, in: Seidels Reklame, Heft 4/ 1914, S. 181-191, S. 188 f. 33 Vgl. Colin Ross: Lichtreklame, in: Zeit im Bild, Heft 6/1913, S. 300-302, S. 302. 34 Abb. der unterschiedlichen Möglichkeiten Buchstaben vertikal anzuordnen in: Mitteilungen der BEW, Heft 1/1912, S. 9. 31
I. Reklame als Medium der Großstadt
eher Reihung beansprucht. Der Hinweis auf das Flimmernd-Bewegliche Films liegt hier wohl auf der Hand. " 35
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des
Die schon bei der Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung laut gewordene Befürchtung, daß der Verlust der Dämmerung und der Nacht zum Verlust der Besinnlichkeit führe, fand mit der Lichtreklame neue Nahrung. Die Menge der Reklamebeleuchtungen sorge dafür, daß die großstädtische Straße nachts heller als tags leuchte.36 Die Jahreszeiten, die natürliche Dunkelheit des Winters, werde durch die moderne Beleuchtungstechnik aufgehoben. Karl Bücher meldete noch 1917, rund zwanzig Jahre nach der Einführung der elektrischen Lichtreklame, sein Unbehagen an der irritierenden Wirkung der Firmenschilder auf den Dächern an. „ Sie hat aber den Vorzug, sich Aufmerksamkeit zu erzwingen, haftet aber doch wohl am wenigsten im Gedächtnis der Menschen, die sich nicht einmal nach Eintritt der Dunkelheit vor den auf sie eindringenden Zumutungen eines verkaufslustigen Angebots schützen können. " 37 Selbst direkte gesundheitliche Schädigungen wollten Kritiker nicht ausschließen. Ärzte warnten vor dem „Licht-Zuviel" 38 und forderten eine Reduzierung. Auch im ,Kunstwart 4 beklagte man die Reizüberflutung des Städters durch die Lichtreklame. 39 Was vielen Betrachtern die beschauliche Ruhe und die wohltuende nächtliche Dunkelheit zerriß, war einem anderen Autor allerdings beruhigender Hinweis auf den fortlaufenden geschäftlichen Rhythmus: „Selbst wenn wir schließlich nach des Dienstes ewig gleichgestellter Uhr ermüdet von den Lasten des Tages unseren heimatlichen Penaten zustreben, dann strahlen von den Gipfeln der Häuser an den Hauptverkehrsplätzen der Großstadt riesengroße, erleuchtete Buchstaben, die oft die Farben wechseln, den Namen eines Erzeugnisses in das Dunkel der Nacht und beweisen uns, daß die Werke des
35 Kurt Briebach: Die Reklame im Straßenbild der modernen Grossstadt, in: Die deutsche Reklame-Industrie. Sonderausgabe zur Reichs-Reklame-Messe Berlin 1925, hg. vom Arbeitsausschuss der Messe und dem Verein Deutscher Reklamefachleute, Berlin 1925, S. 71-74, S. 73. Briebach sah eindeutig den Film als „Schrittmacher aller übrigen Straßenreklame; diese ist innerlich mit dem Film verwandt oder basiert ganz unmittelbar auf denselben physikalischen oder technischen Voraussetzungen wie der Film". Auch in der Anzeigengestaltung wurde diese Reihung eingesetzt. Ernst Deutsch z. B. zeichnete Anzeigen mit solchen ,Phasen4 für Barthman Schuhe, in: Berliner Lokalanzeiger, 18.9.1912. Eine Abbildung solcher gereihter Plakate z. B. in: Alt-Berlin. Historische Fotografien von Max Missmann, hg. von Wolfgang Gottschalk, Leipzig/ Weimar 1987, Abb. 49,, Bahnsteig des Untergrund-Bahnhofs Kaiserhof, 1909'. 36 Vgl. Anselm Heine: Berlins Physiognomie, in: Ich weiß Bescheid in Berlin 1908/09, S. 1-25, S. 15. 37 Bücher, S. 474. Das Nacht-zum-Tage-Werden galt schon Erb als eine Ursache der Reizüberflutung, vgl. Wilhelm Erb: Uber die wachsende Nervosität unserer Zeit 1893, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen, Bd. II, Leipzig 1910, S. 279-299, S. 289. 38 F. K. \ Zuviel Licht?, in: Zeit im Bild, Heft 7/1911, S. IV. 39 Strassenreklame, in: Der Kunstwart, Heft 17/Juni 1907, S. 286-287, S. 287.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Quelle: Werner Hellweg: Die Außenreklame in Stadt und Land, Hamburg 1919. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 4: Straßenschilder in Hamburg
I. Reklame als Medium der Großstadt
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Handels fortleben, auch wenn der Geist der Menschen ruht, um neue Kräfte für den kommenden Tag zu sammeln. " 40 Da die Begriffe für das fehlten, was heute als ,visuelle Reizüberflutung 4 definiert wird, versuchte man, die Reklame mit dem Wortschatz der akustischen Reizüberflutung zu fassen. So wurde die Reklame als „ ins sichtbare übersetzte(r) Lärm " beschrieben. „Lärm in allen seinen Abstufungen, vom gedämpftem Anruf, wie ihn das einfache Ladenschild unaufdringlich ertönen lässt, bis zum schrillen Schrei, zum Trommelgerassel und Trompetengeschmetter, mit dem grellbunte Riesenschilder, knallige Giebelreklamen, zuckende Lichteffekte unsere Gesichtsnerven überfallen. " 4 1 Ganz ähnlich formulierte ein anderer Autor: die Zunahme der Reklame „ vermittelt Eindrücke, die, würden sie in Töne umgesetzt, eine schauerliche Katzenmusik über uns ergiessen würde. " 4 2 Durch ihren unruhigen Aufbau wurde die Lichtreklame zur Chiffre einer umfassenden „ Verstörtheit. " 4 3 Eine Lichtreklame der Zigarettenfirma Manoli - „ein sich anscheinend mit beängstigender Geschwindigkeit drehender Kreis hoch oben an den Häusern " 4 4 - wurde im täglichen Sprachgebrauch der Berliner Bevölkerung als ,Manoli-linksrum' zum Synonym fur den Begriff,verrückt 4 .
2. Die Schauseite der Waren In der Diskussion um die gesteigerte Genußsucht und die damit einhergehende Reizüberflutung des Städters spielte die Konfrontation des Sehenden mit der Ware eine große Rolle. Eine geschickte Warenpräsentation durch Schaufensterauslagen, Plakate oder Anzeigen sei eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Konsums, wecke Begehrlichkeiten und werde von den Händlern und Fabrikanten bewußt zu diesem Zweck eingesetzt. In der Tat wurde der Warenpräsentation steigende Bedeutung beigemessen. Diese öffentliche Warenpräsentation fand vor allem in den Schaufenstern statt. Sie bildeten einen transparenten Raum zwischen Innen und Außen und waren Schnittstellen zwischen 40
Walter Hess: Moderne Reklame, in: Organisation, Nr. 2/1910, S. 35-38, S. 36. A. Ciddow: Strassenbild und Reklame. Ein Grossstadtproblem, in: Das Plakat, Heft 2/1913, S. 60-65, S.61. 42 Otto Paul Rosenburg: Vom Wesen und Unwesen der Schilderei, in: Das Plakat, Heft 2/1917, S. 121. 43 Emil Stutzer: Die deutschen Großstädte. Einst und jetzt, Berlin/Braunschweig/ Hamburg 1917, S. 75. 44 Vgl. P. M. Grempe: Lichtreklame, in: Seidels Reklame, Heft 3/1913, S. 85-88, S. 85. Er schrieb, Berliner würden diese Reklame als „unangenehm " empfinden. Die Manoli-Reklame nahm Kirchner 1914 in dem Gemälde ,Leipziger Straße mit elektrischer Bahn, Kleines Stadtbild' auf, vgl. Magdalena M. Moeller: Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913-1915, München 1993, Abb. 72. Ebenso einige Zeichnungen von George Grosz. Er kannte auch dieses Synonym, vgl. Grosz , S. 46. 41
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Verkauf und Einkauf, zwischen Begehren und Haben. Dabei kam es, ähnlich wie bei den anderen Reklameträgern, zu einer Umkehrung der Beziehungen: Die Ware wurde zum Subjekt. Der Schriftsteller Alfred Döblin sah die Waren in den Schaufenstern - in ihrer Masse und ihrem Arrangement - als Agierende, die das Publikum bloß reagieren ließen: „ Vollgestopft von oben bis unten die Häuser wie Regale. Hinter den Scheiben die Dinge, auf die Menschen losgelassen. " 45 Seit den neunziger Jahren wurde in der Fachpresse die Wichtigkeit einer geschickten Warenpräsentation für den Absatz diskutiert. Eine schön aussehende Ware werde sich auf dem Markt eher durchsetzen. „Je netter, je hübscher, je ansprechender die Verpackung, desto mehr empfiehlt sich die Waare " 4 6 , lautete die Botschaft. Über Schaufenster-Dekoration hieß es 1897, „es ist also nicht mehr das allein Wichtige, , was ' man ausstellt, sondern fast ebenso wichtig ist: wie man es ausstellt. " 4 7 Dem Käufer unterstellte der Nationalökonom Grunzel wachsende Ansprüche: „(...) er verlangt nicht bloß eine bestimmte Qualität der Ware, sondern auch, daß die Ware in einer entsprechend hübschen Ausstattung präsentiert wird. Wie die Leute nach den Kleidern, so werden die Waren häufig nach ihrer Emballage beurteilt; man schließt von der Äußerlichkeit auf den inneren Wert und wird beispielsweise leicht versucht sein, eine Zigarre nur deshalb als eine gute Sorte anzusehen, weil sie ein rotes Bändchen trägt, oder einen Stoff für besonders gut zu halten, wenn er in ein schönes Papier und bunte Bänder gewickelt ist. Das machen sich die Produzenten und Kaufleute teilweise zu Nutze, und der Fall ist nicht selten, daß die Emballage einen höheren Wert darstellt als die Ware selbst. " 48 Georg Simmel führte die wachsende Bedeutung der Warenpräsentation auf die schärfer werdende Konkurrenz zurück, als er die Warenpräsentation und deren Funktion auf der Berliner Gewerbeausstellung 1896 erläuterte. Die „Schaufenster-Qualität der Dinge" zähle nicht nur bei Ausstellungen. Allgemein sei wegen der verschärften Konkurrenz die Tendenz zu beobachten, „den Dingen über ihre Nützlichkeit hinaus noch eine verlockende Außenseite zu geben " und 45
Alfred
Döblin: Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine, München 1987 [1918],
S. 315. 46
Dillmann, S. 25. Vgl. auch Aufmachung, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 16/ 1892, S. 197-198. 47 Schaufenster-Decoration, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 1/1897, S. 11. 48 Josef Grunzel: System der Handelspolitik, Leipzig 1901, S. 197. Vgl. auch F. C. Huber: Warenhaus und Kleinhandel, Berlin 1899, S. 11. Er macht dieses Bedürfnis auch bei den Arbeiterfrauen aus, die nicht nur die eigene Wohnung verschönern, sondern auch in entsprechender Atmosphäre einkaufen wollten. In der ,Geschäftspraxis 4 wurde der Zwang zu luxuriöserer Geschäftsausstattung und auffallenderen Firmenschildern damit begründet, daß die Berliner und Berlinerinnen „verwöhnt" seien. Vor allem Frauen würden einfachen Läden keine Aufmerksamkeit mehr schenken, vgl. Berliner Firmenschilder, in: Die Geschäftspraxis, Heft 10/1896, S. 211-219, S. 213.
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fehlende Zweckmäßigkeit durch kunstvolles Arrangement der Ware zu übertünchen. „Dies ist der Punkt, an dem gerade aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth eine Wendung in das ästhetische Ideal erwächst. [...] Das banale Bestreben, die Dinge ,ins rechte Licht zu setzen läutert sich aus dem marktschreierischen Vordrängen zu den interessantesten Versuchen, ihnen durch das Arrangement ihres Zusammenseins neue ästhetische Bedeutsamkeiten zu verleihen. " 4 9 Die Ware werde aufgewertet und auf diese Weise ihre Anziehungskraft auf den Käufer gesteigert. Die Entwicklung der Reklame zur Plakatkunst deutete er als Zeichen der Ästhetisierung der Ware.
a) Der Anblick der Ware Das Schaufenster als Ort der öffentlichen Warenpräsentation sollte Begehren wecken und zwischen Ware und Käufer vermitteln. Um die Kauflust anzuregen, sollte über die ,reale4 Ware hinaus das ihnen zugewiesene Äußere, die spezifische Verpackung als Lockung dienen. Das Schaufenster wurde zur Bühne, auf der Attrappen und aufwendige Inszenierungen der Anziehung des Publikums dienten. „Die Objekte führen dort ihre Pantomime auf, und die Vorstellung dauert während des ganzen Tages. " 5 0 Nicht nur edle Waren, Schmuck und teure Stoffe, mehr und mehr auch alltägliche Gegenstände, Haushaltswaren und Lebensmittel wurden aufwendig dekoriert. Beliebt war es, Waren in der Gestalt anderer Gegenstände zu dekorieren. Säulen aus Würsten, Büsten aus Seifen entstanden, und Blumen steckten in Korsetts aus Draht. 51 Mitunter ersetzten auch Abbildungen die Ware. 1894 beschrieb der Direktor des Frankfurter Kunstgewerbemuseums und Plakatfreund Ferdinand Luthmer die neuesten in den Geschäften angebrachten Plakate. Sie hätten die Ware als Auslage abgelöst oder zumindest ergänzt. ,, Wo sonst Schinken und Salami, Datteln und Sardinenbüchsen anmuthige, malerische Gruppen bildeten, ist heute die Kunst eingezogen. Bei manchen weiß man thatsächlich nicht, ob man es mit einer Kolonialwaren· oder einer Kunsthandlung zu thun hat! " Früher wurde das Original ausgestellt, „ heute hilft man der trägen Phantasie des Beschauers nach, indem man im Bilde darstellt, wie diese schönen Dinge auf den Betrachtenden wirken. " 5 2 Die Originalverpackung der Kolonialwaren, die chinesischen Teekisten 49
Georg Simmel: Berliner Gewerbeausstellung, in: Die Zeit, Jg. 6, Nr. 95/1896, S. 59-60, S. 60. 50 Felix Poppenberg: Moderne Schaufensterausstattung, in: Die Woche, Heft 50/ 1900, S. 2246-2247, S. 2246. Zur Bühnenmetapher vgl. auch Maximilian Harden : Wertheim-Theater, in: Die Zukunft, Berlin, Nr. 67/1894, S. 45-47. 51 Vgl. Ders.: Schaufenster-Regie, in: Arena, Heft 9/1906, S. 965. 52 Ferdinand Luthmer: Reklame- und Plakat-Kunst, in: Die Reklame, Heft 2/1894, S. 31-32, S. 31. Luthmer war einer der ersten, der Plakatausstellungen, zunächst mit fran4 Lamberty
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
und die Manillasäcke hätten an Faszination verloren; Bilder aber seien imstande, Assoziationen an exotische Länder zu wecken. Für die Warenpräsentation im Schaufenster gewann das Licht eine herausragende Bedeutung. Im ,Berliner Lokal-Anzeiger 4 beschrieb 1898 ein Autor das gewandelte Schaufenster: „Noch vor wenigen Jahren war es vollauf genug, das Schaufenster durch aneinander gereihte Flammen zu erhellen. [...] Erreicht war ja auch der Zweck der Beleuchtung: die ausgestellten Gegenstände erkennen zu lassen! Und nun innerhalb ganz kurzer Zeit diese Veränderung. Heute ist die Beleuchtung Selbstzweck geworden. Schon sie allein soll Bewunderung und Aufmerksamkeit erregen. Wir sind so weit, daß bereits der einzelne Gegenstand durch eigene Körper beleuchtet wird. Dinge alltäglichen Gebrauchs sind von einem Strahlenkranz umgeben, der das Auge blendet. Da werden roth, grün, blau schimmernde Glühlichter vereinigt, um mit ihrem magischen Licht Schuhwaren zu übergießen. [...] Die Büsten, welche den Sitz von Jacken, Blousen, Kostümen zur Anschauung bringen, sind mit elektrischen Birnen gekrönt und in Kunstserien erblicken wir einzelne Bonbonnièren- und Konfitürenschalen in elektrischer Beleuchtung. Auch außen spielen allerhand Effekte mit. Da finden wir Schaufenster, die an der Straße ein Rahmen von Lichtkörpern umkränzt. An anderer Stelle begegnen wir einem Wechselspiel der Farben, indem bald grün, bald roth das Licht sich ergießt. Hierzu kommt, daß viele Auslagen mit Spiegeln überdeckt sind, in denen die Strahlen reflektieren, wodurch ihre Wirkung verdoppelt wird. [...] So grüßt uns allabendlich ein Bild voll strahlender Schönheit, voll Pracht und Farbenglanz. Berlin schwimmt in einem Meer von Licht, als gälte es, ein hohes Fest, einen großen Freudentag zu feiern. Und dennoch ist es nichts weiter als die Alltäglichkeit des Daseinskampfes, der hier an Stelle der Beleuchtung gesetzt hat - die Illumination! " 5 3 Nicht allein die Begeisterung für die Elektrizität beflügelte diesen Autor, sondern auch die Faszination, daß profane Dinge des Alltags plötzlich Objekt einer gezielten Beleuchtung werden. Das Ausstellen von Waren in bunter Vielfalt und in riesigen Mengen sollte ebenso wie auch andere Zeichen und Bilder der Reklame den Eindruck von Überfluß vermitteln. Die endlose Verfügbarkeit der Ware sollte den Käufer in Sorglosigkeit wiegen und von der Endlichkeit seines Portemonnaies ablenken. Der Fortschritt bot sich als endloser Warenstrom dar, die Teilhabe am Konsum entpuppte sich als Inbegriff des modernen Lebens. Für den ehemaligen Plakatzeichner und Feuilletonisten Edmund Edel wurde eine Lichtreklame für Sekt zum Zeichen des Schlaraffenlandes: „Oben am Giebel schütten sich automatisch elektrische Lichtfunken aus einer fantastischen Sektflasche in ein Spitzglas: Der nie versiegende Strom des perlenden Champagners. Eine Reklame für zösischen Exponaten, in Deutschland organisierte, vgl. J. Norden: Plakat-Kunst, in: Propaganda, Heft 1/1897, S. 29-37, S. 33. 53 Zit. nach: Die Geschäftspraxis, Heft 7/1898, S. 212-213.
I. Reklame als Medium der Großstadt
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eine Sektmarke: Berlin, die durstige Champagnerstadt, die Stadt, wo Sekt und Whiskey fließt. " 54 Neben der Anhäufung verschiedenster Waren in einem Fenster konnte auch das gleiche Produkt in seiner Quantität ausgestellt werden, quasi als Wiederholung seiner Attraktivität. „Ich entsinne mich, in dem Riesenschaufenster eines Warenhauses einmal weiter nichts gesehen zu haben, als braun gebundene Reklambändchen. Mir war 's, als seien die kleinen, wohlbekannten Bücher die appetittlichsten, einladensten Bücher der Welt. Sie lagen und standen kunstvoll geordnet umher, ganze Gebäude hatte der pfiffige Verkäufer errichtet, Säulen, Pyramiden und Triumphbogen, und alle wiederholten eindringlich die stumme Mahnung: sieh mich an und nimm ' mich mit. " 5 5 In einem weiteren Schritt wurde nicht mehr der einzelne Artikel in seiner massenhaften Verfügbarkeit gezeigt oder sein Charakter verfremdet, sondern seine Einzigartigkeit demonstriert. Ab 1905 entwickelte sich eine Gegenbewegung zur Demonstration des Warenüberflusses. Die Besonderheit der Waren wurde gezeigt, eine „suggestive Auslese" s6 getroffen, die Ware auf angestrahlten Thronen präsentiert. Diese Ausstellung des Einzelstücks verstand sich als direkte Reaktion auf die Massenproduktion und zielte auf eine Personifizierung der Massenartikel, wie sie auch bei der Schaffung von Markenartikeln zu beobachten ist. Die suggerierte Einzigartigkeit der Ware kam dem Bedürfnis der kaufkräftigeren Schichten entgegen, sich von der Massenware und damit der ,Masse4 überhaupt abzusetzen. Allmählich setzte sich die Ansicht durch, daß - zumindest in der Großstadt - auch das Schaufenster nach einer Ästhetik verlange, die ähnlich der des Plakats auf Fernwirkung basiere und nicht die Gegenstände, sondern die Farbe wirken lasse. Das Schaufenster dürfe nicht auf eine Betrachtung in Ruhe ausgerichtet sein. Es müsse wie ein Plakat klar und auffallend in Form und Farbe gehalten sein, um geschmackvoll und zugleich wirksam werben zu können. Damit begann eine schwierige Gratwanderung zwischen geschmacklicher Diskretion und Reiz.57 Karl Ernst Osthaus, einer der Wortführer des Deutschen Werkbundes in Sachen Reklame ging noch weiter und überhöhte die schlichte Aufgabe, ein Schaufenster zu gestalten, geradezu ins Religiöse. Es gelte ein konzentriertes Betrachten der isolierten Ware im Schaufenster zu ermöglichen, nur so könne das „Mysterium der Vermählung des Käufers mit der Ware " gelingen. Die Betrachtung der Ware im Schaufenster dürfe nicht durch ein wildes Durcheinander der Beleuchtungen verschiedener Schaufenster gestört werden. „Dem Kaufmann, der seine Ware verkaufen will, kann es nicht gleichgültig sein, ob der defilierende 54
Edmund Edel: Zum Geleit, in: Berliner Bummel, S. 3-4, S. 3. E. Kalkschmidt: Das Warenhaus im Dienste ästhetischer Kultur, in: Der Kunstwart, Heft 1 O/Februar 1906, S. 564-566, S. 565. 56 Felix Poppenberg: Schaufenster-Regie, in: Arena, Heft 9/1906, S. 966. 57 Vgl. Rudolf Lothar: Schaufenster-Wettbewerb. Kritische Glossen eines Jurors, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1910. 55
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Menschenstrom sich nur an der Atmosphäre von Glanz und Licht berauscht. Er will fesseln, locken, in Hemmung versetzen; die Ware soll für ihn Bedeutung gewinnen, soll sich durchsetzen, den ganzen berauschenden Glanz vergessen machen und allein sein mit Jedermann. So allein, daß die magische Suggestion ihre Fäden spinnt und der Gebannte nicht loskommt von dem Gedanken: Dich muß ich besitzen. " Diese fast hypnotische Bannung des Betrachters durch die Ware sollte das moderne Schaufenster in Zukunft durch die schlichte Sachlichkeit der Dekoration und eine dadurch erreichte Aufwertung der Ware erlangen. Das Licht verzauberte auch bei eigentlich profanen Waren. „Das Ganze atmet jene Stimmung, die das Kind vor dem Vorhange empfindet, der ihm zum ersten Male die Welt der Träume erschließen soll. Was in diesem Zauberschreine dargeboten wird, ist allemal etwas Kostbares, und wären es nur Stiefel aus schwarzem Leder. " 58 Auch die Vorführung der Waren durch lebendige Personen, meist Frauen, machte das Schaufenster zur Bühne. In der Tradition der Zigarrenmacher und -macherinnen, die lange im Schaufenster arbeiteten, galt ,lebende Reklame' als besonders wirkungsvoll. Stollwerck machte solche Reklame 1867 mit der Produktion der Süßwaren im Schaufenster. 59 Später wurden von anderen Firmen hübsche Schreibmaschinistinnen oder ,Exoten' ins Schaufenster gesetzt. Wertheim ließ Mannequins im Schaufenster Mäntel anprobieren und hin- und herschreiten; rasch sammelte sich eine Menschenmenge vor dem Warenhaus.60 Diese Form der Warenpräsentation war nicht neu, kam aber beim Publikum offensichtlich gut an. 1908 begann man auch in Deutschland nach französischem Vorbild in den Modehäusern die neuesten Modelle durch Angestellte auf einer aufwendig beleuchteten Bühne zu präsentieren. „Die Toiletten werden nicht, wie bisher üblich, auf Ständern oder in der Hand präsentiert, sondern gut gewachsene ,Gelbsterne' führen sie uns einzeln vor - genau wie in Paris. " 6 1 Das Warenhaus Tietz vervollkommnete diese Art der Warenpräsentation ab 1910 mit Modetourneen. 62 Ein Modehaus wies in seinen Plakaten noch 1913 aus-
58
Karl Ernst Osthaus: Das Schaufenster, in: Jahrbuch des DWB 1913, S. 60-69,
S. 62 f. 59
Manuskript Kuske, S. 41 (StA). Vgl. Figuren, die wirklich leben, in: Das moderne Geschäft, Heft 20/1913, S. 12. 61 Neue Berliner Kaufhäuser. 1. Das Haus Manheimer, in: Die praktische Berlinerin, Heft 2/1908, S. 3. Gelbsterne, Blausterne, Weißsterne, Grünsterne etc. waren Bezeichnungen für Kleidergrößen. Übertragen wurden diese Begriffe auf die vorführenden Verkäuferinnen. 62 Tietz setzte dazu französische Mannequins ein. Nach eigener Aussage war er der erste, der diese Art der Modeaufführungen in Deutschland einführte, vgl. Georg Tietz: Hermann Tietz. Geschichte einer Familie und ihrer Warenhäuser, Stuttgart 1965, S. 107. 60
I. Reklame als Medium der Großstadt
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Quelle: Schaufensterwettbewerb für Gross-Berlin, Berlin o.J., Staatsbibliothek Berlin
Abb. 5: Dekoration anläßlich des Schaufensterwettbewerbes in Berlin 1909
drücklich auf „Mannequins vivants" hin und annoncierte die Modenschau als „ Theater der Moden " 6 3 mit einem entsprechendem Bühnenszenarium. Mitunter gerieten die Präsentationen auf der öffentlichen Bühne Schaufenster ins Kreuzfeuer der Kritik. Denn Schaufenster konnten auch zum Ort unsittlicher' Darstellungen werden. Im ,Kunstwart 4 beklagte 1905 ein Autor den Inhalt der Schaufenster. „ Ein Drogist bietet allerlei Toilette- und Schönheitsmittel aus [!], und mitten dazwischen hat er einen mit gräßlicher Lebenstreue wiedergegebenen Abguß eines mißgestalteten menschlichen Fußes mit Hühneraugen, Frostbeulen, eingewachsenen Nägeln usw. ausgestellt. ,i( A Ahnliche Ausstellungsgegenstände habe er auch bei Schuhmachern und Dentisten gesehen. Auch die Präsentation von Särgen, Korsetts, Toiletten und Krankenbedarf hielt er für eine geschmacklose Überschreitung der Grenzen zum Privatbereich. 1914 sorgten die Korsettgeschäfte fur Wirbel. In einer Dekoration eines Korsettgeschäfts in Berlin wurde mittels einer lebensgroßen Wachspuppe eine Braut dargestellt bekleidet einzig mit Schleier, Brautkranz, Schuhen und Korsett. Solche Dekorationen, die „ganz andere Gedanken hervorriefen, als eine Empfehlung des betreffenden Korsetts und darum nicht nur in sittlicher Beziehung, sondern auch
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Plakat für Kersten & Tuteur von Ernst Deutsch 1913. Abb. in: Antony Lipmann: Der Dandy als Designer. Ernst Dryden. Plakatkünstler und Modeschöpfer, München/Luzern 1989, S. 42/43. 64 O. Grunner: Schaufenster-Aesthetik, in: Der Kunstwart, Heft 3/November 1905, S. 173-175, S. 174.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
vom Standpunkte der Reklame aus als Fehler anzusehen waren " 6S, wurden auch von Reklamefachleuten verworfen und das Eingreifen der Polizei begrüßt. Interessant ist eine Erklärung in einer Reklamefachzeitschrift für das scharfe Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Die plumpen deutschen Imitationen der bis dahin verwendeten französischen Puppen würden vulgär wirken und sowohl Spott als auch polizeiliches Eingreifen provozieren. 66 Auch Büsten in Friseurgeschäften galten nun als unsittlich. Die Polizei intervenierte unter Berufung auf den § 184 St. G. B. und wurde durch Frauenrechtlerinnen und einen Vertreter des Jugendschutzes unterstützt. 67 Die Chefs der Berliner Korsettgeschäfte einigten sich daraufhin, ihre Dekorationen zurückhaltender zu gestalten. Aber zu spät: Die Augen der Staatsanwaltschaft waren von den Schaufenstern nicht mehr wegzulenken. Die Mitglieder der Barbier-, Friseur- und Perückenmacherinnung wurden durch die Innung angehalten, bei den Wachsbüsten die Ausschnitte nicht zu tief anzusetzen. Inhaber von Friseurgeschäften wurden auf die Polizeireviere zitiert und ihnen befohlen, die Wachsbüsten aus den Fenstern zu nehmen.68 Die drohende Zensur prägte das gesamte Klima in der Dekorationsbranche. 69
b) Schaufensterbummel Ein Spezialist für Schaufenstergestaltung behauptete 1906, die Wände der Straßen sind „ transparent geworden, lichtdurchflutet, bieten bunte Bühnen, changierende Panoramen dar. " 7 0 Und in einer Werbeschrift für Elektrizität hieß es 1911: „Das Straßenbild unserer Städte hat durch die großzügige Anlage elektrischer Beleuchtung und den feenhaften Glanz im elektrischen Lichte erstrahlender Schaufenster ein vollkommen verändertes Aussehen erhalten. " 71 Das forderte zu einem neuen Umgang mit der Stadt heraus. Der Schaufensterbummel wurde als Freizeitvergnügen und Informationsmöglichkeit entdeckt.
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Schaufenster, in: Seidels Reklame, Heft 1/1914, S. 23-26, S. 23 f. Vgl. auch Lothar Brieger: Nacktheit und Reklame, in: Seidels Reklame, Heft 2/1914, S. 51-52. 66 Vgl. Unzüchtige Schaufenster, in: Mitteilungen des VDR, Heft 1/1914, S. 24-25, S. 24. 67 Dieser Paragraph verbot die Ausstellung unzüchtiger Darstellungen' und wurde in der Regel bei Pornographie und Verhütungsmitteln angewendet, vgl. Ludwig Pickardf. Reklamerundschau, in: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Annoncen-Expeditionen, Heft 7/1914, S. 100-102, S. 101. 68 Vgl. Die unkeuschen Wachsbüsten, in: Das moderne Geschäft, Heft 1/1914, S. 10. 69 Vgl. Ludwig Pickardt: Reklamerundschau, in: Zeitschrift des Verbandes Deutscher Annoncen-Expeditionen, Heft 7/1914, S. 100-102, S. 101. 70 Felix Poppenberg: Schaufenster-Regie, in: Arena, Heft 9/1906, S. 963-970, S. 963. 71 Hermann Zipp: Alles elektrisch! Ein Wegweiser für Haus und Gewerbe, Berlin 1911,S.5.
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Begonnen hatte die Einübung des Schaufensterbummels als Freizeitvergnügen in den Passagen. Durch eine Glasdachkonstruktion wurde hier ein halböffentlicher Raum geschaffen, der die Lichthöfe der späteren Warenhäuser vorwegnahm. Vor Regen geschützt, unbelästigt vom Straßenverkehr konnten hier in Ruhe die Waren in den Schaufenstern und die Menschen in den Cafés betrachtet werden. Hier wurden zuerst verschiedene Reklameformen geballt angewandt: Schaufenster und Vitrinen, ausgefeilte Beleuchtung und zahlreiche Schilder. 72 In Paris gab es solche Galerien und Passagen schon seit 1790. In Deutschland wurden Passagen ab 1842 gebaut. Die Berliner Kaisergalerie mit 51 Geschäften, Cafés, Restaurants, einem Postraum, einem Konzertsaal und dem Kaiser-Panoptikum wurde 1873 eingeweiht.73 Die Mischung aus Einkauf, Unterhaltung, Müßiggang und Zeitvertreib im Umherbummeln wurde später von den Warenhäusern wieder aufgenommen. Für Benjamin waren die Passagen „ Urlandschaften der Konsumption da aus ihnen der Verkehr - die zweite Komponente der Straße - verbannt sei und nur noch der Handel übrigbleibe. „Sie ist nur noch geile Straße des Handels, nur angetan, Begierde zu wecken. " 74 Seit den achtziger Jahren wurde über das Bummeln in den Geschäftsstraßen berichtet. Noch galt die durch kaufende und betrachtende Menschen belebte Straße mit ihren Schaufenstern, Reklameschildern und Zettel Verteilern als relativ neue Erscheinung. Julius Rodenberg beschrieb 1884 die Brunnenstraße im Norden Berlins, eine junge, allerdings weniger feine Geschäftsstraße. „Hier ist Laden an Laden, und am Abend, wenn die Lichter funkeln, blitzt und schimmert es hinter den Fenstern, vor denen, auf beiden Seiten, eine kauf und schaulustige, wenig verwöhnte Menge hin- und herwogt. " 7 5 Verteiler von farbigen Zetteln, die fur Vergnügungsetablissements warben, vervollständigten das Leben auf dieser Straße. Hans Ostwald nannte den Schaufensterbummel das „Schönste, was Berlin bietet" und fügte hinzu: „ Wie unabsehbare Galerien einer Riesenausstellung begleitet den Spaziergänger eine ununterbrochene Reihe von großen Spiegelscheiben, hinter denen Luxus, Mode und Geschmack ihre lockenden Werbemittel ausgelegt haben. " 7 6 In einem Stadtführer Berlins wurde der
72 Vgl. Wolfgang Kraushaar. Die Passage als städtischer Mikrokosmos, in: Freibeuter, Bd. 3/1980, S. 84-91, S. 88. 73 Zuerst entstanden Passagen in Hamburg. In Berlin folgten 1892 noch die Lindengalerie und 1909 die Friedrichstraßenpassage. Vgl. Johann Friedrich Geist: Passagen. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, Berlin 1969, S. 99 ff. 74 Wobei er allerdings in den Passagen auch die Prostitution ansiedelt, die diesen Charakter verstärke. Walter Benjamin·. Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1983, Bd. 2, S. 993. 75 Julius Rodenberg: Der Norden Berlins, 1884, zit. nach: Johann Friedrich Geist/ Klaus Kürvers: Das Berliner Mietshaus 1862-1945, München 1984, S. 199. 76 Hans Ostwald: Die Berlinerin. Kultur- und Sittengeschichte Berlins, Berlin 1921, S. 234; S. 337.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Schaufensterbummel in der Friedrichstraße als Vergnügen am Abend angepriesen.77 Für den abendlichen Schaufensterbummel spielte die Entwicklung der Beleuchtungstechnik eine wichtige Rolle. Mit den ersten Gaslaternen in Berlin 1826 begann die öffentliche Straßenbeleuchtung und damit einerseits eine höhere Sicherheit auf den Straßen, anderseits das Nachtleben.78 Erste Berichte über gasbeleuchtete Schaufenster stammen aus den sechziger Jahren. 79 1884 wurde in Berlin Unter den Linden die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt. Licht als Indiz für die Modernität erhöhte das Prestige einer großen Stadt. Berlin galt auf diesem Gebiet bald als besonders fortschrittlich. Die dunkle Jahreszeit, von der Vorweihnachtszeit bis Fasching, war die Hochsaison im Handel. Vor allem dann wirkten auch die beleuchteten Schaufenster sehr anziehend. In den achtziger Jahren dekorierten die Geschäfte nur zu Festtagen besonders feierlich. Anläßlich des Weihnachtsmarktes in Berlin drängten sich dann die Menschen auf dem Schloßplatz: „(...) wir kamen nur langsam vorwärts , theils wegen der Menschenmenge auf der Straße, theils wegen der Läden, die betrachtet werden wollten. [...] Mancher Laden überbot sich auch wirklich selbst. [...] Es ist Alles prunkhaft um diese Zeit, als wenn Illumination wäre, sämmtliche Gasflammen und Lampen, die nur brennen können, haben sie im Gange, und was irgend glitzert und blänkert, liegt in den Schaufenstern aus. " 8 0 Später verlängerte sich die Saison; in der gesamten dunklen Vorweihnachtszeit wurde der Schaufensterbummel zum Vergnügen der Massen.81 „Stundenlang wallt an den früh hereinbrechenden Abenden ein schauund kauflustiges Publikum durch die Geschäftsstraßen und sahen die mit raffiniertem Geschick zur Schau gestellten Waren schon beim Lichte selbst des trübsten Dezembertages verlockend genug aus, so präsentieren sie sich hinter den mit funkelnden Randfacetten geschliffenen Spiegelscheiben noch einmal so elegant in den Strahlen des elektrischen Lichtes und der anderen Lichtquellen, welche die moderne Beleuchtungstechnik im reichsten Maße zur Verfugung
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Vgl. Ich weiss Bescheid in Berlin, S. 49. Vgl. Joachim Schlör : Nachts in der großen Stadt. Paris - Berlin - London, 18401930, München 1991, S. 61 ff. 79 Julius Faucher. Die Luisenstadt 1865, zit. nach: Geist/Kürvers, S. 340. 80 Stinde , S. 75. 81 „ Welches Schreien, welches Rufen ... ! / Gerne geh ' ich durch die Mengen, / von Lichterglanz umfunktelt / Fröhlich Menschenmassen drängen. " - So beginnt ein Ge dicht, das mit einer Straßenszene vor erleuchteten Schaufenstern und Lichtreklamen illustriert ist. Karlernst Knatz: Weihnachtsbummel, in: Arena, Heft 9/1906, S. 971-972. Plakatsäulenbetrachtung, Schaufensterbummel und Warenhausverkauf in der Zeichnung: Allerlei Weihnachtliches, in: Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 52/1899, S. 4. 78
I. Reklame als Medium der Großstadt
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stellt. " 8 2 Der Autor zeigte sich fasziniert von der Lichtmenge, die während der Geschäftszeit die großen Einkaufsstraßen erleuchtete. Heinrich Lux erwähnte das Flanieren als Beschäftigung der Menschen auch nach Ladenschluß.83 Seitens der Beleuchtungsindustrie wurde die Erfindung automatischer Schaltungen als publikumsfreundliche Errungenschaft gepriesen. Nun könnten auch nach Geschäftsschluß die Schaufenster erleuchtet werden: „Auch die vielen Tausende, die bis 8 Uhr an die Arbeit gebunden sind, haben ein Anrecht auf den herrlichen Anblick unserer modernen Schaufenster. " 8 4 Den Berlinbesucher Jules Huret erstaunte, daß die Schaufenster die ganze Nacht über erleuchtet blieben.85 Das hell erleuchtete Schaufenster wirkte wie eine Bühne, die ihr Publikum draußen auf die Straße plazierte. Unterstützt durch Cafés, die ebenfalls auch am Abend Publikum anzogen, erhielt der öffentliche Raum Straße beinahe den halbprivaten Charakter eines großen Innenraumes, dessen räumliche Grenze durch das Licht bestimmt wurde. 86 Die von kaufmännischen Verbänden und Fremdenverkehrsvereinen initiierten Schaufensterwettbewerbe forderten das Publikum regelrecht zum Bummel auf. Anhand der in Tageszeitungen veröffentlichten Adressenlisten der beteiligten Firmen konnte der Bummel genau geplant werden. 87 Und selbst strömender Regen hielt das Publikum nicht von seinem Vorhaben ab.88 Über die Wettbewerbe als Attraktion hieß es: „(...) es war ja wirklich erfreulich, welche Menschenmassen sich beispielsweise in der Leipzigerstraße bewegten und von Schaufenster zu Schaufenster zogen, um sich an den Auslagen zu erfreuen und zu sehen, ob die Jury die Preise richtig verteilen würde. " 8 9 Der Ansturm der Schaulustigen war im September 1910 so stark, daß sogar eine Schaufensterscheibe unter dem Druck der Menge in Trümmer ging. 90 Die Fenster der Warenhäuser waren aufgrund ihrer häufig wechselnden und immer außergewöhnlichen Dekorationen auch außerhalb der Wettbewerbszeit eine Sensation für das Publikum, behauptete zumindest 1914 ein Autor einer Reklamefachzeitschrift:
82 Skoda-Tannhausen: Moderne Schaufenster, in: Universum, Jg. 19/1903, S. 472475, S. 473. Abb. in: Mitteilungen der BEW, Heft 12/1911, S. 182. 83 Vgl. Heinrich Lux: Die Pariser Weltausstellung, in: Zeitschrift für Beleuchtungswesen, Heft 19/1900, S. 211. 84 Max Bayer: Die komplizierte Frage der Schaufensterbeleuchtung, in: Das moderne Geschäft, Heft 2/1914, S. 6-13, S. 13. 85 Vgl. Jules Huret: Berlin um Neunzehnhundert, München 1909, S. 77. 86 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 143. 87 Schaufenster-Wettbewerb, Anzeige in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1909. 88 Der Schaufenster-Wettbewerb am Abend, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 22.9.1910. 89 Adolf Manheimer: Lehren des Schaufenster-Wettbewerbes, in: Textil-Woche, 20.10.1909. 90 Prämiierung im Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 23.9.1910.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
„ Wer einmal das Gedränge vor den großen Warenhäusern gesehen hat, wenn die Fenster neu arrangiert sind; wer erlebt hat, wie die Leute in den vorüberfahrenden Straßenbahnen aufstehen, um wenigstens einen Blick auf die neuen Auslagen zu werfen, wie im Publikum darüber gesprochen wird, fast wie von einer Premiere - der wird zugeben müssen, daß die Gehälter für die Schaufensterdekorateure kein fortgeworfenes Geld sind. " 9 1 Als ein Berliner Geschäft 1902 mit beweglichen Schaufensterfiguren warb, kam es zu einer verkehrsbehindernden Menschenansammlung, die durch die Polizei aufgelöst werden mußte.92 Auffallend ist, daß als Publikum im Zusammenhang mit dem Schaufenster stärker noch als bei den anderen Reklameträgern - nahezu ausschließlich Frauen beschrieben wurden. Nicht nur Exner behauptete, vornehmlich Frauen beurteilten eine Großstadt nach den Schaufenstern. 93 Sie seien viel empfanglicher fur das Gegenständliche als der Mann, der das Abstrakte liebe. So übe gerade das Schaufenster eine ungeheure „Suggestionskraft auf die Frau" 94 aus. Frauen würden Schaufenster mit wahrer Leidenschaft betrachten. Nach dem Kauf wenn einen Mann das Schaufenster, das ihm vorher zur sachlichen Information diente, nicht mehr interessiere - schaue die Frau erneut ins Schaufenster. Diesmal um zu vergleichen, ob ihr Einkauf gelungen sei. Der Mann sei gegen solche Reize immun, Frauen könnten dem Anblick der Ware jedoch verfallen. In Berichten der Tagespresse über Schaufensterwettbewerbe wurden solche Urteile ebenfalls gemacht. Vor den Schaufenstern „ drängte sich eine große, elegante Menge, die, wie es in der Natur der Sache liegt, hauptsächlich aus Damen bestand" 95 Gespalten waren die Meinungen, ob die Betrachtung der Schaufenster den Frauen die Möglichkeit einer stückweisen Rückeroberung der Straße bot. Der Reklamefachmann Haibert pries Schaufenster als frauengemäßen Ort. Das Betrachten der Plakate und das dafür notwendige Stehenbleiben auf der offenen Straße galt für Frauen als unschicklich, so läßt sich die Entrüstung einer Frau begründen, die laut Haibert erklärte: „ Ich kann mich doch nicht auf der Strasse hinstellen, um die Säulen anzugucken. [...] Das Plakat schreit einem öffentlich etwas zu. Eine Frau von Sitte und Anstand lässt sich aber nicht etwas zuschreien. " 96 Dagegen provozierte das Betrachten der Schaufenster kaum Kritik. Sie
91 Louis Kukel: Das ,teure4 Schaufenster, in: Seidels Reklame, Heft 5/1914, S. 219222, S. 219. 92 Bewegliche Schaufenster-Figuren, in: Kontor und Laden, Heft 20/1902, S. IV. 93 Vgl. Robert Exner. Moderne Schaufenster-Reklame, Berlin 1896, S. 1. Ausführlich zu Konsumentinnenbildern, vgl. Kap. G. II. 1 94 Die Frau und die Reklame, in: Organisation, Nr. 8/1914, S. 178-180, S. 179-180. 95 Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1909. 96 Vgl. A. Haibert: Der Geist der Reklame, Sopron 1918, S. 149, 168.
II. Reizüberflutung durch Reklame
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galten zumindest am Tage offenbar als eine Art der Verlängerung des frauengemäßen Privatraumes, während der durch die Beleuchtung gewonnene städtische Raum vor allem am Abend weiterhin in erster Linie den Männern zugute kam. Das abendliche Bummeln brachte zumindest unbegleitete Frauen unweigerlich in den Verdacht der Prostitution. 97 Ostwald, der ,Sittenschilderer' Berlins, postierte die Prostituierten in den halböffentlichen Raum der Passagen.98 Der Blick auf die Frau als Ware entfaltete Suggestionskraft. Ernst Ludwig Kirchner läßt 1914 auf dem Bild ,Drei Strassenmädchen vor Schaufenster 4 neben den Mädchen einen Freier in das Schaufenster blicken, in dem eine golden beleuchtete, scheinbar nackte weibliche Büste steht.99 Auch konnte das Schaufenster als Spiegel dienen, der zwischen Freier und Prostituierter vermittelte. 100 Die Plakatsäule eignete sich ebenfalls als Ort der Geschäftsanbahnung dieser Art. Heitmann beschrieb 1902, wie ihm vor einer Plakatsäule ein Mann „Pikanterie" [m und eine Frau sich selbst anbot. Die Funktion der Reklamemedien, als Vermittler der Nachfrage zu dienen, übertrug sich auf den Ort und die Personen und erleichterte es, dort Sexualität als Ware zu handeln, denn der Anschein, an der Reklame interessiert zu sein und deshalb stehenzubleiben, schützte vor dem Zugriff der Polizei.
I I . Reizüberflutung durch Reklame Seit 1880 wurde die ,Nervosität', die vieldiskutierte Krankheit der Moderne, in der Großstadt verortet. Sie wurde zu einer äußerst populären Krankheit und das Thema Reizüberflutung und Nervosität erregte große Aufmerksamkeit. 102 In Deutschland griff man vor allem auf die wegweisende Arbeit des Amerikaners George M. Beard zurück und bezeichnete die neue Krankheit als „american nervousness " l 0 3 Umgangssprachlich bürgerte sich für die Neurasthenie der Na97
Vgl. Schlör, S. 165 ff. Vgl. Hans Osthaus: Dunkle Ecken und Winkel, in: Ich weiß Bescheid in Berlin 1908/09, S. 305-313, S. 306. 99 Abb. in: Ich und die Stadt, Mensch und Gross-Stadt in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts, hg. von Eberhard Roters/Bernhard Schulz, Berlin 1987, S. 71. 100 Vgl. Charles W. Haxthausen: Die Entdeckung der Großstadt. Berlin als Motiv der bildenden Kunst 1910-1914, in: In der großen Stadt: die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, hg. von Thomas Steinfeld/Heidrun Suhr, Frankfurt a. M. 1990, S. 71-96, S. 88 ff. 101 Karl Friedrich Heitmann: Vor der Litfaßsäule, in: Die Gegenwart, Heft 6/1902, S. 93-94, S. 94. 102 Vgl. ausfuhrlich Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998. 103 Erb, S. 290. Er berief sich direkt auf Beard indem er als eine Ursache der Nervosität Amerika, „mit seiner rastlosen Tätigkeit" ausmachte, ebd., S. 281. Als zweite „neurotisch veranlagte Rasse" sah er die „Semiten", „bei welcher durch ihren unzähm98
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
me ,Nervosität 4 ein, der die Überreiztheit noch etwas stärker betonte.104 Als Ursache dieser nervlichen Zerrüttung nannte man die Hast der Großstadt, den Verkehr und das Tempo, die erhöhte Bewertung von Geld und Zeit, den geschäftlichen ,Kampf ums Dasein' sowie wachsende Bedürfnisse gepaart mit wachsender Unzufriedenheit vor dem Hintergrund politischer Krisen. Die nicht zuletzt über Reklame propagierte Genußsucht und Sinnlichkeit galten ebenfalls als Auslöser krankhafter Überreizung. Gefühle nervlicher Überlastung befielen keineswegs nur Frauen, sondern zur Beunruhigung der Zeitgenossen zunehmend auch Männer. 105 Die Reklame war Teil der städtischen Reizüberflutung, indem sie als „ ästhetische Irritation " 1 0 6 zugleich Faszination und Verwirrung hervorriefe. Die Reklame wurde als eine Ursache der visuellen Reizüberflutung und zugleich als Reaktion auf die durch die Reizüberflutung verminderte Reizempfänglichkeit diskutiert. Unter Reizüberflutung wurde in erster Linie der Verlust der Kontrolle über Art und Ausmaß der von außen einwirkenden Reize verstanden. In seiner Rede zur Eröffnung der Gewerbeausstellung in Berlin 1896 sprach der Neurologe Albert Eulenburg über ,Die Nervosität unserer Zeit 4 . 1 0 7 Die Reize, die er auf der Ausstellung wahrnahm - Lärm, Musik, elektrisches Licht und Reklame - erschienen ihm als typisch für die Reize, mit denen sich der moderne Mensch auseinandersetzen müsse. Unter Neurasthenie begriff er die schnelle Erschöpfung nach starken Reizen und anfänglicher starker Erregung. Als Symptome dieser Krankheit konstatierte er „ innere Unrast und Unruhe, leeres, gegenstandsloses Sehnen, ein Gemisch unstillbaren Lebensdranges und trostlosen Lebensekels 1 0 8 Als Ursache mochte er nicht, was häufig geschah, in erster Linie die Technik verantwortlich machen. Seines Erachtens waren der zunehmen-
baren Erwerbstrieb und die durch Jahrhunderte auferlegte Lebensweise ebenso w durch Inzucht und Familienheiraten die Nervosität zu einem ganz erstaunlichen Grad entwickelt und verbreitet ist. " 104 Vgl. Radkau, S. 77 ff. Er beschreibt weiter, daß diese Diagnose aufgrund der vagen Symptome stark durch die Patienten bestimmt wurde, weniger durch die Ärzte. Das wissenschaftliche Neurasthenie-Konzept traf sich zunehmend mit dem populären Nervositätsbegriff, unterstützt von einer breiten kulturpessimistischen Diskussion, in der der ,Kampf ums Dasein4 verurteilt wurde. Zu der Unklarheit der Begriffe schon Erb, S. 282. 105 Vgl. Erb, S. 287. Bei Untersuchungen wurden gerade Berufen aus den Bereichen Medien und Verkehr große Überlastungen zugeschrieben: allen voran den Telephonistinnen. Aber auch Eisenbahnführer und Setzer (v. a. der schnellsten Zeitung der Welt', der B.Z.) galten als gefährdet. 106 Wolfgang Sofsky: Schreckbild Stadt. Stationen der modernen Stadtkritik, in: Die Alte Stadt, Jg. 13, Heft 1/1986, S. 1-21, S. 4. 107 Albert Eulenburg: Die Nervosität unserer Zeit, in: Die Zukunft, Nr. 46/1896, S. 302-318. 108
Ebd., S. 308.
II. Reizüberflutung durch Reklame
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de wirtschaftliche Wettbewerb, der wirtschaftliche Existenzkampf des Einzelnen und die „ einseitige Überschätzung materiellen Gutes " l 0 9 ausschlaggebend. Der Soziologe Georg Simmel beschäftigte sich anläßlich der Berliner Gewerbeausstellung 1896 ebenfalls mit dem Zusammenhang zwischen Ware, Reiz und Genußsucht. Besonders den arbeitsteilig arbeitenden Menschen hielt er für prädestiniert, sich durch möglichst vielfältige äußere Reize zu entschädigen. überreizter und ermatteter Nerven " n o trage die Dem „ Aufregungsbedürfnis Ausstellung mit ihrer Vielfalt vorüberhastender Eindrücke Rechnung. Durch besonders verlockende Außenseiten und perfekte Arrangements hätten die Waren „neue ästhetische Bedeutsamkeiten" erhalten. Diese Entwicklung korrespondiere mit der Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft, welches einerseits allgemeiner Nivellierung, anderseits der Steigerung der Eindrücke durch deren Summierung ausgesetzt sei. Der Reiz der Erscheinung" 111 des Einzelnen - in Wirklichkeit nur unbedeutsamer Teil eines Ganzen - werde durch das Arrangement aufgewertet. Simmel ging in seinen späteren Texten zwar niemals explizit auf die Reklame ein. Doch führte er bestimmte Veränderungen in der großstädtischen Wahrnehmung auf die Konfrontation des Menschen mit der Geldwirtschaft und der Ware zurück und beschrieb 1902 ausführlich die Veränderungen, die die moderne Großstadt bei ihren Bewohnern verursachte. Die Vielzahl der Eindrücke und ihr rascher Wechsel führten zu einer „Steigerung des Nervenlebens. " 1 1 2 In der Herausbildung eines speziellen, sehr sachlichrationalen Verstandes sah er eine Reaktion auf die Überreizung in der und durch die Stadt. Der Verstand bilde eine Art „Schutzorgan gegen Entwurzelung" 113 und Reizüberflutung. Als eine weitere Reaktion auf die ständigen Reize machte er als typisch städtisches Phänomen die „Blasiertheit " l l 4 aus. Darunter verstand Simmel eine Abstumpfung gegenüber den Unterschieden der Dinge. Verschärfend komme hinzu, daß die Stadt Ursprung und Zentrum der modernen Geldwirtschaft sei. Das Geld verstärke die Entwertung der Dinge. In der Stadt, stärker als auf dem Land, spiele folglich die Käuflichkeit eine wichtigere Rolle. Verstärkt wurde dieses Phänomen durch das Geld als ein Mittel der Distanzüberwindung; die Käuflichkeit der Ware suggeriert dem Menschen deren potentielle Erreichbarkeit.
109
Ebd., S. 309. Weitere Ursachen lagen fur ihn im mangelhaften Schulwesen und in der „erblichen Belastung". 110 Simmel: Berliner Gewerbeausstellung, S. 59. 111 Ebd., S. 60. 112 Georg Simmel·. Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984, S. 192-203, S. 192 (zuerst in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung 1902-03). 1,3 Ebd., S. 193. 114 Ebd., S. 196. Zur Blasiertheit als Folge der Reizüberflutung vgl. schon Schramm.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Diese Konfrontation des Menschen in der Stadt mit Gütern der ganzen Welt, ζ. B. in der offenen Präsentation in Warenhaus und Markthalle, war auch für den Nationalökonomen Heinrich Waentig Ursache einer neuen Lust am Genießen, die die Menschen in die Stadt ziehe. Dort aber würde die Großstadt neue Menschen erzeugen, „deren hervorstechender Charakterzug höchste geistige Wachsamkeit, deren Daseinsprinzip größte Lebens intens ität in Arbeit und Genuß geworden ist." ns Einmal in der Stadt, scheine alles in greifbare Nähe zu rücken. Zugleich werde in der Stadt die Vergänglichkeit der Zeit deutlicher empfunden, und dieses Gefühl der Endlichkeit der Muße führe zu einer gesteigerten Reizempfanglichkeit. „Die Gefahr der Überspannung und Überreizung fehlte da nicht."" 6 Auch der Psychologe Willi Hellpach war 1902 der Auffassung, daß das ZurSchau-Stellen der Waren das materielle Denken fordere und in der Folge ein wachsendes „Tempo des Verbrauchs" U1 nach sich ziehe. Und er kam zu dem Schluß, daß dieses veränderte Konsumangebot, verbunden mit dem beschleunigtem Auffassungs- und Reaktionsvermögen gerade der Stadtbevölkerung, Ursache einer gesteigerten und letztlich nicht befriedigten Genußsucht werde. Die verbilligte Massenproduktion ermögliche breiten Bevölkerungskreisen den „raschen Güterwechsel. " l l 8 Das Tempo des Konsums nehme ebenso zu, wie die Verpflichtung, mit der Mode zu gehen. Damit gerate die permanente Auseinandersetzung mit der scheinbar verfügbaren Ware zur Anstrengung. Für den Theologen Seeberg barg die Warenpräsentation in den Schaufenstern besonders für den überreizten Großstädter enorme Gefahren. Sie stimuliere die Sucht nach materiellen Gütern. „Das hat zur Folge, daß mehr angeschafft und mehr genossen wird als anderswo, aber auch, daß bei denen, die das nicht können, Unzufriedenheit und Bitterkeit entsteht. 19 Besinnlichkeit - Voraussetzung von Zufriedenheit - könne in der hektischen Großstadt nicht bestehen. Daß gerade die Ärmeren in den Städten ihren Bedürfnissen eher nachgeben war eine verbreitete Meinung. Die Warenpräsentation blieb nicht auf das Schaufenster beschränkt. Auch Illustrationen, vor allem die der „ dreisten Reklame für Bücher und Schriften über das Geschlechtsleben, für Bücher unzüchtigen Inhalts, für Mittel gegen Ge-
115 Heinrich Waentig: Die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung, Dresden 1902-03, S. 148-195, S. 182. 116 Ebd., S. 183. 117 Willi Hellpach: Nervosität und Kultur, Berlin 1902, S. 69. 1,8 Ebd., S. 75. 119 Reinhold Seeberg: Zur Psychologie der Großstadt, in: Arbeit für Großstadt und Land. Vorträge und Erwägungen vom 2. Instruktionskursus über Großstadt und Land, hg. von Ernst Buske, Berlin 1911, S. 22-63, S. 28.
II. Reizüberflutung durch Reklame
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schlechtskrankheiten" m rückten in den Blick der Kritiker. Sie galten als besonders jugendgefährdend. Um ihre Kindern vor dem Anblick dieser Reklame zu schützen, begannen Eltern, die entsprechenden Seiten von Illustrieren auszuschneiden. Die Appelle der Reklame an „Körper und Sinne" m waren durchaus nicht im Interesse aller Eltern. Frei zugänglich waren die Plakate. Ein Reklamefachmann beschrieb „ Väter, die ihre Kinder an jeder Plakatsäule vorbeizerren, weil die Kinder bei Plakaten nur das Rohe, Plötzliche, Übertriebene sehen. " Tatsache sei, daß das Plakat oft ins „Halbsittliche" tendiere. Die Folgen: „Es infiziert die Phantasie. Es regt sie an. Die Geschichte der Sitte hat viele Beweise dafür geliefert, dass Bilder stärker und nachhaltiger wirken als - Körper. " l22 Dem Bild wurde so eine größere Wirkung zugeschrieben als der Realität. Als besonders gefahrlich galten aber weniger Plakate für Konsumgüter als die für Kinofilme (und hier ist natürlich auch oft der Inhalt der Filme bei der Kritik mitgemeint). 123 Hier unterstützen auch Reklamefachleute die Bewegung gegen den ,Schmutz und Schund' als Teil eines ,Jugendschutzes'. Denn diese Plakate warben häufig für Grusel-, Mord- und Liebesfilme. 124 In Preußen wurden einzelne Polizeireviere 1912 angehalten, auf Kinematographenplakate zu achten und zu prüfen, ob sie anstößige Bilder enthalten, die für die Jugend ungeeignet seien.125 Henriette Fürth, die die Beobachtungen Simmeis und Hellpachs auf die Reklame bezog, registrierte deshalb geradezu erleichtert das Nachlassen der Reklame im Ersten Weltkrieg. Die Sucht nach Entspannung, aber auch nach Genüssen hätte besonders in den Großstädten eine starke Materialisierung des Lebens zur Folge gehabt. Solcherart geschädigt, würden die Menschen erst anfallig für den „Oberflächengeist und die sittliche Verwilderung" 110, die sich in der Reklame offenbarten. Die Aufmerksamkeit der gleichgültig gewordenen Großstadtmenschen könne nur noch durch extreme Reize gefesselt werden.
120
Albrecht Rackow. Die Reklame als wirtschaftliches Gebilde, Rechts- und Staatswiss. Diss. Freiburg 1910, S. 98. 121 Die Einschätzung der Reklame durch Publikum, Presse und Kaufmann, in: Organisation, Nr. 9/1914, S. 199-201. S. 200. 122 A. Haibert: Das Plakat und die Moral. Ein kurioses Thema, in: Das Plakat, Heft 1/ 1914, S. 19-20, S. 20. 123 Vgl. Albert Hellwig: Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle 1911, S. 129. Er setzte sich für eine Plakatzensur bei Kinoreklame ein und rechtfertigte diese Forderung mit seinem breiten Eintreten für den ,Jugendschutz4. Vgl. auch Ernst Schultze: Der Kinematograph als Bildungsmittel. Eine kulturpolitische Untersuchung, Halle 1911, S. 73. 124 Vgl. Das Kientopp-Plakat, in: Mitteilungen des VDR, Heft 28/1912, S. 29. 125 Vgl. Ludwig Lindner: Die Plakatreklame und die Beschränkung der Plakatfreiheit, in: Mitteilungen des VDR, Heft 2/1914, S. 57-59. S. 58. 126 Henriette Fürth: Die soziale Bedeutung der Käufersitten, Jena 1917, S. 33.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Der rasche Wechsel, Intensität und Vielzahl der Eindrücke dürfte in der Tat die Wahrnehmung der Großstädter verändert haben. Nicht mehr eine allmähliche Erfassung des Umfelds war möglich, kein Erleben mehr, das vom Betrachter kontrolliert werden konnte. Das Verhältnis des Betrachters und des Betrachteten kehrte sich um: Die Eindrücke überwältigten den Schauenden.127 Das Bestreben der Reklamefachleute, den optimalen ,Blickfang 4 zu gestalten, verdeutlicht diese Umkehrung. Als anstrengend wurde nicht das aktive Betrachten, sondern das Überwältigt-Werden durch eine Vielzahl von Eindrücken und der Zwang zu selektieren dargestellt und als krankmachende Reizüberflutung gedeutet. Der Bruch mit alten Seh- und Lesegewohnheiten wurde um die Jahrhundertwende vielfältig als Problem kommentiert. Die Vielfalt der Medien, ihre spezifische Symbolik, der fragmentarische Charakter der Gestaltung in Text und Bild, Schlagwörter sowie der Seriencharakter der Reklamebotschaften - OdolReklame gab es ζ. B. sowohl auf Plakaten, in Anzeigen und auf Reklamewagen - erforderten eine neue Rezeption. Mataja erkannte in diesem Seriencharakter der Reklamemedien, in dem jedes Plakat nur noch ein „ Glied einer systematischen Propaganda " sei, das die „Massenhaftigkeit" m der Reklame verstärke, einen Grund für das Abstumpfen des Publikums. Im übrigen wies er am Beispiel von Textreklame darauf hin, daß eine „gewisse Gewöhnung an die Reklame" 129 deren Rezeption erleichtere und die Reklame wirksamer mache. Leseungeübte Menschen hielt er der Reklame gegenüber für ablehnender als geübte. Gerade Plakate stießen wegen ihrer , verkürzten 4 Ikonographie oft auf Unverständnis, da um die Jahrhundertwende Lesefertigkeiten im schriftlichem Bereich weitgehend durch Bücher und durch illustrierte Zeitschriften erworben worden waren. Die Reizüberflutung durch Reklame spielte sich also auf zwei Ebenen ab: Einerseits fanden sich die Betrachter durch die Menge der Eindrücke und den Zwang zu selektieren überwältigt. Anderseits sahen sie sich vor neue Dechiffrierungsanforderungen gestellt. 130
127
Vgl.Sofsky, S. 1-21. Mataja, S. 300. 129 Ebd., S. 348 f. 130 Vgl. Alfred Smudits : Von der Opus-Kultur zur Passus-Kultur? Veränderungen im Objektbereich der Kulturforschung, in: Wege zur Kommuikationsgeschichte, hg. von Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher, München 1987, S. 515-554. Smudits wurde zu seinen Überlegungen durch die neuen Medien angeregt, dennoch lassen sich einige seiner Gedanken auf die Frühzeit der Reklame anwenden. S. 542. Zum Forschungsdesiderat einer „ Wahrnehmungsarchäologie" vgl. Métraux , S. 19. 128
III. Der demokratisierte Einkauf
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I I I . Der demokratisierte' Einkauf 1. Das Warenhaus als ,Paradies der Damen4 Das Warenhaus galt als der bevorzugte Ort der Reklame; hier wurden die neuen Formen der Reklame und der Warenpräsentation intensiv eingesetzt und neue Einkaufsmöglichkeiten und -Verhaltensweisen erprobt. Die Warenhäuser richteten mit der Art der Warenpräsentation, Kulanz, Reklame und Service ihre Absatzmethoden speziell auf Frauen aus, die gemäß der ehelichen Rollenverteilung den Hauptteil der Einkaufenden stellten. In der nun folgenden Analyse geht es zunächst um die konkreten Veränderungen im Einkaufsverhalten sowie um die unterschiedliche Wahrnehmung des Ortes und seiner Wirkung auf die Frauen. Im anschließenden Kapitel sollen die Bilder der durch die Reklame verführten Masse in ihrer Bedeutung für einen veränderten Publikumsbegriff untersucht werden. Eine Anzeige des Warenhauses Tietz sprach 1901 den „Damen Berlins unseren verbindlichsten Dank fur ihr ungewöhnliches Interesse bei der gestrigen offiziellen Eröffnung unseres Hauses " m aus und benannte damit eindeutig die Hauptzielgruppe. 1908 eröffnete das Berliner Passage-Kaufhaus mit dem Hinweis auf den in Erfüllung gegangenen „ Traum von einem Paradies der Damen. " , 3 2 Damit wurde auf den Roman ,Au Bonheur des Dames' von Emile Zola angespielt.133 1883 hatte Zola das Warenhaus als eigens auf die Frauen und ihre Triebe zugeschnittenen Warenpalast dargestellt. Die einzige Leidenschaft des Warenhausbesitzers bestehe darin, „die Frau zu besiegen. Er wollte, daß sie in seinem Hause Königin sei; er baute ihr einen Tempel, um sie darin in seiner Gewalt zu haben. Seine ganze Taktik bestand darin, sie durch galante Aufmerksamkeit zu berauschen und dann aus ihren erregten Begierden Nutzen zu ziehen und sie auszubeuten. " 1 3 4 Die Reklame wird, neben aufwendigen Dekorationen und besonderen Serviceleistungen, als eines seiner Machtmittel auf dem Weg zu diesem Ziel beschrieben. Der Ehrgeiz des Warenhausbesitzers galt dem Beweis, ,, daß die Frau gegenüber der Reklame machtlos ist, daß sie stets dorthin geht, wo der meiste Lärm gemacht wird. Und er stellte ihr so feine Schlingen, analysirte sie wie ein Moralist." 135 Auf Zolas Darstellung der Anziehungskraft der 131
Anzeige des Warenhauses Tietz, in: Berliner Lokalanzeiger, 19.1.1901. Eine Neugestaltung des Deutschen Detailhandels, hg. vom Passage-Kaufhaus in Berlin, Berlin 1908, S. 25. 133 Emile Zola: Au Bonheur des Dames 1883 wurde noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt und erschien in zahlreichen Ausgaben unter den Titeln ,Zum Glück der Damen' oder ,Zum Paradies der Damen'. Ich beziehe mich auf die illustrierte Ausgabe der Franck'schen Verlagshandlung ,Zum Glück der Damen', übersetzt von K. Walther, Stuttgart 1900. 134 Ebd., S. 189. Vgl. auch S. 84. 135 Ebd., S. 190. Vgl. auch S. 85, 208, 311. 132
5 Lamberty
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Warenhäuser, ihrer modernen Geschäftsprinzipien, ihrer Reklame und auch der Gefahren, die ein solcher Ort berge, beriefen sich zahlreiche Schilderungen der Warenhäuser. Daß Zola fur seine Romane genaue Recherchen in den beiden größten Pariser Warenhäusern durchgeführt hatte, wurde als Beweis fur den Realitätsgehalt des Romans häufig betont. Sein Roman erschien vor der Gründung der meisten Warenhäuser in Deutschland. Deutlich wird dies in den ersten Rezensionen: Ein deutscher Begriff für das Warenhaus existierte noch nicht. Eine Rezensentin sprach von einem „grandiosen Pariser Universal-Kaufladen" 136; in einer weiteren Besprechung ist die Rede von einem „großen ModewaarenGeschäft, für das uns in deutschen Landen noch jede Analogie fehlt". ,37 Die Kritiker konnten mit den ausführlichen Beschreibungen wenig anfangen. Gerade für Männer, so fand der bekannte Kritiker Paul Lindau, seien solche eintönigen und ermüdenden Schilderungen eine Zumutung. 138 Erst nachdem auch in Deutschland Warenhäuser in größerem Umfange gegründet worden waren, wurden diese Beschreibungen als besonders authentisch und gelungen gewürdigt. Auf einen Punkt in Zolas Roman wurde immer wieder Bezug genommen: die Verführbarkeit der Frauen durch eine zielgerichtete Reklame der Warenhäuser. Auch wenn die Vorstellung von der grenzenlosen Manipulation der Frauen kontrovers diskutiert wurde, an deren großer Beeinflußbarkeit wurde kaum gezweifelt. Und da das Warenhaus, anders als die Straße, ein Raum war, der weitgehend von Frauen genutzt wurde, fiel es den zeitgenössischen Kommentatoren leicht, die dort beobachteten Verhaltensweisen als frauentypisch einzuordnen. Männliche Beobachter, die die Wirkungen ζ. B. eines Straßenplakates durchaus auch auf sich selbst bezogen, distanzierten sich von den Ausstrahlungen des Warenhauses und projizierten dessen Wirkungen ausschließlich - und um so massiver - auf die Frauen. Frauen selbst machten andere Beobachtungen. Um die besondere Machtlosigkeit der Frauen gegenüber der Reklame zu beweisen, kam es zu zahlreichen Beschreibungen der Reklamen, Ausstattungen, Serviceleistungen und unterhaltenden Veranstaltungen der Warenhäuser. 139 136
Jenny Marr. Zum Glück der Damen, in: Auf der Höhe. Internationale Revue, Jg. 2, Bd. 8/1883, S. 140-142, S. 141 f. 137 Theophil Zolling: Emil [!] Zolas neuer Roman, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Bd. 23, Nr. 12/1883, S. 185-187. 138 Vgl. Paul Lindau: ,Au Bonheur des Dames', in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, Bd. 25/1883, S. 107-125, S. 108, 123. Für Marr ein „Hauptmangelweil „wortreich, umständlich und mit vielen Wiederholungenfür Zolling ein „maßloses Schwelgen in Detailüberhäufung". 139 Dabei wurde ein sehr pauschalisiertes Bild des Warenhauses entworfen, das sich an den großen städtischen Warenhäusern der Jahrhundertwende mit ihrem reichen Warenangebot, riesigen Häusern und entsprechend zahlreichen Kunden orientierte. Das kleine, gerade zwei Stockwerke umfassende ländliche Warenhaus mit beschränktem Warenangebot wurde ausgeblendet. Lux differenzierte, basierend auf ihrer Umfrage, allerdings sehr
III. Der ,demokratisierte 4 Einkauf
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Frauen, so hieß es, geraten zwangsläufig unter den Einfluß der Warenpräsentation, der Reklame und der reichen Ausstattung eines Warenhauses.140 Viele der Serviceeinrichtungen des Warenhauses seien auf Frauen zugeschnitten. „ Lesesalons und Damenzimmer laden zum Verweilen ein; das Büffet bietet Erfrischungen nach den Strapazen des Shopping, und ein Promenadenkonzert sorgt zuweilen noch für Zerstreuung. " 1 4 1 Um 1912 richtete ein Berliner Kaufhaus zur Entlastung der Kundinnen ein Kinderspielzimmer ein. Dieser Service richtete sich offensichtlich an Frauen des unteren Mittelstandes, die nicht über ein Kindermädchen verfügten. 142 1913 boten die Warenhäusern Althoff, KaDeWe und Tietz Märchenspiele für Kinder an. 143 Das Warenhaus empfahl sich den Frauen auch als Ort der Begegnung. „ Wir treffen uns an der Soda-Fontaine " 1 4 4 , warb Tietz 1901 zur Eröffnung eines neuen Hauses. Zugleich erschien das Warenhaus als Ort, „an der sie von allen alltäglichen Sorgen befreit werden, an der ihnen in freundlicher Weise die Lasten der hausfraulichen Besorgungen abgenommen werden, an der all das schnell und wunschgemäß für sie getan wird, was selbst zu tun ihnen oft allzu schwer wird. " 1 4 5 Auch die Einrichtung von Erfrischungsräumen und Cafés richtete sich in erster Linie an Frauen. Männer, so hieß es, seien hier selten.146 Selbst unbegleitete Frauen sollten hier ihre Einkäufe unterbrechen und sich ausruhen können, was in anderen öffentlichen Cafés oft noch als unschicklich galt. 147 Das Warenhaus-Café eröffnete den Frauen neue Frei-
stark zwischen Angebot und Serviceleistungen der verschiedenen Häuser. Käthe Lux: Studien über die Entwicklung der Warenhäuser in Deutschland, Jena 1910. Göhre erwähnte zwar die Unterschiedlichkeit der Häuser, orientierte sich aber an Wertheim, vgl. Paul Göhre: Das Warenhaus, Frankfurt a. M. 1907, S. 91, 97. Leo Colze: Berliner Warenhäuser, Berlin 1908, hat das Berliner KaDeWe im Blick. 140 Vgl. z. B. Huber, S. 11. 141 Lux, S. 171. Einen ausschließlich für Frauen reservierten Damensalon - wie in Großbritannien üblich - besaß in Deutschland nur das Berliner Kaufhaus des Westens, vgl. Colze , S. 27. 142 Alfred Wiener. Das Warenhaus. Kauf-, Geschäfts-, Büro-Haus, Berlin 1912, S. 77. Während solche Räume in den USA häufig zu finden waren, richtete in Deutschland nur das Passagekaufhaus einen solchen Service ein. 143 Vgl. Gabriele Bickendorf. Hotel, Passage, Warenhaus: Urbaner Lebensstil und neue Konsumformen, in: 8 Stunden sind kein Tag. Freizeit und Vergnügen in Dortmund 1870-1939, hg. von Gisela Franke, Dortmund 1992, S. 42-56, S. 55. 144 Anzeige des Warenhauses Tietz, in: Berliner Lokalanzeiger, 19.1.1901. 145 Eine Neugestaltung des Deutschen Detailhandels, S. 25. Diverse Büros unter dem gleichen Dach sollten ihnen Wege und Arbeiten abnehmen: Dienstboten und Wohnungen wurden vermittelt, Bestellungen für Kohle, Holz und Eis konnten aufgegeben, Porzellan, Besteck und Klaviere geliehen, Musiker und Kochfrauen engagiert, Reparaturen und Reinigungsaufgaben vergeben werden. 146 Vgl. Im Erfrischungsraum des Warenhauses, in: Das Waarenhaus, Heft 5/1899. S. 6. 147 Vgl. Wiener, S. 70. Das mußte selbst der Kritiker eingestehen: Gràvéll , S. 26.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
heiten, ja, dort konnte selbst „ der Backfisch in der Konditorei flirten. " 1 4 8 Die Erfrischungsräume der Warenhäuser wurden zum „beliebten Rendevousplatz" 149 für „Stelldicheinpärchen. " 1 5 ° Demzufolge mußten also doch einige Männer anzutreffen gewesen sein. 1907 beschrieb der Nationalökonom Richard Calwer das Warenhaus als einen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, als eine das großstädtische Leben mitbestimmende Institution. Es bestimme die öffentliche Meinung mit, indem man über die neuesten Warenangebote diskutiere und sich zu einem Treffen im Hause verabrede. 151 Das Warenhaus war ein Ort, an dem sich Frauen aufhalten konnten und der ihnen ein gewisses Maß an Freiheit in der Öffentlichkeit erlaubte. Dadurch geriet das gesamte Haus zum weiblich konnotierten Raum. Kaufende Frauen waren in öffentlichen Räumen schon immer präsent gewesen. Doch eine Reihe von Einkaufsbereichen waren bis dahin eher privat. Im Warenhaus aber wurden Schlafzimmer, Unterwäsche, Hygieneartikel und Kosmetik öffentlich ausgestellt, an- und ausprobiert. 152 Die neue Öffentlichkeit für bislang eher intime Bereiche wird an der Agenda des Hauses Tietz hervorgehoben. Im Kapitel ,Von allerlei intimen und zarten Sachen und Sächelchen' geht es um Wäsche.153 Kaufund Warenhäuser warben in ganzseitigen Anzeigen mit detaillierten Abbildungen von Korsetts, Strumpfhaltern und Beinkleidern. Vielleicht noch wichtiger als die neuen Serviceeinrichtungen der Warenhäuser war, daß diese Einrichtungen auch unabhängig von einem Einkauf genutzt und Warenhausbesuche zur puren Freizeitbeschäftigung werden konnten. Frauen und Mädchen konnten sich hier zum Kaffee treffen, Fahrstuhl fahren, telefonieren, sich eine Kunstgewerbeausstellung ansehen und herumbummeln. Käthe Lux wies ausdrücklich darauf hin, daß der Besuch der verschiedenen Ausstellungen in den Warenhäusern „jedermann unentgeltlich gestattet ist. " 1 5 4 Der
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P. Berendt: Die Verkaufsmethoden und Einkaufsmethoden der Waren- und Kaufhäuser, Köln 1908, S. 11. 149 H. Wagner. Über die Organisation der Warenhäuser, Kaufhäuser und der großen Spezialgeschäfte, Leipzig 1911, S. 13. Ähnlich auch Erich Köhrer : Warenhaus Berlin. Ein Roman aus der Weltstadt, Berlin 1909, S. 107. Edel polemisiert gegen die Rendevous-Aktivitäten der Frauen: „Die ganz reifen Frauen, die aus Mangel an eigener Beschäftigung und weil ihre Männer zu sehr beschäftigt sind, ihr Seelenleben entdecke schlendern mit Paketen beladen und versuchen in der Teestube des Kaufhauses ein P chen und vielleicht einen Liebhaber zu ergattern. " Edmund Edel·. Neu-Berlin, Berlin/Leipzig o. J. [1908], S. 22. Vgl. auch Zola, S. 198. 150 Göhre , S. 50. 151 Vgl. Richard Calwer: Der Handel, Frankfürt a. M. 1907, S. 67. 152 Vgl. Leach, S. 336. 153 Vgl. Hermann Tietz Alexanderplatz. Zur Eröffnung des Erweiterungsbaues 1911, o. O, o. J., ο. P. Solche Abbildungen finden sich auch in den Versandhauskatalogen. 154
Lux, S. 169.
III. Der demokratisierte' Einkauf
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Einkauf in einem Warenhaus bekäme so den Charakter eines Ausflugs. 155 Diesen Unterhaltungswert betonte mit leichtem Sarkasmus 1894 auch Maximilian Harden, indem er die Warenhäuser als Fortfuhrung des im Niedergang begriffenen Theaters sah. Das Schaufenster bezeichnete er als eine Synthese von Warenhaus und (Volks-) Theater. Das bei Wertheim als Blickfang aufgestellte Puppentheater deutete er als Symbol für die unterhaltende Gesamtkonzeption des Warenhauses. Im Warenhaus werde schon tagsüber und umsonst gespielt: „ von früh bis spät, billig und bunt. " , 5 6 Die Verbindung von Unterhaltung und Konsum lasse sich noch perfektionieren. „Es müßte von früh bis spät gespielt werden, immer mit Mädchen, und daneben müßte der Verkauf von Semmeln und Klassikern, von Korsets und Cognac, flott vorwärts gehen. Wer für eine halbe Reichsmark einkauft, kann umsonst eine halbe Stunde im Theater verweilen, ein Staffeltarif müßte die Platzfrage regeln, und wer eine ganze Robe ersteht, dem wird die Pforte zur Bühne und zu den Garderoben geöffnet. " , 5 7 Den Einkauf stilisierte er zur unterhaltenden Beschäftigung. Das Moment der Arbeit trat in den Hintergrund; Käuferinnen konnten sich bedienen lassen, ohne daß dafür eine direkte Gegenleistung eingefordert wurde. Die übliche Rolle der Hausfrau als Dienstleistende wurde im Warenhaus außer Kraft gesetzt, hier waren sie es, die kostenlose Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnten.158 Die Unverbindlichkeit, mit der diese Dienstleistungen genutzt werden konnten, ohne daß ein Zwang zum Kauf folgen sollte, beschrieb Olga Wohlbrück in einem Roman, der den Warenhausbummel als das Vergnügen der sich langweilenden Mittelschichtsfrau schilderte. 159 Die Heldin genoß es, die extravagantesten Wünsche zu äußern, sich teure Stoffe vorlegen und anhalten zu lassen. Die Verkäuferinnen und der Abteilungsleiter kümmerten sich um sie, alles drehte sich nur um sie, man räumte das ganze Lager und breitete es vor ihr aus.160 Der Tag im Warenhaus glich einem gelebten Tagtraum, der beliebig ausgedehnt und zum Bestandteil des Alltags werden könnte - gekauft wurde letztlich nichts. Ostwald folgerte: „Es gibt Frauen, die dem Rausch eines täglichen Bummels durch die Straßen und die Warenhäuser verfallen sind, deren wichtigste Stunden vor den
155
Stresemann, S. 714. Harden , S. 46. 157 Ebd., S. 47. Mit den ,Mädchen' meinte er die Verkäuferinnen, deren zahlreiche Beschäftigung eine Neuheit darstellte. 158 Vgl. Leach, S. 336. Auf der anderen, der bedienenden Seite waren allerdings ebenfalls fast ausschließlich Frauen. Vgl. auch Porter Benson. 159 „Die großen Warenhäuser durchschritt sie Tag für Tag wie in einem Taumel. ihre Sinne entflammten sich an der ausgestellten Vielfältigkeit und Pracht. Sehen, b ten, riechen, schmecken, hören - das war ihr Leben in den Nachmittagsstunden, u wenn sie heimkam, dann baumelten stets kleinere oder größere Pakete an ihrem Schi griff, ihrem Handgelenk. " Olga Wohlbrück: Der große Rachen. Roman, Berlin 1915, S. 329. 156
160
Vgl. ebd., S. 21.
Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
70
Schaufenstern oder in den gleißenden Hallen der Warenhäuser verbracht werden. " 161 Für Alfred Wiener war die gesamte Architektur, die durch bewußt lange Wege die Käufer an vielen Waren vorbeiführe und sie in aufwendigen Erfrischungsräumen wieder für weitere Einkäufe stärke, eine Form der Reklame, die „jene so eigenartige psychologische Wirkung besonders auf die Frauenwelt ausüben, die sie immer wieder in den Bann des riesigen Unternehmens zwingt. " 1 6 2 Die ganze Warenhauseinrichtung lade zum Verweilen und Betrachten der Waren ein, errege Gefallen und lasse schließlich aus noch unbestimmter Kauflust ein bewußt gewordenes Bedürfnis werden. „Es ist pläsierlich, und selber im Warenhause zu beobachten und wahrzunehmen, wie unsere Seele in der Dialektik des Gelüstes plötzlich ein Fülle von Gründen findet, mit denen sie uns die Richtigkeit und Notwendigkeit des Kaufes klar macht, und das tut sie in einer so unschuldigen und aufrichtigen Weise, daß wir beinahe immer darauf hineinfallen. " 1 6 3 Damit aber sämtliche Abteilungen, auch die mit schlechter Lage, gleichmäßig stark besucht werden, sorge eine einheitliche Reklameleitung durch eine durchdachte Wegeführung, aufgrund geschickt verteilter Anziehungspunkte und des verteilten Kassensystems für ein Hindurchleiten des Menschenstromes durch alle Abteilungen. 164 Das Warenhaus werde zur „Seelenfalle" :bS Warenhausbesitzer spekulierten auf die zwanglose Atmosphäre als Kaufanreiz. Das Publikum könne ohne Kaufzwang umherschlendern, Waren betrachten, „ungeniert kaufen." 166 ,Shopping4 wurde definiert als Besuchen der Warenhäuser ohne konkrete Kaufabsicht und insbesondere als eine weibliche Beschäftigung, die analog zu der Lust der Kinder am Jahrmarkt zu einer „eigentümlichen Erregung" führe. Es gebe Frauen, die bis zu zwanzig Mal einen Hut betrachten, bevor sie ihn endlich kaufen. Nur so kämen sie in den vollen Genuß einer Vorfreude. Der Kaufmann müsse Rücksicht nehmen auf diese „Schaulust" 161 der Frauen und ihnen Zeit lassen, die Waren zu betrachten und
161
Ostwald, S. 234. Wiener, S. 45. 163 Artur Wilke: Die Psychologie des Warenhauses, in: Der Deutsche, Berlin, Bd. 5, Heft 18/1907, S. 550-554, S. 552. 164 Vgl. Wagner, S. 10. So sind bei ihm auch die Lebensmittelabteilung, das Reisebüro, Erfrischungsräume und der Theaterkartenverkauf selbstverständlich Aufgabe der Reklameabteilung. Ebd., S. 12. Ebenso Wernicke: Das Waren- und Kaufhaus, S. 98. 165 Wilke, S. 553. 166 Neue Berliner Kaufhäuser. 2. Das Passage-Kaufhaus, in: Die praktische Berlinerin, Heft 2/1908, S. 4-5, S. 4. 167 Shopping, in: Die Geschäftspraxis, Heft 9/1898, S. 257-259. 162
III. Der demokratisierte Einkauf
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zu berühren. Oft sei der Kauf gar nicht das Ziel; „ Stecknadelkäufe" m dienten als Anlaß für einen Bummel und eine Schokolade im Erfrischungsraum. Häufig wurde angemerkt, daß Frauen selten allein, sondern meistens mit Freundinnen einkaufen gingen; Zeit spielte dabei kaum eine Rolle. 169 Seitens des Warenhauses werde darauf spekuliert, daß Frauen sich bei Verabredungen im Warenhaus ihre Einkäufe zeigten und dadurch zu neuen Ausgaben ermunterten. Stresemann glaubte, daß kein Mensch auf die Idee käme, ein Spezialgeschäft zu betreten, ohne genau zu wissen, was er benötige. Im Gegensatz dazu liebten es besonders Frauen, sich erst durch das Herumbummeln in den Warenhäusern vielfaltige Anregungen zu holen. 170 Auch der Umtausch, ein neues Mittel der Kulanz, veränderte das KaufVerhalten. Ein Kritiker verurteilte den Umtausch als Verleitung zum leichtsinnigen, unüberlegten Kaufen in Warenhäusern. „ Der Einkauf im Warenhause ist oft nur ein Probekauf ein Ansichtskauf [...] Ohne jede Gène wird alles ,gekauft', um es in wenigen Tagen wieder gegen Waren, tägliche Bedarfsartikel umzutauschen. " 1 7 1 Shopping werde zur endlosen Suche nach dem idealen Umtauschobjekt. Ein Beobachter des Großstadtlebens erkannte im Shopping nicht allein die Hast der Moderne, sondern auch, und darin eine seltene Ausnahme, eine Form der Arbeit. „Selbst in den großen Warenhäusern, in denen man frei umhergehen und besehen kann, wird nur gehastet und das Shopping nicht wie ein Genuß, sondern wie eine bittere Notwendigkeit gehandhabt. " Die Grenzen zwischen Arbeiten und Vergnügen würden allein durch den Zeitdruck verschwimmen: „Man arbeitet Vergnügen, wie man Einkaufen arbeitet. " m Auch die eiligen Pausen in den Erfrischungsräumen der Warenhäuser oder in Aschingers Automatenrestaurant in Berlin seien kein wahres Vergnügen. Adäquater Ort des so verstandenen Shopping sei das Warenhaus. Shopping wurde als Form des professionellen Einkaufens definiert und dem mit Zeitverlust verknüpften Bummel gegenübergestellt. 173 Shopping bedeutete das mit hohem Zeitaufwand verbundene Achten auf Sonderangebote, das genaue Vergleichen von Preisen und Warenqualitäten. Ein Unterhaltungswert wurde dem Shopping keineswegs abgesprochen, es zugleich aber mit rationellen hauswirtschaftlichen Aufgaben legitimiert. Der Wirtschaftswissenschaftler Hirsch betonte an in der neuen Sitte des
168
S. 19.
169
So die Bezeichnung für solche Einkäufe in dem Roman von Edel: Neu-Berlin,
Vgl. z. B. Annie Neumann-Hofer. ,Shopping' in Berlin und Paris, in: Die Woche, Heft 8/1899, S. 316-317. 170 Vgl. Stresemann, S. 713 f. 171 Eugen Isolani : Der Umtausch in den Warenhäusern und die Spezialgeschäfte, Berlin 1914, S. 7. 172 Anselm Heine: Berlins Physiognomie, in: Ich weiß Bescheid in Berlin, S. 1-25, S. 13-14. 173 Vgl. Eine Neugestaltung des Deutschen Detailhandels, S. 6.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Shopping die positive Seite, daß die Warenkenntnis durch die Möglichkeit, unverbindlich vergleichen zu können, gehoben werde. 174 Das Warenhaus verschaffte zwar (bürgerlichen) Frauen Zutritt zu einem öffentlichen Raum, der ihnen bislang kaum zugänglich war; ihre Tätigkeit in diesem Raum wurde zugleich aber streng , wesensgemäß4 definiert. Die Einkaufsarbeit konnte zwar mit Vergnügen verknüpft werden, stellte jedoch zugleich neue Anforderungen an das hausfrauliches Geschick und beschränkte Frauen auf die Funktion der Hausfrau. So bestimmten typische Zweiteilungen im Frauenbild das Bild der Warenhauskundin: Einerseits besuchte sie das Warenhaus in ihrer Rolle als wirtschaftende Hausfrau, anderseits entsprach sie der Vorstellung der verführbaren Frau, eine Vorstellung, die vom sexuellen Bereich auf den des Konsums übertragen wurde. 175 Statt mit Sparsamkeit, Diskretion und Selbstverleugnung wurde das Einkaufen nun öffentlich mit Verführung, Kaufrausch, Spaß am Bummeln und phantasievollem Spielen mit den von Warenhaus und Reklame suggerierten Traumwelten verbunden. Der Kauf von Konserven oder billigem Steingut, Warengruppen, die Käthe Lux als attraktive Angebote des Warenhauses für die sparsame Hausfrau angab, eignete sich allerdings nicht für solche Bilder des Vergnügens sich langweilender Damen. 176 Die Mittel und Wege, mit denen Warenhäuser für sich warben, wurden höchst unterschiedlich bewertet. Frauen schienen deutlicher zwischen dem Warenhaus und der Reklame zu trennen. Während Männer in ihren Beschreibungen des Warenhauses stets die Warenpräsentation und die Reklame hervorhoben und sie als starken Einfluß auf das KaufVerhalten der Frauen beschrieben, unterstrichen Frauen vornehmlich andere Punkte.177 Sowohl Lux als auch Fürth, die im übrigen harsche Kritik an der Reklame übte, bezweifelten die Wirksamkeit solcher Ausstattungen und betonten vor allem, daß in den Warenhäusern preiswert eingekauft werden könne. Nur so könne das Warenhaus die breite Masse der 174 Julius Hirsch: Das Warenhaus in Deutschland, Leipzig 1910, S. 115. Vgl. zum Shopping auch Rudi Laermans: Learning to Consume: Early Department Stores and the Shaping of the Modern Consumer Culture (1860-1914), in: Theory, Culture & Society, London, Vol. 10, No. 4/1993, S. 79-102, S. 87, 95. 175 Vgl. Laermans , S. 95 f. 176 Vgl. Lux, S. 65, S. 85. In einer Auflistung der umsatzstärksten Warengruppen der Warenhäuser standen an erster Stelle die Haushaltswaren, gefolgt von Konfektion (Stoffe), Kurzwaren und Manufakturwaren, erst dann folgte Damenputz und Wäsche. Vgl. ebd., S. 172 f., S. 12 f. Hirsch nannte nach der Damenkonfektion als zweite Gruppe die Glas-, Porzellan- und Wirtschaftsartikel, vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 45. 177 Die von Frauen hervorgehobenen Merkmale des Warenhauses, die sie als direkte Vorteile der Einkaufsarbeit definierten, wurden zwar auch von Männern genannt, aber eben nicht als so bedeutend gewürdigt. Sie verschwinden fast hinter den langen Schilderungen der Reklame. Oder sie wurden unter andere Hauptpunkte als das Einkaufen subsummiert: Zeitersparnis wurde ζ. B. auch bei Göhre betont, allerdings im Rahmen der perfekten Organisation der Warenhäuser, nicht so sehr in Hinblick auf den Nutzen für die Konsumentinnen, vgl. Göhre, S. 115.
III. Der ,demokratisierte 4 Einkauf
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Käuferschaft erreichen. „ Von Anfang an war das Streben der W-HUnternehmer auf die Einfuhrung von Artikeln gerichtet, deren Verkauf das Interesse der Hausfrau wachrufen mußte. Weil ihre überwiegende Majorität genötigt ist, auf die billige Beschaffung von Lebensmitteln große Aufmerksamkeit zu verwenden und weil viele von den Frauen, die nicht so genau zu rechnen brauchen, gern weite Wege machen, um ein Pfund Butter oder Fleisch um einige Pfennige billiger zu kaufen als in der Nachbarschaft, während sie erfahrungsgemäß bei Anschaffungen irgendeines Modeartikels den Preis weniger scharf kontrollieren, war der Verkauf von Lebensmitteln zu wohlfeilen Preisen im höchsten Maße geeignet, dem W-H den Besuch der Hausfrauen zu sichern. " 178 Eine besondere Warenpräsentation hielten die Autorinnen nur fur belangvoll, wenn sie z. B. der Befriedigung der Schaulust durch geschickte Warenarrangements anläßlich von Sonderverkäufen dienten. Betont wurde allerdings die „Sucht nach Gelegenheitskäufen", womit gemeint war, daß das Angebot billiger Waren dem „Spartrieb der Hausfrau " m entgegenkomme. In den männlichen Betrachtungen wurde mit einkaufenden Frauen gerade nicht die wirtschaftlich denkende, Hausarbeit leistende Frau assoziiert, sondern die verschwenderische, Abwechslung suchende und verfuhrbare Frau. 180 Demgegenüber betonte Lux den Reklameeffekt billiger Angebote an Konserven und Bruchporzellan. Zwar hielt auch Lux die indirekte Reklame durch Warenpräsentation und verführende Arrangements für wirksam, wenn sie beschrieb, daß einige Warenhäuser das Publikum durch eine komplizierte Wegeführung quer durch das ganze Haus locken und daß der fehlende Kaufzwang die Kauflust in viel höherem Maß wecke als die aufdringlichen Anpreisungen durch einen Verkäufer. 181 Aber die Szenen sich vergnügender Frauen bei gleichzeitiger Ausblendung der Arbeit fehlen bei ihr. In den bald von verschiedenen Waren- und Kaufhäusern herausgegebenen Agenden wurden Frauen als Zielgruppe besonders gewürdigt. Den Anfang machte eine Agenda des Hauses Rudolph Hertzog, die äußerst wohlwollend in einer Frauenzeitschrift besprochen wurde. Das Niveau des literarischen Teils erhebe „sie hoch über das Niveau einer Reklamepublikation, so daß wir die psychologische Selbsttäuschung begreifen, vermöge deren verschiedene Damen unserer Bekanntschaft sich eingeredet haben, sie brauchten gerade für ungefähr dreißig Mark Waare, - bloß um die Agenda als Zugabe zu bekommen! " m Auf178
Lux, S. 80. Ebd., S. 169; S. 172; S. 188. 180 Wohlbrück beschrieb in ihrem Roman zwar auch den Einkauf als Vergnügen, blendet aber dabei die Hausarbeit nicht aus. Das Einkaufen wird eher als Flucht aus diesen häuslichen Arbeiten und Repräsentationspflichten dargestellt. 181 Vgl. Zw*, S. 85; S. 170. 182 Die Agenda des Kaufhauses Rud. Hertzog, in: Neues Frauenblatt, Heft 4/1898, S. 75. 179
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
wendig gestaltet gab auch das Kaufhaus Nathan Israel in Berlin ab 1910 speziell fur Frauen aufwendige Agenden heraus. 183 Der Schwerpunkt solcher Agenden lag immer auf der Mode und ganz überwiegend auf der Mode fur die Frau. Männer und Kinder kamen nur am Rande vor. 184 Die Befreiung vom Kaufzwang, die Festpreise und die Umtauschmöglichkeiten im Warenhaus beeinflußten das KaufVerhalten. Die Interaktion zwischen Verkaufenden und Kaufenden wurde abgeschwächt und der direkte Zugang der Käufer zur Ware erleichtert. Das betraf nicht nur die Warenpräsentation. Auch die Vermittlerfunktion des Verkäufers oder der Verkäuferin wurde verringert und ein erster Schritt in Richtung Selbstbedienung getan, indem die Ware frei zugänglich aufgebaut, mit offen lesbaren Festpreisen ausgezeichnet und gleichzeitig das bislang übliche Feilschen aus den Warenhäusern verbannt wurde. Damit büßten jedoch die Kaufenden ihre mitbestimmende Rolle weitgehend ein. 185 Auseinandersetzungen über die Ware, in denen sich ein gewisses Selbstbewußtsein der Käufer artikulieren konnte, gehörten der Vergangenheit an. Park erkannte in diesem Akt des Feilschens noch das Bewahren einer Individualität, die das Publikum von der passiven Masse unterschied. 186 Von Frauen allerdings wurde diese Veränderung eher als die Beseitigung einer Bevormundung durch Verkäufer begrüßt. Henriette Fürth befürwortete die Auszeichnung mit Festpreisen, die Käuferinnen zur „ Warenkunde, Urteils- und Entschlußfähigkeit" ,87 erziehen würden. Lästige Überredungsversuche durch Verkäufer und der mehr oder weniger stark ausgeübte Kaufzwang würden wegfallen. Für Lux gaben Festpreise dem Publikum das Gefühl, vom Verkäufer nicht übervorteilt zu werden. 188 Auch in der Rubrik ,Frauenreich' einer Illustrierten wurden Warenhausgegner scharf kritisiert und die Vorteile des Warenhauses, vor allem der fehlende Kaufzwang und die Möglichkeit, unverbindlich Preise und Qualitäten 183 Die Frau und ihre Welt, hg. von Nathan Israel, Berlin 1910 (Frauen in Musik, Schauspiel, Kunst, Tanz, Schönheit etc.); Die Frau im Jahrundert der Energie, hg. von Nathan Israel, Berlin 1913. In verschiedenen Aufsätzen wird die »kulturelle Leistung4 der Frau gewürdigt. Mode und Schönheit spielten dabei, neben ,Herz4, ,Seele4, ,Wesen4, ,Macht4,,Verstand4 und ,Können4 die Hauptrollen. 184 Vgl. die zahlreichen Agenden der Häuser Nathan Israel und Rudolph Hertzog. In den Agenden Hertzogs wurden im Kalendarium an den meisten Tagen ,Shopping4-Tips gegeben: Hinweise auf eine bestimmte Saison, auf die Möglichkeit, gerade jetzt besonders billig Balkonmöbel, Winterstoffe oder Weihnachtsgeschenke kaufen zu können. 185 Sennett sah darin den Wandel von „active buying into passive shopping " vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1986, S. 186 f. Vgl. als Gegenposition Laermans, S. 82, 85. 186 Vgl. Robert Ezra Park: Masse und Publikum. Eine methodologische und soziologische Untersuchung, Bern 1904 (Phil. Diss. Heidelberg 1904), S. 75 f. 187 Fürth, S. 86. Sie begrüßte das Warenhaus auch als in wirtschaftlicher Hinsicht besonders fortschrittliche, rationelle Einrichtung, ebd., S. 82 ff. Ähnlich auch Göhre, S. 136; Hirsch, Das Warenhaus, S. 115. 188
Lux, S. 170.
III. Der ,demokratisierte 4 Einkauf
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vergleichen zu können, sowie die Zeitersparnis sachlich gewürdigt. 189 Das Warenhaus selbst warb mit dieser neuen Freiheit für die Käuferinnen. In der Zeitschrift ,Das Waarenhaus' war 1899 zu lesen, daß in den Warenhäusern besonders moderne, „emanzipierte" Hausfrauen kauften. Sie seien in der Lage, die Vorteile, die das Warenhaus biete, geschickt zu nutzen. Man ermögliche der modernen Frau durch das Fehlen aufdringlicher, bevormundender Verkäufer die „Freiheit der Bewegung und des Entschlusses. " 1 9 0 Zeitsparender Einkauf und autonom gefällte Kaufentscheidungen allein aufgrund der Festpreise wurden als Fortschritt gedeutet. Die Warenhausgegner benutzten ein ins Negative gewendetes Bild der modernen Frau für ihre Kritik, indem sie das Schreckbild des Massenmenschen mit dem der Warenhauskundin verbanden. Die moderne, in den Warenhäusern einkaufende Frau sei Vorreiterin des „Dutzend-Menschen " ohne eigene Meinung und orientiere sich nur an der jeweiligen Mode. Vor allem Frauen seien anfällig für Modeströmungen und fanden es „so schön großstilig" l91, im Warenhaus einzukaufen. Argumente, daß sie damit die Vernichtung des Mittelstandes fördern würden, seien der modernen Frauenwelt nicht zugänglich. Die moderne Frau denke egoistisch nur an ihr eigenes Dasein und kaufe ohne Zögern im jüdischen Warenhaus ein. Was die moderne Frau als Bequemlichkeit verteidige, sei der erste Schritt, um jede „Nachlässigkeit und Lotterei " m zu rechtfertigen. Der Versuchung der Warenhäuser könnten leider nicht alle Menschen standhalten. „Ihre prahlerische Reklame, ihre jahrmarktsmäßige Aufputzung der Schaufenster, ihre Lockartikel mit Pfennigpreisen, ihr Versprechen von GratisZugaben und ähnliche Mittel verfehlen ihre Wirkung nicht - besonders bei Leuten von geringem Verstand und schwachen Charakter. " Die Geschäftspraktiken der Warenhäuser würden die Sinne verwirren und so vor allem auf die „schwachen Gemüter der Frauen " , 9 3 wirken.
189 Vgl. Der evangelische Kongress in Chemnitz und das Warenhaus, in: Zeit im Bild, Heft 24/1910, S. IV. Die Durchsicht einer Frauenzeitschrift ergab eine eher neutrale Position. Bei Einkaufstips wurde genauso auf Warenhäuser wie auf Spezialgeschäfte hingewiesen; vgl. Neues Frauenblatt, Jg. 2/1898. 190 Hausfrau und Waarenhaus, in: Das Waarenhaus, Heft 2/1899, S. 5-6, S. 6. 191 Th. F.: Gewerbe-Hallen gegen Warenhäuser, in: Hammer, Nr. 53/1904, S. 395398, S. 395 f. Bei dem Autor handelt es sich offensichtlich um den Antisemiten Theodor Fritsch, den Herausgeber der Zeitschrift. 192 Ferdinand Roderich-Stoltheim [=Theodor Fritsch]: Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges. Zugleich eine Antwort und Ergänzung zu Sombarts Buch ,Die Juden und das Wirtschaftsleben 4, Steglitz 1913 (2., durchgesehene Auflage), S. 129. 193 Warenhäuser und Mittelstand, in: Hammer, Nr. 60/1904, S. 553-558, S. 557.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
2. Vom ,Publikum' zur ,Masse6 - Bilder aus dem Warenhaus Wie unter dem Einfluß der Reklame auf der Straße, so wurden Menschen auch im Warenhaus als nur reaktives Publikum wahrgenommen. Anhand der Schilderungen, die zahlreiche zeitgenössische Betrachter von den im Warenhaus einkaufenden Frauen geschrieben haben, läßt sich nachvollziehen, wie der Begriff Publikum sich hin zum Begriff Masse öffnete. Das Warenhaus als Ort der Reklame, des freien Zugangs ohne Klassenschranken und der festgesetzten, fur alle Kunden gleichen Preise wurde gleichsam als Katalysator betrachtet, der aus dem Publikum im Bestfall Durchschnittsmenschen 4, häufiger eine noch negativer konnotierte , Masse4 machte. In die Definitionen der Wörterbücher ging der Begriff ,Publikum4 im Sinne der Konsumenten nicht ein. Dort wird bis heute, eng angelehnt an Grimms Definition, ,Publikum4 im engeren Sinne als Zuhörerschaft und Leserschaft und erst in zweiter Linie als „die menge [...], die weit, die öffentlichkeit" 194 begriffen. Lucian Hölscher hat herausgearbeitet, daß sich im 19. Jahrhundert der Begriff,Publikum 4 zunächst auf die gebildete bürgerliche Gesellschaft bezog, „die sich, zugleich aktiv und passiv, geschmacksbildend am öffentlichen Austausch der Meinungen und Ansichten beteiligte. " Dabei wurde dem Publikum eine richtende Funktion zugewiesen. Seit den 1870er Jahren wurde das Publikum zum „Objekt von Meinungsführern" 195 umgedeutet und der aktive Aspekt ging mehr und mehr verloren. Das Publikum galt als manipulierbar und mit der Rezeption der Massenpsychologie um die Jahrhundertwende wurde das Publikum in Abgrenzung zum Individuum definiert. Damit war die Grenze zum abwertenden Begriff,Masse 4 fließend geworden. In seiner 1904 erschienenen Dissertation hat Park noch deutlich zwischen Masse und Publikum unterschieden. Er wies dem Publikum eine gewisse Kritikfähigkeit zu. 196 Dadurch, daß sich das Publikum aufgrund seiner Oppositionshaltung - er verwendete das Beispiel Käufer/Verkäufer - über eine bestimmte Sache auseinandersetzen müsse (ζ. B. den Preis einer Ware), sei es gezwungen, objektive Kriterien für eine Verständigung zu nutzen, auch wenn die
194
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1889, Bd. 13, Sp. 2201. Vgl. Lucian Hölscher. Öffentlichkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, S. 413-467. S. 433, 435, 464. Bis ins 18. Jahrhundert bedeutete ,Publikum4 als ,Staatspublikum4 die „Adressaten obrigkeitlicher Rechtsakte". Nach Schmoller beeinflußten den „psychophysischen Apparat" eines passiv gedachten Publikums: „Regierung, Parteiführer, Journalisten, Kirchen- und andere Lehrer, Geschäftshäuser und Börsenleute ". Zit. nach Wilhelm Ba er. Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1914, S. 35; dort ist auch von Parallelen zwischen der öffentlichen Meinung4 und der Reklame in ihrem Einfluß auf die ,Masse4 die Rede, vgl. ebd., S. 144 f. 196 Vgl. Park, S. 107. 195
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Bewertung der Ware subjektiv bestimmt sei. Diese verschiedenen, subjektiven Gesichtspunkte unterschiedlicher Individuen würden, nicht zuletzt durch die Diskussion verschiedener Meinungen, auch anerkannt. 197 Beim Publikum sei damit - im Gegensatz zur Masse - eine Unterordnung unter gewisse „logische Normen " der Kommunikation gewährleistet. Während das Publikum durch mitfühlen und mitdenken, also eine gewisse Reflexion seines Tuns, zu charakterisieren sei, werde die Masse allein durch „fühlen und mitfühlen" bestimmt. Während die Masse individuelle Impulse und Interessen hemme, treten diese im Publikum hervor. Allerdings sah er beide als reaktiv definiert. „ Weder die Masse noch das Publikum erkennen sich selbst als Ganzes, noch suchen sie ihre eigene Handlung zu bestimmen. Bei ihnen ist keine Regel, keine bewusste Herrschaft, kein Selbstbewusstsein vorhanden. " m Und für beide gelte der Gruppenbegriff nur während der kurzen Zeit des Zusammentreffens. Folgt man der zeitgenössischen Literatur, dann machte die Reklame aus den sie rezipierenden Menschen ein ,Publikum'. 199 Der Reklamefachmann Seidt erfand für diese Umwälzung die Formel: „Im alten Staat sind wir Volk, im neuen sind wir Publikum. " 20° Durch die Reklame sei das , Volk' in seiner Gesamtheit zu potentiellen Käufern geworden. Nicht das Individuum war Ziel der Reklame, sondern ein möglichst breites, anonymes Publikum. 201 Zweifellos konnte mit ,Publikum' auch eine kleinere, genauer zu definierende Gruppe gemeint sein, beispielsweise die Stammkunden eines Geschäfts. Aber spätestens seit der Jahrhundertwende setzte sich in der Diskussion, auch im Zusammenhang mit der Reklame, für den Begriff des Publikums immer stärker der zum Schlagwort werdende Begriff,Masse' durch, obwohl die Reklamebranche selbst weithin am positiver besetzten Begriff Publikum festzuhalten versuchte. Dieser, zur willenlosen, manipulierbaren Masse hin geöffnete Publikumsbegriff war besonders 197
Ebd., S. 79. Beispiel des Kaufaktes S. 75 f. Ebd., S. 73; S. 106. 199 Z. B. im Art. Annonce, in: Brockhaus' Conversationslexikon, Leipzig 1882 ff. In den Reklamefachzeitschriften wurde dieser Begriff von Beginn an verwendet, vgl. z. B. Die Reklame - eine Macht, in: Die Reklame, Heft 1/1892, S. 1-2, S. 1. Auch in der Soziologie wurde der Begriff,Publikum' für die Zielgruppe der Reklame verwendet, vgl. A. Vierkandt: Worauf beruht die Wirksamkeit der Reklame?, in: Deutsche WirtschaftsZeitung, 2. Jg., Nr. 24/1906, Sp. 1114-1120, Sp. 1114. 200 Seidt, S. 15. 201 Dabei verschwamm die begriffliche Trennung zwischen Publikum, Masse und Durchschnittsmensch; alle aber bedeuteten ein Gegenpunkt zum Individuum und galten als das Ziel der Reklame. Zur Kritik an der unklaren Trennung vgl. Wilhelm Vleugels: Wesen und Eigenschaften der Masse, in: Kölner Vierteljahrshefte für Sozial Wissenschaften, München/Leipzig, Jg. 2, Heft 1/1922, S. 71-80. Niederschlag fand die Deutung des Publikums als anonyme Masse in juristischen Definitionen. In Arbeiten über die geschäftliche »Offerte' wurde das Publikum als »persona incerta' definiert. Erst mit dem Kaufabschluß werde aus dieser eine »persona certa', vgl. Wilhelm Zschimmer. Die Offerte an das Publikum, Jur. Diss. Rostock 1897, S. 7 ff. 198
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
charakteristisch für die Schilderungen des Käuferinnenverhaltens in den Warenhäusern. Ein zentrales Motiv in Zolas Roman ,Au Bonheur des Dames4 (1883) stellte die Beschreibung der Verführbarkeit der ,Masse4 dar. Zola hat mit seinem Roman die Wahrnehmung des Warenhauses bis heute und schon bei den Zeitgenossen nachhaltig geprägt. Zahlreiche Beschreibungen des Warenhauses, auch die, die sich auf einen wissenschaftlichen Kontext beriefen und einen Anspruch auf fundiert belegten und sachlichen Umgang mit dem Thema erhoben, 202 erscheinen wie eine zweite Ausgabe der Schilderung Zolas, die direkt auf Deutschland übertragen und von Sombart als „Perle" 203 der Warenhausliteratur bezeichnet wurde. Offenbar provozierte das Thema auch bei anerkannten wissenschaftlichen Autoritäten eine kaum zu bewältigende Flut von Assoziationen, die nur in der Sprache eines Romans gefaßt werden konnte. Die Grenzen zwischen Tatsachen und Fiktionen, zwischen realen Zuständen in Deutschland und den in zahllosen Romanen ebenso wie die in wissenschaftlichen 4 Texten reproduzierten Bildern verschwimmen. Stresemann bezog sich ganz offen auf Zola, wenn er über das KaufVerhalten der Frauen in den Warenhäusern schrieb. Zola habe eine wunderbare Beschreibung der Psychologie der Frau geliefert, auf der die Wirkung der Warenhäuser basiere. Beobachtungen in den heutigen Großstädten würden diese Beschreibungen bestätigen.204 Auch die Schilderung der dem Kaufrausch verfallenen Madame Marty sei mehr als bloße Schriftstellerphantasie.205 Andere Autoren spielten dagegen auf Zola an, ohne ihn explizit zu nennen. So nannte Göhre das Warenhaus „bonheur des dames" 206. Das Waren-
202
Das gilt für den an renommiertem Ort publizierten Aufsatz des späteren Außenministers Stresemann ebenso, wie für Göhre in der Reihe Die Gesellschaft, Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Bd. 12, hg. von Martin Buber. Eine weitere viel rezipierte Warenhausbeschreibung lieferte Colze. Sie wurde als Bd. 47 in der Reihe Großstadt-Dokumente, hg. von Hans Ostwald, publiziert. 203 Diese Einschätzung findet sich in einer Rezension eines wissenschaftlichen Werkes über Warenhäuser, d. h., Sombart trennte hier nicht zwischen Roman und wissenschaftlichen Abhandlungen. Werner Sombart [Rez.]: Mataja, Victor: Grossmagazine und Kleinhandel, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 5/1892, S. 379-381, S. 381. 204 Vgl. Stresemann, S. 714. 205 Ebd., S. 723. 206 Göhre, S. 24. Ahnlich die Werbeschrift eines neuen Kaufhauses: Die Neugestaltung des deutschen Detailhandels, hg. vom Passage-Kaufhaus in Berlin, Berlin 1908, S. 25. In einem Vortrag in der Berliner Handelshochschule setzte der Redner Zolas Roman als weitgehend bekannt voraus und bezog sich auf dessen „glänzend erfaßte Bilder". Fritz Gugenheim: Warenhäuser und Spezialgeschäfte, in: Gewerbliche Einzelvorträge, gehalten in der Aula der Handelshochschule Berlin, hg. von den Altesten der Kaufmannschaft von Berlin, Berlin 1909, S. 23-46, S. 37. Harden assoziierte zu Warenhaus sofort Zola, unterstrich aber die Unterschiede zwischen Paris und Berlin. Harden , S. 45.
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haus als Paradies der Frauen war schon zum Topos geworden. Zugleich baute Göhre sein Buch als Sehanleitung fur die Wahrnehmung des Warenhauses auf: Zusammen mit seinen Leserinnen und Lesern durchläuft er - ,wir' - das Warenhaus und gibt im Imperativ dem geduzten Leser Hinweise zur richtigen Wahrnehmung, indem er das angemessene Sehen und Hören der ,wimmelnden' Menschenmasse, der ,Ströme' und des ,Gewirres' vorexerziert. 207 Im Warenhaus trat die einkaufende Masse sichtbar in Erscheinung. 208 Die Zeitgenossen registrierten die neuartige Masse zum einen als eine dicht gedrängte, sich bewegende Menschenmenge und zum anderen als Ansammlung von Menschen aller Schichten mit fur allen gleichen Zugriffsmöglichkeiten auf die Ware. 209 Letztere wurde, meistens negativ, als Demokratisierung' des Konsums diskutiert. 210 Das ,Phänomen Masse' wurde mit um so wachsender Aufmerksamkeit registriert, je stärker die Masse Ansprüche auf politische Partizipation anmeldete und ihre politische Bedeutung wuchs. Hieran entzündete sich die beunruhigende Diskussion über eine spezifische ,Psychologie der Masse' (vgl. Kap. G. II. 1), die vor allem durch das Buch ,Psychologie des foules', von Gustave Le Bon (1895) bestimmt wurde. Demnach entwickelten Menschen in größeren Ansammlungen eine „Kollektivseele" 2n, die weitaus mehr durch emotionale Momente bestimmt sei als das einzelne Individuum. Die Masse produziere eine Tendenz zum Verlust der Selbstbeherrschung, zur Ausbildung einer starken Erwartungshaltung und mache besonders anfällig für Suggestionen und das ansteckende Moment der gegenseitigen Nachahmung. Diese Massendiagnose wurde auf das Beispiel der in Warenhäusern einkaufenden Frauen übertragen. Sie galten in ihren Eigenschaften als der Masse sehr ähnlich. 212 Da Frauen die
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Göhre, v.a. S.21. Häufig wurden in Abhandlungen über die Masse visuelle Eindrucke mit politischen und wirtschaftlichen Veränderungen vermischt. Die massenhafte Präsentation der Güter z. B. galt schon als Ausdruck des veränderten Zeitalters, vgl. z. B. Ernst Bernheim: Persönlichkeit und Masse, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Nr. 31/1910, Sp. 961-974, Sp. 965, 972. 209 Dazu gehörte auch das wachsende Angebot preiswerter Artikel aufgrund der Massenproduktion. Das Warenhaus war Ausdruck auch des „Massenverkaufs " von massenproduzierten Gütern, vgl. Massenbeherrschung, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Heft 9/1910, S. 667-691, S. 675 f. 2,0 Wobei der Begriff »Demokratisierung4 als Substantiv nicht verwendet wurde, allerdings in der Verbform schon in der Übersetzung von Zola, S. 85 benutzt wurde. Der Historiker Lamprecht sah in der Aufdrängung eines vereinheitlichten Geschmacks durch die Reklame ein Kennzeichen des „demokratischen ZeitaltersKarl Lamprecht: Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 1, Berlin 1912, S. 57, 254. 211 Gustave Le Bon: Psychologie des foules, 1895, dt.: Psychologie der Massen, Leipzig 1908, S. 9. 2,2 Vgl. ebd., S. 18, 27. Vgl. zur Definition der Masse als weiblich Helmut König: Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 1992, 208
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
Haupteinkaufsarbeit leisteten waren sie für die Reklame die interessante Zielgruppe, ihnen wurde unterstellt, besonderes anfallig auf die Mittel der Reklame zu reagieren. Bilder, simple Behauptungen, Wiederholungen, Übertreibungen und die Phantasie anregende Inszenierungen, wie sie vor allem die neuen Medien der Reklame einsetzten, galten als besonders massenwirksam und zielten vor allem auf Frauen. 213 Im zeitgenössischen Verständnis wirkte Reklame durch Inszenierungen und Appelle, die sich nicht argumentativ an die Vernunft des Einzelnen richteten, sondern an die Instinkte und Geiühle der »Kollektivseele' appellierten. Großstadtmenschen, die ständig zu vielen Reizen ausgesetzt seien, galten als besonders leicht beeinflußbar. 214 Reklame, die weibliche Großstadtmenschen im Visier hatte, mußte folglich in ihrer Wirkung kaum zu übertreffen sein. Das Warenhaus war der Ort und die Reklame das Medium, die die neuartige Masse der Einkaufenden und des Eingekauften hervorbrachten. Daran orientierten sich die Reklametreibenden: „Die Reklame will Massenkonsum. Dazu schafft sie sich die kaufenden Individuen zu einer Masse um. " 2 1 5 Denn als Masse würden die Individuen zu willenlosen, manipulierbaren Käufern. Ein Blick auf die zeitgenössischen Betrachtungen einkaufender Menschen und die dabei konstatierten Veränderungen in Konsummöglichkeiten und -verhalten soll dieses Bild der konsumierenden, durch Reklame verführbaren Masse verdeutlichen. Gerade in der Anfangszeit wurden Warenhäuser als billige, in erster Linie an die Arbeiterbevölkerung adressierte Einkaufsmöglichkeiten konzipiert. 216 Den Ruf als ,Ramschbazare' verloren sie nur langsam, und ihre Attraktivität für Menschen aus der Arbeiterschicht brachte sie in den Ruf, Brutstätte der ,Roten Internationale 4 zu sein. Gerade die kaufkräftigen Kreise schienen Vorbehalte gegen das Warenhaus zu haben.217 In reicheren Schichten galt der Besuch im
S. 157-168. Susanna Barrows : Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late Nineteenth-Century France, New Haven/London 1981, S. 43-72. 213 Vgl. Le Bon, S. 44 f. 214 Vgl. ζ. Β. Stutzer , S. 74. 215 Μ Picard: Zur Psychologie der Reklame, in: Zeitschrift für Handels Wissenschaft und Handelspraxis, Heft 3/1913, S. 42-43, S. 43. 216 Damit unterschieden sie sich von den älteren französischen Warenhäusern, die zur Zeit der Entstehung der deutschen Warenhäuser schon stärker auf eine städtische, wohlhabende Käuferschaft zugeschnitten waren. Dennoch fand für die Wirkung dieser Warenhäuser der französische Zola in Deutschland große Aufmerksamkeit. Wenn es aber um die innerbetriebliche Organisation ging, orientierte man sich eher an amerikanischen Fachbüchern. 217 Vgl. Carl Schnell-Koch: Auf welche Kundschaft reflektiere ich?, in: Organisation, Nr. 10/1908, S. 233-234. S. 233. Rubens zitiert zwei, die Zweitklassigkeit der Ware charakterisierende Sprüche dieser Zeit: „ Von Tietz, man sieht's!" und „ Wer bei Tietz kauft, bringt nichts von Wertheim!" Werner Rubens: Der Kampf des Spezialgeschäfts gegen das Warenhaus, Wirt.- und sozialwiss. Diss. Köln 1929, S. 13.
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Warenhaus zunächst als unschicklich. Doch seit der Jahrhundertwende wurden einige Warenhausfilialen als ausgesprochene Luxuswarenhäuser wie z. B. das KaDeWe 1907 gegründet und fanden rasch ein bürgerliches Publikum. In der warenhauskritischen »Kreuzzeitung4 wurde allerdings noch 1905 behauptet, den meisten Kunden von Warenhäusern sei der Kauf dort im Grunde peinlich. Die Zeitschrift ,Plutus4 hielt dem entgegen, daß sich heute selbst „hohe Staatsbeamte" 218 ihre Anzüge in den Warenhäusern fertigen ließen. Ein anderer Autor bestätigte diese Beobachtung und ergänzte, daß die ,bessere Kundschaft 4 spätestens dann, wenn sie die Erfahrung gemacht habe, daß ihnen in den kleinen Läden mit den chiffrierten Preisauszeichnungen mehr Geld als anderen Kunden abgenommen werde, die Gleichbehandlung in den Warenhäusern begrüßen würde. 219 Als Trumpf der Warenhäuser wurde ausgespielt, daß sie den Käufern gewisse Freiheiten ermöglichten: „Auch die Anonymität wird in dem kleinen Geschäft oft nicht so gewahrt, wie es viele Käufer wünschen [...], viele wollen aber auch unter dem schützenden Mantel der Anonymität billige Einkäufe machen und auch hier wird das System der Warenhäuser am wohltätigsten empfunden. " 2 2 ° Frauen, die aus Repräsentationsgründen wohlhabend erscheinen mußten, waren häufig genug gezwungen, als Käuferinnen Preisvergleiche anzustellen.221 Gerade ihnen kam die Möglichkeit, anonym und billig einzukaufen ebenso entgegen wie das einfache Vergnügen am Kauf, am Bummeln und Probieren. Die als Demokratisierung 4 des Konsums herausgestellte Überwindung der Klassenschranken spielte für Verteidiger und Kritiker der Warenhäuser eine gleichermaßen wichtige Rolle. Dabei wurde selten beachtet, daß die Verbilligung der früher unerschwinglichen Luxusgüter häufig auf Kosten der Qualität geschah und daß das klassenlose Einkaufen doch durch die auf unterschiedliches Publikum ausgerichteten Warenhäuser eingeschränkt wurde. In den Arbeiterbezirken Berlins waren andere Warenhäuser zu finden als im vornehmen Berliner Westen. Tietz gehörte zu den ,besseren4, eigens für das bürgerliche Publikum konzipierten Warenhäusern. Die Wertheimfiliale an der Leipziger
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Vgl. Plutus, Heft 19/1905, S. 366 f. Berendt, S. 5 f. Auch Göhre, S. 91 betonte, daß sogar Offiziere in Uniform Warenhäuser besuchen. 220 Ebd., S. 25. Vgl. auch K. Fulde: Die Einkaufs- und Verkaufsmethoden der Warenund Kaufhäuser, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, Heft 12/1913, S. 376-381, S. 381. 221 Zu dem oft nur mühsam aufrecht erhaltenen Schein des Wohlstandes und die Notwendigkeit der Frauen, alle Sparmöglichkeiten auszunutzen vgl. Sibylle Meyer. Die mühsame Arbeit des demonstrativen Müßigganges. Über die häuslichen Pflichten der Beamtenfrauen im Kaiserreich, in: Frauen suchen ihre Geschichte, historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Karin Hausen, München 1987, S. 175-197, S. 187 f. Vgl. auch den Roman von Wohlbrück. 219
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Straße galt als reines Luxuswarenhaus. 222 Die von einigen Zeitgenossen so befürchtete , Vermischung 4 in den Warenhäusern hielt sich sehr in Grenzen. Mit Blick auf die Grundprinzipien des Warenhauses war es allerdings durchaus berechtigt von Demokratisierung zu sprechen. Die tendenzielle Aufhebung alter Trennungen in der Käuferschaft war schon sensationell, allein die Möglichkeit, daß - wenn nicht zum Kaufen, dann doch zum Betrachten der Ware Arbeiterfrauen neben Geheimratsgattinnen stehen konnten, galt als Umwälzung der Sitten. Mit Unwillen registrierte der Warenhauskritiker Dehn, daß nicht nur die unteren Schichten auf die neuen Geschäfte hereinfielen. „ Selbst vornehme und reiche Leute drängen sich in diese Ramsch- und Schleuderbazare, fahren wohlmöglich mit ihren Gespannen vor, ohne zu empfinden, wie sehr sie dadurch in der Achtung anständiger Leute sinken müssen. " 2 2 3 Die Anziehungskraft wirke auf Frauen so stark, daß es gerade bei ihnen zu einer Vermischung der Schichten käme: „die vornehmen Beamtenfrauen aus dem Westen Berlins oder aus Charlottenburg geben sich dem Trubel ebenso willig hin, wie die Handwerker- oder Arbeiterfrauen des Ostens und Nordens, die stets ihr sonst für Festtage aufgespartes ,gutes Kleid' anziehen, wenn sie zu Wertheim gehen. " 2 2 4 Trotz dieser Verkleidung glaubte der Autor, weiterhin die unterschiedliche soziale Herkunft der Kundinnen erkennen zu können. Die den Frauen unterstellte Affinität zur Masse klang in vielen Beschreibungen durch. Aufgehend in der Masse, so wurde behauptet, vergäßen Frauen sehr viel leichter als Männer sämtliche Standesgrenzen, obwohl doch gerade sie wegen ihrer Feinfühligkeit für gesellschaftliche Distinktion gepriesen wurden. 225 Die Demokratisierung wurde von den Warenhäusern als Prinzip herausgestellt. Sie rühmten, daß die Verkäufer der Warenhäuser angehalten seien, alle Kunden gleich zu behandeln. „Größte Freundlichkeit und Höflichkeit ist dem Personal vorgeschrieben, gleichgültig, ob jemand viel oder wenig kauft, vornehm oder gering ist. Ja es ist sogar verboten, sogenannte hochgestellte Personen, die kaufen und die das Personal zufallig dem Namen oder Range nach kennt, in Gegenwart einfacherer Menschen mit ihrem Titel oder Namen anzu-
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Vgl. Magnus Biermer: Die Mittelstandsbewegung und das Warenhaus, in: ders.: Sammlung nationalökonomischer Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Heft 5-8, Gießen 1908, S. 102. 223 Paul Dehn: Hinter den Kulissen des modernen Geschäfts, Berlin 1897, S. 80. 224 Stresemann, S. 714. Ähnlich beschrieb Zola, daß alle Damen von derselben „Leidenschaft" getrieben das Warenhaus besuchten. Zola, S. 193. J. W. Hauschildt: Der Kampf gegen die Waarenhäuser, Friedberg 1897, S. 20, beklagte, daß Versuche, die „Damenwelt" gegen Warenhäuser einzunehmen, kläglich gescheitert seien. 225 Nicht nur bei Stresemann. Literarische Beschreibung bei Köhrer, S. 84 f. Die „erregten Gesichter" überdecken alle Grenzen. Bei ihm setzt sich die Masse nur aus Frauen zusammen.
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reden, geschweige extra freundlich und unterwürfig zu bedienen. " 2 2 6 Die Uniformierung des Personals sollte helfen, soziale Unterschiede zu kaschieren. 227 Weder sollte durch ärmliche Kleidung der Verkäuferin einer reichen Kundin, noch durch eine gut gekleidete Verkäuferin einer Arbeiterfrau die sozialen Unterschiede vor Augen geführt werden. Auch am Vergnügen könnten alle teilhaben: „Bequemlichkeiten, die dem einzelnen daheim fremd waren, wurden geboten; Licht, Luft, Wärme, Fortschritte der Technik und Kunst, überhaupt alle Errungenschaften der Neuzeit trugen dazu bei, den Aufenthalt im Warenhause teilweise als Vergnügen zu betrachten. " 2 2 8 Göhre hoffte sogar, daß sich das Warenhaus allein durch solche Kontakte der unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten als sozial ausgleichend erweisen könnte. 229 Außerdem machten sich die Warenhäuser ausdrücklich die „Eroberung der Massen" 230 zum Ziel. Als Voraussetzung des Warenhauses erkannte Borgius 1899 „eine weitgehende Nivellierung der Lebenshaltung bei einem nicht zu geringen Niveau derselben. " 2 3 1 Auf dieses breite Publikum griff das Warenhaus zurück. Nicht der einzelne Stammkunde wurde umworben; die Masse mußte für den raschen Umsatz sorgen. Vor allem in den Anfangen waren mit der Masse die ärmeren Schichten gemeint.232 Billige Waren sollten diese Käufer ansprechen. Früher kaum oder gar nicht erschwingliche Waren, wie Südfrüchte, billige Klassikerausgaben, Emaillewaren, Toilettenpapier und Konserven, wurden in erster Linie von den Warenhäusern verkauft. 233 Mit dem Angebot billiger Kon-
226 Göhre, S. 43. Vgl. auch Berendt, S. 5. Die renommierteren Spezialgeschäfte beharrten im Gegenzug ausdrücklich auf einer »Individualität4, die sich in der persönlichen Anrede der Kunden ausdrücken sollte. 227 Vgl. Berendt, S. 9. Zu den Widersprüchen einer solchen Aufhebung vgl. Porter Benson, S. 1-25. Sie untersuchte für die USA die von der Warenhausleitung intentierte Aufhebung der Klassenidentität (bei gleichzeitiger Betonung des Geschlechts) der in der Regel aus der Unterschicht stammenden Verkäuferinnen und ihre Schulung im Einfühlen in die Bedürfnisse des Mittelstandes, um qualifiziert beraten und verkaufen zu können. 228 K. Fulde: Die Einkaufs- und Verkaufsmethoden der Waren- und Kaufhäuser, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, Heft 12/1913, S. 376-381, S. 377. Auch Steindamm betonte den „Hang und den Drang nach Luxus " gerade in den Kreisen, die „um das tägliche Brot hart zu kämpfen haben" und deshalb gerne ins Warenhaus gingen, vgl. Johannes Steindamm: Beiträge zur Warenhausfrage, Berlin 1904, S. 15. 229 Göhre, S. 136. 230 Pluto: Das Kaufhaus, in: Die Zukunft, Bd. 79/1894, S. 624-628, S. 624. 231 Walter Borgius: Wandlungen im modernen Detailhandel, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Berlin, Bd. 13/1899, S. 41-154, S. 59. 232 Vgl. Huber, S. 6. 233 Ebd.; Hirsch: Das Warenhaus, S. 114; Lux, S. 87 f. Zur „false democratization of luxury", dem Brechen dieser vermeintlichen Teilhabe am Luxus durch die Warenqualität und zur Nachahmung und damit Bestätigung des (groß-)bürgerlichen Geschmacksideals durch das Kleinbürgertum und den Mittelstand, vgl. Laermans, S. 96 ff. (bezogen v. a. auf Frankreich).
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serven sei eine bessere Ernährung auch der Arbeiter gewährleistet, betonten Warenhausvertreter wie Wussow. Durch das Warenhaus sei die Konserve eines der „ vorzüglichsten und beliebtesten Nahrungs- und Genußmittel gerade auch der großen Masse des Volkes geworden. " 234 Göhre ging davon aus, daß das Warenhaus fur breite Schichten eine extreme Verbilligung des Konsums bedeute. Besonders bei Lebensmitteln lägen die Preise zum Teil um die Hälfte niedriger. Damit trage das Warenhaus zur „ Hebung der Lebenshaltung gerade der breiten Massen " 2 3 5 bei. Geld allein zählte, dafür aber versprach das Warenhaus Waren in annehmbaren Qualitäten. Um den verschiedenen Käuferschichten entgegenzukommen, wurden die meisten Artikel in unterschiedlichen Qualitäten und Preisklassen angeboten, wobei das mittlere Preisniveau dominierte. 236 Anders als in den USA war in Deutschland die Vorstellung einer Demokratisierung keineswegs nur positiv besetzt. Zahlreiche Kritiker sahen darin einen Verfall der (Waren-)Qualität und einen Verlust der Individualität der Konsumenten. Bruno Jaroslaw mißfiel, daß die von ihm stark idealisierte Funktion des Händlers als , Erzieher' der Käufer in puncto Geschmack und Qualität am Aufkommen des demokratischen Massenkonsums scheiterte. „Die Richtung der Konsumtion und damit der Produktion , die einzelnen Positionen des nationalen Haushaltungsbudget werden also streng demokratisch bestimmt von den breitesten Massen, die erst zu geistig aktiven Persönlichkeiten heranreifen sollen, die häufig genug auf Sinnenreiz und äußeren Schein hin, nach Motiven der Eitelkeit und der Veränderungssucht ihre Wahl treffen werden und deren Instinkt gewiß nicht immer mit den ihnen unbekannten Grundsätzen kultureller Zweckdienlichkeit zusammentreffen wird." 237 Eine kapitalistische Wirtschaft, die nur auf Steigerung des Umsatzes ausgerichtet sei, verstehe sich als reine Genußbefriedigung, spekuliere auf ,unreifen' Massenkonsum und sei somit „kulturwidrig". 2 3 8 Ihr bevorzugtes Mittel sei die Reklame, für die die Masse wesentlich empfänglicher sei, als das bürgerliche, geschmacklich gebildete Individuum. Vermischt mit Kritik an der wirtschaftlichen Organisation wurden , sittliche Gefahren' des Warenhauses angeprangert. Hier manifestierte sich früh eine Kritik 234
Vgl. Otto Erich von Wussow : Geschichte und Entwickelung der Warenhäuser, Berlin 1906, S. 72. Daß durch die Warenhäuser erst ein Markt für Konserven geschaffen wurde, betonte auch der Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser in seiner Broschüre. Z.T. abgedruckt bei Wussow, S. 83. Vgl. auch Göhre , S. 128. Zu dem Urteil, daß das Warenhaus gerade in seinen Lebensmitteln generell billiger sei als der Kolonialwarenhänder, kam Erich Lilienthal: Kleinkaufmann und Warenhaus, in: Dokumente des Fortschritts, Jan. 1911, S. 37-41. 235 Göhre , S. 128. Ähnlich auch der Syndikus des Verbandes deutscher Waren- und Kaufhäuser, Johannes Wernicke: Die Bedeutung der deutschen Warenhäuser als Preisregulatoren, in: Dokumente des Fortschritts, Feb. 1913, S. 98-102. 236 Göhre , S. 38\Berendt, S. 11. 237 Bruno Jaroslaw: Ideal und Geschäft, Jena 1912, S. 202. 238
Ebd., S. 198.
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am modeorientierten Konsumverhalten der Kundschaft. Diese Konsumkritik fand breite Unterstützung vor allem in kulturkonservativen Kreisen. Ferdinand Avenarius, der Herausgeber des ,Kunstwarts 4 und Gründer des »Dürerbundes 4, warnte davor, über die „ ästhetischen Schädigungen " durch die Reklame deren „ethischen Wirkungen" 239 aus dem Blick zu verlieren. Die eigentliche Gefahr bestehe darin, daß die Reklame den „Interessen des Kapitals" 2* 0 diene, den Menschen Bedürfhisse „aufsuggeriert, wo keine da sind" 241 und den Absatz minderwertiger Waren ermögliche. Auch Befürworter der Reklame gingen davon aus, daß Reklame schnellebige Moden schaffe. „ Was bei einer Mehrheit geschätzt und beliebt ist, kauft man unbedenklich. Die Reklame, die natürlich einen Massenbedarf wünscht, wird stets den Modeliebhabereien zustreben. " 242 Sie spüre Trends auf, nutze sie und propagiere damit den raschen Wechsel der Moden. Kritiker aber sahen Massenproduktion und Massenabsatz als Ursache für den Verlust jeglicher Individualität. Im Zeitalter der „Massen-Städte, des Massen- Verkehrs, der Massen-Produktion, des Massen-Konsums und der Massen-Politik" galt nicht nur die individuelle Produktions- und Verkaufsform des Mittelstandes als gefährdet; der ganzen Bevölkerung werde der Weg in den „ Massenstumpfsinn " 2 4 3 gebahnt. Wegbereiter seien die Warenhäuser, die auf die Masse und deren Nachahmungstrieb spekulierten. Da die „dunklen Instinkte der Masse [...] nach unten " 244 ziehen, sei die Massengesellschaft letztlich dem Untergang geweiht. Die Massengesellschaft bzw. das Warenhaus, das sei Amerika; zwischen Deutschland und Amerika aber bestünde ein kultureller Unterschied, „weil die Bevölkerung Deutschlands nicht aus Nummern, sondern aus Menschen, nicht aus Leuten, sondern aus Individuen besteht. " 24S Die in das Warenhaus strömenden Menschen dergestalt als Masse zu deuten, ließ Bilder und Bewertungen zwischen Warenhauskritikern, unparteiischen Autoren von Warenhausromanen und selbst Berichterstattern der Warenhausbefürworter zirkulierten. Reklame ziele auf die Instinkte der Masse, erlange dadurch Macht und mache die Masse zum „Spielball aller äußeren Reize" 240. Ängste vor der Masse ließen sich durch das Warenhaus und sein Publikum verstärken, indem dazu angeleitet wurde, Menschen als amorphe Masse wahrzunehmen und von feiner strukturierten Unterschieden, z. B. der Behandlung der Kaufenden oder deren Orientierungsfähigkeit abzusehen. Stereotyp be-
239 240 241 242 243 244 245 246
Ferdinand Avenarius: Reklame und Kultur, 1909, S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Paul Westheim: Plakatkunst, in: Augur, S. 100 f. Warenhäuser, in: Hammer, Nr. 93/1906, S. 249-250, S. 249. Ebd., S. 250. Eine Neugestaltung des Deutschen Detailhandels, S. 9. Le Bon, S. 10.
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scheinigten die Bilder der Romane, der feuilletonistischen Schilderungen, aber auch der wissenschaftlichen Abhandlungen den in Warenhäusern einkaufenden Menschen ein ,typisches4 Massenverhalten. Im Warenhaus ende die Kultur, „ Wildniß und Weltstadt, diese äußersten Pole, begegnen einander" 241 Der Masse der Waren genauso wie die der Menschen ergebe ein „sinnbethörendes Treiben und Leben",248 Das „ Gewimmel " mache, daß „der einzelne wie ein Nichts aussah4'. 249 Das Gedränge im Warenhaus wurde kommentiert: „Alles scheint von einem Taumel erfaßt, nicht ganz zurechnungsfähig". 250 Der „Strudel" der „schau- und kauflustigen Menge" 251 bedrohe die Selbstkontrolle. „Ein undurchdringlicher Menschenknäuel keilte sich in den Gängen dazwischen zusammen. Mit hektisch geröteten Wangen und feucht flimmernden Augen stürzten die Frauen sich auf die Spitzen und wühlten mit einer Art wohllüstigen Schauers ihre zitternden Hände in die zarten Gewebe hinein. [...] Und dann kauften sie, kauften besinnungslos drauf los. " 252 Frauen vor allem packe ein Verlangen, sich den Anreizen hinzugeben und „ in der Ware unterzugehen ". Menschen und Waren entsprächen sich als die „hin- und herwogende Menge und die Fülle der auf den Tischen ausgebreiteten Waren". 253 Den angstbesetzten Umgang mit der Masse schilderte 1909 Köhrer in einem Roman, wenn der Besitzer nach der Eröffnung eines Warenhauses diejenigen, „die die Berührung mit der allzu grossen Masse fürchten" 254, bat, sich nun zurückzuziehen, um den animalischen und die Zuhörer ängstigenden Geräuschen zu entgehen: „Aus tausend Kehlen kam ein Flüstern und Rufen, ein Raunen und Stammeln, ein Atmen und Stöhnen, das zu einer gewaltigen Woge emporschwoll und tosend gegen die Sinne der erbleichenden Zuhörer brandete. " 255 Köhrer imitierte offenbar Zola, bei dem Männer, die in diesen von „Leidenschaft" erfaßten „Frauenstrom geraten waren, [...] ängstliche Blicke" 256 um sich warfen. Die Romane legen den Verdacht nahe, daß möglicherweise die Ängste der Männer vor ihrer eigenen Manipulierbarkeit der Grund waren, die Manipulierbarkeit nachdrücklich allein den Frauen zuzuschreiben. Aufschlußreich ist die Betrachtung eines zeitgenössischen Fotos von der Eröffnung des Neubaus des Warenhauses Tietz in Köln 1914. Auf der breiten Straße vor dem Gebäude
247 248 249 250 251 252 253 254 255 256
Pluto: Das Kaufhaus, in. Die Zukunft, Bd. 79/1894, S. 624-628, S. 624. Stresemann , S. 715. Köhrer , S. 49. Oscar T. Schweriner : Arbeit. Ein Warenhaus-Roman, Berlin 1912, S. 89. Steindamm , S. 6. Köhrer , S. 108. Zola , S. 193. Köhrer , S. 47. Ebd., S. 49. Vgl. Margarete Böhme: W.A.G.M.U.S., Berlin 1911, S. 13; S. 89. Zola, S. 113.
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drängten sich die Menschen - soweit erkennbar, ähnlich viele Männer wie Frauen. 257 Andererseits erschien die Masse und der Begriff ,Masse4 tauglich, Interesse zu wecken, d. h. Käuferinnen zu gewinnen. Der Anblick der Masse zog die Menschen offenbar an; nur so machte es Sinn, diese anregende und mitreißende Masse durch riesige Schaufenster nach außen hin zu demonstrieren „das ganze Innere des Haus mit seinen Warenmassen, seinen Käufermassen, seinen Verkäufermassen liegt ganz enthüllt vor jedem Passanten. " 2 5 8 Die alle bisherigen Dimensionen sprengende Warenhausarchitektur unterstützte den Eindruck. Die Masse wurde für den Generalsekretär des Verbandes Deutscher Waren- und Kaufhäuser zum bestimmenden Element des Warenhauses: „Das Befriedigen von Massenbedürfnissen, die Anziehung der Massen, das ständige Inbewegungsetzen der Massen, das Durcheinanderwirbeln der Massen zum Zwecke des Massenkonsums, das ist das Charakteristische der Warenhäuser. 4,259 Unentbehrlich zur Heranziehung dieser Massen sei die Reklame, wobei er dem Warenhaus als Ganzes eine suggestive Wirkung zusprach. Neben dem Angebot preiswerter Waren, der Art der Warenpräsentation und dem Reiz des Neuen in ständig wechselnden Sonderausstellungen schrieb er der Anziehungskraft der Masse auf die Masse die wichtigste Rolle hinsichtlich der Attraktion der Warenhäuser zu. Für ihn offenbarte sich in dieser Anziehung ein grundlegendes, für Reklame nutzbares Element der Massenpsychologie, nämlich das „soziologidas Gesetz der Massenbildung, der Neugier, sche Massen-Attraktionsgesetz, daß die Menschen sich gegenseitig anziehen. Wenn die Menschen wissen, daß in einem Hause ständig Verkehr ist, daß dort ständig Menschen anzutreffen sind, so gehen sie dorthin schon von selbst lieber als nach einem Hause, das ständig leer ist. " 2 6 ° Eine Anzeige des Warenhauses Tietz liest sich wie eine Anwendung von Wernickes »Massen-Attraktionsgesetz4. Nach der Eröffnung einer großen Filiale 1901 bedankte man sich bei den „Damen Berlins" für ihr Interesse und bat um Verständnis, daß man wegen des „Massenandrang(s)" 261 aus Sicherheitsgründen vorzeitig schließen mußte. Das Stichwort ,Massenandrang4 hatte für die Zielgruppe augenscheinlich nichts Furchterregendes. Georg Tietz schrieb
257 Abb. in dem Aufsatz von Helga Kerp: Die Warenhäuser in Köln, in: Der westdeutsche Impuls, Bd. 4, Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Köln 1984, S. 53-59, S. 55. 258 Göhre, S. 12 259 Johannes Wernicke: Das Waren- und Kaufhaus, Leipzig 1913, S. 61; ders.: Der Streit ums Warenhaus, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 21/1912, Sp. 929-936, Sp. 930. 260 Ebd. Auch diese Beobachtung hatte schon Zola gemacht. Künstlich verstärktes Gedränge habe einen Reklameeffekt, die Vorstellung, daß die Warenhäuser brechend voll seien, zöge weitere Kundinnen an, vgl. Zola, S. 191; Mataja, S. 137. 261 Anzeige des Warenhauses Tietz in: Berliner Lokalanzeiger, 19.1.1901.
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in seinen Erinnerungen, daß sich bei großem Ansturm das gesetzlich notwendige Absperren der Häuser als aufsehenerregende Reklame bewährte. 262
I V . Grenzenlose Verführung: Die ,Magazinitis' Das Bild der Warenhausdiebin wurde zu einem schnell verallgemeinerten Stereotyp. Es transportierte die Vorstellung einer krankhaften Verführbarkeit der Frau durch die Ware. Zola hatte es bereits 1883 in seinem Roman ,Au Bonheur des Dames4 eingesetzt, und es beschäftigte in der Folge zahlreiche weitere Autoren. 263 1903 wurde die Schrift des französischen Arztes Paul Dubuisson ins Deutsche übersetzt und löste hier eine Reihe weiterer Untersuchungen aus. Unter Kleptomanie, der „modernen , Stehlsucht " ' 2 6 4 oder „Magazinitis " 265 wurde eine spezielle Form des Ladendiebstahls verstanden, die der Arzt Laquer folgendermaßen eingrenzte: „ Wir wollen deshalb nur die Eigenart aller derjenigen Individuen prüfen, die zum Zwecke des Einkaufens Warenhäuser aufsuchen und dort den Lockreizen der offen ausgelegten Gegenstände nicht widerstehen - günstige Gelegenheiten und unbewachte Augenblicke nicht vorübergehen lassen können und dann Diebstähle ausführen. " 2 6 6 Das Delikt war an den Ort des Warenhauses gebunden.267 Die Tatsache, daß fast ausschließlich Frauen beim Warenhausdiebstahl ertappt wurden, wurde üblicherweise mit der Natur der Geschlechter und nicht mit dem Geschlechterverhältnis der überhaupt im Warenhaus befindlichen Personen in Zusammenhang gebracht. 268 Ein weite262
Georg Tietz, S. 45. Das Absperren durch die Polizei basierte auf dem Erlaß einer Höchstbesucherzahl aufgrund der Brandschutzbestimmungen. 263 Hierbei bezog Zola sich offensichtlich auf authentische Fälle. Diskussionen in Frankreich über Kleptomaninnen gab es seit den vierziger Jahren. Vgl. Elaine S. Abelson: The Invention of Kleptomania, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 15/1989, S. 123-143, S. 136. Auf Zola spielen einige Untersuchungen an, ζ. Β. Leopold Laquer: Der Warenhaus-Diebstahl, Halle 1907; Fritz Flechtner: Warenhaus-Pathologie, in: Die Frau, Januar 1904, S. 210-213. 264 Laquer, S. 4. Laquer war Neurologe in Frankfurt a. M. und Gerichtssachverständiger in verschiedenen Diebstahlverfahren. Vgl. auch Der Warenhaus-Diebstahl [Rez. Laquer], in: Die Umschau, Nr. 17/1907, S. 335-336. 265 Der Begriff tauchte offenbar zuerst in der deutschen Übersetzung des Franzosen Dubuisson auf. Vgl. Paul Dubuisson: Die Warenhausdiebinnen, Leipzig 1913, S. 153. 266 Laquer, S. 7. 267 Laquer sprach deshalb lieber von Warenhaus-Diebstahl als von Kleptomanie. Außerdem wollte er sich von dem mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff Kleptomanie' absetzen, räumte allerdings ein, daß es Fälle krankhaft stehlender Frauen schon vor den Warenhäusern gegeben habe, vgl. ebd. S. 7. Vgl. zum Ort des Warenhauses auch Dubuisson, S. 20 ff; S. 36 ff. 268 Obwohl diese Frage heute so naheliegend ist, findet sich in den zeitgenössischen Berichten kein Hinweis darauf, daß Frauen den Hauptteil der Käuferschaft ausmachten. Der Arzt und Gerichtssachverständige Dubuisson untersuchte 120 Fälle des Warenhaus-
IV. Grenzenlose Verführung: Die »Magazinitis4
89
res Kennzeichen der Kleptomanie war das Fehlen einer materiellen Notwendigkeit, die den Diebstahl erklären könnte. Die Täterinnen stammten meistens aus dem Mittelstand. Auch wohlhabende Frauen, selbst die besten Kundinnen, häufig mit gutgefülltem Portemonnaie, wurden zu Diebinnen. 269 Die gestohlenen Gegenstände wurden häufig nicht benutzt und oft noch etikettiert versteckt Zuhause gefunden. Wenn Frauen erleichtert, ja geradezu befreit auf ihre Festnahme reagierten, galt dieses als Indiz für krankhafte Kleptomanie. Als besonders typisch wertete Dubuisson die Erklärungen von Frauen, sie seien in dem Augenblick des Diebstahl willenlos, verwirrt, ohne klares Bewußtsein. Charakteristisch für diesen Diebstahl sei, daß er „ unfreiwillig, instinktiv und unwiderstehlich " 2 7 0 geschehe. Im wissenschaftlichen Diskurs wurde Kleptomanie nicht nur zum medizinischen Begriff, sondern - ähnlich wie die Hysterie - in den weiblichen Geschlechtsorganen lokalisiert. 271 Dubuisson folgte in seiner Schrift dem Arzt Marc, der die Beeinträchtigung des Geistesvermögens der Kleptomaninnen mit dem „Einfluß gewisser intermittierender Funktionen des weiblichen Organismus wie Menstruation, Schwangerschaft und Säugen " 2 7 2 erklärte. Bei der Beschreibung seiner Fälle vergaß Dubuisson fast nie, auf solche Zusammenhänge hinzuweisen; auslösendes Moment des Diebstahls sei meist eine durch Mendiebstahls, darunter 2 Männer, beide „geistesschwach". Dubuisson, S. 57. Ähnlich beschrieb Didier einen männlichen Fall als geistesschwach. Bei ihm war darüber hinaus der Diebstahl nicht an das Warenhaus gebunden, vgl. Didier: Kleptomanie und Hypnotherapie, Halle a. S. 1898. Ein Gutachten aus dem Jahr 1906 des Münchner Gerichtsarztes Hans Gudden bezifferte den Anteil der Frauen auf 99 %, zit. nach Johannes Wernicke: Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907, S. 26. In den meisten Berichten über Warenhäuser wurde folglich, obwohl sonst, z. B. für »Käufer4 durchgängig die übliche männliche Form verwendet wurde, durch die Wortwahl der hohe Anteil der Frauen an den Diebstählen betont. Dann tauchen im vorangehenden Text schon ausschließlich Käuferinnen auf, vgl. z. B. Steindamm, S. 14. 269 Göhre, S. 134. 270 Laquer, S. 7. 271 Vgl. v.a. zur Entstehung des medizinischen Begriffs der Kleptomanie und dessen Definitionsmacht in Bezug auf die Konstruktion von Geschlechterrollen Abelson. Sie untersucht überwiegend amerikanische Fälle, weist aber auf die grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen europäischem und amerikanischen Diskurs hin, was die Medizinierung der Kleptomanie betraf. Vgl. auch Albert Eulenburg: »Hysterie4 und »hysterisch4. Vortrag im Hilfsverein für bedürftige gebildete Frauen und Mädchen am 12. Dezember 1911» Berlin 1912. Er geht auf den Warenhausdiebstahl als ein Symptom der Hysterie ein. Beim ihm wird (in Anlehnung an Freud) die Rückführung der Hysterie auf den Uterus besonders deutlich. Zola beschrieb schwangere und menstruierende Frauen als besonders gefährdet. Vgl. Zola, S. 201. Stekel führt die Kleptomanie auf eine „sexuelle Wurzel" zurück. Für ihn war die Ursache eindeutig: „unbefriedigte Sexualitätwas auch klar an der „Objektwahl" - penisähnliche Gegenstände wie „Zigarrenspitzen" und „Bleistifte" - zu erkennen sei. Wilhelm Stekel·. Die sexuelle Wurzel der Kleptomanie, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Leipzig, Nr. 10/1908, S. 588-600, 589 ff., 595. 2
Dubuisson , S. .
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
struation oder Schwangerschaft noch »gesteigerte' Neurasthenie oder Hysterie. Besonders schwangere Frauen verlören leicht ihre Selbstbeherrschung und lasse sich zum Diebstahl verleiten. 273 Diese Begründung machte auch in Deutschland Schule.274 Den Frauen wurde eine Zwanghaftigkeit ihres Tuns unterstellt, welche sie als Opfer, ausgeliefert ihrer eigenen Natur, fast ausnahmslos an „ krankhafte(n) Zustände(n) " 27S leidend darstellte. Das bei Männern geforderte Ideal der Selbstbeherrschung wurde diesen Frauen abgesprochen.276 Da Kleptomanie den Medizinern als Symptom der tiefer liegenden »Krankheit4 galt, wurden Kleptomaninnen, trotz ihres abweichenden und eigentlich zu verurteilenden Sozial Verhaltens, von rechtlicher und moralischer Schuld freigesprochen. Im Falle eines Ladendiebstahls schrieben Ärzte Gutachten über schon länger beobachtete nervöse Unruhe, Kopfschmerzen, Gedächtnislücken und krankhafte Störungen des Unterleibs. So wurde eine Verknüpfung zwischen Diebstahl, Hysterie und Sexualität hergestellt. 277 Abelson weist in ihrer Untersuchung darauf hin, daß die Definition der Kleptomanie als Krankheit eigentlich die Aussicht auf Heilung impliziere, Frauen aber dennoch durch die Rückführung der Krankheit auf ihre Reproduktionsfahigkeit als inhärent krank definiert wurden. Eine generelle Schwäche, eine den Frauen eigene psychische und geistige Instabilität mache sie besonders anfällig. Männer, die in Begleitung ihrer stehlenden Frauen aufgegriffen wurden, wurden aus der Verfolgung ausgeklammert. Ihre Reputation und ihre Fürsorglichkeit für die kranken Gattinnen wurden unterstrichen - das stillschweigende Ubereinkommen, daß allein Frauen zu solchem Verhalten fähig seien, sprach die Männer frei. Zusätzlich wurde die Diagnose Kleptomanie ausschließlich bei städtischen Mittelstandsfrauen gestellt. Ärmere Frauen und Warenhausangestellte galten einfach als kriminell. 278 Laquer allerdings bezog in seine Untersuchungen auch Frauen des unteren Mittelstandes und Arbeiterinnen ein und entdeckte bei ihnen
273 Ebd., S. 175. Zwar wehrte er sich gegen das „ Vorurteildaß alle Frauen unter diesen »Einwirkungen4 leiden, räumte aber doch ein, daß der Geist eben nicht immer „Herr des Körpers" sei. Der Ausbruch verschiedener Nervenkrankheiten, oft begleitet von dem Symptom des Diebstahls, sei an eine Schwangerschaft gekoppelt, ebd. S. 173. 274 Vgl. ζ. B. Wernicke , S. 583; Göhre, S. 133. 275 Laquer, S. 35. 276 Vgl.Abelson, S. 133. 277 Vgl. auch im folgenden ebd., S. 125 f. Die ,Medizinierung4 wird auch bei Laquer deutlich. Er empfahl beharrlich, zu jedem Fall eines Warenhausdiebstahls unbedingt einen Arzt hinzuzuziehen. Alle Fachleute seien sich einig über die strafmildernden Umstände. Neben der milden Strafe sei allein der Gerechtigkeit halber die „psychiatrische Untersuchung" aller Diebinnen dringend anzuraten, vgl. Laquer, S. 11, 26, 35. 278 Vgl. dazu die Karikatur ,Szene im Warenhaus4 in den Lustigen Blättern, SpecialNr. Kleptomanie. Nr. 26/1906, S. 5. Bei der ertappten Gräfin wird der Hausarzt gerufen, bei der Arbeiterfrau die Polizei.
IV. Grenzenlose Verführung: Die Magazinitis
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die gleichen, »typisch weiblichen' Krankheiten wie bei den anderen Frauen. 279 Der Arzt Schleich glaubte jedoch, daß nur ein einseitiger Blick die Kleptomanie zur Krankheit der Reichen gemacht habe. „Es ist nur die Verblüffung, die entsteht, wenn eine Gräfin oder Fürstin silberne Löffel stiehlt, die bisher die Kleptomanie gerade als eine Geisteskrankheit der Besitzenden erscheinen ließ. " Er zweifelte daran, daß „Besitz an sich mehr disponierend zu dieser Form des geistigen Erkrankens " 2 8 ° wirke als Armut. Die Ursache der „undisziplinierten Instinkte der Frau ", die sie zum Diebstahl prädestiniere, sah die Redaktion der Zeitschrift ,Die Frau' nicht biologisch begründet, sondern in der „ Oberflächlichkeit der Mädchenerziehung , durch die kindische Begierden " 2 8 1 erst produziert würden. Das Warenhaus war der Ort der ,Magazinitis'. Sobald Frauen die Schwelle eines Warenhauses überschritten, so das Klischee, verlören sie angesichts der verwirrenden Warenmassen alle Beherrschung. Das auf Kaufreize angelegte Warenhaus könne bei den Kundinnen eine Überreizung auslösen, argumentierten einige Autoren, die die Warenpräsentation im Warenhaus als zumindest mitauslösende Ursache des Diebstahls betrachteten. Auch Dubuisson hielt das Warenhaus für ebenso schuldig wie die stehlende Frau. 282 Die freie Zugänglichkeit des Warenhauses und das Angebot, Waren zu berühren und anzuprobieren, seien eindeutig auf Impulse des Begehrens ausgerichtet und wirkten verhängnisvoll: „Der Zutritt zu den Warenhäusern steht jedermann frei; man kann in ihnen Spazierengehen wie auf den öffentlichen Promenaden ; ja man darf nicht nur im Anblick der Reichtümer schwelgen, man darf die ausgestellten Gegenstände zum großen Teil wenigsten - in die Hand nehmen, sie befühlen, das alles reizt die Begierde nach ihrem Besitz. " 2 8 3 Dieser Autor sah einen direkten Zusammenhang zwischen der verfeinerten Warenpräsentation und der wachsenden Anzahl an Diebstählen. Bereits vor dem Warenhausbesuch könne das Betrachten der Prospekte und Kataloge eine diffuse Wunschhaltung bei den Frauen erzeugt haben, und diese würde durch die real ertastbare Ware virulent. 284 Stein-
279
Laquer, S. 30 ff. C. L. Schleich: Kleptomanie, in: Arena, Heft 8/1906, S. 847-850, S. 849. Auch Flechtner erklärte das große Interesse damit, daß die Diebinnen in der Regel wohlhabene Frauen seien, vgl. Fritz Flechtner: Warenhaus-Pathologie, in: Die Frau, Januar 1904, S. 210-213, S. 211. 281 Redaktionelle Anmerkung zu: Fritz Flechtner: Warenhaus-Pathologie, in: Die Frau, Januar 1904, S. 210-213, S. 213. 282 Vgl. Dubuisson , S. 177. Betont wurde dies auch in der Rezension Dubuissons Die Warenhausdiebinnen von Paris , in: Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 525, 8. November 1903, 2. Beiblatt. 283 Fritz Flechtner : Warenhaus-Pathologie, in: Die Frau, Januar 1904, S. 210-213, S. 210. 280
284
Vgl. Dubuisson , S. 30.
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Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
dämm zitierte einen Pariser Polizeipräsidenten, der Diebstähle durch die besonders verführerische Warenpräsentation motiviert sah.285 Ein Mediziner erkannte vor allem in den Wühltischen einen Anreiz zum Diebstahl. 286 Dubuisson beklagte, daß der fehlende Kaufzwang und die Warenmassen ein Klima schaffen, das es den schwachen Frauen nicht gerade leicht mache, Beherrschung zu zeigen. Er plädierte ausdrücklich für eine doppelte Sicht, die neben dem geistigmoralischen Zustand der Diebin auch die Anziehung durch die Waren berücksichtige. Aber obwohl der von der Ware ausgehende Reiz nicht zu unterschätzen sei, liege doch der Auslöser für den Akt des Diebstahls in dem fehlenden Widerstand der Frauen. 287 Damit sei der Diebstahl weniger ein aktiver Akt als ein passiver. „Das Gesicht, das Gefühl, der Geruch, unsere feinsten Sinne ermüden rasch in dieser wimmelnden, lärmenden, riechenden Menge; und wenn man auch ruhig am Platze bleibt oder nur wenig umhergeht, wird man dabei doch sehr rasch müde. Wenn dies nun schon beim Mann eintritt, wie muß dies erst auf die Frau und ganz besonders auf die kranke Frau wirken?" 2™ Bei Eulenburg geriet die hysterische Frau angesichts der auf sie einstürmenden Verlockungen in Gefahr, selbst zum Objekt zu werden; die Ware werde in ihrer Verlockung aktiv. 289 Schleich verglich den Kleptomanen (er verwandte meist die männliche Form) mit einem Schlafwandler. Das herabgesetzte Bewußtsein stärke eine „Suggestion in ihm, die von dem Objekte zum Subjekte ausgeht. " 29° Das ,Objekt4 Ware werde damit zum Agierenden. Der Gerichtssachverständige Gudden schlug gläserne Trennscheiben vor, um Frauen vor der Ware zu schützen; in München seien nach solchen Einrichtungen die Diebstähle stark zurückgegangen.291 Dubuisson übte scharfe Kritik an den nachlässigen Kontrolle der Warenhäuser durch Detektive. Er plädierte für einen deutlich erkennbaren Überwachungsdienst, der die Frauen disziplinieren und vom Diebstahl abhalten sollte. Die bestehende, „ostentative Unsichtbarkeit der Überwachung" trage zur Verführung der Frauen bei und lege es darauf an, „Diebinnen zu züchten. " 292 Eine deutsche Rezension der Schrift Dubuissons beruhigte allerdings die Berliner: „So fast ohne sichtbare Beaufsichtigung wie in Paris liegen die Waren hier
285
Vgl. Steindamm, S. 13. Nach Laquer, S. 22. 287 Vgl. Dubuisson, S. 23.ff 288 Ebd., S. 152. Fast wortwörtlich auch bei Laquer, S. 11. Dieser Ansicht schloß sich auch Flechtner an, vgl. Fritz Flechtner: Warenhaus-Pathologie, in: Die Frau, Januar 1904, S. 210-213, S. 210. 289 Vgl. Eulenburg, S. 27. 290 C L. Schleich: Kleptomanie, in: Arena, Heft 8/1906, S. 847-850, S. 848. 291 Ausschnitt eines Gutachtens des Gerichtsarztes Gudden bei Wernicke : Kapitalismus, S. 582 f. 286
292
Dubuisson, S. 178.
IV. Grenzenlose Verführung: Die ,Magazinitis'
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nicht herum, " 2 9 3 und das zahlreiche Personal gewährleiste hier eine gewisse Überwachung der Käuferinnen.
Quelle: Zeit im Bild, Nr. 17/1914, S. 921. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 6: Karikatur zum Ladendiebstahl In dem Drama ,Purpus' gerät der Warenhausdetektiv in tiefste moralische Bedrängnis, da er täglich über 20 Diebinnen ertappt, aber zugleich dem Warenhaus mit seiner verführerischen Warenpräsentation die Schuld an diesen Diebstählen gibt: Hier reize man die Leute „ mit allen Mitteln dazu an. " 2 9 4 Der Detektiv fürchtet, daß auch er dieser Verführung nicht standhalten könne, und wird
293 Die Warenhausdiebinnen von Paris, in: Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 525, 8. November 1903, 2. Beiblatt. 294
Stücklen, S. 16.
94
Β. Großstadt, Reklame, Warenpräsentation und Publikum
tatsächlich an einem Ausverkaufstag vom ,Strom' der Frauen mitgerissen, er wird zum Teil der (weiblichen) Masse und damit zum Dieb. 295 In der Zeitschrift ,Das Waarenhaus' wurde Dubuissons These, die Warenpräsentation verleite zum Diebstahl, zurückgewiesen. Er übertreibe das Problem in „echt französischer Weise." 296 Gleichwohl stellte die Kleptomanie Warenhausbesitzer und Detektive vor erhebliche Schwierigkeiten. Einfach als Krankheit mochten sie diese Form des Diebstahls nicht verstanden wissen. Sie wollten es aber auch nicht riskieren, ihre Kundschaft zu verlieren, indem sie Diebinnen als solche brandmarkten. Frauen, die als Diebinnen gefaßt wurden, beriefen sich auf Symptome der Kleptomanie, um so auf verminderte Schuldfahigkeit zu plädieren. Sie hatten gelernt aus den Geschichten über Kleptomaninnen, die in der Presse, in Filmen und in Romanen verbreitet wurden. 297 So gab 1906 die Zeitschrift ,Lustige Blätter' ein Sonderheft zur ,Kleptomanie' heraus. 298 Wohl alle Warenhausromane schilderten wie schon Zola ,Damen' beim Diebstahl und entlasteten diese durch die Diagnose, die die Wurzeln des Diebstahls in einer „Nervenkrankheit" 299 sah. Auch zahlreiche Pamphlete der Warenhausgegner verbreiteten das Klischee des die Frauen zum Diebstahl verführenden Geschäfts. Das Warenhaus wurde als alleinige Ursache dieser Krankheit angeprangert, Warenhausdiebinnen dagegen häufig in Schutz genommen.300 Von Warenhausseite wurde die Verbindung von Kleptomanie und Krankheit infrage gestellt. So wurde im ,Waarenhaus' beklagt, es werde „in den meisten Fällen dieser Art von der Verteidigung geltend gemacht, daß die betreffenden Frauen im Zustande angeblicher Verwirrung' gehandelt haben müßten und geistig nicht normal seien. Dieser Einwand hat dann die Hinzuziehung ärztlicher Sachverständiger zur Folge, die aber gewöhnlich nicht behaupten können, des § 51 St.-G.-B. vorliegt". 301 Völlig ausdaß der Strafausschließungsgrund 295
Ebd., S. 97 f. Les voleuses des grands magasins (Waaren-Diebinnen), in: Das Waarenhaus, Heft 7/1903, S. 74. 297 Vgl. Abelson, S. 140. Zur Verbreitung: Den Anfang machte - breit rezipiert - Zola: Au Bonheur des Dames 1883, in dem Madame de Boves zum Prototyp der Kleptomanin wurde. Bei Saudek, S. 275 gesteht eine Frau eines reichen Beamten, daß es „so plötzlich über mich" kam. Schweriner, schildert Frauen nur beiläufig, aber mit großer Selbstverständlichkeit als Diebinnen, vgl. ebd., S. 21, 223 f. Vgl. weiter Böhme, S. 82, 405; Wohlbrück, S. 5 ff; Max Freund: Der Warenhauskönig, Barmen 1912, S. 39 ff.; Stücklen, passim. Auch im frühen Film wurde der Warenhausdiebstahl zum Thema, vgl. Schultze, S. 43. 298 Vgl. Lustige Blätter, Special-Nr. Kleptomanie. Nr. 26/1906. 299 Zola, S. 201. 300 Z. B. bei Dehn : Großbazare, S. 33; Suchsland, S. 68. 301 Ladendiebinnen in Waarenhäusern, in: Das Waarenhaus, Heft 44/1900, S. 10. Der § 51 bezog sich auf die Unzurechungsfahigkeit, oder aber auf das ,Fehlen der freien Willensbestimmung im Augenblicke der Tat4. 296
IV. Grenzenlose Verführung: Die ,Magazinitis4
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schließen wollte man aber die Möglichkeit krankhafter Handlungen nicht. In einem anderen Bericht einer Wirtschaftszeitschrift fand die Kleptomanie allerdings keine Anerkennung als Krankheit. Hier wurde den Engländerinnen unterstellt, daß sie im »Shopping4 professioneller als die deutschen Frauen seien und häufig „das Stehlen als Sport" 302 betrieben. Die ,Praktische Berlinerin 4 brachte 1910 einen Artikel mit Fotos, auf denen die Tricks professioneller Diebinnen gezeigt wurden. Aber selbst diesen wurde zugestanden, daß die Anziehungskraft der Waren zum Diebstahl mit beitrug. Auf Klassenjustiz führte man das Aussehen der professionellen Diebinnen zurück: Vornehmes Aussehen schütze vor Beobachtungen oder Verdächtigungen. 303 Für Colze arbeiteten im Warenhaus, dem „Paradies der Kleptomanen und Langfinger" , eine Reihe professioneller Diebinnen. „Namentlich die Frauen haben meist an der Inneren Seite des Kleiderrockes oder im Unterrock Taschen angebracht, die sie durch einen ganz unauffälligen Schlitz im Oberrock oder mittels einer sehr geschickt dort aufgesetzten Pseudo-Garnitur bequem erreichen können. " 3 0 4 Weitere Verstecke seien Hutschachteln, andere Einkaufsverpackungen, ja sogar die Haare der Frauen. „Selbst Babys müssen als Mittel zum Zweck herhalten . " 305 Um die Diebstähle einzudämmen wurden auch Frauen als Warenhausdetektive angestellt.306 Erstmals ertappte Kundinnen wurden meistens verwarnt und straflos entlassen, Wiederholungstäterinnen der Polizei übergeben. 307 Schärfer verfolgt wurde der Diebstahl durch Angestellte. Bei Wertheim wurden für die Anzeige eines solchen Falles Prämien bis zu 100 Mark gezahlt.308 Lux erwähnte, daß es den weiblichen Angestellten in den Warenhäusern aus diesem Grund verboten war, Unterkleider mit Taschen zu tragen. 309 Hirsch erklärte 1925 die Massenerscheinung des Warenhausdiebstahls zu einer zeitweisen Erscheinung, die offensichtlich wieder abgeklungen sei. Sie sei als „eine allgemeine Folge der modernen Methoden der Absatzförderung" hinzunehmen.310 Neue Reklamemethoden animierten offenbar besonders anfänglich auch zu einer Überschreitung der Grenzen bis hin zum Diebstahl.
302
Londoner Ladendiebinnen, in: Das moderne Geschäft, Heft 10/1913, S. 3-4, S. 3. Vgl. Entlarvte Ladendiebinnen, in: Die praktische Berlinerin, Heft 34/1910, S. 11. 304 Colze , S. 73. Ganz ähnlich auch Harlow Ν. Higinbotham : Die Erziehung zum Kaufmann, Leipzig 1912, S. 101. 305 Ebd., S. 74 f. 306 Vgl. Dehn : Großbazare, S. 33. Göhre , S. 48; Wohlbrück , S. 5 f. 307 Vgl. Göhre , S. 49. Steindamm , S. 14, erwähnte auch die Verurteilung zur „Zahlung einer Summe für einen wohltätigen Zweck " 308 Vgl. Göhre, S. 81. 309 Vgl. Lux, S. 36. 3,0 Hirsch : Der moderne Handel, S. 244 f. 303
C. Reklame im Geschäftsalltag Mit dem schnellen Wachstum des Handels kam es zu einer grundlegenden Neuorganisation und Differenzierung der Geschäftsformen im Einzelhandel.1 Die Spezialisierung nach Waren setzte sich fort. 2 Tabak- und Kaffeegeschäfte, Blumenläden und ab 1870 auch eigene Geschäfte fur Fabrikschuhe entstanden. Häufig entwickelten solche Geschäfte zu Filialen der jeweiligen Warenproduzenten.3 Auch kam es zu neuartiger Zusammenfassung verschiedener Warenangebote, z. B. in Geschäften fur Haushaltswaren oder Delikatessen. Sombart rechnete auch die gegenläufige Tendenz, das Zusammenfassen mehrerer Branchen in einem Warenhaus, dieser Neuorganisation zu. Die Ausschaltung des Zwischenhandels in Form von Einkaufsgenossenschaften oder Filialen großer Firmen ermöglichte den direkten Verkauf vom Produzenten an den Käufer. 4 Daneben blieben kleine Ladengeschäfte für Lebensmittel, Kolonialwaren und andere Waren des täglichen Bedarfs in ihrer herkömmlichen Form bestehen. Diese Ausdifferenzierung der Geschäftsformen im Einzelhandel wurde von der Mittelstandsbewegung und deren Historikern, die diesem eine fortschritts- und reklamefeindliche Haltung zuschrieben, meistens unterschlagen. Tatsache ist, daß sich der Einzelhandel in den unterschiedlichsten Geschäftsformen in jeweils unterschiedlichem Maße mit den neuen Geschäftsmethoden auseinandersetzen mußte und jeweils unterschiedlich in ihrer Praxis mit der Reklame umging. Traditionell geführte Geschäfte bestanden neben modernen Warenhäusern und behaupteten sich in dieser Position.5
1 Zwischen 1882 und 1907 stieg die Anzahl der Handelsbetriebe insgesamt von 616.836 auf 1.088.298. Die Zahl der dort arbeitenden Personen stieg von 838.392 auf 2.063.635, vgl. Hirsch: Der moderne Handel, S. 20. Während es 1882 300.655 und 1907 318.300 Alleinbetriebe gab, stieg die Zahl der Betriebe, die mehr als 5 Personen beschäftigten im gleichen Zeitraum von 12.286 auf 51.362 mit insgesamt 763.695 Beschäftigten, vgl. Lederer: Mittelstandsbewegung (1910), S. 975. 1837 kamen 33 Geschäfte auf 10.000 Einwohner, 1861 schon 44, 1895 dann 77, vgl. Wein, S. 28 f. 2 Vgl. Sombart: Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel, S. 138 ff.; Peter Schmitz: Die Lage des Lebensmittelhandels in Coin, Phil. Diss. Heidelberg, Köln 1906, S. 55. 3 Vgl. Hirsch: Der moderne Handel, S. 230. 4 Vgl. Sombart: Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel, S. 152 f. 5 Vgl. zur „Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Strukturen" im Kleinhandel Haupt: Der Bremer Kleinhandel, S. 9 f.
C. Reklame im Geschäftsalltag
Reklame als moderne Absatztechnik wurde von diesen verschiedenen Geschäftsformen in ganz unterschiedlicher Weise genutzt. Die breite Reklamekritik zwang Warenhäuser zu einer künstlerischen Umgestaltung ihrer Reklame und den übrigen Einzelhandel zu einer Reformierung seiner Geschäftsmethoden. Verstärkt ab 1908 gab der übrige Einzelhandel seine Zurückhaltung der Reklame gegenüber auf. Von Teilen des Handels als Schritt zur Selbsthilfe propagiert, kam es nach und nach zu einer intensiveren Anwendung der zuvor als unlauter oder unnötig empfundenen Reklame. Diese Aneignung der Reklame als Teil eines umfassenderen Modernisierungsprozesses verlief allerdings sehr uneinheitlich. Die Kritik an den Warenhäusern ging einher mit einer Selbstreflexion des Einzelhandels. Nicht jedes Geschäft für Waren des täglichen Bedarfs, wie Bäcker oder Milchläden benötigte Reklame; andere kleine Geschäfte verfügten jedoch meist nicht über die finanziellen Mittel, um mit der Reklame der Warenhäuser konkurrieren zu können. Die unterschiedlichen Geschäfts- und Reklameformen stehen im folgenden im Mittelpunkt. Der Blick richtet sich dabei zunächst auf solche Geschäftsformen, die untrennbar verknüpft waren mit einer neuen Angebotsstruktur der Waren und neuen Formen der Reklame. Warenhäuser, Versandgeschäfte und Markenartikelproduzenten waren laut Mataja bahnbrechend in der Entwicklung und Anwendung der Reklame und Redlich schloß umgekehrt, daß Warenhäuser und Versandhäuser ohne Reklame absatzunfahig seien.6 Gerade bei Markenartikeln wird die Verschränkung von Reklame und Ware besonders deutlich, sie bestimmte nicht nur das Äußere der Ware, sondern veränderte auch das Verhältnis zwischen Produzenten, Händler und Käufer. Warenautomaten waren zwar quantitativ für den Absatz von untergeordneter Bedeutung, stellten jedoch einen entscheidenden Schritt in der Ausblendung der Verkäufer dar: der direkte Zugang zur Ware war dem Käufer von nun an zu jeder Zeit gewährleistet. In dem Kapitel über die kleineren Geschäfte des Einzelhandels werden ihre häufig traditionellen Geschäftsmethoden beleuchtet und nach der Notwendigkeit von Veränderungen im Absatz, aber auch ihrer Reformbereitschaft gefragt. Im Anschluß daran werden die Debatten, die mittelständischer Einzelhandel, Warenhausvertreter, Reklamefachleute und Nationalökonomen über die Reformen im Einzelhandel führten im Hinblick auf die Rolle der Reklame untersucht. Abschließend beleuchtet ein Kapitel die beiden wichtigsten Gesetze gegen die Reklame, da die Auseinandersetzungen um diese Veränderungen im Handel eine Gesetzgebung nach sich zog, die die Reklame auf einen bestimmten Rahmen beschränken sollte.
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Vgl. Mataja, S. 372; Redlich, S. 170.
7 Lamberty
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C. Reklame im Geschäftsalltag
I. Waren- und Kaufhäuser In der zeitgenössischen Diskussion über die Reklame nahm das Warenhaus eine dominante Stellung ein. Die Warenhäuser gehörten zu den ersten professionellen Anwendern der Reklame; sie wurden zum gewünschten oder verdammten Zukunftsbild für andere Geschäfte. Zugleich forderte das Warenhaus den direkten Zugang zur möglichst verführerisch präsentierten Ware. Hier wurde zuerst ein neues Konsumverhalten angeboten, gefordert und erprobt. Obwohl im allgemeinen Sprachgebrauch oft synonym gebraucht, unterscheidet die Forschung in der Regel zwischen Warenhaus und Kaufhaus. Im Kaufhaus wurden ausschließlich Waren einer bestimmten Branche verkauft. Warenhäuser waren größer, führten Waren aus den verschiedensten Branchen und wurden auch vom schlendernden, nicht auf zielgerichteten Einkauf eingestellten Publikum besucht. Sie boten als Annehmlichkeiten für das Publikum: Toiletten, Erfrischungsräume, Teestuben, Wintergärten, Restaurants, Lese- und Schreibzimmer, photographische Ateliers, Friseursalons, Reisebüros, Billettkassen, Telefone, Damenzimmer, Kinderspielzimmer. 7 Im Warenhaus wurde, im Unterschied zum Versandhandel, überwiegend lokal und an den Endverbraucher verkauft. Immer wieder wurde das Zwitterhafte des Warenhauses betont: in der Betriebsform klar dem Einzelhandel zuzurechnen, geschah die Organisation deutlich nach Richtlinien des kapitalistischen Großbetriebes. 8 Schmoller definierte ein Warenhaus weitgehend über neue Absatztechniken und faßte als wichtigste zusammen: „Ihr Geheimnis ist billiger Masseneinkauf, großartige Reklame, Anziehung des Publikums durch alle möglichen Lockveranstaltungen; sie verkaufen möglichst billig gegen Barzahlung, sie föhren möglichst wenige Typen der gangbarsten Waren, die zu Tausenden hergestellt, sehr billig anzugeben sind. " 9 Sombart betonte zusätzlich die Organisationsform des Warenhauses : „I. die großkapitalistische Basis; 2. der kapitalistische Geist, d. h. die Modernität der Geschäftsprinzipien; 3. die Neuordnung der Waren nach dem Gesichtspunkt höchster Bedarfsanpassung, somit a) Differenzierung in der Qualität, b) Kombinierung verschiedener Branchenartikel. " l 0 Biermer unterstrich den Zusammenhang des Warenhauses mit der entstehenden Großindustrie, da sie der Industrie als Absatzorganisation des „gesuchten riesigen Massenabsatzes" n dienten. In ihrer Fähigkeit, ganze Partien der Massenpro-
7
Vgl. Wiener, S. 43; S. 69-75. Vgl z. B. Max von Heckel: Das Problem der Warenhäuser und der Warenhaussteuer (Jahrbuch der Gehe-Stiftung 1902), Dresden 1902, S. 5. 9 Schmoller, Teil 2, S. 38. 10 Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft, S. 235. 11 Biermer, S. 132. Ähnlich auch Oskar Tietz: Moderne Entwickelung und Warenhäuser, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 10/1905, Sp. 508-513, Sp. 509. Bei Wert8
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duktion abzunehmen, seien sie ein gefragter Handelspartner, der allerdings auch in der Lage war, Druck auf die Produktion auszuüben. Als Ursprung des Warenhauses wurde Frankreich angegeben; wo seit den fünfziger Jahren Warenhäuser entstanden. In Großbritannien entwickelten sich die Warenhäuser aus Konsumvereinen. 12 Als Vorläufer für Deutschland wurde häufig auf ein Geschäft des Deutschen Offizier-Vereins 1884 und das 1889 gegründete Warenhaus für deutsche Beamte hingewiesen, die im übrigen auch als Vorläufer der Konsumvereine betrachtet wurden. 13 Obwohl später eng mit der Großstadt verknüpft, entstanden die ersten Warenhäuser in Kleinstädten.14 Aber schon 1906 befanden sich in Preußen nur noch neun von 90 Warenhäusern in Kleinstädten.15 Mit fortschreitender Trennung von Wohnen, Arbeiten und Handel bildeten sich in den größeren Städten Innenstadtbezirke heraus, die durch eine Konzentration von Banken, Büros und großen Geschäftshäusern geprägt waren. Warenhäuser entstanden dort an verkehrstechnisch besonders günstigen Standorten, bzw. an eigens geschaffenen Verkehrslinien. Oft entstand um ein Warenhaus ein neues Geschäfts- und Einkaufs viertel. 16 Allerdings konnten sich in unmittelbarer Nähe eines Warenhauses nur größere Spezialgeschäfte behaupten, die von der durch die Warenhäuser angezogenen Laufkundschaft profitierten. 17 Eine von Käthe Lux 1908 bei 42 Häusern durchgeführte Umfrage ergab, daß die meisten Warenhäuser zwischen 1890 und 1900 gegründet worden waren. 18 Die Mehrzahl der Häuser hatte sich aus Spezialgeschäften im textilen Bereich entwickelt. Dort kam es früh zu einer Massenproduktion, der Konfektion. heim in einer Allegorie dargestellt: eine „weibliche Riesenfigur, an mächtige Maschinenteilegelehnt, einen Warenkorb im Arm", vgl. Göhre, S. 17. 12 Zur Inanspruchnahme der frühesten Gründung der Warenhäuser durch Frankreich, England und die USA vgl. Homburg: Warenhausunternehmen, S. 187 f. 13 Z. B. bei Johannes Wernicke: Geschichte des Verbandes, in: Probleme des Warenhauses, hg. vom Verband der Waren- und Kaufhäuser e. V., Berlin 1928, S. 13-44, S. 13. 14 Die sächsische Kaufhauskette Schocken betrieb ihre Filialen ausschließlich dort, vgl. Fuchs. Wertheim besaß schon seit 1875 in Stralsund mit seinen Brüdern ein Geschäft und gründete 1884 die erste Filiale in Rostock. 1893 wurde die erste Berliner Filiale eröffnet. Einen Überblick über die Gründungen liefert Siegfried Gerlach: Das Warenhaus in Deutschland. Seine Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg in historisch-geographischer Sicht, Stuttgart 1988, S. 36 ff. 15 Vgl. Lux, S. 8. 16 Vgl. Siegfried Gerlach: Warenhaus und Citybildung in wilhelminischer Zeit, in: Die alte Stadt, Jg. 14/1987, S. 391-401, S. 394. Vgl. auch Osborn, S. 180 f. 17 Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 95-98. 18 Ihre Fragebögen wurde in diesem Punkt nur von 38 Firmen beantwortet; 4 gaben ihr Gründungsdatum mit vor 1881 an, 7 zwischen 1881 und 1890, 16 zwischen 1891 und 1900, 11 mit nach 1900, vgl. Lux, S. 9. Zur Gründung der Warenhäuser auch Wernicke : Geschichte des Verbandes, S. 13 f.; Homburg: Warenhausunternehmen, S. 191 f., 199 f.
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Tuch-, Kurzwaren- und Konfektionsgeschäfte vergrößerten sich, und der Zwischenhandel konnte durch die großen umgesetzten Mengen zunehmend ausgeschaltet werden. 19 Durch die Abnahme großer Mengen ließen sich zusätzliche Rabatte erzielen. Der Warenkauf beim Produzenten war ein Hauptkritikpunkt am Warenhaussystem. Stresemann befürchtete durch die riesigen Bestellungen der Warenhäuser könne der Produzent an Selbständigkeit verlieren und zwar nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern der Warenhausbesitzer könne ihn auch zwingen, der von ihm diktierten Mode entsprechend zu fabrizieren. Warenhäuser würden einen Massengeschmack unterstützen. 20 Als zweite Warengruppe neben den Textilien wurden meist Putz-, Haushalts- oder Lederwaren hinzugenommen. Erst die Häuser, die nach 1900 entstanden, eröffneten mit einem breiteren Sortiment. Abteilungen, die aber offensichtlich oft wieder aufgegeben wurden, waren Lebensmittel und die Herrenkonfektion. 21 Die Lebensmittelabteilung eines Warenhauses führte vor allem nicht-alltägliche, aber dennoch preisgünstige Lebensmittel und Delikatessen wie Schokolade, Konserven, Konfitüre und Südfrüchte. 22 Um die Konserven erst größeren Käuferschichten bekannt zu machen, wurden besonders die preiswerten Gemüse mit nur minimalen Aufschlägen verkauft. Lux bemerkte, daß Frauen beim Lebensmitteleinkauf stärker auf den Preis achten, als beim Einkauf nicht alltäglicher Waren. Die Warenhäuser nutzen das Angebot preiswerter Konserven in erster Linie, um diese Konsumentengruppe in das Haus zu locken.23 Aber auch in anderen Artikeln wie preiswerten Möbeln, Emailwaren, Porzellan, billigen Buchausgaben und Kunstblumen galt das Warenhaus als bahnbrechend. Ein wichtiges Element der Warenhausorganisation war der rasche Umsatz, der den Verkauf bei geringen Gewinnspannen erst rentabel machte. Bislang wurde eher ein kleiner Umsatz bei großer Gewinnspanne angestrebt. „ Charakteristisch scheint mir z. B., daß der Grand-Bazar [...] fur das Geschäftsjahr
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Vgl. Hirsch: Der moderne Handel, S. 14. Lux wies daraufhin, daß in der Porzellanbranche dieses Ausschalten des Zwischenhandels schon vorher üblich war und durch die Warenhäuser nur beschleunigt wurde, vgl. Lux, S. 71. 20 Vgl. Stresemann, S. 717 f. 21 Vgl. Lux, S. 11. Lux erklärte das mit der Abneigung der Männer gegen den Einkauf in Warenhäusern. Lebensmittel seien dagegen unrentabel und bereiteten den kleineren Warenhäusern oft Probleme bei der sachgemäßen Lagerung. Die wenigsten, dann meist großen Warenhäuser, betrieben Frischfleisch oder -fischverkauf. Göhre beschrieb auch für Wertheim die Lebensmittelabteilung als die mit dem geringsten Gewinn, da die Unkosten durch Verderb hoch seien, vgl. Göhre, S. 64. Bei Wagner, S. 12 f., gehörte die Lebensmittelabteilung allein wegen ihres Reklamewertes zum Warenhaus. 22 Tietz importierte eigens für seine Filialen Orangen aus Italien. Konserven wurden ab 1895 verstärkt verkauft, Bananen folgten noch vor dem Ersten Weltkrieg, vgl. Georg Tietz, S. 43. 23 Vgl. Lux, S. 80 f., 85. So betrug das Verhältnis verkaufter Spargel-, Erbsen-, und Bohnenkonserven 1 : 11 : 88.
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1904/05 bei einem Umsatz von über 7 Millionen Mark nur 170.000 Mark Reingewinn erzielte, d. h. etwas mehr als zwei Prozent der umgeschlagenen Summe. " 2 4 Um die Umlaufgeschwindigkeit der Waren zu beschleunigen, wurden diverse Ausverkaufsveranstaltungen durchgeführt (,Weiße Wochen4, Weihnachtsausstellungen). Die Berliner Warenhäuser sollen ihre Bestände sechsmal jährlich umgesetzt haben.25 Laut Mataja basiere das Prinzip des raschen Umsatzes auf einer energischen Reklame.26 Der Erfolg der frühen französischen Warenhäuser wurde auf perfekte kaufmännische Organisation und unermüdliche Reklame zurückgeführt. Aber auch in Deutschland lag der Erfolg der Warenhäuser in der modernen Geschäftsführung, der rationellen Organisation, systematischer Arbeitsteilung und „geschickte(r) Ausnutzung der Reklame " 21 - kurz: dem „ Triumph modernen Geschäftsgeistes" Stresemann glaubte, daß eine rationelle Geschäftsführung die enormen Kosten der Reklame kompensieren könnte.29 In der Reklame, so eine Wirtschaftszeitschrift, werde die „Paarung deutsch-amerikanischen Geschäftsgeistes " 3 0 besonders deutlich. Warenhäuser gehörten zu den ersten Firmen, die eine eigene Reklameabteilung einrichteten und bereit waren, ihren Reklameetat entsprechend hoch anzusetzen. Der Warenhausbefürworter Colze bemerkte: „ Die Reklameetats sind denn auch keine allzu kleinen, und halten sich durchaus auf der Höhe von 15-20.000 Mark pro Monat. 180.000 Mark für das Jahr für Reklame dürften nicht allzuviel sein. Solche Posten muß das Berliner Warenhaus schon opfern, will es dem Publikum in Erinnerung bleiben." 31 Ge24
Warenhäuser, in: Plutus, Heft 38/1906, S. 668-670, S. 670. Ähnlich beschrieb Colze den Umsatz Wertheims um 1905 mit 33 Millionen, den Gewinn dagegen nur mit 800.000 Mark, vgl. Colze , S. 8. Insgesamt machten 1903 200 Warenhäuser in Deutschland einen Umsatz von 275-300 Millionen Mark, vgl. Gerlach: Das Warenhaus, S. 74. 25 Vgl. Aus den Warenhäusern beider Welten, S. 33. Borgius hielt bei Warenhäusern den „fast allmonatlichen Umschlag" für möglich, während der herkömmliche Detailhandel 2-3 mal jährlich den Bestand umsetze, vgl. Borgius, S. 61. 26 Vgl. Mataja, S. 372. 27 Heckel, S. 4. Ebenso Aus den Warenhäusern beider Welten; Wagner,; Bücher, S. 480. 28 Colze, S. 10. 29 Vgl. Stresemann, S. 722. 30 Eine Kritik der ersten Inserate des neuen Kaufhaus des Westens, in: Organisation, Nr. 7/1907, S. 109-111, S. 109. Vgl. auch Warenhäuser, in: Plutus, Heft 38/1906, S. 668670, S. 669. 31 Colze, S. 78. Problematisch bei solchen Angaben ist, daß meistens nur Anzeigen und Schaufensterdekoration in die Zahlen einging. So erklären sich dem entgegenstehende Angaben, die die Zeitschrift für Waren- und Kaufhäuser' 1914 machte. Dort wurde festgestellt, daß führende Berliner Geschäfte bis zu 2,5 Millionen Reichsmark ausgaben; allein Rudolph Hertzog gab 1909 eine Million Reichsmark aus, vgl. Reinhardt, S. 37. Der Berliner Kaiser-Bazar setzte 1890 Reklameetat mit 150.000 Mark an, vgl. Moritz Richter, Anlage D, o. P. Darin enthalten waren die Ausgaben für einen Katalog in der Auflage von 100.000.
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messen am Umsatz galten solche Summen als gering. Nach der Rechnung Hirschs überschritten die wenigsten Reklameetats mehr als 2 % des Umsatzes.32 Verantwortlich für die Reklame im Warenhaus Tietz war der Reklamechef in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Rayonleitern. Sie entwarfen gemeinsam die Zeitungsinserate. Jeder einzelne Rayon trug in der Gesamtkalkulation den jeweiligen Anteil an Inseratkosten.33 Eine übergeordnete Reklameabteilung sorgte für die Einheitlichkeit der Reklame.34 Oskar Tietz engagierte für seine Filialen amerikanische Fachleute. Allerdings fand die ,amerikanische' Reklame zur Eröffnung der Filiale in Berlin 1900 nur mäßige Resonanz, auch wenn eine Fachzeitschrift Tietz zum „Meisterwerk der Reklame-Schaufensterkunst " 3 5 und der Einstellung der amerikanischen Fachleute für Reklame und Dekoration gratulierte. Das Publikum vermißte traditionelle Aussagen über Preis und Warenbeschaffenheit. Tietz kehrte daraufhin zu den üblichen ,Preislistenannoncen' zurück. 36 1913 beschrieb es Wernicke als selbstverständlich, daß jedes Warenhaus über eine Reklameabteilung mit Chef und verschiedenen Hilfskräften verfügte. 37 In der Hierarchie der Abteilungen stellte er diese Reklameabteilung gleichberechtigt neben die Rayons. Zu den wichtigsten Reklamemitteln des Warenhauses zählte Wagner die Dekorationen, Zeitungsinserate, den Brief- und Drucksachenversand und die Einrichtung von Serviceleistungen und Abteilungen, deren Reklamewert über dem Gewinn lagen, wie Lebensmittelabteilungen, Erfrischungsräume, Reisebüros etc.38 Mataja betrachtete die Tagespresse als das wichtigste, dem Warenhaus adäquate Reklamemittel; dem Tempo der nahezu täglich wechselnden Sonderveranstaltungen könne kein anderes Medium besser nachkommen.39 In den Zeitungsannoncen war das Kaufhaus Hertzog wegweisend. Rudolph Hertzog lernte in Lyon die weiter entwickelte französische Warenhausreklame kennen und annoncierte schon im Gründungsjahr seiner Firma in Berlin 1839 mit festen Preisen. 40 Die Größe der Anzeigen wuchs, ihre typographische Gestaltung blieb jedoch sehr schlicht. In den sechziger Jahren erschienen die ersten ganzseitigen
32
Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 35. Wobei das aber offensichtlich schon ausreichte, damit das KaDeWe jährlich 450.000 Mark für Reklame ausgeben konnte, vgl. Redlich, S. 144. 33 Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 32; Aus den Warenhäusern beider Welten, S. 63. 34 Vgl. Wagner, S. 10. 35 Vgl. Tietziade, in: Das Waarenhaus, Heft 39/1900, S. 6. 36 Georg Tietz, S. 62. 37 Vgl. Wernicke: Das Waren- und Kaufhaus, S. 98 f. Darunter fallen vor allem die Dekorateure. Tietz beschäftigte 1908 bei insgesamt 3.030 Angestellten 24 Dekorateure. Ihnen wurden wiederum bei Bedarf diverse Haushandwerker zugeordnet, ebd., S. 126. 3H Vgl. Wagner, S. 11 f. 39 Vgl. Mataja, S. 379. 40 Vgl. auch im folgenden Redlich, S. 140.
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Annoncen. Wichtiger als eine aufwendige Gestaltung war die Größe und das Auflisten der festen Preise. Hertzog ergänzte die Zeitungsannoncen durch Reklame in den Pferdebahnen. Bis in die neunziger Jahre blieb Hertzog der größte deutsche Inserent, dann folgten die Kaufhausbesitzer Gerson und Jordan und ab 1894 das Warenhaus Wertheim. Wertheim begann in den neunziger Jahren Reklame mit ,Ausnahmetagen4 zu machen, an denen die Ware zu besonders billigen Preisen verkauft wurde. Allein 1906 annoncierte das Warenhaus rund einhundertmal mit ganzseitigen Inseraten. Andere Formen mit Sonderangeboten zu locken waren ,Weiße Wochen4, ,Kindertage 4 etc. Die in den Zeitungsanzeigen bekanntgegebenen Sonderpreise galten ausdrücklich nur für einen Tag oder eine Woche; gerade damit erklärte Mataja ihre Wirkung. Diese scheinbar rasch vorübergehende Gelegenheit zwinge das Publikum zum Handeln, wenn es die besonders günstigen Angebote nutzen wollte. 41 Diese Anzeigen „ wurden damit zu Geschäftsneuigkeiten, wurden lesenswert und auch tatsächlich gelesen, namentlich auch vom weiblichen Teil des Publikums ", 4 2 Spezielle Dekorationen zu den Sonderveranstaltungen wie der ,Weißen Woche4 oder Weihnachten waren in den Warenhäusern schon früh die Regel; sie wurden mitunter täglich geändert. 43 Die Reklame der Warenhäuser rief aber auch Kritik hervor. Durch die Anfange vieler Häuser als ,Ramschbazare4 sei zunächst die Reklame auch in entsprechendem, marktschreierischem Stil gemacht worden. Der frühen Warenhausreklame wurde auch von neutraleren Berichterstattern stets ein Hang zum Unlauteren zugeschrieben; grell, auffallend, durch diverse Lockartikel und Ausverkäufe unterstützt. 44 Um die Jahrhundertwende zeichnete sich jedoch eine Veränderung ab. Warenhäuser verloren den Charakter des Ramschbazars und handelten mit Qualitätsware. Geschmackvolle Reklame erschien als wirksames Mittel, „auch die besser situierten Klassen ans Warenhaus zu gewöhnen." 45 Stresemann erachtete die unlauteren Reklamemethoden als vorübergehende Erscheinung. „Sobald der Bazar daher mit dem besseren Publikum rechnen muss,
41
42
Vgl Mataja, S. 146 f.
Allein diese Anzeigen kosteten 500.000 Mark jährlich, ebd., S. 380; S. 382. Vgl. Aus den Warenhäusern beider Welten, S. 19. 44 Vgl. Stresemann, S. 705 ff.; Hirsch: Das Warenhaus, S. 12; S. 16. Unter Lockartikeln wurden Waren begriffen, die unter Einkaufspreis verkauft wurden. Die Reklame für diese Artikel erweckte meist den Anschein, als ob alle Waren ähnlich preiswert seien. Wann der erste Ausverkauf eines Warenhauses stattfand, läßt sich nicht mehr feststellen. Karstadt warb jedenfalls schon 1884 mit einem „Inventur-Ausverkauf und führte 1893 regelmäßig diverse Sonderverkaufstage durch, vgl. Borgius, S. 62; Warren, S. 21. 45 Hirsch: Das Warenhaus, S. 36. Bei der Planung des (bald wieder in Konkurs gegangenen) Kaiser-Bazars als Warenhaus für das ,bessere' Publikum plante man 1890 sogar, nur auswärtige Angestellte aus Wien und Paris zu beschäftigen, „damit der in den Berliner Geschäften unter den Angestellten herrschende Ton vermieden wird". Richter, Anlage D, o. P. 43
Mo
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überlegt er sich auch, dass er durch derartige Machinationen mehr Käufer von sich abstösst, als neue gewinnt. " 4 6 Wertheim soll zwar noch nach seinem Umzug nach Berlin 1885 durch die Art seiner Reklame und unlautere Geschäftspraktiken den Unwillen der Bevölkerung erregt haben.47 Nach Göhres Darstellung rühmte sich das Haus aber 1907, nur besonders zurückhaltende Reklame für ein geschmackvolles Publikum zu machen und sich dadurch anderen Warenhäusern abzuheben.48 Colze bescheinigte den Warenhäusern entscheidenden Einfluß auf die veränderte Form der Reklame. Im geschmackvollen Gebrauch der Bildinserate seien die Warenhäuser wegweisend. Sie hätten als erste die Reklame als Spiegel des „ Charakter(s) der Firma " 4 9 erkannt. Nach Meinung von Wagner wurde die vornehme und künstlerische Dekoration der Schaufenster und der Innenräume und auch spezieller Inszenierungen wie der , Weißen Woche4 von den Warenhäusern gezielt eingesetzt, um das kaufkräftige Publikum anzulocken.50 Diese luxuriöse Innenausstattung und Warenpräsentation half die Massenware aufzuwerten und ihre bisweilen mindere Qualität durch die Erscheinung zu kompensieren. Lux schrieb 1910, daß die Warenhäuser in Sachen Reklame „merklich vorsichtiger" 51 geworden seien und mittlerweile selbstverständlich für die Qualität der Waren garantieren würden. Das Kaufhaus Schocken ging 1905 sogar zu hauseigenen Warentests über, die auf wissenschaftlicher4 Basis beweisen sollten, daß die verkaufte Ware zwar preiswerter, qualitativ den teureren Produkten jedoch überlegen sei. Die Ergebnisse dieser Tests wurden als Anzeigen veröffentlicht. 52 Andere Warenhäuser zeigten den Inhalt der Gemüsekonserven in Glasbehältern, um zu demonstrieren, wie hoch die Gemüseeinwaage sei.53 Als Kaiser Wilhelm II. 1912 Wertheim in der Leipziger Straße in Berlin besichtigte, manifestierte dies den Umschwung im Image des Warenhauses.54 Göhre sah in den Warenhäusern mit ihrer Reklame und Kulanz zwei wesentliche Grundsätze des modernen Detailhandel verwirklicht. „Diese Reklame wie diese Kulanz sind die notwendige Folge aus dem durch den Kapitalismus ge-
46
Stresemann, S. 711. Vgl. Steindamm, S. 10. 48 Vgl. Göhre. 49 Colze , S. 76 f. Allerdings trat diese Wende in der Reklame erst um 1906 ein. Vorher wurde für Warenhäuser meist in einfachen Textinseraten, die alle Sonderangebote mit ihren Preis auflisteten, geworben. Die Veränderung in der Anzeigengestaltung begann durch die Reklame des KaDeWe. 50 Vgl. Wagner, S. 14. 51 Lux, S. 186. Vgl. auch Johannes Wernicke: Wandlungen und neue Interessen-Organisationen im Detailhandel, Berlin 1908, passim. 52 Vgl. Fuchs, S. 30 f. 53 Vgl Lux, S. 81 f. 54 Vgl. Gellately: An der Schwelle der Moderne, S. 146. 47
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schaffenen Zwang für den heutigen Handel, immer neue Warenmassen unter allen Umständen zum Absatz zu bringen, und zu diesem Zwecke, da der Käufer nicht ohne weiteres von selbst kommt, ihn aufzusuchen, zum Kaufe anzustacheln, dann aber ihn auch möglichst festzuhalten. Was Wertheim an Reklame leistet, sahen wir. Alle Anderen haben zu weniger geschmackvollen, aber vielfach nicht minder wirksamen Reklamemitteln gegriffen, als da sind überraschende Schaufenstereffekte, Lichteffekte, Ausstellungen, Anschlag von Gedichten an öffentlichen Litfaßsäulen, Gewährung von oft hohen Rabattmarken, unentgeltliches Photographieren nach Einkäufen in bestimmter Höhe, Gewährung von Eisenbahnbilletten, Veranstaltung von Konzerten, sowie billigem Bierausschank mit Verkauf von frischer Wurst zu Selbstkostenpreise. " 5 5 Im Vergleich mit dem Ausland sei man in Deutschland allerdings geradezu zurückhaltend. 1913 wurde in den Warenhäusern von Tietz aber noch eine neue, ausgesprochen reklamewirksame Abteilung eröffnet: man begann Tiere in einer ZoologieAbteilung zu verkaufen. 56 Die Geschäfte hatten den Ehrgeiz, Waren der ganzen Welt zu präsentieren. Die Warenfulle war so beeindruckend, daß in einer Anekdote selbst der Klapperstorch durch Wertheim abgelöst wurde und nun die kleinen Kinder brachte. 57 Ein weiteres Charakteristikum des Warenhauses war die spezifische Architektur; „der ausgesprochene Typus eines modernen Geschäftshauses ", 5 8 wie sie in Baedekers Reiseführern beschrieben wurde. Die weitaus meisten Warenhäuser wurden in eigens dafür gebauten Gebäuden eröffnet. 59 Neue Baumaterialien ermöglichten riesige Schaufenster und große Lichthöfe. 60 Schaufenster
55 Göhre, S. 116. Die Reisekosten Vergütung für auswärtige Kundschaft bei Käufen über 20 Mark gewährte auch das Kaufhaus Schocken, vgl. Fuchs, S. 27. 56 Von mittel ständischer Seite wurde diese Einrichtung, die sich direkt neben den Lebensmittelabteilungen befand, als unhygienisch und als teures Reklamemittel kritisiert, vgl. Menagerie im Warenhaus, in: Detaillist und Publikum, Heft 25/1913, S. 2-3. 57 Vgl. Wo kommen die kleinen Kinder her?, in: Zeit im Bild, Heft 15/1910, S. IV. 58 Hier bezog sich die Beschreibung auf Wertheim in der Leipziger Straße, das in die Reihe der Sehenswürdigkeiten aufgenommen wurde, vgl. Baedeker's Berlin und Umgebung, Leipzig 1898, S. 112. In späteren Ausgaben wurden auch Tietz und das KadeWe aufgenommen; Wertheim blieb aber die Sehenswürdigkeit. Alle drei wurden in das Register aufgenommen. Tietz bezeichnete sich selbst auf dem Titel der Preislisten für den Versand als „Sehenswürdigkeit der Stadt", vgl. Titelblatt Haupt-Preisliste Tietz Köln, 1896-97, in: ,Mein Feld ist die Welt4, Kat.-Nr. 101. 59 Lia, S. 13, gibt die Zahl aufgrund ihrer Umfrage mit 76,4 % an. Sie stellt fest, daß die älteren Geschäfte oft mehrmals umzogen, bevor sie in einem eigentlichen Geschäftsgebäude eröffneten. Je später die Gründung, desto größer wurde begonnen: mit mehr Branchen, mehr Personal und in einem größeren Gebäude. 60 Dabei wurde der Neubau des Pariser Bon Marché 1872 zum Maßstab, vgl. Stürzebecher, S. 18.
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waren zunächst auch in den oberen Stockwerken üblich; sie sollten das ganze Haus transparent machen und Einblicke in die Warenmassen gewähren. 61 Um
Quelle: Landesbildstelle Berlin
Abb. 7: Das Warenhaus Tietz am Dönhoffplatz in Berlin, um 1912
die Jahrhundertwende versuchte man, eine weitgehende „ Auflösung der Wand und offenen Einblick in das Haus " 6 2 durch die Verbannung aller Träger in das Gebäudeinnere zu erreichen. Innerhalb des Hauses sorgten Durchbrüche und Treppenhäuser für Transparenz zwischen den einzelnen Stockwerken und verstärkte auf diese Weise den Eindruck von Warenfülle. Elektrische Beleuchtung und zahlreiche Spiegel ermöglichten im Schaufenster genauso wie im Gebäude strahlende Helligkeit. Wertheim an der Leipziger Straße in Berlin, 1898-1904 von Alfred Messel erbaut und lange das vornehmste Warenhaus in Deutschland, warb in einer Firmenschrift mit der verschwenderischen Beleuchtung durch 36.000 Glühlampen und 200 Bogenlampen und dem Einsatz modernster Technik. 63 Der spezielle Reklamewert der Gebäude wurde deutlich erkannt. Allein 61
Vgl. Göhre, S. 12.
62
Wiener, S. 170, S. 184. Vgl. auch ders.: Das Warenhaus, in: Jahrbuch des DWB 1913, S. 43-54. 63 Vgl. Wertheim-Album 1910, hg. von A. Wertheim, Berlin o. J., S. 9. Vgl. auch
Hermann Tietz, o. P.
II. Versandgeschäfte
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schon als Sehenswürdigkeit lockten sie die Massen an. Zu den „stolzen, von Künstlerhand errichteten Palästen 4,64 würden Touristen wie zu den Schlössern des Kaisers wallfahrten. Baedeker's Reiseführer empfahl Außen- und Innenbesichtigung des Wertheim-Warenhauses als Attraktion: „Das sehr besuchenswerte Innere (kein Kaufzwang) enthält im östlichen der beiden Lichthöfe eine Bronzestatue der Arbeit von Manzel; der westliche ist von besonders eigenartiger Wirkung. Beachtenswert ist auch der Kunstsalon (Eintritt 25 Pf), die kunstgewerbliche Abteilung und der Teppichsaal über der Halle. Im I. Stock der Teeraum, der Erfrischungsraum und der Verkauf von Theater- u. a. Billetten. " 65 Einzig der Hinweis auf der fehlenden Kaufzwang durchbrach die Einordnung des Warenhauses in die sonst für das kunstsinnige Bildungsbürgertum als sehenswert vorgestellten Objekte.
I I . Versandgeschäfte Versandgeschäfte verzichteten auf offene Verkaufsstellen und erreichten ihre Kunden allein durch Drucksachen, vor allem durch aufwendig gestaltete Kataloge und Briefe. Eine wichtige Voraussetzung für die Geschäftsform war die Möglichkeit, Waren auch in kleineren Mengen per Nachnahme durch die Post verschicken zu können.66 Das 1874 eingeführte Einheits-Paketporto für das gesamte Reichsgebiet senkte die Versandkosten und kam dem Versandgeschäft zugute. Auch die Vereinheitlichung der Maße und der Währung forderte den Versandhandel. 67 Verbilligte Tarife für Drucksachen und die Zulassung von Reklamebeilagen in Zeitungen und Zeitschriften seit den siebziger Jahren bedeutete ein Erreichen der Landbevölkerung, dem größten Versandhauskundenanteil.68 Die Zahl der Drucksachen stieg von 85,9 Millionen im Jahr 1875 auf 1.327,4 Millionen 1910, während sich die Bevölkerung nicht einmal verdoppelte. Diese Zunahme ist zum überwiegenden Teil auf ein Anwachsen der Reklamedrucksachen zurückzuführen. 69 64
Warenhäuser, in: Plutus, Heft 38/1907, S. 668-669, S. 668. Beschreibung Wertheims in der Leipziger Straße. Baedeker's Berlin und Umgebung, Leipzig 1908, S. 120. Der Hinweis auf den fehlenden Kaufzwang auch zu Tietz. 66 So stieg die Zahl der Nachnahmesendungen von 1871 bis 1913 von 5,5 Millionen auf 78 Millionen an, vgl. Gellately: Zur Entstehungsgeschichte der Massenkonsumgesellschaft, S. 475; Robert Nieschlag: Die Versandgeschäfte in Deutschland, Berlin/München 1939, S. 20. 67 Vgl. Heinrich Grünfeld, in: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, hg. und eingeleitet von Monika Richarz, Stuttgart 1979, S. 266-273, S. 266. Die Versandabteilung des Manufakturwarengeschäftes Grünfeld entstand schon 1873. 68 Vgl. Nieschlag, S. 20. 69 Vgl. Hirsch. Der moderne Handel, S. 286. 65
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C. Reklame im Geschäftsalltag
Allerdings gab es schon vorher Versandabteilungen vor allem der größeren Konfektionshäuser. Das Berliner Manufakturwaren- und Wäschegeschäft Heinrich Jordan begann 1839 mit dem Versand. 70 Die meisten großen Warenhäuser hatten eine solche Abteilung, wenngleich deren Warenversand in Deutschland nie eine so große Rolle spielte wie in Frankreich. 71 Mit den Erleichterungen der Post begannen neben der Textilbranche eine Reihe anderer Branchen mit dem Versand: 1880 beispielsweise der Kaffee-, ein paar Jahre später der Butterversand. Eine wichtige Rolle spielte auch der Versand von Büchern, vor allem von Lexika. Genaue Zahlen zur Verbreitung der Versandgeschäfte fehlen; Sombart versuchte, ihre wachsende Bedeutung an der zunehmenden Zahl der Postpakete festzumachen. Während 1880 51,7 Millionen Pakete verschickt worden waren, stieg ihre Zahl im Jahre 1900 auf 137,8 Millionen und verdoppelte sich dann bis 1910 auf 261,5 Millionen. Ähnlich sah die Steigerung bei Nachnahmesendungen aus. Sie stieg von 57,1 Millionen 1880 auf 540,3 Millionen im Jahre 1900 und umfaßte 1910 1209,7 Millionen Pakete.72 Zwei Gruppen der Versandgeschäfte lassen sich unterteilen: erstens die Firmen, die zugleich Hersteller waren; hier wurde der Zwischenhandel, gleich welcher Form, völlig ausgeschaltet.73 Die zweite Gruppe führte, ähnlich wie ein Warenhaus, ein möglichst breites Sortiment, ohne selbst zu produzieren. Hier war das Versandhaus August Stukenbrok das größte. Stukenbrok eröffnete 1890 in einem kleinen Ort in Niedersachsen eine Fahrradhandlung, die er dann zu dem größten Versandhandel Deutschlands ausbaute. Er gab mehrere hundert Seiten starke, bebilderte Kataloge heraus, die 1910 die Millionenauflage erreichten. Diese Kataloge wurden umsonst an die Stammkundschaft verschickt, die nach eigenen Angaben 700.000 betrug. 74 Neben dem umfangreichen Hauptkatalog gab Stukenbrok noch zehn Spezialkataloge heraus (Automobile, Motorräder und Automobilmaterialien; Fahrräder und Nähmaschinen; Sprechmaschinen und Schallplatten; Spielwaren etc.). Die Kundschaft dieser Industrieartikel wohnte meist in der Provinz. Die Reklame - hier die ausführlichen und aufwendig bebilderten Kataloge - und der Postversand ermöglichten diese Verkaufsform. Der „Katalog kann, hauptsächlich für den ländlichen Käufer, das Warenhaus ersetzen. " 1S Für Lebensmittel, wie Honig oder Geflügel, kam allerdings vor allem das städtische Publikum in Frage. 76 Mataja zählte im De-
70 71 72 73 74 75 76
Vgl. Osborn, S. 59 f. Vgl. Stresemann, S. 713; Aus den Warenhäusern beider Welten, S. 195. Vgl. Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft, S. 229. Vgl. ebd., S. 395 f. Vgl. Zänker, S. 71. Berendt, S. 16. Vgl. Mataja, S. 395.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
109
zember 1905 in einer Nummer der Zeitschrift,Fliegende Blätter 4 160 Anzeigen von Versandgeschäften nahezu aller Branchen. 77 Die Kunden wurden durch Annoncen, vor allem in den auflagenstarken Familienblättern, durch Kataloge, Rundschreiben und Preislisten geworben. Die meisten Firmen boten problemlos den Umtausch oder die Rücknahme von Artikeln an. Die Kosten für die Anwerbung neuer Kunden waren hoch, Laufkundschaft wie bei Ladengeschäften konnten nicht erreicht werden. Dafür fielen Kosten für teure Geschäftsräume weg. 78
I I I . Markenartikel und Automatenverkauf 1. Markenartikel verändern den Einzelhandel Seit ungefähr 1890 begannen Markenartikel den Handel zu verändern. 79 Nicht der Einzelhändler, sondern der Fabrikant nahm Einfluß auf den Absatz und die Reklame. Gleichbleibende Qualität, gleichbleibende Verpackungseinheit und festgesetzte Endverkaufspreise wurden zum wichtigsten Inhalt der Markenartikel und ihrer Reklame. Die Verantwortlichkeit für die Ware verlagerte sich vom Händler zum Produzenten. 80 Der Käufer sollte konkret nach einer Marke verlangen, nicht wie bisher, nach einer Warengattung. Markenkenntnis sollte die Warenkenntnis ersetzen. Eine mit aufwendiger Reklame gut eingeführte Marke vermittelte ein gewisses Qualitätsversprechen und wurde zum Träger eines ,guten Rufs'. Von diesem Ruf versuchten die Produzenten von Plagiaten zu profitieren. 1894 sollte das ,Gesetz zum Schutz der Warenbezeichnungen4 Wort- und Namenszeichen schützen und wurde als ein wichtiger Erfolg gewertet, um zu verhindern, daß der „gewerbliche Freibeuter die wertvolle Reklame des Urhebers zu der Seinigent%x machte. Zwischen 1894 und 1913 wurden 332.686 Marken beim Pa77 Vgl. ebd., S. 405, Fußnote. Als wichtigste Branchen nannte er Textilwaren, Zigarren, Wurstwaren, Stahlwaren, „gewisse Gummiwaren", kosmetische Artikel. 78 Vgl. ebd., S. 397; S. 407 ff. 79 Vgl. zum Ursprung der Marken Dietrich Kühn: Der Markenartikel. Wesen und Begriff, seine Entwicklung in der Literatur, Diss. Berlin 1963, S. 6 ff. Die Marke als fest mit dem Artikel verknüpftes Zeichen geht auf alte Eigentums- und Ursprungszeichen zurück und war seit dem Mittelalter bei Töpferwaren, Waffen und Schmuck zu finden. Daraus entstanden Zunftzeichen, die neben der Ursprungskennzeichnung zugleich als Gütezeichen fungierten. Diese Marken konnten mit einem konkreten Hersteller verbunden werden. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Sachmarke, die nicht mehr dem Ruf des Herstellers, sondern der Ware selbst eigenen Markencharakter verlieh. 80
Vgl. Redlich, S. 206 ff. Vgl. Paul Ruben: Die Bedeutung der Warenzeichen für die Reklame, in: Die Reklame, Bd. 1,S. 1-17, S. 13. 81
110
C. Reklame im Geschäftsalltag
tentamt beantragt, 186.340 genehmigt.82 Zwei Gruppen lassen sich in den Markennamen unterscheiden. Einmal die Firmen, die mehrere Produkte herstellten und allen den gleichen Markennamen gaben, der meist aus dem Firmennamen hervorging: die sogenannte Fabrikmarke (Maggi-Würze, -Suppenwürfel). Oder aber eine Firma, die für jedes Produkt einen speziellen Markennamen, die Handelsmarke, entwickelte (Henkel mit Persil, Imi etc.). Neben klassischen Delikatessen und Genußmitteln wie Schokolade (Stollwerck), Kaffee (HAG), Kakao, Tee, Sekt (Henkell) und Tabak zählten zu den frühen Markenartikeln vor allem Produkte der neuen Lebensmitteltechnologie wie Margarine, Fleischextrakt (Liebig's 1862) und Fertigsuppen (Maggi 1883; Knorr 1875) oder Backpulver (Dr. Oetker 1899), und Reinigungsmittel (Henkels Bleich-Soda 1876, Odol 1893, Persil 1907), sowie andere Produkte der chemischen Industrie, wie Farben und Schuhcreme. Zu den frühen Markenartikeln gehörten vor allem Produkte, die ohnehin eine feste Verpackung benötigten. Zunehmend wurden Waren des täglichen Bedarfs als Markenartikel angeboten. Mit leichtem Erstaunen stellte ein Autor fest, daß das Markenwesen auf nahezu alle Warenbereiche übergriff, selbst Mehl, „gewöhnliches Hausbrot " 8 3 und Taschentücher würden mittlerweile unter einer Marke erscheinen. Auf Seiten der Kaufenden löste die Markenkenntnis die Warenkenntnis ab. Neben Preisvergleich und umfassender Warenkenntnis hatte bisher die genaue Kenntnis über Händler, die gute Qualitäten garantierten, zu den geforderten Grundkenntnissen der Hausfrauen gehört. Erschwert wurde der Einkauf qualitativ hochwertiger Lebensmittel durch vielfache Verfälschungen: Mehl wurde mit Gips versetzt, Tee mit Torf gestreckt. Haushaltsführer der Zeit versuchten nötiges Wissen für einen guten Einkauf zu vermitteln. 84 Die Einfuhrung der Markenartikel konnte den Einkauf vereinfachen, da dieser durch seine fest definierte Qualität, Größe und den festen Preis die Notwendigkeit der Warenkenntnis ersetzte. Der Festpreis wurde quasi zur Produkteigenschaft und massiv durch Markenartikelproduzenten - auch unter der Rechtfertigung, daß sie dafür die teure Reklame finanzierten - dem Händler gegenüber verteidigt. 85 Außerdem galt er als Orientierungsmerkmal für die Kunden: „ (...) das Publikum würde un-
82 127.188 Anträge entfielen auf Nahrungs- und Genußmittel, 57.135 auf Metallwaren, 27.763 auf Textilwaren, 75.629 auf die chemische Industrie und 44.971 auf sonstige Bereiche, vgl. Walter Möller: Der Markenartikel und Markenschutzverband, Diss. Münster 1922, S. 26. 83 Möller, S. 28. 84 Vgl. zum ganzen Komplex Einkauf Sibylle Meyer. Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit, Frankfurt a. M./New York 1982, S. 127-136. 85 Vgl. Möller, S. 42.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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sicher werden und dem betr. Artikel auf die Dauer kein großes Interesse zuwenden, wenn es keine Garantie dafür hat, ihn immer gleichmäßig zu bezahlen. " 86 Auch im Handel führte diese Entwicklung zu entscheidenden Veränderungen. Der Bereich der Kalkulation des Händlers wurde durch den Markenartikelfabrikanten bestimmt, die Endpreise durch den Produzenten festgelegt, und für den Händler blieben nur die knapp bemessenen Rabattspannen.87 Die Bedeutung des geschulten Personals ging zurück, da bisherige Aufgaben des warenkundigen Verkäufers durch die fest charakterisierten Markenartikel größtenteils entfielen. Verbraucher und Fabrikanten bestimmten somit stärker den Prozeß des Handelns; der Verkäufer mußte nun nur noch die verlangten Packungen herausgeben. „Der Fabrikant nimmt dem Detaillisten bis zu einem gewissen Grade die Mühe ab, den Artikel zu poussieren, indem er selbst an den einzelnen Orten für geeignete Reklame sorgt, sei es durch Inserate, sei es durch Plakate, sei es durch gewisse Zugaben (Bilder, Tassen usw.). " 8 8 Allerdings wurde es den Händlern damit auch immer schwerer gemacht, andere Produkte als die mit großer Reklame werbenden Markenartikel zu verkaufen. Sie mußten sich der Nachfrage der Kundschaft nach diesen Markenartikeln beugen.89 Damit wurde ein Teil der bisherigen Verkaufstätigkeit dem Detaillisten entzogen und in den Firmen der Fabrikanten erledigt. Die Beratungstätigkeit, mit der der Händler seine Stammkundschaft aufbaute und hielt, wurde zweitrangig. Der Händler wurde zunehmend zum Kommissionär des Fabrikanten. Mataja sah darin eine Veränderung von entscheidender volkswirtschaftlicher Bedeutung, weil dadurch der Absatz „gewissermaßen auf den Kopf gestellt " 9 0 worden sei. Produzent und letzter Konsument rückten zusammen, der Konsument zwang durch seine Nachfrage den Detaillisten, bestimmte Waren zu führen. Hirsch sah in dem Zögern vieler Einzelhändler, sich selbst intensiver um den Absatz zu kümmern, einen Grund für das verstärkte Eingreifen der Fabrikanten in den Verkaufsprozeß. „Die Vorsicht der Händler im Disponieren, ihr Mißtrauen gegenüber Neuerungen, zwang vielfach diejenigen Fabrikanten, welche neue Waren oder Qualitäten einfuhren wollten, entweder die Propaganda für ihre Waren beim Publikum, oder aber geradezu den Verkauf selbst in die Hand zu nehmen. " 9I Grundsätzlich belieferte nun der Produzent Detaillisten mit Reklame und organisierte auch zusätzliche Verkaufsschulungen. Nicht mehr der Händler beriet
86
Johannes Steindamm: Markenartikel, in: Plutus, Heft 8/1905, S. 142-144, S.142. Vgl. Mataja, S. 431 f.; Redlich, S. 208. 88 Johannes Steindamm: Markenartikel, in: Plutus, Heft 8/1905, S. 142-144, S.142. 89 Vgl. Ernst Rosenberg: Der Vertrieb pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten in Deutschland, Berlin 1913, S. 10. 90 Vgl. Mataja, S. 421. 91 Hirsch: Das Warenhaus, S. 11. Vgl. auch Wie man in Deutschland annoncirt, in: Die Reklame, Heft 19/1895, S. 334-338, S. 334. 87
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C. Reklame im Geschäftsalltag
den Fabrikanten über Absatztechniken, sondern Produzenten begannen Händler durch das Angebot begleitender Reklame und kostenloser Geschäftsausstattungen für ihr Produkt zu gewinnen.92 Auch andere Reklamemittel - mit Reklame bedruckte Einwickelpapiere, Rezeptkuverts und Kalender - wurden von den Detaillisten, nicht zuletzt, da sie damit ihre eigenen Ausgaben senken konnten, gerne genutzt.93 Zum Teil empfanden es Detaillisten als Angebot, sich nicht um den Bereich der Reklame kümmern zu müssen. Neue Artikel, für die keine gute Einführungsreklame seitens der Produzenten organisiert wurde, wurden von Händlern nun abgelehnt und ergänzende Reklame durch den Produzenten genutzt oder sogar gefordert. 94 Markenartikelfabrikanten boten fertige Reklamearrangements für Schaufenster an, um den Detaillisten dazu zu bewegen, statt einen Berg verschiedenster, womöglich miteinander konkurrierender Artikel ausschließlich ein Produkt - eben den jeweiligen Markenartikel - zu präsentieren. Stollwerck lieferte den Detaillisten schon seit den siebziger Jahren neben den Schildern eigene Standdosen und Verkaufsvitrinen gratis; Verpackungsattrappen, Einwickelpapier und Weihnachtsmänner wurden den Detaillisten zum Selbstkostenpreis geliefert. 95 Tropon versorgte die Detaillisten seit 1898 mit kostenlosem Reklamematerial. Ein eigens herumreisender Dekorateur half den größeren Geschäften, ihre Fenster entsprechend zu dekorieren. 96 Eine Schokoladefirma riet zur Weihnachtszeit ihren Händlern, „sämtliche DekorationsGegenstände und Plakate für unsere Schokolade hervorsuchen zu lassen und die noch brauchbaren zu einer imposanten, auffälligen Dekoration in Ihrem Schaufenster zu vereinigen. " Die vom Produzenten begonnene Unterstützung durch die Anzeigen- und Plakatreklame würden die Dekorationspackungen und -plakate der Detaillisten besonders gut zur Geltung bringen. „Denn im allgemeinen wird eine Hausfrau, die wir durch unsere Annoncen für SantosSchokolade interessiert haben, ihn da kaufen, wo sie auch ganz sicher ist, ihn zu erhalten, nämlich dort, wo sie die Packungen und Plakate im Schaufenster sieht. " 91 Große Markenartikelhersteller wie Bahlsen veröffentlichten Dekorationsrichtlinien, sandten den Detaillisten Fotos von vorbildlichen Schaufenstern zu und schickten speziell ausgebildete Wanderdekorateure zu den einzelnen
92
Vgl. Redlich, S. 210; Stegemann, S. 554; Hellweg: Die Außenreklame, S. 189; Julius Schmitt: Teekanne, Dresden, Berlin 1930, S. 43. 93 Vgl. Ernst Rosenberg, S. 16; Walter Herzberger: Der Markenartikel in der Kolonialwarenbranche, Stuttgart 1931, S. 12. 94 Vgl. Redlich, S. 209 f. 95 Vgl. Kuske, S. 64. Manuskript Kuske, S. 2; S. 37 (StA). Stollwerck stellte den Kunden, die mehr als 50 kg Ware abnahmen, ab 1876 Schaufensterdekorationen in Form von Terrakottafiguren zur Verfügung. Imhoff-Stollwerck-Museum Köln. 96 Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 236. 97 Weihnachtsreklame, in: Organisation, Nr. 23/1908, S. 588-589, S. 588. Dort wurde der Brief der Firma Santos als besonders gelungene Ansprache der Detaillisten abgedruckt.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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Verkaufsstellen. 98 Kaffee-HAG entwarf fertige Dekorationsmaterialien fur seine Detaillisten und publizierte entsprechende Entwürfe in einer Fachzeitschrift. 99 Günther Wagner (Pelikan) folgte 1914.100 Das Schaufenster wurde zum direkten Bindeglied zwischen dem Produzenten der Markenartikel und dem Käufer. In der Markteinführung neuer Produkte waren die Hersteller jedoch nach wie vor auf die Kooperation der Detaillisten angewiesen; vor dem Verkauf der Ware durch Detaillisten stand also das Überzeugen der Detaillisten selbst. Hierzu setzten Markenartikelhersteller Vertreter und Broschüren über Reklame ein. Diese hatten die Aufgabe, die Händler als Partner der Produzenten zu gewinnen. Gute Reklame des Markenartikelproduzenten müsse den Detaillisten fest einbinden. „Die Organisation des Vertriebes erreicht dann einen hohen Grad von Vollendung, wenn es gelingt, den Detailhändler nicht bloß zu einem mehr passiven Verkauf der Ware, sondern zu einer rührigen Propaganda für dieselbe anzuregen. " m Die Vertreter mußten die Detaillisten zunächst oft grundsätzlich von der Notwendigkeit moderner Reklame überzeugen und wurden damit zugleich zu Werbern für professionellere Reklame. Um die Jahrhundertwende versorgten beispielsweise die auf Haus- und Küchengeräte spezialisierten Alexanderwerke ihre Detaillisten regelmäßig mit einem Sonderheft, in dem die Firma „ Vorschläge für geeignete Reklame macht und sich befleissigt, überhaupt über das Wesen der Reklame aufzuklären. Es bringt reklametechnische Artikel aus der Feder bewährter Fachleute und gemachte Erfahrungen, ferner Darstellungen von nachahmenswerten Schaufensterdekorationen, Inseraten und anderen Reklamearrangements und stellt regelmäßig neue Entwürfe und Chlichés zur Ausstattung von Inseraten zur Verfügung. " 1 0 2 Die Produzenten von Kathreiners Malzkaffee, Maggi, Tropon, Bahlsen und Odol versuchten in ähnlicher Weise, ihre Detaillisten zur moderner Reklame zu erziehen. 103
98
Vgl .Breuer, Robert: Schaufenster-Fibel, geschrieben für die Hannoversche CakesFabrik H. Bahlsen, S. 1 (um 1908), abgedruckt in: Hermann Bahlsens Keksfabrik, S. 83 ff. Vgl. auch Fritz Krielke: Schaufensterdekorationen mit Massenartikeln, in: Der Führer durch Deutschlands Aussenreklame, o. P. Krielke offerierte einen solchen Service für Markenartikelhersteller. Er umfaßte das Akquirieren bereitwilliger Detaillisten, das Dekorieren und das Abholen der Dekoration nach Beendigung der Aktion. 99 Vgl. Moderne künstlerische Schaufenster-Dekoration, in: Das Schaufenster, Heft 22/1911, S. 78; Eine gemütliche Frühstücks-Ecke im Schaufenster, in: Das Schaufenster, Heft 23/1911, S. 79; Einfache, ruhig wirkende Schaufensterdekoration, in: Das Schaufenster, Heft 24/1911, S. 82. 100 Vgl. ,Pelikan4-Fabrikate im Schaufenster, in: Seidels Reklame, Heft 4/1914, S. 175-177. 101 Vgl. Mataja, S. 424. 102 Lemcke/Friesenhahn, S. 250. 103 Ebd., S. 263. Zu Kathreiner vgl. auch Hermann Aust: Organisation eines Markenartikel-Großunternehmens der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Diss. Kiel 1921, S. I l l ; S. 137 ff. 8 Lamberty
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C. Reklame im Geschäftsalltag
Dennoch konnten die Detaillisten die Markteinführung neuer Artikel unterlaufen, indem sie im direkten Kundenkontakt diese von der Gleichwertigkeit anderer, ,namenloser' Produkte überzeugten. 104 Die persönliche Beziehung zwischen Händler und Käufer drohte die Vorstellung des Händlers als verlängerter Arm der Markenartikelproduzenten zu untergraben. Das sogenannte Unterschieben eines Ersatzes wurde von Markenartikelherstellern gefürchtet, da ihre Reklame, die erst die Nachfrage mobilisiert hatte, fehlgeleitet wurde. Folglich warnten sie die Käufer häufig vor ,minderwertigen Imitaten' und rieten, auf Markenzeichen zu achten. Über den Anteil der Markenartikel auf dem Markt ist nur wenig bekannt. Walter Herzberger untersuchte 1929 durch eine Umfrage den Anstieg der Markenartikel. Als primäres Bezugsdatum befragte er Händler über den Anteil der Markenartikel in ihrem Sortiment im Jahr 1913. Auch wenn die Basis von 32 Händlern (12 in der Stadt Gladbach/Rheydt, 20 auf dem Land) sehr klein ist, so kann sie doch zumindest als grober Anhaltspunkt dienen.105 So sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Produktgruppen festzustellen; einige Artikel, wie z. B. Seifenpulver und Putzmittel (Schuhcreme etc.), waren schon 1913 ausschließlich als Markenartikel erhältlich. Auch Kaffee-Ersatz hatte mit 80 % einen großen Anteil bei Markenartikel, ähnlich wie Stärke/Nährmittel, die 1913 einen Markenanteil von rund 9 0 % erreichten, während Schmalz, Salz, Hülsenfrüchte, Butter und Eier als anonyme Waren gehandelt wurden. 1 0 6
2. Das Erscheinungsbild des Markenartikels Die Markenartikelunternehmen haben, so ein Beobachter, „das junge Reklamegewerbe mächtig gefördert.Für die Reklame bedeutete diese Entwicklung ein neues Arbeitsfeld: Markennamen, Markenzeichen und charakteristische Verpackungen mußten entworfen werden. Ihre Festlegung beeinflußte erheblich die Gestaltung der weiteren Reklame, der Anzeigen und Plakate, der Prospekte, Broschüren und der Schaufenstergestaltung. Die geschickte Einführung eines Markenartikels in einer groß angelegten, umfassend geplanten Kampagne war nur mit einem von Beginn an durchgestalteten Erscheinungsbild des Artikels möglich. Die Reklamekampagne müsse einsetzen, bevor der Artikel auf
104
Vgl. Mataja, S. 425; Ernst Rosenberg, S. 10. Vgl. Herzberger. 106 Kaffee kam auf 25/80 % (Stadt/Land), Kakao auf 30/50 %, Schokolade auf 50%, Margarine auf 80/82 % Markenanteil. Schmierseife 0/3 %, Gewürze 2/0 %, Brotbelag/Marmelade etc. 5%/0 %, Zucker 4/5 % hatten dagegen kaum einen Markenanteil, vgl. ebd., S. 25-70. 107 Höller, S. 24. 105
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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den Markt komme. 108 Der Markenartikel wurde zum Aufgabengebiet von gut ausgebildeten Reklamefachleuten - so die Selbstdarstellung der Reklamebranche. 109 Vor der Markteinführung eines Produkts stand zunächst die Gestaltung eines einheitlichen Erscheinungsbildes mit gleichbleibend fester Verpackung und Markennamen. Die Verpackungen von Luxusgütern wurden schon früh geschmückt, bemalt oder geschnitzt.110 Verhältnismäßig teure Verpackungen, z. B. Flaschen, waren bei diesen Produkten eher gerechtfertigt. So begann J. M. Farina 1714 mit seiner Parfümproduktion, dem ,Eau de Cologne4. 1760 wurden im Jahr 4.000 Flaschen verschickt; 1809 waren es schon 4.000 Flaschen wöchentlich. 111 1868 begann eine Firma in Berlin Bier in Flaschen abgefüllt zu verkaufen. Andere Firmen folgten und lange waren die verschiedensten Flaschenformen charakteristisch für die jeweiligen Markenbiere. Auch bei Maggi-Suppenwürze, Odol-Mundwasser, Pelikan-Tinten oder Sinalco-Limonade wurde die Flaschenform zum festen Markenkennzeichen. 112 Billige Blechschachteln und Konservendosen konnten seit Ende des 19. Jahrhunderts endlich in großen Mengen produziert werden. Während die Konservendosen meist mit Papieretiketten beklebt wurden, war man bei den Blechschachteln nun auch in der Lage, die zugeschnittenen Blechteile vor dem Falzen und Löten zu bedrucken. Neben der Verwendung für Konserven wurden Blechdosen zunächst für Kekse, später auch für Schuhmacherpech, Harze, Schuhcreme und für Waren, bei denen der Aromaschutz an erster Stelle stand, wie Tee, Kaffee und Tabakwaren verwendet. 113 Die Verpackungsbranche wuchs: „ Unzählige Waren und Werte würden bei aller Genialität der Technik, Industrie und Kunst immer sehr unansehnlich und reizlos bleiben, wenn man sie nicht zu packen, zu bekleiden, mit Etiketten und schöner Gewandung zu versehen gelernt hätte. Die Industrie, Kunst und Wissenschaft der Waren-Bekleidung ist vielleicht ausgebildeter und großartiger, als irgendeine Fabrikation von Waren. " 1 1 4 Seitenlang erging Cronau sich über die Entwicklung und Formen der rasch wachsenden Verpackungsindustrie. In einem Artikel der Zeitschrift für moderne Reklame4 wurde die Rolle der Verpackung als Reklameträger gepriesen. Sie werte die Ware auf und sei Träger der Marke und des Warenzeichens. Denn in erster Linie unterscheide der Käufer die
108
Wie man in Deutschland annoncirt, in: Die Reklame, Heft 19/1895, S. 334-338,
S. 334. 109 110 111 112 113 114
Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 240. Vgl. Die schöne Hülle, S. 7-11. Vgl. Leithererl Wichmann, S. 98 f. Vgl. ebd., S.64. Vgl. Feuerhorst/Steinle, S. 45. Cronau, 1. Abhandlung, S. 50; S. 54.
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C. Reklame im Geschäftsalltag
Ware anhand der Verpackung. „ Wichse ist Wichse. Das Produkt von Schulze erscheint dem Auge des Käufers nicht anders als das von Müller, einfach schwarz."" 5 Erst im Gebrauch könnten Unterschiede ausgemacht werden. Durch die unterschiedliche Verpackung erreiche man jedoch eine ,Individualisierung 4 des Produkts. Eine gute Packung sei in ihrem Wert nicht zu unterschätzen, oft werde die gesamte Packung zum Markenträger, an der das Produkt leichter zu erkennen sei als an kleinen Markenzeichen. 116 Verpackungen bestimmten auch die Warenpräsentation im Schaufenster. „ Und dann nicht zu vergessen: Die fabelhafte Reklamewirkung im Schaufenster! Unsere modernen Packungen zaubern die wunderbarsten Farbensymphonien hervor. " 1 1 7 Die Verpackung wurde auf diese Weise zu einer neuen Kommunikationsform zwischen Produzenten und Konsumenten. Früh wurde auf die Einheit hingewiesen, die alle Reklameträger bilden sollten. Gerade die Verpackung bot hierzu einen Ausgangspunkt, sie konnte auf den anderen Reklameträgern wieder erscheinen. So fanden sich beispielsweise Odol-Flaschen in Anzeigen und auf Plakaten wieder. Auch die Zweckmäßigkeit einer Verpackung konnte sich als werbewirksam erweisen. Als besonders einfallsreich erwies sich die Keksfabrik Bahlsen. Schon 1900 wurde eine „Direktrice" m nach England geschickt, um Verpackungen zu studieren. In Amerika kaufte die Firma 1904 ein Patent für ,luftdichte 4 Verpackungen seiner Leibniz-Cakes.119 Im selben Jahr später wurde der Künstler Heinrich Mittag mit einer neuen Gestaltung beauftragt. 1908 wurde die luftdichte Packung auf den Markt gebracht. Neben der ansprechenden Gestaltung versprach diese Packung dem Käufer: „Hygienischer Wert, Schutz vor allen äußeren Einflüssen, Beste Haltbarkeit, Praktisch, Feste Preise, Schnelles Öffnen des Pakets durch Aufreißer, Leichtes Verschließen nach Entnahme des Inhalts. " Dem Verkäufer hingegen wurde versprochen: „Bequemer Verkauf Kein Abwiegen, Kein Bruch, Keine wertlosen Dosenreste, Kein Verlust, Keine Dosen- und Kisten-Rücksendung, Kein unerwünschtes Verkosten." 120 Die Firma packte Kleinstmengen zum Verkauf auf Sportveranstaltungen oder an Bahnhöfen ab. 121 1914 brachte Bahlsen eine spezielle Packungsserie mit Ausschneidemotiven für Kinder heraus. 122 Als besonders gelungen galten auch die Teebüchsen von Hen-
115
Ebd., S. 21. Vgl. Einkauf von Packungen, in: Organisation, Nr. 13/1910, S. 301-302, S. 301. 117 Schmidt·. Tabak und Reklame, S. 62. 118 Hermann Bahlsens Keksfabrik, S. 12. Vgl. auch Engel, S. 121-141. 119 Vgl. Bongard, S. 172 f. Vorbild war möglicherweise die 1899 patentierte luftdichte Verpackung der amerikanischen Uneeda-Bisquits, die ebenfalls ihre Packung in der Reklame herausstellte und mit ,In-Er-Seal' benannte, vgl. Strasser, S. 34. 120 Merkblatt oder Packungsaufdruck, abgedruckt in: Hermann Bahlsens Keksfabrik, S. 82. 121 Vgl. Bongard, S. 172 f. 122 Vgl. Packungsreformen, in: Organisation, Nr. 6/1914, S. 137-138, S. 137. 116
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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kel: sie besaßen vorne eine kleine herausziehbare Schnute, mit der man den Tee genau dosieren konnte. „ Jedenfalls wird ohne weiteres behauptet werden können, daß überall Artikel mit Originalverpackungen vorgezogen werden, trotzdem sie regelmäßig teurer sind als die gleichen Artikel, die in losen Mengen käuflich sind." m Das Scheuerpulver Vim warb 1911 mit seiner „eleganten, handlichen, dauerhaften, wirtschaftlichen, inhaltsreichen, verschlußsicheren Blechstreubüchse. " 1 2 4 Blechbüchsen wurden selbst zum Reklamemittel, wenn sie sich als besonders zweckmäßig herausstellten. Ein Butterhändler bot im warmen Sommer seine Ware in „hübsch ausgestatteten Butterbüchsen" an „ohne daß sich dadurch der Preis der Butter erhöht". 125 Stollwerck experimentierte mit verschiedenen Blechverpackungen, die ihren Nutzwert beibehalten sollten. 1902 schrieb die Firma Stollwerck einen Wettbewerb aus, der sich auf eine im Haushalt weiterverwendbare Verpackung bezog.126 Über die positive Annahme der Verpackungen durch die Käufer berichtete Michel 1908. Nicht nur, daß gleichbleibende Verpackungen einen Eingriff des Händlers in Warenmenge und -qualität erschwere und ein verkaufsfordernder Wiedererkennungseffekt durch die Verpackung erreicht werde; die Verpackung an sich sei begehrt. Das Publikum, besonders das reisende, entwickle eine Vorliebe für festere Verpackungen, zudem die Ware dadurch ein „vornehmeres, luxuriöseres Aussehen"127 gewinnen würde. Waren mit zweckmäßigen Verpackungen würden im Haushalt weiterverwendet und nicht - wie bislang üblich - umgefüllt. Mitunter nutze man die leeren Verpackungen für andere Zwecke; die Reklamewirkung für den Ursprungsinhalt bliebe aber bestehen. Tips für die sparsame Hausfrau empfahlen den Weitergebrauch alter Keksdosen und leerer Fleischextraktbüchsen. 128 Die mit den Markenartikeln eingeführten festen Verpackungseinheiten stießen allerdings nicht immer auf Wohlwollen. Alte Einkaufsgewohnheiten mußten fallen gelassen werden. So konnten Lebensmittel nicht mehr probiert oder gerochen werden. Die Käuferinnen mußten dem Güteversprechen der Hersteller glauben. Gerade in der Anfangszeit mußten viele Händler auf eigene Kosten Pa-
123
Albin Michel: Verpackung und Reklame, in: Plutus, Heft 8/1908, S. 147-148,
S. 147. 124
Anzeige, in: Die praktische Berlinerin, Heft 40/1911, S. I. Anzeige abgedruckt in: Wie man in Deutschland annoncirt (III), in: Die Reklame, Heft 19/1895, S. 334 -338. S. 337. 126 Von den 750 eingegangenen Entwürfen gelangte allerdings keiner zur Ausführung. Manuskript Kuske, S. 6 f. (StA). 127 Albin Michel: Verpackung und Reklame, in: Plutus, Heft 8/1908, S. 147-148, S. 148. 128 Zwei Ratschläge von 1888 und 1900, zit. bei Sibylle Meyer, S. 121; S. 155. Vgl. auch Die Reklame, Heft 19/1895, S. 335. Zu Verschlüssen Heinrich Pudor: Packungen, in: Organisation, Nr. 24/1909, S. 679-680. 125
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C. Reklame im Geschäftsalltag
ckungen öffnen, um dieser Gewohnheit Rechnung zu tragen. Die erhältlichen Größen entsprachen zudem nicht immer dem individuellen Bedarf. Besonders bei Konserven mißtrauten Kunden - zu Recht - dem unsichtbar verschlossenen Inhalt. Die Einwaage variierte erheblich und anfanglich verbreitet war die Praxis des ,Heraufetikettierens', der Auszeichnung mit neuen, verfälschenden Angaben enthaltenen Etiketten. 129 Um das „Mysterium der geschlossenen Konservenbüchse" 13° fur die Konsumenten zu lüften, gingen Warenhäuser dazu über, den Inhalt der entsprechenden Dosen in Gläsern sichtbar zu demonstrieren. Kritik an Verpackung und Reklamebroschüren als Verschwendung wurde nur sehr vereinzelt geäußert. Der Heimatschützer Ernst Rudorff gehörte dazu. Er beklagte das Abholzen der Wälder, das der gesteigerte Papier- und Pappeverbrauch nach sich zog. „ Wir aber genießen daßr das Glück, jedes Stück Seife, jedes Pfund Eiernudeln in besonderen Kartons nach Hause zu tragen und unsern Papierkorb täglich mit unzähligen Emballagen von der dünnsten bis zur dicksten Sorte, mit bedrucktem Briefpapier und Briefumschlägen, mit opulenten Anzeigen-, Einladungs- und Glückwunschkarten, mit Heften, ja Büchern ungelesener illustrirter Reklamekataloge frisch füllen zu können. " 1 3 1 Der Reklamefachmann Kropeit räumte ein, daß einige kaufkräftige Kunden Tüten und Einwickelpapiere mit Reklameaufdrucken aus anderen Gründen ablehnten. „Sie wollen sich nicht zu Reklameträgern des Herrn Schulze hergeben und verzichten, wenns nicht anders geht, lieber auf den Einkauf " l 3 2 Er empfahl, neutrale Verpackungen parat zu halten und kleine Reklamezettel in das Innere der Packung zu legen. Von besonderer Bedeutung für die Markenartikel war der Name, der nach und nach die herkömmliche Gattungsbezeichnung verdrängte. Ein Autor eines Artikels über Markennamen zweifelte, daß diese „in den Sprachschatz des Volkes übergehen" könnten. „Denn wird eine Frau, nicht nur eine Bauersfrau, wirklich sagen, dass sie mit ,Ding an sich ' auf der , Heureka' ihre Wäsche wasche und dass sie ihren Napfkuchen statt mit Butter mit, Siegerin ', ,Irma ', oder mit, Frauenlob ' backe? Dass die Aussteuer ihrer Tochter auf der ,Elektra' (einer Nähmaschine) oder auf der , Viktoriader , Germania', der , Adler' genäht wurde? Das fallt keiner Frau ein. " m Allerdings räumte er ein, daß bestimmte
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Vgl. Lux, S. 77. Ebd., S. 82. Die Detaillistenkammer Hamburg führte 1905 einen Test der Konserven durch, der große Schwankungen der Einwaage bestätigte, vgl. Unreelle Packung von Konserven, in: Jahresbericht der Detaillistenkammer zu Hamburg, 1905, S. 56 ff. Bemühungen um eine Standarddose blieben vergeblich. 131 Ernst Rudorff: Heimatschutz, in: Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, Leipzig, Jg. 56, Bd. 2/1897, S. 401-414, S. 408, S. 455-468. 132 Kropeit, S. 602. 133 Hugo Hillig: Wortzeichen, in: Organisation, Nr. 12/1909, S. 516-517, S. 517. Vgl. auch Richard Meyer, S. 288-291. 130
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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Markennamen, wie Singer, Pfaff oder Dürkopp bereits gängige Bezeichnungen seien. Das jedoch seien Ausnahmen und beträfen nicht alltägliche Konsumgüter. 134 Nach und nach ersetzten aber diese Begriffe die Gattungsbezeichnungen völlig, Mundwasser wurde zu Odol. 135 Singer-Nähmaschinen mußten sich gegen den Mißbrauch ihres Namens wehren, der zum Synonym für gute Nähmaschinen geworden war. 136 Auch Feigenkaffee wurde nur noch unter einem Markennamen verlangt. 137 Mitunter versuchte man, diese Markennamen auf recht direkte Art und Weise einzuführen. So forderte ein Backpulver: „ Sagen Sie , Reese' zum Kaufmann damit Sie ,Backwunder' erhalten. " 1 3 8 Von den Reklamefachleuten wurde eine so einprägsame Marke als „kolossaler geschäftlicher Wert" m erkannt. Der Markenname wurde zum Schlagwort eines neues Lebensstils. Statt unverpacktem, rohem Produkt wurde eine abstrakte Hülle Informationsträger. Den Käufern wurde eine ,Dekodierung 4 dieser Botschaft abverlangt. 140 Erfolgreiche Einführungskampagnen für Markenartikel griffen auf diese Elemente - Name und Verpackung - zurück und banden sie in eine umfassende Reklamestrategie ein. Gerade in die erste Reklame für ein Produkt wurden oft enorme Summen investiert. Die Einführungsreklame von Liebig's Fleischextrakt war so erfolgreich, daß die ,Reklame' bescheinigte: „ Wer Liebig ist, das wissen wir ebenso, wie wir wissen, wer Bismarck oder Bebel ist. " 1 4 1 Als vorbildlich in der umfassenden Einführungsreklame galt Odol; hier wurde intensive Reklame mit künstlerischem Anspruch verknüpft. 142 Die Einführungsreklame, bei der in allen wichtigen Zeitungen zum selben Tag die erste große Anzeige für Odol erscheinen sollte, kostete 1,5 Millionen Mark. 143 Auch andere Firmen gaben rie134
Vgl. ebd. Laut Mataja wurde zur gleichen Zeit in Wien schon Brot als Markenartikel verkauft. Vgl. Mataja, S. 436. 135 So muß der Sinn des „blauen Odolglases" in einem Roman nicht mehr erklärt werden, vgl. Döblin: Wadzeks Kampf mit der Dampfmaschine, S. 123. 136 Andere Firmen warben damit, Singers herzustellen. Singer prozessierte lange und konnte erst 1903 gerichtlich durchsetzen, daß Singer eine Marken- und keine Gattungsbezeichnung sei, vgl. Fritz Blaich: Amerikanische Firmen in Deutschland 18901918, Wiesbaden 1984, S. 24 f. 137 Vgl. Giorgio Graf von Buonaccarsi: Über künstlerische und gute Geschäftsmarken, in: Vom sprachlichen Kunstgewerbe, Heft 2/1909, S. 1-7, S. 1. 138 Anzeige, in: Zeit im Bild, Heft 40/1911, S. I. 139 Giorgio Graf von Buonaccarsi'. Uber künstlerische und gute Geschäftsmarken, in: Vom sprachlichen Kunstgewerbe, Heft 2/1909, S. 1-7, S. 1. 140 Vgl. Hans Ulrich Reck Als die Markenartikel laufen lernten, in: Der Alltag, Heft 1/1987, S. 22-29, S. 23. 141 Wie man in Deutschland annoncirt, Teil II, in: Die Reklame, Heft 15/1895, S. 284. Als ähnlich bekannt wurde Maggi beschrieben. 142 Vgl. Propaganda im grossen Stil, in: Die Reklame, Heft 4/1896, S. 62-63, S. 63. 143 Vgl. B. Romm: Die Reklame von heute und ihre Organisation, in: Das Kontor, Heft 7/1912, S. 355-361, S. 355; Seidels Reklame, Heft 1/1913, S. 50.
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C. Reklame im Geschäftsalltag
sige Summen für Reklame aus. U m 1900 wurde für das Eiweiß-Präparat Tropon ein Reklameetat von 1 M i l l i o n Mark angesetzt. 144 Knorr gab 1901 140.000 Mark für Reklame aus, sieben Jahre später hatte sich die Summe verdreifacht. 1 4 5 Kathreiners Malzkaffee investierte 1897/98 allein in die beliebten Zugabeartikel (Kaffeelöffel etc.) 591.090 Mark. 1912/13 inserierte die Firma regelmäßig in dreiviertel der deutschen Tagespresse. 146 Persil setzte i m Einführungsjahr 1907 den Reklameetat mit 800.000 bis 1 M i l l i o n Mark an. 1 4 7 Ganzseitige Anzeigen (zu der Zeit noch äußerst ungewöhnlich), Plakate und Probepackungen, begleitet von einer großen mündlichen Propaganda durch Reisende, mit der Kolonialwarenhändler und vor allem ihre Frauen, sowie gewerbliche Wäscherinnen gewonnen werden sollten, bildeten eine der umfassendsten Einführungsreklamen der Zeit. Schon bevor Persil überall erhältlich war, wiesen Annoncen darauf hin:
„In allernächster Zeit kommt das neue Waschmittel,Persil' auf den Markt, mit dem man durch einmaliges Kochen ohne Mühe, ohne Reiben, blendend weiße Wäsche erzielt, dabei garantiert der Fabrikant die absolute Unschädlichkeit für die Wäsche. Vollständig ungefährlich bei beliebiger Anwendung. Passen Sie auf, Annoncen geben bekannt, wann ,Persil' zu haben ist. " 1 4 8 Henkel g r i f f bei dieser Kampagne auf Erfahrungen mit früheren Produkten zurück. Die Einführungsreklame müsse so lange fortgeführt werden, „bis der Name oder die Marke ein feststehender Begriff geworden ist. " I 4 9 Oetker wies 1906 seine Vertreter auf eine bevorstehende Reklamekampagne i m kommenden Jahr hin. Dazu sei es notwendig darauf zu achten, daß dann das Backpulver auch w i r k l i c h überall zu haben sei. 1 5 0 Bücher beschrieb gerade die Einführung der neuen A r t i k e l als besonders reklameintensiv. Häufig müsse hier eine spezielle, aufklärende Form der Reklame 144 Vgl. Redlich, S. 162. Die Reklame wurde durch Peter Friesenhahn, der 1901 ein Reklamehandbuch veröffentlichte, konzipiert. 145 Vgl. Grammel, S. 254. 1896 wurde als Faustregel für einen Monat Einführungsreklame 10.000 Mark angegeben, vgl. Propaganda im grossen Stil, in: Die Reklame, Heft 4/1896, S. 62-63, S. 63. Für Kathreiners Malzkaffee wurde 1895 festgestellt, daß die Ausgaben für Reklame „Hunderttausende" betragen müssen. Und für Maggi gelte, daß bei Ausgaben, die „Millionen" betragen, sich in der Reklame „nicht viel verderben" lasse, vgl. Wie man in Deutschland annoncirt, Teil II, in: Die Reklame, Heft 15/1895, S. 282-286, S. 283 f. 146 Aust, S. 141 ff. Dabei wurden insgesamt 75.257 Inserate in 4.232 Blättern geschaltet. Der Großteil (67.995) entfiel auf die Tagespresse. 147 Vgl. Bornhofen, S. 30. Allein für Annoncen wurden 600.000 Mark ausgegeben, dazu kamen Plakate, Prospekte und die Spesen für die Reisenden. Fritz Henkel räumte ein, daß die Gewinnspanne durch solch Reklamekosten zunächst gering sei, der „hohe Umschlag" rechtfertigte jedoch die Unkosten schon im Juli 1908, ebd. S. 31. 148 Anzeige vom 6.6.1907 in der Düsseldorfer Zeitung, zit. nach: 1876-1976. Hundert Jahre Henkel, S. 48. 149 Ernst Growald: Der Reklame-Plan, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 69-75, S. 75. 150 Vgl. Bongard, S. 55.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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eingesetzt werden, um die Kundinnen von der Brauchbarkeit der noch fremden Waren zu überzeugen, ihre Anwendung zu erklären und einen Markt überhaupt erst zu schaffen. Vorführungen und Vorträge ergänzten die Reklame für „ neue Koch- oder Back- oder Waschverfahren". 151 Gerade die Markteinführung neuer Lebensmittel, Hygieneartikel oder technischer Produkte wie Schreibmaschinen wurde durch eine Einbeziehung und ,Erziehung 4 des Publikums unterstützt. Rezeptwettbewerbe wurden ausgeschrieben, und die Veröffentlichung eingesandter Rezepte würdigte den Einfallsreichtum der Hausfrauen in der Anwendung der zumeist neuen Produkte. Kochbücher, die zugleich Gebrauchsanweisung und Einweisung in neue Haushaltstechniken waren, konnten angefordert werden oder waren beim Detaillisten zu haben. Die auf die Verpackungen aufgedruckten Rezepte und Serviervorschläge kompensierten den Wegfall direkten Probierens und der sinnlichen Wahrnehmung der Ware. 152 Seit den achtziger Jahren fanden Markennamen (Liebig's Fleischextrakt, Hoffmanns Speisemehl, MaggiSuppenwürfel) Eingang in Kochbücher, die zum Teil von den jeweiligen Firmen finanziert wurden. Oetker begann, neben diversen Kleinbroschüren, 1901 „Dr. Oetkers Magazin", eine Zeitschrift für Küche und Haus herauszugeben.153 Die Produkteinführung des Eiweißpräparates Tropon 1898 war als „Aufklärungskampagne" konzipiert. Rezepte wurden den Frauen- und Familienzeitschriften beigelegt, ein Kochbuch erschien, und „ Wandervorträge mit praktischen Kochversuchen" 154 klärten über die Fortschritte in der Lebensmittelchemie und den Wert des Eiweißes für die tägliche Ernährung auf. Daß diese Markennamen in den Kochbüchern imperativen Charakter hatten, kann nur angenommen werden. Auch Frauenzeitschriften gingen dazu über, Rezepte mit Markenartikeln zu veröffentlichen, in denen keine Gattungsbezeichnung mehr vorkam. Häufig fanden sich in den gleichen Heften Anzeigen der Firmen oder redaktionelle Besprechungen', in denen über die Vorzüge des Produkts aufgeklärt wurde. 155 Besonders professionell in der Reklame als Aufklärungsarbeit, zugeschnitten auf verschiedene Berufsgruppen, ging Kathreiners Malzkaffee vor. 1909/10 wurden rund 120.000 Menschen durch Vorträge erreicht. Zwei Jahre später wurden 285.000 Propagandabriefe an Ärzte, Hebammen, Koch- und Haushaltungsschulen, sowie an Volksschullehrerinnen und -lehrer verschickt, in denen ihnen die Rolle als vermittelnde Autorität zugeschrieben wurde. Sie sollten sich nach einer umfassenden Aufklärung über die Vorzüge des Malzkaffees für dessen
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Bücher, S. 476. Vgl. Strasser, S. 40 f. 153 Später als ,Fortuna-Haushaltsbuch', vgl. Franz Lerner. Aus der Geschichte der Werbung, Bielefeld 1958, o. P. 154 Lemcke/Friesenhahn, S. 236 f. 155 Beispielsweise im ,Neuen Frauenblatt' des Jahres 1898. Dort tauchten regelmäßig Rezepte und Besprechungen für Liebig's Fleischextrakt, Tropon, Mondamin und andere Marken auf. 152
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C. Reklame im Geschäftsalltag
Durchsetzung bei Kranken, Wöchnerinnen und Kindern einsetzen.156 Die übrigen Konsumentinnen erreichte man durch „Ausschankdamen", 157 die die Detailgeschäfte besuchten und in Sonderveranstaltungen den Malzkaffee anboten. Die massive Reklame war erfolgreich. Zwischen den Geschäftsjahren 1907/08 und 1913/14 verdoppelte sich der inländische Umsatz von Kathreiners Malzkaffee, obwohl eine Konkurrenz von rund 500 Kaffeesurrogatfirmen bestand, die alle billiger verkauften und den Detaillisten höhere Rabatte gewährten. 158 Etliche Hersteller der frühen Markenartikel lernten solche Reklame in dem darin fortschrittlicheren Ausland, meistens England, Frankreich oder den USA kennen. Erst nachdem sie sich dort von der Wirkung der Reklame überzeugt hatten, wagten sie entsprechende Versuche in Deutschland.159 So ist von den ersten Inhabern des Leinenhauses Grünfeld überliefert, daß sie 1878 von einer Reise zur Weltausstellung nach Paris Reklameluftballons und andere Reklameartikel mitbrachten. Nachdem der Firmengründer 1891 die USA besucht hatte, wurden Besuche in Amerika für alle Söhne Pflicht. Amerikanische Organisation und Reklame stand auf dem Studienprogramm. 160 Karl August Lingner, der Fabrikant von Odol, lebte in den achtziger Jahren eine Zeitlang in Paris. Von Oetker ist bekannt, daß er seine Anzeigen selbst gestaltete, nachdem er ausführlich amerikanische und englische Zeitungen studiert hatte und darin sicherlich auf die riesigen Kampagnen des amerikanischen Royal-Baking-Powder gestoßen war. 161 Hermann Bahlsen ging Ende der achtziger Jahre extra nach England, um dort die Herstellung von Dauerbackwaren kennenzulernen. 162 1889 schon übernahm er eine bei seiner Familie verschuldete Keksfabrik. 1893 stellte er seine ,englischen Cakes und Bisquits' auf der Weltausstellung in Chicago aus, studierte dort technische Neuerungen 163 und sah sich gewiß auch die Reklame anderer, vor allem amerikanischer Firmen an. Auch Mitarbeiter wurden immer wieder zu Bildungszwecken ins Ausland geschickt. Hermann Aust, der Geschäftsführer von Kathreiners Malzkaffee, machte seine Lehre in Nizza bei einem Drogisten, für den er bald ganz Europa bereiste. 164 Bei Aust wiederum lernte Ludwig Roselius, der eine Zeitlang in leitender Stellung bei Kathreiners
156 Vgl. Aust, S. 147-152. Daneben fanden mittelbare Reklameaktionen statt, wie die Stiftung eines Flugpreises in Höhe von 50.000 Mark. Vgl. Bilder aus aller Welt, in: Die Woche, Heft 18/1910, S. 765. 157 Aust, S. 111. 158 Vgl Redlich, S. 185. 159 Vgl. Kropeit, S. 27 f. 160 Vgl. Grünfeld: Das Leinenhaus Grünfeld, S. 51, 84; Heinrich Grünfeld, S. 270. 161 Vgl. Bongard, S. 54. 162 Vgl. Hermann Bahlsens Keksfabrik, S. 7. 163 Vgl. ebd., S. 8. 164 Vgl. Redlich, S. 158 f.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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Malzkaffee tätig war, bevor er Kaffee-HAG gründete. 165 Ludwig Stollwerck, ein Sohn des Firmengründers und zuständig für den Bereich der Reklame, bat nach einer Amerikareise 1902 den Vertreter der Stollwerck-Niederlassung in New York, ihm gelegentlich amerikanische Zeitschriften zuzusenden, damit er sich über die neuesten Reklametrends informieren könne. „ Ich fand besonders die Inserate in beiden Zeitungen ausserordentlich geschmackvoll gesetzt und können wir da wiederum etwas von den Amerikanern lernen. " ,66
3. Warenautomaten Ein weiterer Schritt, der im Absatz der Markenartikel die Händler entbehrlich machen sollte, stellte der Verkauf durch Automaten dar. Sie boten ausschließlich Markenartikel an und eröffneten die Möglichkeit, unabhängig von Ladenöffnungszeiten und ohne Verkäufer völlig anonym einzukaufen. Nach Spielautomaten entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts Verkaufsautomaten, zunächst in England. Die ersten Exemplare boten Zigarren an und wurden in Gaststätten aufgestellt. In den achtziger Jahren entstanden größere, für die Aufstellung im Freien geeignete Automaten. 167 Die ersten Automaten waren mit Handlungsanweisungen versehen: „ Um ein Probepacket Stollwerck 's Chocolade oder gemischte Bonbons zu erhalten Schiebe man Ein Zehnpfennigstück in den Schlitz und ziehe alsdann am Ringe. " 1 6 8 Die Präsentation der Waren geschah oft auf unterhaltende Weise. So verfügten einige Automaten neben Spiegeln, kleinen Dioramen und Schaufenstern auch über akustische Möglichkeiten oder es bewegten sich verschiedene Figuren. Eine ,gute Fee4 bot kleine Stollwerck-Schokoladen unter Musikbegleitung an. Ein Storch überreichte eine kleine Schokoladenpuppe und schrie gleichzeitig ,Mama!4 Auch Kinetoskope wurden integriert. 169 Häufig waren die Automaten selbst aufwendig gestaltet und die darin enthaltenen Waren prächtig verpackt. Stollwerck-Schokoladen enthielten ab 1897 kleine Sammelbildchen. Die Schokoladefirma Stollwerck erwies sich als besonders innovativ im Automatenwesen. Sie begann 1887 mit dem Verkauf kleiner Schokoladentafeln 165
Vgl. ebd., S. 159. Brief Ludwig Stollwerck an Volkmann, 14.1.1902 (StA). 167 Vgl. zur Geschichte der Automaten Cornelia Kemp : Vom Schokoladenverkäufer zum Bajazzo - Die Anfange der Münzautomatenherstellung in Deutschland, in: Wenn der Groschen fallt ... Münzautomaten - gestern und heute, hg. von Cornelia Kemp und Ulrike Gierlinger, München 1988, S. 10-24. 168 ,Liliput 4 -Automat (um 1900) im Imhoff-Stollwerck-Museum, Köln. 169 Kuske, S. 94. Kinetoskope waren eine frühe Form eines ,Kinos', bei dem der Betrachter in einen Kasten hineinsehen mußte, in dessen Inneren ein ca. 10 m langes Filmband mit Bewegungsszenen lief. 166
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C. Reklame im Geschäftsalltag
durch Automaten, die der Sohn des Firmengründers, Ludwig Stollwerck im Ausland kennengelernt hatte. 170 Zunächst waren die Automaten gedacht, um kleine Proben der eigenen Artikel anzubieten. Diese Verkaufsform entwickelte sich jedoch bald zu einem Renner, so daß Ludwig Stollwerck begann, neben der Schokolade auch Verkaufsautomaten für andere Firmen zu produzieren. Bis 1893 hatte Stollwerck allein für die eigenen Schokoladen und Bonbons 15.000 Automaten aufgestellt. 1894 wurde als Tochterunternehmen die ,Deutsche Automaten-Gesellschaft 4 gegründet, die Automaten vermietete oder verkaufte. 171 Bald wurden neben Schokolade vor allem Zigaretten, Postkarten und Toilettenartikel mittels Automaten verkauft. Farina (,471 Γ ) , die Zigarettenfirma Laferme und der Verleger Reclam gehörten zu den ersten Markenartikelproduzenten, die ebenfalls Automaten nutzten. Allerdings waren diese Artikel nicht so erfolgreich wie die Schokolade.172 Auch Eisenbahnfahrkarten wurden ab 1893/94 durch die Automaten der D.A.G. verkauft, im Gegenzug erhielt Stollwerck das Recht, Schokoladeautomaten auf den Bahnhöfen aufzustellen. 173 1904 setzte Stollwerck allein in der Schweiz für 385.000 Mark Schokolade durch Automaten ab. 174 In einer Fachzeitschrift wurde den Automaten eine große Zukunft prophezeit. Sie würden im Verkauf die ideale Ergänzung zur zunehmend maschinisierten Produktion darstellen. Dadurch, daß Verkäufer in naher Zukunft fast völlig überflüssig werden, könne der Verkauf enorm verbilligt werden. Die technischen Probleme sah man annähernd gelöst, dennoch mangele es an breiterer Anerkennung. 175 Kolonialwarenhändler betrachteten die Automaten als Konkurrenz, weil sie nicht an Ladenschlußzeiten gebunden waren. „Der Automatenbetrieb hat einen derartigen Umfang angenommen, dass der dem Detailhandel geradezu gefährlich zu werden beginnt. Während man früher nur kleine Mengen durch die Apparate bekam, gibt es jetzt Schokolade und Konfekt bis zu einem halben Pfund. Berücksichtigt man hierbei, dass abends nach Schluss der Geschäfte und Sonntags dieser Verkauf häufig nicht ausser Betrieb ist, ζ. B. auf Bahnhöfen vor den Perrons für jedermann zugänglich, so wird die Klage über den Missstand be-
170 Zu Stollwerck vgl. Kuske; Vàclav Hepner. Ludwig Stollwerck und die ,Automatie', in: Wenn der Groschen fällt..., S. 25-33. 171 Diese Firma war sehr erfolgreich und produzierte viel für den Export. Allein in New York standen in den neunziger Jahren 4.000 Stollwerck-Automaten, vgl. Hepner, S. 25. 172 Vgl. Hirsch: Der moderne Handel S. 223. 173 Vgl. Kuske, S. 90. 174 Vgl. Hirsch: Die Filialbetriebe, S. 99. 175 Vgl. Verkaufs-Automaten, in: Kontorund Laden, Heft 7/1902, S. 50-51.
III. Markenartikel und Automatenverkauf
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gründet erscheinen. " 1 7 6 Versuche, die ununterbrochene Warenpräsentation durch Automaten mittels Hinweisen auf das Ladenschlußgesetz zu unterbinden, griffen nur teilweise. A u f Bahnhöfen, so ein entsprechender preußischer Erlaß, zählten Automaten zu Einrichtungen der Eisenbahn und dienten dem Reisebedarf. Für sie galt das Ladenschlußgesetz nicht. 177 Die permanente Zugänglichkeit der Ware und die Anonymität des (Ver-) Kaufaktes galt als Ursache einer gesteigerten Genußsucht besonders bei Kindern. Unter der Devise des Jugendschutzes wurden die Automaten heftig angegriffen. Das , Waarenhaus' druckte 1901 einen langen Artikel nach, der vorher in der ,Kölnischen Zeitung' erschienen war, um sich dann der Kritik anzuschließen. Die zitierte Zeitung klagte: „ Schon so mancher sorgsame Familienvater hat am Arger über die endlosen Ansprüche, die seine Sprößlinge an seinen Nickelbestand machten, die Freimarken, die Ansichtskarten, die Liebigbilder und die Automaten dahin gewünscht, wo der Pfeffer wächst. " m Obwohl Automaten die Jugend zu „Entgleisungen verlocken" würden, habe man bisher kein Verbot erlassen. Nun aber habe der westfälische Regierungspräsident eine Eingabe an den Minister des Inneren und den für Handel und Gewerbe gerichtet. Er „geißelt zuvörderst die Bequemlichkeit, mit welcher der Automatenverkauf für den Käufer vor sich geht, der für Kinder ein nicht zu unterschätzendes Lockmittel bildet. Ohne von Eltern und Lehrern gesehen zu werden, können sie die Leckerei an sich bringen, während ein Kauf im Laden von vielen Kindern aus Schüchternheit gescheut wird. " Der überteuerte Preis der Automatenartikel werde von den Kindern nicht durchschaut. Am schlimmsten seien die Automaten mit Sammelartikeln. „Denn viele Kinder bleiben nicht dabei bestehen, ihr eigenes Geld in der bekannten Weise zu verzetteln, sie bestreiten, wenn ihre eigenen Geldmittel erschöpft sind, den Weg des Verbrechens, um, sei es nun der Leckerei, sei es dem Sammeln der Stollwerksbilder, weiter sich hingeben zu können. " 1 7 9 Das Leeren der Automaten mittels passender Bleistücke geschehe geradezu professionell, wenn andere Kinder dabei „,Schmiere stehen'". m Letzterem schloß sich ein Frankfurter Arzt an, der sich intensiv mit Diebstählen von Kindern beschäftigt hatte. Über Diebstähle aus Automaten durch die fremdes Eigentum erst langsam respektierenden Kinder brauche man sich nicht zu
176 18. Jahresbericht der Berliner Kolonialwarenhändler, 1908, S. 7 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 1208, Blatt 29). Die Angst vor der stets bereiten Automatenkonkurrenz muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß die Detaillisten gerade um den Erhalt der Sonntagsarbeit kämpften. 177 Vgl. Schliessung der Automaten im Verkehrsgewerbe, in: Handel und Gewerbe, Nr. 30/1902, S. 458-459. 178 Krieg den Automaten, in: Das Waarenhaus, Heft 38/1900, S. 3-5, S. 3. 179 Ebd., S. 4. Auch andere Regierungspräsidenten wandten sich gegen die Automaten, offenbar erfolglos, vgl. Kuske, S. 89. 180 Krieg den Automaten, in: Das Waarenhaus, Heft 38/1900, S. 3-5, S. 4.
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C. Reklame im Geschäftsalltag
wundern. 181 Auch in einer Frauenzeitschrift wurde das Problem unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes aufgegriffen. Um die Kinder nicht zur „Naschhaftigkeit und Begehrlichkeit" und zum „leichtsinnigen Geldausgeben" zu erziehen, wurde zur strikten Verweigerung des „ Automatengroschen " 1 8 2 geraten. Ab 1890 wurde die Kritik an den Automaten in ihr Gegenteil verkehrt: Stollwerck führte kleine „automatische Chokoladen-Sparkassen" ,83 ein, Miniaturautomaten, die als Geschenke für die Jugend gedacht waren. Damit sollten Kinder zur Sparsamkeit [!] erzogen werden, da diese kleinen nachfüllbaren Privatautomaten die Schokolade erst freigaben, wenn 10 Pfennige zusammengespart waren. Stollwercks weitere Strategie gegen die Vorwürfe der Jugendgefährdung bestand seit 1897 in der Herausgabe von lehrreichen Sammelbildchen und dazugehörigen Alben. 184 Eine weitere Stufe des Automatenverkaufs stellte die Einrichtung von Automatenrestaurants dar, mit denen 1896 in Deutschland begonnen wurde, nachdem 1892 in Paris ein Vorläufer eröffnet worden war. Das erste deutsche Restaurant wurde auf der Berliner Gewerbeausstellung vorgestellt und von einem der Hauptproduzenten der Verkaufsautomaten, Max Sielaff (der mit Stollwerck zusammenarbeitete) unterhalten. Hinter kleinen Glasscheiben konnten die meisten Speisen betrachtet werden. 1898 gab es in Deutschland schon über 50 dieser Automatenrestaurants. 185 Das Motto des neuen Einkaufens dort hieß: „Kein Trinkgeld, bediene Dich selbst, zwanglos, rasch und gut. " 186
I V . Kleinsthändler und Spezialgeschäfte Neben den Warenhäusern und Versandgeschäften blieben traditionellen Geschäftsformen bestehen. Kleinstgeschäfte sowie größere Spezialgeschäfte versorgten den Großteil der Bevölkerung mit Waren aller Art. Der Anteil der Warenhäuser am Gesamtumsatz war gering, dennoch regte diese Konkurrenz, ebenso wie die Zunahme von Markenartikeln im Sortiment auch der kleinen Geschäfte, zu neuen Reklameformen an. 187 Im folgenden sollen die kleineren Geschäftsformen mit ihrer alltäglichen Reklamepraxis vorgestellt werden und ge-
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Vgl. Laquer, S. 29 f. Der Automatengroschen, in: Die praktische Berlinerin, Heft 33/1905, S. 603. 183 Wenn der Groschen fallt..., S. 182. Die Automaten kosteten 1-3 Mark. 184 Vgl. Hepner, S. 29. 185 Vgl. ebd., S. 30. 186 Zit. nach Kemp, S. 19. 187 Gellately: An der Schwelle der Moderne, S. 136, weist auf einen Anteil der Warenhäuser am Gesamtumsatz von 3 % hin. In den Großstädten oder bestimmten Branchen, wie z. B. Textil, lag er jedoch wesentlich höher. 182
IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte
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fragt werden, inwieweit sich ein Einfluß der neuen Geschäfts- und Reklameformen nachweisen läßt. Erst das nächste Kapitel wird sich genauer mit den Debatten beschäftigen, die Mittelstandsverteidiger, Warenhausvertreter, Reklamefachleute und Volkswirtschaftler um die Reklame und den Fortschritt im Einzelhandel führten.
1. Die Kleinstgeschäfte Die große Mehrheit der Detaillisten konnte mit ihren Läden gerade die eigene Familie ernähren. Meistens waren diese Geschäfte, häufig von Frauen geführte Alleinbetriebe oder Nebenerwerbsbetriebe. 188 Die Fluktuation in den kleinen Läden, besonders in den Läden für Obst, Gemüse, Milch oder Kolonialwaren, war groß. 189 Nur wenige dieser Detaillisten verfügten über eine entsprechende Ausbildung, was sie nicht hinderte, billige Lehrlinge anzustellen, die dann ebenfalls nur mangelhaft ausgebildet wurden. 190 Nach Einführung der Gewerbefreiheit soll der Detailhandel zunächst über gut ausgebildete Kräfte verfügt haben. Als die Zahl der Kleinhandelsgeschäfte schnell zunahm und parallel dazu die Nachfrage nach Angestellten in Industrie, Verwaltung und Verkehr anstieg, wanderten Handelsgehilfen aus dem Detailhandel ab. In den Detailhandel verströmten nun die ungebildeten Kräfte. „ Proletarier und Proletarierfrauen mittelten je länger, je mehr die Versorgung der Städter mit täglichen Bedarfsartikeln. " 1 9 1 Besonders in den Gemischt- und Kolonialwarenläden nahm der Anteil ungelernter Menschen zu. 192
188 In Bremen waren 1904 fast ein Drittel Alleinbetriebe. Ihre Zahl wuchs besonders um die Jahrhundertwende und diente als zusätzliche Einkommensquelle für Arbeiterhaushalte. Nur 18 % der Einzelhändler besaßen Betriebe mit mehr als 4 Angestellten, vgl. Heinz-Gerhard Haupt: Kleinhändler und Arbeiter in Bremen zwischen 1890 und 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 22/1982, S. 95-132, S. 101 f. Die Hälfte der Kleinhändler hatten ihre Läden gemietet. In Berlin waren 1895 42 % der Lebensmittelgeschäfte Alleinbetriebe, dazu kamen noch 4,4 % Nebenbetriebe, vgl. Schmitz, S. 17. Haupt: Der Bremer Kleinhandel, verwendet den Begriff,Kleinstläden 4 . Er dient der Abgrenzung der kleinen Einzelhandelsgeschäfte, die oft nur von einer Person (häufig Frauen) geführt wurden und vor allem zur Kolonialwarenbranche und anderen Waren des täglichen Bedarfs zählten, von den größeren, durch gut ausgebildete Kaufleute geführten Spezialgeschäften. Trotz fehlender Trennschärfe übernehme ich den Begriff mangels Alternativen. 189 Vgl. Haupt. Kleinhändler und Arbeiter, S. 109. 190 Vgl. Peter Schöttler. Die Lehrlinge im Bremer Kleinhandel und die Einführung der Fortbildungsschulpflicht, in: Geschäfte, S. 137-175, S. 142 ff. 191 Hirsch: Der moderne Handel, S. 223 f. 192 In Halberstadt sank die Zahl der gelernten Kaufleute von 67 % im Jahre 1887 auf nur noch 34 % 1901. Der Anteil der Frauen, vor allem in den Alleinbetrieben, stieg während dieser Zeit stark an, vgl. ebd., S. 224. Frauen galten pauschal als ungelernt. Laut einer Umfrage verfügten in Köln nur 9 % der Lebensmittelhändler über eine entsprechende
Quelle: Heinrich Zille Photographien 1890-1010, hg. von Winfried Ranke, München 1975, S. 105
Abb. 8: Glas- und Porzellanhandlung, ca. 1912
Ein Beispiel für erste Reklameansätze solcher kleiner Händler und Händlerinnen beschrieb der Schriftsteller und Journalist Erdmann Graeser 1888 für Berlin: „(...) in den kleinen Läden und Kellern blühte das Geschäftsleben . Die Schaufenster ähnelten nun auch denen in anderen Gegenden. Der Schlächter an der Ecke der Steinmetzstraße stellte zwischen die Fleischstücke eine riesige Schmalzschüssel, in deren glänzendweiße Fettschicht Arabesken oder Zahlen aus Pfefferkörnern gedrückt waren, und der Seifenhändler zeigte - sehr künstlerisch auf schrägem Brett hergestellt - einen Stern, dessen Strahlen abwechselnd aus Stärke und Waschblau bestanden. Der neue Buchbinder erhöhte den Reiz seines Fensters durch eine Reihe kleiner und immer kleiner werdender nackter Porzellanpuppen, und der Kaufmann Pelschuß suchte die Konkurrenz dadurch zu schlagen, daß er auf die beiden Zuckerhüte ein Stück Zitronat legte. " Die Inhaber wechselten häufig. Die , Einführungsreklame 4 einer Kleinhändlerin wurde so beschrieben: „Ein paar Wochen stand das Kellergeschäft leer [...] da zog Frau Zimmermann ein, eine robuste Frau, die fest entschlossen war, hier ihr Glück zu machen. Sie stellte in die Mitte der Kellerluke einen großen Limburger Käse, rechts und links davon ein paar sauber mit Pergament zu-
Ausbildung, allerdings machten 31 % keine Angabe. Eindeutig branchenfremd waren
51 %, vgl. Schmitz , S. 57.
IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte
129
gebundene Wichskruken, dann ein Weißbierglas mit bunten Murmeln und - als Pendant - auf die andere Seite ein Glas mit Schieferstiften, ferner ein schönes Landbrot, eine Mausefalle und auf einem Teller ein paar fette Flundern. Außerdem brachte sie ein Schild mit der Aufschrift an: ,Hier kann gerollt werden und auf einem anderen Schild die geheimnisvolle Lockung: , Lauge gratis'." m Für jede Art des Alltagsbedarfs und jede Zielgruppe, Kinder eingeschlossen, wurde hier ein Teil der Ware als Lockung nach außen hin sichtbar gemacht: Reklame als Zeichen des dynamischen Händlergeistes der Frau Zimmermann. In den neunziger Jahren wandelten sich die Formen der Schau fensterdekoration. Die meisten dieser kleinen Detaillisten werden sich darüber hinaus weiterhin keine Reklame geleistet haben. Auf zeitgenössischen Fotografien sieht man jedoch gerade in den kleinen Läden die von den Markenartikelherstellern gelieferten Dekorationsartikel. Detaillisten erhielten diese für sie kostenlose Reklame, wenn sie die Markenartikel im Laden führten. Reklamekritiker nahmen daran Anstoß: „Kleine Krämer, die vielleicht in einem denkbar kleinsten Lädchen einige 1000,- Mark im ganzen Jahr umsetzen, lassen von ihren Lieferanten nicht nur ihr einziges Schaufensterchen mit derartigen Plakaten umrahmen, sondern oft genug sind auch die Zäune der Vorgärten sowie ein großer Teil der Hausfront in einer das Auge beleidigenden Weise mit Reklame-Schildern aller Art und Größe bedeckt. " m Biermer trennte diese Gruppe Händler, die rasch ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, von den eingesessenen, traditionell ausgebildeten kleinen Kaufleuten. Getragen vor allem durch Zuwanderer und Neulinge in der Branche seien Geschäfte entstanden, die „durch übertriebene Marktschreierei, widerwärtige Zudringlichkeit, erlogenen Komfort ihrer Schaufenster und einer Talmikulanz den Kundenfang, namentlich der Bauern- und Arbeiterbevölkerung, systematisch betrieben". Ihre Inhaber charakterisiere „nervöse Hast, Unruhe, gewinnsüchtige Arbeitsfreudigkeit, Spekulation und höchst riskante Umsätze". Für Biermer richtete sich der mittelständische Protest gegen diese neue Konkurrenz, in der Ansätze moderner Geschäftspraktiken („Schleuderkonkurrenz", „Reklamesucht" 195 und unlauterer Wettbewerb) verbunden mit mangelnder herkömmlicher kaufmännischer Ausbildung sichtbar wurden. Es waren jedoch nicht alle kleinen Geschäfte, vor allem für den täglichen Bedarf, auf Reklame angewiesen. Besonders die kleinen Kolonialwaren-, Milch-
193
Erdmann Graeser: Der Südwesten 1888. Bülow-/Ecke Steinmetzstraße, zit. nach: Geist/Kiirvers , S. 345 f. 194 Strecken- und Strassenreklame, in: Zeitschrift des Verbandes Deutscher AnnoncenExpeditionen, Heft 5/1913, S. 73-74, S. 74. 195 Biermer, S. 36. Biermer wetterte eingangs hart gegen den billigen Antisemitismus des Mittelstandes, seine Beschreibung deckt sich allerdings mit diesen antisemitischen Stereotypen. Vgl. Kap. Η. I. 9 Lamberty
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C. Reklame im Geschäftsaltag
oder Gemüsegeschäfte schienen auch weiterhin ohne Reklame existieren zu können bzw. nutzten die für sie kostenlosen Reklameangebote der Markenartikelhersteller. Oder aber sie spezialisierten sich auf Services, die Warenhäuser und Spezialgeschäfte nicht anboten. Sie hielten z. B. weiterhin an variablen Öffnungszeiten fest und verkauften auf Kredit. 196 Hier wurde noch lange um Preise oder Zahlungsmodalitäten gefeilscht. Die Öffnung am Sonntag wurde in den kleineren Läden beibehalten, und gegen deren Abschaffung machte sich massiver Widerstand breit. 197 1900 stellte die Handelskammer Hannover in einer Untersuchung fest, daß an vielen Orten noch 75 %, mitunter sogar bis zu 90 % der Waren auf Kredit gekauft würden. 198
2. Die Spezialgeschäfte Neben den Kleinstläden existierten große, oft wohlhabende Spezialgeschäfte (vor allem in der Konfektion, aber auch für Möbel, Schmuck, Leder etc.). Diese legten häufig großen Wert auf Reklame. Geschmackvolle Schaufensterdekorationen waren um 1906 die Regel. 199 Die meistens selbst gut ausgebildeten Inhaber dieser Läden kümmerten sich auch um die Nachwuchsausbildung. Die Grenze zu den Kaufhäusern, die sich ebenfalls nur auf eine Warengruppe beschränkten, war fließend. Sie selbst begriffen sich jedoch in der Regel als Opposition zu den Warenhäusern und deren Reklamepraxis. Einige der großen Spezialgeschäfte, vor allem im Rheinland, sind allerdings aus Warenhäusern hervorgegangen. Gerade in diesen Häusern wurden die bisherigen, warenhaustypischen Verkaufspraktiken beibehalten.200 Eine Reihe von Reklameformen fanden, oft unter dem Druck der Warenhäuser, aber auch des Publikums, bald auch in kleineren Spezialgeschäften Anwendung.201 Hirsch beobachtete, daß das Liefern der Waren - anfänglich nur
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Vgl. Hermann Landsberger. Der Achtuhr-Ladenschluß, in: Deutsche WirtschaftsZeitung, Heft 17/1905, Sp. 876-878. In Krisenzeiten warben Kleinhändler in Bremen damit, daß sie auf Kredit verkauften, während Konsumgenossenschaften an der Barzahlung festhielten, vgl. Haupt: Kleinhändler und Arbeiter, S. 126. 197 Vgl. Haupt: Der Bremer Kleinhandel, S. 22. 198 Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 88. 199 Schmitz, S. 41 f. 200 Der Nationalökonom Biermer trennte hier überhaupt nicht, vgl. Biermer, S. 122 f.; S. 170. Nach Einführung der Warenhaussteuer, die sich (s. u.) auf die Vielfalt der Warengruppen bezog, stießen einige Häuser bestimmte Warengruppen ab und fungierten als Spezialgeschäft mit nur einer Warengruppe - meist Textilien - weiter, vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 91. 201 Grunzel, S. 197 und Huber, S. 11 unterstellen v. a. Arbeiterfrauen, daß diese elegante Verpackungen und Ladenausstattungen forderten. Vgl. auch Berliner Firmenschilder, in: Die Geschäftspraxis, Heft 10/1896, S. 211-219, S. 213.
IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte
131
durch Warenhäuser praktiziert - mittlerweile gang und gäbe geworden sei. Auch das Annoncieren werde als Reklamemittel immer häufiger auch von anderen Geschäften - besonders der Textilbranche - wahrgenommen. Das wichtigste Mittel seien aber die Schaufenster. Hier seien die Warenhäuser vorbildlich und „zwangen so die größeren Spezialgeschäfte zur Nachahmung. " 2 0 2 Reklameformen wie die Warenlieferung stießen jedoch aus Kostengründen an die Grenzen der kleineren Geschäfte. 203 Ein umstrittenes Mittel der Kulanz war der Umtausch, der in erster Linie von Warenhäusern angeboten wurde. Mittelständische Verbände sprachen sich meistens gegen den Umtausch aus, da sie in diesem Service wegen der geringeren Auswahl nicht mit dem Warenhaus konkurrieren könnten. 204 Vor allem die größeren Spezialgeschäfte waren in Verbänden organisiert, die sich zunehmend weg von allgemeinpolitischen Mittelstandszielen hin zu pragmatischer Fachorientierung bewegten.205 So zeigte der Verein Bremer Ladeninhaber, dem viele Spezialgeschäfte angehörten, aufgrund seiner Mitgliederstruktur ein differenziertes Verhältnis zu moderner Geschäftspraxis. 206 Zwar waren in diesem Verein keine Warenhäuser organisiert, auch klagte man über die ,unlautere Reklame' und das Ausverkaufswesen vor allem der Warenhäuser, von deren Geschäftspraxis man sich distanzierte, aber an Gesetzen gegen Warenhäuser mochte man sich dennoch nicht beteiligen. Statt dessen propagierte man eine freiwillige Selbstbeschränkung in der Reklame und verurteilte die Erhöhung der Geschäftskosten durch die Reklame.207 Man fürchtete, daß eine in der Reklame sehr rege Konkurrenz der Warenhäuser den Einzelhandel zwingen würde, ebensolche Mittel (und damit Kosten) für die Reklame anzuwenden. Traditionelle Geschäftspraktiken wurden als fair, weniger aufwendig und gesund' dargestellt - im Gegensatz zu den degenerierten Methoden der modernen kapitalistischen Betriebsformen.
202 Hirsch: Das Warenhaus, S. 102. Ähnlich konstatierte der Vorsitzende des Nürnberger Detaillisten-Vereins 1908 bei einigen Detailgeschäften eine zunehmende Anpassung an Reklame- und Repräsentationsformen, sowie „rationelle" Organisationsformen und damit einen Wandel zu modernen Spezialgeschäften, vgl. Zitat bei Wernicke : Wandlungen, S. 38. 203 Vgl. Schmitz, S. 41. 204 Vgl. z. B. Die erste Hauptversammlung des Verbandes deutscher Detailgeschäfte der Textilbranche, 1908 (LAB/STA, Rep. 20-01, Akte Κ 311). 205 Vgl. Haupt: Der Bremer Kleinhandel, S. 22 f.; Robert Gellately: The Politics of Economic Despair: Shopkeepers and German Politics 1890-1914, London 1974, S. 60. 206 Saur stellt fest, daß in diesem 1893 gegründeten Verein überwiegend alteingesessene Geschäfte organisiert waren und die Branchenzusammensetzung nicht repräsentativ für die Gesamtstruktur des Einzelhandels war. So waren v. a. die Textilgeschäfte weit überrepräsentiert. Kolonialwarenhändler fehlten dagegen völlig, vgl. Saur, S. 43. 207 Vgl. ebd., S. 50.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
Hier soll vor allem der Verband Berliner Spezialgeschäfte im Mittelpunkt stehen. Der Verband wurde 1900 als Gegenorganisation zu den Warenhäusern und mit dem Ziel, Wohlfahrtseinrichtungen fur Angestellte zu schaffen, gegründet. 208 In der Vereinssatzung wurde der Kampf gegen unlauteren Wettbewerb als Aufgabe verankert, aber auch hier vollzog sich eine Abkehr vom reinen Schutzverein. Der Kampf gegen die Warenhäuser wurde schnell aus dem Programm gestrichen, die Grenzen verschwammen, da einige Spezialgeschäfte zu Kaufhäusern wurden, unter die Warenhaussteuer fielen oder zugleich im Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser Mitglied waren. 209 Die Ausarbeitung besonders geschmackvoller Reklameformen war Teil eines Abgrenzungs- und ProfilierungsVersuches gegenüber den Warenhäusern. 210 Ahnlich versuchte man sich ,nach unten4 abzugrenzen, und der Grad moderner Geschäftsführung wurde zum Kriterium der Mitgliedschaft. 211 So verneinte der Gründer und erste Vorsitzende Fritz Gugenheim die gegensätzliche Position der Spezialgeschäfte zu den Warenhäusern in Bezug auf ihre Stellung zu modernen Geschäftsmethoden, führte dann aber völlig unterschiedliche Geschäftsprinzipien aus, die beide als ,modern 4 zu charakterisieren seien. Er betonte wiederholt die „ individuelle Note" 212, die persönliche Anrede der Kundschaft, das sachkundige Personal und die Qualität der Waren in den Spezialgeschäften. In den Warenhäusern dagegen sei ein „schematisches Abfertigen der Kunden" 212, in anonymer Atmosphäre die Regel. Allerdings erfolgte nicht jede Anlehnung an moderne Geschäftsmethoden freiwillig. 1906 sah sich der Verband Berliner Spezialgeschäfte durch die Praxis der Warenhäuser gezwungen, den Kunden ebenfalls kostenlose Lieferungen der eingekauften Waren anzubieten.214 Auch über die Einführung einer Umtauschmarke wurde unter der Konkurrenz der Warenhäuser diskutiert. „Es kommt darauf an, das Publikum von den Warenhäusern abzulenken und den Spezialgeschäften wieder zuzuführen." 215 Nachdem schon 1909 geplant wurde, einen gemeinsamen Katalog
208
Vgl. Wein, S. 115 f.; Handbuch wirtschaftlicher Vereine, S. 80 f. 1912 gehörten dem Verein 250 Geschäfte an. Als reiner Fachverband läßt er sich nicht einordnen, da ihm nur überwiegend, aber nicht ausschließlich Textilgeschäfte angehörten. 209 Vgl. Wein, S. 116; Uwe Spiekermann: Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1994, S. 165. 210 Vgl. Behrendt S. 53. 211 Vgl. Wernicke : Wandlungen, S. 45 f. 212 Gugenheim: Warenhäuser, S. 32. 213 Ebd., S. 40. 214 Vgl. Tätigkeits-Übersicht des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller 1906, hg. vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, o. O., o. J., S. 20. In diesem Dachverband war auch der Verband Berliner Spezialgeschäfte organisiert. 215 Vgl. Das Kontor, Heft 3/1914, S. 3.
IV. Kleinsthändler und Spezialgeschäfte
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„ vornehmen Stils" herauszugeben und an „50.000 bestsituierte Familien" 2I6 zu senden, wurde 1914 erneut ein Vorhaben preiswerter gemeinschaftlicher Reklame gefaßt. In den Vorortbahnen des westlichen Stadtviertels sollten Plakate geklebt werden. 217 Durch ihre Spezialisierung auf gehobene Qualität, Service und persönlichere Atmosphäre konnten sich die Spezialgeschäfte meist gut behaupten; sie begriffen sich als Ergänzung fur den gehobenen, individuelleren Bedarf und warben mit diesem Image. 218 Allerdings fand diese Entwicklung erst in Auseinandersetzung mit den Warenhäusern statt. Erst dieses Konkurrenzverhältnis führte, auch in den Augen der Spezialgeschäfte, dazu, „daß die Berliner Spezialgeschäfte sich mehr und mehr den Bedürfnissen ihrer Kundschaft in bedie Auslagen zug auf die Ausstattung ihrer Läden, ihre Verkaufseinrichtungen, ihrer Schaufenster etc. anpassen und man kann sagen, daß hier die Konkurrenz eine wohltätige erzieherische Wirkung ausgeübt hat. " 2 1 9 Der Vorsitzende des Verbandes betonte 1910, „daß energische und modern denkende Detaillisten mit ihren Spezial-Geschäften prosperieren. " 220 Zum Teil profitierten sie von den Warenhäusern, wenn diese zur Belebung neuer Einkaufsstraßen beitrugen und die Spezialgeschäfte sich zugleich durch einem Schwerpunkt auf höherer Qualität von diesen abhoben.221 So betonte auch der Reklamefachmann Steindamm, daß gerade die Spezialgeschäfte im vornehmen Berliner Westen die Konkurrenz der Warenhäuser nicht fürchteten: „ihre Kundschaft ist von der der Warenhäuser sehr verschieden, sie zählen fast nur Angehörige der oberen Klassen zu ihren Käufern. " 2 2 2 Die Reklame wurde Mittel der Differenzierung und in Form und Inhalt auf das entsprechende Publikum abgestimmt. Die in den größeren Spezialgeschäften weitgehend verbreitete Auffassung, daß Reklame ein notwendiges und auch taugliches Mittel zur Absatzförderung sei, empfahl Gugenheim auch den anderen Detailgeschäften. Gerade nach dem eher schlechten
216 Vom Verband Berliner Spezialgeschäfte, in: Mitteilungen des VDR, Heft 4-5/ 1909, S. 2. 217 Vgl. Das Kontor, Heft 12/1914, S. 1. In der Konzentration auf die westlichen Vororte zeigt sich, daß man eher auf die kaufkräftige Bevölkerung setzte. Solche Kollektivreklame planten auch die Düsseldorfer Spezialgeschäfte, vgl. Neue Richtlinien des Verbandes der Düsseldorfer Spezialgeschäfte, in: Das moderne Geschäft, Heft 17-18/ 1913, S. 11. Sie verpflichteten außerdem ihre Mitgliedern zur Einführung der „Besichtigung ohne Kaufzwang". 218 Vgl. Leon Zeitlin: Die Berliner Detailgeschäfte im Wirtschaftsjahr 1913, in: Das Kontor, Heft 11/1914, S. 32-34, S. 34. 219 Tätigkeits-Übersicht des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller 1906, S. 20. 220 Fritz Gugenheim: Der praktische Nutzen der Schaufenster-Wettbewerbe, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 3/1910, Sp. 105-108, Sp. 106. 221 Vgl. Lederer: Mittelstandsbewegung (1910), S. 989. 222 Steindamm, S. 20. Vgl. auch Schmitz, S. 63; Lux, S. 68.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
Wirtschaftsjahr 1913 bleibe eine „intensivere Reklame [...] das einzige Mittel, um den Absatz zu heben ". 223 Daß die großen Spezialgeschäfte seitens der Mittelstandsbewegung nicht kritisiert wurden, führte Biermer darauf zurück, daß die Entwicklung in der Geschäftspraxis eine größere Kontinuität als bei den Warenhäusern aufzeigte. Sie wurden nicht so offen mit der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung assoziiert wie die Warenhäuser. 224 Mitunter vertraten auch Inhaber größerer Spezialgeschäfte, die selbst durchaus professionell die neuen Absatzmethoden einsetzten, eine Position, die die Absatzmethoden der Warenhäuser als Gefahr fur den gesamten Mittelstand darstellen. Das heißt, daß die Bedrohung der kleinen Geschäfte, von denen man sich sonst gerne distanzierte und die z. T. auch gar nicht in die Verbände aufgenommen wurden, für die Zwecke der größeren Spezialgeschäfte instrumentalisiert wurde, um eine stärkere politische Position gegenüber den Warenhäusern einzunehmen. Dennoch blieb ihre Haltung im Vergleich zu den explizit als Mittelstandsvertretung auftretenden Schutzvereinen moderat.
V. Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel Redlich hat auf den fundamentalen Einfluß der Reklame im Prozeß der Differenzierung der Geschäftsformen im Bereich des Handels hingewiesen. Reklame begünstige die Verdrängung des Einzelhandels alten Stils, der versuche, an seinen Individualabsatzmethoden festzuhalten, durch Warenhäuser, Massenfilialen und Versandgeschäfte. 225 Allein die für Reklame anfallenden Kosten, wie Miete für einen Laden mit großen Schaufenstern, professionelle Dekoration, Kosten für Warenausträger und Warenverpackung, belasteten kleine Geschäfte überproportional. 226 Die Handelskammer Braunschweig berichtete 1901, durch den Ausbau der Schaufenster und der Inneneinrichtungen der Geschäfte hätten sich die Kosten im Vergleich zu früher verdoppelt. 227 Diese Ausgaben aber seien erforderlich, um sich innerhalb der Branche zu behaupten.228
223 Leon Zeitlin: Die Berliner Detailgeschäfte im Wirtschaftsjahr 1913, in: Das Kontor, Heft 11/1914, S. 32-34, S. 34. 224 Vgl. Biermer, S. 122 f. 225 Ebd., S. 215. 226 Vgl. Mataja, S. 352 f.; Schär, S. 233 gab in einem Beispiel den Anteil der Reklamekosten am Endpreis einer Ware bei einem Großbetriebes mit 0,7 % an, bei einem „gut geleiteten Kleinbetrieb des Detailhandels " mit 1 %. 227 Dazu kämen Kosten für Ware, die durch die Schaustellung im Schaufenster unbrauchbar geworden sei, vgl. Mataja, S. 164, Fußnote. 228 Vgl. Blackbourn, S. 42. Er räumt ein, daß das größte Problem bei solchen Investitionen das fehlende Kapital bildete.
V. Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel
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Im Handel entwickelte sich die Auseinandersetzung mit der Reklame zu einer Auseinandersetzung um Innovationsbereitschaft generell. Aufgegriffen wurde diese Diskussion durch verschiedene Nationalökonomen und andere Theoretiker des Handels. Dabei konstruierten sowohl Reklamegegner als auch Befürworter zwei jeweils unterschiedlich bewertete Kaufmannsideale. Auf der einen Seite stand der traditionelle Kaufmann, der Reklame ablehne und auf der anderen Seite der moderne, diese Geschäftsmethoden nutzende Kaufmann. Man war sich einig, daß Konkurrenz und Reklame veränderte Anforderungen an den Kaufmann stellten und die Notwendigkeit wachse, sich mit diesen modernen Geschäftsformen auseinanderzusetzen. Von den Produzenten der verschiedenen Reklamemedien und den Warenhäusern wurde der verständliche Widerstand der Einzelhandelsgeschäfte als Rückschrittlichkeit angeprangert. Er führe zum selbstverschuldeten Untergang des Kleinhandels. Die Reklamebranche begeisterte sich für die moderne Geschäftsorganisation mit ihren zukunftsweisenden Möglichkeiten für „großzügige Verhältnisse, große Organisationen, große Geister " als Grundlage des Erfolgs. Fragen der Organisation würden den Mittelstand, dem das „kleinlich Wägende" 229 eigen sei, nicht interessieren. Johannes Wernicke, Syndikus des Verbandes der Waren- und Kaufhäuser, bezeichnete Mittelstandsvertreter als prinzipielle Gegner von Fortschritt, Kultur und Kapitalismus. 230 Gustav Schmoller folgerte aus den Zwängen eines rücksichtslosen Konkurrenzstrebens eine notwendige Veränderung der Kaufmannspsyche. „Die ganze Neubildung mußte die Mehrzahl aller Menschen psychologisch zu etwas anderem machen; sie mußten nun Tag und Nacht sinnen, billig einzukaufen, teuer zu verkaufen; am meisten trat dieses für alle Händler ein. Ihr Erwerbstrieb, ihre Energie mußte bedeutend wachsen. Der kluge, der findige, der pfiffige und rücksichtslose hauptsächlich kam voran, machte große Gewinne. " 2 3 1 Sittliche Werte seien dadurch gefährdet. Die Reklame und die Warenhäuser bewertete er als Hauptkennzeichen der „egoistischen Gewinnabsichten der Händler", 232 die im Konkurrenzkampf schließlich die kleinen Läden zum Aufgeben zwängen. Im kleineren, „etwas schläfrigen, des Kapitals und der Intelligenz oftmals entbehrenden" Detailhandel gebe es zweifellos „Fehler und Mißbräuche"; 233 um zu Überleben müsse es sich an die neuen, von Warenhäusern und Konsumvereinen eingeführten Absatzmethoden anpassen. Ähnlich sah der Nationalökonom Van 229
Die Rettung des Mittelstandes, in: Organisation, Nr. 5/1914, S. 110-111, S. 110. Diese Gegenüberstellung war beliebt, vgl. auch Wernicke : Kapitalismus, S. 226. 230 Vgl. Wernicke : Der Kampf um den wirtschaftlichen Fortschritt, S. 118 f. Vgl. auch ders.: Kapitalismus, S. 1-13. 231 Schmoller, S. 39. Weniger ablehnend, aber auch auf die Veränderung der Psyche bezogen Lamprecht: Deutsche Geschichte, S. 361. 232 Ebd., S. 40. 233 Ebd., S. 41.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
der Borght die traditionelle Kaufmannsethik in Gefahr, da allen, „die das Feld behaupten, deren Gewissen der Versuchung zum Gebrauch unlauterer Mittel am wenigsten Widerstand entgegensetzt. " 234 Vor allem Mittel stands Verteidiger erklärten die Reklame als nicht mit dem traditionellen Kaufmannsethos vereinbar und kritisierten sie als unlautere Methode des Wettbewerbs. Verbreitet war die Auffassung des Mittelstandsverteidigers Dehn, der nahezu alle Reklame auf die Gewerbefreiheit zurückführte und als Schwindel bezeichnete. Unlauterer Wettbewerb beruhte seiner Meinung nach auf der Reklame und stehe mit Sitte und Anstand im Widerspruch. 235 Für ihn war die Anpassung an moderne Reklamemethoden undenkbar. Er propagierte eine „stramme Selbstpolizei" 236, die - ähnlich den Handlungsrichtlinien der Zünfte - alle Reklamemethoden verhindere. Für ihn waren die Nutznießer der Gewerbefreiheit einzig die „ Träger des unlauteren Geschäftsgebahr ens ". 237 Gefahrlich seien die modernen Geschäftspraktiken vor allem deswegen, weil sie rasche Verbreitung fänden. „All' das fuhrt zu bedenklichen Rückwirkungen auf das ganze Geschäftsleben, zur Verallgemeinerung zweifelhafter Praktiken. Ein jeder will bestehen. Man sieht den Erfolg, wie ihn die Großbazare durch allerlei Kniffe erzielen, und der Einzelne erliegt schließlich der Versuchung. " 2 3 8 Hauschi ldt sah in den offenen Preisangaben die Wurzel der Preisschleuderei, da dadurch die Kaufleute mehr oder weniger gezwungen seien, den Konkurrenten zu unterbieten und das Publikum diese Preisunterbietungen genau verfolgen könne. „Es wäre wirklich ein Segen, wenn jede sichtbare Reclame, Preisverzeichnisse im Schaufenster und in der Hausthür verboten würde. " Erst dann kämen die wirklichen Qualifikationen des Kaufmanns, „ Waarenkenntnis, Geschmack und Reelität " 2 3 9 , wieder zur Geltung. Diese Verteidigung der ehrbaren Kaufmannssitten gegen Methoden unlauterer Reklame war bei Mittelstands Vertretern fast durchgängig zu finden. So wurde in einer Petition des Vereins Leipziger Kaufleute an den Reichstag zur Einführung der Warenhaussteuer 1898 argumentiert: „ Thatsächlich ist es nicht mehr Reellität, Intelligenz, Solidität, die den Erfolg verheißen, sondern dem Studium der Manipulation, der Täuschung und der wildesten Reklame winkt der Lohn. " 2 4 0 Mit dem mittelständischen Kaufmannsethos war , Reklame-Machen4 nicht zu vereinen. So kam auch in dem Bild, das Oswald Bauer vom Kaufmann entwarf, Wettbewerb nur am Rande und Reklame
234
Van der Borght, S. 163. Vgl. hierzu v. a. Dehn: Hinter den Kulissen des modernen Geschäfts, passim. 236 Ebd., S. 4. 237 Ebd., S. 5. 238 Dehn: Großbazare, S. 26. 239 Hauschildt, S. 7. 240 Petition des Vereins Leipziger Kaufleute an den Reichstag zur Einführung der Warenhaussteuer vom 16.4.1898 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 857; Blatt 18). 235
V. Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel
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überhaupt nicht vor. Er propagierte ein Standesbewußtsein und ein Geschäftsverhalten, das allein auf ,Anstand4, ,guten Manieren 4 und (einer überholten Form von) Bildung beruhte. 241 Warenhausvertreter erklärten die seit Jahren rückläufige Zahl der gelernten Kaufleute im Detailhandel zum Beweis dafür, daß es sich hier um eine überholte Verkaufs form handle. Verschiedene Nationalökonomen rieten dazu, die Ausbildung der Kleinhändler den neuen Anforderungen anzupassen. Selbstverständlicher Teil der geforderten modernen Ausbildung sollte die Reklame werden. Grunzel sah in erster Linie die „untauglichen Individuen" 242 im Kleinhandel gefährdet; gut ausgebildete Kaufleute könnten durchaus bestehen. Sein Kollege Hirsch glaubte ebenfalls, daß ein qualifizierter, selbständiger Kaufmann dem Warenhaus durchaus standhalten könne. 243 Das Standesbewußtsein der wenigen, ehemals gut ausgebildeten, aber traditionellen Methoden anhängenden Detailhändler verknüpfte der Nationalökonom Biermer mit einer den Forderungen der Zeit nicht mehr entsprechenden Bildung, mangelnde Flexibilität und „eine(r) gewisse(r) selbstbewußte(n) Behäbigkeit. " 244 Der Mittelstandsvertreter Suchsland wandte dagegen ein, daß der Handel von „leichtfertigen Menschen " an sich gerissen würde und gelernte „ ehrbare " Kaufleute in dieser schwierigen und „verkehrten Welt" 245 vorsichtig geworden seien. Die Berechtigung, ,richtige4 Kaufleute zu sein, nahmen die kleinen Detaillisten auch insofern fur sich in Anspruch, als sie den Warenhäusern vorwarfen, ihre Geschäftsleitung in „unkundige Hände " 2 4 6 zu legen - eine deutliche Absage an die moderne, arbeitsteilige Geschäftsorganisation. Die vom Mittelstand selbst genutzten Formen der Reklame rechneten selbstverständlich nicht zu unreeller Reklame, das war die Kampfparole der Vertreter des mittelständischen Einzelhandels. Schon 1892 wurde in der ersten Fachzeitschrift für Reklame festgestellt, daß deutsche Geschäftsleute wegen der Vorbehalte gegen Reklame es vorzögen, ihre Geschäftsmethoden nicht als Reklame zu bezeichnen. „Detaillisten, welche prächtige Schaufenster besitzen und sich eigene Dekorateure fur dieselben halten, leben nicht auch selten in der Einbildung, daß sie keine Reklame nothwendig haben und derselben keine Opfer zu
241 Vgl. Oswald Bauer: Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, Dresden 1906. Ein noch idealisierteres Bild des am gesteigertem Umsatz völlig desinteressierten Kaufmanns, der allein die Versorgung der Menschen mit Waren bester Qualität im Sinn habe, entwarf Jaroslaw. 242 Grunzel, S. 196. 243 Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 103 f. 244 Biermer, S. 36. 245 Suchsland S. 73. 246 Wirtschaftliche Umbildungen, in: Detaillist und Publikum, Heft 14/1913, S. 1-2, S. 2.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
bringen brauchen. " 2 4 7 Die ursprüngliche begriffliche Herleitung der Reklame aus dem Anzeigenbereich mag ein Grund dafür sein, daß das Schaufenster lange nicht als Reklamemittel galt. Ein zweiter Grund lag in dem Standesethos, demzufolge Reklame verwerflich war. Der Handelslehrer Büsch hielt es angesichts eines solchen Ehrbewußtseins fur notwendig, in seinem Reklamehandbuch darauf hinzuweisen, daß Reklamemachen nichts sei, „ dessen sich der ehrliebende Kaufmann zu schämen hat. " 2 4 8 Wer Reklame machte, tat es meist stillschweigend. „ Wer also immer noch behauptet, sein Geschäft ohne Reklame betreiben zu können, der ist ein Geschäftsmann, dem es trotz aller Erläuterungen nicht gelingen will, sich über den Begriff Reklame klar zu werden, oder er ist ein verschämter Reklamemacher. " 2 4 9 Die Weihnachtsreklame galt neben der Schaufensterdekoration als ,erster Schritt 4 der Kaufleute hin zu einer modernen, durchorganisierten Reklame. „Ja, Weihnachten rührt alles die Reklametrommel! Sogar der zugeknöpfteste Spießer in Schöppenstadt oder Schiida zählt in diesen Tagen sorgsam die Groschen für ein Inserat oder gar mehrere auf seiner Ladentafel ab und bringt seufzend dem Zeitgeist das leider unvermeidliche Opfer." 250 Ein gewisses Maß an modernen Geschäftspraktiken als Form der Selbsthilfe wurde von vielen Autoren, auch Vertretern des Mittelstandes, für unerläßlich gehalten, um dem Wettbewerb standhalten zu können. „Heute müssen eben auch Aufmachung', Einkauf, Verkauf, Dekoration und Reklame studiert werden, wie man früher höchstens der Warenkunde und Kalkulation Interesse entgegenbrachte. " 2 5 1 Huber plädierte für eine gewisse Anpassung: „Heute hat man gelernt, dass es klüger und praktischer ist, die Methode zu erforschen, vermöge deren die Konkurrenten den Vorsprung erreichten, und die Wege der Nachbarn zu gehen. " 2 5 2 Er erkannte in den modernen Methoden einiger Geschäfte eine Form der Selbsthilfe, die er auch anderen empfahl. „Der Erfolg vieler grossstädtischer Geschäfte zeigt, welchen Wert für sie ebenso, wie für die Warenhäuser eine intensive, ununterbrochene Reklame, eine gefallige Schaufensterdekoration, Hervorhebung und Specialisierung besonders günstiger Angebote in den Inseraten u. s. w. hat. " 2 5 3 Fritz Gugenheim, der Vorsitzende des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte, hielt die Gegenüberstellung von fortschrittlichen Warenhäusern und rückständigen kleinen Detaillisten für gefähr-
247
S. 28. 248 249 250 251 252 253
Friedrich
Renx: Ich brauche keine Reklame!, in: Moderne Reklame, S. 27-28,
Büsch, S. 4. Renx, S. 28. Zur Weihnachts-Campagne, in: Die Reklame, Heft 21/1896, S. 341-343, S. 342. Huber, S. 21. Ebd., S. 50. Ebd., S. 65. Vgl. auch Sombart'. Entwicklungstendenzen, S. 154.
V. Der Diskurs über Reklame und Fortschritt im Einzelhandel
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lieh und kritisierte diese, in seinen Augen fur die Zukunft der kleinen Händler „.fatalistische" 254 Sicht der Korporation der Kaufmannschaft. Gut ausgebildete Detaillisten könnten ihr Geschäft erfolgreich und mit einem eigenen, sich vom Warenhaus abgrenzenden Profil ausbauen. Ein anderer Autor, der ebenfalls den Kleinhändlern mangelnde Initiative vorwarf, hielt viele Methoden, derer sich die großen Warenhäuser bedienten, in modifizierter Form auch fur kleinere Geschäfte brauchbar. Reklame wurde dabei zur wichtigsten Form der Selbsthilfe. „ Selbsthilfe ist der einzige Weg zur Besserung, das sollten sich kleinliche Mittelstandsfreunde sagen, Selbsthilfe auf erwähnten Wegen, Selbsthilfe und Selbstzucht und Raffinement und rege Tätigkeit, dann kommt auch der Käufer wieder, der, dem Zuge der Zeit folgend, mehr Vertrauen zum Warenhause besitzt, der Treu und Glauben dort besser gewahrt sieht, der durch die Fehler und veralteten Verkaufsmethoden und Geschäftspraktiken des Kleindetaillisten dem Warenhaus in die Arme geworfen wurde. " 2 5 5 Die großen Spezialgeschäfte hätten dies erkannt; ihre Geschäftsmethoden seien modern und dadurch für die Warenhäuser eine emstzunehmende Konkurrenz. 256 Diese Argumentation wurde gängig und nahm im selben Maße zu, wie sich staatliche Eingriffe einer besonderen Warenhaussteuer etc. als untauglich oder unerreichbar erwiesen. 257 Nach 1905 schwächte sich der Widerstand des Kleinhandels gegen Warenhäuser und Reklame ab. Die befürchtete völlige Umwälzung des Handels war ausgeblieben. Seitens des Staates kam es zu einer wachsenden Distanz zu den Forderungen des Mittelstandes. Weitere Eingaben des Mittelstandes, beispielsweise zur Erhöhung der Warenhaussteuer (s.u.), wurden 1905 abgewiesen. Teilweise wurden bestehende Sonderregelungen für Warenhäuser wieder aufgehoben.258 Aber auch im Kleinhandel selbst verschwand nach diesen Teil- bzw. Mißerfolgen die Hoffnung, mit staatlicher Unterstützung rechnen zu können und man rief innerhalb des Standes verstärkt zur Selbsthilfe auf. Die Mehrheit der Schutzvereine setzte sich nun für die Aneignung moderner Reklamemethoden als Mittel der Selbsthilfe ein. 1907 wurde der Wandel der kaufmännischen Arbeit in der Mittelstandszeitschrift ,Der Detaillist4 festgehalten und ein Bild des modernen mittelständischen Kaufmanns skizziert. Früher habe der Detaillist höchstens zu Weihnachten ein paar Inserate geschaltet. Heute dagegen habe er große Fortschritte in der Geschäftsorganisation und der Reklame gemacht. „Der Ausstattung der Auslagen wird ganz besondere Sorgfalt gewidmet, in der Aufmerksamkeit der Kundenbedienung gewetteifert. [...] An Stelle der ein- oder
254
Gugenheim: Warenhaussteuer, S. 9. Vgl. auch ders.: Warenhäuser. Berendt, S. 24. 256 Ebd., S. 31. 257 Vgl. Wernicke : Wandlungen; Gugenheim: Warenhäuser; Müffelmann: Mittelstandsbewegung, S. 53. 258 Vgl. Wein, S. 118 ff., 134. 255
Moderne
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zweimonatigen Weihnachtsannonce ist eine ausdauernde und intensive Reklame getreten; durch Versand von Offertschreiben und zumal durch Zeitungsanzeigen wird die Kundschaft ständig über Neueingänge, über besonders preiswerte Angebote und überhaupt all das auf dem Laufenden gehalten, was der Konkurrenz gegenüber als Vorzug in Betracht kommen kann. Der Detaillist von Heute muß gleich dem Grossisten andauernd mit dem Verlust von Kunden rechnen, sieht sich aber anderseits gezwungen, die Käuferzahl und den Umsatz auf der gleichen Höhe zu halten; daher ist er immer darauf aus, neue Kundschaft heranzuziehen. " 2 5 9 Trotz der vielen Vorbehalte gegen die Reklame, wachsende Kulanz und moderne Buchführung setzten sich auch in kleineren Geschäften Veränderungen durch. In der Folge kam es in einigen Verbänden sogar zur Zusammenarbeit von Warenhäusern, Spezialgeschäften und Kleinsthändlern. Der 1907 gegründete Nürnberger Detaillisten-Verein der Mode-, Textil- und Bekleidungsbranche erarbeitete in enger Zusammenarbeit aller drei Gruppen Richtlinien für den Nürnberger Handel. So wurden die Reklame, das Aus Verkaufs wesen und Preise bei Markenartikeln der Kurzwarenbranche festgelegt. Plakate des Vereins betonten die „reelle und gleichheitliche Geschäftsführung, 260 aller Mitglieder.
VI. Der reklametreibende Kaufmann als neues Selbstbild Die intensive Nutzung der Reklame durch die Warenhäuser und deren künstlerische Aufwertung zog eine Reformierung der Geschäftsmethoden des übrigen Einzelhandels nach sich. Teile des Handels propagierten diese Reformierung als Schritt zur Selbsthilfe und riefen zu intensiverem Einsatz der zuvor als unlauter oder unnötig empfundenen Reklame auf. Hier hatte die Auseinandersetzung mit modernen Geschäftsmethoden auch zu einer Umformung des herkömmlichen Kaufmannsbildes und zur Formulierung eines modernisierten Selbstbildes geführt. Die Annäherung an neue Geschäftsmethoden verlief auf verschiedenen Ebenen, teils war sie der individuellen Aneignung durch die Fachpresse überlassen, teils wurde sie durch Verbandsaktivitäten in Form von Kursen oder Wettbewerben initiiert. Untersucht soll nun werden, inwieweit die verschiedenen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse der Reklamepraxis angesichts der propagierten reklamefeindlichen Mittelstandspolitik ein spezifisches Reklameverständnis hervorbrachten, das Theorie und Praxis vereinte und Reklame als legitimen Bestandteil der modernen Geschäftsführung rechtfertigte.
259
Die Propaganda des modernen Detaillisten, in: Der Detaillist, Nr. 21/1907, S. 10 f. Vgl. Wernicke : Wandlungen, S. 43 f. Als ähnlich vorbildlich galt ihm der Verein Breslauer Detaillisten, der 1908 gegründet wurde. 260
VI. Der reklametreibende Kaufmann als neues Selbstbild
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1. Fortbildungskurse für Kaufleute Ab 1905 wurde der Ruf nach einer fundierten Aus- und Fortbildung der Detaillisten immer lauter. Ausbildung galt als aussichtsreicher Weg, um kleinere Geschäfte „existenzberechtigt und konkurrenzfähig" 1^ zu erhalten. Verschiedene Vereine bemühten sich, ihren älteren Mitgliedern, die nicht mehr durch die regulären Fortbildungsschulen zu erreichen waren, eine bessere Bildung zu vermitteln. Den Anfang machte die Hamburger Detaillistenkammer; der Bund der Handel- und Gewerbetreibenden nahm diese Idee auf. Neben grundlegenden Kenntnissen der Buchhaltung, Kalkulation und Geschäftsführung plante man in Hamburg mehrstündige Kurse über „die Kunst des Verkaufens", 202 die aber offenbar nicht durchgeführt wurden. Die Hamburger Detaillistenkammer engagierte sich auch stark für die , Vorträge zur Geschmacksbildung des Deutschen Kaufmanns', die Reklameaufklärung umfaßten (Vgl. Kap. F. III. 3.). Sie gewann Johannes Steindamm, den Reklamechef des Norddeutschen Lloyd als Referenten für eine gut besuchte Vortragsreihe über die Reklame.263 Auch der Verband für das kaufmännische Unterrichtswesen, der als fachlicher Ansprechpartner für kaufmännische Verbände diente, empfahl die Verkaufskunst als Lehrinhalt aufzunehmen. „In diesen allgemeinen Kursen müßten in gemeinverständlicher Weise dem Bildungsgrade der Hörer angemessene kurze Besprechungen über die gegenwärtige Lage des Kleinhandels und des Kleingewerbes vorgenommen, Hinweise auf die moderne Entwicklung und die allgemeinen Wünsche des Publikums gegeben und Fingerzeige zu einer geschickten, den Vermögensverhältnissen der Hörer angemessenen Reklame gegeben werden. (Also Schaufensterausstattung, Plakate, kleine Inserate, eventuell direkte Offerten u. dgl. m.). " 2 6 4 Lieselotte Hebeler bewertete 1936 in ihrer Arbeit über den Verband die Kurse zur ,Geschmacksbildung' von 1908 als Auslöser, sich überhaupt stärker mit einer breiteren Fortbildung der Kaufleute zu beschäftigen. 265 In der Praxis lag der Schwerpunkt der Fortbildungskurse offen-
261
Th. Schmersahl: Einrichtung von Kursen in Buchführung, Kalkulationslehre etc. (für selbständige Kaufleute), in: Fünfter Kongreß des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Unterrichtswesen, Wiesbaden, 5.-9. September 1905, Leipzig 1905, S. 175-183, S. 175. 262 Hamburger Detaillistenkammer an die Ältesten der Kaufmannschaft, Berlin, vom 6.12.1907. Bericht über die Kurse in Hamburg (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte 319, Blatt 19). 263 Vgl. Jahresbericht der Detaillistenkammer zu Hamburg 1912, S. 119. 264 Mitteilungen an die Mitglieder des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Unterrichtswesen, Nr. 20/1908, S. 442 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte 319, Blatt 29). 265 Vgl. Lieselotte Hebeler: Der Deutsche Verband für das kaufmännische Bildungswesen 1895-1935, Braunschweig 1936, S. 35 f.
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sichtlich auf Buchführung, Kalkulation und Geschäftskunde. 266 1912 wurde bei einer Umfrage des Verbandes unter den diversen Schulen, die solche Fortbildungskurse anboten, festgestellt, daß über die Reklame beim Thema »Technik des wirtschaftlichen Betriebes4 (Buchführung, Kalkulation etc.) als auch in der ,Geschäftsorganisation 4 (Statistik, Registratur etc.) unterrichtet wurde. Am häufigsten wurden innerhalb der , Fertigkeitskurse 4 praktische Fähigkeiten, z. B. Lackschrift vermittelt. Weiter stellte sich allerdings heraus, daß nur 5-10 % der Kursteilnehmer zu der erwarteten Zielgruppe der selbständigen Kaufleute gehörte. Den Großteil machten junge Gehilfen aus.267 Andere Organisationen ergänzten derartige Kurse durch weitere Veranstaltungen. So lud der Verein der Detaillisten Frankfurt a. M. 1907 zu einem Vortrag über die Einrichtung und Beleuchtung von Schaufenstern 4 ein. 268 Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller organisierte Arbeitsabende über Schaufensterdekoration und veranstaltete ab 1911 eine gut besuchte Vortragsreihe über Reklame.269 1912 wurde in den Räumen der großen Fachzeitschrift ,Die Textil-Woche4 ein kleiner ,Reklamewettbewerb für Geschäftsdrucksachen und Inserate4 mit Preis Verleihung organisiert. 270
266 Vgl. Protokoll der Ältesten der Kaufmannschaft, 9.7.1908 (LAB/STA, Rep. 20001, Akte 319, Blatt 31 ff.); Jahresberichte der Detaillistenkammer zu Hamburg 1905, S. 101 ff; 1906, S. 127 ff; 1908, S. 103 ff. In Berlin wurden solche Kurse durch die Korporation der Kaufmannschaft eingeführt und wurden, wie die in Hamburg, gut besucht. 267 Vgl. Joh. Buschmann: Veranstaltung von fach wissenschaftlichen und staatsbürgerlichen Abendkursen für selbständige Kaufleute und kaufmännische Angestellte, in: Ausschußsitzung des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Unterrichtswesen, Eisenach, 13.-14 Mai 1912, Leipzig 1912, S. 28-48, S. 33 ff., 44. Auch die Fortbildungskurse des Bremer Rabattsparvereins, die sich auf das „ Elementarste " beschränkten und von überdurchschnittlich vielen Lehrlingen des Kolonialwarenbranche besucht wurden, unterrichteten ab 1910 neben Buchführung und Rechtsfragen Lackschrift, vgl. Schöttler, S. 147. 268 Vgl. Der Detaillist, No. 10/1907, S. 7. 269 Zu den Vortragenden gehörten Mataja (Reklame und Publikum), Growald (Zweck und Nutzen der Reklame), Klinger (Psychologie der Reklame) und Albert Willner (Reklame und Presse), vgl. Tätigkeits-Übersicht 1911, S. 79. Es folgten offenbar weitere Vortragszyklen, vgl. Carol Hilarius: Ausstellung von Reklamedrucksachen, in: Mitteilungen des VDR, Heft 40/1913, S. 171-172. Über die Vorträge wurde ab 1913 regelmäßig in ,Das Kontor4 berichtet. Eine Reihe von Verbänden der Reklameindustrie und ab 1912 auch der VDR gehörten zu den Mitgliedern des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller. 270 Vgl. Tätigkeits-Übersicht 1912, S. 31; 1913, S. 56.
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2. Fachzeitschriften und -bücher Seit dem Beginn der neunziger Jahre erschienen Fachzeitschriften fur das Reklamewesen.271 Sie wandten sich jedoch häufig an ein Fachpublikum, während die Fachzeitschriften des Einzelhandels mit ihren Reklametips ein breiteres Publikum erreichten. So boten Fachblätter des Einzelhandels den kleineren Geschäften vermehrt seit 1905 regelmäßig praktische Ratschläge, wie sie ihr Schaufenster selbst dekorieren könnten. Auch in den Reklamefragen relativ zurückhaltende Zeitschriften wie ,Der Detaillist4 brachten Artikel dieser Art. Schaufensterdekoration galt in den mittelständischen Geschäften als der erste gangbare Schritt zu intensiverer Reklame. Bei einer Neuanmietung von Geschäftsräumen wurde empfohlen, auf ausreichend große Fenster zu achten, auch wenn dadurch die Miete erheblich teurer wäre. 272 An den Ausgaben für sinnvolle, praktische Dekorationshilfen, für regelmäßigen Wechsel in der Dekoration zumindest parallel zum Saisonwechsel und für moderne Beleuchtung dürfe niemand sparen. Kurz: „Nie kann man zuviel Mühe, zuviel Zeit, zuviel Geld auf das Schaufenster verwenden, denn es ist eine der Grundbedingungen für den Erfolg eines Geschäftes, ist der sicherste Gradmesser für die Tüchtigkeit und Intelligenz eines modernen Geschäftsmannes. " 2 7 3 Begleitet wurden solche Artikel von Anzeigen, die Schaufenstereinrichtungen, Regale, Dekorationshilfen und Beleuchtung anboten. Zwischen den ersten Vermittlungsversuchen moderner Reklame und der offenen Rezeption dieser Gedanken im mittelständischen Einzelhandel scheint allerdings eine zeitliche Spanne von 15 Jahren zu liegen. Breite Resonanz schienen die seit den neunziger Jahren über Zeitschriften verbreiteten Tips erst ab 1905 gefunden zu haben. Die frühen Reklameempfehlungen waren einerseits genau abgestimmt auf die Reklamemittel, die am ehesten auch von kleinen Geschäftsleuten einsetzbar waren, z. B. Schaufensterdekorationen, andererseits enthielten sie schon die Forderung nach Spezialisten. Einige dieser Zeitschriften, wie ,Die Reklame4 und ,Die Propaganda4 verschwanden rasch wieder vom Markt, was entweder darauf verweist, daß die angepeilte Zielgruppe des modernisierungsfreudigen Geschäftsmannes vielleicht nicht so groß wie vermutet war oder daß der Herausgeber, der Reklamefachmann Robert Exner, nicht aus dem Verlagswesen kam. 274 Eine andere seiner frühen Zeitschriften war ,Die Geschäftspraxis 4 (1895-1899), die versuchte, mit271
Ein Überblick über diese Zeitschriften liefert Kap. E. I. 5. So war es nur folgerichtig, wenn in den Immobilienangeboten von Geschäftshäusern auf die Größe und Anzahl der Fenster hingewiesen wurde. Vgl. z. B. Anzeigen im Detaillist oder Berliner Tageblatt. 273 77z. Weil: 10 Leitsätze für die Schaufenster-Dekoration, in: Der Detaillist, Nr. 10/1907, S. 5-6, S. 6. 274 Laut Sperlings Adressbuch hatte die ,Reklame' 1891 eine Auflage von 4.200 Stück; 1896 betrug die Auflage noch 3.500. 272
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telständische Geschäftsleute für moderne Geschäftsmethoden zu interessieren. Neben Buchführung und Kreditwesen, Angestelltenrecht und Kassenwesen ging es dabei auch um Reklame. Vor allem Exners Spezialgebiet, das Schaufenster, nahm breiten Raum ein. Daneben lieferte die Beilage praktisches Annonciren 4 Musterklischees, um jeden kleinen Kaufmann in die Lage zu versetzen, seine Reklame moderner zu gestalten - ausgehend von der Maxime, „daß das Annonciren ein Haupterforderniß für jedes Detailgeschäft ist. " 21S Auch Tips zur Ausstattung der Geschäftsräume sollten dem Detaillisten helfen, sich den Anforderungen seiner Zeit zu stellen.276 Zugleich bot die Zeitschrift mit dem Untertitel ,Organ kaufmännischer und gewerblicher Vereine 4 in einer eigenen Rubrik den mittelständischen Vereinen die Möglichkeit, über ihre Arbeit zu berichten. Hier meldeten sich fast ausschließlich die Schutzvereine mit Klagen über den unlauteren Wettbewerb zu Wort. Die Organisation in Schutzvereinen wurde als Selbsthilfe und Zeichen einer Solidarität gewertet, die den modernen Geschäftsmann auszeichne, sie stärke das kollektive Bewußtsein und eröffne dem Einzelhandel eine begrüßenswerte „Selbstverwaltung und Kontrolle. " 2 7 7 In dieser Zeitschrift waren Tips für Weihnachtsreklame und Fortbildung in Sachen Reklame ebenso zu finden wie Erfolgsberichte verschiedener Schutzvereine, die gegen andere Geschäftsleute wegen unlauterer Reklame geklagt hatten.278 Schon mit seiner ersten Zeitschrift, ,Die Reklame4, wollte Exner ab 1891 „Reklamewissenschaft im Allgemeine" vermitteln, fügte allerdings hinzu: „Die ,Reklame' ist nur für die intelligente und fortschrittliche Geschäftswelt geschrieben. " 279 Dieser Appell zu mehr Engagement und Lernbereitschaft richtete sich gleichermaßen an kleine und größere Detaillisten. Exner wandte sich ab 1897 auch mit seiner Zeitschrift propaganda 4 explizit an alle Geschäftsleute, um sie mit der „formalen Technik des modernen Wettbewerbs" ,2%0 der Reklame, vertraut zu machen. Einzig die Bereitschaft zu lernen war gefragt. Die seit 1891 erscheinende Zeitschrift ,Der Deutsche Kaufmann 4281 wurde ebenfalls von einem Reklamefachmann, Robert Austerlitz, herausgegeben und
275
Vorwort der Beilage der ,Geschäftspraxis', ab Heft 1/1895. Der Detaillist und die Zeitströmungen, in: Die Geschäftspraxis, Heft 5/1896, S. 119 f. 277 Gewerbliche Schutzvereinigungen zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbes, in: Die Geschäftspraxis, Heft 4/1897, S. 89 ff. 278 So wurde beispielsweise angeregt, in den Vereinen Reklamefachzeitschriften und bücher zu halten und eine Inseratensammlung anzulegen, die dann von den Mitgliedern studiert werden könne, vgl. Die Geschäftspraxis, Heft 2/1895, S. 34 ff. 279 An unsere Leser!, in: Die Reklame, Heft 12/1892, S. 120. 280 Zur Einfuhrung!, in: Propaganda, Heft 1/1897, S. 1-2, S. 1. 281 Laut Sperlings Adressbuch betrug die Auflage des ,Deutschen Kaufmanns4 1896 6.000 Stück; die der Beilage 1.000 Stück. 1908 war die Auflage, einschließlich der Beilage ,Das Schaufenster4 auf 16.000 gestiegen. 276
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enthielt von Beginn an eine später zur Beilage ausgeweitete Rubrik zur Schaufensterdekoration. Gegen Ende der neunziger Jahre wurden zusätzlich auch andere Reklameformen berücksichtigt und ab 1898 in der Rubrik ,Wie wird man bekannt?' „Mittel zum Bekanntwerden fiir kleinere Detail-Geschäfte " 2 8 2 vorgestellt. Neben dem Inserieren und Plakatieren ging es hier vor allem um das Verteilen von kleinen Reklameartikeln wie bedruckten Streichholzschachteln, Postkarten und Zugabeartikeln. Die Rubrik ,Aussprüche bekannter Männer 4 sollte den Nutzen der Reklame belegen. Die Zeitschrift war deutlich als Hilfe für den kleinen Kaufmann konzipiert und behielt diesen Selbsthilfecharakter bis zum Ersten Weltkrieg bei. Ab 1906 wurde die Beilage ,Der Reklame-Anwalt4 eingefügt. Dieses ,Offizielle Organ der Vereinigung von Reklame-Fachleuten4, deren Vorsitzender Austerlitz war, plädierte weit weniger als andere Fachzeitschriften der Reklamebranche für die Heranziehung teurer Spezialisten und war ähnlich wie die Beilage ,Das Schaufenster 4 als nachahmbare Vorlagensammlung angelegt. Es sollten Reklameformen präsentiert werden, derer sich jeder Kaufmann selber bedienen könne. 283 Als weitere Beilage erschien 14tägig ,Maja. Ein Frauenblatt für Kunden und weibliche Angehörige 4. Diese Beilage konnte von den Detaillisten zum Selbstkostenpreis in größeren Mengen geordert und den Kundinnen mitgegeben werden, nachdem zuvor auf dem Deckblatt der jeweilige Geschäftsstempel aufgedruckt worden war. Den größten Raum des Blattes nahmen Romane, Haushaltstips und eine ,Verlobten-Zeitung 4 ein. Die Leitartikel aber waren auf das Verhältnis zwischen Kundinnen und Kaufmann ausgerichtet und riefen die Käuferin beharrlich zur Treue zu , ihrem 4 Kaufmann auf, denn er sei der einzige, der auf die speziellen Wünsche jeder Kundin zuvorkommend eingehe und stets Qualität liefere. „Kaufe beim Kaufmann in Deinem Ort, schicke das Geld nicht nach auswärts fort; Den Vorteil davon zeigt für Land und Stadt, ,Maja' das Gratis-Frauenblatt", 284 Eine Auseinandersetzung mit Warenhäusern und Konsumvereinen fand nur am Rande statt, das Lob des kleinen örtlichen Detaillisten war hier die vorherrschende Strategie. Daß der Detaillist nur durch eine Zusammenarbeit mit den Frauen bestehen konnte, war nicht zuletzt durch die breite Diskussion um Frauen und Warenhäuser deutlich geworden. Auffallend ist, daß auch hier zwischen zwei Arten der Reklame unterschieden wurde: Je nach Anwender galt Reklame als verwerflich oder aber als legitimes Mittel des geschäftlichen Erfolgs. Während in der Zeitschrift zahlreiche Reklamevorschläge zu finden sind, die sich zum Teil ausdrücklich an den
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Wie wird man bekannt?, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 18/1898, S. 285. Reklame-Anwalt. Beilage zu: Der Deutsche Kaufmann, Heft 1/1906, S. 3. 284 Vom Geschenke einkaufen, in: Maja, Heft 5/1906, S. 1-2, S. 2. Der Titel ,Maja4 spielt auf die Mutter des Merkur an, dem Gott des Handels und des Verkehrs. 283
10 Lamberty
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Reklameformen von Warenhäusern orientieren, 285 wurde zugleich häufig darauf hingewiesen, daß gerade Warenhäuser eine unlautere Reklame machten, die in erster Linie darauf ziele, mangelnde Qualität der Waren zu kaschieren und Frauen zu unüberlegten Käufen zu verleiten. 286 Auch andere Fachzeitschriften der Einzelhändler brachten Tips über moderne Geschäftsmethoden. 287 Neben Themen wie Rationalisierung in den Geschäften, neue Kassensysteme oder Lohneinsparungen kam nach und nach auch die Reklame zur Sprache. Der Begriff ,Reklame4 fiel allerdings selten. Vorrangig ging es, vor allem in der Weihnachtszeit, um Anleitungen für Schaufensterdekoration oder um Veranstaltungstips für Reklamevorträge. Die Fachzeitschriften setzten dem Klischee des zum Untergang verurteilten Kleinhändlers den Entwurf des engagierten modernen, freundlichen und vor allem Individualität und Persönlichkeit ausstrahlenden Kleinhändlers entgegen. Völlig auf das Bild des modernen Kaufmanns eingeschworen war ab 1907 die Zeitschrift ,Das Kontor 4 . Sie zeigt den Bruch im Selbstverständnis des modernen Kaufmanns. Wurden in den Fachzeitschriften des Einzelhandels bislang genaue Anleitungen für Reklame veröffentlicht und das Reklamemachen selbst noch propagiert, so wurde dieses im ,Kontor 4 als selbstverständlich vorausgesetzt. Nun ging es um die Wahl der Mittel. In der Zeitschrift wurde ein Bild des qualifizierten Kaufmannes entworfen, der geschickt die ihm zur Verfügung stehenden modernen Hilfsmittel auf technischen und organisatorischen Gebiet nutzt. Die Reklame als absatzforderndes Instrument gehörte selbstverständlich dazu. 1913 wurde diese Zeitschrift Offizielles Organ des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte 4 und kann als Bekenntnis des Verbandes zu den Inhalten dieser Zeitschrift interpretiert werden. Verschiedene Handbücher versuchten ebenfalls dem modernen Kaufmann Grundkenntnisse der Reklame nahezubringen. 288 Der Handelslehrer Bruno Volger klärte in einem großen Kapitel über die Propaganda in seinem ,Goldenen Buch des Kaufmanns 4 die Grundzüge des Inserierens, der Schaufensterdekoration und des Plakats auf. 289 Richard Kropeit wies in speziellen Kapiteln seiner ,Reklame-Schule4 auf die ,Reklame des Detaillisten4 hin und betonte: 285 Was der Kaufmann von den Warenhäusern lernen kann, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 6/1906, S. 82-85. Was der Kaufmann von den Warenhäusern lernen kann (II), in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 7/1907, S. 98-99. 286 Vgl. z. B. Vom Geschenke einkaufen, in: Maja, Heft 5/1906, S. 1-2. 287 Vgl. z. B. Die Geschäftspraxis, Der Detaillist, Der Confectionair, Der Deutsche Kaufmann. 288 Kaindl erwähnt in seiner kommentierten, über 500 Titel starken Bibliographie eine Reihe, speziell auf die Belange des Detaillisten zugeschnittene Reklamefachbücher, vgl. Kaindl. Im folgenden daher nur eine exemplarische Auswahl. 289 Vgl. Volger. Dabei wurden im gleichen Stil wie die Vorlagen der kaufmännischen Korrespondenz und der Formulare Inseratbeispiele abgedruckt.
VI. Der reklametreibende Kaufmann als neues Selbstbild
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„ Auch ihm sind die Waffen zum Kampfe um den Erfolg geschmiedet, er muß sie nur kennen, richtig auswählen und gut anwenden " 2 9 0 Die Lage des Geschäfts, Schilder und Schaufenster zählte er zu der wichtigen Außenreklame des Detaillisten; gute Ware, angemessene Preise, geschmackvolle Einrichtung und höfliche und rasche Bedienung zur Innenreklame. Annoncen, Proben, Rabattmarken und Zugabeartikel seien nach Bedarf einzusetzen. Er betonte, daß für diese Arten der Reklame nicht der finanzielle Aufwand den Ausschlag gebe. Ziel des Detaillisten müsse es sein, Käufer zu Stammkunden zu machen. Auch sollte der Detaillist die Möglichkeiten nutzen, „sich von dem oft recht reichhaltigen sonstigen Reklamematerial der Fabrikanten bestimmte Mengen kostenfrei zusichern zu lassen. Hier heißt es zufassen und nicht schüchtern sein. Der Detailkaufmann wird ja bekanntlich durch die sich direkt an das Publikum wendende Markenartikelreklame oft gezwungen, einen neuen Artikel aufzunehmen, weil eben durch die Reklame Nachfrage geschaffen worden ist. Diese Nachfrage muß aber erhalten oder besser noch erhöht werden [...]. Hierfür soll aber der Fabrikant die Hauptkosten durch Beteiligung an lokalen Anzeigenkosten und Lieferung reichhaltigen Reklamematerials tragen. Zu letzterem gehören: Gratisproben, Zugabeartikel, Einwickelpapiere, Schaufensterpackungen und -Figuren sowie Plakate aller Art. " m Auf einige Reklamemittel, wie Kalender und Einwickelpapier solle sich der Detaillist vom Fabrikanten die eigene Adresse aufdrucken lassen. Curt Büsch wandte sich 1909 in seinem Reklamehandbuch ausdrücklich an kleinere und mittlere Kaufleute. 292 Gute Reklame hänge nur bedingt mit Geld zusammen: „Mittel und Wege sind genug vorhanden. Die Reklame ist so unendlich vielseitig, daß sie auch dem Kaufmann Flügel verleiht, der nicht über ein Rekame-Budget von Tausenden disponieren kann. " 293
3. Der Verband Berliner Spezialgeschäfte als Vorreiter moderner Reklame Bei der Vermittlung neuer Reklamemethoden war der Verband Berliner Spezialgeschäfte besonders rege. Sowohl Schaufensterwettbewerbe als auch eine Reklameausstellung setzte der Verband ein, um die Reklame nicht nur als effektiv und modern, sondern auch künstlerischen Kriterien genügend zu propagieren. Solche Reklamemethoden sollten den Spezialgeschäften bei ihrer Profilierung als Geschäfte für den gehobenen Bedarf helfen. Darüber hinaus engagierte sich der Verband für die Gründung der Höheren Fachschule für Dekorationskunst (vgl. Kap. F. IV).
290 291 292 293
Kropeit, S. 595. Ebd., S. 599 f. Büsch, Vorwort, o. P. Ebd., S. 7.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
Im Februar 1908 fand in Berlin die AUGUR statt, eine »Ausstellung, umfassend Geschäftsbedarf und Reklame4. Die vom Verband Berliner Spezialgeschäfte veranstaltete Ausstellung galt als erste Fachausstellung ihrer Art. In den Ankündigungen wurde die Reklame als eines der Hilfsmittel des modernen Geschäftsmannes vorgestellt. 294 Die erste der vier Abteilungen der Ausstellung galt den Geschäftsausstattungen; darunter wurden neben diversen Büromöbeln und -maschinen auch Ladeneinrichtungen und der ganze Bereich der Schaufensterund Dekorationsgegenstände gezeigt.295 In der weiteren Abteilung ,Reklame4 präsentierten sich verschiedene Hersteller und Vermittler von Reklameträgern, wie Zeitungen und Zeitschriften, Annoncenbüros, Klischeehersteller, Beleuchtungs- und andere Firmen. Die dritte Gruppe zeigte den Bereich der Organisation 4 , also Registraturen etc.; die vierte Gruppe , Geschäftsführwerk 4 führte in erster Linie Automobile vor. Insgesamt stellten 309 Firmen aus. Die Koppelung von Bürotechnik im weiteren Sinne und Reklame war kennzeichnend für das damalige Verständnis der Notwendigkeiten einer modernen Geschäftsorganisation. 296 60 Berliner Spezialgeschäfte zeigten schließlich in der Kollektivausstellung ,Kunst und Kaufmann 4 ihre Reklame und Geschäftsorganisation. „ Von Künstlern dekorierte Kojen" 291 wurden von Kunstschülern unter der Leitung der Werkbundmitglieder Bruno Paul und Alfred Grenander gestaltet. Eine ,Historische Plakatausstellung4 zeigte über 1.000 Plakate der letzten vier Jahrhunderte. Parallel dazu wurde im Katalog ein längerer Aufsatz von Paul Westheim über historische Plakatkunst veröffentlicht. Eine weitere Abteilung bestand aus einer Verkaufsausstellung von künstlerischen Plakatentwürfen. Hier sollte eine Schnittstelle für den modernen, an künstlerischer Reklame interessierten Kaufmann und den Auftraggeber suchenden Künstler geschaffen werden. 298 Unter dem Motto: „ Wie beleuchtet man ein modernes Schaufenster am effektvollsten und am billigsten?" 299 demonstrierte ein Licht-Wettbewerb 20 verschiedene
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Ankündigung für die Augur, in: Organisation, Nr. 17/1907, S. 301. Vgl. im folgenden Reklame-Ausstellung, in: Organisation, Nr. 18/1907, S. 314; Besondere Veranstaltungen und Gruppen-Einteilung der Augur, in: Organisation, Nr. 3/1908, S. 81; Zur Augur, in: Organisation, Nr. 4/1908, S. 87-88; Augur, S. 57-66. 296 Vgl. Christiane Lamberty: Die Einführung einer technischen Neuheit - Reklame für die Schreibmaschine in Deutschland 1890-1930, unveröffentl. Magisterarbeit an der TU Berlin 1991, S. 56 ff. 297 Besondere Veranstaltungen und Gruppen-Einteilung der AUGUR, in: Organisation, Nr. 3/1908, S. 81. 298 Vgl. Augur, S. 73 f. 299 Ebd., S. 69. 295
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Beleuchtungsformen an Schaufenstern. Außerdem fanden diverse Vorträge statt. 300 Die ausgestellte Reklame stammte überwiegend von den 62 Mitgliedern des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte. „Da die Mitglieder dieses Verbandes sich aus den Kreisen der vornehmsten und größten Spezialgeschäfte rekrutieren und reiche Erfahrung in moderner Propaganda besitzen, so dürfte diese KollektivAusstellung ebenso instruktiv wie interessant für alle Reklame-Interessenten sein, denen sie Gelegenheit gibt, die erprobte Geschäftstechnik vieler erstklassiger Detailgeschäfte miteinander zu vergleichen. " 3 0 1 Gerade Geschäftsleute, die an der „Reorganisation " 3 0 2 ihres Geschäftes arbeiten würden, könnten eine Fülle von Anregungen erhalten. Damit beanspruchten die Spezialgeschäfte eine Vorbildfunktion in moderner Geschäftsorganisation. Die Form der propagierten Reklame griff die erst junge Diskussion um künstlerische Reklame auf und diente dem Image des Spezialgeschäfts als geschmackvoll, qualitätsbewußt und individuell. Zugleich sollten durch eine künstlerische Reklame die kaufkräftigeren Schichten als erwünschte Zielgruppe angesprochen werden. Die AUGUR stand bereits im Zeichen der Selbsthilfe. Mit der Ausstellung vollzog der Verband die Wandlung von einem an breiten ideologischen Forderungen interessierten Verband hin zu einem, dem vor allem an einer pragmatischen Förderung der direkten Interessen der Mitglieder gelegen war. 303 Die Arbeit bezog sich in rationalerer Form eng auf die jeweiligen Erfordernisse im Handel. Hirsch führte solche Formen der Selbsthilfe unmittelbar auf den Einfluß der Warenhäuser, den wachsenden Konkurrenzdruck und gleichzeitig auch auf die Vorbildfiinktion der Warenhäuser in rationeller Organisation zurück. 304 Bei der Eröffnung der AUGUR betonte der Verbandsvorsitzende Fritz Gugenheim die Chancen der mittelständischen Geschäfte, durch Spezialisierung zu größerer Leistungsfähigkeit zu gelangen. Steigende Mieten und Konkurrenz durch Kaufund Warenhäuser hätten im Detailhandel den „Ruf nach Staatshilfe" laut werden lassen. Das sei der falsche Weg: „In unserem Verbände haben wir die Auffassung vertreten, daß man sich nur auf die Selbsthilfe verlassen und daß die Selbstverantwortung durch nichts ersetzt werden könne. Aus dem Streben, die modernen Errungenschaften der Technik bei der Ausgestaltung der Geschäftslokale zu adoptieren und die Kunst dem Handel dienstbar zumachen, ist die 300 Vgl. Besondere Veranstaltungen und Gruppen-Einteilung der AUGUR, in: Organisation, Nr. 3/1908, S. 81. 301 Vorankündigung, in: Der Detaillist, Nr. 39/1907, S. 18. darüber, inwieweit diese Veranstaltung auch der Werbung neuer Mitglieder diente, kann nur spekuliert werden. 1912 hatte der Verband seine Mitgliederzahl auf 250 verdreifacht. Vgl. Handbuch wirtschaftlicher Vereine, S. 80 f. 302 Vgl. im folgenden Reklame-Ausstellung, in: Organisation, Nr. 18/1907, S. 314. 303 Vgl. Wein, S. 134 f.; Winkler, S. 93; Spiekermann: Warenhaussteuer, S. 160. 304 Vgl. Hirsch: Das Warenhaus, S. 98 f.
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heutige Ausstellung zustande gekommen. " 3 0 5 Die hier gebotenen Möglichkeiten könnten auch durch kleinere Detaillisten wahrgenommen werden, wenn sie sich den Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens stellten und ihre Geschäftsorganisation reformieren würden. Statt sich von „jungen, tatkräftigen Firmendie „den Wert der Propaganda und der Reklame sehr wohl erkannt hatten " 3 0 6 , den Rang ablaufen zu lassen, sei man selbst zu einem Umdenken gekommen. Diese Ausstellung zeige als Vorbild und Anreiz den Kaufleuten die geschmackvolle moderne Reklame, die in Zusammenarbeit mit dem Kunstgewerbe entstanden sei. Ungeachtet solcher Hoffnungen und Appelle hielt sich die Besucherzahl anfanglich in Grenzen; erst zum Ende der Ausstellung stieg sie an, blieb aber offenbar hinter den Erwartungen zurück. 307
4. Schaufensterwettbewerbe Schaufensterwettbewerbe wurden häufig von Einzelhandelsverbänden in Zusammenarbeit mit den örtlichen Verkehrsvereinen zur „Belebung des Fremdenverkehrs" 308 initiiert, wie es der Verein Deutscher Reklamefachleute formulierte. Darüber hinaus empfahlen Einzelhandelsverbände ihren Mitgliedern die Fortschrittlichkeit ihrer Geschäfte dem Publikum mit Hilfe der Schaufenster zu demonstrieren. Zugleich wurde damit innerhalb der eigenen Branche die Tauglichkeit solcher Reklameformen fur das Mithalten im täglichen Konkurrenzkampf propagiert und diese damit als legitime Geschäftsmethoden in ein neues Kaufmannsbewußtsein eingebunden. Die ersten Wettbewerbe standen noch ganz im Zeichen des Fremdenverkehrs und der Demonstration patriotischer Tugenden, von der man sich eine vorteilhafte Geschäftsentwicklung versprach. Der erste, durch die Zeitschrift ,Der Confectionair' 1887 ausgeschriebene Schaufensterwettbewerb fand allerdings noch wenig Beachtung durch den Einzelhandel.309 In Dresden wurde 1895 anläßlich des Sedan-Tages durch den Fremdenverkehrsverein zu besonderer Ausschmückung der Schaufenster aufgerufen, um so die allgemeine Anziehungskraft der Stadt zu heben.310 Man war der festen Überzeugung, daß die durch entsprechende Schaufensterdekorationen an Kaisers Geburtstag oder zum Sedan-Tag bezeugte patriotische Gesinnung einen verstärkten Umsatz nach sich
305 306 307 308 309 310
Zur Augur, in: Organisation, Nr. 4/1908, S. 87-88, S. 87. Zit. ebd., S. 88. Nach der Augur, in: Organisation, Nr. 5/1908, S. 103. Was kostet eine Schaufensterdekoration?, in: Organisation, Nr. 15/1910, S. 359. Schaufenster-Wettbewerb, S. 1. Vgl. Die Kunst auf der Strasse, in: Die Reklame, 5. September 1895, S. 301.
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ziehe.311 Nicht nur das Publikum reagiere auf eine solche Reklame, sondern auch die Presse berichte in der Regel ausfuhrlich über besonders gelungene Ausschmückungen. In Berlin kritisierte ein Autor des ,Kunstwart 4 1902, Wettbewerbe seien der falsche Weg, um die dringend erwünschte ästhetische Verbesserung der Schaufenstergestaltung zu erreichen. Die Wirkung der Wettbewerbe sei nur kurz: „(...) man läßt sich 's was kosten, engagiert einen Künstler, hängt die Plakette, die dessen Hilfe dem Geschäft verschafft hat, im Laden aus, freut sich der Reklame - und läßt's mit diesem Tag gut sein. " 3 1 2 Eine Bewertung, die mindestens auf ein halbes Jahr angelegt sei, würde dagegen eher zu einer Verbesserung der Schaufenstergestaltung und einer erzieherische Wirkung auf die Geschäftsinhaber fuhren als die in Mode gekommenen kurzen Wettbewerbe. Das Ziel der Erziehung von Kaufleuten in Geschmacksfragen spielte bei den späteren Wettbewerben eine zunehmend wichtige Rolle. Zumindest branchenintern waren Wettbewerbe auch als Aufruf an die Kaufleute gedacht, moderne Reklamemethoden zu nutzen. Der Verband Berliner Spezialgeschäfte organisierte ab 1908 in Zusammenarbeit mit der Centralstelle für die Interessen des Berliner Fremdenverkehrs, dem Deutschen Verband für kaufmännisches Unterrichtswesen und dem Deutschen Werkbund Schaufensterwettbewerbe und präsentierte sich dabei als zukunftsweisendes Ideal des modernen Einzelhandels.313 Der erste Wettbewerb fand vom 21.-23. September 1909 statt. 169 Firmen beteiligten sich mit 364 Fenstern. Die Teilnahmegebühr betrug für das erste Fenster 20 Mark, für jedes weitere 10 Mark. Prämiert werden sollte das Fenster, „das bei geschmacklich vollendeter Anordnung die kaufmännisch zweckmäßigste Dekoration bot". 3] A Die Anmeldungen waren so zahlreich, daß die Jury auf 25 Personen vergrößert werden mußte.315 Unter den Juroren waren zahlreiche Inhaber von Spezialgeschäften und prominente Vertreter der Kunstgewerbebewegung wie August Endeil und Emil Doepler, sowie die Kritiker Max Osborn und Felix
311 Vgl. Patriotische Gedenktage, in: Die Reklame, Heft 4/1897, S. 49-51, S. 49. Kaiserbüsten, Blumen, bunte Bänder und viel Licht wurden für jedes Schaufenster empfohlen. 312 Um Schaufenster, in: der Kunstwart, Heft 17/Juni 1902, S. 228-229. Schon 1901 hatte man einem Wettbewerb durchgeführt. Vgl. Wettbewerb für künstlerische Ausstattung der Schaufenster, in: Kontor und Laden, Heft 21/1902, S. VI. 313 Die organisierenden Verbände sind in jedem Bericht andere. Den ersten nennt die Tätigkeits-Übersicht 1909, S. 190 ff. Die letzten beiden erwähnt Fritz Gugenheim: Der praktische Nutzen der Schaufenster-Wettbewerbe, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 3/1910, Sp. 105-108, Sp. 106. 314 Tätigkeits-Übersicht 1909, S. 192. Vgl. auch den Prachtband SchaufensterWettbewerb und Elektrisches Licht beim Schaufensterwettbewerb, in: Mitteilungen der BEW, Heft 11/1909, S. 162-165. 315 Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 19.9.1909.
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C. Reklame im Geschäft sal Itag
Poppenberg. 316 1910 wurde der Wettbewerb wiederholt und bei größerer Beteiligung zur „ Schaufensterwoche " 3 1 7 auf fünf Tage ausgedehnt. Auch 1911 wurde ein Schaufensterwettbewerb in Berlin veranstaltet und mit einem Beleuchtungsund Ladeneinrichtungswettbewerb verknüpft. Nachdem beim ersten Wettbewerb Bedenken geäußert worden waren, inwieweit aufgrund der hohen Gebühr auch den kleinen Geschäften die Teilnahme möglich sei, betonte man im folgenden Jahr die rege und erfolgreiche Teilnahme gerade der kleinen Detaillisten. 318 Dabei habe die Jury verstärkt die jeweiligen Verhältnisse des einzelnen Geschäfts berücksichtigt. 319 „ Wenn z. B. der Angestellte eines Kolonialwaren-Geschäftes, ohne gelernter Dekorateur zu sein, imstande ist, mit einem so unscheinbaren Artikel, wie Kaffee, ein Fenster so zu dekorieren, daß ihm nicht nur von Seiten einer in Sachen des guten Geschmackes einwandfreien Jury die silberne Medaille zuerkannt wurde, sondern auch das große Publikum mit seinem Beifall nicht kargte, so darf man mit Bestimmtheit sagen, daß selbst die kleinsten Geschäfte in ihren Fenstern ein Propagandamittel besitzen, das, ohne kostspielige Aufwendungen zu erfordern, sich den Geschäftsinhabern als sehr rentabel zu erweisen vermag. " 3 2 ° Es komme nicht auf teuren Prunk, sondern Geschmack und Geschick an. Diese Einsicht sollte durch solche Schaufensterwettbewerbe vermittelt werden. Über Geschmack könnten auch kleine Geschäfte verfügen, und daher sei auch ihnen mit den Schaufenstern „ein großes und wirksames Mittel gewerbepolitischer Selbsthilfe gegeben. " 32! Durch eine ausführliche und sehr positive Presseberichterstattung erlangten diese Wettbewerbe eine gewisse Breitenwirkung. 322 Insgesamt wurden die Wettbewerbe als Erfolg gewertet. Die wohlwollende Tagespresse stellte fest, daß Berlin in Sachen Geschmack die anderen Weltstädte übertroffen habe.323 316
Schaufenster-Wettbewerb, Anzeige in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1909. In dieser Anzeige waren sämtliche beteiligten Firmen mit Adresse aufgelistet, weiter die Mitglieder des Ehrenkomitees (v. a. Vertreter der städtischen Verwaltung und der Kunstgewerbebewegung) und die Preisrichter. 317 Tätigkeits-Übersicht 1910, S. 186. 318 Vgl. Adolf Manheimer: Lehren des Schaufenster-Wettbewerbes, in: Textil-Woche, 20.10.1909. 319 Vgl. Tätigkeits-Übersicht 1910, S. 186. Wohlwollen deshalb auch in SchaufensterWettbewerb, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, Bd. 1/1911, S. 100. 320 Fritz Gugenheim: Der praktische Nutzen der Schaufenster-Wettbewerbe, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 3/1910, Sp. 105-108, Sp. 107 f. 321 Ebd., Sp. 106. 322 So wurden im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (einem Dachverband mit rund 100 angeschlossenen Verbänden) 1908 und 1909 in Arbeitsabenden die Schaufensterwettbewerbebesprochen. Vgl. Tätigkeits-Übersicht 1909, S. 73; 1910, S. 62. 323 Der Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1909; Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1910.
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Selbst aus dem Ausland seien interessierte Dekorateure nach Berlin gereist, um sich fortzubilden. Die Textilzeitschrift ,Confectionair' veranstaltete eine „Studienrundfahrt " 3 2 4 für 165 Dekorateure. Auch das Publikum habe die Fenster mit großem Interesse betrachtet. Die Umsätze am Tag des Wettbewerbes seien zwar nicht gestiegen, „da das Publikum eben die Straße entlang flanierte und gern immer die nächsten Fenster noch sehen wollte und deshalb nicht an Einkäufe dachte ", aber man hoffte eine längerfristige Wirkung zu erreichen. Ein Vertreter der Textilbranche urteilte optimistisch: „Das Publikum wird sicherlich von der Fensterauslage beeinflußt werden, bessere Waren zu kaufen, ein Vorteil, wir wohl alle zu schätzen wissen. " 325
den
In der Zeitschrift ,Detaillist4 zeigte man sich gegenüber künstlerischen Intentionen zurückhaltend. Die Annahme, daß durch ein vornehmes Schaufenster entsprechende Kundschaft in den Laden gelockt werden könne, treffe vielleicht bei großen Warenhäusern zu. Für den kleinen Detaillisten seien solche Vorschläge realitätsfremd. Damit widersprach man den Überzeugungen des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte, der eine Verbindung von künstlerischer und wirksamer Reklame für möglich, ja sogar notwendig hielt, um sein Zielpublikum zu erreichen. Ein englischer Artikel wurde herangezogen, um die Skepsis auszudrücken. „Der Detaillist stellt seine Waren nicht zur Schau, um irgend einer Gruppe von Künstlern zu gefallen, sondern er will Ware verkaufen. Seine Frage lautete daher nicht, wie dekoriere ich am schönsten und kunstvollsten, sondern wie kann ich durch das Schaufenster meinen Umsatz vergrößern? " 326 Die Veranstaltung von Wettbewerben war zugleich eine Strategie, das Schaufenster als wirksames Reklamemittel auch am Sonntag zu nutzen. Die kleinen Kaufleute, die inzwischen das Schaufenster als ihr wichtigstes Reklamemittel erkannt hatten, wehrten sich damit gegen die von der Kirche verteidigte obligatorische Verhängung der Schaufenster an den Sonn- und Feiertagen. Regional unterschiedlich galt ein sogenannter ,Schaufensterparagraph', der für Sonn- und Feiertage eine Verhängung der Fenster forderte und auf Verordnungen basierte, die für die Zeit des Gottesdienstes geschäftliche Betätigungen und das Ausstellen von Waren untersagten. Solche, in einzelnen Staaten schon in den siebziger Jahren verabschiedeten Gesetze galten z. T. bis zum Ersten Weltkrieg. In Berlin verbot 1898 eine Polizei Verordnung die Öffnung der Fenster am Sonntag.327 Die
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Schaufenster-Wettbewerb, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.9.1910. Adolf Manheimer: Lehren des Schaufenster-Wettbewerbes, in: Textil-Woche, 20.10.1909. 326 Praktische oder künstlerische Schaufenster?, in: Der Detaillist, Nr. 42/1910, S. 11. Vgl. auch Richard Nordhausen: Der Berliner Schaufenster-Wettstreit, in: Der Detail list, Nr. 41/1910, S. 11. 327 Vgl. Fritz Hansen: Das Schaufenster in Gesetz- und Rechtssprechung, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, Heft 8/1915, S. 188-191, S. 189; Dirk 325
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kleineren Kaufleute wurden in ihrem Kampf gegen diesen Paragraphen von den Handelskammern unterstützt. Die Berliner Korporation der Kaufmannschaft erklärte, das Schaufenster sei „heute für den Detaillisten ein wichtiger Teil der ganzen Ladeneinrichtung. Es bietet dem Publikum eine stets wechselnde Ausstellung aller neuen Erzeugnisse des gewerblichen Lebens. [...] Für den Detaillisten, der die teuren Zeitungsannoncen nicht bezahlen kann oder will, ist das Schaufenster die einzige, aber auch wirksamste Art geworden, in der er dem Publikum seine Waren anpreist. Er muss es schwer empfinden, wenn seine Kundschaft, die meist nur am Sonntag Zeit zum Spazierengehen hat, dann keine Gelegenheit findet, die Auslagen einer Betrachtung zu unterziehen. Wie gross und weitgehend dieses Bedürfnis ist, sieht man deutlich in der Weihnachtszeit, wo das Publikum in Scharen vor geschmackvoll ausgestatteten Schaufenstern steht. " 3 2 8 Die obligatorische Verhängung der Schaufenster aufzuheben sei nicht bloß eigennütziges Interesse der Ladenbesitzer, sondern komme auch den Wünschen des Publikums entgegen. Der Verein Berliner Kolonialwarenhändler betonte gleichfalls, daß das Schaufenster der einzige Reklameträger sei, der auch für diese Geschäfte infrage komme: „Für den kleinen und mittleren Geschäftsmann scheidet solche Reklame in den Tageszeitungen der hohen Insertionskosten wegen ohne weiteres aus, er ist lediglich auf seine Arbeitskraft und unermüdliche Tätigkeit angewiesen: seine einzige Reklame sind die prompteste Bedienung in bester Ware und das Schaufenster. " 3 2 9 In Berlin kam es schließlich im Herbst 1911 zu einer völligen Aufhebung des Verhängungsgebotes, nachdem zuvor verschiedene Initiativen für die Aufhebung der Polizeiverordnung gekämpft hatten. Die Veranstaltung der Wettbewerbe, die schließlich auch den Sonntag zum Tag des Schaufensterbummels machte, trug sicherlich zu der Gesetzesänderung bei.
Reinhardt: Beten oder Bummeln? Der Kampf um die Schaufensterfreiheit, in: Bilderwelt des Alltags, S. 116-125. 328 Zentralausschuß der Berliner kaufmännischen, gewerblichen und industriellen Vereine in einer Petition an den Polizeipräsidenten, zit. nach: Verhängung der Schaufenster an Sonn- und Feiertagen, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, 1904, Teil 1, S. 285-287, S. 286. Vgl. auch Ältesten der Kaufmannschaft an den Oberpräsidenten mit Bitte um Aufhebung der Polizeiverordnung, 5.11.1904 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 1056, Blatt 11); Verhängung der Schaufenster am Sonntag, in: Handel und Gewerbe, Nr. 30/1902, S. 400; S. 458, Jahresberichte des Vereins Berliner Kaufleute der Kolonialwarenbranche 1908 ff. (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte 92, Blatt 4; Blatt 5). 329 20. Jahresbericht des Vereins Berliner Kolonialwaren-Händler, 1910, S. 3. (LAB/ STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 103). Zu der Schaufensterreklame fanden in diesem Verein Vorträge mit „praktischen Winken" statt.
VII. Gesetzliche Reglementierungen der Reklame
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VII. Gesetzliche Reglementierungen der Reklame Die Diskussion um reglementierende Gesetze gegen die Reklame und Warenhäuser, die vom Mittelstand als taugliches Mittel, die Macht der Großbetriebe einzuschränken, propagiert wurden, war von härteren Positionen bestimmt, als die Praxis im Geschäftsalltag vermuten läßt. Zum Teil mögen diese Unterschiede auf die verschiedenen Wortführer in den politischen Debatten um eine neue oder verschärfte Gesetzgebung und in den pragmatischeren Plänen zur Durchführung von Selbsthilfeaktivitäten zurückzuführen sein. Auch als Ausdruck gängiger politischer Praxis können sie gewertet werden, in der die Forderungen aus strategischen Gründen härter formuliert wurden, als deren Umsetzung letztlich eingeschätzt wurde. Seit den neunziger Jahren rückten Konsumvereine und kurz darauf auch Warenhäuser in das Zentrum der Kritik mittelständischer Schutzvereine, die sich nun vermehrt gründeten. 330 Die Diskussion über Warenhäuser erhielt dabei eine Stellvertreterfunktion, anhand derer die Positionen zur neuen Wirtschaftsordnung geklärt wurden. Denn die Konkurrenz durch die Warenhäuser hielt sich, bei einem Anteil am Umsatz von nicht mehr als 3 %, in Grenzen. 331 Die unlauteren Geschäftsmethoden' der Warenhäuser begründeten angeblich deren Erfolg, und so traten die Mittelstandsvereine als Schutzvereine für Handel und Gewerbe auf, die ein Eintreten für fairen Handel suggerierten und die Distanz zu den Warenhäusern unterstrichen. In ihrer Kritik wurden Warenhäuser und Reklame eng verknüpft. Sowohl das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs als auch die Warenhaussteuer gingen auf die Initiative eines Teils des Mittelstandes zurück. Höhere Steuersätze für Warenhäuser sollten dazu dienen, daß Warenhäuser ihre Artikel nicht billiger als die kleinen Detaillisten anbieten könnten. Die Mittelstandsbewegung versuchte, mit Hilfe des Staates die Ausbreitung großkapitalistischer Betriebe im Einzelhandel zu unterbinden. Biermer sah in diesem Gesetzen nur eine vorgeschobene Aktivität: „Nicht Auswüchse will man reglementieren, sondern bestimmte moderne Unternehmungsformen im kaufmännischen Leben, die die Existenz der Klein- und Mittelbetriebe untergraben, zurückdämmen. " 3 3 2 Die Warenhäuser würden dabei zum „Prügelknaben
330
Z. B. 1893 durch die Führung des Vorsitzenden des Zentral-Vorstandes kaufmännischer Verbände und Vereine Deutschlands, Hermann Schultze-Gifhorn. Eine Reihe der Schutzverbände wurde aus Protest gegen Warenhäuser gegründet, vgl. Wernicke: Geschichte des Verbandes, S. 13 f.; Spiekermann : Warenhaussteuer, S. 34 ff. Einen knappen Uberblick über die Auseinandersetzungen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland liefert Gellately : An der Schwelle der Moderne, S. 136 ff. 331 Ihr Anteil war aber in bestimmten Warengattungen (v. a. Textil) oder Großstädten wesentlich höher, vgl. Gellately : An der Schwelle der Moderne, S. 136. 332 Biermer , S. 97. Biermer äußerte in der Folge harsche Kritik an einem Staat, der sich auf die Forderungen „lokalprotektionistischer Art " einlasse. Die entstandene Ge-
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C. Reklame im Geschäftsaltag
obwohl „ tiefgreifendere Umwälzungen im Gange"333 seien. Alle Ängste vor den Veränderungen, die immer massiver zu spüren waren, konzentrierten sich dort; die Kritik an ihnen ging folglich weit über ihr Dasein als geschäftliche Konkurrenz hinaus. Sie verkörperten durch ihre gesamte Geschäftsorganisation eine Bedrohung herkömmlicher Handelspraktiken. Dabei stand die Reklame als sichtbarstes Zeichen fur diese Veränderungen im Mittelpunkt. Erst als sich die Reklameformen unter dem Druck der Öffentlichkeit gewandelt hatten, rückten die ,innere4 Organisation des Warenhauses, ihre Rationalisierung, ihre Verknüpfung mit den Großbanken, in den Blick. 3 3 4 Ideologisch begründeten die Schutzverbände ihre Forderungen damit, daß sie allein durchaus in der Lage seien, die Bevölkerung zu versorgen, folglich fehle den Warenhäusern ihre Existenzberechtigung. Weiter sah sich der Mittelstand als Bollwerk gegen den Klassenkampf und das Auseinanderbrechen der Gesellschaft. 335 Das Feindbild der ,Goldenen Internationalen 4 wurde mit dem des ,Roten Konsums4 vermischt; die aus der Arbeiterschicht kommenden Kunden der Warenhäuser als bedrohliche, „ sich ausdehnende große Masse " 3 3 6 diffamiert, die den Mittelstand bedrohe. Es gab Versuche, die ,staatstragenden4 Parteien der Rechten und Mitte als politische Entsprechung der wirtschaftlichen Interessen der Verbände zu gewinnen.337 Neben antikapitalistischen und antisozialistischen Ideen stützte sich die Warenhauskritik auf verbreitete protektionistische, antiurbane und antisemitische Gedanken.338 Mit dem Ruf nach dem strikten Verbot der Warenhäuser gerieten die Kritiker jedoch in Konflikt mit der Gewerbefreiheit, die oft doch nicht völlig abgelehnt wurde. 339 Einige mittelständische Schutzvereine machten ihrer Enttäuschung über die sich ab 1905 zeigende mangelnde staatliche Unterstützung durch zunehmende Radikalität ihrer Forderungen Luft. 340
setzgebung sei kennzeichnend für die „Psychologie unserer Gesetzesfabrikation, die alles, nur nicht nationalökonomisch und sozialpolitisch, ist". Ebd. S. 101. 333 Ebd., S. 140. 334 Vgl. Wernicke : Wandlungen, S. 6 f; S. 19. 335 Vgl. Müffelmann: Moderne Mittelstandsbewegung, S. 1 f. Vgl. auch: Einladung zum Ersten Reichsdeutschen Mittelstandstag in Dresden 1911, in: Die radikale Mitte, S. 165-169, S. 167 f. 336 Massenbeherrschung, S. 678. 337 Z. B. Deutsch-Konservative, Zentrum, Deutsch-soziale Reformpartei, Bund der Landwirte. Am eifrigsten zeigten sich die Antisemiten, die Christlich-Sozialen und die Deutsche Reformpartei. Die Lage des Mittelstandes wurde zum populären Thema im Wahlkampf, vgl. Wein, S. 80; Wernicke : Geschichte des Verbandes, S. 18 f. 338 Vgl. Gellately: Politics of Economic Despair, passim; ders.: An der Schwelle der Moderne, S. 131. Zur antisemitischen Kritik vgl. Kap. Η. I. 339 Vgl Huber, S. 18 f. 340 Vgl. Rubens, S. 35 ff.
VII. Gesetzliche Reglementierungen der Reklame
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1. Gesetze gegen den unlauteren Wettbewerb Vorläufer eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb waren das Markenschutzgesetz von 1874 und dessen Novellierung, das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen von 1894.341 Im Januar 1895 wurde ein erster Gesetzentwurf zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vorgelegt. Mit dem neuen Gesetz sollten u. a. Formen der Reklame verboten werden, die bestimmte, auszuhandelnde Grenzen überschritten. In den Debatten im Reichstag betonten fast alle Parteien die Notwendigkeit, den ehrlichen, soliden Geschäftsmann gegen „Auswüchse des Reklamewesens" 342 und „betrügerische Konkurrenz" 343 schützen zu müssen. Schwindelhafte Reklame schade dem gesamten Kaufmannsstand und folglich sei ein solches Gesetz im Interesse aller Kaufleute. Auch das Publikum begrüße ein Gesetz. Der Reichstag reagierte damit auf Forderungen des Mittelstandes, die seit Beginn der neunziger Jahre das Verbot einer Reihe warenhaustypischer Veranstaltungen wie Ausverkäufe und Sonderveranstaltungen und die Konzessionierung für Warenhäuser verlangten. In den Reichstagsdebatten wurden solche eindeutigen Zuschreibungen der unlauteren Reklame als warenhaustypisch allerdings nicht geäußert. 344 Für eine Gesetzgebung mußten die Begriffe ,Reklame4 und ,unlauter 4 definiert werden. Juristisch verstand man unter Reklame nur die Mitteilung, die sich an eine größere Zahl von Personen richtete, also öffentlich 4 war. Dazu konnten nahezu alle Reklameträger dienen.345 Schwieriger war die Definition dessen, was ,unlauter4 sei, da sich im Geschäftsleben ein rascher Wandel zeigte. „Der Begriff des , illoyalen ' Geschäftsbetriebes ist gerade in Bezug auf die Reklame ein schwankender und hat in den letzten Jahren eine wesentliche Umwandlung erfahren ", 3 4 6 räumte Huber ein. Während früher schon der Einsatz mehrerer Reisender kritisch beäugt wurde, liege heute das Augenmerk auf ganz anderen Formen der Reklame. Eine radikale Unterdrückung jeglicher Reklame kam nicht infrage. Zu vage blieb eine Definition, nach der ein Verstoß gegen die 341
Vgl. Grunzel , S. 205 f.; Van der Borghi, S. 356 ff. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 143, 9. Leg., 4. Sess., 7. Sitzung, 13. Dezember 1895, S. 107 (Staatssekretär von Boetticher, Nat. Lib.). Der einzige Redner, der sich wiederholt gegen ein solches Gesetz, das nur Symptome bekämpfen würde aussprach, war Singer von der SPD. 343 Ebd., S. 109 (Abgeordneter Bassermann, Nat. Lib.). 344 Man begnügte sich mit vagen Andeutungen, die sich auf die Reklame von „sehr kapitalkräftigen Firmen " in den Großstädten bezogen. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 143, 9. Leg., 4. Sess., 7. Sitzung, 13. Dezember 1895, S. 111 (Abgeordneter Bassermann, Nat. Lib.). 345 Vgl. Grunzel, S. 219 ff.; Ferdinand Bang: Der unlautere Wettbewerb als strafbare Handlung, Leipzig 1909, S. 14 f.; Arthur Barczinski: Reklame und Recht, Leipzig 1909, S. 46. 346 Huber , S. 22. 342
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C. Reklame im Geschäftsaltag
wandelbaren, in „geschäftlichen Kreisen herrschenden Anschauungen von Anstand und guten Sitten " 3 4 7 gemeint war. Juristisch trat nun das Problem auf, daß eine Handlung erst ab einem bestimmten Ausmaß zum Delikt wurde. 348 Je nach Schwere fiel das Delikt unter strafrechtliche oder unter zivilrechtliche Verfolgung. Wann die Grenze zum Betrug oder ,groben Unfug 4 überschritten und vorsätzlich gehandelt werde, blieb Streitpunkt der Juristen. Am 27. Mai 1896 wurde das Reichsgesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs erlassen und trat am 1. Juli in Kraft. Es umfaßte vier Bereiche: die Ausschreitungen im Reklamewesen (§§ 1-4), Quantitätsverschleierungen, üble Nachrede und den Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen. Bei den §§1-4 war die Absicht zur Tat ausschlaggebend. Diese geschah in der Regel durch ,unrichtige Angaben tatsächlicher Art 4 , die sich auf konkrete Produkteigenschaften bezogen.349 Auch die Verwendung falscher Auszeichnungen oder übertrieben großer Fabrikabbildungen fiel unter dieses Gesetz. Einfache marktschreierische Übertreibungen, Komparative wie ,beste Ware 4, ,billigste Ware 4 etc. dagegen seien Urteile, somit erkennbar subjektiv und vom Publikum zu durchschauen. Sie wurden nicht verfolgt. Im Mittelpunkt standen irreführenden Angaben, die im Zusammenhang mit dem Ausverkauf vorkamen. Die Geldstrafen konnten bis zu 1.500 Mark betragen; im Falle eines Rückfalls konnte Strafverschärfung verhängt werden. Als Ausnahme im Strafrecht gab es die Möglichkeit, das Urteil öffentlich bekannt zu machen und dadurch das Publikum über die unlauteren Geschäftspraktiken eines Betriebes aufzuklären. 350 Das Gesetz ließ zwei Ebenen zu: auf zivilrechtlicher Ebene war die Klage auf Unterlassung, bzw. Schadensersatz möglich. Eine strafrechtliche Dimension erhielt das Gesetz durch die Möglichkeit, Gegenstände, Schriften, Abbildungen etc. einzuziehen oder unbrauchbar zu machen. Ein erneuter Vorstoß der Schutzverbände des Mittelstandes, das Gesetz zu verschärfen, führte zu einer Revision am 7. Juni 1909.351 Der wichtigste Punkt
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Bang,, S. 3. Vgl. Alfons Daniel: Darstellung des Verbrechens des unlauteren Wettbewerbes unter Erörterung seiner Stellung im System des Strafrechts, München 1900, S. 97. 349 Z. B. „Angaben über die Beschaffenheit von Waren oder gewerblichen Leistung [...], Angaben über die Herstellungsart [...], Angaben über die Preisbemessung [...], A gaben über die Art des Bezuges" (Transportweg, Produzentenbezug etc.), „Angaben über die Bezugsquelle [...] Angaben über Anlaß und Zweck des Verkauf. Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27. Mai 1896, in: Reichs-Gesetzblatt, Nr. 13. 1896, S. 145-149, S. 146. 350 Vgl. auch Daniel, S. 101 f.; Heinrich Müller. Unlauterer Wettbewerb, in: Organisation, Nr. 19-20/1907, S. 352-355. 351 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juli 1909, in: Reichs-Gesetzblatt, Nr. 31/1909, S. 499-506. Dieses Gesetz trat am 1. Oktober 1909 in Kraft. 348
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war eine strengere Regelung zu den Ausverkäufen (§§ 7-10). 352 Außerdem wurde im ersten Paragraphen des revidierten Gesetzes die von Vertretern der Mittelstandsbewegung schon 1896 geforderte ,Generalklausel4 eingefügt. 353 Gegner der Generalklausel befürchteten, daß sie gegen alles eingesetzt werde, was als unsittlich ausgelegt werden könne. 354 Anklage konnte nicht nur von geschädigten Kunden, sondern auch durch juristische Personen, also Verbände erhoben werden. 355 Zahlreiche eigens zum Zweck der Strafverfolgung gegründete , Schutz verbände4 griffen zur „Selbsthilfe" 356 in Form zahlreicher Anzeigen, die sich vor allem gegen Ausverkäufe, übermäßige Rabattbewilligungen, Lockartikel, Geschenke und Zugabeartikel der Warenhäuser richteten. Verstöße gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb aus den eigenen Reihen wurden immer auf Unkenntnis, bei anderen dagegen auf Vorsatz zurückgeführt. 357 Häufig kam es zu voreiligen und unbegründeten Anzeigen. „Der Konkurrenzneid artete manchmal in Denunziationswut aus, " 3 5 8 urteilte der Nationalökonom Biermer und bestätigte damit die Befürchtungen der Gegner der Generalklausel. Der Verband Berliner Spezialgeschäfte rief deshalb seine Mitglieder dazu auf, sich vor Erhebung einer Klage mit der Geschäftsstelle in Verbindung zu setzen.359 Auch andere Detaillistenvereine klärten in Vorträgen und Kursen ihre Mitglieder über das neue Gesetz auf. 360 Der Verband der Deutschen Waren- und Kaufhäuser, unter ver-
352 Ausverkäufe mußten nun mit einer Liste der Waren zwei Wochen vorher bei Polizeibehörde und Handelskammer angemeldet werden, vgl. Clovis Clad : Der Ausverkauf. Geschichtliche Entwicklung und systematische Darstellung seiner Regelung im Gesetz, Jur. Diss. Leipzig 1913, S. 96 f. Regional konnten durch Polizeiverordnungen zusätzliche Verschärfungen erreicht werden, ebd., S. 79 ff. 353 Vgl. Dehn: Hinter den Kulissen des modernen Geschäfts, S. 60; Bang, S. 93. 354 „ Wer im geschäftlichen Verkehre zu Zwecken des Wettbewerbes Handlungen nimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensers in Anspruch genommen werden. " Zit. nach: Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Text-Ausgabe mit Anmerkungen und Sachregister, hg. von Albert Pinner, Berlin 1909, S. 35. Eine Definition dessen, was unter ,guten Sitten' zu verstehen sei, wurde im Kommentar mitgeliefert: „Der Maßstab für den Begriff der Guten Sitten hat der Richter aus dem herrschenden Volksbewußtsein zu entnehmen, dem Anstandsgefiihl aller billig gerecht Denkenden [...]" 355 Vgl. Bang, S. 74. 356 Jahres-Bericht 1906 des Vereins zum Schutze für Handel und Gewerbe e. V., Augsburg, in: Der Detaillist, Nr. 11/1907, S. 7-9. S. 7. 357 Vgl. z.B. 20. Jahres-Bericht des Vereins Berliner-Kolonialwaren-Händler, 1910 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 103). 358 Biermer, S. 37. 359 Betrifft: Unbegründete Beanstandung von Inseraten, in: Das Kontor, Heft 10/1914, S. 10-11. 360 Vgl. Johannes Wernicke : Das neue Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, Heft 5/1910, Sp. 193-198. Sp. 196.
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C. Reklame im Geschäftsaltag
schärften Druck der Öffentlichkeit geraten, richtete 1907 ebenfalls eine Kommission ein, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen sollte. Durch Informationskurse und Kommentare wurden die Mitglieder aufgeklärt und ihre Inserate auf eine einwandfreie Formulierung hin überprüft. 361 Am 8. Oktober 1910 nahm das Berliner Einigungsamt in Sachen Unlauterer Wettbewerb seine Arbeit auf. Gegründet wurde es auf Initiative der Detaillisten der Bekleidungsbranche durch die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, die das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb zwar begrüßten, in der Praxis jedoch als unzureichend empfanden. Verstöße gegen das Gesetz wurden meist auf Unkenntnis zurückgeführt und die Fachverbände plädierten überwiegend für eine außergerichtliche Einigung: „Es ist wirklich überflüssig, bei jeder kleinen Übertretung des Wettbewerbsgesetzes durch eine vielleicht nur ungeschickt abgefaßte Annonce zum Gericht zu laufen. " 3 6 2 Vor allem die Anklagepraxis empfand man als schwierig, da sie mit „dem Odium der Denunziation verknüpft" sei. Dieser Ruf halte viele davon ab, auch in berechtigten Fällen Anzeige zu erstatten. Einzige Lösung schien der „ Weg der kaufmännischen Standesdisziplin " 3 6 3 in Form eines Einigungsamtes. Im ersten Jahr beschäftigte sich dieses Amt mit 156 Fällen; 106 davon wurden durch Vergleich erledigt. Die meisten beschäftigten sich mit unlauterer Reklame. Oft reichte von „autoritativer Seite 4' 364 ein aufklärender Hinweis über die Rechtslage. Bei schwierigen Fällen erwies sich eine Aussprache zwischen den Parteien als erfolgversprechend. Die Akzeptanz bei den Kaufleuten erklärte man dadurch, daß diese sich eher von Standesgenossen beraten lassen würden als ein Gericht anzurufen. Außerdem war das Einschalten des Einigungsamtes kostenlos, und es machte die Fälle nicht öffentlich, sondern begnügte sich mit der Unterlassung des beanstandeten Verhaltens. 365 Letztlich hoffte man, daß sich durch die Tätigkeit des Einigungsamtes mit der Zeit „feste Begriffe darüber herausbilden, was auf dem Gebiete der Reklame zulässig sei"? 66 Auch in anderen Städten kam es zu der Gründung
361 Vgl. ders.: Wandlungen, S. 9; ders.: Geschichte des Verbandes, S. 43; Brief des Verbandes der Waren- und Kaufhäuser an die Ältesten der Kaufmannschaft, 16.9.1910 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 168). 362 Vorschlag des Detaillistenverbandes zur Gründung eines Schiedsgerichtes, in: Confectionair, 14.10.1909 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 1). 363 Unlautere Reklame und Einigungsamt, in: Organisation, Nr. 11/1912, S. 308-309, S. 308. 364 Vgl. Organisation, Heft 8/1913, S. 197. 365 Vgl. Einigungsamt der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin in Sachen des Unlauteren Wettbewerbes. Denkschrift der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, Berlin 1912, S. 8. 366 Bericht der Ältesten der Kaufmannschaft vom 20.6.1910 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10; Blatt 131). Zu dieser erzieherischen Funktion auch Einigungsamt der Korporation der Kaufmannschaft, S. 13 f.
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solcher, häufig an die Handelskammern angegliederten Einigungsämter. 367 Einige Mittelstandsverbände hielten allerdings eine solche Institution für überflüssig, da in ihren Reihen keine Verstöße gegen das Gesetz vorkämen. Für die anderen, die mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, reichten die ordentlichen Gerichte. 368 Auch innerhalb der Reklamebranche wurde das neue Gesetz ausgiebig besprochen und Fachverbände wie der VDR, versuchten Mitglieder durch Artikel und Vorträge darüber aufzuklären. 369
2. Warenhaussteuer Explizit gegen die Warenhäuser richteten sich Forderungen einer Sondersteuer, die ebenfalls in erster Linie auf Initiativen der Mittelstandsbewegung zurückging. Sachsen ermächtigte 1897 seine Gemeinden, Warenhäuser mit einer Sondersteuer von bis zu 2 % des Umsatzes zu belegen. In Bayern konnten Warenhäuser auf der Grundlage des neuen Gewerbesteuergesetzes ab 1899 durch den Staat und zusätzlich durch die Gemeinden besteuert werden. Im Gesetz fehlte jedoch eine klare Definition des Warenhauses, so waren neben Versandhäusern und Filialgeschäften auch große Fachgeschäfte betroffen. 370 In Preußen wurde am 18. Juni 1900 nach vierjähriger Diskussion eine Besteuerung des Warenhauses beschlossen und trat zwei Monate später in Kraft. Als Warenhaus galten nach dem Gesetz die Geschäfte, die Waren aus mehr als einer von vier großen Warengruppen führten und der Umsatz in diesen Gruppen insgesamt 400.000 Mark überschritt. 371 Die Steuer selbst stieg in mäßiger rogression von 1 % bei einem Umsatz zwischen 400.000 bis 450.000 auf 2 % bei einem Umsatz über 1.100.000 Mark, durfte aber nicht mehr als 20% des Gewinns betragen. Im Vorfeld dieses Gesetzes wurde lange und hart diskutiert. Die Korporation der Kaufmannschaft Berlin, wie auch andere Handelskammern, sprach sich klar gegen diese Steuer aus, die sie als Strafe für eine als „ unerlaubt gehaltene Art 367
Vgl. Vereinigte Tabak-Zeitungen, Nr. 23/1910 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 126). Dort auch zahlreiche Schreiben an die Korporation der Kaufmannschaft in Berlin, mit der Bitte um die Satzung, um sich für die Gründung eigener Amter daran orientieren zu können. Blatt 242 ff. 368 Vgl. 20. Jahres-Bericht des Vereins der Kolonialwaren-Händler, 1910 (LAB/ STA, Rep. 200-01, Akte Κ 10, Blatt 103). 369 Vgl. Mitteilungen des VDR, Jg. 1909 und 1910. 370 Vgl. Wein, S. 100 f. Wernicke : Geschichte des Verbandes, S. 14 ff. Hamburg führte keine Steuer ein, vgl. Spiekermann: Warenhaussteuer, S. 14. 371 Vgl. Johannes Steindamm: Warenhaus-Steuern, in: Plutus, Heft 27/1905, S. 515516; Heckel, S. 29 ff. Zur Diskussion im Vorfeld und erste Reaktionen vgl. auch Waarenhauszeitung, Jg. 1/1899-1900. Hier wurden in jedem Heft neue Punkte des Gesetzes diskutiert. Zur Genese des Gesetzes ausführlich Spiekermann: Warenhaussteuer, S. 51 ff. 11 Lamberty
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372 der Bethätigung von Intelligenz, Fleiss und Wirtschaftlichkeit" empfand. Das Argument, daß durch diese Steuer unreelles Geschäftsgebahren bekämpft werden könne, wie es von Seiten des Mittelstandes immer wieder formuliert wurde, mochte sie nicht gelten lassen. Es sei nicht zu belegen, daß Warenhäuser geschäftlich unlautere Methoden einsetzen würden. 373 Von Mittelstandsvertretern wurde daraufhin der Korporation der Kaufmannschaft vorgeworfen, daß sie sich auf die Seite der ,Großkapitalisten 4 stelle. Tatsächlich saßen in der Korporation zahlreiche Warenhausvertreter. Parallel zur parlamentarischen Diskussion erschienen etliche Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften und der Tagespresse, in denen die Mehrheit der sich äußernden Nationalökonomen die Warenhaussteuer als Verquickung von Steuer- und Sozialpolitik ablehnte.374 Von den Kritikern der neuen Steuer wurde diese nicht nur ökonomisch als zweifelhaft begriffen; ihr Sinn sei vor allem ein Entgegenkommen der Regierung an die ,,populäre Strömung" 375 der Mittelstandsbewegung und Mittel im Wahlkampf. Auch Konsumvereine und Warenhäuser samt ihren Angestellten drückten in Protestschreiben und -Versammlungen ihre Kritik an dem neuen Gesetz aus.376
Schon vor der Beschlußfassung über das Gesetz machte sich eine große Unsicherheit darüber breit, inwiefern nun auch kleinere Häuser, die mehrere Warengruppen führten, unter das Gesetz fallen sollten. 377 Mittlere Häuser umgingen die Steuer, indem sie sich auf die Warengruppe Β beschränkten, die breit genug gefaßt war, um auch ein riesiges Haus zu füllen. 378 Der Detaillisten verband von Rheinland und Westfalen schlug daraufhin vor, als Kriterium zur Unterscheidung von Warenhaus und Spezialgeschäft verstärkt auf die Formen der Reklame zu achten. Sobald die ,typischen4 Reklamemittel des Warenhauses, wie Ausnahmetage und Lockartikel, eingesetzt würden, wäre eine Sonderbesteuerung 372
Petition der Ältesten der Kaufmannschaft an das Haus der Abgeordneten am 5.3.1900 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 857, Blatt 251). Vgl. auch Spiekermann: Warenhaussteuer, S. 108. 373 Vgl. Die Ältesten der Kaufmannschaft an den Finanzminister Miquel, 13.7.1896 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 857, Blatt 6). Ähnlich wurde dieser Passus in die Petition an das Haus der Abgeordneten am 5.3.1900 aufgenommen, vgl. ebd. Blatt 251. 374 V. a. Vertreter des , Vereins für Socialpolitik' äußerten sich negativ, vgl. Spiekermann: Warenhaussteuer, S. 78 f. 375 Die Waarenhaussteuer, in: Die Zukunft, Nr. 30/1900, S. 137-143, S. 143. 376 Vgl. Spiekermann·. Warenhaussteuer, S. 113. 377 Die Korporation der Kaufmannschaft erhielt zahlreiche Zuschriften von verunsicherten Geschäften ζ. B. ein Spielwarengeschäft, das auch Kinderkleidung führte oder ein bekanntes Kunstgewerbegeschäft, vgl. LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 857, Blatt 254 f., Zuschriften: Blatt 123 ff. 378 Gruppe Β oder II enthielt: Garne, Zwirne, Posamenten; Schnitt-ManufakturModewaren; gewebte, gestickte, gewalkte, gestrickte Waren; Bekleidungsgegenstände (Konfektion, Pelz); Wäsche, Betten, Möbel, Vorhänge, Teppiche, Möbelstoffe, Zimmerdekorationen.
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fallig. 379 Ein Problem bereitete die Definition der Einteilung der Warengruppen. In der Zeitschrift ,Das Waarenhaus' erschienen wiederholt Ergänzungen zum § 6 des Gesetz, in denen definiert wurde, in welche Gruppe beispielsweise „Gummibetteinlagen" , „künstliche Blumen " oder „ Wäscheleinen" 38° gehörten. Die großen Häuser entwickelten sich trotz Steuer weiter und wälzten die Kosten auf Fabrikanten oder Kunden ab. 381 Daraufhin wurde die Steuer auch aus den Reihen des Mittelstandes kritisiert, der nun die heraufgesetzten Preise der Lieferanten fürchtete, die diese an die kleineren Detaillisten weitergaben. 382 Ab 1904 stellten Mittelstandsvereinigungen, vertreten durch Abgeordnete wie den Konservativen Friedrich Hammer, wiederholt Anträge im Reichstag auf eine Verschärfung der Warenhaussteuer. Die Handelskammern unterstützten diese Anträge in der Regel nicht. 383 Im Preußischen Abgeordnetenhaus stießen sie dagegen auf Wohlwollen, da Vertreter fast aller Parteien, wenngleich mit unterschiedlichen Schlüssen, Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit des Gesetzes äußerten, wurden aber vom Herrenhaus 1905 abgelehnt.384 1907 und 1912 scheiterten weitere Anträge auf Steuererhöhung. 385 Die Zahl der Warenhäuser ging während der Diskussion um die Einführung der Steuer kurzzeitig zurück; 1901 gab es in Preußen noch 109 Warenhäuser, 1903 nur 73. 1907 war die Zahl der warenhaussteuerpflichtigen Geschäfte wieder auf 96 angestiegen, 13 davon allein im Stadtkreis Berlin. 386 Nachdem die
379 Vgl. Detail listen verband von Rheinland und Westfalen an das Haus der Abgeordneten, 2.4.1900 (LAB/STA, Rep. 200-01, Akte Κ 857, Blatt 278 f.). 380 Z.B. in Das Waarenhaus, Heft 10/1901, S. 110. Der enorme Nachbearbeitungsbedarf (und damit die Verwaltungskosten) fur die genaue Definition der zulässigen Gruppen wurde häufig kritisiert. In 6 1/2 Monaten wurden 83 zusätzliche Verordnungen, die meistens die Gruppeneinteilung betrafen, erlassen. Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 20. Leg., I. Sess., 1904/05, 21. Sitzung, 17.2.1904, Sp. 1286-1348, Sp. 1327 (Diskussionsbeitrag Oeser). 381 Vgl. Johannes Steindamm: Warenhaus-Steuern, in: Plutus, Heft 27/1905, S. 516. Als große Häuser bezeichnet Lux diejenigen, die 1 Million an Umsatz jährlich überschritten. Ihre Anzahl gibt sie mit 3/10-3/8 an; ihr Umsatz würde aber 3/4-4/5 des Gesamtumsatzes aller Warenhäuser betragen, vgl. Lux, S. 20. 382 Vgl. Wernicke : Wandlungen, S. 22, 24; Müffelmann : Moderne Mittelstandsbewegung, S. 52 f. 383 Vgl. Petition an das Haus der Abgeordneten zu dem Gesetzentwurf zur Abänderung des Gesetzes betreffend die Warenhaussteuer vom 18. Juni 1904, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, 1904, Teil 1, S. 585-589. 384 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 20. Leg., I. Sess., 1904/05, 21. Sitzung, 17.2.1904, Sp. 1286-1348. 385 Vgl. zu den diversen Anträgen Spiekermann : Warenhaussteuer, S. 173 ff. 386 Vgl. Käthe Lux, S. 200.
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Warenhäuser zuerst in großer Konkurrenz untereinander standen, schlossen sie sich nach den ersten Sondersteuern enger zusammen. Oskar Tietz initiierte 1898 einen Zusammenschluß zur Bekämpfung der Steuerpolitik. 1902 erging ein Aufruf zur Verbandsgründung an ca. 120 Waren- und Kaufhäuser und 1903 wurde der Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser gegründet. 387 Hauptziele waren die Ablehnung einer Sonderbesteuerung der Warenhäuser, die Abwehr besonderer baupolizeilicher- und Feuerversicherungsvorschriften sowie eine generelle Verteidigung der Warenhäuser „gegen den Ansturm der rückschrittlichen Elemente" 388, wobei man sich als Interessen verband des modernen Detailhandels überhaupt begriff. Die Anfeindungen der Warenhäuser durch Kleinstgeschäfte ebenso wie durch Spezialgeschäfte trug zur Differenzierung im Handel bei. Auf beiden Seiten wurde versucht, der eigenen Geschäftsform ein deutlicheres Profil zu geben; mitunter halfen dabei gerade die Angriffe der gegnerischen Seite. So machte sich der Effekt bemerkbar, daß die Agitation des Mittelstandes gegen die Warenhäuser ins Gegenteil umschlug und die Warenhäuser in ein positives Licht rückten. 389 Lederer kam zu dem Schluß, daß es gerade die mittelständische Agitation war, die dazu führte, daß das Warenhaus „zum Symbol einer Weltanschauung geworden ist, und daß gegenwärtig die Interessenvertretung der Warenhäuser ebenso energisch freiheitliche, demokratische Prinzipien vertritt, als die des Detailhandels konservativen, , staatstragenden ' Prinzipien huldigt. " Das Warenhaus konnte gerade durch das als Vorwurf entgegengehaltene Prinzip des preiswerten Verkaufs für sich in Anspruch nehmen, im Interesse der breiten Kundschaft zu arbeiten. Es wurde dadurch in der Debatte „zur sichtbaren Verkörperung aller Tendenzen, die in der modernen Wirtschaftsentwicklung den Detailhandel und den Mittelstand überhaupt bedrohen: als Großbetrieb, als Konzentration des Kapitals und als indirekte Konsumentenorganisation, die den Detailhandel beiseite schiebt".™ Der Warenhausbesitzer Salomon Schocken kam zu dem Schluß, daß sich die Warenhäuser erst aufgrund der Angriffe durch den Mittelstand so weit entwickelt hätten. Das Reklamewesen wurde verbessert und die als Reglementierung gedachten Bauvorschriften zur Feuersicherheit hätten dazu gefuhrt, daß die Häuser größer, heller und großzügiger gebaut wür-
387
Vgl. Wein, S. 108. Satzung, zit. nach Wernicke : Geschichte des Verbandes, S. 40. 389 Diesen Effekt erkennend verzichtete ,Der Deutsche Kaufmann4 auf Artikel gegen Warenhäuser und konzentrierte sich auf das Lob des kleinen Detaillisten, vgl. Was der Kaufmann von den Warenhäusern lernen kann, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 6/1906, S. 82-85, S. 82. 390 Lederer: Mittelstandsbewegung (1910), S. 993. 388
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den. 391 Auch Georg Tietz berichtete in seinem Memoiren, daß Angriffe des Mittelstandes und Prozesse gegen das Warenhaus Tietz wegen vermeintlich unlauterer Geschäftsmethoden, die stets mit Freispruch endeten, sich als Reklame für das Haus auswirkten. 392
391 Vgl. S. Schocken jr.: Warenhausbauten (I), in: Der Kaufmann und das Leben, Heft 1/1913, S. 1-5, S. 3. 392 Vgl. Georg Tietz , S. 32.
D. Neue Medien und ihre Produktion In Deutschland stand die Periode der Reklame bis zu ihrer »künstlerischen Reform 4 1908/10 im Zeichen der Experimente und der Superlative.1 Nahezu jedes Medium wurde auf Reklametauglichkeit, massenhaften Einsatz und Originalität hin getestet, wobei Euphorie und Ehrgeiz dem technisch Machbaren galten. In der Drucktechnik, in der Entwicklung von Lichtreklame und Filmen für Reklamezwecke wurden große Fortschritte gemacht. Eine Auseinandersetzung mit den Rezipienten und deren Kritik an der Reklame kam erst seit der künstlerischen Phase der Reklame (1908/10-1914) zum Zuge. Die Kritik an der Reklame beeinflußte deren Form in zunehmendem Maße. Die Geschichte der Reklamemedien und ihrer Produktion ist bislang erst in Ansätzen vor allem zu Anzeigen und zur Blech- und Plakatreklame erforscht worden. Die folgende Analyse gilt der engen Wechselwirkung der technischen Entwicklung von Medien und ihrem Einsatz für die Reklame. Die neuen Erfordernisse an eine spezifische Reklamewirksamkeit zogen die Entwicklung entsprechender Techniken nach sich. Zugleich wurden neue Techniken auf ihre Verwendbarkeit in der Reklame hin erprobt. Die Nachfrage nach solchen Techniken bot ihren Produzenten entsprechende Absatzaussichten.
I. Reklamemedien 1. Annoncen Das Anzeigenwesen, deren Entwicklung sich in Deutschland bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgen läßt, erfuhr im 19. Jahrhundert einen schnellen Aufschwung, als das staatliche Anzeigenmonopol aufgegeben und das Pressewesen gelockert wurde. 2 Mit dem Reichsgesetz vom 7. Mai 1874 fielen als letzte
1
Zur Periodisierung vgl. Redlich, S. 25 f. Zu den Ursprüngen der Zeitungen und des Inseratenwesens vgl. Munzinger, S. 12 ff.; Bachem, S. 11-21. Hans-Heinz Meissner: Das Inserat in den großen deutschen politischen Tageszeitungen von 1850 bis 1870, Diss. Leipzig 1931. Speziell zu Anzeigen Heidrun Homburg: Warenanzeigen und Kundenwerbung in den »Leipziger Zeitungen4 1750-1800. Aspekte der inneren Marktbildung und der Kommerzialisierung des Alltagslebens, in: Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, hg. von Dietmar Petzina, Berlin 1991, S. 109-131. 2
I. Reklamemedien
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Hemmnisse spezielle Steuern und Konzessionspflicht. 3 Wegweisend für das Anzeigenwesen wurden nun die billigen ,General-Anzeiger 4, die seit den siebziger Jahren explizit als „Organ fur Alle" und „Insertionsorgan ersten Ranges " 4 mit hoher Auflage gegründet wurden. Hier war die Wechselwirkung zwischen preiswertem Abonnement bei teilweiser Deckung der Produktionskosten durch Inserateneinnahmen und größerem Leserkreis besonders deutlich. Mehr und mehr Menschen abonnierten eine eigene Zeitung. In den 1870er Jahren betrugen die Inseratteile der Zeitungen mitunter schon mehrere Seiten. Industrielle entdeckten das Inserieren als Absatzstrategie und verloren alte Vorbehalte gegen Anzeigen. Häufig begannen sie in mehreren Zeitungen gleichzeitig zu annoncieren. Das Inserieren geschehe nun mit „System" 5, so Munzinger. Auch die Blätter entfernterer Gegenden wurden genutzt, als das verbesserte Verkehrssystem den Warenaustausch über weite Distanzen ermöglichte. Ganzseitige Anzeigen waren vor 1870 nicht zu finden. 6 In der Gestaltung beschränkte man sich auf den Einsatz typographischer Sonderzeichen oder größere Schrifttypen. In der Plazierung und Wiederholung der Anzeigen zeigten sich jedoch erste systematische Ansätze.7 Hinweise auf bestimmte Vorzüge der Waren und auf ihre billigen Preise wurden in den Anzeigentext integriert. Die ersten Anzeigen mit offenen Preisangaben, vor allem für Konfektion, erschienen.8 Für die Gestaltung eine Annonce, in einer Gestaltung, die über den üblichen Buchsatz hinausging, waren sogenannte Akzidenzdrucker zuständig.9 Sie entwarfen Annoncen, indem sie Ornamente, Medaillen, Girlanden etc. als fertige Versatzstücke mit dem Text kombinierten. Solche Akzidenzdrucker waren hoch qualifiziert und ergänzten mitunter ihre Ausbildung an einer Kunstgewerbe- oder Kunstschule, um eigenhändige Entwürfe gestalten zu können. Diese, nicht aus dem Bestandteilen des Setzkastens herstellbaren Anzeigenklischees wurden in 3
Vgl. Hans-Wolfgang Wolter. Generalanzeiger - das pragmatische Prinzip. Zur Entwicklungsgeschichte und Typologie des Pressewesens im späten 19. Jahrhundert mit einer Studie über die Zeitungsunternehmungen Wilhelm Giradets (1838-1918), Diss. Bochum 1981, S. 119, 128. 4 General-Anzeiger für Leipzig und Umgebung, Nr. 1, 7. Oktober 1886, zit. nach Wolter, S. 320 f. Vorläufer des Generalanzeiger lassen sich aber schon ab 1833 feststellen. Wolter berichtet auch von reinen Anzeigenblättern, den ,Plakat-Anzeigern' in Süddeutschland in den siebziger Jahren, ebd., S. 123. 5 Munzinger, S. 58, 60. Vgl. auch Homburg: Warenanzeigen, S. 120 f. 6 Vgl. Meissner, S. 29. 7 Vgl. im folgenden Bachem, S. 32-40; Meissner, S. 16-22. 8 So die Anzeigen von dem Textilhaus Rudolph Hertzog und den Vorläufern der späteren Warenhäuser, Karstadt und Tietz, vgl. Abb. bei Max Osborn: Berlins Aufstieg zur Weltstadt, in: Berlins Aufstieg zur Weltstadt. Ein Gedenkbuch, hg. vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, Berlin 1929, S. 15-240, S. 59. 9 Vgl. Zgoda, S. 9; Hubert Köhler: ,Nach berühmten Mustern4. Fachzeitschriften des graphischen Gewerbes und kunstgewerbliche Vorlagesammlungen im späten 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 98 f.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
der Regel als Zinkographie produziert. 10 Inserenten wurde empfohlen, einen eigenen Setzer zu beschäftigen und darauf zu achten, daß dessen Material sich nicht mit dem der Zeitung überschneide; nur so sei eine große Wirksamkeit gewährleistet. Der Reklamefachmann Hennig warnte davor, Inseratvignetten zu verwenden, die fertig angeboten würden und „ bereits in Hunderten von Tageblättern in Millionen von Abdrücken erschienen" n seien. Spezielle Entwürfe seien weitaus wirkungsvoller. Kleinere Druckereien konnten sich solche Spezialisten nicht leisten und vergaben entsprechende Aufträge an typographische Ateliers oder Klischeeanstalten, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts expandierten. 12 Ältere Methoden Klischees als Holzschnitt herzustellen wurden zunehmend durch Methoden abgelöst, die eine größere Ausnutzung zuließen.13 Grundlegend neue gestalterische Wege wurden erst unter dem Einfluß des Künstlerplakates seit der Jahrhundertwende beschritten. Eigens gezeichnete Schriften oder Illustrationen waren der Anfang der Bildanzeigen und lösten die vorgefertigten Klischees ab. Henry Van de Velde, Peter Behrens, Edmund Edel, Karl Schnebel und Th. Th. Heine wurden als vorbildliche Inseratzeichner gelobt. 14 Firmen wie Odol, Henkell Trocken, Stollwerck oder das KaDaWe gehörten zu den ersten Nutzern solcher künstlerischen Entwürfe. 15 Bildanzeigen setzte sich jedoch erst durch, als die Reproduktionstechniken die Wiedergabe solcher Entwürfe in hoher Qualität gewährleisten konnten und die Zeitungen bereit waren, den Anzeigenteil auf ebenso hochwertigem Papier zu drucken, wie den Rest des Blattes.16 Die Zahl qualifizierter Zeichner stieg allerdings nur langsam.17 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten die Zeitungen begonnen, ihre Finanzierung über das Inseratwesen zu decken. Die verschiedenen Formen der Reklame wurden dazu nach ihrem Zweck unterschieden. So wurden für redaktionelle Reklame höhere Tarife berechnet als für andere gewerbliche Anzeigen.18 Diese Art der Reklame war ein Grund für den Ruf der Reklame als unlauter und betrügerisch und boomte während der Gründeijahre mit diversen re-
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Vgl. Wie man in Deutschland annoncirt (II), in: Die Reklame, Heft 14/1895, S. 238-243, S. 240. 11 Paul Hennig: Die Illustration im Dienste der Reklame, in: Moderne Reklame 1892, S. 45. 12 Vgl. ebd., S. 46. 13 Vgl. Klischee und Reklame, in: Das Kontor, Heft 7/1908, S. 342-346. Neben dem Holzschnitt wurde die Zinkographie immer wichtiger. Lithographie, Autotypie, Chromolithographie und Kupferätzung fanden bei kleineren Auflagen Anwendung. 14 Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 50 ff. 15 Vgl. Kropeit, S. 354. 16 Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 45. 17 Vgl. Kropeit, S. 355. 18 Wuttke, S. 421. Andere Beispiele bei Schmölder, S. 16 f.
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daktionellen Reklamen für „Gründungs- und Emissionsprospekte", 19 Spezielle Angestellte übernahmen die Organisation des Anzeigenteils.20 Schnell wurde entdeckt, daß die Organisation des Anzeigenwesens im Sinne einer Anwerbung neuer Kunden für die Zeitungen eine einträgliches Geschäft versprach, wenn es im größeren Stil gemacht würde. Zuvor allein durch die Abonnentengebühren finanziert, trugen nun die Einnahmen aus dem Anzeigenverkauf die Hauptkosten. Zeitungen wurden billiger. Das wiederum steigerte die Auflage und auch die Zahl der Inserenten. Dieser Prozeß wurde von zahlreichen Stimmen begleitet, die eine Korruption der Presse befürchteten. Die Herstellung reiner Anzeigenblätter war preiswert, da keine Nachrichtenredakteure bezahlt werden mußten; das Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben versprach hohe Gewinne.21 Auch bei den anderen Zeitungen spielte die Anzeige als Einnahmequelle eine immer wichtigere Rolle. Folglich warben die Zeitungen und Zeitschriften selbst für sich als Insertionsorgan. Für diesen Bereich gab es spezielle Reklamehandbücher. 22 Der von Scherl 1883 explizit als Anzeigenblatt gegründete ,Berliner Lokalanzeiger 4 warb in der ersten Ausgabe mit der besonderen Sorgfalt, die das Blatt dem Anzeigenteil widmen werde. 23 Ein Kritiker stellte bitter fest: „Der ,Lokal-Anzeiger' wurde allein schon seiner Annoncen wegen gelesen. Eine Leistung, die vor Scherl niemand zustande gebracht hat. " 2 4 Als Einführungsreklame wurde die erste Auflage von 200.000 Stück auf den Straßen frei verteilt. 25 Ullstein begann 1887 in großem Stil zu inserieren, um seine Blätter als solche bekannt zu machen; später warb er gezielt um Inserenten, indem er auf die Vorteile des Inserierens gerade in seinem Blatt hinwies. 26 Neu entstandene Zeitungen warben manchmal mit Anzeigenseiten, in denen renommierte große Unternehmen inseriert hatten, um ihre Attraktivität als Reklameträger zu unterstreichen. Nicht immer waren dies allerdings eigene Anzeigen; der unerlaubte Nachdruck nicht vertraglich vereinbarter Anzeigen zu solchen Reklamezwecken war
19 Munzinger, S. 83; Schmölder hielt diese Art der Anzeigen aber 1879 schon für vorbei, vgl. Schmölder, S. 36. Vgl. dazu auch Paul Turn: Panama oder über die Grenzen zwischen Reklame, Betrug, Bestechung u. s. w. in: Deutsche Worte 1893, S. 577-627. 20 Vgl. Wuttke, S. 387. 21 Vgl. ebd., S. 236. 22 Vgl. ζ. B. Die Anzeigen- und Abonnenten-Gewinnung des Zeitungs- und Zeitschriftenverlegers, Steglitz o. J. [1908]. 23 Vgl. Berliner Lokal-Anzeiger, Nr. 1/4. November 1883, zit. nach Wolter, S. 330. 24 Gaulke, S. 140. 25 Vgl. Hans Erman: August Scherl. Dämonie und Erfolg in Wilhelminischer Zeit, Berlin 1954, S. 81 ff. 26 Vgl. Redlich, S. 121. Besonders bekannt wurde die Einfuhrungsreklame für den Berliner Lokalanzeiger 1889 (Scherl) und die Berliner Morgenpost 1898 (Ullstein).
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jedoch verboten. 27 Zeitungen gehörten zu der ersten Branche, die eigene Reklamefachleute für die Werbung von Inserenten beschäftigten. 28 Die Auflage der Zeitung, der Ausbau des Anzeigenteils und gesenkte Tarife wurden zum Konkurrenzmittel im Werben um Inserenten. 29 Informationen über die Auflage der Zeitung erfolgten jedoch freiwillig durch die Verleger. Da sich Anzeigenpreise zumindest teilweise an der Auflage orientierten, waren hier ehrliche Angaben die Ausnahme.30 Die Preise der Anzeigen richteten sich nach Größe, Anzahl oder Zweck der Anzeige und waren für den Kunden aufgrund der uneinheitlichen Zeilengröße der verschiedenen Zeitungen und durch die Provisionen für die Annoncenaquisiteure kaum zu durchschauen.31 Das Aushandeln von Preisen war durchaus üblich. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Zeitungen nahezu ausschließlich im Abonnement, Zeitschriften außerdem auch im Buchhandel verkauft. Der Bahnhofsbuchhandel als wichtiger Zeitungsverkäufer existierte in Berlin erst seit 1882. In den neunziger Jahren kam dann der Straßenverkauf und der Verkauf an Kiosken auf. Offiziell wurde das Verbot des Straßenverkaufs erst 1904 aufgehoben. 32 Die Zahl der Zeitungen im Deutschen Reich stieg von 1.525 im Jahre 1868 auf 3.337 1898 und 4.221 im Jahr 1914. Ähnlich stieg die Zahl der Zeitschriften. 33 Auch die durchschnittliche Auflagenhöhe wuchs. Die Zahl der den Zeitungen beigelegten Prospekte lag 1905 bei gut 296 Millionen. 34
2. Kunstdruck- und Luxuspapierwaren Die verschiedenen Produkte der Luxuspapierindustrie wurden als Reklame vor allem in Form von Verpackungen oder Beigabe zu Markenartikeln eingesetzt. Voraussetzung waren aber neben den interessierten reklametreibenden Firmen leistungsfähige Anbieter auf dem Gebiet der Papierindustrie. Die Luxuspapierwarenindustrie war ein junger Zweig der seit dem 19. Jahrhundert ex-
27 Er fiel unter den unlauteren Wettbewerb, vgl. Franz Hoeningen Das Inseratenrecht, in: ders.: Das Inseratenrecht und andere verlagsrechtliche Aufsätze, Berlin 1909, S. 16 f. 28 Vgl. zur Arbeit eines solchen »Propagandisten4: Die Anzeigen- und AbonnentenGewinnung, S. 22 ff. 29 Vgl. ausführlich Kropeit, S. 116 ff; Wolter, S. 152 f. 30 Vgl. Mataja: Reklame (1926), S. 208 f. 31 Vgl. Redlich, S. 104 f. 32 Vgl. Schlegel-Matthies, S. 283. 33 1888 wurden 2.500-3.000 Fachzeitschriften herausgegeben; 1905 war ihre Zahl auf rund 5.000 gestiegen. Vgl. Werner Faulstich/Corinna Rückert: Mediengeschichte in tabellarischem Überblick von den Anfängen bis heute, 2 Bde, Bardowick 1993, S. 160. 34 Vgl. Toni Kellen: Das Zeitungswesen, Kempten/München 1912, S. 157 f.
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pandierenden papierverarbeitenden Industrie. Unter diesen Sammelbegriff fallen die unterschiedlichsten technischen Produktionsverfahren und Betriebe. Statistische Aussagen über die Größe der Branche fehlen. Eine Schätzung geht 1914 davon aus, daß in diesem Produktionszweig rund 100.000 Beschäftigte tätig waren. 35 Als erste Papierverpackung gilt das schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts verwendete Nadelbriefchen. 36 Lange war allerdings Papier zu kostbar um als Verpackungsmaterial zu dienen. Auch blieb die technische Herstellung von Etiketten, Papierschachteln, Tüten und Kartons weitgehend abhängig von der Verwendbarkeit des Holzes als Rohstoff (ab 1854) und vom jeweiligen Stand der Drucktechnik. Erst um 1880 wurde mit dem Papier auch die Papierverpackung zum Massenprodukt. Papiertüten, Faltschachteln und der direkte Druck auf Verpackungskartons setzten sich mit verbesserten Produktionsmöglichkeiten in den achtziger Jahren durch. Cellophan wurde 1913 in Frankreich patentiert. 37 Meyerholz zählte zur Kunstdruck- und Luxuspapierwarenindustrie Firmen, die Kunstdruckverfahren oder bestimmte Veredelungstechniken, wie Prägen, Stanzen etc. anwandten und eventuell zusätzliche Materialien wie Seide oder Cellophan benutzten. „Menü-, Tanz-, Gratulations- usw. Karten, Farbendruckbilder, Etiketten, Zigarrenausstattungen, Plakate und Reklamebilder, Spitzenpapiere, Bukettmanschetten, Blumen, Laternen, Lampenschirme, Kortillongegenstände etc. " 3 8 gehörten zu den Erzeugnissen der Branche. Vor allem die wachsende Markenartikelindustrie benötigte für ihre Verpackungen die Produktionspalette der Luxuspapierwarenindustrie. „Die zunehmende fabrikmäßige Herstellung und Aufbereitung von Nahrungs- und Genußmitteln, Waschmitteln, Drogen usw. in gewissen Marken führte zur Entstehung einer umfangreichen Etiketten-, Originalpackungs- und Beilagenbildchenfabrikation. Besonders großen Umfang erlangte die Herstellung von Zigarrenpackungen." 39 Auch Kalender, die vor allem die großen Konfektionshäuser ihrem Publikum überreichten, wurden angefertigt. Wenn sie als Gratisbeigabe gedacht waren oder zum Selbstkostenpreis abgegeben wurden, wurden sie allerdings meistens in einfachen
35 Vgl. Heinrich Meyerholz: Die Kunstdruck- und Luxuspapierwarenindustrie Deutschlands, Phil. Diss. Marburg 1920, S. 4. 36 Vgl. Michael Dauskardt/Barbara Schleicher: Von Papieren, Tüten, Schachteln und Kartons, in: Die schöne Hülle, S. 47-52, S. 47. 37 Vgl. ABC des Luxuspapiers, S. 177 f. 38 Meyerholz, S. 2. 39 Ebd., S. 12. Vgl. auch Gruppe XVI. Papier-Industrie, in: Offizieller Haupt-Katalog der Berliner Gewerbe-Ausstellung, Berlin 1896, S. 159-166; Luxuspapierfabrikation, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, 1905, Teil 2, S. 419-420.
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Qualitäten hergestellt. 40 Darüber hinaus wurden Bildpostkarten und Reklamedrucke in die Produktionspalette aufgenommen. 41 Ein weiterer Bereich war die Produktion von Luxuskartonagen. Vor allem Süßwarenhersteller, Juweliere und Parfümhersteller benutzen prächtige Luxuskartonagen für die Verpackung ihrer Artikel. 42 Auch Stanniol und (ab 1902) das billigere Paraffinpapier wurden für die Verpackung von Süßwaren verwendet. 43 Stollwerck verpackte seine Schokolade in den neunziger Jahren zu Ostern aufwendig in Papp-Ostereiern. 44 Die Firma unterhielt ab 1866 eine eigene Kistenund Kartonagen-Fabrik, in der 1913 ein Viertel der 476 verschiedenen Verpackungsformen und -großen in Eigenproduktion hergestellt wurde. 45 In der eigenen Druckerei wurden schon seit den siebziger Jahren täglich 40-50.000 Etiketten produziert. Kleine Papierverpackungen wurden benötigt, um die für Markteinführungen beliebten Proben verteilen zu können. 1876 gab es rund 50 Firmen der Luxuspapierfabrikation in Berlin mit insgesamt 2.500 Beschäftigten. Die größte Berliner Firma, Hagelberg, zählte 600 Mitarbeiter und -arbeiterinnen. Berlin galt als Zentrum der Herstellung von Reklameartikeln. Die Verpackungsindustrie allerdings siedelte sich häufig in der Nähe der Abnehmerindustrien an.46 Reklameartikel waren in der Regel Auftragsware, da spezielle Kundenwünsche, wie der Marken- und Firmenname und ein bestimmtes Verpackungsdesign erfüllt werden sollten. Nur die wenigsten Artikel konnten als Stapelware im voraus hergestellt werden. Während kleinere Firmen sich meist auf eine Herstellungs- bzw. Veredelungstechnik spezialisierten, wurden in den größeren Firmen verschiedene Verfahren kombiniert und vor Ort Artikel bedruckt, gestanzt, geprägt oder lackiert. So zeigte die Firmenschrift einer größeren Kunstanstalt Muster in den verschiedensten Kunstdrucktechniken für diverse Reklameartikel: Plakate, Reklamemarken, Postkarten, Kataloge, Eti40 Vgl. Luxuspapierfabrikation, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, 1904, Teil 2, S. 387-389; 1905, Teil 2, S. 419-420. 41 Vgl. Christa Pieske: Luxuspapier-Fabrikation in Berlin-Kreuzberg, in: Kreuzberger Mischung. Die innerstädtische Verflechtung von Architektur, Kultur und Gewerbe, hg. von Karl-Heinz Fiebig/Dieter Hoffmann-Axthelm/Eberhard Knödler-Bunte, Berlin 1984, S. 157-160, S. 157. 42 Vgl. ABC des Luxuspapiers, S. 177 f. 43 Manuskript Kuske, S. 7 (StA). Für Schokoladen der besseren Sorten wurde Stanniol auch eingefarbt. 44 Vgl. ABC des Luxuspapiers, S. 211. 45 Manuskript Kuske (StA), S. 11. 46 Meyerholz, S. 32. Um 1900 zählte Pieske 116 Firmen in Berlin, vgl. Pieske: Luxuspapier-Fabrikation, S. 157. Eine Zählung nach dem Handelsregister ist schwierig, da die Branchenangaben zu grob sind. Die Firma Hagelberg z. B. taucht nicht unter Luxuspapier auf. 1911 sind im Handelsregister unter Luxuspapier 102, unter Kartonnagen 80 Firmen eingetragen, vgl. Handelsregister des Kgl. Amtsgerichts 1911. Über die Größe der Firmen sagt ein solcher Eintrag nichts aus.
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ketten und Sammelbilder. 47 Eine der ersten Plakatfirmen in Berlin bot auch eine ,Press-Vergolderei' an, eine typische Veredelungstechnik der Luxuspapierfabrikation. 48 Der Umfang der Reklameartikel innerhalb der Luxuspapierfabrikation ist sehr schwer zu bestimmen, da nahezu jedes Luxuspapierprodukt, beispielsweise durch einen kleinen Aufdruck der Firmenadresse, zu Reklamezwecken verwendet werden konnte. Unter der Rubrik ,Wer liefert? - Wer fabriziert? 4 wurden in einer Reklamefachzeitschrift zahlreiche Produkte aufgelistet, die, je nach Ausstattung, unter Luxuspapierwaren subsummierbar sind: u. a. Bierglasuntersetzer und Brieftaschen mit Reklame, Fensterkuverts, Kalender, Notizbücher, Packungen, Papierlaternen und Lampions, Papierservietten und -taschentücher, Preisschilder, Rabatt- und Siegelmarken. 49
a) Kalender, Agenden und Firmenschriften Nahezu jede Kalenderform wurde als Reklame verwendet. Hierbei konnte es sich um Agenden handeln, also umfangreichere Kalender in Buchform, die oft unter einem bestimmten Thema standen oder auch kleine Taschenkalender, Wandkalender, Postkarten mit aufgedrucktem Kalendarium und winzige Puppenstubenkalender.50 Markenartikelhersteller ließen auf ihren Kalendern in der Regel Platz für einen Aufdruck des jeweiligen Detaillisten. Häufig gaben Waren - und Kaufhäuser wie z. B. die Firmen Rudolph Hertzog, Nathan Israel und Wertheim Agenden heraus. Über die Verbreitung der Kalender schrieb Meyerholz: „Die Zugabe von Kalendern an die Kunden zu Weihnachten durch Konfektions- und andere Geschäfte war vor dem Kriege in Deutschland schon nahezu zu einer Sitte geworden. Sie hat der Industrie reiche Beschäftigung gebracht. " 5 1 1914 waren Kalender und Neujahrskarten als Reklamegeschenke für Kunden offensichtlich die Regel.52
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Vgl. Meisenbach, Riffarth & Co., Leipzig, Berlin, München. Graphische Kunstanstalten und Kunstdruckereien, Berlin 1903. Diese Firma arbeitete u. a. für die Schokoladenfirmen Suchard und Stollwerck. 48 Firma Otto Lutze ,Press-Vergolderei und Reclame-Placate-Fabrik4, Eintrag in: Verzeichnis des Kgl. Amtsgerichts I. zu Berlin eingetragenen Einzelfirmen, Gesellschaften und Prokuren, Jg. 32, Berlin 1896, S. 345. 49 Vgl. Wer liefert was - Wer fabriziert was?, in: Seidels Reklame, Heft 1/1913, S. 34-36. 50 Vgl. Das ABC des Luxuspapiers, S. 152 f. 51 Meyerholz, S. 60. 52 Vgl. Neujahrskarten und Reklamekalender, in: Seidels Reklame, Heft 1/1914, S. 31-36.
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Einige Häuser gaben Firmenschriften heraus, die in engem Zusammenhang mit ihren Waren standen. So ließ das Leinenhaus Grünfeld 1888 eine Reklameschrift ,Das Leinen in der Culturgeschichte und im Haushalte4 als Prachtband und als Volksausgabe drucken. 53 Eine spätere, viel gelobte Reklameschrift gab die Zigarettenfirma Feinhals zur Geschichte des Tabaks heraus. Viele Nahrungsmittelproduzenten, wie Oetker, Maggi oder Liebig veröffentlichten Kochbücher. Stollwerck plante 1903 ein ,Unterhaltungsbuch' mit Märchen in einer Auflage von 100.000 Stück.54
b) Beilage- und Sammelbilder Das Pariser Warenhaus ,Au Bon Marché' überreichte um 1870 den Kundinnen kleine illustrierte Karten. 55 Die Firma Liebig vervollkommnete dieses Reklamemittel und ließ ab 1872 in Paris Bilder in hoher Druckqualität herstellen. Für die Chromolithographien wurden 12-13 Farben und gold oder silber verwendet. Zunächst nicht als Serie konzipiert wurden die Bilder als Zugabe abgegeben. Sie zeigten verschiedene Ansichten der Fabrik und hatten eher den Charakter von Empfehlungskarten. Später wurden den Liebigprodukten als Kaufansporn Gutscheine für Bilderserien beigelegt. Mit dem Preis des Produktes stieg die Anzahl der beigelegten Gutscheine. Die Vorderseite der einzulösenden Bilder bestand aus einem Bildmotiv, während die Rückseite für die Bildbeschreibung und einen Werbetext für Liebig verwendet wurde. 56 Um 1890 war der Höhepunkt der Liebig-Sammelbilder erreicht. Andere Firmen begannen ebenfalls, diesen Reklameträger für ihre Waren zu nutzen und eine Berliner Druckerei berichtete über die ,enormen Auflagen ' 5 7 , in denen sie solche Sammelbilder, beispielsweise für ,Cacao Suchard' herstellten. Viele Druckereien beauftragten wie bei den Plakaten - Künstler mit der Herstellung von ,Blankos', Bildern, die aufgrund ihrer neutralen Gestaltung durch eine aufgedruckte Firmenadresse für den jeweiligen Besteller ,passend' gemacht wurden. 58 Stollwerck hatte bereits 1860 Schokoladen mit kleinen bebilderten Banderolen versehen und vergrößerte diese nach 1870 zu kleinen, auf die Schokoladeverpackung aufgedruckten Bil53
Vgl. Grünfeld, S. 37. Ludwig Stollwerck an August Schilling, 3.12.1903 (StA). 55 Vgl. Erhard und Evamaria Ciolina: Garantiti aecht. Das Reklame-Sammelbild als Spiegel der Zeit, München um 1985, S. 22; Erich Wasem: Sammeln von Serienbildchen. Entwicklung und Bedeutung eines beliebten Mediums der Reklame und der Alltagskultur, Landshut 1981, S. 34 f. 56 Vgl. Detlef Lorenz: Liebigbilder. Große Welt im Kleinformat, Berlin 1980, S. 810. Bis 1940 erschienen 1.138 verschiedene Serien, vgl. Detlef Lüders: Die Werbung der Companie Liebig, in: Sammler-Journal, Nr. 1/1994, S. 39-43, S. 40. 57 Meisenbach, Riffarth & Co., S. 15, Abb. im Anhang. 58 Vgl. Ciolina, S. 23. 54
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dem. 59 Die Auflagen dieser Bilder für die Automatenpackungen betrugen 1901 270.000 bis 300.000 pro Serie. 60 Meist waren die Motive dieser Sammelbilder auf Kinder zugeschnitten.61 Die Zigarettenindustrie benutzte auch Photos fur die Gestaltung ihrer Beilagekarten in den Packungen.62 Anderen wurde durch einen vergoldeten Prägeoder Stanzdruck ein besonders kostbares Aussehen gegeben. Daneben gab es auch aufstellbare Sammelbilder, beispielsweise in Form von Ankleidepuppen.63 Selbst Rechnungen wurden in Postkartengröße auf festes Papier gedruckt und deren Rückseite als Rechnungsformular gestaltet. Der Einsatz von Sammelbildern war besonders beliebt für Kaffee und Kaffee-Ersatz, Schokolade und Kakao, Seife und Putzmittel (Erdal-Schuhwichse, Kalodont-Zahncreme, Dr. Thompson's Seifenpulver), Garn und einige der neuen Lebensmittel (Liebigs Fleischextrakt, Knorr Suppenwürze, Palmin).64
c) Reklamemarken Die Reklamemarke - auch Siegel- oder Propagandamarke genannt - geht in ihren Ursprüngen auf die Briefmarke zurück. Adolf Saager gibt als Ursprungsdatum 1894 an.65 Die ersten Anlässe derartige Marken anzubieten waren Ausstellungen, Feste, Kongresse meist künstlerischer oder wohltätiger Form. Zur Berliner Gewerbeausstellung 1896 wurden 3,5 Millionen Reklamemarken gedruckt und ein Teil viersprachig beschriftet. 66 Auch Varianten mit Firmenaufdrucken wurden hergestellt. 67 Zur Münchner Gewerbeschau 1908 betrug die 59
Vgl. Bruno Kuske: 100 Jahre Stollwerck-Geschichte 1839-1939, Köln 1939, S. 70. Georg Büxenstein an Ludwig Stollwerck, 7.6.1901 (StA). Die Berliner Druckerei Büxenstein produzierte lange diese Bilder. 61 Die Faszination dieser bunten Bilder vermittelt auch Hans Fallada. Er tauschte seine wertvolle, aber langweilige Briefmarkensammlung bei einem Freund, der „sowohl Brief- wie Siegelmarken, wie Stollwerck-, wie Liebigbilder" sammelte, gegen die begehrten Liebigbilder ein - und bezog zum ersten Mal in seinem Leben Prügel von seinem Vater. Hans Fallada: Damals bei uns Daheim, Stuttgart 1957 [1941], S. 29-33. 62 Vgl. Walter Hess: Wie ein Plakat entsteht, in: Organisation, Nr. 2/1910, S. 41-43, S. 41. 63 Vgl. Wasem fS. 21. 64 Vgl. C/o/wtf,S.64-119. 65 Vgl. Adolf Saager: Das Sammeln von Propagandamarken, in: Das Plakat, Heft 1/ 1913, S. 21-28, S. 23. Nach Sachs ist 1870 für die Grazer Landesausstellung die erste Reklamemarke gedruckt worden, vgl. Hans Sachs: Reklamemarkenausstellung in Berlin, in: Das Plakat, Heft 5/1913, S. 253-254, S. 254. 66 Wilhelm C. Bacharach: Das Propaganda-Bureau, in: Berlin und seine Arbeit, Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Berlin 1898, S. 92. 67 Vgl. Berlin um 1900. Ausstellung der Berlinischen Galerie in Verbindung mit der Akademie der Künste, Berlin 1984, S. 148. 60
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Auflage sechs Millionen. 68 Der große Durchbruch setzte in dieser Zeit ein, als die Reklamemarke zunächst bei den Kindern, später auch bei Erwachsenen zum Sammelobjekt wurde. Vor allem für Nahrungs- und Genußmittel, Waschmittel, Schreibwaren und Heizmaterial wurde auf den kleinen Marken geworben. 69 Es gab unerlaubte Nachdrucke der Reklamemarken, aber auch ohne Wissen der Firmen hergestellte völlig neue Entwürfe. 70 Auf dem Höhepunkt der Sammlerleidenschaften bedeutete das fur Druckereien eine zusätzliche Einnahmequelle. Für die Entwürfe wurden, ebenso wie bei Plakaten, Wettbewerbe ausgeschrieben.71 Durch Preisunterbietungen in der Luxuspapierwarenindustrie wurden seit der Krise der Branche 1906 Reklamemarken zu Schleuderpreisen angeboten. Tausend Reklamemarken kosteten um 1913 gut 12 Mark. 72 Es kam rasch zu einer Übersättigung des Marktes und des Publikums.73 1914 war das Sammelfieber weitgehend vorbei.
d) Reklamepostkarten Reklamepostkarten gab es in Deutschland in größeren Mengen ab den achtziger Jahren. Vorläufer waren die ,Nota-Bildchen', d. h. auf einer Seite bebilderte Rechnungen, und die ab der Mitte des Jahrhunderts oft reich verzierten Adreßkarten und Sammelbildchen. Angeblich setzte erstmals ein amerikanischer Geschäftsmann Reklamepostkarten auf der Wiener Weltausstellung 1873 ein. 74 Ihr Werdegang hing eng mit dem Postrecht zusammen.75 In der Illustration der Karten griff man zunächst auf die Bildmotive zurück, die das Geschäftspapier trug: also in erster Linie die beliebten Fabrikansichten und die Produkte der Firmen. 76 Seit 1900 bürgerte sich die beidseitige Nutzung der
68 Vgl. Adolf Saager: Das Sammeln von Propagandamarken, in: Das Plakat, Heft 1/ 1913, S. 21-28, S. 25. 69 Vgl. ABC des Luxuspapiers, S. 225. 70 Vgl. Martin Hildebrandt: Reklamemarken und -Moden, in: Seidels Reklame, Heft 1/1914, S. 15-22, S.21. 71 So beispielsweise durch eine Verlagsbuchhandlung. Vgl. Hoffmann's Siegelmarken, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 9/1899, S. 198. 72 Vgl. Sigwa: Reklameverschlußmarken, in: Organisation, Nr. 19/1913, S. 457. 73 Vgl. Meyerholz, S. 60 74 Vgl. Das ABC des Luxuspapiers, S. 91. 75 Vgl. im folgenden Peter Weiss/Karl Stehle: Reklamepostkarten, Basel/Boston/ Berlin 1988, S. 15 ff. 76 Liebig gab eine Serie Postkarten heraus, die die Fabrik in Uruguay zeigte, vgl. Lüders, S. 379. Austeilungspostkarten gehörten ebenfalls zum Repertoire.
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Karten ein und wurde 1905 seitens der Post offiziell anerkannt. Nun stand eine ganze Kartenseite fur Illustrationen zur Verfügung. 77 Zu den ersten Nutzern der Reklamepostkarten gehörten die Teilnehmer an Ausstellungen und Messen. Sie ließen für diesen Zweck ,Ausstellungsgrüße', häufig mit einer Ansicht des Ausstellungsgebäudes, drucken. Auch Ausflugsgaststätten und Fremdenverkehrsvereine nutzten früh solche Karten. Die Hersteller von Geheimmitteln priesen ihre Produkte auf Karten an, nicht zuletzt deshalb, weil Zeitungen die Aufnahme ihrer Anzeigen immer häufiger ablehnen. Große Produzenten nutzten Karten, in denen die jeweiligen Verkaufsstellen ihren Stempel eindrucken konnten.78 Beliebt war der Einsatz der Karten zur Ankündigung von Vertreterbesuch; diese sogenannten ,Avis' richteten sich in erster Linie an Detaillisten.79 Auch sie setzten sich um die Jahrhundertwende als Bildpostkarte durch. Ähnlich wie bei den Plakaten gab es auch bei den Postkarten eine künstlerische Bewegung. Druckereien und Auftraggeber waren häufig dieselben.80 Die Zeitschriften Jugend' und ,Simplizissimus' gaben ihre Plakate ab 1898 auch als Künstlerpostkarten heraus.81 Auch Stollwerck, Bahlsen und Kupferberg waren für ihre künstlerischen Postkarten bekannt.82 Um 1900 wurden in Deutschland 750 Millionen Postkarten produziert; 30.000 Menschen waren in der Herstellung beschäftigt. Fast anderthalb Millionen Karten wurden täglich durch die Post befördert. 83 Gesonderte Zahlen für Reklamepostkarten liegen allerdings nicht vor. Stollwerck gab 1906 eine Reklamepostkarte in einer Auflage von 300.000 heraus.84 In dem Papier-Adreßbuch von 1892 sind 25 Hersteller verzeichnet, die sich auf Reklamepostkarten spezialisiert hatten; 1901 war die Zahl auf 62 gestiegen.85
77
Vgl. Weiss/Stehle, S. 38. Vgl. ebd., S. 42; Das ABC des Luxuspapiers, S. 74 f. 79 Vgl. ebd., S. 23; S. 28; Ansichtspostkarten als Reisenden-Aviso, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 3/1897, S. 39. 80 Hollerbaum & Schmidt, Edler & Krische, Meisenberg, Riffarth & Co. waren bekannte Druckereien für künstlerische Plakate und Postkarten, die häufig von den gleichen Zeichnern stammten. Vgl. Unsere Ansichtskarten-Ausstellung, in: Neues Frauenblatt, Heft 24/1898, S. 503. 81 Vgl. Weiss/Stehle, S. 50 f. 82 Kupferberg-Karten wurden u. a. durch den Künstlerbund Karlsruhe gestaltet, vgl. Abb. in Büsch, S. 190. 83 Vgl. Weiss/Stehle, S. 36. 84 Ludwig Stollwerck an Arthur Schwarz, 9.1.1906 (StA). 85 1904 waren 109 Firmen verzeichnet, allerdings umfaßte die Gruppe jetzt auch Reklamebilder, vgl. Das ABC des Luxuspapiers, S. 91. 78
12 Lamberty
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e) Kataloge Kataloge waren neben Annoncen das wichtigste Reklamemittel, um auch die ländliche Bevölkerung zu erreichen. Einzig der Katalogumschlag gehört im engeren Sinne zu den Luxuspapierwaren. Ihren Ursprung hatten die Kataloge in den handillustrierten Musterbüchern des späten 18. Jahrhunderts. 86 Mit den Weltausstellungen setzte sich das gedruckte Musterbuch durch, ergänzt wurde es hier durch kleine Prospekte der jeweiligen Neuheiten. Diese aufwendigen Musterbücher blieben im Besitz der Firma, den Vertretern wurden sie nur leihweise überlassen. Mit der Wandlung zum Katalog - der englische Begriff wurde übernommen - erhielten die abgebildeten Erläuterungen wie Lieferbedingungen und gesonderte Preislisten. 87 Die Abstände zwischen einzelnen Auflagen wurden geringer. Mit besonderer Sorgfalt wurden die Drucke ausgeführt. Eine große Abbildung der Fabrikanlagen, des Versand- oder Warenhauses, meist auf dem Umschlag, war obligatorisch. Auch wenn bei den Musterbüchern die Werbung durch den mündlichen Beitrag des Reisenden ergänzt wurde, so war hier doch das Bild die erste Information. Noch stärker war der Katalog auf die Bildwirkung angewiesen. Heinrich Pudor sah darin einen völligen Wandel in der Warenpräsentation. Die neuen technischen Reproduktionsmöglichkeiten und die wachsende Bildqualität hätten dazu geführt, daß das Warenmuster durch das Bild im Katalog abgelöst wurde. Selbst Reisende würden immer häufiger auf das Mitführen der Muster verzichten und ausschließlich mit Bildern arbeiten. Auch auf Messen und Ausstellungen sei diese Tendenz zu beobachten. Unterstützt würde diese Veränderung durch die Post. „Die Vereinfachung, Beschleunigung und Verbilligung der Drucksachenspedition vermittels der staatlichen Postinstitute kommt dieser Form des Warenangebotes sehr zu statten. Hundert Reisende könnten in einem
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Der Begriff »Musterbuch4 geht auf die alten Vorlagensammlungen für Zeichner, Goldschmiede, Architekten etc. zurück, also bis auf die Bauhüttenbücher des Mittelalters. Sie dienten den Herstellern als Anregung. Erst heute versteht man unter Musterbuch auch die Vorlagensammlung für den Verkauf, vgl. Ottfried Dascher: Musterbücher-Versuch einer Typologie und Grundzüge ihrer Entwicklung, in: ,Mein Feld ist die Welt' - Musterbücher und Kataloge 1784-1914, Katalog zur Ausstellung der Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, hg. von Ottfried Dascher, Dortmund 1984, S. 31-38; Manfred Bachmann: Spielwarenbücher und Kataloge als Quellen der Alltagsgeschichte, in: Volkskultur der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung, hg. von Utz Jeggleu. a., Reinbek 1986, S. 145-161, S. 150 f. 87 Preislisten sind, zunächst geschrieben, später gedruckt, schon für das 16. und 17. Jahrhundert bekannt. Im 18. Jahrhundert wurden sie regelmäßig von den Kaufleuten per Post angefordert. Diese Informationen waren aber nur für den Wiederverkäufer gedacht, vgl. Redlich, S. 51.
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ganzen Jahre nicht das leisten, was ein Katalogversand an einem Tage zu Wege bringt. " 8 8 Auch die abgelegensten Orte erreiche man so. Die Warenhauskataloge arrangierten verschiedene Artikel mitunter zu kleinen Gruppen. Nicht mehr die bloße Abbildung in eher auflistender Manier, sondern die durch Personen bereicherte Szene sollte hier die Betrachter zum Kauf animieren. 89Ähnlich vielfaltig waren die Abbildungen in den Katalogen des großen Versandhauses August Stukenbrok, die 1910 schon in einer Million Exemplaren (bei mehreren hundert Seiten Stärke) gedruckt wurden. 90 Auffallend ist, auch bei den Versand- und Warenhauskatalogen, daß die eigentliche Bildgestaltung völlig ,unmodern' blieb. In den Setzereien und Schriftgießereien wurden die Illustrationen von den Hauszeichnern erledigt. Das dort entworfene „ Schrift- und Ornamentmaterial war zwar exakt und mit allen technischen Raffinements ausgeführt, es entbehrte jedoch in vielen Fällen des künstlerischen Reizes. " 9 1 Lange blieb den Buchdruckern die Ausgestaltung der Kataloge überlassen. Illustrationen, die über ornamentale Gestaltung hinausgingen, wurden durch die firmeneigenen, eher technischen ausgerichteten Musterzeichner erledigt. Oft sind 1920 noch die gleichen Bilder wie 1880 zu finden. Die künstlerische Entwicklung, die das zeitgleich entstehende Plakat durchmachte, ging an den Katalogen vorbei. Die betont sachliche Gestaltung erschien eher wie eine Warenkunde; die enge Anlehnung an die Ursprünge im Musterbuch gab dem Katalog den Charakter eines didaktischen Aufklärungswerkes. 92 Das in technischer Hinsicht so exakte Bild sollte die konkrete Warenpräsentation ersetzten. Das traf nicht nur für technische Artikel zu, sondern war auch in der Konfektion zu beobachten.93 Umgesetzt wurden die Abbildungen in Holzschnitte und zunehmend in Lithographien. Einen weiteren Vorteil bot die konservative Gestaltung: sie war billig. Die Gehälter für Musterzeichner lagen unter denen der Plakatkünstler, die Klischees konnten über Jahre hinweg neu verwendet werden. In den neunziger Jahren bürgerte sich in Anlehnung an das Vorbild der Versandhäuser und großen Warenhäuser ein, daß auch kleinere Detaillisten meist
88 Heinrich Pudor. Veränderungen in der Form des Warenangebotes, in: System, Heft 6/1909, S. 121-122, S. 121. 89 Vgl. Jürgen Zänker: Versandhaus- und Warenhauskataloge. Produktillustrationen zu Konsumgütern des täglichen Bedarfs, in: ,Mein Feld ist die Welt', S. 67-73, S. 70. In Deutschland betrug der Anteil des Versandgeschäftes - im Gegensatz zu Frankreich - nur ein Bruchteil des Umsatzes. Französische Warenhauskataloge sind deshalb wesentlich aufwendiger und auch schon früher zu finden. Der Berliner Kaiser-Bazar plante 1890, einen Katalog in der Auflage von 100.000 herauszubringen, vgl. Richter, Anlage D, o. P. 90 Vgl. Zänker, S. 71. Stukenbrok gab 1912 allein 10 Spezialkataloge (Automobile, Fahrräder und Nähmaschinen, Spielwaren, etc.) heraus. 91 Drucksachen im Schriftsatz, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 231-254, S. 231. 92 Vgl. Zänker, S. 72. 93 Vgl. z. B. die starren Modebilder in dem Rudolph Hertzog Hauptkatalog 1908-09.
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anläßlich einer bestimmten Saison Kataloge herausbrachten. Angeblich rentierte sich die Herausgabe eines eigenen Katalogs ab einer Auflage von 2.000 Stück. In einer frühen Empfehlung riet man dazu, den Unterhaltungswert eines solchen Kataloges nicht zu vernachlässigen. „Eine solche Broschüre darf nicht nur geschäftliche Ankündigungen enthalten, sondern muß durch Unterhaltungsstojf und durch praktische Mittheilungen, die für Haus und Familie Interesse haben, zur Durchsicht und Aufbewahrung reizen. " 9 4 Eine Frauenzeitschrift bestätigte, daß beispielsweise der elegante Katalog des Kaufhauses Hertzog aufgehoben würde und „längst in jedem Haushalt unentbehrlich " 9 5 geworden sei. Besonderer Wert sollte auf gute Qualität in Gestaltung und Text gelegt werden. Es wurde empfohlen, lieber mehrmals jährlich kleinere, als einmal einen umfangreichen Katalog herzustellen. 96 Auch Spezialkataloge zu bestimmten Themen galten als sinnvoll. 97 Nicht immer brauchten potentielle Kunden solche Reklamemittel anzufordern: ,, Wer in einem feineren Stadtviertel wohnt und mit einem leidlich vertrauenserweckenden Titel oder Namen im Adreßbuch steht, der erhält täglich, zumal zur Weihnachtszeit, eine Fülle von Zusendungen aller Arten: Kataloge, Rundschreiben, Geschäftskarten. " 98
3. Schaufenster und Beleuchtungstechnik Die Entwicklung der Schaufenster war eng verknüpft mit den technischen Möglichkeiten, Glas in großen Flächen zu erschwinglichen Preisen herzustellen. Solange Glas ein Luxus war, verschlossen die Geschäfte ihre Türen und Fenster mit hölzernen Läden, die sie zur Verkaufszeit heruntergeklappten und als Verkaufsfläche benutzten. Mit Schildern über der Tür oder aber großen Figuren vor dem Eingang machten die Läden auf sich aufmerksam. 99 Spezielle Ladenbauten gab es noch nicht, einzig schlichte Firmennamen an der Fassade und, seit Mitte des Jahrhunderts häufiger auch Markisen über den Fenstern, kennzeichneten Geschäftshäuser. 100 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert setzte sich das Ausstellen der Ware hinter Glas in größerem Maßstab durch und um die Jahr-
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Saison-Kataloge, in: Die Geschäftspraxis, Heft 12/1896, S. 333. Allerlei Weihnachtliches, in: Die praktische Berlinerin, Heft 38/1905, S. 675. 96 Vgl. z. B. Max Brückner: Zweckmässige Drucksachen-Reklame und ihr Erfolg, in: Organisation, Nr. 19-20/1907, S. 329-332. 97 So gab das Kaufhaus Hertzog Kataloge zu den Bereichen Gardinen, Möbelstoffe, Vorhänge etc., Braut- und Erstlingsausstattungen, Korsette, Herrenkonfektion und -hüte sowie Livreen heraus, vgl. Rudolph Hertzog Hauptkatalog 1908-09, S. 2. 98 Walter von Zur Westen: Berlins graphische Gelegenheitskunst, Berlin 1912, Bd. 1, S. 197. 99 Vgl. Schivelbusch, S. 138 f. 100 Vgl. Osborn, S. 26 ff., 109. 95
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hundertwende berücksichtigten Architekten Schaufenster bereits in der Planung von Geschäftshäusern. Die großen Fenster wirkten auf die damaligen Betrachter faszinierend, Spiegel und Beleuchtung unterstützen die Warenpräsentation. In der Regel waren die Dekorationen bis zur Jahrhundertwende noch recht bescheiden. Sie wurden nur erneuert, wenn das Fenster gereinigt werden mußte.101 In den achtziger Jahren begann das Schaufenster seinen Siegeszug. Ein solches Fenster sollte vielfaltige Zwecke erfüllen. In einem Technik-Lexikon von 1894 nannte die Warenpräsentation dabei nur als einen von mehreren Zwecken. Unter Schaufenster verstand man ein „ Auslagefenster an städtischen Kaufläden, die grosse und weite Oejfnung, welche den Zweck hat: a. eine ausgiebige Zuleitung von Tageslicht, b. eine fur den Käufer anziehende Schaustellung der Waren, c. Sicherheit gegen Einbruch und d. Schutz gegen Beschädigung der Waren durch die Sonnenstrahlen zu gewähren. Die Umrahmung soll geeignet sein, geschäftliche Inschriften anzubringen. " Für die optimale Lichtzuführung in den Laden empfahl man ein großes Fenster und möglichst schmale Stützen. Allerdings wurde schon erwähnt, daß die Ausstattung besonders der Fassade geschmackvoll sein sollte, um Firmenschilder und Beschriftungen besser zur Geltung zu bringen. Zur Dekoration hieß es nur lapidar: „Die Anordnung der Auslage ist nach der Art der Waren zu gestalten, und dabei zu beachten, dass die Schäfte oder Gestelle möglichst wenig von dem einfallenden Lichte aufhalten, und dass ferner die künstliche Beleuchtung von günstiger Wirkung sei. " 1 0 2 Aber schon wenige Jahre später wurden große, bis auf den Boden reichende Scheiben empfohlen und detaillierte Bauanweisungen gegeben.103 In den neunziger Jahren wuchsen die Hilfsmittelindustrien für Schaufensterbedarf rasch. ,Lebende Reklame4 wurde nun mit mechanischen Hilfsmitteln als bewegliche Schaufensterfiguren konstruiert. „ Unter den Automaten befinden sich wahre Meisterwerke mechanischer Kunst, wie der redende Advokat, die Cigarrenraucher und der am Reck turnende Knabe, der in natürlicher Größe gern zum Vorführen von Turnanzügen im Schaufenster benutzt wird. " l 0 4 Sie wurden vor allem in der aufwendigen Dekoration der großen Warenhäuser eingesetzt. 1896 warb eine Firma für lebensgroße mechanische Figuren, eine „ Unübertroffene Reclame für jedes Schaufenster!"™ 5 Der Antrieb erfolgte mittels Uhrwerk und Elektromotor. Die teuren Apparate mußten nicht gekauft werden: Mit dem 101 Vgl. Breuninger, S. 132, 143; Elisabeth von Stephani-Hahn: Schaufenster-Kunst. Lehrsätze und Erläuterungen, 2. Auflage, Berlin 1923, S. 7. 102 Art. Schaufenster, in: Otto Luegers Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, 7. Band, Stuttgart/Leipzig 1894 f., S. 159-160. 103 Vgl. z. B. Der Schaufenster-Dekorateur. Illustrierte Anleitung zum Erlemen des Dekorierens der Schaufenster mit ca. 1000 Abbildungen, Teil 1 und 2, Berlin 1906. 104 Georg Büß: Das Waarenhaus-Schaufenster, in: Das Waarenhaus, Heft 2/1900, S. 35, S. 3. 105 Anzeige der Firma Weber, in: Offizieller Haupt-Katalog 1896, Anhang S. 102.
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Werbespruch „Bewegung im Schaufenster - Belebung im Geschäft"* 06 warb eine Firma für den Verleih beweglicher Schaufensterattraktionen, die sich besonders für Sonderaktionen eigneten. Eine andere Firma bot, ebenfalls leihweise, „bewegl. Damenbeine, hervorragende Reklame für Firmen, welche Strumpfwaren führen"™ 1, an. Auch andere Hilfsmittel der Schaufensterdekoration wurden in zahllosen Anzeigen annonciert: Glasaufsätze, spezielle Regale, Pappschilder, künstliche Blumen, Rollos gegen zu starke Sonne und nicht zuletzt Schaufensterpuppen - noch als kopflose Büsten.108 Zunächst wurden Büsten aus England und Frankreich importiert. In den frühen neunziger Jahren begann eine Berliner Firma mit deren Fabrikation. Andere Firmen zogen nach. Bald wurden nicht nur Büsten, sondern ganze Personengruppen aus Wachs hergestellt. So etwas war vorher nur von Ausstellungen und Panoptiken bekannt.109 Laut Exner hatte sich eine ganze Industrie auf die Anfertigung dieser Dekorationshilfen, besonders für die Textilbranche, spezialisiert. 110 Eine Autorin prophezeite der Branche eine rosige Zukunft: „(...) mit Sicherheit lässt sich voraussagen, dass diesem noch jungen Industriezweige dank der Thatkraft und Intelligenz der darin schaffenden Kräfte eine weitere glänzende Entwicklung beschieden sein wird. " m Im Handelsverzeichnis von Berlin lassen sich 1896 neun Firmen nachweisen, die sich auf Schaufenstereinrichtungen spezialisiert hatten, davon reine vier Büstenfirmen. 1911 war ihre Gesamtzahl auf 22 gestiegen.112 Nach einem kurzem Boom in dieser Branche beklagte man jedoch empfindliche Einbußen dadurch, daß die großen Waren- und Kaufhäuser dazu übergegangen seien, eigene Dekorateure und Handwerker zu beschäftigen, die auch entsprechende Gegenstände selbst anfertigten. Nur für die Neueinrichtung würden solche Häuser noch auf fremde Firmen zurückgreifen. 113 Nahezu alle zeitgenössischen Berichte über Schaufensterdekoration gehen auf die Rolle der Beleuchtung ein. Erst das Licht setzte einer Dekoration die Krone auf. Mit elektrischem Licht verband man Luxus, Glanz und Exklusivität. 106
Anzeige der Firma Gustav Grobach, in: Der Detaillist, Nr. 17/1910, S. 19. Anzeige der Deutschen Glas- und Metallwarengesellschaft Köln, in: Der Detaillist, Nr. 45/1910, S. 10. 108 Vgl. z. B. Anzeigen in: Der Detaillist; Exner, S. 2. 109 Vgl. Sally Frankenstein: Schaufenster-Dekoration und Konfektionsbüsten, in: Berlin und seine Arbeit 1898, S. 337-339. 110 Vgl. Exner, S. 2; Bericht der Ältesten der Kaufmannschaft, in: Propaganda, Heft 2/1898-99, S. 403. 111 Vgl. Frankenstein, S. 339. 112 Vgl. Verzeichnis des Kgl. Amtsgerichts 1896 und Handelsregister des Kgl. Amtsgerichts Berlin-Mitte, Berlin/Leipzig/Hamburg, Jg. 47/1911. Die Branchenangabe ist sehr grob. Viele Tapezierer boten z. B. auch Dekorationsdienste an. Und viele Firmen für Geschäftseinrichtungen produzierten möglicherweise auch Schaufenstereinrichtungen. 113 Vgl. Konfektionsbüsten und Schaufenster-Dekoration, in: Berliner Jahrbuch für Handel und Industrie, Teil 2/1905, S. 528; Teil 2/1906, S. 521-522. 107
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So erkannte 1885 der Hamburger Beleuchtungsinspektor Volbehr, daß bei den Geschäften zu den wichtigsten Motiven für die Anschaffung einer elektrischen Anlage neben dem Repräsentationsbedürfhis vor allem die neuen Möglichkeiten der Reklame gehörten. 114 Geschäfte nutzten die neue Technik um Fortschritt zu demonstrieren. Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde auch in Deutschland Gas fur Beleuchtungszwecke eingesetzt. Zunächst als Straßenbeleuchtung, dann in Fabriken, wurde es bald auch in Läden und Privaträumen genutzt und verdrängte die bislang übliche Petroleumbeleuchtung. Anfang der achtziger Jahre kam die elektrische Beleuchtung hinzu. Den ersten öffentlichkeitswirksamen Einsatz fand das elektrische Licht auf Ausstellungen.115 Helles Licht in den Geschäften galt als umsatzsteigernd, da es Vertrauen weckte und das Publikum auch in den Abendstunden in die Läden lockte. 116 Für Verunsicherung sorgten allerdings die vielen Erfindungen auf dem Gebiet der Beleuchtungstechnik. Fachzeitschriften versuchten aufzuklären. Eine gute Beleuchtung der Schaufenster allein galt schon als Reklame, doch erst durch gekonnte Ausleuchtung würden die Waren erst richtig zur Geltung kommen. 117 Das Wetteifern um die modernste und hellste Beleuchtung schien manchmal wichtiger als das Beleuchtete. „Auf alle Fälle kannst du gewiß sein, daß dir ein Konkurrent, der mehr und schönere Beleuchtung des Schaufensters wie du hat, binnen kurzem den Rang abgelaufen haben wird. Er macht damit eben mehr Reklame und hebt dich allmählich aus dem Sattel. Also: es werde Licht und immer mehr Licht! " m Mit der Konkurrenz zwischen Gas- und elektrischer Beleuchtung entstand eine erbitterte Diskussion um deren Vor- und Nachteile, die speziell auf Ladenund Schaufensterbeleuchtung zugeschnitten, auch in den entsprechenden Fachzeitschriften oder Handbüchern gefuhrt wurde. Oft wurden konkrete Bauanlei-
1.4 Direkte ökonomische Gründe waren noch zweitrangig, vgl. Hans Jürgen Teuteberg: Anfange kommunaler Stromversorgung - dargestellt am Beispiel Hamburg, in: Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte, hg. von Karl-Heinz Manegold, München 1969, S. 363-378, S. 377. Vgl. auch Beate Binder: Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag, Tübingen 1999, S. 81 ff., 192 ff. 1.5 Vgl. Schivelbusch, S. 367. 116 Wie soll ich zweckmässig und billig beleuchten?, in: Die Geschäftspraxis, Heft 8/1896, S. 207-209, S. 207. Mit dieser Begründung forderten Geschäftsleute die Errichtung elektischer Anlagen, vgl. Carl Joseph Bäsch: Die Entwicklung der elektrischen Beleuchtung und der Industrie elektrischer Glühlampen in Deutschland, Diss. Staatsw. Tübingen 1910, S. 14 f.; Vgl. auch Die Zweite Industrielle Revolution. Frankfurt und die Elektrizität 1800-1914. Bilder und Materialien zur Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt, Frankfurt/Main 1981, S. 307 f.; Binder, S. 81 ff. 117 Vgl. Handbuch der Elektrischen Beleuchtung, hg. von Josef Herzog/Clarence Feldmann, Berlin/München 1901, S. 128 f. 118 Th. Weil: 10 Leitsätze für die Schaufenster-Dekoration, in: Der Detaillist, Nr. 10/1907, S. 5-6, S. 6.
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tungen und Muster mitgeliefert und der jeweilige Lichtbedarf errechnet. Es wurde heftig darüber diskutiert, ob elektrisches Licht dem Gaslicht vorzuziehen sei, ob das ultraviolette, elektrische Licht eine Schädigung der Ware hervorrufen könne, ob die Gefahr einer Explosion bestehe und welche der verschiedenen Beleuchtungsarten die geringsten Kosten verursache. 119 Elektrisches Licht war meist der Gewinner. Das Gasglühlicht bot sich dort an, wo Orte noch nicht über ein allgemeines Elektrizitätswerk verfügten. Zudem erlebte die Gasbeleuchtung durch die Erfindung der preiswerten Auerlampen ab 1892 einen großen Zuwachs. 120 Allerdings sank der Preis für elektrische Beleuchtung seit 1895 ebenfalls rapide. 121 Die elektrotechnische Industrie hatte großes Interesse an einer Propagierung des elektrischen Lichts. Jede öffentliche oder halböffentliche Anwendung warb zugleich für diese neue Technik. Eine erfolgreiche Reklame der Industrie führte dazu, daß elektrisches Licht trotz hoher Kosten bald als komfortabler und vornehmer galt. 122 In einer Festschrift der Berliner ElektricitätsWerke wurde betont, daß die elektrische Beleuchtung lange als „Luxusbeleuchtung" gegolten habe und nur von den „großen und vornehmen Geschäften der City" m verwendet worden sei. Das habe sich nun geändert. Peter Behrens bescheinigte als Vertreter der AEG 1909 anläßlich des Berliner Schaufensterwettbewerbs, daß eine erstklassige Farbwirkung nur mit elektrischer Beleuchtung zu erzielen sei. Überhaupt könne ein gut gestaltetes Schaufenster, dessen Ziel vor allem ja in der Anlockung der Passanten in den Abendstunden bestehe, auf die „die heutige vervollkommnete elektrische Beleuchtung" 124 nicht mehr verzichten. In der Anwendung moderner Beleuchtungstechniken standen die Warenhäuser an erster Stelle. Noch bevor zentrale Elektrizitätswerke gebaut wurden leisteten sie sich eigene Erzeugermaschinen. Die Angaben über die Anzahl der Dynamomaschinen, der Bogenlampen und Glühlampen und der ebenfalls elektrisch betriebenen Fahrstühle gehörten zu den Selbstdarstellungen der Warenhäuser. Aber auch andere Geschäfte verwendeten elektrisches Licht. Die teure119 Z. B. Handbuch der Elektrischen Beleuchtung Ultraviolettes Licht wurde als gesundheitsgefährdend eingestuft, vgl. Braun, S. 9. Weiter spreche für das elektrische Licht, daß es die Farbwirkungen dem Tageslicht ähnlicher zeige und somit besonders für die Konfektionsgeschäfte zu empfehlen sei, vgl. Zipp, S. 30. 120 Vgl. Braun, S. 5. 121 Vgl. Festschrift der Berliner Elektricitäts-Werke aus Anlass ihres 25jährigen Bestehens, hg. von den BEW, Berlin 1909, S. 20. 122 Vgl. Braun, S. 9. Vgl. auch die ständige Propaganda für die Elektrizität als Schaufensterbeleuchtung, in: Mitteilungen der Berliner Elektricitäts-Werke, 1905 ff. 123 Festschrift der Berliner Elektricitäts-Werke, S. 19. 124 Peter Behrens: Die Wirkung des elektrischen Lichtes bei dem SchaufensterWettbewerb in Berlin, in: AEG-Zeitung, Jg. 12, Nr. 5/1909, S. 5-7, S. 6. Die Mitteilungen der Berliner Elektricitäts-Werke berichten häufig über Elektrizität als dem Gas in der Schaufensterbeleuchtung überlegen.
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ren Anlagen wurden auch für elektrische Vorführungen genutzt. So ließ 1882 ein Optiker in Hamburg eine elektrische Spielzeugeisenbahn im Schaufenster fahren und nutzte das elektrische Licht zur Projektion von Reklametexten.125 Oft erfolgte die Errichtung zentraler Elektrizitätswerke in der Nähe der besseren Geschäftsstraßen, in denen einige Läden schon elektrisches Licht eingeführt hatten. 126
4. Plakate Das Reklameplakat hatte drei Wurzeln. Neben amtlichen Ankündigungen waren Buchhändlerplakate und die illustrierten Plakate der Schausteller wegweisend.127 Dazu kamen entscheidende Veränderungen in der Drucktechnik. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Lithographie (Steindruck) durch Alois Senefelder erfunden und fand bald breitere Anwendung. Der Einsatz mehrerer verschiedenfarbiger Platten ermöglichte ab 1840 die Weiterentwicklung dieser Drucktechnik zur Chromolithograpie. Um 1850 entstanden in den USA erste farbige Plakate für Reklamezwecke.128 Auch in England und Frankreich begann man bald darauf mit dem Druck von größeren, farbigen Plakaten. Noch war die Gestaltung anonym und lehnte sich meist an volkstümliche Bilder an oder imitierte bekannte Meisterwerke. Als bahnbrechend für eine farbreduzierte Plakatkunst gilt der Franzose Jules Chéret (1836-1932). Chéret war gelernter Schriftlithograph und als Künstler Autodidakt. Er hatte während seiner Ausbildungszeit in England die neuesten Druckverfahren und das englische Reklamewesen kennengelernt. Nach Frankreich zurückgekehrt gründete er 1866 eine eigene lithographische Anstalt. Zunächst aus Kostengründen druckte Chéret, statt wie bisher mit bis zu 25 Farbsteinen nur mit fünf Steinen.129 Die dadurch bedingte Farbreduzierung bedeutete aber zugleich eine Abkehr von dem Gemäldestil der anderen Plakate und war der erste Schritt zu einer eigenständigen Plakatkunst. Seine ersten Auftraggeber waren Theater und Vergnügungslokale. Bald machte er auch Plakate für die Erzeugnisse der Konfektion, Maschinen-, Parfümerie- und Backwarenindustrie. 130 125
Vgl. Teuteberg, S. 368 f.; Die Zweite Industrielle Revolution, S. 118 ff. Ab 1884, zuerst in Berlin, Nürnberg und Hamburg, oft zunächst als Blockstationen privater Aktiengenossenschaften, erst später in städtischer Hand errichtet. In Berlin existierten 1885 80 Anlagen, die 400-500 Bogenlampen versorgen konnten, vgl. ebd., S. 376. 127 Vgl. Redlich, S. 46. 128 Vgl. Bernhard Denscher: Kunst & Kommerz. Zur Geschichte der Wirtschaftswerbung in Österreich, Wien 1985, S. 26 f. 129 Vgl. Robert Hösel: Das künstlerische Plakat, in: Moderne Reklame, Heft 9/19021903, S. 81-96, S. 83; Redlich, S. 73 f. 130 J. Norden: Plakat-Kunst, in: Propaganda, Heft 1/1897, S. 29-37, S. 31. 126
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Als weiterer wichtiger Einfluß auf die Gestaltung galt der japanische Holzschnitt. Mitte der sechziger Jahre fand in Paris die erste Ausstellung japanischer Plakate statt, die großes Aufsehen erregte. 131 Kunst- und Kunstgewerbezeitschriften berichteten regelmäßig über japanische Druckkunst. In Deutschland überwogen in den siebziger Jahren noch reine Schriftplakate. Diese wurden zunehmend auch als Mittel der Reklame entdeckt. Graphikanstalten wurden gegründet und das Plakatierungswesen organisiert. Meyers Konversationslexikon schrieb 1874 unter ,Anschlag': „(...) eine nicht unerhebliche Geschäftsbranche% zu deren wirkungsvoller und nutzbringender Ausbeutung bedeutende Vorräthe an großen Schriften, sogen. Plakatschriften [...], Maschinen von beträchtlicher Formatgröße und ein gut eingearbeitetes Setzerpersonal erforderlich ist. " 1 3 2 Häufig würden mehrere kleine Formate aneinandergeklebt, um die erwünschte Größe zu erreichen. Bilder und Illustrationen waren in Deutschland die Ausnahme. Als Gestalter der „grellfarbigen, typographisch schlecht gesetzten Buchdruckplakate'' 133 seien meistens nur Setzer am Werk gewesen. Bis in die 1890er Jahre spielten Außenplakate eine eher geringe Rolle. Bestimmender waren die sogenannten Innenplakate, die für einen längeren Zeitraum in den Geschäften aushingen. Ausgehend vom Ursprung des Plakats aus dem einfachen Schriftanschlag (der Affiche) unterschied man noch 1906 zwischen illustriertem (Innen-)Plakat und „Affichenplakat ". 1 3 4 Letzteres galt als die weniger künstlerische Form des Plakats, die technisch weniger perfekt nur für eine kurze Zeit gedacht sei. Das Plakat hingegen werde durch die aufwendigere Lithographie statt durch einfache Zinkographie hergestellt und solle seinen Zweck längere Zeit hindurch erfüllen. In den späten achtziger Jahren nahm die Zahl der Bildplakate rasch zu. In dieser Zeit spezialisierten sich Kunstanstalten auf die Herstellung von Plakaten.135 Die ersten Bildplakate waren für Zirkusveranstaltungen und Schausteller, für Ausstellungen und Konzerte. 136 Besonders für letztere nutzte man die Bildungstraditionen und setzte allegorisierende und
131 1895 fand in Dresden die erste Ausstellung japanischer Holzschnitte in Deutschland statt. Auch das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe sammelte japanische Kunst, vgl. Plakat- und Buchkunst um 1900, S. 9 f. Sponsel begann seine Plakatgeschichte mit einem Kapitel über japanische Holzschnitte, vgl. Sponsel, S. 1-7. Vgl. auch J. Norden: Plakat-Kunst, in: Propaganda, Heft 1/1897, S. 29-37, S. 31. Der Plakatzeichner Emil Orlik unternahm 1900/01 eine Reise nach Japan, vgl. Unsere Reklamekünstler: Selbstbekenntnisse und Selbstbildnisse, hg. vom Verein der Plakatfreunde, Berlin 1920, S. 48. 132 Art. Anschlag (Affiche, Plakat), in: Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1874. 133 Carol Hilarius: 25 Jahre Berliner Plakatkunst, in: Carol Hilarius/Reinhold Blum: 25 Jahre Berliner Plakatkunst 1897-1922, Berlin 1922, S. 7-18. S. 8. 134 Art. Plakat, in: Meyers Konversationslexikon, Leipzig/Wien 1906. 135 Vgl. Cronau, 1. Abhandlung, S. 26; Horwitz, S. 75. 136 Vgl. ausführlich Gagel, S. 180-213.
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historisierende Formen ein. Erst allmählich wurde seit den späten achtziger Jahren fur einzelne Produkte geworben. Cronau nannte 1887 als wichtigste Plakatnutzer: „Industrie-, Landwirtschaftliche, Maschinen-, Pferde-, Vogel-, und Hundeausstellungen, für Fabrik-Etablissements, Regattas, Wettrennen, Volksfeste, Theater, Chautants, Zirkus, Zauberkünstler, Schauspieler u. s. w. u. s. w. " 1 3 7 Anläßlich der Berliner Gewerbeausstellung 1896 hielt man als Besteller schon mehr Produkte als Ausstellungen oder Veranstaltungen fest: „Parfumerie-, Bier- und Schnaps-, Zigarren- und Zigaretten-Fabriken sind die eifrigsten Auftraggeber für Plakatfirmen. " 1 3 8 Auch Plakate für Pianos, Liebig's Fleischextrakt, Kakao, Kaffee, Schokolade, den ,Berliner Lokalanzeiger' und Seife habe man gesehen. Allerdings läßt sich wenig über das Verhältnis der künstlerischen Plakatentwürfe zu den herkömmlichen sagen. Kropeit schätzte, daß in Deutschland um 1907 jährlich 20 Millionen Plakate gedruckt werden, davon 19 Millionen Lagerplakate, sogenannte Blankos. 139 Vermutlich war diese Schätzung aber zu hoch gegriffen. Richter sah schon 1901 in den Großstädten die „ordinäre Fabriksware" , m also Blankoplakate, überwunden. Viele der Firmen, die bereit waren, mit den neuen künstlerischen Plakaten zu werben, nahmen selbst eine gewisse künstlerische Aufgeschlossenheit für sich in Anspruch. So gehörten beispielsweise einige Zeitschriften- und Zeitungsverlage dazu, Hersteller von Musikinstrumenten und für Künstlerbedarf dazu. Aber auch andere Markenartikelproduzenten nutzten die neue Gestaltungsmöglichkeiten - in der Regel gehörten diese Firmen zu denen, die selbst neue Produkte auf den Markt brachten und sich auch in anderen Bereichen als wegweisend in der Nutzung innovativer Reklamemittel zeigten.141 Der Plakatwettbewerb von König & Ebhardt zeigte 1896 einen Querschnitt
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S. 197. 139
Cronau, 1. Abhandlung, S. 26. Berliner Plakate auf der Ausstellung, in: Die Reklame, Heft 12/1896, S. 197-198,
Kropeit, S. 433. Vgl. Mil Richter, S. 30. 141 Die hohe Akzeptanz neuer Reklamemedien durch neue Produkte (Fleischextrakt, Suppenwürfel, Backpulver, Waschmittel) läßt sich auch bei den Reklamefilmen beobachten, vgl. Reinhardt, S. 58 f. Er kommt allerdings zu dem für mich nicht nachvollziehbarem Schluß, daß die künstlerische Reklame „völlig ohne Zutun der Wirtschaft" und einzig durch Aufträge „aus dem eigenen Lager", also der Verlage und Ausstellungskommissionen entstanden. Er widerspricht damit Gagel, S. 28, die gerade in der Wirtschaft die treibende Kraft sah. Im übrigen sind die in den Museen überlieferten Plakate, die v. a. für Publikationen, Kunstausstellungen, Genußmittel und Theater werben, vermutlich nicht repräsentativ; ein Vergleich mit den auf alten Photographien sichtbaren Plakaten wäre deshalb eine interessante Aufgabe. Nach Hilarius gehörten zu den ersten Auftraggebern künstlerischer Plakate v.a. Likörfabriken, Sektfirmen und Brauereien - also keineswegs Firmen, denen per se ein besonders hoher künstlerischer Anspruch eigen war, vgl. Hilarius, S. 14. Ein ähnliches Programm zeigt Hollerbaum & Schmidt, Berlin. Verkaufskatalog, Berlin 1912. 140
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durch die Branchen, die offensichtlich zu den ersten (oder erhofften) Kunden der Druckerei zählten bzw. der Plakatreklame nicht abgeneigt waren: „ Chokolade und Kakao, Fahrräder, Fleischextrakt, Bier, Parfumerien und Seifen, Kognak und Liköre, Kaffee und Surrogate, Nähmaschinen, Lederkonservierungsmittel bzw. Wichse, Pianoforte, Bisquits und Cakes, Automobile, Kindernährmittel, Schaumweine. " 1 4 2 Der Zeichner Ludwig Hohlwein gestaltete zwischen 1906 und 1914 123 Plakate, davon 27 allein für Markenartikel. 143 Über die jeweiligen Auflagen der Plakate läßt sich kaum etwas herausfinden. Stollwerck bestellte 1907 bei einer Leipziger Druckerei vier Plakate fur Deutschland in einer jeweiligen Auflage von 7.500 Stück. 144 Die große Plakatdruckerei Hollerbaum & Schmidt stellte 1910 für eine Ausstellung Plakate in einer Auflage von 5.000 Stück her, unterbreitete aber auch ein Angebot über 10.000.145 Westheim gibt 1908 als jährlichen Summe, die in Deutschland für Plakate ausgegeben werde, 20 Millionen Mark an. 146 Redlich nannte als Produktionskosten für herkömmliche Lagerplakate pro Stück 5.000-6.000 Mark, wovon 1.000-2.000 Mark auf den Ankauf eines Entwurfs entfielen. Die Kosten durch den Gebrauch zahlreicher Steine, die diverse Lithographen vorbereiten mußten, waren hoch und die Herstellung dauerte oft monatelang. Reklameplakate mit wenigen Farben waren erheblich billiger. 147 Als einzige Firma näher erforscht ist die Druckerei Adolph Friedländer, die auf Zirkusplakate spezialisiert war. 148 Sie begann 1872 als Ein-Personen-Betrieb zunächst mit der Herstellung von Etiketten. Dann kamen Plakate dazu, zu deren Abnehmern alle wichtigen Zirkusse, Schausteller und Variétés gehörten. Der Chefzeichner Christian Bettels war Autodidakt. Die unsignierten, nur mit dem Druckereizeichen versehenen Plakate waren meistens Blankos; 102 verschiedene Motive, auf die nur noch 142 Kunstgewerbeblatt, Jg. 10/1900, S. 55. Auf ähnliche Auftraggeber läßt auch eine Katalog der Firma Hollerbaum & Schmidt schließen, der auch frühe Plakate enthält, vgl. Hollerbaum & Schmidt. Übereinstimmend auch Redlich, S. 30. 143 15 weitere Plakate warben für Sportveranstaltungen, 17 für gehobene Spezialgeschäfte, 13 für Handel und Industrie, 11 für Fremdenverkehr, 7 für Vergnügungsstätten, vgl. Gagel, S. 62. Bei dem Zeichner Lucian Bernhard war die Gewichtung ähnlich. Von rund 230 Plakaten zwischen 1903 und 1914 warben 68 für Markenartikel, ebd., S. 163. 144 Stollwerck an Wetzel & Naumann, 15.11.1907 (StA). 145 Hollerbaum & Schmidt an das Deutsche Museum, Februar 1910 (KEOA, A 703/13 und 14). Bei einer Auflage von 5.000 zweifarbigen Plakaten kosteten 100 Stück 45 Mark, bei einer Abnahme von 10.000 wurden pro 100 Stück 42 Mark berechnet. Die Kosten für den Entwurf wurden extra veranschlagt. 146 Vgl. Paul Westheim: Die historische Plakatausstellung, in: Augur, S. 13-22, S. 18. 147 Redlich, S. 49. 148 Vgl. Karl-Heinz Feuerstein: Zur Ausstellung, in: Menschen - Tiere - Sensationen. Zirkusplakate 1880-1930. Ausstellung der Puppentheatersammlunge München, hg. von Carl-Albrecht Haenlein/Wolfgang Till, Hannover 1978, S. 8. Ruth Malkotra: Manege frei. Artisten- und Circusplakate von Adolph Friedländer, Dortmund 1979, S. 7-18.
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der jeweilige Bestellername aufgedruckt werden mußte, waren in den neunziger Jahren auf Lager. Zwischen 1890 und 1904 wurden fast 4.000 verschiedene Plakate gedruckt. 149 Bei kleineren Formaten betrug die Auflage in der Regel 3.000 Stück, bei größeren Plakaten 1.000 Stück. 150 Produktreklame wurde zunächst nur durch sogenannte ,Blankoplakate' gemacht; in fertige Entwürfe wurde nur noch die jeweiligen Firmen- bzw. Markennamen eingefugt. Reisende der Druckereien legten dazu zweimal jährlich den Kunden fertige Plakate zur Auswahl vor. 151 Blankos waren vor allem als Innenplakate gedacht. Der Charakter der Bildgestaltung hatte ebenso wie in der Veranstaltungsreklame kaum etwas zu tun mit den zu bewerbenden Massenartikeln. Kritiker monierten an diesen Plakaten von „unangenehmer Süßlichkeit" „kindische Genreszenen und stark dekolltierte Frauen von kokottenhaftem Aussehen. " I 5 2 Zeichner, die in den Gewerbeschulen als Musterzeichner ausgebildet waren, legten Wert auf genaues Kopieren der Vorlagen, die der Natur oder Gemälden nachgebildet waren. 153 Sie ergänzten mit dem auf der Kunstgewerbeschule Gelerntem: Herolde und „ideal gewandete Jungfrauen"^ 54, Embleme, Attribute und Ornamente in Mengen. Die erforderte Fernwirkung des Plakats wurde lange nicht bedacht. Große Unsicherheit über die wirkungsvollste Art der Gestaltung machte sich breit; Nachahmung der wenigen anerkannten Plakate war die Folge. 155 In den neunziger Jahren erschienen den Kritikern einzig die Plakate für Kunstausstellungen erträglich, die bis auf wenige Ausnahmen eher dekorativen Charakter hatten und in der Gestaltung häufig auf historisierende und allegorisierende Formen zurück griffen. 156 Der Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, Julius Brinckmann, setzte sich stark für eine
149 Vgl. Malkotra, S. 10; S. 17. Man warb mit einer Anzeige: „Größtes Plakat-Lager Deutschlands. Gangbare Plakate, welche nicht vorräthig, werden auf Wunsch angefer und zu Lagerpreisen abgegeben. " Die Mindestabnahme bei Lagerplakaten war 25 Stück. 150 Vgl. ebd., S. 10. 151 Vgl. Hilarius, S. 12. 152 Walter von Zur Westen: Berliner Reklamekunst I. in: Ex Libris, Heft 4/1909, S. 194. 153 Vgl. zum Beruf des Musterzeichners Lieselotte Kugler: ,Hie Künstler - Hie Zeichner4. Zum Beruf und Selbstverständnis des Musterzeichners im 19. Jahrhundert, in: ,Mein Feld ist die Welt', S. 83-90, S. 86. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich eine Spaltung der Musterzeichner in Entwurfszeichner (Designer) und technische Zeichner ab. Die Firma Maggi verwendete 1884 das Gemälde ,Kappeler Milchsuppe' von Albert Anker um für ihre Suppen-Extrakte zu werben, vgl. Hartmut Vingon: Das Unternehmen Maggi, in: Frank Wedekinds Maggi-Zeit, hg. von Hartmut νίηςοη, Darmstadt 1992, S. 177-146, S. 209. 154 Sponsel, S. 232. 155 Robert Hösel: Das künstlerische Plakat, in: Moderne Reklame, Heft 9/1902-03, S. 81-96, S. 88 ff. 156 Vgl. ζ. B. Walter von Zur Westen: Berliner Reklamekunst I. in: Ex Libris, Heft 4/1909, S. 195; Mil Richter, S. 14 f.
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moderne Gestaltung der Plakate ein; Plakate herkömmlicher Art hielt er für nicht gelungen: „schwach an Kunstwerth, wie in ihrer Wirkung fiir den beabsichtigten Zweck". 157 Der Grund sei die Überforderung der Lithographen mit dieser Aufgabe. Der Anspruch der Lithographen, ein Gemälde zu imitieren, widersprach dem Zweck des Plakates. „Dünkel" und „Künstlerstolz" {S % machte es dagegen ,richtigen' Künstler schwer, sich mit der Reklame zu beschäftigen, bei der in erster Linie der Nutzen bedacht werden sollte. Sowohl in ästhetischer, als auch in technischer Hinsicht mußte umgedacht werden. Ein Autor der Kunstzeitschrift ,Ver sacrum' sah gerade in den neuen Reproduktionstechniken das Besondere des Plakats. Es werde als Massenprodukt produziert und an eine für Künstler neue Form der Öffentlichkeit, das Massenpublikum, gerichtet. Das Plakat eröffne dem Kunstgewerbe eine neue Perspektive, da es trotz seines Charakters als „maschinelles Product" einen „individuellen Stempel" 159 trage. Den meisten Künstlern erschien jedoch die Betätigung als Plakatentwerfer als erniedrigend. Einzig die Gestaltung von Ausstellungsplakaten war denkbar, wobei dann jedoch selten Wert auf große Reklamewirksamkeit gelegt wurde. 160 Zugleich machten Ausstellungsplakate durch ihre namhaften Entwerfer das Gebiet des Plakatzeichnens hoffähig. 161 Während bereits bekannte Künstler wie Franz Stuck, Richard Riemerschmid, Rudolf von Seitz in den frühen neunziger Jahren Ausstellungsplakate gestalteten, galt Produktreklame immer noch als eines Künstlers unwürdig. Der noch junge und wenig anerkannte Henry Van de Velde, der ab 1898 Plakate, Verpackungen und Inserate für das Eiweißpräparat Tropon entwarf, und Emil Doepler, der für Stollwerck arbeitete, waren Vorreiter in Deutschland.162 In der modernen Kunstbewegung der Sezessionisten sah Brinckmann seine Forderung nach reduzierter Form- und Farbgebung eingelöst,
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Zit. nach Ferdinand Luthmer: Reklame- und Plakat-Kunst, in: Die Reklame, Heft 2/1894, S. 31-32, S. 32. 158 Robert Hösel: Das künstlerische Plakat, in: Moderne Reklame, Heft 9/1902-03, S. 81-96, S. 89. 159 Gustav Gugitz: Das Placat, in: Ver sacrum, Heft 11/1898, S. 13-18, S. 13, 18. 160 Vgl. Ernst Growald: Die Kunst im Dienste der Reklame, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 83-96, S. 88. 161 Vgl. Gude Suckale-Redlefsen: Entwicklung des Plakats in München bis zum Ende des III. Reiches, in: Plakate in München 1840-1940. Ausstellungskatalog, München 1975, S. 11-176, S. 50, 54 f. Suckale-Redlefsen schreibt weiter, daß in der Bereitschaft der Künstler, Plakate zu zeichnen, zugleich ein Stück Eigenreklame liege. Abnehmer für Kunst zu finden, wurde zunehmend schwieriger; die Plakate mit hoher Auflage warben durch ihre deutliche Signatur für die Künstler. 162 In seiner späteren Autobiographie erwähnte Van de Velde diesen Auftrag nur in drei Sätzen und rechtfertigte sich: „Ich sah keinen Grund, das Angebot abzulehnen." Henry Van de Velde: Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 142 f. In Lemckes Handbuch von 1901 wird dagegen immer wieder auf die vorbildliche Reklame Van de Veldes Bezug genommen - sowohl im Text, als auch in den zahlreichen Illustrationen, vgl. Lemcke/Friesenhahn, passim.
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diese Künstler hätten erste vorzügliche Plakate gestaltet. Die Abkehr vom traditionellen Künstlerethos wurde zur Voraussetzung wirksamer Plakatgestaltung.163 Neben den Künstlern mußten auch die Auftraggeber umdenken, wenn sie wirksame Reklameplakate erhalten wollten. Klagen darüber, daß der Besteller nur das fur gut halte, was ihm gefalle, wiederholten sich. Mühsame Aufgabe der Kunstanstalt sei es, dem Besteller klar zu machen, daß es nicht auf dessen Geschmack ankomme, sondern allein darauf, ob das Plakat seinen Zweck erfülle, kritisierte Growald. 164 Der Zeichner Edmund Edel bemängelte die konservative Haltung der Auftraggeber: „Der sentimentale Deutsche glaubt natürlich, seine Familiensofaempfindung auch in sein Kontor hinübernehmen zu müssen, und war gerade gut genug, um dem fabrizierten Artisein Öldruck-Kunstverständnis kel ein Geieitbild zu geben. " 1 6 5 Einen praktischen Zweck könnten solche Plakate nie erfüllen. Auch die Rolle des künstlerischen Mäzens, in der sich einige Geschäftsleute sahen, hielt der Reklamefachmann Kropeit für verfehlt. „Dem Kaufmann, der sich ein Plakat machen läßt, steht die Rolle des Mäcens nicht zu. Er bezahlt nur eine Leistung. Und er bedenke, daß er dem Maler gegenüber immerhin ein Laie ist. Nichts aber kann einen schöpferischen Geist mehr lähmen, als wenn seine Leistung in laienhafter Weise herabgesetzt wird. " 1 6 6 Meist hatte der Besteller bestimmte Inhalte im Kopf, die auf dem Plakat Platz finden sollten: viel erklärender Text, eine Abbildung des gesamten Fabrikkomplexes (wobei gerne ein wenig übertrieben wurde), Medaillen (am besten von beiden Seiten, damit es nach mehr aussah) und die üblichen allegorischen Figuren. 167 In einem Preisausschreiben der Kurstadt Baden bei Wien wurde beispielsweise verlangt, „dass die Heilkraft der Schwefelthermen Badens in allegorischer Weise dargestellt und das Plakat durch einige Ansichten von Kurobjekten sowie Landschaftsbilder des Helenenthales ausgestattet werde". 168 Ein neuer Plakatstil
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Nach Ferdinand Luthmer: Reklame- und Plakat-Kunst, in: Die Reklame, Heft 2/ 1894, S. 31-32, S. 32. Einen Einblick auf die Verwendung der Farben gibt die Plakatsammlung am Betriebswissenschaftlichen Institut Mannheim. Sie umfaßte 1.000 Plakate aus den Jahren 1906-1917, die für reklamepsychologische Untersuchungen klassifiziert wurden: 44,3 % bestanden aus 3 oder 4 Farben, gut 20 % wurde aber noch mit mehr als 8 Farben gedruckt. Auch die Schrift war umfangreicher als meist gefordert. Zwar hatte die größte Gruppe, gut 18 % nur drei Schriftzeilen, aber auch die 6-zeiligen Texte waren noch mit fast 12 % vertreten, vgl. Rudolf Seyffert: Die Statistik des Plakats, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis, Heffc 11/1920, S. 228-235. 164 Vgl. Ernst Growald: Die Kunst im Dienste der Reklame, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 83-96, S. 90. Vgl. auch ders. : Der Plakat-Spiegel, S. 30 f. 165 Edmund Edel: Kunst, Kultur und Reklame, in: Morgen, Nr. 19/1908, S. 601-605, S. 604. 166 Kropeit, S. 471 f. 167 Vgl. Sponsel S. 231; G. B. Haucks: Das Plakat, in: Organisation, Nr. 6/1907, S. 96-97. S. 97. 168 Kunstgewerbeblatt, Jg. 9/1899, S. 235.
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sei auf die Unterstützung der Unternehmer und Plakatbesteller angewiesen und erfordere von ihnen ein Umdenken in künstlerischen Fragen, erkannte ein Autor schon 1896. Allerdings verlangte er auch von den Zeichnern eine Anpassung an den geschäftlichen Zweck des Plakats.169 Als Durchbruch des Reklameplakates in Deutschland gilt 1896. In diesem Jahr gestaltete Ludwig Sütterlin für die Berliner Gewerbeaussteilung ein in gestalterischer Hinsicht neuartiges Reklameplakat.170 Es wurde als Großformat in einer Auflage von 90.000 Stück und zusätzlich in diversen Kleinformaten verbreitet. 171 Growald, der künstlerische Leiter der renommierten Kunstanstalt Hollerbaum & Schmidt, erklärte: „ Das war eine Sensation! Dieses Plakat gefiel niemandem, esfiel aber allen auf es erregte die Spottlust und die Kritik, ja es wurde sogar durch eine Parodie geehrt [...]- es machte von sich reden - und es wirkte. Endlich ein zweckentsprechendes Plakat. " m Das Plakat löste eine breite Diskussion über die Gestaltung von Plakaten aus und wurde „ein ungemein wichtiges Förderungsmittel der Plakatbewegung. " , 7 3 Drei andere Plakate sorgten im selben Jahr ebenfalls für Aufsehen. Als Plakat für die Dresdner Ausstellung ,Die alte Stadt4 wurde nach erregter Diskussion der für den ausgeschriebenen Wettbewerb eingereichte Entwurf von Otto Fischer ausgewählt.174 In München erschienen im selben Jahr Plakate für die Zeitschriften Jugend4 und ,Simplizissimus4. Berühmt wurde vor allem das von Thomas Theodor Heine geschaffene zukunftsweisende Plakat einer leuchtendroten Bulldogge auf schwar-
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S. 404.
Vgl. Ein neuer Plakat-Wettbewerb, in: Die Reklame, Heft 24/1896, S. 403-404,
170 Vgl. Ernst Growald: Die Kunst im Dienste der Reklame, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 83-96, S. 87. Vgl. auch Lucian Bernhard, hg. von Friedrich Plietzsch, Hagen/Dortmund 1913, S. 3. Sponsel erwähnte, das bei dem ,Hammerplakat4 von dem Entwerfer Sütterlin nur vier Farbsteine vorgesehen waren, der Drucker aber fünf verwendete - ein Hinweis auf das auseinandergehende Kunstverständnis von Künstler und Drucker, vgl. Sponsel, S. 275. 171 Es wurde aus 98 Entwürfen ausgewählt, vgl. Bacharach, S. 88. Zu den großen Plakaten kamen noch knapp 60.000 Kleinformate für die Plakatierung in Eisenbahnen und Pferdebahnen. Auch für diverse Anzeigen und Sammelbildchen wurde der Plakatentwurf verwendet. Ebensoviele Plakate wurden im Ausland verteilt. 172 Ernst Growald: Die Kunst im Dienste der Reklame, in: Die Reklame, Bd. 1, S. 8396, S. 88. Vgl. auch Berliner Plakate auf der Ausstellung, in: Die Reklame, Heft 12/1896, S. 197-198; Paul Hennig: Moderne Reklame, Teil II, in: Organisation, Nr. 4/1909, S. 108-110, S. 109; Edmund Edel·. Kunst, Kultur und Reklame, in: Morgen, Nr. 19/1908, S. 601-605, S. 602. Edel karrikierte das Plakat von Sütterlin für die ,Five Sisters Barrisons4 und wurde prompt verklagt. 173 Walter von Zur Westen: Berliner Reklamekunst I. in: Ex Libris, Heft 4/1909, S. 197 f. 174 Vgl. Sponsel, S. 265 f.
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zem Grund. 175 Richard Riemerschmid gestaltete ein ebenfalls anerkanntes Plakat für die ,Bayerische Landesausstellung'.176 Noch andere Ereignisse markierten 1896 einen Bruch mit der herkömmlichen Plakatgestaltung und -produktion. Große private Preisausschreiben wurden durch Druckereien und andere Firmen ausgeschrieben und zeugten von der wachsenden Bedeutung, die den Plakaten als Reklamemedien zugewiesen wurde, und von dem Engagement, mit dem Druckereien nun versuchten, das neue Medium populär zu machen bzw. sich selbst als wichtige Produzenten ins Spiel zu bringen. Über die Veranstaltung von Preisausschreiben für Plakate berichteten die Kunst-, Kunstgewerbe- und Reklamefachzeitschriften regelmäßig. 177 In einem Wettbewerb der Leipziger Kunstanstalt Grimme & Hempel gingen 720 Entwürfe ein. Den ersten Preis gewann Fritz Rehm mit einem Plakat für die Zigarettenfabrik Laferme. Später berühmte Plakatkünstler wie Julius Klinger und Johann Vincenz Cissarz gehörten ebenfalls zu den Preisträgern. 178 Das Preisausschreiben wurde gelobt, weil bei der Auswahl künstlerische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle gespielt hätten. Bislang sei es in Deutschland so gewesen, daß Künstler es abgelehnt hätten, Reklameplakate zu entwerfen. Das Preisausschreiben der Firma Grimme & Hempel habe dazu beigetragen, diese Hemmungen zu überwinden. Eine wichtige Rolle wurde dabei der mit bekannten Künstlern und Kunstgelehrten besetzten Jury und den hohen Preisgeldern zugeschrieben. 179 Schon vorher hatte es vereinzelt Wettbewerbe gegeben, aber keiner hatte solch großes Aufsehen erregt und erhielt soviel Anerkennung. 180 Die Ausschreibung des Wettbewerbs des Typographischen Instituts Giesecke & Devrient in Leipzig verdeutlichte die neuen, dem Zweck und den Produktionsbedingungen geschul-
175 Vgl. Walter von Zur Westen: Berlins graphische Gelegenheitskunst, Bd. 1, S. 236. Das Plakat warb für den ,Simplizissimus\ Auch Norden hielt es für ein Verdienst verschiedener Kunstanstalten wie Grimme & Hempel und kunstinteressierter Verleger wie Albert Langen, dem Verleger des ,Simplizissimus4 als auch Georg Wirth, dem Verleger der ,Jugend4, daß die Plakate in Deutschland Fuß fassen konnten, vgl. J. Norden: PlakatKunst, in: Propaganda, Heft 1/1897, S. 29-37, S. 33. Karl Kraus wurde durch dieses Plakat noch Jahre später zu einem Artikel angeregt, vgl. Kraus, Karl: Der Bulldog [Juli 1907], in: ders.: Literatur und Lüge, Frankfurt a. M. 1987, S. 35-37. 176 Vgl. Zur Westen: Berlins graphische Gelegenheitskunst, Bd. 1, S. 155. 177 Diese Art, Plakate zu gewinnen, lehnte sich an die schon üblichen Wettbewerbe für Denkmäler, öffentliche Bauten etc. an. 178 Vgl. Ergebnisse des Wettbewerbes um Plakate von Grimme & Hempel, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 7/1897, S. 28-31. 179 Vgl. Ein neuer Plakat-Wettbewerb, in: Die Reklame, Heft 24/1896, S. 403-404, S. 403. Für den 1. Preis wurden 1.500 Mark ausgesetzt, vgl. Ergebnisse des Wettbewerbes um Plakate von Grimme & Hempel, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 7/1897, S. 2831, S. 30. In den anderen Wettbewerben wurden erste Preise nicht höher als 1.000 Mark vergeben. 180 Bei einem späteren Wettbewerb der gleichen Kunstanstalt gingen 909 Entwürfe ein. Vgl. Wettbewerbe, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 10/1900, S. 196. 13 Lamberty
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deten Anforderungen, die zugleich eine Abkehr von der Vorgabe fester Kunstrichtungen bedeuteten. Gesucht wurden Entwürfe für ein Fahrrad und eine Nähmaschine. Bei der Ausfuhrung sollten folgende Kriterien eine Rolle spielen: „Die Entwürfe sollen in einfachem, vornehmen Stil gehalten sein; eine bestimmte künstlerische Ausrichtung wird nicht zur Bedingung gemacht; es werden vielmehr neben Entwürfen in dem sog. modernen Stile, auch Entwürfe in dem älteren strengen Stile volle Berücksichtigung finden, sofern sie nur den hauptsächlichen Erfordernissen eines Plakats: Erregung der Aufmerksamkeit, leichte Fasslichkeit der Darstellung und der Aufschrift, sowie möglichste Fernwirkung, Rechnung tragen. [...] Für beide Konkurrenzen ist ein Hochformat 65:98 cm angenommen und die Zahl der zur Vervielfältigung erforderlichen Farben auf sechs beschränkt [...]. Als ein Vorzug wird es angesehen, wenn die künstlerische Ausführung des Entwurfs die bei der Vervielfältigung anzuwendende lithographische Technik ersichtlich macht, wenn also der Entwurf in dem Maasse auf die Eigenart der Technik Rücksicht nimmt, dass er auch in den Einzelheiten eine originalgetreue, gewissermassen facsimilirte Widergabe erfahren kann. " 1 8 1 Die Vorgabe der Preisausschreiben, sich auf wenige Farben zu beschränken, wurde durch Kunstgewerbemuseen und deren Direktoren, die meist in der Jury saßen, unterstützt. Nur so erhofften sie sich, reklamewirksame Plakatentwürfe zu bekommen und die vielfach eingesandten Zeichnungen der Musterzeichner einzuschränken. 182 Das Format richtete sich wiederum nach den Vorgaben der örtlichen Plakatierungsanstalten. Für die großen Wettbewerbe der Druckereien, wie Grimme & Hempel, J. C. König & Ebhardt oder Edler & Krische wurden Gruppen nach bestimmten Branchen eingeteilt. Wenn Firmen direkt ausschrieben, lieferten sie meist einige Vorgaben mit. Die Ausschreibung eines Wettbewerbes bedeutete zudem eine Betonung ihres künstlerischen Verständnisses. 183 Im Februar 1902 kam es zu dem großen Hannoverschen Wettbewerb. Verschiedene große Firmen wie Continental-Caoutchouc- und Gutta-Perch-Co., Bahlsen, Jasmatzi (Zigaretten), Kathreiner (Malzkaffee), Dr. Oetker, Stollwerck, Günther Wagner, Oscar Winter (Ofen) richteten den Wettbewerb zusammen mit der Kunstanstalt Edler & Krische aus. Der Wettbewerb machte durch die breite Beteiligung der Industrie von sich reden. Jeweils ein Firmenvertreter saß zusammen mit Vertretern der 181 Anzeige in: Berliner Börsen-Courier, 13. Juni 1896, 2. Beilage. Als erste Preise wurden je 1.000 Mark ausgesetzt. Weitere angekaufte Entwürfe wurden mit je 200 Mark honoriert, vgl. Der Plakat-Wettbewerb, in: Die Reklame, Heft 1/1897, S. 1. Hier gewann Richard Riemerschmid den mit 1.000 Mark dotierten ersten Preis für ein Plakat für Fahrräder. 182 Vgl. Sponsel, S. 259. 183 Suckale-Redlefsen führt die Wettbewerbspraxis darauf zurück, daß einige Firmen wie Klavier- oder Künstlerfarbenhersteller so an dem „gewachsenen Kunstbewußtsein" partizipierten, vgl. Suckale-Redlefsen, S. 61. Vgl. zu Pelikan-Wettbewerben auch Susanne Bäumler. Im Zeichen des Pelikan, in: Die Kunst zu werben, S. 173-189, S. 173 f.
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Kunst und der Kunstmuseen und einem Vertreter der Druckerei in der Jury. 184 Reklamezeichner kritisierten häufig die Zusammensetzung der Jury aus Museumsfachleuten und Kunstkritikern; sie trage dem Zweck der Reklameplakate keine Rechnung. Growald setzte sich stark fur Plakatzeichner als Jury-Mitglieder ein. 185 Auch wenn er die Besetzung mit Künstlern kritisierte, die nicht selbst Plakate herstellten, so halfen Namen wie Max Liebermann vielen Zeichner, ihre Vorbehalte gegenüber der Reklame zu überwinden. Die Kosten, die einige Firmen mit solchen Wettbewerben auf sich nahmen, waren enorm. Der Schokoladefabrikant Ludwig Stollwerck verstand sich dabei durchaus als Mäzen. Bei dem 1904 von Stollwerck und Henkell (Sekt) für eine gemeinsame Reklame ausgeschriebenen Wettbewerb gingen 5.800 Entwürfe ein. 15.500 Mark wurden für Preisgelder und rund 17.000 Mark für Anzeigen in 70 Zeitungen ausgegeben, die zu dem Wettbewerb aufriefen. Die als Jury tätigen Kunstprofessoren wurden mit je 500 Mark bezahlt.186 Wettbewerbe wurden auch für die Erlangung von Sammelbildchen, Alben u. a. ausgeschrieben.187 Von der Praxis, Plakatwettbewerbe zur Erlangung von Entwürfen auszuschreiben, kam man nach 1905 ab. Für die Anfangszeit spielten die privaten Ausschreibungen aber eine wichtige Rolle in dem öffentlichen Prozeß der Konstituierung einer speziellen Plakatkunst.188 Neben den Wettbewerben diente auch die Fachpresse als Vermittlerin zwischen Bestellern und Herstellern der Plakate. Seit den siebziger Jahren wurden Musterblätter der Lithographie herausgegeben, die häufig zur Orientierung über neue Kunstströmungen dienten. Ihr Hauptcharakter lag, wie bei den Firmenschriften, in ihrer Konzeption als Werbeblätter für die Leistungsfähigkeit der Druckereien in Bild und Schrift. Häufig wurden Entwürfe für Reklamedrucksachen vorgestellt. 189 Auch Beilagen in den Fachzeitschriften des graphischen Gewerbes dienten der Vermittlung zwischen Druckerei, Schriftgießerei oder Papierfabrik und Kunden. Später übernahmen spezielle Fachzeitschriften der Re184
Robert Hösel·. Das künstlerische Plakat, in: Moderne Reklame, Heft 9/1902-03, S. 81-96, S. 92 ff. 185 Ernst Growald: Der Plakatspiegel. Erfahrungssätze für Plakat-Künstler und Besteller, Berlin 1904, S. 60 f. 186 Vgl. Manuskript Kuske, S. 35 (StA); Ludwig Stollwerck an Prof. Clays Meyer, 30.4.1904 (StA). 187 Zu Stollwerck-Sammelbildem vgl. z. B. Wettbewerbe, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 8/1898, S. 92; Wettbewerbe, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 8/1898, S. 152; Wettbewerbe, in: Kunstgewerbeblatt, Jg. 10/1900, S. 56. 188 Vgl. Plakatausstellung im Kunstgewerbe-Museum, in: Die Reklame, Heft 1/1897, S. 1. Heinrich Müller: Reklame und Plakatkunst, in: Das Kontor, Heft 8/1910, S. 405410, S. 408. 189 Vgl. zu diesem Punkt ausführlich Köhler, S. 58 ff.; S. 140 f. Die Firmenschrift der graphischen Kunstanstalt Meisenbach, Riffarth & Co. präsentierte im Anhang zahlreiche Muster diverser Reklamedrucksachen in den unterschiedlichsten Drucktechniken.
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klamebranche diese Funktion. Den Beginn machte 1897 die Beilage der Zeitschrift ,Propaganda', die ,Plakat-Gallerie\ Später stellten auch ,Das Plakat4, die ,Moderne Reklame4 oder die ,Graphischen Werkstätten4 Firmen, Zeichner und Entwürfe vor. Mitunter fungierten die Kunstanstalten direkt als Herausgeber solcher Zeitschriften. 190 Ebenso sorgte ab 1905 der engagierte Verein der Plakatfreunde durch Ausstellungen und ab 1910 durch die Zeitschrift ,Das Plakat4, die zum wichtigsten Organ auf dem Gebiet der künstlerischen Plakatgestaltung wurde, für Beziehungen zwischen Auftraggebern und Künstlern. 191 Zunächst eher aus passionierten Sammlern bestehend, traten dann mehr und mehr Reklamekünstler und -fachleute dem Verein bei. In der Satzung des Vereins erklärte man, sich für eine Weckung des Interesses der Geschäftswelt fur das Plakat einsetzen zu wollen - offenbar mit Erfolg, denn mehrere große Firmen wurden ebenfalls Mitglied. 192 Eine wichtige Rolle für die künstlerische Entwicklung der Plakate spielten auch Zeitschriften wie ,Simplizissimus4 und ,Jugend4. Sowohl die Plakate für diese Zeitschriften, als auch die ganzseitigen Anzeigen in diesen Zeitschriften nahmen modernste Gestaltungselemente der Plakatkunst auf, regten neue Gestaltungsformen an. Ihr Einfluß auf die künstlerische Gestaltung der Reklame wurde häufig lobend erwähnt. 193 Nicht wenige der Zeichner, die bei diesen Zeitschriften begannen, schufen später auch Plakate. Zu ihnen zählt der Gewinner des Laferme-Wettbewerbes, Fritz Rehm. 194 Ab 1903 entstand mit dem Sachplakat ein für die Reklame wegweisender Umgang mit der präsentierten Ware. Es galt als spezifisch deutsche Erfindung und als Erwiderung auf das Verstecken der Reklameabsichten hinter allegorischen Motiven und Jugendstilformen. Erstmals wurden auf den Plakaten ausschließlich die angepriesenen Waren dargestellt; der ganze „Phrasennebel" fehlte. Auch auf die Einbindung der Ware in einen bestimmten, mit abgebildete Menschen verdeutlichten Anwendungszusammenhang wurde verzichtet. Lucian Bernhard perfektionierte diesen Stil unter dem Leitsatz: „Zeige die Ware, die
190 So wurde die ,Moderne Reklame' von Ernst Growald, dem Leiter der Kunstanstalt Hollerbaum & Schmidt mitherausgegeben; die ,Graphischen Werkstätten' publizierte der Reklamezeichner Albert Knab. 191 Die Auflage der aufwendig gestalteten Zeitschrift stieg von 200 Exemplaren im Anfangsjahr auf 3.000 1916. Zum Verein vgl. René Grohnert: Hans Sachs - der Plakatfreund, in: Kunst, Kommerz, Visionen, S. 16-25; Klaus Popitz: Bewahrung und Überlieferung. Von Plakatsammlern und Plakatsammlungen, in: ebd., S. 26-29. 192 Z. B. Henkell & Cie., Stollwerck, 4711, Farbenwerke Bayer, vgl. Gagel, S. 9. 193 Vgl. Sponsel, S. 259 f.; Friesenhahn/Lemcke, S. 42 f.; Ernst Schur. Die angewandte Graphik der Gegenwart, in: Ex Libris, Heft 1/1907, S. 39-40, S. 39. 194 Vgl. Zur Westen: Reklamekunst, S. 72. 1903 gewann der ,Simplizissimus'Zeichner Wilhelm Schulz einen anderen Wettbewerb, vgl. Gagel, S. 28.
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Quelle: Kunst, Kommerz, Visionen. Deutsche Plakate von 1888-1933, hg. vom Deutschen Historischen Museum, Berlin 1992, S. 77
Abb. 9: Plakat von Lucian Bernhard, 1907/08 das Plakat verkaufen soll, in reizvoller Darstellung!" Auch „nüchternen Dingen " l 9 5 könne so ein Reiz gegeben werden. Gerade bei technischen Produkten und Massenartikeln bot sich diese Gestaltung an, da Material und Konstruktion des Gegenstandes, der allein auf dem Plakat abgebildet wurde, im Vordergrund standen. Klare Färb- und Formgebung waren neben dem großen Firmen- oder Markennamen weitere Kennzeichen. Die angebotene Ware sollte als moderner Gebrauchsgegenstand abgebildet werden. Gagel interpretiert das Sachplakat als künstlerisches „Bekenntnis zur Industriegesellschaft". m Das ökonomische Interesse am Massenartikel beeinflußte die künstlerische Gestaltung solcher Artikel in der Reklame.197 Massenartikel wurden ästhetisiert. In der Konzentration auf einen einzigen Artikel lag zudem eine Ruhe, die das Plakat gerade dadurch zu einem Anziehungspunkt in den hektischen Straßen machte. Durch die Betonung von Warenverpackung und Namenszug des Markenartikels konnte auf bislang übliche allegorische Bildelemente verzichtet werden. Die Aufnahme der Verpackung in das Plakat rekurrierte zudem auf den Wiedererkennungseffekt beim 195 Martin Hildebrandt: Bernhard. Persönliches, in: Mitteilungen des VDR, Heft 13/ 1911, S. 3. Das erste Sachplakat wurde 1903 von Wilhelm Schulz für Gasherde gestaltet. 196 Gagel, S. 135. 197 Vgl. ebd., S. 137.
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Käufer im Laden. 1910 war die Entwicklung des Sachplakats an ihre Grenzen gestoßen. Ein neuer Umbruch brachte die erneute Hinwendung zur Form. Inzwischen hatte sich auch eine neue Generation qualifizierter Zeichner herausgebildet, die sich auf Reklame spezialisierten und durch engagierte Kunstanstalten vermittelt wurden. 198 Den Erfolg der künstlerischen Plakate führte der Reklamefachmann Hilarius rückblickend 1922 darauf zurück, daß eine breite Interessenskoalition ausdauernd fur das neue Medium geworben habe. Dazu gehörten sowohl Plakatausstellungen, Vorträge und Wettbewerbe und der Verein der Plakatfreunde als auch eine beständig berichtende Presse. Vor allem künstlerisch orientierte Zeitschriften und die breite Kunstgewerbebewegung hätten an dem Geschmackswandel mitgewirkt. Letztlich aber sei der Durchbruch Großkunden wie Scherl und Ullstein zu verdanken gewesen, die früh einen riesigen Reklameetat fur Plakate ausgaben.199 Gefestigt wurde diese Interessenskoalition durch diverse persönliche Beziehungen ihrer Protagonisten. 200 In zeitgenössischen ebenso wie in späteren Artikeln über Plakate fehlen meist die reinen Schriftplakate und industriell gefertigte Blankos, wie sie zur Ankündigung von ,Weiße Wochen4, ,95-Pfennig-Tage' und fur andere Sonderveranstaltungen eingesetzt wurden. Das gleiche gilt auch fur Serienplakate, die aus einem Bildmotiv und kurzen Standardtexten bestanden, wie „Feine Damenwäsche„Neueste Moden", „Anfertigung nach Maass" 201 Ihre Schrift war durch den mitunter geprägten Pappuntergrund erhaben, daher die Bezeichnung , Reliefplakate 4. Sie wurden als Dekorationshilfen empfohlen. Reliefschrift war neben der Lackschrift Unterrichtsbestandteil der Dekorationsschulen. Um 1912 eine Form des Plakats auf, bei dem aus Pappe die Umrisse von bestimmten Dekorationsmotiven, wie beispielsweise von „Dienstmädchen" 202 für die Lebensmittelbranche, ausgeschnitten wurden. Sie waren teurer als herkömmliche Plakate. Solche Aufsteller wurden häufig fur Markenartikel genutzt.
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Vgl. Zur Westen: Reklamekunst, S. 9. Vgl. Hilarius, S. 13-17. 200 Vgl. Reinhold Blum: Werdegang des Unternehmens, in: Hilarius/Blum, S. 25. So waren beispielsweise Robert Exner, Herausgeber der zwei frühen wichtigen Reklamezeitschriften und Ernst Growald, künstlerischer Leiter der Druckerei Hollerbaum & Schmidt, befreundet. Ebenso verbanden freundschaftliche Beziehungen die Herausgeber der Zeitschrift ,Das Plakat' mit Growald und seinem Kollegen Hilarius. 201 Abb. solcher Plakate in: Reliefplakate, in: Organisation, Nr. 4/1909, S. 110-112. 202 Ausgestanzte Plakate, in: Organisation, Nr. 11/1912, S. 307. 199
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5. Firmenschilder, Giebelreklame und Luftbuchstaben a) Firmenschilder Firmenschilder gehören zu den ältesten Reklamemedien. Zunächst handelte es sich dabei um die Schilder direkt am Geschäft, die den Namen des jeweiligen Produzenten, Händlers oder die Branche ankündigten. In den späten neunziger Jahren kamen mit den Markenartikeln auch industriell gefertigte Schilder dazu, die der Produzent dem Händler zur Verfugung stellte und die fur diesen speziellen Markenartikel warben. Ein Teil der Schildermaler kam von den Schaustellermalern her. Seit den späten achtziger Jahren fertigten sie auch Schilder für andere Geschäfte an. 203 Die meisten Schilder wurden früher in Süddeutschland hergestellt, seit den vierziger Jahren kam Berlin als zweites Zentrum hinzu. In den Gründeljahren kam es zu einem raschen Aufstieg dieser Branche. Allein in Berlin zählte man 1896 15 größere Betriebe und 40 kleinere Werkstätten, die meist nur Buchstaben aus Holz, Metall oder Glas herstellten. 204 Damit zählte dieser Zweig in Berlin zu dem stärksten der Reklamebranche. Auf alten Fotos sieht man vorwiegend schwarze Glasschilder mit goldenem, silbernem oder weißem Schriftzug. Sie galten als haltbar und leicht zu reinigen. 205 Verändert wurde aber bald der spiegelnde Reflex. Durch die zunehmenden Beleuchtungsquellen in den Straßen gewannen matt gehaltene Schilder an Lesbarkeit. 206 Ab 1910 galten Glasschilder als veraltet. Vorbei sei die Zeit, „wo auf tiefschwarzem Grunde gewaltige, plastische Goldbuchstaben in klobiger Antiquaschrift und vielleicht noch ein protziges Hoflieferanten-Wappen prangte. Auch die abscheuliche Kombinationen von Schwarzglas mit weissen oder goldenen Buchstaben sind, gottlob, im Aussterben ". 2 0 7 Beschriftungen wurden auch im ersten und zweiten Stock direkt auf den Fensterscheiben angebracht. Im Zuge vermehrter Anbringungsverbote an der Außenfront (vgl. Kap. H. III.) durch Denkmal- und Heimatschutzgesetze wur-
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Vgl. Florian Dering: Volksbelustigungen, Nördlingen 1986, S. 179-181. L. Rosenow: Galanteriewaren aus Holz, aus Holz mit Metall, Bronze, Aluminium und anderen Metallen, Metall-, Glas- und Holzbuchstaben, Firmenschilder, in: Berlin und seine Arbeit 1898, S. 330-337, S. 336. 205 Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 198. Als Bildquelle vgl. Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende. 103 Fotos aus dem Bildarchiv der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, hg. von Jürgen Grothe, Berlin 1991. 206 Vgl. Über die Konstruktion von Firmenschildern, in: Kontor und Laden, Heft 10/ 1901, S. 74-75, S. 74. 207 A. Ciddow: Strassenbild und Reklame. Ein Grossstadtproblem, in: Das Plakat, Heft 2/1913, S. 60-65, S. 65. 204
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den um 1910 Glasplakate für das Ladeninnere populär. 208 Sie galten durch eine dezentere Ausfuhrung, meist nur mit Gold oder Silber, als vornehmer. Eine jüngere technische Entwicklung waren die Email- und Blechschilder. Bereits 1859 war in England das erste emaillierte Firmenschild hergestellt worden, ab 1889 stellte eine Firma in London erste Reklameemailplakate her und lieferte diese auch nach Deutschland.209 In den siebziger Jahren begannen die ersten Firmen in Deutschland mit der Produktion von Emailschildern. Seit den neunziger Jahren wurden Emailplakate verstärkt für Werbezwecke eingesetzt. Es kam zu einer Reihe von Firmenerweiterungen und -neugründungen. Die 1896 gegründete Glasplakatefabrik Offenburg beschäftigte 1906 als eine der größten dieser Art 93 Beschäftigte. Die neuartigen Schilder hatten den Vorteil, wetterbeständig, lichtecht und hielten viele Jahre haltbar zu sein. Emailplakate wurden zunächst nur in kleinen Formaten produziert, bis leichter zu bearbeitendes Eisenblech Gußeisen als Träger ablöste. Um 1890 kam es durch das Umdruckverfahren zu einer wesentlichen Verbesserung der Druckqualität. Wie die Papierplakate lehnten sich Emailplakate in der Gestaltung anfanglich an historisierende Gemälde an. Die dort übliche feine Farbdifferenzierung ließ sich in Email allerdings nur schwer umsetzen. Schon bald wurde daher der flächige Plakatstil übernommen und weiter ausgebaut. Je weniger Farben und je klarer diese voneinander getrennt aufgetragen werden konnten, desto billiger wurde das Emailplakat in der Herstellung. Pro Plakat waren 5-8 Brände notwendig, jeder Brand erhöhte das Risiko der Verwerfung und der Risse im Email. Mitunter wurden Entwürfe für Papierplakate auch in Email ausgeführt. 210 Blechplakate bestanden einfach aus bedruckten, nicht besonders versiegelten und weniger haltbaren Blechflächen. Glasplakate stellten dagegen die edlere Version dar. Sie waren empfindlicher und teurer, ihre Farbwirkung leuchtender. Auf das geätzte Glas wurde durch Lithographie die meist goldene Schrift aufgetragen. 211 Eine erfolgreiche billige und unzerbrechliche Imitation der teuren Glasplakate waren die Semiglasplakate, die aus einem Blechträger mit Celluloidauflage hergestellt wurden. 212
208
Vgl. Fritz Krielke: Der Wert der Plakat-Reklame, in: Organisation, Nr. 13/1913,
S. 304. 209 Vgl. im folgenden Κ Mahrentin: Das Glasplakat, in: Die deutsche ReklameIndustrie, S. 67-70; Wunderlich, S. 126; Klaus Weschenfelder. Seifen, Suppen, Schokoladen. Die Anfänge der Email-Schilderproduktion in Deutschland, in: Email-ReklameSchilder, S. 22-28, S. 27 f.; Feuerhorst/Steinle, S. 27. Zur Technik: Christian von FaberCastell: Zur Herstellung von Emailplakaten und Emailschildern, in: Email-ReklameSchilder, S. 226-273. 210 So wurde der preisgekrönte Entwurf des Laferme-Preisausschreibens von 1896 fünf Jahre später auch in Email produziert, vgl. Wunderlich, S. 26. 211 Vgl. K. Mahrentin: Das Glasplakat, in: Die deutsche Reklame-Industrie, S. 67-70. 212 Vgl. Feuerhorst/Steinle, S. 28, S. 52 f.
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Quelle: Der Führer durch Deutschlands Außenreklame, hg. von Fritz Krielke, Berlin 1914, o. P. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 10: Kolonialwarenladen, um 1914
Emailplakate waren als Dauerreklame besonders billig, wenn auch über die nachlassende Reklamewirkung gestritten wurde. Ihr Hauptzweck war der ständige Hinweis auf Verkaufsstellen für Markenartikel. Die anfangs noch relativ lange konstant bleibende Verpackung rechtfertigte deren Abbildung auf den teuren Schildern. 1913 wurde die Herstellung eines guten Emailplakats mit 3,50 Mark angesetzt, dazu kamen noch 1,50 für die Befestigung. Dafür hielt es dann mindestens zehn Jahre, war wasserfest und lichtecht.213 Die von den Markenartikelherstellern an die Detaillisten gelieferten Emailschilder blieben im Besitz der Fabrikanten. Er kümmerte sich in der Regel auch um die Befestigung der Schilder an Ladenfronten, Türen, Tordurchfahrten und in den Geschäftsräumen der Detaillisten. Diese Reklame war für die Detaillisten kostenlos.214 Oft wurden reine Schriftplakate eingesetzt. Sie dienten lediglich der Ankündigung, daß der jeweilige Markenartikel dort zu haben sei. Maggi, Sunlight und Suchard z. B. 213
Ein Papierplakat kostete zur gleichen Zeit an einer Anschlagsäule oder den Plakattafeln in der U-Bahnstationen monatlich 2- Mark, zusammen mit der Herstellung in zehn Jahren also 243,50 Mark, vgl. Fritz Krielke: Der Wert der Plakat-Reklame, in: Organisation, Nr. 13/1913, S. 303-304. S. 303. Die Anschlagpreise galten für Berlin. Büsch gab 1909 Preise zwischen 1,50 und 5,- Mark für die Herstellung eines Glasplakates an, vgl. Büsch, S. 155. 214 Vgl. Reklameschilder an Läden, in: Seidels Reklame, Heft 3/1913, S. 83-84. Von Bleyle ist bekannt, daß 1911 6.372 Reklameschilder an Detaillisten geliefert wurden, vgl. Mentges: Bleyle, S. 138.
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entwickelten zahlreiche, nur schwach variierende Schriftplakate in diversen Größen. Maggi ließ um 1910 jährlich 20.000 Emailplakate neu verteilen; 200.000 hingen schon.215 Die frühen Schilder enthielten meist einen ausdrücklichen Hinweis, daß die abgebildete Ware in dem Geschäft zu kaufen sei: „Hier zu haben", „ Verkaufsstelle von" 216 waren übliche Ergänzungen der Schilder um die Jahrhundertwende. Damit setzten die Emailschilder den Detaillisten, an dessen Ladenfront sie angebracht wurden, unter den Zwang, die angekündigte Ware auch ständig zu führen. 217 Zugleich wurden die Detaillisten, wenn sie einen Markenartikel fuhren wollten, dazu verpflichtet, ein entsprechendes Schild an der Geschäfts front anzubringen. 218 Für die Befestigung an der Fassade wurden besonders schmale Hoch- oder Breitformate entwickelt, die noch in der kleinsten Lücke an der Wand Platz fanden. 219 Trotz zahlreicher Schildergrößen boten die häufig gegliederten Fassaden wenig Anbringeflächen. Gerade die Schilder für Filialen oder aber die von den Markenartikelherstellern gelieferten Schilder waren in ihrer Größe vorgegeben. Eine einheitliche Fassadengestaltung der verschiedenen Filialen unterstützte die Reklamewirkung. 220
b) Giebelreklame und Luftbuchstaben „Bis zu den Giebeln der Häuser hat sich die Reklamegöttin emporgeschwungen, von wo herab in großen Buchstaben die Waren angepriesen werden. Kein Haus ist zu hoch und kein Mittel zu gering, was nicht Reklamezwecken dienstbar zu machen wäre. " 2 2 1 Giebelmalereien werden in der Literatur fast nie besprochen, sind aber auf alten Fotos häufig zu sehen. Diese Art der Reklame wurde direkt auf die Hausgiebel gemalt und ist in ihrem Aufbau den Plakaten ähnlich. In der zeitgenössischen Literatur tauchen sie fast ausschließlich im Zusammenhang mit Protesten der Heimatschützer über die das Stadtbild verschandelnde Reklame auf. Zu den ersten Nutzern der Giebel für Reklamemalereien gehörte die Schokoladefabrik Stollwerck, die 1867 in Köln begann, solche Malereien anzubringen. 222 Ende der achtziger Jahren erregte der ,Berliner Lokalanzeiger 4 (Scherl) 2,5
Vgl. Rackow, S. 113. Vgl. Abb. 8, 9, 12 in: Wunderlich. 217 Vgl. Fritz Krielke: Der Wert der Plakat-Reklame, in: Organisation, Nr. 13/1913, S. 303; Hellweg: Außenreklame, S. 176 f. 218 Vgl. Kropeit, S. 546. 219 Vgl. die Abbildungen in: Email-Reklame-Schilder, S. 29-57, 121-122. 220 Vgl. Hirsch: Filialbetriebe, S. 22. 221 Walter Hess: Moderne Reklame, in: Organisation, Nr. 2/1910, S. 35-38, S. 36. 222 Vgl. Kuske, S. 74. 1872 wurden für eine solche Reklame jährlich 25 Taler Pacht bezahlt. 216
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Aufsehen mit seinen Giebelreklamen entlang der Stadtbahn und am Tattersall neben dem Brandenburger Tor. 223 Das Berliner Polizeipräsidium versuchte, diese Reklame zu verbieten, und berief sich auf eine Verordnung, nach der Reklame nur an Häusern möglich sei, die der reklametreibenden Firma gehörten. Scherl mietete daraufhin die entsprechenden Räume.224 In den neunziger Jahren blühte die Giebelmalerei. 225 Eine Rolle mag gespielt haben, daß aufgrund des Baubooms in den Großstädten genügend große und freie Wandflächen zur Verfugung standen. Für die Hausbesitzer wurden Giebelreklamen zu einer lohnenden Einnahmequelle. Besonders in den Innenstadtbereichen, wo unverbaute Giebelwände langsam rar wurden, wurden solche Wände teuer bezahlt.226 1896 heißt es in einem Bericht über die Berliner Gewerbe-Ausstellung zur Giebelmalerei, diese Form der Reklame finde 15 Jahren Eingang in das Stadtleben. Angefangen habe alles mit der Reklame des ,Berliner Lokalanzeigers 4. Begeistert zeigte sich der Autor allerdings nicht. Auch wenn diese Form der Reklame immer häufiger angewandt werde und auch deren Dimensionen wachsen, ihre künstlerische Gestaltung lasse zu wünschen übrig. Der schlechte Einfluß aber lasse sich orten und Besserung sei in Sicht: „Hier macht sich noch eine allzu starke Anlehnung an fremde, namentlich französische Muster bemerkbar, die indessen durch Heranziehung geeigneter Kräfte aus den Kreisen der gegenwärtig mit so frisch pulsierendem Leben erfüllten Kunstgewerbeschulen der Reichshauptstadt leicht zu vermeiden wäre. " 227 Auf alten Fotos aus Berlin fallen die riesigen Giebelmalereien vor allem an den Kreuzungen oder Hochbahnhöfen auf. ,Nestle's Kindermehr beanspruchte um 1906 zusammen mit ,Stollwerck Adler Cacao' eine Wand an der Jannowitzbrücke; letzterer warb ebenfalls am Halleschen Tor. 228 An solchen Verkehrsknotenpunkten wurden die Malereien von vielen Menschen gesehen. Eine gewisse zielgruppenspezifische Reklame läßt sich hier ebenfalls erkennen: im Berliner Wedding als Arbeiterviertel waren die „Mauerwände der Häuser [...] bemalt mit Reklame für Abzahlungsgeschäfte, billige Seifen, Tinten, Fahrräder usw. ". 229 Als wichtigste Nutzer der Giebelreklame bezeichnete Kropeit Zei223
Als Motiv in einem, laut Sponsel sehr erfolgreichen Plakat wieder aufgenommen, vgl. Sponsel, S. 277; Erman, S. 158. 224 Vgl. Reinhardt, S. 264. 225 Sie wird aber in der Regel von traditionellen Malerbetrieben ausgeführt worden sein. Für 1896 ist in Berlin nur eine spezialisierte Unternehmung für Giebel-Reclame' nachzuweisen, vgl. Verzeichnis des Kgl. Amtsgerichts 1896, S. 579. 226 Vgl. Rackow, S. 24; Kropeit, S. 548. So ist auch auf dem Gemälde ,Neubauten' von Hans Baluschek von 1895 eine große bemalte Giebelwand mit Suchard zu sehen. 227 Rosenow, S. 36-37. 228 Vgl. Abb. z.B. in: Alt-Berlin, Abb. 107; Berlin um 1900, Abb. Nr. 11; BerlinMitte um die Jahrhundertwende, S. 109. 229 Berlin fur Kenner. Der Nordring 1913. Eine Fahrt auf der Ringbahn, zit. nach Geist/Kürvers, S. 372.
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Quelle: Landesbildstelle Berlin
Abb. 11: Wallstraße in Berlin, 1907
tungen und Zeitschriften, Margarine, Kekse und Fleischextrakt. Er hielt 1907 aber die große Zeit der Giebelreklame schon für vergangen. 230 Allerdings versuchten einige Reklamefachleute nach 1910, die Giebelmalerei unter dem Aspekt künstlerische Reklame4 wiederzubeleben. Vor allem der Zeichner Julius Klinger und der Reklamefachmann Ernst Growald setzten sich für die Weiterentwicklung solcher Reklame zu „Reklamefresken" 231 ein. Seit den neunziger Jahren wurden mitunter auch riesige Buchstaben (sogenannte ,Luftbuchstaben 4) einzeln auf die Dächer montiert und später manchmal auch nachts angestrahlt. So konnte man in Berlin um 1895 den Schriftzug ,Rau-
230
Vgl. Kropeit, S. 547. Klinger an das Deutsche Museum, 23.6.1910 (KEOA, A 788/50). Klinger plante eine große Reklameausstellung speziell für flächige Reklamemalerei. Growald griff die Idee zur Werkbund-Ausstellung 1914 auf, konnte letztlich aber nur wenige ,Reklamefresken 4 durchsetzen. 231
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che Josetti' bewundern. 232 In der Zeitschrift ,Die Geschäftspraxis 4 wandte man sich allerdings gegen eine solche Reklame. Nicht, wie später, aus Gründen der Ästhetik, sondern weil sie von den Passanten nicht gesehen würde und nur an großen Plätzen eine wirksame Form der Reklame darstellen könnte. 233 Obwohl diese Reklame fur Proteste und gesetzliche Einschränkungen sorgte, ist sie auf Fotos, die Berlin um 1910 zeigen, noch häufig zu sehen.234
6. Lichtreklame Die Lichtreklame übersetzte die alte Tradition der Illuminationen in das Geschäftsleben. Große Geschäftshäuser illuminierten beispielsweise zur Kaiserkrönung 1901 besonders festlich; zwischen patriotischem Bekenntnis und eigenem Repräsentationsbedürfiiis kann dabei kaum unterschieden werden. Die Berichterstattung nannte diese Häuser namentlich und listete den Aufwand ihrer Beleuchtung (Anzahl der Beleuchtungskörper, Verwendung neuer Farbeffekte und Meter der illuminierten Fassade) akribisch auf. 235 Während sich 1901 und noch 1905 Lichtschriften einzig auf den Kaiser bezogen, mischten sich 1906 offizielle Elemente wie Glückwünsche mit den Firmennamen. 236 Um 1890 wurde die vermutlich erste Lichtreklame in New York installiert. 237 Rasch folgten andere amerikanische Großstädte. Berges beschrieb diese elektrische Lichtreklame als vorbildlich. Die mit Schaltmechanismen ausgerüstete Reklame ziehe besonders nachts viele Schaulustige an. 238 Diese Art der Lichtre-
232
Abb. bei Sandra Uhrig: Lichter der Großstadt, in: Die Kunst zu werben, S. 76-86,
S. 80. 233 Vgl. Berliner Firmenschilder, in: Die Geschäftspraxis, Heft 8/1896, S. 211-219, S. 218 f. 234 Vgl. die Dachaufbauten am Schloßplatz, abgebildet z. B. in: Berlin nach 1900. Berlin in Fotographien nach der Jahrhundertwende, hg. von Hans-Werner Klünner, Berlin 1980, o. P. 235 Vgl. Die Illumination, in: Berliner Lokalanzeiger, 19.1.1901. Das Interesse des Publikums verlagerte sich von dem eigentlichen Anlaß auf die Effekte: „Die größte Geschäftsstraße Berlins, die Leipziger Straße, befriedigte naturgemäß die Schaulust des Publikums am meistens. Hier wies fast jedes Haus, fast jedes Geschäftslokal eine besondere Augenweide auf. Der Andrang des Publikums war auch hier ein ganz gewaltiger. Mitunter wurde das Passiren fast lebensgefahrlich. Namentlich war dies der Fall vor den Illuminations-Arrangements der Waarenhäuser. " 236 Vgl. Die Elektrizität am Geburtstage des Kaisers, in: Mitteilungen des BEW, Heft 3/1905, S. 44-46. Abb. der Illuminationen von Wertheim, Michels & Co. und Grünfeld anläßlich der Hochzeit des Kronprinzen, in: Zeit im Bild, Heft 5/1906, S. 156. Am Abend der kaiserlichen Silberhochzeit, in: Mitteilungen des BEW, Heft 5/1906, S. 68-69. 237 Vgl. Lichtreklame, in: Organisation, Nr. 2/1909, S. 45-49, S. 46. 238 Vgl. Philipp Berges: Reklamewissenschafliche Spaziergänge durch Amerika, in: Die Reklame, Heft 6/1894, S. 120-123, S. 123.
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klame nach amerikanischem Muster fand in Europa ihre erste breite Anwendung auf der Weltausstellung 1900 in Paris. Als neu und beeindruckend wurde das Wechseln und das Auf- und Ableuchten der Glühlampen beschrieben: „An dem First eines Gebäudes, das soeben noch in Dunkel gehüllt war, flimmert eine Glühlampe auf, im Augenblick schliesst eine zweite an, eine dritte und vierte folgen, man sieht bereits, wie sich die Lichtpunkte zu einem Buchstaben gruppiren, den eine unsichtbare Hand an die dunkle Wand des Hintergrundes wie das Menetekel in Nebukadnezars Palast zu schreiben scheint; schon folgt ein zweiter Buchstabe, es bildet sich ein Wort und auf einmal steht in flammenden Schriftzügen eine Reklameinschrift vor den Augen, die sofort wieder verschwindet, sowie sie beendet ist, und ehe der neugierige Beschauer ihren Sinn ganz zu erfassen vermocht hat. Dieses rasche Verschwinden veranlasst ihn, noch einmal aufzumerken, denn schon beginnt die Inschrift sich von Neuem aufzuschreiben. " Der Herausgeber der Zeitschrift für Beleuchtungswesen4, Heinrich Lux, glaubte, daß diese Art des Wechsels besonders große Aufmerksamkeit auf sich ziehe und lange im Gedächtnis haften bleibe. Auch die farbigen Variationen oder das Wechseln verschiedener Schriften auf dem gleichen Platz, die bei einer solchen Illumination möglich seien, fanden das Lob des Autors. Er hielt sie für weitaus wirksamer als die üblichen starren Reklameschilder in Berlin. Die deutsche Lichtreklame hielt er für „ärmlich", „unendlich langweilig und steif \239 Lux sah in dieser Art der Reklame ein zukunftsträchtiges Absatzgebiet für die Elektrizität, und das sei deshalb wichtig, da der Absatz des elektrischen Stroms durch die Konkurrenz des preiswerten Gaslichtes stockte. Der Übergang von einfacher Geschäftsbeleuchtung zur ,richtigen 4 Lichtreklame war fließend. So verwendete das Frankfurter Warenhaus Schepeler 1890 zwei elektrische Bogenlampen, die eigentlich für die Straßenbeleuchtung bzw. die Beleuchtung größerer Räume gedacht waren, um durch deren Installation auf dem Dach den darunter befindlichen großen Firmennamen zu beleuchten. Ergänzend beleuchteten andere Lampen die Fassade und den Bürgersteig. 240 1895 wurde am ersten Stock des Warenhauses Tietz in München ein von innen elektrisch beleuchtetes Glasschild mit der Aufschrift , Warenhaus4 und über dem Eingang eines mit ,Hermann Tietz4 angebracht. 241 1896 errichtete die Firma Malton Wein am Berliner Spittelmarkt ein durch abgeschirmte Glühlampen angestrahltes Leinwandschild.242 In den folgenden Jahren nahmen Größe und Effekte der Lichtreklamen rasch zu. Die Firma Manoli ließ 1898 ihre spektakuläre, weil den Eindruck sich drehender Bewegung erzeugende Lichtreklame installie239 Heinrich Lux: Die Pariser Weltausstellung, Teil 3, in: Zeitschrift für Beleuchtungswesen, Heft 19/1900, S. 209-215, S. 211. 240 Vgl. Die Zweite Industrielle Revolution, S. 121 f. 241 Vgl. Georg Tietz, S. 40. 242 Vgl. Gerhardt: Die elektrische Lichtreklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 7/ 1914, S. 252-254, S. 252.
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ren. Bahlsen folgte im selben Jahr mit dem Schriftzug , Leibniz-Cakes' in einem großen Ring am Potsdamer Platz in Berlin und in anderen Städten.243 Stollwerck installierte ihre erste Lichtreklame ebenfalls in den neunziger Jahren; in Berlin allerdings erst 1904.244 1900 folgte die Firma Hildebrandt mit einer Installation an der Weidendammer Brücke. 245 Die 1902 für das Kaufhaus Hertzog errichtete Lichtreklame war drei Meter hoch. 246 1908 wurde eine Reklame für die Zigarette , Salem Aleikum' erstmals mit farbigen Glühbirnen errichtet. 247 Die um 1912 sensationellste Lichtreklame wurde von einer Zigarettenfirma am Alexanderplatz eingesetzt. Die Rauchkringel eines paffenden Rauchers bildeten nach und nach aus 3.000 Glühbirnen den Schriftzug „Raucht Problem Moslem". 248 Wenig später warb die Sektkellerei Kupferberg mit einer 60 qm großen farbigen Lichtreklame, auf der ein Glas mit prickelndem Sekt eingeschenkt wurde. Langsam erschien dann der Text „Kupferberg Gold". 249 Durch Schalteffekte nachgebildete Bewegungsabläufe galten um 1912 als das Schickste auf dem Gebiet der Reklame.250 Diese in einzelne Phasen zerlegten und somit beweglichen Bilder stellten in ihrer Technik und in der Ausnutzung eines dunklen Hintergrundes eine Parallele zum filmischen Sehen dar. 251 Die Lichtreklame war eng verknüpft mit der Entwicklung elektrischer Beleuchtungsanlagen und eignete sich für diese Form der Reklame weit besser als Gaslicht. „ Die Teilbarkeit in beliebig kleine Einheiten, die Feuersicherheit und vor allem die Anpassungsfähigkeit an dekorative Anordnungen jeder Art haben der elektrischen Glühlampe, seitdem sie überhaupt Eingang in die Beleuch-
243
Vgl. Hermann Bahlsens Keksfabrik, S. 10. Abb. S. 68. Bahlsen war so von dem ,Manoli-Rad' fasziniert, daß er Kontakt mit dessen Konstrukteur Hugo Gantke aufnahm, vgl. Reinhardt, S. 313. Auch Stollwerck wandte sich an Gantke, der sich offensichtlich zum Spezialisten entwickelte. Vgl. auch Mitteilungen der BEW, 1907 ff., wo Gantke häufig als Konstrukteur solcher Anlagen genannt wurde. 244 Manuskript Kuske, S. 37 (StA). In Berlin war die Schrift 25 Meter lang. Abb. in: Mitteilungen der BEW, Heft 12./1907, S. 180. 245 Vgl. Gerhardt: Die elektrische Lichtreklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 7/1914, S. 252-254, S. 252. Laut Carola Jüllig: ,Wo nachts keine Lichter brennen, ist finstere Provinz'. Neue Werbung in Berlin, in: Die Kunst zu werben, S. 65-75, S. 68, erst 1902. 246 Vgl. Jüllig, S. 68. 247 Vgl. Seidt, S. 119. 248 Vgl. Ludewig: Die Elektrizität im Dienste der Reklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 28/1912, S. 12-18, S. 17. ,Problem' [!] war der Markenname einer Zigarette. 249 Lorenz, Paul: Eine neue Type beweglicher Lichtreklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 31/1912, S. 14; Ein neues Leuchtschild, in Mitteilungen der BEW, Heft 9/ 1912, S. 157-158. 250 Andere Beispiele bei Reinhardt, S. 317. 251 Vgl. Kurt Βriebach: Die Reklame im Straßenbild der modernen Grossstadt, in: Die deutsche Reklame-Industrie, S. 71-74, S. 73.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
Quelle: Mitteilungen der Berliner Elektrizitäts-Werke, Heft 12/1906, S. 183. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 12: Lichtreklame in Berlin tungstechnik
gefunden hat, ihre Bedeutung fiir
die Lichtreklame
verschafft.
" 252
Zwar war die Anschaffung einer entsprechenden Lichtanlage teuer und auch der Stromverbrauch war enorm. Aber die Berliner Elektrizitäts-Werke und die AEG unterstützten interessierte Geschäftsleute. Lichtreklame war schließlich zugleich Reklame für Elektrizität und ihre breiten Nutzungsmöglichkeiten. Außerdem ermöglichte die Lichtreklame den Elektrizitätsgesellschaften eine Auslastung ihrer Werke über den Ladenschluß hinaus bis in die späten Abendstunden.253 Als ,Sondergesellschaft der AEG und BEW 4 wurde 1905 die Firma „Elektromotor' gegründet, die Lichtreklameanlagen installierte. 254 Sie entwarf mit sparsamen Lampen bestückte preiswerte Installationen. Schaltautomaten garantierten einen benutzerfreundlichen Betrieb. Die BEW verlieh solche Anlagen Kunden, die sich bereit erklärten, die Schilder mindestens zwei Jahre lang zu verwenden.
252
Lichtreklame, in: Organisation, Nr. 2/1909, S. 45-49, S. 46. Mitteilungen des VDR, Heft 46/1913, S. 390. Vgl. auch Bäsch, S. 26. 254 Diese Firma kümmerte sich auch um die umständlichen und langwierigen Genehmigungsverfahren mit der zuständigen Bau- bzw. Verkehrs- und Straßenpolizei, vgl. LAB/STA, Rep. 10-02, Akte 16320, Blatt 7-23 (Dez. 1907-März 1909). Außerdem stellte sie Schaufensterbeleuchtungen her, vgl. Anzeige in: Schaufenster-Wettbewerb, Anhang. Zur Zusammenarbeit der BEW mit der AEG vgl. auch: Mitteilungen der BEW, 1905 f f Hierin wurde ausfuhrlich über neue Kunden berichtet, die Lichrreklame nutzten. 253
I. Reklamemedien
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Lampenersatz und Stromverbrauch wurden pauschal berechnet. 255 Als Reklamebeleuchtungen galten Schriftzüge bzw. Bilder, besonders starken Reflektoren den Betrieb. Da jede Lichtreklame eine Sonderanfertigung war, verschlang jedoch allein die Installation große Summen. 1914 kostete die große Lichtreklame des Konzerthauses Clou rund 20.500 Mark und der schlichte vertikale Schriftzug eines Schuhhauses etwa 4.700 Mark. Das Warenhaus Tietz bezahlte für sein Universalschild, bei dem die Buchstaben wechselten, rund 12.000 Mark. 256 Dazu kamen noch die laufenden Betriebskosten von jährlich 3.000 bis 5.000 Mark und die Miete des jeweiligen Daches.257 Stollwerck zögerte, als die Firma von dem Ingenieur Hugo Gantke einen Kostenvoranschlag über 8.000 Mark für eine Lichtreklame erhielt, gerade weil die laufenden Kosten ebenfalls erheblich waren. Man entschied sich dann aber doch für den Einsatz dieses neuen Reklamemediums.258 Die einzelnen Lichtreklamehersteller konkurrierten vor allem in der Herstellung der im Betrieb preiswertesten Anlagen. Die Lichtreklamen der AEG galten als die fortschrittlichsten und sparsamsten auf dem Gebiet. Aber auch die Firmen A. B. Carter & Co. und P. Firchow galten als wegweisend. Die Firmen Elektromotor und Carter vermieteten komplette Lichtreklameanlagen. Diese „ Elektrographen " 2 5 9 bestanden aus variabel schaltbaren Buchstaben auf einer Fläche bis zu 100 Quadratmetern, bis zu 20-30 Meter breit und 3-5 Meter hoch. 260 Eine Anlage mit 20 Feldern dieser ,Universal-Reklame-Druckschrift 4 der Firma Elektromotor wurde 1907 Unter den Linden installiert. Abonnenten konnten für 45 Mark pro Monat und Zeile ihren Schriftzug für 15 Sekunden pro
255 Vgl. Lichtreklame, in: Mitteilungen der BEW, Heft 11/1908, S. 167-191; Lichtreklame, in: Organisation, Nr. 2/1909, S. 45-49, S. 48. Vorträge zur Lichtreklame fanden in den Räumen der AEG statt, vgl. Mitteilungen des VDR, Heft 4/1914, S. 142. 256 Vgl. ebd. S. 191. Gerade die Universalschilder galten allerdings in ihrer Tageswirkung als extrem häßlich, da dann aus der Vielzahl der Glühlampen kein Schriftbild mehr herausgelesen werden konnte, Abb. ebd., S. 188. 257 Vgl. Schmidt: Von Reklame, S. 59. Er beziffert die Kosten einer Anlage mit 10.000-20.000 Mark, die Miete eines Daches in der Friedrichstraße mit 3.000-5.000 Mark. Dennoch lohne sich diese teure Form der Reklame. Auch ein anderer Autor gab Preise an: so kostete die Lichtreklame des Café Josty am Potsdamer Platz allein an Miete ftir das jeweilige Dach jährlich 25.000 Mark; die Dächer an der Friedrichstraße und Unter den Linden wurden für 20.000 Mark vermietet, vgl. B. Romm: Die Reklame von heute und ihre Organisation, in: Das Kontor, Heft 7/1912, S. 355-361, S. 356. Abb. in: Mitteilungen der BEW, Heft 12/1907, S. 183. 258 Der Schriftzug ,Stollwerck 4 sollte fest, die Marken ,Adler-Kakao', HerrenSchokolade4 und »Frauenkron-Schokolade 4 in Wechselschrift installiert werden. Ludwig Stollwerck an Emil Heinerdinger, 21.6.1906 und 9.7.1906 (StA). 259 Zu Carter vgl. Paul Lorenz: Moderne Lichtreklame, in: Das Kontor, Heft 9/1911, S. 482-485, S. 484. 260 Vgl. Ludewig: Die Elektrizität im Dienste der Reklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 28/1912, S. 12-18, S. 16. 14 Lamberty
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D. Neue Medien und ihre Produktion
Quelle: Mitteilungen der Berliner Elektrizitäts-Werke, Heft 9/1912 S. 15. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 13: Lichtreklame bei Tag und bei Nacht
Stunde aufleuchten lassen.261 Eine größere Anlage am Potsdamer Platz zeigte ab 1908 36 verschiedene Reklametexte, die acht mal die Stunde wechselten. 38 Buchstabenfelder standen für die Texte der Firmen Suchard, Berliner Allgemeine Zeitung, Gerold Cognac, Schuhhaus Stiller und diverser anderer zur Verfügung. 262 In Berlin wurde sowohl die Lichtreklame als auch der Reklamefilm durch die Geschäftsstelle für Elektrizitäts Verwertung 4 unterstützt. Die Aufgabe der 1911 gegründeten ,Gefelek\ einem Zusammenschluß der Elektrizitätswerke, Fach261 Vgl. Elektrische Lichtreklame in: Mitteilungen der BEW, Heft 12/1907, S. 187190, S. 190. 262 Vgl. Lichtreklame, in: Mitteilungen der BEW, Heft 11/1908, S. 167-171, S. 168 f.
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verbände und Installateure, bestand ausdrücklich in der Propagierung neuer Anwendungsgebiete der Elektrizität. Um die Anwendung der Lichtreklame zu fordern wurde den Elektrizitätswerken geraten, selber mit vorbildlicher Lichtreklame Anschauungsmaterial zu liefern und dadurch zur Nachahmung anzuregen. 263 Die Lichtreklame bot offensichtlich den Elektrizitätsfirmen endlich ein Gebiet, wo sie dem Gaslicht weit überlegen waren. Hier konnten sie die breite Einsatzfahigkeit des elektrischen Lichts demonstrieren, daher das große Interesse an einer Unterstützung lichtreklamemachender Firmen. In den Vorträgen der Ingenieure der Gefelek über die neuesten Entwicklungen auf den jeweiligen Gebieten wurde auf Techniken wie den Elektrographen hingewiesen.264 Man unterstrich die enorme Wirksamkeit der Lichtreklame - begründet mit der raschen Perfektionierung der entsprechenden Technik, die damit nur dem Bedürfnis nach solcher Art Reklame nachkomme.265 Diese moderne Technik habe die heutige Lichtreklame eleganter gemacht; Anfeindungen aus ästhetischen Gründen sei deshalb ihre Legitimation genommen. Schwierigkeiten bereiteten allerdings die Befestigungskonstruktionen auf den Dächern, die bei Tage als „ nicht gerade hübsch " 2 6 6 empfunden wurden. So richtete sich ein besonderes Augenmerk der Lichtreklamehersteller auf die Tageswirkung der einzelnen Installationen. Lichtreklamen, die tagsüber wie Plakate wirkten galten als geschmackvolle Lösung. 267 Problematisch war, daß eine gute Tageswirkung oft einer guten Nachtwirkung entgegenstand.268 Durch regional sehr unterschiedlich bau- und verkehrspolizeiliche Verordnungen war Lichtreklame nicht überall zu finden. Während Berlin ein Mekka für alle Reklametreibenden darstellte, war in München und Dresden die Anbringung der Lichtreklame verboten. 269 Auch in den ehemals liberalen Städten kam es ab 1910 zu einer größeren Zurückhaltung im Einsatz der Lichtreklame. Einerseits galt es als geschmackvoller, schlichtere Reklame zu gestalten, anderseits führten diverse Proteste der Denkmal- und Heimatschützer zu einer verschärften Gesetzgebung (vgl. Kap. H. III. 2.). Aufgrund dieser Proteste gegen
263
Vgl. G. Siegel: Der Verkauf elektrischer Arbeit, Berlin 1917, S. 51; S. 59. Der Direktor der Geschäftsstelle, E. Wikander, trat 1912 dem VDR bei, vgl. Mitteilungen des VDR, Heft 26/1912, S. 5. Die Gefelek wurde 1914 Mitglied des Reklameausschusses der Korporation der Kaufmannschaft (Kap. H. III. 2.), vgl. Behrend, S. 52 f. 264 Vgl. Ludewig'. Die Elektrizität im Dienste der Reklame (Experimental-Vortrag), in: Mitteilungen des VDR, Heft 28/1912, S. 12-18, S. 16. 265 Vgl. ebd., S. 12. 266 Heinrich Lux, S. 211. 267 Vgl. Das lebende Plakat, in: Mitteilungen der BEW, Heft 3/1911, S. 169-170. 268 Vgl. Arthur von Alkier. Elektrische Lichtreklame, in: Seidels Reklame, Heft 4/ 1914, S. 181-191. 269 Iversen: Was Giebelreklame wert ist, in: Reklame-Rundschau, Heft 5-6/1914, S. 25.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
die Reklame riet ein Fachmann zur Vorsicht. Gerade die grelle Lichtreklame sei prädestiniert, Kritik auf sich zu ziehen. Um ihr das gleiche Schicksal wie der durch Verbote weitgehend eingeschränkten Streckenreklame zu ersparen, empfahl er, von vornherein auf eine besonders geschmackvolle Ausfertigung zu achten. Geschmacklose Lichtreklamen provoziere in jedem Fall ein Verbot, das dann die ganze Reklamegattung in Mitleidenschaft ziehe.270
7. Reklamefilme a) Laterna Magica Der Einsatz einer Laterna Magica zur ,Projektionsreklame' war eine Fortfuhrung der Lichtreklame. Erste Versuche mit der Projektion von handgemalten Reklamebildern sollen in den sechziger Jahren durch den Engländer Albert Smith gemacht worden sein.271 Seit den siebziger Jahren wurde die Laterna Magica, zunächst in England und den USA, in größerem Maßstab für die Reklame genutzt.272 Ein deutscher Betrachter bestaunte 1896 in England diese Reklame: „ Nicht nur trägt jedes durch die magische Laterne gezeigte Bild eine ReklameInschrift, sondern die Laterne wirft nach einem jeden neuen Bild einige kurze drollige, zum Kauf einladende Verse auf die Leinwand. " 2 7 3 Ein anderer Autor zeigte sich zur gleichen Zeit verwundert darüber, daß dieses ideale Reklamemittel in Deutschland noch keine Anwendung finde. 274 Eine Anzeige zu Reklameanwendungen einer Laterna in Deutschland gab es schon 1877.275 In Deutschland begann man erst in den späten neunziger Jahren damit, solche Projektionsreklame in größerem Maßstabe zu nutzen. Es entstanden Unternehmen, die sich auf die Durchführung solcher Reklame vor allem in Theatern und Vari-
270
Vgl. P. M. Grempe: Lichtreklame, in: Seidels Reklame, Heft 3/1913, S. 85-88. Auch in den Mitteilungen der BEW warb man wiederholt für mehr Geschmack in der Anfertigung der Lichtreklamen und stellte vorbildliche Anlagen vor. 271 Vgl. Ernst Hrabalek: Laterna Magica. Zauberwelt und Faszination des optischen Spielzeugs, München 1985, S. 66. 272 Vgl. Hermann Hecht : Pre-Cinema History. An Encyclopaedia and Annoted Bibliography of the Moving Image Before 1896, London u. a. 1993, Nr. 258A; 560D. 273 Zur Weihnachts-Campagne, in: Die Reklame, Heft 21/1896, S. 341 f. 274 Vgl. Wie soll ich zweckmässig und billig beleuchten? (Forts.), in: Die Geschäftspraxis, Heft 10/1896, S. 268-273, S. 272. 275 In der Zeitschrift ,Laterna Magica4 wurde von einem ,Laterna-Magica-AnnoncenUnternehmen' berichtet, vgl. Detlev Hoffmann/Almut Junker. Laterna Magica. Lichtbilder aus Menschenwelt und Götterwelt, Berlin 1982, S. 49. Im folgenden Jahr wurde in dieser Zeitschrift über die Projektion von Reklame auf den Bürgersteig berichtet, vgl. Das Scioptikon auf der Strasse, in: Laterna Magica, Bd. 8/1878, S. 44-46, S. 44. Auch in späteren Heften wurde über die Möglichkeiten der Projektions-Reklame berichtet. Wehle , S. 24, 29 erwähnt solche Projektionen mit großer Selbstverständlichkeit.
I. Reklamemedien
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étés spezialisierten. 276 Um die Vorführung interessant zu gestalten, zeigte ein Variété in Dessau 1903 Reklame-Lichtbilder abwechselnd mit „ aktuellen " 277 Bildern. Auch in Kinos wurden nach der Jahrhundertwende in den Pausen Reklamelichtbilder projiziert. 278 Die Vorfuhrungsorte erschlossen sich damit eine zusätzliche Einnahmequelle. 15-20 Bilder machten eine Serie aus; jedes Bild wurde eine Sekunde gezeigt.279 In den Katalogen einer Firma für Projektionsapparate wurden diese Apparate explizit für Reklamezwecke angepriesen. 280 Grete Cohn erwähnte den Einsatz der Laterna, um in Theaterpausen auf dem Vorhang Reklamebilder zu zeigen.281 Diese Reklame galt als besonders wirkungsvoll, weil das „ öffentliche Interesse sowie die Neugier des Publikums [...] von jeher allen Lichtexperimenten gegolten " habe. Die wechselnden, auf den Vorhang projizierten Bilder empfahlen sich um so mehr, solange dieses Reklamemittel noch neu sei. Die Entwicklung sei vielversprechend: „(...) wie lange wird es dauern, bis die Reklamebilder auf der Leinwand leben und durcheinander wandeln und gar zu sprechen anfangen! " 2 8 2 Offenbar wurden solche Reklamen auch draußen, u. a. auf Hauswände projiziert. 283 Trotz aufkommender Reklamefilme hielt sich die Laterna Magica als Reklameträger noch bis in die fünfziger Jahre. 284 Ihr entscheidender Vorteil gegenüber den Filmen war die relativ preiswerte Kolorierung. Kaum eine Firma verzichtete in ihren Anzeigen auf Hinweise wie: „brilliantes Kolorit" , 2 8 5 Oder: „Ein besonderes Kolorierverfahren ermöglicht es uns, Bilder von unerreicht sauberer Ausfuhrung und grösstem Farbenreichtum zu mässigen Preisen herzustellen. " 286
276
Vgl. Reinhardt, S. 330. Als Kunden machte er die großen Einzelhandelsgeschäfte und die Markenartikelhersteller aus. 277 Projektions-Reklame-Bilder, in: Moderne Reklame, Heft 10/1903, S. 140. 278 Vgl. Jürgen Kinter. ,Durch Nacht zum Licht 4 - Vom Guckkasten zum Filmpalast. Die Anfänge des Kinos und das Verhältnis der Arbeiterbewegung zum Film, in: Kirmes Kneipe - Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (18501904), hg. von Dagmar Kift, Paderborn 1992, S. 119-146, S. 132. 279 Vgl. Seidt, S. 112. 280 Vgl. Illustrierte Preisliste K. Weinert, Berlin 1898, S. 20 und die folgenden Jahrgänge (MVT III. SSg. 2 Firmenschriften 5248, 5249, 5251). Ähnliche Anzeigen finden sich in den Katalogen der Firma Ed. Liesegang. Diapositive und Projektionsapparate waren eine ständige Rubrik in den Firmenempfehlungen in: Wer liefert? - Wer fabriziert?, in: Seidels Reklame, Heft 1/1913, S. 34. 281 Grete Cohn: Reklame im Plakat, in: Plutus, Heft 9/1908, S. 169-171, S. 169. 282 Reklame-Lexikon, S. 145 f. Projektionsanlagen fielen zunehmend unter Reklameverbote, vgl. Hellweg : Die Außenreklame. 283 Vgl. Rackow, S. 27. 284 Vgl. Reklamebildersammlung von H.-W. Vleugels, Bonn. 285 Anzeige der Firma Wiedemuth, in: Der Kinematograph, Nr. 349/1913, o. P. 286 Anzeige der Firma Unger & Hoffmann, in: Der Kinematograph, Nr. 350/1913,
o. P.
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D. Neue Medien und ihre Produktion b) Reklamefilme
Schon ein Jahr, nachdem 1895 die Brüder Skladanowsky ihre ersten Filme in Berlin gezeigt hatten, drehte man die ersten Reklamefilme. 2 8 7 A u c h unter den Filmen in Heftchenform der Skladanowskys befand sich 1896 einer, der Reklame fur Liebigs Fleischextrakt machte. 2 8 8 Die englische Seifenfirma Sunlight gehörte ebenfalls zu den Firmen, die schon i m ersten Jahr das neue M e d i u m nutzen. 2 8 9 In Deutschland begann Oskar Messter mit Reklamefilmen. 2 9 0 Er drehte 1897 fur die Firma Moosdorf & Hochhäusler (Wellenbadeschaukeln) seinen ersten Reklamefilm ,Bade zu Hause'. Sein F i l m Verzeichnis beschreibt die Szene: „Eine Wellenbadschaukel steht in der Stube, die Dienstmagd besorgt das Bad, indem sie Wasser einfüllt und die Temperatur mißt, ein junges Mädchen tritt im Badekostüm herein und hüpft in die Wanne etc. 1(29 1 Dieser F i l m habe den Kinobesitzer nur die Hälfte eines Spielfilms gekostet und sei gerne ge287
So z. B. durch den Franzosen Georges Méliès für Whiskey und Senf, vgl. Westbrock, S. 30. In Frankreich gehörten Reklamefilme ab 1896 zum festen Bestandteil der Programme, vgl. Faulstich/Rückert, S. 142. - Bei den Filmen stellen sich ganz neue Quellenprobleme. Oft existieren keine Kopien mehr und die wenigen, die existieren, können nicht so ohne weiteres eingesehen werden, vgl. Pulch, S. 371. Kataloge helfen nur sehr bedingt weiter. Die Titel der Filme sind selten eindeutig; nur wenige enthalten z. B. den Markennamen des beworbenen Produkts. Eine Durchsicht der noch erhaltenen Titelverzeichnisse kann also kaum Aufschluß geben. In dem umfassenden Verzeichnis von Birett werden zwar Genres genannt: Reklamefilme können aber sowohl unter Lustspiel, als auch unter Dokumentarfilm (so z. B. die Filme aus der Produktion bestimmter Waren) oder Trickfilm aufgelistet werden. So gab die Firma Opel 1910 einen Film in Auftrag, in dem ein Sportsmann ein Wunderauto kauft, welches fliegen und schwimmen kann. Der Film fallt unter das Genre ,Lustspiel/Trickfilm 4 , wird aber nicht ohne Reklameintention gemacht worden sein. Eine eigene Klassifizierung als Reklamefilm gibt es nicht, vgl. Herbert Birett: Das Filmangebot in Deutschland 1895-1911, München 1991, S. 50. Das gleiche Problem bei Paolo Cherchi Usai: German Fiction Films, 1895-1920: A Checklist of Surviving Material in FIAF Archives, in: Before Caligari. German Cinema, 1895-1920, ed. by Paolo Cherchi Usai/Lorenzo Codeiii, Pordenone 1990, S. 480-511. 1913 annoncierte eine Firma: „Reichhaltiges Lager in Reklamefilms jeden Genres, in Trick- ii. lebenden Aufnahmen. " Anzeige der Firma Film- und Klischee-Verlag V. Jensen, in: Der Kinomatograph, Nr. 350/1913, o. P. 288 Vgl. Manfred Lichtenstein'. The Brothers Skladanowsy, in: Before Caligari, S. 312324, S. 320. Diese Filmproduktion ging wiederum als Motiv in die Liebig-Sammelbildergestaltung ein, vgl. Von der camera Obscura zum Film. Eine Ausstellung im Broicher Wasserturm und im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 1992, S. 43. 289 Vgl. Paul Meier-Kern: Verbrecherschule oder Kulturfaktor? Kino und Film in Basel 1896-1916, Basel 1992, S. 14. 1896 liefen in der gesamten Schweiz SunlightReklamefilme. Hauptdarsteller war die Familie des Firmengründers Lever persönlich. Im heimatlichen Garten wurde eine Tochter gewaschen. 290 Nicht zuletzt, um als Hersteller von Projektoren deren Absatz zu ermöglichen, vgl. Thomas Elsaesser: Wilhelminisches Kino: Stil und Industrie, in: KINtop 1. Früher Film in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 10-28, S. 16. 291 Oskar Messter. Mein Weg mit dem Film, Berlin 1936, S. 131.
I. Reklamemedien
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kauft worden. Zusammen mit einem Spielfilm sei dieser Reklamefilm wochenlang im Berliner Apollotheater gelaufen. 292 Im selben Jahr drehte Messter noch weitere Reklamefilme. 293 1902 ließ der Norddeutsche Lloyd „deutsche und überseeische Spezialaufnahmen" 294 für Reklamezwecke aufnehmen. Im selben Jahr wurde in einer Automobil-Zeitschrift vorgeschlagen, sich auf einer in Paris geplanten Automobilausstellung mit Filmen zu behelfen, statt diese mit Autos zu beschicken.295 Ab 1910 begann der Durchbruch des Reklamefilms. Als in Paris solche Filme angeblich schon zum Alltag gehörten, ließ das Warenhaus Tietz in Köln 1911 eine Modenschau mit über 100 Modellen abfilmen und in Lichtspieltheatern mehrerer größerer Städte als Vorfilm zeigen.296 Für einen anderen Reklamefilm wurde die Öffnung eines Konfektionshauses aufgenommen. 297 Während Oskar Messter als der erste professionelle Reklamefilmer anzusehen ist, wurde Julius Pinschewer der erste, der das Drehen der Reklamefilme samt ihrem Vertrieb zu einem gutgehenden Geschäft machte. Er galt im Verein Deutscher Reklamefachleute als der führende Fachmann auf diesem Gebiet.298 1909 begann der siebenundzwanzigjährige Pinschewer, vor allem unterstützt durch Kathreiner (Malzkaffee), mit der Herstellung von Reklamefilmen. Er richtete ein eigenes Filmatelier ein und entwickelte sich in kurzer Zeit zum füh-
292
Vgl. ebd., S. 56. Messter berichtet in seinen Erinnerungen, daß sein Kinokatalog im Herbst 1897 84 Filme zählte, darunter „die ersten Reklamefilme", unter anderem für Landwirtschaftsmaschinen, vgl. ebd., S. 91, S. 131. 294 Paul Effing: Erwiderung zu William Besel, in: Mitteilungen des VDR, Heft 25/ 1912, S. 17-18, S. 17. Vermutlich handelte es sich um den siebenteiligen Film ,Amerikafahrt des Prinzen Heinrich', der bei Birett als Dokumentarfilm geführt wird, vgl. Birett, S. 17. Spätere Aufnahmen haben Liesegang stark beeindruckt: „So konnte man einen schönen Film sehen, der die Reise eines Lloyddampfers von Bremen nach New York wiedergibt und der einem gar sehr den Mund wässerig macht, einmal mitzufahren. " F. Paul Liesegang. Das lebende Lichtbild. Entwicklung, Wesen und Bedeutung des Kinematographien, Leipzig 1910, S. 50. Er definiert solche Filme als Reklamefilme. 295 Vgl. Der Kinematograph als Reklamewerkzeug, in: Kontor und Laden, Heft 19/ 1902, S. 147-148, S. 147. 296 Vgl. Die erste grosse kinematographische Moden-Revue, in: Mitteilungen des VDR, Heft 21/1911, S. 10. Schutze, S. 64 f., beschrieb eine solche filmische Modenschau als besonders wirksam, da die Kleider in ihrem „passenden Rahmen'' gezeigt und „zur höchsten Anschaulichkeit herausgearbeitet" werden könnten: „(...) da wird das Sportkostüm bei der Ausübung des betreffenden Sports gezeigt, das Gesellschaftskleid im Rahmen einer eleganten Gesellschaft usw. " 297 Vgl. William Besel·. Der Kinematograph als Reklamemittel, in: Mitteilungen des VDR, Heft 25/1912, S. 16. 298 Vgl. Jeanpaul Goergen: Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann, Pionier des Werbefilms, in: epd Film, 9. Jg, Heft 3/1992, S. 16-22, S. 17 f. Pinschewer wurde 1883 in Hohensalza geboren und studierte Staatswissenschaften in Berlin und Würzburg, bevor er sich dem Reklamefilm zuwandte. 293
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D. Neue Medien und ihre Produktion
renden Reklamefilmer Deutschlands.299 1910 drehte er einen Film für Maggi mit dem Titel ,Die Suppe4. Andere große Firmen bzw. Produkte wie Sarotti, die Druckknopffirma William Prym, Manoli, Continental, Odol, Persil, KupferbergSekt und einige Modemagazine gehörten zu seinen weiteren Auftraggebern. 300 1910 führte er auf der Versammlung des Berliner Reklame-Schutzverbandes und 1911 auf der des Verbandes der Fabrikanten von Markenartikeln seine ersten einminütigen Reklamefilme vor, erhielt allerdings keinen ungeteilten Beifall. Er präsentierte unter anderem einen 1911 für Dr. Oetkers Backpulver gedrehten Trickfilm, der einen im Zeitraffer aufgehenden Napfkuchen zeigte.301 Trickfilme wurden als Reklamefilme sehr populär. „Jeden beliebigen Gegenstand kann man so im Film beleben, in dem man seine Lage nach der Aufnahme jedes Einzelbildes verändert. " 3 0 2 Artikel wurden in verschiedenen Phasen aufgenommen und diese Aufnahmen in der Projektion direkt hintereinander gezeigt wurden, so konnte die Illusion einer raschen Bewegung - das rasante Aufgehen eines Napfkuchens etwa - erzeugt werden. Als Trickfilm konnten auch Übertreibungen und „Darstellung von Vorgängen, die im Leben ganz und gar unmöglich sind" 303 humorvoll vermittelt werden. Die Ware selbst wurde zum Protagonisten der erzählten Geschichte: „Schokolade springt aus dem Kasten und ordnet sich zu ihrem Namen und ihrer Marke, Knöpfe werden von Nadel und Faden angenäht, ohne dass die fleissige Hand des Nähfräuleins sichtbar wird. " 3 0 4 Die Ware oder ihre Verpackung konnte lebendig werden; besonders dem Markenartikel verhalf der Film so zu einem individuellen ,Charakter'. Die
299 Vgl. Julius Pinschewer: Vom Reklamefilm, in: Seidels Reklame, Heft 6/1914, S. 273-278. Goergen zitiert eine andere Quelle, in der Pinschewer seinen Anfang mit einem Film für das Korsettgeschäft Lewandowsky auf 1910 datierte, vgl. Goergen, S. 17 ff. Für andere Filmer bedeuteten Reklamefilme nur den Einstieg ins Filmgeschäft. So drehte Heinrich Bolten-Baeckers um 1909 den Trickfilm ,Klebolin klebt alles', bevor er sich auf andere Filme konzentrierte. Dieser Film hatte die außergewöhnliche Länge von 4 Minuten und war in Slapstickmanier als Trickfilm gefilmt. Kurzbeschreibung bei Elsaesser, S. 21. 300 Vgl. ebd. und ders.: Von den Anfängen des Werbefilms, in: Die Reklame, Heft 12/1927, S. 408-409; Schmidt. Von Reklame, S. 254. 301 Weitere Trickfilme waren ,Spuk in der Küche' für Kornfranck und ,Das Geheimnis des Wäscheschranks' fur das Leinenhaus F. V. Grünfeld, vgl. Julius Pinschewer: Von den Anfangen des Werbefilms, in: Die Reklame, Heft 12/1927, S. 409. Gezeichnete Trickfilme bezeichnete Pinschewer als „Karikaturenfilme". Vgl. auch Fischerkoesen: Minnesang auf Markenartikel, in: Der Spiegel, Heft 35, 29. August 1956, S. 34-40, S. 37 f. 302 Guido Seeber: Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten, Berlin 1927, S. 18. 303 Julius Pinschewer. Vom Reklamefilm, in: Seidels Reklame, Heft 6/1914, S. 274. Vgl. auch Westbrock, S. 19. Sie sieht den Reklamefilm als den Ursprung des Animationsfilmes, ebd. S. 37. 304 Ernst Collin: Filmreklame und Reklamefilms, in: das Plakat, Heft Juli/August 1916, S. 236-245, S. 245.
I. Reklamemedien
Quelle: Seidels Reklame, Heft 6/1914, S. 275. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 14: Aufnahmen in Pinschewers Studio
für Laien oft rätselhaften Bewegungen erhöhten außerdem das Interesse an den Filmen. 305 Darüber hinaus bot der Film ganz neue Möglichkeiten der Argumentation. Die Verwendung eines Produkts konnte anschaulich gemacht werden: „Der Film vermag zu zeigen, wie die Seife schäumt, die Schokolade schmeckt, eine wie feine Arbeit die Nähmaschine leistet, wie der Einkochapparat gehandhabt wird, wie reizend Kleidungsstücke sich dem lebenden Körper anpassen oder wie sauber ein Nahrungsmittel von einer sinnreichen Maschine verpackt wird. " 3 0 6 Der Film könne aufklären - und das in besonders eindringlicher und gut erinnerbarer Art. Eine zweite Möglichkeit bot die Aufnahme mit Schauspielern. Mit solchen Filmen begann Pinschewer und arbeitete dabei mit Bühnenschauspielern, die zum Teil später im Spielfilm Karriere machten, wie Ilse und Curt Bois, Otto Gebühr, Hanni und Grete Reinwald und auch Asta Nielsen. Der spätere Filmpionier Guido Seeber begann bei Pinschewer als Kameramann. 307 Mit Schauspielern war ein Film wie für die Firma Franck gedreht worden: „Eine Ehepaar zankt sich, er greift schon den Hut, um zum Rechtsanwalt zu eilen, da erscheint 305 Vgl. Julius Pinschewer. Von den Anfangen des Werbefilms, in: Die Reklame, Heft 12/1927, S. 409. 306 Ders:. Filmreklame, in: Seidels Reklame, Heft 8/1913, S. 244. 307 Vgl. ebd.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
sie mit einer Tasse köstlich duftenden Kornfranck-Kaffees, und das Ende vom Lied ist -: Versöhnung und Kuss. " 3 0 8 Die dritte Form des vor allem für Reklamefilme angewandten Trickfilms war der gezeichnete Film. Er war in der Herstellung sehr zeitraubend und mühselig, entschädigte aber mit wunderbaren Effekten. 309 Als Zeichner gewann Pinschewer u. a. die Plakatzeichner Paul Scheurich und Lucian Bernhard. 310 Auch Tricks mit der sogenannten ,Springschrift 4, bei der die Schrift beispielsweise aus den angepriesenen Gegenständen (Streichhölzern, Druckknöpfen oder Blumen) gebildet wurde, galten als reklamewirksam.311 Einfache Textfilme waren am billigsten. Am aufwendigsten und teuersten waren ,Bilderfilme 4 . 312 Wegen der hohen Produktionskosten wurden Filme in erster Linie für Markenartikel empfohlen und nicht für kurzfristige Ausverkäufe und in ihrer Art oder im Preis stark schwankende Artikel. In den Mitteilungen des VDR 4 inserierten häufig auch andere Firmen, die sich auf das neue Medium Film spezialisierten. Eine vierte Form des Reklamefilms zeigte die Aufnahmen des Produktionsprozesses. Die Anfange solcher Filme reichen in die neunziger Jahre zurück. 1899 berichtete die ,Laterna Magica4 über eine kanadische Landmaschinenfirma, die Filme über „die Maschinen in Thätigkeit" herstelle. Die Filme würden verschickt und „Reflectanten vorgeführt. " 3 1 3 Der Katalog von Birett zählt zahlreiche solche Filme auf. So ließ der ,Berliner Lokal-Anzeiger 4 1908 einen 180 m langen Film über die Herstellung einer Zeitung drehen. 314 Liesegang hielt Filme im Bereich der Schwerindustrie für besonders sinnvoll: „der Geschäftsreisende zeigt den Interessenten im lebenden Lichtbild, wie eine neue Maschine arbeitet. " 3 I 5 1911 gaben die Siemens-Schuckert-Werke der Messters Projektions G.m.b.H. einen solchen Film in Auftrag. Neben der „ Volksbildung' standen hier Reklamezwecke im Vordergrund. „ Wenn ein Werk Tausende ausgibt, um seine Fabrikation im Film festzuhalten, so tut es das einmal um das Verständnis der Technik zu fordern und aus gemeinnützigen Gründen, dann will es aber 308 Ernst Collin : Filmreklame und Reklamefilms, in: das Plakat, Heft Juli/August 1916, S. 236-245, S. 244. 309 Seeber gab an, daß in Deutschland gezeichnete Filme fast ausschließlich als Reklamefilme, „also als Produkt zweiten Grades", produziert wurden - im Gegensatz zu den USA, vgl. Seeber, S. 178. 310 Vgl. Boehner, S. 499. 311 Pinschewer drehte einen solchen Film für die Druckknopf-Firma Prym, vgl. Julius Pinschewer. Vom Reklamefilm, in: Seidels Reklame, Heft 6/1914, S. 276. Vgl. auch Paul Effing: Erwiderung zu William Besel, in: Mitteilungen des VDR, Heft 25/1912, S. 17-18, S. 18. 312 Vgl. Anzeige in: Mitteilungen des VDR, Heft 22/1911, S. 23. 313 Der Kinematograph im Dienste der Geschäftsreclame, in: Laterna Magica, Bd. 5859/1899, S. 45
314
Vgl. Birett, S. 69.
315
Liesegang, S. 50.
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auch Reklame machen. " 3 1 6 Zu weiteren Firmen, die vor dem Ersten Weltkrieg Industriefilme produzieren ließen, gehörten die AEG, Krupp, Daimler, Hoechst und die Lokomotivfabrik Wolff. 317 Diese Filme fanden nicht immer den Weg in das Kino, wurden aber auf Ausstellungen und Messen einem größeren Publikum vorgeführt. Und dieses Publikum gehörte, im Gegensatz zum üblichen Kinopublikum, eher den bürgerlichen Schichten an. Altenloh beschrieb solche Filme als sehr reklamewirksam und besonders beim kleinbürgerlichen Publikum sehr beliebt. 318 Entsprechend wurden Industriefilme in der Zeitschrift Cinematograph4 immer häufiger thematisiert und als zukunftsträchtig eingeschätzt.319 Zwischen offensichtlich begeisterten Anfängen, in denen das neue Medium auch für Reklamezwecke geeignet schien und eine kurze Phase der Erprobung erlebte, und der Etablierung des Kinos um 1910 stagnierte die Reklamefilmproduktion. Dennoch wurde den Filmen eine große Zukunft vorausgesagt. Auf der Berliner AUGUR wurde 1908 der Kinematograph in einem Vortrag als Reklamemittel propagiert. 320 Die zwischenzeitliche Ernüchterung hing mit dem schlechten Ruf der Auffuhrungsorte zusammen. Bis 1906/07 beherrschte das Wanderkino die Art der Aufführungspraxis. Die noch kurzen Filme wurden als Teil eines größeren Vergnügungsprogramms auf Jahrmärkten und in Varietés präsentiert. Erst mit den längeren und qualitativ besseren Filmen kam es zur Einrichtung fester Vorflihrungsorte. Eine wichtige Rolle spielte wohl auch, daß gerade diejenige Gruppe, die die meisten Reklametreibenden erreichen wollten, nämlich der kaufkräftige Mittelstand, anfangs kaum in den Kinos zu finden war und die Vorbehalte besonders des Bürgertums weniger gegen den Film an sich, als gegen die Vorfuhrungsorte groß waren. Manche Reklamefilme wurden deshalb nicht in den Kinos, sondern nur auf speziellen Reklameveranstaltungen gezeigt. 321 Erst um 1910 wurde das Kino gesellschaftsfähig'. Elegant ausgestattete große Spielstätten wurden gebaut; der Kinosaal wurde räumlich von der Kneipe getrennt, verschiedene Klassen eingeführt und allein schon die dem Theater vergleichbaren Eintrittsgelder sorgten dafür, daß die verrufene Atmosphäre eines Kneipenhinterzimmers, in dem Arbeiterfrauen samt Kleinkindern zu Besuch
316 G. A. Fritze: Die Kinematographie im Dienste der Industrie, in: Die Umschau, Nr. 30/1913, S. 613-617, S. 614. 3,7 Vgl. Reinhardt, S. 335. 318 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Phil. Diss. Heidelberg 1914, S. 9. 319 Z. B. P. M. Greupe: Der Laut-Ersatz, in: Der Kinematograph, Nr. 358/1913, o. P.; Walter Tielemann: Kinematographie und volkswirtschaftliche Belehrung, in: Der Kinematograph, Nr. 361/1913, o. P. 320 Den Vortrag hielt der Ingenieur W. B. von Czudnochowski, vgl. Programm in: Organisation, Heft 3/1908, S. 81. 321 So wurde ein 1907 gedrehter, mit 200 m sehr langer Film fur ein Waschpulver nur bei Produktvorführungen gezeigt, vgl. Behrmann, S. 229 f.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
waren, nicht entstand.322 Die billigen kleinen Vorstadtkinos bestanden aber weiter. In Berlin verpflichteten die Reklamefilmproduzenten bestimmte Lichtspieltheater dazu, nur ihre Filme zu zeigen. Kinobesitzer wechselten meist zwei mal wöchentlich ihr Programm und wollten ihrem Publikum nur selten länger als eine Woche den gleichen Reklamefilm zumuten. Für eine Aufnahme der Filme in die Kinos sprach der Charakter der frühen Programme als „lebende Zeitungsnummern " 3 2 3 , ein entsprechender Reklameteil gehörte dazu. Akustisch begleitet wurden die Filme durch Sprecher oder Klavier. Ungern wurden dagegen längere Reklamefilme angenommen. Ein rascher Durchlauf des Programms erhöhte den Umsatz, da so mehr Besucher kommen konnten. Pinschewer ließ deshalb in der Regel nur einen Reklamefilm je Programm vorfuhren. 324 Textfilme galten als langweilig; ihr Zweck war zudem zu offensichtlich. „Das Prinzip einer Filmreklame läu ft darauf hinaus, dem Publikum möglichst lange zu verbergen, daß es sich um Propaganda handelt. Weiß das Publikum also schon aus den ersten Worten oder in der Mitte, daß sie eine Reklame vor sich haben, dann ist es um sein Interesse geschehen. Man muß daher den Effekt möglichst weit an das Ende verlegen, und das kann nur durch Bilderfdms erreicht werden. " 3 2 5 Eine das Publikum zunächst unterhaltende Geschichte, bei der der Reklamezweck erst ganz am Ende offenbar werde, galt als besonders publikumswirksam. Reklamefilme wurden so zum Bestandteil des Programms. „Dabei [ist] der große Vorteil der Filmreklame, daß sie inmitten des Programms zusammen mit den übrigen Bildern erscheint, also nicht mehr in den Pausen vor leerem Hause, und 3 bis 4 Minuten dauert, während die bisher üblichen Scheinwerferplatten nur 57 Sekunden stehen und das Publikum durch ihr gleichförmiges totes Aussehen anöden. " 3 2 6 Hier sind Projektionen mit Laterna Magicas gemeint. Da die Programme aus einer ganzen Reihe kurzer Filme bestanden, ergab sich häufiger die Möglichkeit, einen Reklamefilm zwischenzuschalten. „Die Kinotheater erhöhten die Wirkung solcher Films noch dadurch, daß sie dieselben glatt zwischen anderen Films als Einlage bringen, so daß ihr meist naives Publikum gar nicht unterscheiden kann, was eine tragische Geschichte und was eine Reklame für Blendol oder Glättolin ist. " 3 2 7 Die Schwierigkeit der Unterscheidung war
322 Vgl. Altenloh, S. 19. Vgl. auch Kinter, S. 140 f. Viele Kinos besaßen eine Schankkonzession. 323 Julius Pinschewer. Filmreklame, in: Seidels Reklame, Heft 8/1913, S. 243-246, S. 243. 324 Vgl. Goergen, S. 18. 325 William Besel: Der Kinomatograph als Reklamemittel, in: Mitteilungen des VDR, Heft 25/1912, S. 16-17. 326 Ebd., S. 17. Das steht im Widerspruch zu Boehner, der auch die frühen Reklamefilme nur im Vorprogramm ansiedelte, vgl. Boehner, S. 499. 327 SeidU S. 113.
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Im Kino — „ O b das ein Lustspiel ist?" — „Haben Sie 'ne Ahnung! Ich sollte neulich auch mal Cleverstolz-Margarine für meine Frau mitbringen und hab s vergessen - ich sag* Ihnen, das war ein Drama! 4 4 Quelle: Seidels Reklame, Heft 4/1914, S. 166. Staatsbibliothek Berlin
Abb. 15: Karikatur zur Filmreklame
allerdings weniger der Naivität des Publikums als dem oben erwähnten Filmaufbau geschuldet.
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Pinschewer warb für (seine) Reklamefilme, wenn er berichtet, daß die meisten Reklamefilme vom Publikum mit regem Interesse aufgenommen wurden. Bei einer Umfrage zu Filmen seiner Firma sei herausgekommen, daß 90 % der Aufführungen „mit sichtlichem Beifall seitens der Zuschauer aufgenommen wurden"Mitunter werde nach den Reklamefilmen applaudiert. Da das Publikum in einem dunklem Kinoraum sitze und extra zu dem Zweck der unterhaltenden Ablenkung gekommen sei, werde dem Film eine höhere und durch die entspannte Atmosphäre eher wohlwollende Aufmerksamkeit entgegengebracht als beispielsweise dem Plakat auf der Straße. Eine Reklame, die mit solchem Interesse verfolgt werde, sei besonders wirksam und daher letztlich auch sehr preiswert. Dennoch empfahl er, eine Länge von 30 Metern, also rund anderthalb Minuten, nicht zu überschreiten, damit sich das Publikum nicht langweile. 329 Zudem betonte Pinschewer die enorme Reichweite der Reklamefilme. So betrage die Zahl der Kinobesucher in Berlin an manchen Tagen bis zu 350.000 Menschen. Wichtiger aber noch sei, daß zum Publikum viele Arbeiter und darunter viele Frauen gehörten, die nicht täglich zur Zeitung greifen. Damit erreiche der Film Kreise, die die Annoncen nicht erfassen könnten. 330 Auch bei den Personen, die eher auf bildliche Darstellungen reagierten - namentlich die Frauen - könnte die Filmreklame zusätzliche Adressaten erschließen. Ähnlich argumentierte eine andere Firma. Zudem würden sich die Kosten relativieren, wenn man bedenke, daß die Zahl der Kinobesucher kontinuierlich steige; in Düsseldorf seien 1909 schon über 910.000 Kinokarten verkauft worden. Auch die Zahl der Auffuhrungsorte nehme zu. 331 In Deutschland und der Schweiz gab es 1912 rund 500 Lichtspieltheater, die Reklamefilme ins Programm aufnahmen. 332 Im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg sollen in Deutschland täglich rund 1 1/2 Millionen Menschen ins Kino gegangen sein.333 Die Zahl der festen Kinos lag 1909 bei rund 1.500 und war 1914 auf 3.000 angestiegen.334 Ein anderer Betrachter, der offensichtlich nicht selbst in der Filmbranche arbeitete, kam 1915
328
Julius Pinschewer. Filmreklame, in: Seidels Reklame, Heft 8/1913, S. 245. Vgl. ders.: Vom Reklamefilm, in: Seidels Reklame, Heft 6/1914, S. 278. 330 Ders.\ Filmreklame, in: Seidels Reklame, Heft 8/1913, S. 246. Kinter führte den oftmals festgestellten hohen Frauenanteil daruf zurück, daß die anderen Orte proletarischer Öffentlichkeit - Kneipen und Vereine - nur (oder vorwiegend) Männern offenstanden. Zudem war es üblich, in die Kinos die Kinder mitzunehmen, für die kein Eintritt gezahlt werden mußte, vgl. Kinter, S. 126, 133 f. Schultze, S. 18, stellte vor allem in den Nachmittagsvorstellungen einen hohen Frauen- und Kinderanteil fest. 331 Schultze, S. 18. Damit ging durchschnittlich jeder Düsseldorfer fast dreimal jährlich ins Kino. Berlin (einschließlich Charlottenburg, Wilmersdorf, Rixdorf und Schöneberg) besaß 1910 165 Kinos, ebd., S. 33. 332 Vgl. Redaktionelle Notiz, in: Mitteilungen des VDR, Heft 25/1912, S. 18. 333 Vgl. Kinter, S. 138. 334 Vgl. Paul Rohnstein: Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung der Deutschen Film-Industrie, Rechts- und staatswiss. Diss., Würzburg 1922, S. 57. 329
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zu anderen Urteilen. Obwohl auch er an eine große Zukunft des Film glaubte, hielt er die Mehrzahl der augenblicklichen Reklamefilme in ihrer Gestaltung „für mehr als jämmerlich. " Anders als Pinschewer behauptete er, daß die Kinobesitzer Reklamefilmen eher ablehnen. Reklamefilme verlängerten das Programm und gerade daran hätten die Kinobesitzer kein Interesse: Ein kurzes Programm garantiere mehr Vorstellungen am Tag und höhere Einnahmen. Außerdem schade die schlechte Qualität der Reklamefilme dem „Renommee der Filmbühne"Dabei ist zu bedenken, daß bis 1907 Filme von den Kinobetreibern gekauft wurden, dann erst entwickelte sich das Verleihgeschäft. 336 Über den Vertrieb der Reklamefilme ist kaum etwas bekannt. Warstat glaubt, daß sie sich nach einer kurzen Anfangsphase, in der auch Reklamefilme gekauft werden mußten, zu einer Einnahmequelle für die Kinobesitzer entfalteten, da nun die Hersteller Gebühren für die Vorführungen im Kino zahlten.337 Allerdings annoncierten noch 1913 in den Fachzeitschriften Firmen sowohl mit dem Verleih als auch mit dem Verkauf von Reklamefilmen. 338 Den großen Durchbruch erreichten die Reklamefilme während des Ersten Weltkriegs - und mit ihnen Julius Pinschewer und Oskar Messter als die wichtigsten (Kriegs-)Propagandahersteller. Messter betonte schon zu Beginn des Kriegs die Einsatzfähigkeit von Reklamefilmen für die Kriegspropaganda und reichte dazu 1916 eine Denkschrift ,Film als politisches Werbemitter bei den entsprechenden Behörden ein. Unterstützung erhielt der Propagandafilm mit der Errichtung des ,Königlichen Bild- und Filmamtes4 im Januar 1917.339 Gerade der professionellere Einsatz der gegnerischen Filmpropaganda führte zu einer wachsenden Anerkennung des Reklamefilms auch in Deutschland.340 Pinschewer entwickelte ebenfalls Ideen, die Kriegspropaganda filmisch zu unterstützen und gründete 1916 dazu den Vaterländischen Filmvertrieb 4, um u.a. für Kriegsanleihen zu werben. 341
335 Walter Thielemann: Der Kinematograph im Werbedienst, in: Miteilungen des VDR, Heft 2/1915, S. 56-57, S. 56. 336 Vgl. Pulch, S. 372. 337 Vgl. Dieter Helmuth Warstat: Frühes Kino der Kleinstadt, Berlin 1982, S. 304. Er sieht in dieser ökonomischen Stärkung des Filmgewerbes eine wichtige, übersehene Bedeutung des Reklamefilms. 338 ,, Reklamefilm-Verleih für alle Branchen. Reichhaltiges Lager in Reklamefilms den Genres, in Trick- u. lebenden Aufnahmen. Ideen für Spezialanfertigungen [...] Bil Leih- u. Verkaufspreise. " Anzeige der Firma Film- und Klischee-Verlag V. Jensen, in: Der Kinomatograph, Nr. 350/1913, o. P. 339 Vgl. Julius Pinschewer. Von den Anfängen des Werbefilms, in: Die Reklame, Heft 12/1927, S. 409. Messter, S. 132 f.; Friedrich Terveen: Die Anfange der deutschen Film-Kriegsberichterstattung in den Jahren 1914-1916, in: Film und Gesellschaft in Deutschland 1975, S. 86-101. 340 Vgl. S. Kahn: Der Film als Propagandamittel, in: Mitteilungen des VDR, Heft 78/1917, S. 101-104; Rohnstein, S. 28; Schmidt: Von Reklame, S. 254. 341 Vgl. Goergen, S. 19 f.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
I I . Spezialisierte Vermittler 1. Annoncenexpeditionen Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erwies sich eine Arbeitsteilung im Anzeigenwesen als nützlich. Annoncenexpeditionen spezialisierten sich auf die Weiterleitung, Abfassung und Abrechnung der Anzeigen und waren als selbständige Organisation zwischen den Inserenten und den Zeitungen angesiedelt. Während sich in den USA die Annoncenexpeditionen selbst durch Serviceleistungen vergrößerten, beschränkten sie sich in Deutschland überwiegend auf die Expedition der Anzeigen. 342 Für alle anderen Aufgaben der Beratung, Konzeption und der Gestaltung der Reklame entstanden spezialisierte Betriebe. Unterschieden werden muß zwischen den Annoncenakquisiteuren der Zeitungen, die im Auftrag der Zeitungen versuchten Inseratkunden zu gewinnen, und den Annoncenexpeditionen. Letztere arbeiteten auf eigene Rechnung und waren von einzelnen Zeitungen unabhängig. Sie vermittelten zwischen Anzeigenkunden und einem geeigneten Insertionsorgan. Dabei umfaßte ihr Vertrag nur die Übermittlung der Annoncen vom Auftraggeber an den jeweiligen Zeitungsverlag. Die Anzeigenakquisiteure der Zeitungen besaßen keinen guten Ruf, da sie oft Rabatte versprachen, die nicht eingehalten wurden oder aber den Zeitungsverlagen zahlungsunfähige Kunden zuführten. Verläßliche Angaben über Auflagenhöhe, Leserkreis etc. waren von ihnen angeblich nur selten zu erhalten. Aber die Zeitungen waren zunehmend gezwungen, Inserenten zu werben. Kleinere Zeitungen (die große Mehrzahl der Blätter hatte eine Auflage unter 5.000) konnten sich keine eigenen Akquisiteure leisten; für sie waren die unabhängigen Annoncenexpeditionen durchaus nützlich. Für Inserenten versprach das Einschalten einer Annoncenexpedition zunächst mehr Bequemlichkeit bei der Abrechnung und Kontrolle und eventuell einen Rabatt. Der Anzeigentext mußte nur in einfacher Ausführung abgegeben werden, auch wenn der Kunde in verschiedenen Blättern inserieren wollte. Ebenso mußte nur mit einer Stelle abgerechnet werden. Nachteilig für den Inserenten war, daß ein direkter Kontakt mit den Zeitungen, der einen größeren Einfluß auf Plazierungswünsche etc. bedeuten konnte, verloren ging. Für die Zeitungen bedeutete das, daß sich eine Stelle intensiv um neue Inserenten kümmerte. Allerdings standen auch sie den Expeditionen zunächst skeptisch gegenüber, da diese von ihnen erhöhte Rabatte verlangten. Munzinger sah in den Annoncenexpeditionen wichtige Wegbereiter des Inseratenwesens. Das große Interesse an Inserenten bringe die Expeditionen dazu, durch „geschickte Propaganda die deutsche Geschäftswelt von der Nützlichkeit und Notwendigkeit einer lebhaften Zeitungsreklame " 3 4 3 zu überzeugen.
342 343
Vgl. Redlich, S. 88 f. Munzinger, S. 74.
II. Spezialisierte Vermittler
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Auch Redlich hielt die Annoncenexpeditionen für entscheidend bei der „Extensivierung " 3 4 4 des Anzeigenwesens. Schon seit 1800 waren Annoncenexpeditionen in England und Nordamerika gegründet worden. Frankreich folgte in den vierziger Jahren. 345 1855 wurde die erste deutsche Annoncenexpedition durch Ferdinand Haasenstein in Hamburg gegründet. Die Expedition zählte 1907 58 Niederlassungen. 346 1864 folgte G. L. Daube in Frankfurt a. M. (der bei Haasenstein gelernt hatte 347 ); 1867 gründete Rudolf Mosse seine Annoncenexpedition in Berlin. 1875 wurden bei der Gewerbezählung in Deutschland schon 99 Annoncenexpeditionen gezählt. 1907 war ihre Zahl auf 731 gestiegen (mit über 3.200 Beschäftigten). Allein in Berlin waren 115 Büros vertreten. 348 1882 definierte der Brockhaus die sich rasch ausbreitende Annoncenexpedition als „ein Kommissionsgeschäft, welches den Verkehr zwischen den annoncirenden Publikum und den Zeitungen und anderen Publikums Organen vermittelt. Viele Inserenten wenden jährlich große Summen auf, um ihre Annoncen (s. d.) in häufiger Wiederholung in zahlreichen Blättern des In- und Auslandes erscheinen zu lassen. Für solche wird es umständlich und kostspielig, mit allen Blättern, in denen sie inserieren, in direkte Verbindung zu treten; es würde dies eine ausgedehnte Korrespondenz, oft die Kenntnis fremder Sprachen und Preßverhältnisse erfordern, eine oft schwierige Abrechnung und andere Unbequemlichkeiten veranlassen. " 3 4 9 Für die Annoncen Vermittlung erhielten die Expeditionen eine Provision. 350 Sie hatten ein hohes Interesse, an diejenige Zeitung zu vermitteln, die die meisten Prozente zahlte. Leserkreis, Auflage und die Erfolgschancen spielten eine nachgeordnete Rolle. Die komplette Verpachtung des Annoncenteils, wie in Frankreich bereits bekannt, etablierte sich in Deutschland
344
Redlich, S. 23. Zu den Annoncen-Expeditionen im Ausland und ihrer Entwicklung vgl. Redlich, S. 61-90; Reinhardt, S. 100 ff. 346 Vgl. Zu Haasenstein ausführlich Winfried B. Lerg: Ein Brief von Ferdinand Haasenstein. Zur Geschichte der ersten deutschen Werbeagentur, in: Publizistik 12/1967, S. 165-171; Haasenstein und Mosse absolvierten zunächst eine Lehre als Buchhändler. Vgl. Festschrift zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der AnnoncenExpedition Rudolf Mosse, Berlin 1892, S. 66 ff 347 Vgl. Gerd F. Heuer: Entwicklung der Annoncenexpedition in Deutschland, Frankfurt a. M. 1937, S. 18. 348 Vgl. Reinhardt, S. 105 f. 349 Art. Annoncenbüreau, in: Brockhaus' Conversations-Lexikon, Leipzig 1882. 350 In der Regel 10-25 Prozent, vgl. Meissner, S. 64. Um die Jahrhundertwende waren allerdings auch ein Rabatt bis zu 50 Prozent möglich und wurde von dem , Verband Deutscher Zeitungs-Verleger' 1902 als Höchstsatz bestätigt, vgl. Heuer, S. 54. 345
15 Lamberty
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erst seit den späten sechziger Jahren und wurde vor allem durch Rudolph Mosse ausgebaut.351 Die parteiische Arbeit der Annoncenexpeditionen wurde schon früh beklagt, und ihre Kompetenzen, was eine Beratung über Reklamewirksamkeit betreffe, bezweifelt. 352 Noch 1892 wurde die mangelnde spezielle Ausbildung der Expedienten kritisiert. „Nur wenige große Zeitungen haben ihren besonderen Sachverständigen, welcher seine Kunst versteht und seine Ehre darein setzt, einen gediegenen Inseratentheil zu liefern: Es genügt, wenn das Inserat aufgenommen ist, wie und wo es steht und ob es in der Form, in welcher es geboten wird, seinen Zweck erfüllt, darnach fragt man wenig, und der Expedient fahrt die Inserenten oft nach grob an, wenn sie in dieser Hinsicht besondere Wünsche geltend machen. " Da allerdings auf die Einnahmen aus dem Inseratenteil nicht verzichtet werden könne, prophezeite der Autor der ,Reklame4 eine baldige Ausbildung von Spezialisten statt der üblichen Drucker und Setzer. „Größere Zeitungen dürften daher früher oder später in die Notwendigkeit versetzt sein, wie für den redaktionellen Theil auch für den Annoncentheil einen besonderen Redakteur anzustellen, aber einen wirklichen Bearbeiter dieser Abtheilung, nicht einen Expedienten, dessen Thätigkeit lediglich in der Annahme der Annoncen und in der Übernahme der Verantwortlichkeit besteht. " 3 5 3 Diese Fachleute sollten eine strenge Trennung der Reklame vom redaktionellen Teil fordern. Außerdem könnten sie in einleitenden Artikeln auf die Inserate oder bestimmte Ereignisse (Feste etc.) hinweisen, so ein Vorschlag des Autors. Auch eine Gliederung des Inseratenteils, mit einleitendem Inhaltsverzeichnis, hielt er für sinnvoll. Als erste fachliche Beratung gilt die Agentur Mosse. Mosse warb in seiner ersten Anzeige 1867 mit Beratung des Kunden, mit der Herstellung von Klischees, und damit, daß redaktionelle Reklame gratis gemacht werde. 354 Belegexemplare, kostenlose Übersetzungen, Kostenvoranschläge sowie die Expedition mehrerer Inserataufträge auf der Basis eines eingereichten Anzeigenmusters gehörten zum Service. 355 Damit überflügelte Mosse Haasenstein & Vogeler, die bis in die neunziger Jahre hinein das Annoncengeschäft in Deutschland
351
Wuttke zählt 17 Pachtblätter namentlich auf und weist auf weitere hin; für Haasenstein & Vogler erwähnt er 9 gepachtete Anzeigenteile, Wuttke, S. 391. Mendelssohn beziffert die Anzahl 1914 auf mehr als hundert Pachtblätter, vgl. Peter De Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, Berlin 1982, S. 96. Vgl. auch jüngst, allerdings mit Schwerpunkt auf den Mosse-Filialen in der Schweiz Fritz Härtsch: Rudolf Mosse - ein Verleger revolutioniert das Werbegeschäft, Zürich 1996. 352 Vgl. Wuttke, S. 389 f. 353 Friedrich Thieme: Die Reform des Inseratentheils, in: Die Reklame, Heft 7/1892, S. 101-104, S. 101 f. 354 Anzeige in allen größeren deutschen Zeitungen, in: Festschrift Mosse, S. 70. 355 Vgl. Alois Pompé: Fünfzig Jahre Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, in: Mitteilungen des VDR, Heft 1/1917, S. 2-8.
II. Spezialisierte Vermittler
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bestimmten.356 Seit den achtziger Jahren wurden erste Reklamepläne und Entwürfe von Inseraten durch die Annoncenexpedition Mosse ausgearbeitet. Dazu wurde ein Auswahlverzeichnis von nahezu 1.200 Anzeigenumrahmungen und Klischees durch das Büro herausgegeben.357 Die Abrechnung mit den Zeitungen, die Rabatt- und Erscheinungskontrolle und die Kontrolle von Plazierungsvorgaben galten als Aufgabe der Expedition. Schon früh begann man, Anzeigen zielgruppenspezifisch zu schalten. In Mosses Insertionskalendern finden sich Beschreibungen der jeweiligen Zeitschriften mit ihren Leserkreisen und ihrer Auflagenhöhe. 1893 erfand Mosse einen ,Normalzeilenmesser' und legte dieses Meßgerät seinem Katalog bei. Damit konnten die Anzeigenpreise leichter ausgerechnet und die verschiedenen Zeilenbreiten und -höhen miteinander verglichen werden. Gleichzeitig wurden einheitliche, normierte Abmessungen geschaffen und dazu seine Zeitungen als Maßstab gesetzt. 1870 beschäftigte das Büro 20 Angestellte, 1892 waren allein im Berliner Hauptsitz 120, in den Filialen nochmals 127 Angestellte beschäftigt. 358 In den graphischen Ateliers der Firma wurden seit den achtziger Jahren Reklameentwürfe produziert. Allerdings erschienen diese Entwürfe unter der Signatur ,Atelier Rudolf Mosse'; der einzelne Graphiker verschwand hier. 359 Die Expeditionen betrieben die Reklameberatung anfänglich eher als Nebentätigkeit, erst später wurde die Beratung der Inseratkunden zu einer eigenständigen Tätigkeit ausgebaut. Deshalb entstanden parallel zu den Serviceleistungen der Annoncenexpeditionen unabhängige und spezialisierte Reklamefachleute. Ein anderer Grund war, daß sich häufig selbst Reklamefachleute durch die Empfehlungen der Annoncenexpeditionen getäuscht fühlten. Ihnen fehlte oft der genaue Überblick über die Presselandschaft, so daß sie sich auf die Informationen der Annoncenexpeditionen verlassen mußten. Gerade Anfanger in der Branche liefen Gefahr, sich durch Akquisiteure zu sinnlosen Aufträgen überreden zu lassen.360 Die Kritik an den Expedienten war alt. Statt zugunsten der Verleger und Kunden zu arbeiten, sei ihr einziges Ziel, beiden möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen.361 Dennoch war man überzeugt, daß besonders Großinserenten auf deren Arbeit kaum verzichten könnten. Die Praxis der durch die Annoncenexpeditionen gepachteten Anzeigenteile verschärfte den Vorwurf der parteiischen Zeitungsauswahl. Vor allem Mosse geriet in das Kreuzfeuer der Kritik, 356
Vgl. Redlich, S. 94. Vgl. Anzeige Mosses in: Reklame-Anwalt, Heft 20/1907, S. 99; Redlich, S. 95 f.; Richard Hamburger. Zeitungsverlag und Annoncenexpedition Rudolf Mosse, Berlin 1928, S. 24. 358 Hamburger, S. 15 f. 1917 waren es 1.363 Mitarbeiter. 359 Vgl. Reinhardt, S. 104; Michael Weisser: Wirksam wirbt das Weib. Die Frau in der Reklame. Bild- und Textdokumente aus den Jahren 1827-1930, München 1985, S. 58. 360 Vgl. Reklame-Sünden, in: Organisation, Nr. 16/1903, S. 245-247, S. 246. 361 Vgl. z. B. Reklame-Lexikon, S. 8. 357
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D. Neue Medien und ihre Produktion
denn er pflege seine Kunden massiv zu beeinflussen und drohe ihnen, Aufträge abzulehnen, wenn sie seine Pachtblätter mieden.362 Auf Zeitungen konnten Annoncenexpeditionen mit hohen Rabattforderungen großen Druck ausüben. Schon früh kam es deshalb zu Widerständen vor allem kleinerer Zeitungen.363 Als die , Vossische Zeitung' sich weigerte, auf geforderte Rabatte einzugehen, gründete Mosse 1871 als eigene Zeitung das ,Berliner Tageblatt4 mit einem umfangreichen Anzeigenteil und wurde damit zugleich Verleger und Annoncenexpediteur. Wer in den Zeitungen des Mosse-Verlags inserieren wollte, mußte die Mosse-eigenen Annoncenexpeditionen benutzen.364 August Scherl folgte 1900 mit einer ähnlichen Kombination. Dadurch erlangten diese Annoncenexpeditionen eine nahezu unumgängliche Machtposition. Manche Inserenten versuchten mit eigener Taktik, für sich günstigere Tarife herauszuhandeln. In dem Fachblatt ,Der Zeitungs-Verlag' wurde regelmäßig über solche Versuche berichtet. Beliebt waren Vorschläge, interessierte Inserenten sollten zunächst nur „ Versuchs inserate" 365 schalten, um sich von der Wirkung der Anzeigen in einem neu gegründeten Blatt zu überzeugen. Bei ,Erfolg 4 würde dann ein größerer Auftrag folgen. Dieser Vorschlag reagierte auf die übliche Praxis der Annoncenexpeditionen, große Kunden mit dem Versprechen eines bestimmten Kontingents an Gratisanzeigen zu werben. Zeitungen wehrten sich gegen diese Praxis, weil sie deren Kosten tragen sollten. 366 Weiter wurde von Inserenten vorgeschlagen, die Inserate auf der Basis einer Umsatzbeteiligung an dem durch eben diese Inserate erfolgten verstärkten Absatz zu bezahlen. 367 Seitens der Zeitungsverlage wurden solche Vorschläge scharf zurückgewiesen. Häufig wurden sogenannte vorgeschobene' Annoncenexpeditionen eingeschaltet. Das waren als Annoncenexpeditionen getarnte Reklameabteilungen größerer Firmen, die die reguläre Provision beanspruchten, aber nur die Aufträge einer Firma durchführten. 368 Verleger und Inserenten versuchten sich gegen die starke Stellung der Annoncenexpeditionen zur Wehr zu setzen. Nach verschiedenen Vorläufern grün-
362 363 364 365
367.
366
Vgl. Munzinger, S. 75. Vgl. Wuttke, S. 392. Vgl. Redlich, S. 97. S. Hausmann: Versuchsinserate, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 19/1909, Sp. 365-
Vgl. z. B. Annoncen-Expeditionen und Gratisreklamen, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 25/1909, Sp. 494. Gerade die großen Agenturen wie Haasenstein & Vogler und Mosse versuchten oft mit solchen Methoden Kunden zu gewinnen und die Zeitungen unter Druck zu setzen. 367 Vgl. Anzeigen gegen Umsatzprovision, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 19/1909, Sp. 393-394. 368 Vgl. Heuer, S. 41 f.
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deten Kleinverleger, die am stärksten unter dem Druck der Annoncenexpeditionen litten, 1909 die genossenschaftlich organisierte ,Anzeigen-Zentrale für die deutsche Provinzpresse 4.369 Von Inserentenseite wurde 1898 der Deutsche Interessenverband der Inserenten ins Leben gerufen, der sich sowohl gegen die Machtstellung großer Expeditionen als auch der Verlage wandte. 370 Dieser Verband bestand allerdings nur ein Jahr. 1909 wurde erneut eine entsprechende Organisation gegründet: die Inserenten-Vereinigung. 371 Gefordert wurden genaue Angeben zur Auflagenhöhe und politischen Ausrichtung der Zeitungen und eine gleiche Behandlung aller Inserenten und Offenlegung der Tarife. Kritisiert wurde die enge Verknüpfung der Expeditionen mit den Verlagen, die es unmöglich mache, daß ein Inserent sich direkt an den Verlag wende und fur größere Aufträge entsprechende Rabatte erhalte. Auch auf die Beratung durch die Annoncenexpeditionen in Fragen der Reklamegestaltung glaubte man verzichten zu können.372 Die Zeitungen wiesen die Forderungen nach genauer Offenlegung der Preisbildung der Anzeigen zurück, eine solche Forderung sei sehr zweischneidig, da auch die Inserenten zu Offenlegung gezwungen wären und Geschäftsgeheimnisse zutage träten. 373 Aber auch im Verhältnis zwischen Großinserenten und Zeitungen gab es Konflikte. Inserenten mit großen Aufträgen versuchten, Druck auszuüben, um beispielsweise Gratisinserate oder Tarife bis zu 86 % einzufordern. 374 Im Gegenzug schlossen sich die Annoncenexpeditionen 1912 zum Verband Deutscher Annoncen-Expeditionen zusammen.375 Dieser setzte sich vor allem für eine Vereinheitlichung der Tarife auf Basis der
369
Ebd., S. 42 f. Nur 10 Prozent der Mitglieder vertraten Blätter mit einer Auflage über 5.000. Hier wurden einheitliche Rabatt- und Tarifsätze vereinbart. 370 Munzinger, S. 76. 371 Vgl. Inserenten-Vereiningung, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 47/1909, Sp. 893899; Inserenten- Vereinigung, in: Mitteilungen des VDR, Heft 3/1909, S. 2-3. 372 Vgl. Walter Wild: Soll der Inserent seine Inserate direkt aufgeben?, in: System, Heft 8/1909, S. 180-181. 373 Vgl. Eine Gefahr, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 40/1909, Sp. 751-753. 374 Z. B. wurde Stollwerck, die für einen kleinen Anzeigenauftrag einen Rabatt von 75 % verlangte, deshalb von Vertretern der Presse auf die ,Schwarze Liste1 gesetzt, vgl. Der Zeitungs-Verlag, Nr. 29/1901. Ähnlich die Sunlight-Seifen-Fabrik, die bei Anzeigenaufträgen genaue Plazierungswünsche äußerte und sonst die Rechnung kürzte. Die Zeitungen sprachen sich nicht generell gegen solche Wünsche aus, betrachteten aber deren Erfüllung als freiwilliges Entgegenkommen ihrerseits und wollten sich nicht unter Druck setzen lassen, vgl. Sunlight-Seifen-Anzeigen, in: Der Zeitungs-Verlag, Heft 38/1909, Sp. 723-724. Offenbar schon lange üblich war die Vergabe größere Annoncenaufträge nur gegen die Aufnahme redaktioneller Reklame. Vgl. Grünfeld, S. 268; Heuer, S. 43. 375 Vgl. zu den Interessen die Zeitschrift des Verbandes Deutscher AnnoncenExpeditionen'.
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D. Neue Medien und ihre Produktion
Millimeterberechnung und, angesichts der als Konkurrenz empfundenen Zunahme anderer Reklamemittel, fur eine generelle Stärkung der Annoncen ein. 376
2. Plakatierungsinstitute Ähnlich wie im Anzeigenwesen spezialisierten sich auch im Plakatwesen Firmen auf die Verbreitung der Reklamemittel. Anfangs häufig noch Teil der Plakatdruckereien, entwickelten sie sich bald zu eigenständigen Betrieben. Die Entwicklung der Plakatierung wird in der Geschichte der Plakate nahezu vollständig ausgespart. Allenfalls Litfaß wird für die Anfänge des Plakatierungswesens als wegweisend genannt.377 1855 wurde in Berlin die erste ,Litfaßsäule 4 aufgestellt; Vorläufer existierten schon in Paris und London. 378 Ernst Litfaß war Sohn eines Druckereibesitzers, lernte zunächst Buchhändler und übernahm nach Auslandsreisen 1846 die elterliche Druckerei und begann mit dem Druck von Plakaten.379 Wie 1854 beantragt, erhielt Litfaß 1855 die Erlaubnis, 100 Säulen und 50 Brunnenumhüllungen aufzustellen. In der zeitgenössischen Berichterstattung wurden diese Säulen als Abhilfe gegen die Verunstaltung durch die wilde Zettelkleberei gepriesen. 380 Die ,Spenerschen Zeitung4 lobte die Bequemlichkeit, mit der jetzt ein Studium der zentrierten Anschläge möglich sei. Auch die Kontrolle der Anschläge durch deren Auftraggeber sei durch die numerierten Säulen vereinfacht worden. 381 Große Unterstützung erhielt Litfaß durch den damaligen Polizeipräsidenten Berlins, Hinckeldey, der nach und nach die ,Affichierungsfreiheit 4 beschränkte, so daß ab 1. Juli 1855 keine Anschläge mehr außerhalb der Litfaß'schen Säulen befestigt werden durften. 1868 wurde die Konzession verlängert. Als Gegenleistung verpflichtete sich Litfaß, an jeder Säule die Adressen der nächsten Polizei, Feuerwehr, der Post- und Telegraphenbüros anzugeben.
376
Vgl. Die Grenzen der Reklame, in: Zeitschrift des Verbandes Deutscher AnnoncenExpeditionen, Heft 8/1913, S. 118-121, S. 119. Kritik wurde v. a. an der Außenreklame (Plakate, Lichtreklame, Streckenreklame) geübt. 377 Eine Ausnahme jüngst Sandra Uhrig: Werbung im Stadtbild, in: Die Kunst zu werben, S. 50-64. Meist als reine Stilgeschichten geschrieben, sind selbst Abbildungen plakatierter, also im Gebrauch befindlicher Plakate in der Literatur selten. 378 Vgl. H. C. F. M. Feldhaus'. Zur Geschichte der Plakatsäule, in: Die Reklame, Heft 1/1927, S. 22-23. Zu der Plakatierungs-Anstalt Eduard Mouczka (ab 1826) in Wien, vgl. Dens eher, S. 12. 379 Vgl. Friedrich Tietz: Emst Litfass' industrielle und private Wirksamkeit, Berlin 1871, S. 7. In den sechziger Jahren begann Litfaß auch mit illustrierten Plakaten. 380 Vgl. Leipziger Illustrirte Zeitung vom 15. Juli 1855, zit. nach: Festschrift zum 80jährigen Bestehen der Litfass-Säulen, hg. von Friedrich Haenschke, Berlin 1935, S. 4, 10. 381 Vgl. Spenersche Zeitung, zit. ebd., S. 8.
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Nach dem Ablauf der Litfaß-Konzession erhielt 1880 die Firma Nauck & Hartmann gegen 50.000 Mark Pacht jährlich die Konzession und damit das Recht zur Aufstellung von 300 Säulen.382 1890 wurde die Konzession verlängert, die Pacht verfünffacht und die Anzahl der Säulen bis 1895 auf 700 erhöht. 1911 standen in Berlin 1.140 Anschlagsäulen.383 Neben Litfaß und Nauck & Hartmann entwickelten sich rasch andere Plakatierungsinstitute. 1914 war die Zahl der solcher Unternehmen im Deutschen Reich auf 116 gestiegen.384 Die wachsende Konkurrenz zwang die Firmen zu einem immer größeren Angebot an Serviceleistungen. Deshalb bot Fritz Krielke, eines der größten Berliner Unternehmen, neben der einfachen Plakatierung Serviceleistungen wie die Reklameverteilung von Haus zu Haus, das Anbringen von Blech-, Emaille- und Glasschildern sowie das Aufstellen von Streckenreklame an. 385 Auch die Reinigung und Instandhaltung der Schilder gehörte zur Angebotspalette. Krielke veröffentlichte ab 1912 mehrere Artikel über die zweckmäßige Verteilung und die Rentabilität von Reklamemitteln in zwei Fachzeitschriften, in denen er auch inserierte. 386 Neben Säulen empfahl eine Broschüre der Firma auch Cafés, Restaurants, Einzelhandelsgeschäfte und Bahnhofshallen als Plakatierungsorte. Krielke warb mit Niederlassungen seiner Firma in rund dreißig Großstädten. Zu den größten Kunden gehörte Kathreiner, Manoli, Sarotti und Maggi. Anders als Krielke konzentrierte sich Max John auf Papierplakate. Er gab ein Verzeichnis der öffentlichen Anschlagstellen heraus, in dem zu allen größeren Orten deren Einwohnerzahl, die Zahl der Anschlagstellen, der nötigen Plakate pro Monat, der Plakatierungsorte in Hotels, Cafés etc. und die erreichbare Anzahl der Familien für eventuelle Verteilung von Gratisproben verzeichnet waren. 387 Plakate wurden von den Plakatinstituten teils täglich, teils alle 2-3 Tage oder nur wöchentlich neu geklebt. Danach berechneten sich die Auflagen, in denen der Reklametreibende seine Plakate herstellen ließ. Die Kosten für die Plakatierung setzten sich aus dem jeweiligen Format, den Anschlaggrundgebühren, den
382
Vgl. Redlich, S. 112. Litfaß' Erben unterlagen mit ihrem Gebot von 35.000 Mark. Vgl. Straßenmöbel in Berlin. Ausstellungskatalog, hg. vom Senator für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1983, S. 30; S. 5. 384 Vgl. Seyffert, S. 168. 385 Vgl. Der Führer durch Deutschlands Aussenreklame, Handbuch für Handel und Industrie, für Ausstellungen, Badeverwaltungen, Verkehrsvereine und Hotels zur Ausführung von Plakatierungen aller Art, hg. von Fritz Krielke, Berlin 1914, o. P. Vgl. auch Anzeige in: Mitteilungen des VDR, Heft 35/1912, S. 34 und in: Organisation, Nr. 18/1912. 386 Fritz Krielke: Der Wert der Plakat-Reklame, in: Organisation, Nr. 13/1913, S. 303304; ders.: Reklame-Verteilung durch Privatinstitute. Die Grenzen des Postzwanges, in: Mitteilungen des VDR, Heft 26/1912, S. 20-21 (auch: Organisation, Nr. 23/1913, S. 592); ders.\ Die Bedeutung der Reklameverteilung von Haus zu Haus, in: Organisation, Nr. 17/ 1913, S. 444-445. 387 Abgedruckt bei Kropeit, S. 495 ff. 383
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Expeditionskosten und der Anschlagsdauer zusammen. In Berlin, wo täglich neu geklebt wurde, kostete eine Plakatreklame in dem gängigsten Format (96 mal 72 cm) für einen Monat bei Belegung aller 1.100 Anschlagstellen 5.016 Mark. 388 In der Praxis kam es häufig zu Klagen und Prozessen über die Firmen: Man warf ihnen vor, die Verträge nicht einzuhalten, zuwenig Plakate zu kleben oder schadhafte Plakate nicht auszuwechseln.3891908 riet man in der Zeitschrift Organisation 4 , die Plakatierung besser zu kontrollieren. Ortsfremden Firmen sei eine tägliche Kontrolle kaum möglich, so sei es zu erklären, daß meist nur einheimische Firmen plakatieren. 390 Ein gutes Plakatierungsinstitut müsse garantieren, „daß die Plakate, solane sie in Auftrag sind, unbedingt in voller Wirkung erhalten werden ", 3 9 1 Aber auch spezielle Plazierungswünsche auf den Säulen wurden von den Bestellern geäußert. So verlangte Stollwerck, daß bei der Plakatierung an 100 Säulen in Berlin darauf zu achten sei, die jeweilige ,gute4 Seite zu bekommen.392 Das Plakatierungswesen wurde in den einzelnen Städten sehr unterschiedlich gehandhabt.393 In München wurde ab 1862 das Konzept der dezenteren, direkt an die Hauswände montierten Plakattafeln durch Alois Hartl erprobt. Erst 1881 erhielt er die zusätzliche Konzession zur Aufstellung von Anschlagsäulen.394 Um 1900 besaßen die meisten Städte spezielle Vorschriften, die das Plakatierungswesen regeln sollten. Sowohl die Gewerbeordnungen als auch örtliche Polizeiverordnungen und Pressegesetze boten dafür die Grundlagen. Anschlagsäulen oder -tafeln wurden eigens errichtet und entweder in Eigenregie durch die Stadt oder aber durch Pächter bewirtschaftet. Meist sah der Vertrag mit den
388 Vgl. ebd., S. 489. Bei einem Herstellungspreis à 6 Pfennig. Die Belegung aller Säulen war allerdings nicht obligatorisch. Die kleinste Einheit lag bei 100 Säulen. In den westlichen Vororten wurde auch nicht täglich geklebt. 389 1 9 1 5 verlangten die Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin, unterstützt durch den Reklameschutzverband der Großunternehmungen, eine Klärung solcher Vorwürfe. Man plante eine Aufsicht über die Plakatierung durch das Einigungsamt für Reklamefragen, vgl. Ludwig Lindner. Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse auf dem Gebiete der Verkehrsreklame, in: Zeitschrift für Handels Wissenschaft und Handelspraxis, Heft 8/ 1915, S. 181-183. 390 Vgl. ebd., S. 493. 391 Ein Mittel, die Aussen-Reklame zu steigern, in: Organisation, Nr. 3/1908, S. 62-63, S. 63. Vgl. auch Kropeit, S. 492 f. 392 Ludwig Stollwerck an Wilhelm Krüger, 21.4.1902 (StA). 393 Vgl. zu den unterschiedlichen Regelungen A. Düllo: Das Plakatwesen, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, Breslau, Jg. 10/1902, S. 255-261; Johannes Feig: Öffentliches Anschlagwesen im Jahre 1904, in: Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, Breslau, Jg. 14/1907, S. 198-210; Josef Ehrler: Die Gemeindebetriebe der Stadt Freiburg im Breisgau (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 129. Band, Gemeindebetriebe, Teil 5), Leipzig 1909; Otto Moericke: Die Gemeindebetriebe Mannheims (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 129. Band, Gemeindebetriebe, Teil 4), Leipzig 1909. 394 Vgl. Reinhardt, S. 120. Dresden folgte 1865, Hamburg 1868, Stuttgart 1872.
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Pächtern vor, daß behördliche Ankündigungen kostenlos plakatiert werden mußten. Nach und nach wurde das anfänglich oft noch parallel erlaubte Plakatieren an anderen Stellen verboten und die Anschlagsäulen bekamen Monopolcharakter. Die Pächter konnten vertragsgemäß bestimmte Plakate ablehnen. Die meisten Einschränkungen gab es, wenn das Format nicht der ortsüblichen Größe entsprach. 395 Aber es kam auch, was den Inhalt der Plakate betraf, zu einer Art Selbstzensur der Plakatierungsanstalten, wenn Plakate Gefahr liefen, polizeilichen Anstoß zu erregen. 396 Politische Plakate waren in jedem Fall genehmigungspflichtig. Außerdem mußte jedes Plakat den Namen der Druckerei tragen. 397 Den Städten bot der städtische Boden mit seinen Anschlagmöglichkeiten eine kleine, aber rasch steigende und somit „durchaus lukrative gute Kapitalanlage. " 3 9 8 Teils wurden Pauschalen erhoben, teils Sätze nach der Quadratmeterzahl berechnet, teils eine prozentuale Gewinnbeteiligung vereinbart. Rixdorf verzichtete noch 1907 völlig auf diese Einnahmen. Breslau vereinbarte mit 40 % die höchste Gewinnbeteiligung; Karlsruhe verlangte mit 18-20 Mark die höchste Tagespacht für ein Plakat an sämtlichen Säulen, Nürnberg mit 30 Pfennig die niedrigste. 399 Berlin nahm 1897/98 durch die Verpachtung von 700 Säulen 255.000 Mark ein. 400 1904 war die Anzahl der Säulen auf 1.100 gestiegen, die Einnahmen auf 400.000 Mark. 1913 war die Pacht bei 1.404 Säulen auf rund 540.000 Mark gewachsen.401 Neben den Städten entdeckten auch die Verkehrsbetriebe die Freigabe von Plakatierungsmöglichkeiten als Einnahmequelle. Auch hier wurde das Plakatieren in der Regel an eigenständige Unternehmen verpachtet. 402
395
Vgl. Feig, S. 204 ff. Die Formate schwankten von Stadt zu Stadt. Während das Berliner Format 72 χ 48 cm betrug, galten in Potsdam die Maße 96 χ 73 cm und in Schöneberg und Rixdorf 92 χ 72 cm. 1884 einigten sich die deutschen Papierfabrikanten aber schon auf 12 Einheitsformate für Plakate. DIN-Formate wurden erst 1924 eingeführt. 396 Vgl. Hoeninger, S. 32. Vermutlich waren davon meistens die Geheimmittel betroffen, wegen deren Anzeigen auch zahlreiche Zeitungen Probleme bekamen. 397 Vgl. Kropeit, S. 490 f. 398 Moericke, S. 175. Er untersuchte das Anschlagwesen Mannheims, dessen Einnahmen sich von 1900 bis 1909 auf 6.181 Mark fast verdoppelten. Ähnliche Steigerungsraten für Freiburg bei Ehrler, S. 47. 399 Vgl. Feig, S. 204 ff. Für längerfristige Anschläge wurden meist Rabatte eingeräumt. 400 Düllo, S. 261. 401 Feig, S. 201; Seidels Reklame, Heft 3/1913, S. 93. 402 Vgl. Neue Reklame-Aussichten, in: Die Reklame, Heft 11/1892, S. 177-178; Martin Mayer. Zur Neuordnung des Anpreisewesen auf Bahnhöfen (Bahnhofreklame), in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 3. Juli 1920, S. 340-343; Hundert Jahre EisenbahnReklame in Deutschland. Rückblick auf ein Jubiläum, hg. von der Deutschen EisenbahnReklame G.m.b.H., Kassel 1966; Reinhardt, S. 290 ff; Reclamen-Unfug, in: Grenzboten, Bd. 1/1873, S. 94-105, S. 96; Kropeit, S. 550 f.; Polizeiverordnung vom 1.8.1899; Sammlung der Polizei-Verordnungen 1910, S. 446; Redlich, S. 53.
E. Die Berufszweige der Reklamebranche I . Die Professionalisierung der Spezialisten für Reklameorganisation Um die Jahrhundertwende traten die ersten Spezialisten für Reklame in Erscheinung. Teils kamen sie aus der Produktion der Reklamemedien, waren also Fachleute fur Plakatdruck oder Anzeigen und propagierten vor allem diese Reklamemittel als besonders wirkungsvoll. Teils aber waren sie unabhängig und boten ihre Dienste als unparteiische Berater für reklamewillige Firmen an. Diese Reklamefachleute brachten eine Diskussion in Gang, in deren Verlauf ihr eigenes Berufsbild konstituiert wurde. Wesentlich trugen dazu, neben anderen Professionalisierungsstrategien, die eigenen Fachzeitschriften bei. Vor allem ging es darum, zu definieren, was unter einer fachlich qualifizierten Reklame zu verstehen sei, wer allein sie anbieten, von welchen anderen Anbietern man sich abgrenzen und wie man den alleinigen Anspruch auf den Markt rechtfertigen könne. Dazu mußten gewisse Standards der Ausbildung diskutiert und festgelegt werden. Darüber hinaus war es für die Reklamefachleute entscheidend, genau zu definieren, was das von ihnen angebotene Produkt sei, und zugleich eine Nachfrage des Marktes nach diesem Produkt zu wecken. Die Konstituierung der neuen Berufe in der Reklamebranche folgte den klassischen Professionalisierungsstrategien von Ärzten oder Ingenieuren. Es wurden Berufsverbände gegründet, Abgrenzungen zu ähnlichen Berufsfelder vorgenommen und ein Verhaltenskodex aufgestellt. In einem weiteren wichtigen Punkt jedoch scheiterten Anlehnungsversuche an klassische Professionalisierungsstrategien: Im Bereich der Ausbildung gelang es bis 1914 nicht, einheitliche Richtlinien fur einen Lehrplan aufzustellen. So blieben erste Ausbildungsinstitutionen auf Teilbereiche beschränkt. Schließlich unterstützten Selbst- und Fremdbilder der Reklamefachleute deren Profil, wenn auch nicht immer im positiven Sinne.1 Wie viele Reklamefachleute um 1900/1910 als Selbständige oder Angestellte tätig waren, läßt sich nicht mehr ermitteln. Auch kann anhand des Handelsregisters die Zahl der , freien 4 Reklamebüros kaum geschätzt werden, da die Bezeichnungen für solche Tätigkeiten keineswegs eindeutig waren und Reklamefachleute auch in die Rubrik der Schriftsteller, Kunstgewerbler oder Annoncenbüros eingeordnet werden konnten. Akten zur Tätigkeit des größten Fachver1 Der erste kurze und die frühe Zeit eher streifende Forschungsaufsatz zu dem Thema Reklamefachleute in Deutschland erschien kürzlich: Haas: Psychologen, Künstler, Ökomomen. Zu Professionalisierungsstrategien in Frankreich vgl. Chessel.
I. Die Professionalisierung der Spezialisten f r R e k l a m e o r g a n i s a t i o n 2 3 5
bandes, des Vereins deutscher Reklamefachleute existieren nicht mehr. Über die neuartigen Berufe der Reklamebranche ist daher fast ausschließlich etwas in Fachzeitschriften, Fachbüchern und Stellenanzeigen zu erfahren. Diese Quellen geben Auskunft über das Berufsbild der ersten Reklamefachleute und dokumentieren deren Interesse, Reklame als Notwendigkeit zu propagieren und zu legitimieren. Als Selbstbild - denn in den Quellen zum Bild des Reklamefachmannes äußern sich fast ausschließlich Angehörige der Branche selbst wurde ein Berufsbild mit einem besonderen Qualifikationsprofil entworfen. Die Beschreibungen des Berufs als völlig neu, hochspezialisiert, hochqualifiziert und nicht zuletzt hoch zu bezahlen, lassen sich zugleich als Versuch der Selbstbestätigung lesen. Am Rande gehen die Texte allerdings auch auf die aktuelle Situation ein und zeichnen eine zunehmende Professionalisierung zwischen 1900 und 1914 nach. Als zusätzliche Quelle werden Romane hinzugezogen. Diese fiktiven Texte spiegeln das Bild, das Außenstehende von den neuen Berufen hatten, und lassen Rückschlüsse auf das spezifisch ,Neue4 zu, das diesem Beruf zugeschrieben wurde. So spielen beispielsweise Vorstellungen von perfekter Einflußnahme auf die Konsumentinnen oder vom zwangsläufigen geschäftlichen Aufschwung. In den Romanen kommen die Vorstellungen von der Tätigkeit der Reklamefachleute zur Deckung mit denen vom Gesamtphänomen Reklame. Die Reklamefachleute 2 nannten sich Reklame-Anwälte, -Sachverständige, Berater, -Chefs, -Genies, -Techniker, -Agenten, -Manager oder Propagandisten und bezeichneten damit die beratende und organisierende Tätigkeit in Sachen Reklame für einen Dritten. „Reklame- oder Propaganda-Chefs sind Persönlichkeiten, welche als Angestellte industrieller oder Handelsfirmen oder von Zeitungsverlagsgeschäften die Aufgabe haben, alle Agitationsarbeiten ihrer Häuser selbständig zu entwerfen, vorzubereiten und auszufuhren. Sie sind die Vorsteher und Leiter der Reklame- oder Propagandaabteilungen und für Inhalt, Form und Umfang der von ihnen in Szene gesetzten Reklame im Rahmen des Etats und sonstiger etwa vertraglich festgesetzter Grenzen verantwortlich. " 3 Selbständige, auf Honorarbasis arbeitende Reklamefachleute bezeichnete der Autor als „ Reklame-Anwälte'' .A Reklamefachleute, die fest in großen Firmen 2
Das ist die Berufsbezeichnung, die sich der Verein Deutsche Reklamefachleute 1908 selbst gab. ,Reklamefachleute4 ist der übergreifende Begriff, der auch Zeichner und Dekorateure umfaßt. Im engeren Sinne wurde dieser Begriff aber meist für die Organisatoren der Reklame verwendet. Hierfür verwende ich der klareren Differenzierung halber den ebenfalls üblichen Begriff Reklameberater. 3 Kropeit, S. 787. Reklameabteilung ordnete er dem Handelsbereich zu, die Propagandaabteilung bezog er auf die Arbeit im Pressewesen, ebd., S. 794. 4 Laut Reklameanwalt Kropeit in Analogie zu den Rechts- und Patentanwälten gebildete Berufsbezeichnung, die das ,Freie4 des Berufs kennzeichnen soll. Auch den Patentanwälten habe lange die staatliche Anerkennung gefehlt, vgl. ebd., S. 798. In der Organisation4 wurde eine eigene Rubrik , Reklameanwälte4 eingerichtet.
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
angestellt waren, traten auch als deren „Korrespondenten fiir Reklame" 5 auf. Dieser organisierenden Tätigkeit untergeordnet waren etliche Zulieferaufgaben. Auch bei den Reklamezeichnern, Plakatmalern, Reklamekünstlern, Graphikern schwankten die Bezeichnungen erheblich. Doch konnten hier die Ausfuhrenden auf herkömmliche Berufsbezeichnungen zurückgreifen, da Kunstmaler schon länger auch zweckgebundene Aufträge ausführten, während für den gänzlich neuen Beruf des Reklame Organisierenden auf jeden Fall ein neuer Begriff gefunden werden mußte. Lange Zeit war hier die Rede von einer Koppelung von Reklame und Organisation als Aufgabenbereich in der modernen Geschäftsführung. Vor allem in den frühen Stellenangeboten und -gesuchen in der Zeitschrift Organisation 4 ist eine solche Verbindung zu beobachten. Zum Teil spricht aus diesen Anzeigen noch eine gewisse Unsicherheit: es schien unklar zu sein, wie man diesen Aufgabenbereich sprachlich fassen soll und ob man für jeden der beiden Bereiche einen eigenen Fachmann braucht.
1. Das Aufgabenfeld und seine Organisation Das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen des verschärften Wettbewerbs auf dem Weltmarkt schnell wachsende Interesse an systematischer Betriebsorganisation ließ seit den neunziger Jahren das Angebot und die Nachfrage nach gewerblichen Dienstleistungen steil ansteigen.6 Immer häufiger gehörte jetzt auch die Reklame als Teil der Absatzorganisation zu den geforderten kaufmännischen Qualifikationen. In zahlreichen Publikationen wurde über Methoden amerikanischer Vorreiter berichtet. Eine Übernahme dieser Methoden galt häufig als Versprechen künftiger wirtschaftlicher Erfolge. Pohl 5 So z. B. die jeweiligen Fachleute der Cakes-Fabrik Bahlsen und des Kalisyndikats, vgl. Mitteilungen des VDR, Heft 11/1910, S. 1; Heft 12/1910, S. 1. 6 Vgl. R. M. Hartwell: Die Dienstleistungsrevolution: die Expansion des Dienstleistungssektors in der modernen Volkswirtschaft, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, hg. von Carlo M. Cipolla/Knut Borchardt, Bd. 3, Industrielle Revolution, Stuttgart/New York 1976, S. 233-260, S. 233. Er nennt in diesem Zusammenhang technische und steuerfachliche Dienstleistungen. Arbeiten, die früher innerhalb der Betriebe ausgeführt wurden, wurden zunehmend ausgelagert und entwickelten sich zu eigenständigen und höchst spezialisierten Berufsbildern, ebd. S. 239. Hans Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 28, setzt wesentliche technologische und organisatorische Neuerungen in der späteren Zeit der wirtschaftlichen Krise 1873-1896 an. Nach Jürgen Kocka: Industrielles Management: Konzeptionen und Modelle in Deutschland vor 1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 56/1969, S. 332-372, verstärkte sich mit wachsendem Konkurrenzdruck, vor allem durch die amerikanische Wirtschaft, die Auseinandersetzung mit neuen Organisationsformen. Im Bereich der Ingenieure kam es zu ersten allgemein organisatorischen und funktionsdifferenzierten Aufgaben. Damit war der Grundstein für die vom Gesamtbetrieb isolierbaren und auf andere Betriebe übertragbare Managementfunktionen gelegt, ebd. S. 345.
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betont, daß aufgrund der mangelnden gesamtwirtschaftlichen Arbeitsteilung in Deutschland - im Gegensatz beispielsweise zu Großbritannien - solche Organisations- und Absatzaufgaben nicht an außerbetriebliche Spezialfirmen delegiert wurden. 7 Dem entspricht, daß in Deutschland auch die firmeneigene Reklameabteilung neben freiberuflichen ,Reklameberatern 4 zum Zuge kam.8 Zu den neu entstandenen selbständigen Berufsfeldern im Handel zählte 1911 ein zeitgenössischer Beobachter, der Nationalökonom Schär, „das Annoncenwesen, die Reklame, die Propaganda". 9 Diese Spezialisierung sei von „findigen und strebsamen Elementen der Kaufmannschaft " getragen worden, die erkannt hätten, daß dadurch der „ Güteraustauschprozeß billiger und besser von statten geht. " 1 0 Es gebe eine ganze Reihe neu entstandener Reklamebüros, „die sich mit der Einführung eines einzelnen neuen Produktes, der Bekanntmachung einer neuen Firma oder mit anderen Zweigen der Reklame beschäftigen, in deren Hauptaufgabe es liegt, täglich neue Formen und Mittel zu erfinden. " M Zur selben Zeit entstanden auch innerhalb der Betriebe eigenständige Spezialabteilungen fur Reklame.12 Die Voraussetzung hierfür war, daß nicht länger wie in traditionell geführten Betrieben der persönliche Unternehmerstil stark betont und Absatz und Reklame häufig noch vom Unternehmer selbst organisiert und die auf Erfahrung setzende gewachsene kaufmännische Vorgehens weisen und praxisnahe Ausbildung in den Betrieben verteidigt wurde. Eine akademische Ausbildung, die wie bei den Ingenieuren, auf wissenschaftlich untermauerten ,Theorien 4 aufbaute, setzte erst nach der Jahrhundertwende mit der Gründung von Handelshochschulen ein. 13 Das Lehrprogramm lenkte die Aufmerksamkeit auf branchenunabhängige, allgemein gültige Handlungsmuster, die sich auf Registraturen, Schriftlichkeit und Bürotechnik im Betrieb, Statistiken, Personalführung und Reklame bezogen. Sie sollten für ein Maschinenbauunternehmen ge-
7 Vgl. Hans Pohl·. Zur Geschichte von Organisation und Leitung deutscher Großunternehmen seit dem 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Jg. 26, Heft 3/1981, S. 143-178, S. 149 f. 8 Kocka wies solche Angebote schon für 1903 in der ,Organisation4 nach, vgl. Kocka, S. 349. Für 1908 wurde festgestellt, daß solche Organisatoren in großen Firmen schon beschäftigt werden, vgl. Walter Friedländer. Organisation (I), in: Das Kontor, Heft 7/1908, S. 347-348, S. 348. 9 Johann Friedrich Schär. Allgemeine Handelsbetriebslehre, 1. Band, Leipzig 1913, S. 102, 167 (die erste Auflage erschien 1911). Mataja ordnete die Reklameberufe dem sich im Zuge der Arbeitsteilung differenzierenden „Hilfsgewerbe" des Handels zu, Mataja, S. 173. 10 Schär, S. 103. " Ebd., S. 144 f. 12 Vgl. Kropeit, S. 83. 13 Vgl. Kocka, S. 335, 355; Bruno Seidel: Die Wirtschaftsgesinnung des Wilhelminischen Zeitalters, in: Zeitgeist im Wandel, hg. von Hans Joachim Schoeps, Bd. 1, Stuttgart 1967, S. 173-196, S. 174 f.
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
nauso gelten wie für ein Warenhaus. Wie der neue Beruf des »Managers4, der einen Industriebetrieb ebenso leiten konnte wie einen Verband, so zielte der neue Beruf des Reklameberaters auf universelle Ersetzbarkeit. 14 Zwar wurde betont, daß für jedes Produkt speziell darauf abgestimmte Reklame gemacht werden müsse; die Struktur der Reklameorganisation, ihr ,Wesen' jedoch galt als allgemeingültig. Wie die Ingenieure so konnten auch Reklameberater zwischen den unterschiedlichsten Betrieben wechseln. Zwischen dem Anfang der neunziger Jahre und dem Ersten Weltkrieg wechselte der Reklamefachmann Max Poculla elfmal seine Stelle, er arbeitete sowohl für Zeitschriften, als auch fur Unternehmen der Elektroindustrie, bevor er sich schließlich selbständig machte.15 E. E. Hermann Schmidt war zunächst für die Öffentlichkeitsarbeit des Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie verantwortlich, bevor er 1914 als Reklamefachmann zu der Zigarettenfirma Manoli wechselte und zugleich stellvertretender Vorsitzender des Vereins Deutscher Reklamefachleute wurde. 16 1893 berichtete die Zeitschrift Reklame 4 , daß in Deutschland der Beruf des Reklamefachmannes noch in den Kinderschuhen stecke. Zugleich wurde aber bereits in zahlreichen Berichten über die professionelle Arbeit der Reklameanwälte die Notwendigkeit ihres Einsatzes propagiert. Der neue Beruf, so der Autor, verlange „ eine hohe Intelligenz, eine umfassende Menschen- und Branchenkenntniß, Verständniß fur die verschiedenen Erscheinungen im geschäftlichen Leben, eine Fülle praktischer Erfahrungen und vor allen Dingen eine Beweglichkeit des Geistes, einen enormen Ideenreichthum" Ebenfalls 1893 wurde allerdings behauptet, die Erkenntnis, daß das Publikum durch die Reklame beeinflußt werden könne, habe sich durchgesetzt. Jedoch mangele es an fähigen Fachleuten. Deshalb sei es erforderlich, gegen die Schwemme unkoordinierter und zum Teil überflüssiger Reklame schließlich die Anerkennung sinnvoller Reklame und damit den neuen Beruf des Reklamefachmannes durchzusetzen. „Die Intelligenz hielt ihren Einzug in die Reklamewelt; die Kunst bemächtigte sich der Typen; intelligente Schriftsteller wurden gesucht; hochbezahlte Leute bekamen die Redaktion des Reklametheils in den Fachblättern und Wochenschriften"^ begleitet von der Einsicht der Kaufleute, daß eine gute, fachmän14
Vgl. zum Manager Kocka, S. 353. Vgl. Max Poculla: 40 Jahre Reklamefachmann und wie ich zur Reklame kam, in: Die Reklame, 1. Märzheft 1931, S. 163-168, S. 168. Vgl. auch Gut dotierte Stellen für Reklame-Chefs, in: Reklame-Anwalt, Heft 20/1907, S. 99. 16 Vgl. Mitteilungen des VDR, Heft 30/1912, S. 2; Seidels Reklame, Heft 3/1914, S. 148. 1919 wollte E.E. Hermann Schmidt Propagandachef der USPD werden, vgl. Schmiedchen, S. 36. Als Tätigkeitsbereich fur Reklamefachleute wurde auch die kurz vor dem Ersten Weltkrieg boomende, noch als Reklame bezeichnete Öffentlichkeitsarbeit der Kur- und Fremdenverkehrsorte empfohlen, vgl. z. B. Albert Walter. Die Reklame der Städte, Berlin 1916, S. 39 ff. 17 A. Steinbach'. Ein amerikanischer Kollege, in: Die Reklame, Heft 1/1893, S. 5. 18 J. Frank: Rathgeber in Reklamesachen, in: Die Reklame, Heft 11/1893, S. 223. 15
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nisch ausgeführte Reklame mehr nütze als Berge von Drucksachen. Selbständige Reklamefachleute sind im Berliner Handelsregister ab 1895 nachzuweisen.19 Verschiedene Reklamefachleute betonten den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Verwissenschaftlichung der Reklame und plädierten für die Anstellung eigener Reklamespezialisten. Ein Unternehmer könne sich heute nicht mehr umfassend auf allen Gebieten qualifizieren. 20 Das Delegieren von Aufgaben an entsprechende Spezialisten sei notwendig, Reklameberater böten sich als Fachleute an. Allerdings stünden sie derzeit noch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung, beklagte Lemcke.21 Kropeit bedauerte noch 1907, die Erkenntnis habe sich leider immer noch nicht durchgesetzt, daß allein dem Spezialisten die „Zukunft und der Erfolg" 22 gehöre. Gerade der Kaufmann, der sonst Spezialkenntnisse durchaus würdige, unterschätze nach wie vor das Gebiet den Spezialbereich der Reklame. 1912 konnte Weidenmüller jedoch feststellen, daß in arbeitsteilig organisierten Großbetrieben solche Fachleute mittlerweile üblich seien: „Die Herausbildung eines besonderen Werbeberufes ist an dieser Stelle denn auch schon weit fortgeschritten; jedes größere Haus hat seinen Reklamechef und bei den großen Warenhäusern und Fabriken ist der Inhaber dieses Postens ein Mann von großer Macht und Würde, der Hunderttausende zu verwalten hat. " 2 3 Ohne die Errichtung einer eigenen Abteilung für Reklame bereits bei Geschäftsgründung konnte sich der Reklameberater Franz Seidt 1914 kein erfolgreiches Unternehmen mehr vorstellen. 24 Der erste Hinweis auf eine firmeninterne Reklameabteilung in Deutschland findet sich 1870. In einem Artikel über Annoncenexpeditionen wurde berichtet, die Geheimmittelfirma Hoff (Malzextrakt) verfüge über ein eigenes „Annoncenbureau " und beschäftige „Jahraus Jahrein besondere Leute damit, die dafür sorgen, daß sein Andenken nirgends erlösche ". 2 5 Hoff war zu dieser Zeit sicherlich noch eine Ausnahme, wenngleich gerade die Geheimmittelfabrikanten
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Im Verzeichnis des Königlichen Amtsgerichts 1895 wurden neben Exner, der als Verlagsbuchhandlung und Annoncen-Expedition' geführt wurde, zwei andere Büros aufgenommen: das ,Bureau für Amerikanische Reklame' von Franz Huldschinsky und das ,Reklame-Bureau' eines Georg von Indulfy, vgl. ebd., S. 81, 245. 1911 war ihre Zahl auf 22 gestiegen - neben diversen Firmen, die sich mit der Produktion von Reklameartikeln befaßten, vgl. Handelsregister des Kgl. Amtsgerichts Berlin-Mitte 1911. 20 Vgl. Lemcke/Friesenhahn, S. 1 f. Vgl. auch Kaufmännische Propaganda, in: Die Reklame, Heft 7/1900, S. 69-71, S. 69; Moderne Reklame, in: Moderne Reklame, Heft 1/1902, S. 1. 21 Ebd., S. 71 f. 22 Kropeit, S. 84. 23 Hans Weidenmüller: Werbeschulung für Kaufmann und Kundenwerber, Werdau 1912, S. 33. 24 Vgl. Seidt, S. 165. 25 Annonce und Reclame, S. 298.
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zu den frühen Nutzern intensiver Reklame gehörten. Weitere Vorreiter der Absatzwerbung waren Markenartikelfabrikanten und Warenhäuser. Eigene Reklameabteilungen entstanden hier schon häufig vor der Jahrhundertwende. 26 Diese Unternehmen waren meistens selbst erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und begegneten den modernen Vertriebs formen offen. In der Reklameabteilung des Kaufhauses Hertzog wurden seit den siebziger Jahren Anzeigen abgefaßt, Kataloge fertiggestellt „ und mit besonderer Sorgfalt der textliche wie künstlerische Inhalt der stets vor dem Weihnachtsfest zur Ausgabe gelangenden Agenda bestimmt und zur Veröffentlichung vorbereitet. " 21 1891 wurde berichtet, daß der Kaiser-Bazar in Berlin, ein Warenhaus mit hoher Arbeitsteilung, auch einen speziellen „Chef der Reklame" 2* beschäftige. Neben den Warenhäusern gehörten offenbar Zeitungen, Zeitschriften und Verlage zu denen, die früh eine eigene Reklameabteilung aufbauten. Zahlreiche Reklamefachleute durchliefen zumindest zeitweise eine Anstellung in dieser Branche. 29 Auch Hinweise auf selbständig arbeitende Reklameberater finden sich vermehrt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. So unterhielt seit den späten achtziger Jahren der „Reklame-König" 30 Fritz von Schirp in Berlin ein „Reklame-Bureaux", 31 laut Redlich ein „dunkler Ehrenmann, der in primitiver handwerksmäßiger Weise Reklame betrieb, wie man sie damals verstand. Er suchte in 26
Vor dem Ersten Weltkrieg (ohne genaue Datierung): Kathreiner, Henkell und Lingner (Odol), vgl. Schmiedchen, S. 26. Stollwerck in den neunziger Jahren, vgl. Kuske, S. 80. Günther Wagner 1903, Bahlsen 1905, Kaffee Hag vor 1906, Zeiss 1906, Dr. Oetker 1908, vgl. Reinhardt, S. 28. Zur verspäteten' Maschinenbaubranche vgl. Heinz Buchholz: Maschinentechnische und verwandte Reklame, in: Organisation, Heft 2/1913, S. 33-34. 27 Lindenberg, S. 79. Diese Abteilung wurde noch als literarisches Büro4 bezeichnet. 28 Robert Austerlitz: Die grössten Detailgeschäfte der Welt, in: Der Deutsche Kaufmann, Heft 3/1891, S. 30-33, S. 33. 29 Vgl. H. F. I Kropff: Zur deutschen Reklame, in: Die Reklame, 1. Maiheft 1931, S. 281-285, S. 281. Er führte die Herkunft der meisten Reklamefachleute der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf das Verlagswesen oder die Reklameindustrie zurück. Eine Durchsicht der ,Anzeige4 1949-1952 gab in mehreren Biographien älterer Reklamefachleute Hinweise auf solche Tätigkeiten. Diverse andere begannen ebenfalls in Annoncenexpeditionen oder im Buchhandel. Dies galt auch für die zwanziger Jahre. 30 So ein Gedicht in der Norddeutschen Allgemeine Zeitung, Jg. 26, 17. Februar 1887, zit. nach: Frank Wedekinds Maggi-Zeit, S. 216. Dort heißt es: „Fritz von Schirp heißt der Gewaltige/In der Breiten Straße wohnt er/Und als König der Reklame/In Zeitungsspalten thront erlZeigt man wo Kalmücken-Horde/Oder eine Riesen-Dame/ O net man ein neues Bräuhaus: Fritz von Schirp schreibt die Reklame!" Das Gedicht gibt weiter einen Hinweis darauf, daß die stadtbekannte Reklame der ,Goldenen 110', eines billigen Textilkaufhauses, von einer Frau entworfen wurde. Diese Reklamegedichte waren so populär, daß sie in separaten Gedichtbändchen veröffentlicht wurden, vgl. ebd. 31 Fahrende Reklame, in: Die Reklame, Heft 4/1894, S. 78. Darin wurden die Reklamewagen der Firma Schirp beschrieben, die als fahrende Plakatwände durch Berlin zogen.
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plumper Weise aufzufallen und damit Aufmerksamkeit zu erregen. " Schirp arbeitete noch zur Zeit der Berliner Gewerbeaussteilung von 1896, verkörperte aber für Redlich bereits „ein absterbendes Stadium der Reklame"? 2 Die von Redlich bis 1890 festgelegte erste Periode des Reklamewesens fand in Schirp offenbar einen letzten Repräsentanten. Als Vertreter einer neuen Phase in der Geschichte der Reklame nennt Redlich den ersten Herausgeber der Fachzeitschrift ,Die Reklame4, Robert Exner. Der 1868 geborene Exner gab sich selbst die Berufsbezeichnung ,Reklame-Anwalt 4 . 33 Er war ursprünglich in der Textilindustrie tätig, erzielte dann mit seiner 1891 gegründeten Zeitschrift ,Die Reklame4 so viel Erfolg, daß er „geradezu zwangsläufig" 34 vom Redakteur zum Reklameberater wurde und weiterhin in der Zeitschrift solche spezialisierten Berater als Notwendigkeit propagierte. Der Verleger und Annoncenexpediteur Rudolf Mosse holte Exner 1894 nach Berlin, aber eine Zusammenarbeit zerschlug sich. Exner gründete mit dem Druckereiteilhaber Max Pasch die Firma ,Rob. Exner & Co. 4 , die neben der Herausgabe der Fachzeitschrift auch Reklameberatung und eine von Pasch begründete Annoncenexpedition anbot. Exner schied schon 1895 wieder aus der Firma aus, arbeitete selbständig und wurde der erste gerichtliche Sachverständige für Reklame.35 Exners , Institut für kommerzielle und industrielle Propaganda4 empfahl sich in einer Anzeige 1896 als Spezialist für Prospekte und Kataloge.36 Eine seiner größte Reklamekampagnen machte er in den neunziger Jahren für eine Gemeinschaftsreklame des Vereins der Zuckerindustriellen. 37 Nach Exners Ausscheiden aus der Firma ,Rob. Exner 32
Redlich, S. 110. Anzeige des „ Reklame-Anwalt(es) Robert Exner" für „Streng sachliche und unparteiische Consultation in Reklame-Angelegenheiten" im Anhang der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung Moderne Reklame. Weiter preist die Anzeige: „Die Bearbeitung aller Reklamesachen erfolgt von mir allein, weil es mir ungeachtet hoher G haltszusicherungen noch nicht gelungen ist, eine geeignete Hilfskraft für diesen ne Beruf zu finden. Aus diesem Grunde vermag ich nur einen kleinen Theil der einlangen Aufträge zu erledigen und treffe ich deshalb aus der immer grösser werdenden M von Arbeitsmaterial eine Auswahl jener Angelegenheiten, deren Bearbeitung mir zusa und von welchen ich mir Erfolg verspreche. Durch den intimen Verkehr mit meiner ca. 300 Firmen bestehenden Clientel sammeln sich in meinem Archiv unschätzbare pra tische Erfahrungen auf dem Gebiete des Reklamewesens, wie dieselben nirgends zu den sind. " 34 Redlich, S. 114. Dort auch zur Biographie Exners. Mataja würdigte 1910 die Rolle Exners als wegweisend und hielt auch die von ihm gegründete ,Reklame4 in ihrer Rolle für die Entwicklung des Reklamewesens für bedeutend, vgl. Mataja, S. 212. 35 Vgl. Redlich, S. 114. 1909 wurde berichtet, daß der ,, Vorkämpfer Jur wahre, moderne Reklame ", das „ Reklamegenie " Exner leider den Beruf gewechselt hätte und nun als „Großkaufmann " tätig sei. System, Heft 4/1909, S. 84. Exner wurde Inhaber der Berliner Likörfabrik Mampe, für die er zuvor die Reklame organisiert hatte. 36 Anzeige in: Die Geschäftspraxis, Heft 11/1896, S. 329. Im Verzeichnis des Königlichen Amtsgerichts 1896, S. 135 wurde Exner allerdings noch zusammen mit Max Pasch als Inhaber einer Verlagsbuchhandlung und Annoncenexpedition aufgeführt. 37 Vgl. Redlich, S. 114. 33
16 Lamberty
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und Co.4 trat dort Richard Kropeit ein, der auch die Herausgabe der ,Reklame4 übernahm. Begonnen hatte Kropeit um 1893 in der Annoncenexpedition Rudolf Mosse und war dann als Reklameberater der Firma Lingner (Odol) tätig; später arbeitete er für eine Kaffee-Ersatz-Firma, Auerlicht und vier andere große Firmen.38 Sein 1907/08 herausgegebenes Lehrbuch ,Die Reklame-Schule4 erfuhr breite Anerkennung. 1909 übernahm Kropeit den Vorsitz des neu gegründeten Vereins Deutscher Reklamefachleute und fungierte als Herausgeber der Vereinszeitschrift. Eine große Rolle für die wachsende Betonung der Reklame in der Absatzorganisation spielte anfänglich das Interesse und Talent der jeweiligen Unternehmer. Für die 1884 gegründete Schweizer Firma Maggi entwarf Julius Maggi höchst persönlich das Markenzeichen und legte die Farben für die Flasche seiner Suppenwürze fest. Im November 1886 entschloß er sich, für die Reklametexte als Fachmann den damals 23 Jahre alten Journalisten und Schriftsteller Franz Wedekind zu engagieren.39 Er wurde im ,Reclame- und Preßbureau' der Firma Julius Maggi angestellt und mit 250 Mark Reisegeld zur Leipziger ,1. Internationalen Ausstellung fur Kochkunst und Volksernährung' geschickt, um Kontakte zu Reportern anzuknüpfen und für gute redaktionelle Besprechungen für Maggi zu sorgen. In seinem Reisebericht beschrieb Wedekind seinen Auftrag: „1. Sie suchen Verbindung mit Reportern anzuknüpfen und die Reporter der Zeitungen in der Schweiz ausfindig zu machen, 2. Sie studiren die Ausstellung und sehen zu, wie andere Firmen ihre Reclame organisieren. " 4 0 Julius Maggi scheint den zeittypischen Ratschlägen gefolgt und literarische Reklame bevorzugt zu haben. Er kümmerte sich persönlich um die Auswahl der Reklameprosa und -gedichte, die Wedekind lieferte. 1887 erbat Wedekind in einem Brief an Maggi zu 12 fertiggestellten Gedichten ein Urteil. Maggi war mit der Produktion zufrieden, betonte aber, es sei „die Hauptsache, daß dieselben publizirt und nicht nur geschrieben werden. Es liegt auch in ihrer Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie in die dafür aufgegebenen Zeitungen aufgenommen wer-
38 Vgl. Kropeit, S. 5, 86. Zu Auerlicht vgl. Schmiedchen, S. 24. Er datierte den Wechsel zu Odol auf die Zeit um 1900. 39 Angeblich überlegte Maggi, einen modernen Schriftsteller zu engagieren und ließ sich dazu in einer renommierten Buchhandlung beraten. Man empfahl ihm dort Karl Henckell, einen Freund Wedekinds, der aber ablehnte. Henkell wiederum verwies auf Wedekind, der sich bei Maggi meldete und prompt eingestellt wurde, vgl. hierzu ausführlich Hartmut Υίηςοη: Das Unternehmen Maggi, in: Frank Wedekinds Maggi-Zeit, S. 177-246, S. 207-230. Dort sind zahlreiche der mindestens 160 redaktionellen Reklamen, die Wedekind schrieb und die von Maggi kommentiert wurden, abgedruckt. Weitere Reklamefachleute bei Maggi wurden u. a. 1897 Paul Ilg, ebenfalls ein späterer Dichter, und 1900 der bekannte Kinderbuch-Illustrator Herbert Rikli, vgl. ebd., S. 225; S. 239. 40 Zit. nach Frank Wedekinds Maggi-Zeit, S. 89.
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den. " 4 1 Wedekind begriff diese Arbeit als Übergangsbeschäftigung zum Broterwerb. Auch bei Stollwerck war Reklame , Chefsache 4.42 Sie wurde von Ludwig Stollwerck, einem der Söhne des Firmengründers, übernommen. Ludwigs Bruder Peter leitete den Außendienst und kritisierte den hohen Aufwand für die Reklame. Ludwig Stollwerck hingegen kümmerte sich eher um das große Konzept und um den Kontakt zu Künstlern für die Ausführung der Reklameentwürfe - durchaus mit einem mäzenatischen Selbstverständnis. Für die organisatorischen Aufgaben wurde in den neunziger Jahren Peter Harnisch als Leiter zunächst der ,Inseratenabteilung 4, ab 1903 der ,Reklameabteilung4 engagiert. Der Reklameetat betrug 1900 gut 250.000 Mark und stieg bis 1913 auf 488.507 Mark. 43 Bei schon länger bestehenden Firmen fand häufig die Einrichtung einer eigenen Reklameabteilung dann statt, wenn jüngere Mitarbeiter eingestellt wurden. Als der junge Kupferberg 1902 die Nachfolge seines älteren Bruder antrat, riskierte er heftige Auseinandersetzungen im Aufsichtsrat, um schließlich den Reklameetat der Sektkellerei von 20.000 auf 300.000 [!] Mark zu erhöhen. Für die neu gegründete Reklameabteilung wurde ein ehemaliger Mitarbeiter aus Lingners Reklamebüro (Odol) gewonnen. Als dieser sich 1909 selbständig machte, übernahm Christian Adalbert Kupferberg selbst die Leitung der Reklameabteilung.44 Kropeit wertete die Bearbeitung der Reklame durch Chefs oder Geschäftsführer als Zeichen dafür, daß man zwar „ instinktiv " fühle, welch hohe Bedeutung diesem Gebiet zukomme, denn die Reklame einer Firma verkörpere die „ Intelligenz ihrer Leiter, zeigt den Geist des Hauses ". Man halte also diese Arbeit „sehr wohl für wichtig, glaubt sich ihr aber oft auch ohne Ausbildung gewachsen"* 5 In der Tat bekannte der junge Kupferberg 1923: „Irgendwelche werbetechnischen Kenntnisse hatte ich nicht. " 46 Längst nicht alle Branchen investierten vor 1914 in Reklame. Vorbehalte sah der Kunstkritiker Paul Westheim vor allem in der Schwerindustrie und der elektrotechnischen Industrie. Einerseits verstünden diese sich als Träger des
41 Brief Maggis an Wedekind, zit. ebd., S. 95. Pro Reklametext erhielt Wedekind 1,50 Franken. 42 Vgl. auch im folgenden Manuskript Kuske, S. 37, 57 ff. (StA). 43 Das entsprach 1913 rund 20 % des Umsatzes. Der Reklameetat umfaßte Zeitungsanzeigen, Giebelreklame, Emailleschilder, Glasschilder, Klischeekosten, Schauschränke, Schaufensterausstattung, Musterverteilung und Preisausschreiben, vgl. ebd., S. 57. Im Außendienst wurden 1890 25-30, 1914 90 Personen beschäftigt. 44 Vgl. Reinhardt, S. 27; Deutsche Werbeköpfe, S. 12. 45 Kropeit, S. 85. 46 Deutsche Werbeköpfe, S. 12. Seine Auslandserfahrungen in England und den USA qualifizierten ihn scheinbar ausreichend. Er entwickelte sich zu einem der engagiertesten Reklamefachmänner Deutschlands und setzte sich v. a. für eine internationale Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch der Reklamefachleute ein.
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Fortschritts, anderseits handelten sie immer noch nach archaischen Grundsätzen, wenn es um ihre Reklameorganisation gehe. „ Reklameschemata, die vor vierzig und fünfzig Jahren entwickelt worden sind und damals ihren Wert auch hatten, werden heute immer noch angewandt, häufiger als so mancher fortschrittlich gestimmte, um rationelle Wirtschaft besorgte Betriebsleiter selbst ahnen mag. " 4 7 Damals sei Aufsehen allein schon durch die Tatsache erregt worden, daß man inserierte. Heute käme es mehr und mehr auf das ,wie 4 an. Verwunderlich sei auch, daß Firmen, die sonst viel Wert auf Repräsentation legen, in der Reklame sich plötzlich so nachlässig gäben.48 Daß Reklame ebenfalls ein Akt der Repräsentation sei, schien ihnen unbekannt zu sein. Konkrete Anhaltspunkte für die Einrichtung solcher Reklameabteilungen in den Firmen gibt es nur selten. Die Mitglieder des VDR gaben manchmal ihre Funktion in der Firma an. Ein Hinweis wie „ Vorsteher der Propagandaabteilung" 49 bei einem Vertreter der Schokoladefabrik Stollwerck läßt zumindest auf eine größere Abteilung schließen. Die Zahl der explizit als Vertreter der Reklameabteilung einer Firma auftretenden, offensichtlich fest angestellten Fachleute zwischen 1909 und 1914 belief sich laut den Selbstangaben in der Fachzeitschrift des VDR auf 221. 50 Kropeit unterschied 1907 drei Grundformen der Reklameorganisation innerhalb der Firmen. In kleinen Firmen werde die Reklame als Nebenaufgabe vom Chef oder einem Angestellten organisiert. Mittlere Geschäfte hätten einen Reklamebeamten mit ein oder zwei Hilfskräften. Die Reklameabteilung eines Großbetriebes bestehe aus einem Chef, mehreren Assistenten und sonstigen Hilfskräften. 51 Handbücher der Reklame beschrieben zwischen 1903 und 1914 ausführlich die Aufgabenbereiche der Reklameberater. Aufgabe sowohl der Angestellten als auch der ,Freien 4 sei es, den gesamten Ablauf der Reklameorganisation zu betreuen. Manchmal waren auch technische Angestellte, die für die Reklame zuständig. So geht die Bezeichnung Reklametechniker und 47 Paul Westheim: Zur Entwicklung des technischen Inserats, in: Dokumente des Fortschritts, Sept. 1911, S. 511-526, S. 511. Dem VDR traten ab 1911 verstärkt Firmen der chemischen und elektrotechnischen Industrie bei. 48 Ebd., S. 514. 49 Vgl. Neuanmeldungen, in: Mitteilungen des VDR, Heft 18/1911. 50 Unter festen Funktionen wie Korrespondenten, Propagandisten, Vorsteher, Zeichner etc. 304 Mitglieder traten als Vertreter reklametreibender Firmen ohne nähere Funktion auf; unter ihnen waren mit größerer Wahrscheinlichkeit auch diverse Fachleute als unter den 251 Mitgliedern, die weder Funktion, noch Firma angaben, vgl. Neuanmeldungen, in: Mitteilungen des VDR, Heft 3/1909-Heft 10/1914 (1.395 Neuaufnahmen, Abgänge wurden nicht aufgelistet). 51 Vgl. Kropeit, S. 753 f. Auf einem Foto der Firmenschrift der Firma Günther Wagner (Pelikan) von 1906 ist die ,Abteilung: Propaganda4 abgebildet. Neben dem jungen Chef mit eigenem Schreibtisch sind 6 weitere Männer und eine Frau zu erkennen, vgl. Günther Wagner, S. 63.
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-ingenieur zurück auf die jeweilige Produktbindung. Im Maschinenbau, wo Kenntnisse der Produkte z. B. für Vorführungen notwendig waren, wurden die Reklamefachleute den Technikern zugeordnet, während Massenproduktion im Konsumgüterbereich eine „mehr vom kaufmännischen Gesichtspunkte ausgehende, intensive und originelle Art der Reklame " S1 verlangte. Empfohlen wurde die Unterteilung der Arbeit in einer Reklameabteilung in zwei Bereiche. 53 Zu den üblichen buchhalterischen Aufgaben gehörte das Verbuchen der Ausgänge, die Kontoführung und Abrechnung der Aufträge (Anzeigen, Plakatierung, Klischeeherstellung etc.). Demgegenüber gehörte Statistik, Reklamemittelkontrolle, Erfolgskontrolle und Aufstellen eines Reklameplans und Reklameetats zur Zuständigkeit des fachlich geschulten Reklamechefs. Der Reklameplan untergliederte sich in einen großen, sämtliche Reklamemittel eines längeren Zeitraums umfassenden Plan und den Insertionsplan. Ein gut vorbereiter Reklameplan sollte als Arbeitsplan für das ganze Jahr angelegt werden. An diesem Plan orientierte sich die jeweilig anstehende Auftrags vergäbe und deren Kontrolle. Der Etat sollte frühzeitig und in enger Zusammenarbeit mit dem Firmenchef bzw. zuständigen Abteilungsleitern erstellt werden. 54 Dabei sei zu klären werden, welcher Artikel im Vordergrund der geplanten Reklame stehen soll, welche Reklamemittel sich am besten eignen, in welchen Umfang diese Mittel, unter Berücksichtigung ihrer Kosten, eingesetzt werden sollen und in welchem Rahmen sich die Firma überhaupt größere Reklamemaßnahmen leisten könne.55 Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Gesamtsumme seien auf der Basis von Kostenvoranschlägen und Preislisten von Kunstdruckereien, Plakatierungsfirmen und Annoncenexpeditionen die einzelnen Ausgaben festzulegen. Jedes Jahr sollte der Etat anhand der tatsächlichen Ausgaben überprüft und über alle Ausgaben der Geschäftsleitung Rechenschaft abgelegt werden. 56 Wichtig sei außerdem ein Reserveetat, um jederzeit schnell auf Reklamemaßnahmen der Konkurrenz reagieren zu können.57 Die angemessene Höhe des Reklameetats
52 Franz H. Perlin: Kaufmännische und technische Leitung im industriellen Großbetrieb (Schluß), in: Handels-Hochschul-Nachrichten, Beilage zur Deutschen Wirtschafts-Zeitung, Heft 6/1912, Sp. 57-58. Er hielt die Reklame in industriellen Großbetrieben für einen „Grenzbereich, auf den anscheinend die leitende Tätigkeit dem Ingenieur ebenso wie dem Kaufmanne zufallen kann. " 53 Vgl. hierzu Kropeit, S. 90; Seyffert, S. 141 ff.; Seidt, S. 165 ff. 54 Vgl. auch im folgenden Der Reklameetat, Teil 2, in: Organisation, Nr. 9/1903, S. 133-135. Gerade für die Warenhäuser wurde berichtet, daß dort die Stellung des Reklamechefs unmittelbar unter der zentralen Geschäftsleitung anzusiedeln sei. Vgl. z. B. Wiener, S. 27. 55 Vgl. Kropeit, S. 410 f. 56 Vgl. z. B. Organisation einer Reklame-Abteilung, in: System, Heft 1/1909, S. ΠΙ 6. 57 Vgl. Georg Bruno Haucks: Propaganda in kaufmännischen Betrieben, in: Organisation, Nr. 23/1906, S. 405-407, S. 406; Ernst Rademacher: Das Reklame-Inserat, in:
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
blieb strittig. 1924 lautete eine Empfehlung, zwischen 1,5 und 4 % des Umsatzes für die Reklame auszugeben.58 Als zweckmäßig für eine fachliche Arbeit galt das Anlegen eines eigenen oder fremden Ideenbuches. Solche Sammlungen von Ideen „bieten dem Vorsteher der Reklameabteilung fortwährende Anregung bei seiner eigenen schöpferischen Tätigkeit und erleichtern ihm die Aufstellung des jährlichen Reklameetats ganz ungemein. " 59 Das mag auch den Boom von zahlreichen Reklamehandbüchern ab 1905 erklären. Sie enthielten überwiegend praktische Tips: Klischeevorlagen für Inserate, Dekorationshilfen, Musteretats etc. Reklameberater, ebenso wie kleinere Geschäftsleute, die ihre Reklame selbst organisierten, griffen offenbar dankbar zu solchen Hilfen. Ein anderer wichtiger Bereich war die Vergabe von Gestaltungsaufträgen an die ausführenden Hilfsgewerbe, die Druckereien, Plakatkünstler und Dekorateure. Nur in der Zusammenarbeit zwischen Künstler und Reklameberater könne wirklich gute Arbeit geleistet werden, da den meisten Künstlern die Anforderungen der Reklame eher fremd seien.60 Der Reklameberater sollte immer die angestrebte Gesamterscheinung der Firma im Blick behalten und die verschiedenen Teilgebiete der Reklame aufeinander abstimmen. Weidenmüller sah in dieser, die gesamte Reklame überblickende Aufgabe eine Überwindung der sich sonst verstärkenden Arbeitsteilung. Der Reklameberater müsse kaufmännische, psychologische und kunstgewerbliche Kenntnisse haben und in Zusammenarbeit mit anderen Anregungen aus den verschiedensten Bereichen zu einer Einheit zusammenführen. 61 In einigen Firmen gehörte zur Reklameorganisation ein künstlerischer Beirat'. Stollwerck beschäftigte dafür seit den späten achtziger Jahren den Maler und Graphiker Emil Doepler. Er entschied über alle gestalterischen Reklamefragen: Verpackungen, Sammelbilder, Alben. 62 Bekannter ist die Anstellung von Peter Behrens durch die AEG. Das Warenhaus Wertheim beschäftigte als künstlerische Beiräte einen Architekten und eine Schaufensterdekorateurin. 63 Über Messen, Ausstellungen und Reisenden suchten Firmen üblicherweise ihren Zugang zum Absatzmarkt. Reklamefachleute erklärten diese traditionelle Form der Absatzorganisation nun für überholt. Um die Jahrhundertwende wurden Reklamewesen und Außendienst meist als getrennte Aufgabenbereiche be-
Organisation, Nr. 3/1908, S. 63-64; Paul Stadler: Kontrolle der Konkurrenz-Reklame, in: Mitteilungen des VDR, Heft 42/1913, S. 245-246. 58 Vgl. Lysinski: Organisation der Reklame, S. 30-34. Frühere Angaben existieren nicht. 59 Der Reklameetat, Teil 2, in: Organisation, Nr. 9/1903, S. 133-135, S. 133. 60 Vgl. Carl Schnell·. Moderne Inseratausstattung, in: Organisation, Nr. 13/1907, S. 217-218, S. 218. 61 Vgl. Hans Weidenmüller. Der Werbeleiter, in: Mitteilungen des VDR, Heft 3/ 1914, S. 82-84, S. 84. 62 Vgl Kuske, S. 130. 63 Vgl. Wiener, S. 27.
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trachtet. Es kam häufig zu Kompetenzstreitigkeiten. Die Reisenden warfen den Reklameberatern vor, ohne direkten Kundenkontakt zu arbeiten und viel zu akademisch vorzugehen; den Reisenden wiederum wurde mangelndes Verständnis für die Ganzheitlichkeit einer Reklame unterstellt. 64 Ab 1905 entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Zusammenarbeit. Gerade in der Betreuung der Detaillisten in Reklamefragen erkannte man eine wichtige Aufgabe der Reisenden. Meistens wurden nun die Aufgaben des Reklameberaters mit denen des Verkaufsleiters gekoppelt. Damit lag die innere und äußere Absatzorganisation in einer Hand und die Reklamefachleute siedelten ihre Tätigkeit in der Hierarchie über den Reisenden an.65 Seit den neunziger Jahren entstanden außer den fest angestellten Reklameberatern in den Reklameabteilungen großer Firmen auf Beratung spezialisierte Reklamebüros, die die komplette Reklame für eine Firma erledigten. Neben organisierenden Reklamefachleuten gehörten auch Zeichner, oft auch Druckereien und Plakatierungsabteilungen zu einem solchen Büro. 66 Für den Auftraggeber boten diese insofern Vorteile, als daß er dort alle Aufgabenbereiche vereint fand. In einigen Fällen wurden entsprechende Abteilungen den Annoncenexpeditionen angegliedert. Wieder andere wurden direkt als Reklamebüro gegründet.
2. Erste Reklameberater: Ihre Qualifikation und Selbstanpreisung Selbstanpreisungen gehörten als wichtiges Element zu der Konstituierung des neuen Berufsbildes des Reklamefachmannes. Potentielle Auftraggeber mußten davon überzeugt werden, daß ihnen die Anstellung eines solchen Spezialisten nütze. Eigenwerbung fand sowohl in der Betonung generellen Nutzens der Spezialisten statt, als auch in der konkreten Anpreisung der Fähigkeiten eines arbeitssuchenden Reklamefachmannes. Als größtes Problem der Selbstanpreisung erwies sich der Nachweis entsprechender Qualifikationen bzw. das Fehlen von Kriterien für das, was einen Fachmann überhaupt qualifizieren könne, schließlich handelte es sich bei den selbsternannten Fachleuten um Autodidakten. Wie gingen nun Reklamefachleute mit diesem Problem um, was priesen sie als Können an und wie rechtfertigten sie ihre Gehaltsforderungen und Ansprüche auf leitende Positionen? 64
Vgl. z. B. Seidt, S. 178. Deutsche Werbeköpfe, S. 12. Vgl. Schär, S. 144 f., 150. Vgl. auch Kropeit, S. 611; Paul Damm-Etienne: Die Verkaufsabteilung einer Zigarrenfabrik, in: Zeitschrift für handelswissenschaftlichen Forschungen, Jg. 2/1907-08, S. 66-76. Die Verkaufsabteilung umfaßt hier die Reisenden, die gesamte Korrespondenz, Bearbeitung der Aufträge, Lager, Expedition, Reklame- und Musterabteilung, Schreibmaschinenabteilung und Registratur, Buchhaltung und Kasse. 66 Vgl. Seyffert: Die Reklame des Kaufmanns, S. 157 f. 65
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
Fehlende Ausbildungsmöglichkeiten machten vor 1914 alle Reklameberater zu Autodidakten, während bei den Reklamezeichnern zumindest ein Teil über eine zeichnerische Vorbildung verfugte. Diese Situation wurde 1909 im ,Kontor 4 so charakterisiert: „Sie besitzen keine Vorbildung fiir ihren Beruf, haben sich nicht darin emporgearbeitet, sondern sind, oft durch Zufall, aus irgendeinem anderen Berufszweige, der vielleicht wenig oder gar keine Beziehung zum Reklamewesen hat, in dieses Fach übergegangen. " Journalisten seien unter ihnen häufig, aber auch der „militärische, juristische und medizinische, ja sogar der theologische Beruf liefert uns Männer, welche im Reklamewesen tätig sind. " 6 7 Ein Großteil der Reklamefachleute stammte offenbar aus Buchhandel, Verlags- und Zeitungswesen.68 In einem Buch über die Berufsmöglichkeiten des Journalisten wurde 1912 die Tätigkeit in „Pressebureaus " oder als Reklamechef empfohlen. „(J)edes größere Geschäftshaus hat sein Pressebureau, nur nennt man es hier Reklamebureau und den Leiter dieses Bureaus nennt man Reklamechef" 69 So unterschiedlich wie die gesellschaftliche und berufliche Herkunft der Reklamefachleute war nach Weidenmüller 1914 auch die Art ihrer Bildung und ihrer Bezahlung.70 Einige Qualifikationen wurden in den Handbüchern der Reklamefachleute genau genannt. Dazu gehörten gute Kenntnisse des Druck- und Pressewesen sowie des Annoncenwesens. Fundierte Kenntnisse diverser Reproduktionstechniken und der aktuellen künstlerischen Strömungen galten ebenfalls als Voraus-
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Der Inseratenchef und seine Arbeit, in: Das Kontor, Heft 11/1909, S. 624-627, S. 624. Noch 1954 wurde, nicht ohne einen gewissen Stolz, auf die unkonventionellen Berufskarrieren der Reklamefachleute hingewiesen, als in einer Fachzeitschrift ein Reklamefachmann gewürdigt wurde, der als ehemaliger Seefahrer und Zeppelinsteuermann 1924 in die Reklamebranche übergewechselt hatte. „Die Ältesten unter den Werbefachleuten kommen aus den verschiedensten Berufen. " Vgl. Engelbert Hofheinz, in: Die Anzeige, Heft 8/1954. 68 Growald und Exner hatten selbst vorher in den entsprechenden Bereichen gearbeitet. Aber auch andere Reklamefachleute absolvierten häufig eine Lehre im Verlagswesen. Die Lebensläufe von Reklamefachmännern der ersten Generation, die v.a. in den fünfziger Jahren in verschiedenen Reklamezeitschriften veröffentlicht wurden, bestätigen diese Branchen als wichtige Einstiegsmöglichkeiten. Allerdings lag in diesen Lebensläufen die Lehre meistens im Kaiserreich, der Einstieg in die Reklamebranche hingegen in der Weimarer Republik, vgl. z.B. Die Anzeige, Heft4/1952, S. 52 (Schmiedchen); Heft 5/1952, S. 315 (Ross). Hier besteht eine Parallele zu den Gründern der Annoncenexpeditionen. Haasenstein, Scherl und Mosse kamen aus dem Buchhandel. 69 Friedrich Streißler: Der Schriftsteller und Journalist. Eine Darstellung des Werdeganges, der Bildungsmöglichkeiten, des Erwerbes und der Aussichten in literarischen Berufen, Stuttgart 1912, S. 69. Pressebüros verstand er als die Abteilungen für die Öffentlichkeitsarbeit in Ministerien, Stadtverwaltungen, Fremdenverkehrsvereinen etc. 70 Vgl. Hans Weidenmüller: Der Werbeleiter, in: Mitteilungen des VDR, Heft 3/ 1914, S. 82-84, S. 82.
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Setzung für eine gute Arbeit. 71 Auch die Fähigkeit, selbst Ideen in Skizzen festzuhalten, wurde als vorteilhaft beschrieben.72 Das Plädoyer des Reklameberaters Seidt für eine kaufmännische Ausbildung als unerläßliche Vorbildung eines jeden Reklamefachmannes war eher eine Ausnahme.73 In den Stellenangeboten wurde häufig gefordert, daß die Reklamefachleute selbst Anzeigen entwerfen und abfassen können sollten.74 Branchenkenntnisse waren offenbar zweitrangig und wurden nur vereinzelt gefragt. 75 Statt dessen wünschte man sich Zeugnisse oder sonstige Beweise, die den Erfolg praktizierter Reklame des Bewerbers nachwiesen. So formulierte das Warenhaus Leonhard Tietz für seine Filiale in Aachen eine Anzeige: „Intelligenter Herr, welcher befähigt sein muss, die moderne Reklame unseres Hauses zu leiten, zum Eintritt pr. I. Juli er. gesucht. Nur Herren mit nachweisbar guten Erfolgen wollen sich bewerben. " 7 6 Ein großes Schuhwarenhaus suchte ebenfalls einen Reklamechef, der „ nachweislich grössere Leistungen auf diesem Gebiet zu verzeichnen hat. " 7 7 Da die Ausbildung in den neuen Berufen noch nicht festgelegt war und eine herkömmliche Berufslaufbahn für Reklamefachleute nicht gelten konnte, standen die Chefs der Unternehmen vor dem Problem, nach welchen Kriterien sie ihre neuen Mitarbeiter aussuchen sollten.78 Deutlich wurde dies in einem Rat, den sich Otto Henkell (Henkell Sekt) bei seinem Geschäftsfreund Ludwig Stollwerck vertraulich erbat. Er suchte nähere Auskünfte über „ Guido Müller, der sich um den Posten eines bei uns frei gewordenen Propagandachefs bewirbt. Dieser giebt an längere Zeit bei der ,Odol-Gesellschaft' als Vorsteher der Reklameabteilung gewesen zu sein. - Es ist Ihnen nun vielleicht möglich durch Herrn Director Beck von der , Sunlight Co. ' zu hören, welches Urteil dieser Herr über Herrn G. Müller hat, speciell ob er von grosser Initiative ist und auch die besten Kenntnisse des Reklamewesens hat? " 7 9 Mündlichen Auskünften der Firmenchefs wurde offenbar 71
Diese Bereiche machten deshalb einen Großteil der meisten Handbücher aus, vgl. z. B. Lemcke/Friesenhahn; Kropeit; Seidt. 72 Vgl Kropeit, S.W. 73 Vgl. Seidt, S. 169. 74 Z. B. Stellenangebot, in: Berliner Tageblatt, 24.6.1908. 75 Stellenangebot, in: Berliner Tageblatt, 23.6.1908. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu den üblichen Anforderungen für kaufmännische Angestellte. Pierenkemper macht Branchen- und Warenkenntnisse für den Gesamtarbeitsmarkt der Angestellten noch mit Abstand als Hauptanforderung aus, vgl. Pierenkemper: Arbeitsmarkt und Angestellte, S. 142 f. 76 Stellenangebot, in: Berliner Tageblatt, 1.5.1908. Vgl. auch Stellenangebot, in: Organisation, Nr. 2/1907, S. 43. 77 Stellenangebot, in: Berliner Tageblatt, 24.6.1908. 78 Vgl. Der Inseratenchef und seine Arbeit, in: Das Kontor, Heft 11/1909, S. 624-627. 79 Otto Henkell an Ludwig Stollwerck, 29.3.1904 (StA). Vgl auch die Frage des Unternehmers nach den Nachweisen des Bewerbers im Drama von Robert Simmel: Hellmuth Stürmer (Drama in fünf Akten), in: Mitteilungen des VDR, Heft 36/1913, S. 26-30, S. 27 f.
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
eher vertraut als den Selbstdarstellungen der Bewerber. Über kaufmännische Zeugnisse verfugten längst nicht alle selbsternannten Reklamefachleute. Reklamefachleute dagegen empfahlen sich mit Stilgewandtheit, gutem Auftreten, Kreativität, Organisationstalent und Intelligenz. Diese Qualifikationen waren schwer in nachweisbare Kriterien zu fassen, ließen sich leicht behaupten und waren fast immer in den Stellengesuchen zu finden. Auffallend ist aber, daß Reklamefachleute in ihren Stellengesuchen häufig klare Gehaltsforderungen stellten, obwohl sie nachweisbare Belege ihres Könnens schuldig bleiben mußten. Diese Forderungen nach hohen Gehältern gehörten zur Profilierung der Reklametätigkeit als besonders qualifiziertem Beruf und sollte zu dessen Aufwertung beitragen. Die Vorstellungen der Reklameberater von adäquater Bezahlung ihrer umfassenden, überhaupt nicht näher genannten oder vage bleibenden Qualifikationen waren nicht gerade bescheiden, schienen aber Gehör zu finden. 1903 wurde per Anzeige einem „intelligenten, jüngeren repräsentablen Herr " mit Kenntnissen der Reklame und Organisation ein Gehalt von 1.800 Mark geboten - „hohe Tantiemen"™ extra. 1906 wurde einem Reklameberater, der auch in den übrigen Bereichen als „Stütze und Berater" des Chefs fungieren könne, ein Anfangsgehalt von 3.000-3.600 Mark jährlich, sowie eine Steigerung auf 5.000-6.000 Mark in Aussicht gestellt.81 Die ,Reklame-Schule', ein breit rezipiertes Lehrbuch des Reklameanwaltes Richard Kropeit, schätzte die Jahresgehälter von Reklamechefs auf 5.000-12.000 Mark. Dem Reklameassistenten würden monatlich 200-300 Mark zustehen.82 Es sei völlig legitim, wenn die Arbeit des Spezialisten, die diesen „wertvoller und brauchbarer" 83 mache als andere, eine höhere Bezahlung fordere. 1912 wurde für fest angestellte, junge Reklameberater ein Gehalt von 3.000-4.000 Mark jährlich angegeben.84 Der Reklamefachmann Mainzer-Schwenck erhielt für einen einzigen seiner Honoraraufträge 1910 jährlich 2.400 Mark. 85 Seidt plädierte für höchste Gehälter, indem er für Reklamechefs 12.000-20.000 jährlich als durchaus üblich beschrieb. 86 Diese überdurchschnittlichen Gehälter ließen besonders nach den Einbrüchen
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Stellenangebot, in: Organisation, Nr. 17/1903, S. 275. Den amerikanischen ,Reklamemachern4 schrieb Cronau schon 1887 „erkleckliche Summen" an Verdienst zu, mitunter das fünffache des Gehaltes eines deutschen „Staatsprofessors". Cronau, 1. Abhandlung, S. 66 f. 81 Stellenangebot, in: Organisation, Nr. 12/1906, S. 189. 82 Vgl. Kropeit, S. 794. 83 Ebd., S. 84. 84 Vgl. Paul Hildebrandt: Die Honorierung freier Rekame-Fachleute, in: Mitteilungen des VDR, Heft 27/1912, S. 3-5, S. 4. Diese Angabe deckte sich mit dem Gehaltsangebot einer Nähmaschinen- und Fahrräderfabrik für einen Reklamefachmann, vgl. Stellenangebot in: Mitteilungen des VDR, Heft 34/1912, Umschlagseite vorne. 85 Anzeige von ,Oms4, in: Organisation, Nr. 19/1910, S. 450. 86 Vgl. Seidt, S. 25.
I. Die Professionalisierung der Spezialisten f r Reklameorganisation
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auf dem Angestelltenarbeitsmarkt 1908 und 1913 eine Spezialisierung zum Reklameberater attraktiv erscheinen.87 In jedem Fall lagen die Gehälter über dem Durchschnitt der meisten kaufmännischen Angestellten, auch der besser bezahlten Kontorangestellten. 88 Als Fortbildung fur den Handlungsgehilfen, der es auf dem Stellenmarkt immer schwieriger habe, wollte Curt Büsch folglich sein Handbuch der Reklame verstanden wissen. „ Reklamekundige Gehilfen sind gesucht und werden hoch bezahlt.[...] Der Gehilfe, der es versteht, seinem Prinzipal brauchbare Reklamevorschläge zu machen, erringt sich damit eine wichtige Stellung. " 8 9 Arbeitslosigkeit brauche er dann nicht mehr zu fürchten. Für Schaufensterdekorateure gab es ähnliche Ratschläge. Die hohen Gehälter bzw. die Berichte über solche hohen Gehälter trugen zum Bild des Reklamefachmannes als unerläßlichem Wegbereiter für den geschäftlichen Erfolg eines Unternehmens bei. Nur äußerst wichtigen Personen in verantwortlichen Positionen standen solche Gehälter zu. Richtige ,Genies4 galten als fast unbezahlbar: „Die weitaus meisten Reklameverbraucher aber können sich den Luxus des festen Engagement eines wirklichen Reklame-Genies gar nicht leisten ", 9 0 daher bleibe ihnen für ihre Aufträge nur die Wahl eines billigeren „freiarbeitenden Reklame-Sachverständigen". 91 Der Reklamefachmann Buchholz hielt 1912 den „idealen Reklamefachmann" für zu teuer für kleinere Geschäfte, fügte aber hinzu, mittlerweile gebe es „genügende Reklameanwälte und Berater, die zu zivilen Preisen ihre Dienste zur Verfügung stellen ", 92 Neben der Forderung nach hohen Gehältern spiegelte sich die Bedeutung der Reklamefachleute in den Positionen, die sie in ihren Stellengesuchen anstrebten. „Es wird auf absolut selbständige Stellung reflektiert, in der hohe Ansprüche 87
Vgl. Toni Pierenkemper: Der Arbeitsmarkt der Handlungsgehilfen 1900-1913, in: Angestellte im europäischen Vergleich, hg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1981, S. 257278, S. 265 f. 88 Lederer gab für 1907 die Grenze zum besseren Einkommen mit 1.800 Mark jährlich an. Während die meisten Ladenangestellten weniger verdienten, kämen die meisten Kontorangestellten über diese Grenze. 45 % der Korrespondenten und 97 % der Prokuristen lägen mit ihrem Gehalt darüber. Beide Bezeichnungen tauchen häufig bei den fest angestellten Reklamefachleuten in der Mitgliederliste des VDR auf, vgl. Emil Lederer. Die Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, Tübingen 1912, S. 83. Pierenkemper stellt folgende Durchschnittsgehälter für kaufmännische Angestellte fest: 1903 1.665 Mark, 1906 1.693 Mark, 1910 2.280 Mark und 1912 2.400 Mark, vgl. Pierenkemper: Arbeitsmarkt der Handlungsgehilfen, S. 273. 89 Büsch, S. 8. In dem Drama von L. Bernhard: Alles durch Reklame, Schwank in 1 Akt, Mühlhausen i. Th. 1911, S. 8, entschied sich folglich ein „arbeitsloser Kommis", es als Reklamefachmann zu versuchen. 90 Ernst Growald: Reklame-Fachleute, Reklame-Sachverständige, -Berater, -Chefs, -Genies, -Techniker, -Anwälte, -Agenten, in: Die Reklame, Bd. 2, S. 51-56, S. 53. 91 Ebd., S. 55. Growald arbeitete selbst als ,freier' Reklameberater. 92 Heinz Buchholz: Von der Reklame, in: Organisation, Nr. 8/1912, S. 208-209, S. 209.
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gestellt werden. " 9 3 Hohe Ansprüche kann nur jemand stellen, der eine zentrale Position beansprucht. Ein anderer selbstbewußter Fachmann, „ allererste Kraft, ideenreich, mit vorzüglicher Bildung und reicher Praxis ", suchte die „ hochdotierte, nach jeder Richtung hin aussichtsreiche Stellung. " 9 4 Daß hohe Gehälter nicht von kleineren Firmen gezahlt werden konnten, war den Reklamefachleuten durchaus klar. Die eigentliche Nachfrage nach Reklameberatern kam ohnehin von der Großindustrie, kleinere Unternehmen mußten auf die Dienste , freier 4 Berater in Honoraraufträgen zurückgreifen. 95 Reklamefachleute, die wie auch Wanderdekorateure kleinere Honoraraufträge erledigten, schienen der Zurückhaltung vieler großer und dem begrenzten Etat kleiner Firmen entgegenzukommen, die sich keine feste Kraft leisten konnten oder wollten. Ein „Reklamemaker annoncierte 1906, er nehme Wochen- oder Monatsaufträge an und nannte zugleich die Preise für einzelne Arbeiten (Inseratentwurf, Klischee usw.). Auch der Reklamechef eines „ Welthauses " erklärte sich bereit, auf Honorarbasis „nebenbei" 91 die Propaganda anderer Firmen zu erledigen. Mitunter erstreckte sich ein solches Arbeitsverhältnis auf Honorarbasis über Jahre. Stollwerck und Sunlight beschäftigen beispielsweise eine Frau Dr. Grohé als „HausPoetin" 9* für redaktionelle Reklame und Reklamebroschüren; allein von Stollwerck bezog sie als jährliches Honorar 600 Mark. Honoraraufträge waren nicht immer beliebt, eine feste Stelle ermögliche ein besseres, weil kontinuierlicheres Arbeiten, so ein Autor der ,Mitteilungen'. Außerdem werde ein fest angestellter Reklamefachmann oft am Umsatz beteiligt; ein Zusatz zum Gehalt, der für Freie fortfalle. 99 Growald gab 1907 als Honorarsatz 5 % der für die Reklame ausgeschriebenen Gesamtsumme an. Er empfahl für Budgets unter 50.000 Mark die Vergabe an ,freie' Reklameberater; bei einem Etat über 100.000 Mark sollte jedoch ein Fachmann fest angestellt werden. Zusätzlich riet er bei größeren Summen zur Hinzuziehung eines „objektiven Beraters". m
93 Stellengesuch, in: Das Waarenhaus, Heft 31/1901, S. 371. Ähnliche Gesuche auch in den folgenden Nummern. 94 Stellengesuch, in: Organisation, Nr. 18/1906, S. 301. 95 Vgl. Vereinsmitteilungen, in: Mitteilungen des VDR, Heft 21/1911, S. 4. Dem entsprach ein Stellenangebot, wo ein Reklamefachmann gesucht wurde, der einen Etat von „mehreren Mk. 100.000 verläßlich zu verwalten " hatte, vgl. Anzeige in: Mitteilungen des VDR, Heft 24/1911, Umschlagseite vorne. 96 Stellengesuch, in: Organisation, Nr. 19/1906, S. 327. 97 Stellengesuch, in: Organisation, Nr. 5/1907, S. 88. 98 So die Bezeichnung durch Stollwerck. Ludwig Stollwerck an Dr. Grohé, 17.8.1906. Vgl. auch Brief vom 13.11.1903 (Honorar) und vom 2.4.1901, in dem auf Arbeiten für Sunlight hingewiesen wurde (StA). Stollwerck und Sunlight standen, was die Reklameorganisation betraf, offenbar in engem Austausch. 99 Vgl. Paul Hildebrandt: Die Honorierung freier Rekame-Fachleute, in: Mitteilungen des VDR, Heft 27/1912, S. 3-5, S. 3. 100 Ernst Growald: Reklame, in: Das Kontor, Heft 1/1907, S. 32-35, S. 33.
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Legitimiert wurden diese Gehaltsforderungen auch dadurch, daß Reklamefachleute immer wieder darauf hinwiesen, daß sich die Arbeit eines gut bezahlten Reklamefachmannes auch für ein Unternehmen auszahle. Denn allein der Reklamespezialist könne dafür sorgen, daß die Reklameausgaben auch den gewünschten Erfolg nach sich ziehen. „Zu denken, daß auch nur ein Zehntel der Gelder, die ein modernes Reklamebudget ausmachen, ohne die ernsteste Uberlegung ausgegeben werden könnte, wäre ungeheuerlich. " 1 0 1 Eine derartige Verschwendung vermeide der Fachmann und erweise sich damit aus der Sicht des Betriebes als kostensenkender Faktor. Er trage soviel Verantwortung, daß ein schlechter Fachmann sogar den Untergang einer Firma bedeuten könne. 102 Auch die Zeitschrift »Organisation', die der Reklame sehr aufgeschlossen gegenüberstand, aber skeptisch den Boom vermeintlicher Reklamefachleute beobachtete, warnte vor den Schäden unsachgemäßer Reklame. „Die Folgen einer ungeeigneten und darum unwirksamen oder wenig wirksamen Reklame sind natürlich weit schlimmerer Natur und oft genug für den Fortbestand des Geschäftes direkt gefahrlich und verhängnisvoll. " 1 0 3 Wichtig sei die richtige Auswahl des für die Reklame zuständigen Fachmannes; keinesfalls dürfe irgendein Angestellter im Nebenamt mit der Reklame beauftragt werden. Bei den Ausgaben für die Reklame sollte möglichst der ,goldene Mittelweg 4 zwischen Sparsamkeit und Vergeudung eingeschlagen werden. Die Anstellung von Reklamefachleuten wurde von ihnen selbst, beispielsweise in Stellengesuchen, als umsatzsteigernd propagiert. „Erfolg und Gewinn bringt die Tätigkeit eines intelligenten erfahrenen Reklame-Chefs. " 1 0 4 Es wurde gerne betont, daß sich die Einstellung eines Reklamefachmannes bezahlt mache, daß er produktiv sei und Erfolg garantiere. Der Reklamefachmann J. Iversen illustrierte die Anzeigen für seine Arbeit mit zwei steil ansteigenden Umsatzkurven von Geschäften, deren Reklame er organisiert hatte.105 Ähnlich wie in der Frage der Organisation der Produktion wurde auch in der Reklame auf die fortschrittlicheren USA Bezug genommen und auf die Weise die eigene Arbeit als zukunftsweisend und modern definiert. Oft wurde betont, daß in Amerika Spezialisten der Reklame fest zum Personal eines jeden größeren Geschäftes gehörten. 106 Higinbotham beschrieb ausführlich die Reklameabteilung eines amerikanischen Warenhauses und lobte ihre Nähe zur Geschäftsleitung als Ausdruck der Anerkennung ihrer Wichtigkeit. So sei der Re-
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Büsch, S. 511. Vgl. Gerd Baur. Die zehn Gebote der Reklame, in: Die Organisation, Nr. 4/1911, Der Reklameetat, in: Organisation, Nr. 8/1903, S. 117-118, S. 117. Stellengesuch, in: Organisation, Nr. 22/1910, S. 548. Stellengesuch, in: Seidels Reklame, Heft 10/1913, o. P. Vgl.. Aus den Warenhäusern beider Welten, S. 132.
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
klameleiter einer der wichtigsten Männer im Haus und ein Mann von „großer persönlicher Autorität und von seiner Energie und Urteilskraft hängen in sehr großem Maße der Erfolg seines Hauses und die Höhe der Umsätze ab. " 1 0 7 Die amerikanische Art, Reklame zu organisieren, das Verhältnis des Reklameverbrauchers und des Reklamefachmannes, beschrieb Ernst Growald als vorbildlich. Vor allem fehle in Amerika die in Deutschland „ vielfache Nichtachtung des sachverständigen Reklamefachmannes. " m In Amerika führe die völlige Anerkennung der Leistungen der Reklamefachleute zu einem besseren Verhältnis zu den Auftraggebern. In Deutschland hätten die Geschäftsleute die Angewohnheit, alles besser wissen zu wollen, was zu meinungslosen, unengagierten Reklameagenten führe. 109 Vor allem die Zunahme und Differenzierung der Angestelltenberufe, die nicht - wie traditionell z. B. bei den Handlungsgehilfen vorgesehen - als Ziel den Schritt in die Selbständigkeit anstrebten, führte dazu, daß diese Gruppe Gegenstand zeitgenössischer Betrachtung wurde. Die in der damaligen Forschung als ,neuer Mittelstand' bezeichnete Gruppe umfaßte keineswegs nur Angestellte. Böttger ordnete 1901 den Rayonchef eines Warenhauses, aber auch Journalisten, Büropersonal und Angehörige der freien Berufe diesem neuen Mittelstand zu. 110 1909 zählten zu den Berufsgruppen des neuen Mittelstandes Handlungsgehilfen, technische Angestellte, Büroangestellte, freie Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller und Künstler), Beamte und „obere Schichten" ux der Arbeiter. Wernicke betonte den hohen Anteil neuer Berufe, der „Zwischenberufe der Agenten, Acquisiteure usw. " m - Reklamefachleute könnte man hier ergänzen - in den neuen Industrien und Geschäftszweigen und speziell des arbeitsteiligen Großbetriebes. Bestimmte Eigenschaften dieser Gruppe charakterisierte er als , modern'. „Gerade der neue Mittelstand ist es ja, der durch seine Bildung und die Entwicklung der Technik der Träger und die Seele der modernen Entwicklung, des Fortschritts und der Freiheit geworden ist.. " m Müffelmann
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Higinbotham, S. 95. Ernst Growald: Amerikanische und Deutsche Reklame, in: Die Reklame, Bd. 2, S. 57-61, S. 57. 109 Vgl. ebd., S. 59. 110 Hugo Böttger: Vom alten und neuen Mittelstand, Berlin 1901, S. 8, 38. 111 Johannes Wernicke: Der Mittelstand und seine wirtschaftliche Lage, Leipzig 1909, S. 97. 112 Ebd., S. 7. 113 Ebd., S. 10. Er stellte diesen neuen Mittelstand dem ,alten4 gegenüber, den er als fortschritts- und damit warenhausfeindlich definierte. Ein wichtiger Unterschied sei die Bildung als Kennzeichen des neuen Mittelstandes, während er das Streben nach Selbständigkeit und Besitz dem alten zuschrieb. 108
I. Die Professionalisierung der Spezialisten f r Reklameorganisation
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schloß sich ihm an und betonte ebenfalls den Zusammenhang des neuen Mittelstandes mit der „modernen kapitalistisch-maschinellen Entwicklung" .UA Exemplarisch - wenn auch an einem wahrscheinlich etwas untypischen Beispiel - läßt sich der Werdegang eines bekannten Reklamefachmannes nachzeichnen. Hans Weidenmüller wurde 1881 geboren, besuchte zunächst ein Lehrerseminar und konnte dann wegen seines guten Examens studieren. Sich selbst bezeichnete Weidenmüller als Schüler der Psychologen Wundt und Stumpf sowie des Kunsthistorikers Wölfflin. Redlich sah in Weidenmüllers Herkunft, einerseits Pfarrer und Lehrer, anderseits Plauener Gardinenverleger, eine „ erbliche kaufmännische Veranlagung". 115 Weidenmüller entwickelte einen geradezu missionarischen Eifer in seiner alles umfassenden und alles verbessernden Sprachreform und publizierte zahlreiche Bücher und Broschüren zur Neuordnung des Werbewesens. In Leipzig gründete Weidenmüller, der den Begriff ,Reklame' verwarf, und dem es um eine prägnante, klare Werbesprache ging, 1907 die , Werkstatt für neue deutsche Wortkunst 4 (ab 1910 ,werbewerkstatt zum federmann 4). Neben eingängigen Markennamen entwarf er diverse Texte und Reklamegedichte. Im übrigen engagierte er sich auch für die Reform der Behördensprache. 1908 veröffentlichte er sein erstes Buches ,Vom sprachlichen Kunstgewerbe 4. Ein Rezensent lobte dieses Buch als vielversprechend und notwendig. „Ein vernünftiger Fabrikant und Geschäftsmann legt wieder Wert auf eine künstlerische und des Zweckes würdige Ausgestaltung seiner Produkte. Nur die sprachliche Vermittlung zwischen ihm und dem Publikum wird immer noch mit den allerbilligsten Mitteln bestritten. " Als Ziel müsse endlich eine „Einheit des Wortsinnes und des sinnlichen, typographischen Eindruckes 1 6 erreicht werden. Ab 1909 gab Weidenmüller die Zeitschrift ,Vom sprachlichen Kunstgewerbe4 heraus, die mit der ,Werkstatt für neue deutsche Wortkunst 4 den „Kampf gegen die sprachliche Unkultur" U1 unterstützen und die Entwicklung der Sprache hin zu einer größeren Sachlichkeit und Schlichtheit ergänzen sollte. Einen bildlichen Ausdruck sollte die Sprachreform in entsprechend sorgfaltiger Druckgestaltung finden. 1910 klagte Weidenmüller, daß seine „Forderungen 114
Müffelmann, S. 78. Redlich, S. 115. Vgl. auch zum 50. geburtstag. Weidenmüller starb 1936. Er veröffentlichte insgesamt 33 Bücher, 800 Aufsätze und hatte ab 1914 die Schriftleitung der Mitteilungen des VDR4 inne, vgl. Schmiedchen, S. 52. 116 Kunstgewerbeblatt, Jg. 19/1909, S. 139. In der selben Zeitschrift inserierte Weidenmüller für sein Buch - später für seine ,Werkstatt für neue deutsche Wortkunst'. 117 Hans Weidenmüller. Unser Arbeitsplan, in: Vom sprachlichen Kunstgewerbe, Heft 1/1909, S. 1. Die Zeitschrift warb in jedem Heft für die Werkstatt und druckte regelmäßig Preislisten für Drucksachen ab. In Artikeln wurden Künstler des engeren Umkreises vorgestellt. Vgl. auch ders.: Nochmals: Vom sprachlichen Kunstgewerbe. Für und wider, in: Kunstwart, 2. Februarheft 1909, S. 203-204. 115
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E. Die Berufszweige der Reklamebranche
sachlich vornehmer Sprachgestaltung natürlich gerade von unseren Fabrikanten und Beamten weder beachtet noch verstanden'