Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne: Räume, Routinen und Strukturen 1870–1930 [1 ed.] 9783205207023, 9783205794226


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German Pages [413] Year 2018

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Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne: Räume, Routinen und Strukturen 1870–1930 [1 ed.]
 9783205207023, 9783205794226

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Kulturen des Wahnsinns (1870–1930) Band 4





Beate Binder Cornelius Borck Volker Hess (Hg.)

Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne

Räume, Routinen und Störungen 1870–1930

2018 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Historisches Psychiatriearchiv der Charité, Krankenakte NH 9/6 20 VHH.

© 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Grünau Satz: Bettina Waringer

ISBN 978-3-205-20702-3

Inhalt

Beate Binder, Cornelius Borck und Volker Hess

Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne – Zur Einführung . . . . . . . . . . . 7

I. Räume der Erregung Sven Bergmann

Berlin Noir. Großstadtschwindel und Großstadtreportage als parasitäre Unternehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Anne Gnausch

Illegales Vergnügen. Kokainhandel und Kokainkonsum im Berlin der Weimarer Zeit* . . . . . . . .

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Dorothea Dornhof

„Die Börse handelt im Affekt.“ Spekulation zwischen effektiver Zukunftsschau und rationalem Wahn . . . . . .

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Beate Binder

Moralische Landschaften. Die Figur der Prostituierten und die Konstitution von Stadt um 1900 . . . . . . . 123

II. Abwege der Routine Anne Gnausch und Volker Hess

Rettungswesen, Stadtmission und die Psychiatrisierung des Suizids, 1885–1930 . . . 159

Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Rausch – Sucht – Wahnsinn. Die Hamburger Drogenszene auf St. Pauli in den 1920er-Jahren* . . . . . . . . . 195

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Inhalt

Sonja Mählmann und Cornelius Borck

Briefflut und Papierstau. Angehörige als Adressaten und Akteure in der Anstaltskommunikation . . . . . 229

Johannes Kassar

Der transitorische Wahnsinn. Zur Genealogie des epileptischen Dämmerzustandes (1867–1876) . . . . . . . . 261

III. Ordnungen der Störung Thomas Beddies und Judith Hahn

Vom Unbehagen in der Psychiatrie. Psychopathologische Deutungen von Umbruch und Revolution 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Gabriele Dietze

Queering Jewish Self-Hate. Affektstörung und Maskulinität in wilhelminischen Kulturkriegen . . . . . . . . 317

Sabine Fastert

Das kreative Potenzial der Störung. Mandalas und die abstrakte Kunst um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Sophia Könemann und Armin Schäfer

Das Fabulieren im psychiatrischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Kurzbiographien der AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Beate Binder, Cornelius Borck und Volker Hess

Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne – Zur Einführung

In seinem Bericht über „Die alte Lady im Van“ erzählt Alan Bennett von einer alten Frau, die sich mit ihrem klapprigen Lieferwagen in der Einfahrt seines Hauses im Londoner Stadtteil Camden Town eingerichtet hat.1 Aus der Erlaubnis, kurzfristig zu bleiben, wurden 15 Jahre, die eine Herausforderung für die BewohnerInnen des Stadtteils darstellten – olfaktorisch, weil sich die Frau in diverse Schichten aus der Altkleidersammlung hüllte und in all den Jahren nur wenige Male ein Bad benutzte, und im täglichen Umgang: Sie lächelte nie, sondern wehrte ihre Umwelt mit stechendem Blick ab, und verblüffte ihre Mitmenschen immer wieder mit ordinären Kraftausdrücken und formvollendet ruppigen Manieren. Dennoch wurde sie Teil des von Altlinken und einer Künstlerboheme geprägten Stadtteils. Mit der Zeit erfuhr Alan Bennett einiges über ihre Geschichte: Geboren als Miss Shepard war sie in jungen Jahren eine vielversprechende Pianistin gewesen, doch ein tödlicher Unfall, den sie meinte, selbst verschuldet zu haben, hatte sie aus der Bahn geworfen. Nun hielt sie sich für die bessere Eiserne Lady, hatte eine eigene Partei gegründet, verbreitete ultrarechte Parolen und machte sich Sorgen, dass sie, habe sie Thatcher erst einmal abgelöst, in die Downing Street ziehen – und damit ihren alten Lieferwagen verlassen – müsse. Zunächst als Beitrag für eine Literaturzeitschrift konzipiert, avancierte Bennetts „ziemlich wahre Geschichte“ schnell mit großem Erfolg zu einem Theaterstück, einem Hörspiel und schließlich einem abendfüllenden Kinofilm. Die große Resonanz spricht von einer Ambiguität, die jenseits aller Sozialromantik direkt ins Thema dieses Bandes führt: Der Film zeigt zunächst die konkrete seelische Not psychischen Leidens, die sich hinter dem offensichtlichen Verstoß wider alle sozialen Regeln urbanen Miteinanders verbirgt. Armut und Obdachlosigkeit erhalten so ein individuelles Gesicht und eine persönliche Geschichte. Gezeigt wird zugleich auch, wie dieses Leben in den Zwischenräumen städtischer Orte und Infrastrukturen die etablierten Routinen stört und damit zur Herausforderung wird. Auf die seltenen Besuche der alten Dame folgten zum Beispiel stets fast reflexhafte Reinigungsorgien, mit denen Alan Bennett seine Räume in die alte Ordnung seines Lebens zurückzuführen suchte. Aber auch die politischen Ansichten der alten Dame lagen so weit jenseits eingeübter Umgangsformen, dass sie für die Umgebung nur schwer zu ertragen waren – was 1

Der britische Schriftsteller und Dramatiker Alan Bennett würdigte die besagte alte Dame mehrfach, zuletzt mit dem Film „The Lady in the Van“ (2016).

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einige Kritiker dazu veranlasste, das Porträt der Dame mit einem Film über Goebbels zu vergleichen.2 Der große Erfolg der Geschichte in ihren verschiedenen Adaptionen reicht dabei weiter als die Anteilnahme an einer exzentrischen Figur oder die Faszination über eine der alltäglichen Formen des Wahnsinns in der Großstadt. Denn in den verschiedenen dramaturgischen Bearbeitungen lässt Bennett deutlich werden, dass diesem alltäglichen Wahnsinn nicht mit dem Ruf nach Einweisung in eine psychiatrische Behandlungseinrichtung oder dem Einsperren in ein Erziehungs- beziehungsweise Altenheim beizukommen ist. Bennett kann im Stück und im Film städtische Orte als Möglichkeitsräume für ein als abweichend klassifiziertes Verhalten inszenieren, weil soziale Devianz und psychische Störung längst zu Merkmalen der Großstadt und zum Lokalkolorit bestimmter Stadtviertel avanciert sind. Die Stadt respektive die Großstadt mit ihrer dichten Uneinheitlichkeit erscheinen heute wie selbstverständlich als der quasi natürliche Ort für unangepasste Lebensformen im Dazwischen. Bennetts Geschichte der verrückten Aneignung einer städtischen Lücke fügt sich nahtlos in tradierte Bilder des Urbanen und trifft noch als Ausnahme auf eine etablierte Erwartungshaltung. Leiden, Devianz und Störung verweisen nicht nur auf die Probleme großstädtischen Lebens, sondern sind gelebte Verkörperungen von Größe, Dichte und Heterogenität – den klassischen Kennzeichen des Urbanen3 – konstitutiver Teil der Wahrnehmung von Urbanität. In der Verschränkung von Wahnsinn und Großstadt wird ein großstädtisches Lebensgefühl greifbar, das offenbar wie die Geschichte von der alten Lady im Van auf breite Resonanz stößt. Formen urbanen Wahnsinns gehören längst zum Bild spätmoderner städtischer Vielfalt. Was sich dabei zunächst als typischer Zusammenstoß von gelebtem Wahnsinn und in Routinen fixierter, alltäglicher Vernunft darzustellen scheint, ist zugleich das Ergebnis einer geschickten Verschränkung der Fallgeschichte mit einem dezidierten Vorschlag für deren Wahrnehmung und Einordnung. Durch die verschiedenen Schichten der Bearbeitung hindurch präsentiert Bennett einen „aktiven Blick“, der zur Produktion dieser Wahrnehmung der Stadt und ihrer BewohnerInnen beiträgt.4 Bennetts Versionen der Geschichte sind jenseits aller romantisierenden Idealisierung das Ergebnis einer spezifisch ausgerichteten Aufmerksamkeit für die beiläufigen und alltäglichen Konstellationen großstädtischen Lebens – einschließlich aller Widersprüche, Ambiguitäten und Ambivalenzen, die solchen Konstellationen eigen sind. Im aktiven Blick verkehren sich Haupt- und Nebensachen einer alltäglichen Episode so, dass Störungen als Normalfall hervortreten und die Zwänge der Normalisierung thematisiert werden können. 2 3 4

Tagesspiegel vom 16. April 2016 („Wahre Geschichte über mysteriöse Londoner Lady“). Wirth 1974. Vgl. hierzu auch Tuan 1977.

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Der mit dem Städtischen verschränkte Wahnsinn wird durch diesen „aktiven Blick“ als doppelte Konstellation von Störung im Normalfall und Zwang zur Normalisierung erkennbar. Diesem Wahnsinnsgefüge widmet sich der vorliegende Band. Er ist in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsgruppe Kulturen des Wahnsinns entstanden, die sich mit der Gleichzeitigkeit von werdender Großstadt und der sich zur Fachwissenschaft entwickelnden Psychiatrie befasst hat.5 Dabei stützte sich die Gruppe auf ihre interdisziplinäre Zusammensetzung, um das Quellenmaterial mit einem über Fachgrenzen hinweg reichenden Blick methodisch-epistemologisch zu reflektieren und dadurch die Geschichte vom Wahnsinn in der Großstadt in seiner Verschränkung zu rekonstruieren. Die hier vorgelegten Fallstudien nutzen das titelgebende Konzept „Wahnsinnsgefüge“ als heuristisches Instrument, um die wechselseitigen Verflechtungen von Psychiatrie und Großstadt in den Jahren von 1880 bis 1930 bis in ihre vielfältigen dabei wirksam werdenden Faktoren und Effekte nachzuzeichnen, ohne vorschnell in eine übergreifende Synthese zu münden, durch die nur der stereotype Topos vom Wahnsinn der Großstadt bedient würde. An diesem Standardnarrativ des verrückt-machenden Großstädtischen hat die Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert fleißig mitgestrickt, wie ein kurzer Blick zum Beispiel in das Lehrbuch von Emil Kraepelin, dem Lehrmeister der damals neuen Psychiatrie, bestätigt. Im Kapitel „Die Ursachen des Irreseins“ heißt es: Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die gesamten Lebensbedingungen, unter denen ein Volk sich befindet, einen nachhaltigen Einfluss auch auf die Häufigkeit des Irreseins hat. [...] Gerade die grossen Städte mit ihren erhöhten Anforderungen an die geistige und sittliche Kraft des Einzelnen, mit ihrer Erschwerung der Lebensbedingungen und ihren mannigfachen Verführungen zu Ausschweifungen aller Art sind es, welche bei weitem den grössten Beitrag zu der raschen Vermehrung der Geisteskrankheiten und des Selbstmordes liefern. Dort sind die Umwälzungen, die unser Zeitalter in den gesamten Lebensverhältnissen herbeigeführt hat, am schärfsten ausgeprägt. Die vollständige Umgestaltung des Arbeitsbetriebes durch Dampf und Elektrizität, die Vernichtung des Handwerks, die Entwicklung des Fabrikwesens, der ins Ungeahnte gesteigerte wirtschaftliche und geistige Verkehr stellen heute Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Einzelnen, die weit über das früher Gewohnte hinausgehen.6

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Die Forschungsgruppe fasste dabei ‚Wahnsinn‘ als absichtlich unscharfe Bezeichnung für einen Bereich von Phänomenen, der sich nicht auf medizinisch Definiertes reduzieren lässt. Vielmehr muss die Beschreibung des Wahnsinns kulturwissenschaftliche und medizingeschichtliche Perspektiven verbinden, weil dieser Bereich eine Vielfalt kultureller Figurationen, Topographien und Typologien moderner Alterität umfasst. Kraepelin, 6. Aufl. 1899, 88 f.; 7. Aufl. 1903, 109 f.

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Als eindeutig und unabweisbar führt Kraepelin eine Vielzahl sozialer Faktoren ins Feld, die sich nicht nur für ihn zu einer geschlossenen Kette geradezu erdrückender Beweislast fügen – von den „mannigfachen Verführungen zu Ausschweifungen aller Art“ über die Umwälzungen der „gesamten Lebensverhältnisse“ vor dem Hintergrund von Technisierung und Industrialisierung bis hin zum „ins Ungeahnte gesteigerten wirtschaftlichen und geistigen Verkehr“.7 So lässt sich Kraepelin als ein Kronzeuge für jene kulturpessimistische Einschätzung der tiefgreifenden Veränderungen und des nervenzerrüttenden Einflusses modernen Großstadtlebens heranziehen, die im deutschen Kaiserreich weit verbreitet war.8 Konträr zu einseitig biologisch-genetischen Erklärungen, begründete dieser Topos eine im Sozialen basierte Erklärung psychischer Erkrankungen, die in der These vom „urban upbringing“ als Schizophrenie-Risiko bis heute weiterlebt.9 Bei näherem Hinsehen wird allerdings rasch deutlich, wie in sich spannungsvoll dieses Narrativ schon damals war, zumindest für Kraepelin. Denn ein Blick in die verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs zeigt, wie der Psychiater beständig an seiner Aussage feilte. Zwar betrachtete Kraepelin die Großstadt über den gesamten Zeitraum als ursächlichen Faktor für die schon von den Zeitgenossen als beunruhigend wahrgenommene und heftig diskutierte Zunahme der Geisteskrankheiten, aber sie galt ihm auch als Zeichen zivilisatorischen Fortschritts und damit als Bewährungsprobe für alle Individuen. Die Anpassungen und Änderungen seiner Argumentation in der Abfolge der Auflagen lassen sich deshalb geradezu als seismographische Veränderungen dafür lesen, wie Kraepelin die Psychiatrie durch die Entstehung der Großstadt herausgefordert sah. Angesichts dieser engen Verflechtung von Großstadt und Wahnsinn lohnt sich deshalb ein genauerer Blick auf diese Anfänge. Besonders alarmiert war Kraepelin offenbar in den Jahren um die Jahrhundertwende. Das obige Zitat steht textidentisch in der sechsten Auflage von 1899 wie auch der siebten von 1903 – und entsprechend endzeitlich muten in diesen Auflagen die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen an: Die Jahrhundertwende sei eine „Übergangszeit“, „in welcher sich der Kampf ums Dasein naturgemäß besonders heftig und aufreibend gestaltet“. Nur „ein neues Geschlecht“ könne diesen Kampf „mit frischer Kraft und besseren Waffen“ gewinnen.10 Gut zehn Jahre zuvor hingegen hatte Kraepelin den Zusammenhang von Großstadt und Geisteskrankheit noch nicht auf Fabrik und Dampfmaschine zurückgeführt. Vielmehr hatte er ihn zu diesem Zeitpunkt mit der Verdichtung des Sozialen, der „intensiven und verwickelten [...] Concurrenz der Individuen und der Lebensinteressen“ zu erklären versucht. Entsprechend 7 8 9 10

Ebenda, 7. Aufl. 1903, 110; vgl. hierzu Radkau 1994. Eckart 1997; Radkau 1998; Peukert 2003. Vgl. Simmel 1903; Cantor-Graae 2007. Kraepelin, 6. Aufl. 1899, 89, Kraepelin, 7. Aufl. 1903, 110.

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war seine Deutung zu diesem Zeitpunkt weniger kulturpessimistisch ausgefallen – ganz im Gegenteil hatte er eine Beziehung zu „einem stärkeren Hervortreten echter Humanität“ gesehen, weil „diese das Loos der unglücklichen Kranken zu verbessern“ suche.11 Zehn Jahre später wiederum, also gegen Ende des Kaiserreichs und in der auf vier Bände angeschwollenen achten Auflage, beließ es Kraepelin nicht mit der affirmativen Klage über die krankmachende Großstadt. Er ging stattdessen ausführlich auf die internationale Literatur zur Sozioepidemiologie psychiatrischer Erkrankungen ein. Der kausale Zusammenhang zwischen Großstadt und Wahnsinn erwies sich angesichts des zivilisatorischen Fortschritts der Psychiatrie und dem damit verbundenen Aufbau einer flächendeckenden, wissenschaftlich fundierten Anstaltsversorgung als zunehmend brüchig: Allerdings beweisen alle diese Zahlen zunächst nur eine Zunahme der versorgungsbedürftigen Geisteskranken; ein unverhältnismäßiges Anwachsen der Erkrankungsfälle selbst ist dadurch noch nicht dargetan. Mannigfaltige Ursachen wirken zusammen, um die Anstaltsbedürftigkeit der Kranken zu steigern, auch wenn ihr Verhältnis zur Bevölkerung das gleiche bliebe. Dahin gehört vor allem die bessere Kenntnis des Irreseins [...]. Weiterhin kommt wesentlich in Betracht die mit der Entwicklung der psychiatrischen Wissenschaft immer fortschreitende Vervollkommnung der Anstalten, die nach und nach das tief eingewurzelte Vorurteil gegen das Irrenhaus vermindert und darum den Eintritt der Kranken in die Anstalten befördert.12

Nicht die Fortschritte von Zivilisation und Technik im großstädtischen Leben selbst seien die Ursache für die Zunahme psychischer Störungen, argumentierte Kraepelin nun, denn die Anstaltsbedürftigkeit läge in hochindustrialisierten Gegenden wie dem Ruhrgebiet oder Schlesien nur bei etwa einem Drittel der Rate für Berlin. Vielmehr müsse primär die „durch das Großstadtleben außerordentlich geförderte“ Verbreitung von Alkohol und Syphilis für die Zunahme der Geistesstörungen verantwortlich gemacht werden. Somit hätten „wir nicht unsere Kultur, sondern nur unseren Mangel an wahrer Gesittung anzuklagen“.13 Jetzt begriff Kraepelin Geistesstörungen nicht als direkte Folge einer Überforderung schwacher Menschen durch zu komplex gewordene soziale Anforderungen, sondern als den widersprüchlichen Effekt eigentlich positiv zu bewertender psychischer Dispositionen und sozialer Institutionen. Insbesondere das Phänomen der mit der Unfallversicherung aufkommenden „Rentenneurosen“ belegte in Kraepelins Augen, welche paradoxen Wirkungen eine

11 Kraepelin, 2. Aufl. 1887, 51. 12 Kraepelin, 8. Aufl. 1909, 162 f. 13 Ebenda, 167.

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gut gemeinte, aber falsch ausgerichtete Sozialpolitik haben konnte.14 Sie zwinge die Kranken geradezu, ihre Gesundungsabsichten aufzugeben, um nicht aus der staatlichen Versorgung herauszufallen. Ähnlich verwickelte Zusammenhänge zwischen den Anforderungen und Antriebskräften des modernen Lebens könnten auch Zwangsstörungen zugrunde liegen, die nämlich „bei Völkern, die unter einfacheren Bedingungen leben, anscheinend gänzlich unbekannt sind“, während sie als Effekte übersteigerter Verantwortlichkeit von Bedingungen modernen Lebens regelrecht hervorgerufen würden: „Das Gefühl der steten Verantwortlichkeit, das durch Erziehung und Leben in uns mit beherrschender Stärke gezüchtet wird, bildet den Ausgangspunkt für eine Menge von Zweifeln und Befürchtungen, die unsere Kranken quälen.“15 Ein paar Seiten zuvor waren die gesteigerten Lebensverhältnisse der Großstadt selbst gar nicht mehr als ursächlich für Geistesstörungen angesetzt worden, sondern als Faktoren, die das Irresein aus dem geschützten häuslichen Bereich in die Öffentlichkeit drängen und in die Anstalt abschieben: Die scharfe Ausnutzung jeder einzelnen Arbeitskraft läßt den Kranken als ein äußerst störendes Familienglied erscheinen, zu dessen Pflege und Beaufsichtigung niemand verfügbar bleibt, und das enge Beisammensein in den Städten macht dem minder Bemittelten die häusliche Verpflegung eines Geisteskranken wegen der damit verbundenen Störungen und Gefahren so gut wie unmöglich.16

Und regelrecht umgekehrt hat sich für Kraepelin das Verhältnis zwischen „gesteigertem Verkehr“ und der Zunahme von psychiatrischen Fällen: Nun erleichterten die verbesserten Verkehrsbedingungen die Aufnahme von PatientInnen in die Anstalten, denn je „rascher [diese] erreichbar sind, desto näher wird den Angehörigen eines Kranken die Aufnahme daselbst gerückt“. Gleichzeitig erwachse „mit der Erleichterung eines Entweichens durch die vielen Verkehrsmittel“ der psychiatrischen Anstalt „die Schwierigkeit seiner Überwachung“.17 Hinter dem Topos vom Wahnsinn (in) der Großstadt verbarg sich also schon zu Kraepelins Zeiten ein vielschichtiger Raum. Zunehmend genauer registrierte das kanonische Lehrbuch der sich nun endgültig als professionelle Disziplin etablierten Psychiatrie die eigene Beteiligung und Verwicklung an dem als kritisch erlebten Anstieg urbanen Wahnsinns. Die Psychiatrie reagierte keineswegs nur, sie übernahm auch einen aktiven Part im Wechselspiel mit der entstehenden Großstadt. Stadt und Psychiatrie entpuppten sich als ein komplexes 14 15 16 17

Oppenheim 1889; Schmiedebach 1999. Kraepelin 1909, 168. Ebenda, 163. Ebenda, 162 f.

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Gefüge städtischer Einrichtungen, wissenschaftlicher Institutionen, urbaner Räumer, sozialer Interaktionen, individueller Lebensstile, psychiatrischer Theorien und öffentlicher Diskurse. In diesem Geflecht von Ursachen und Wirkungen stellte die Psychiatrie nicht nur neue Deutungsmuster und Erklärungsansätze wie „verminderte Leistungsfähigkeit“, „Begehrensneurose“ oder „Zwangshandlungen“ bereit, die den zeitgenössischen Diskurs zur Seelenlage weiter anheizten, sondern sie erweiterte damit auch die Handlungsmöglichkeiten und Spielräume aller Beteiligten, von den städtischen Behörden über die WissenschaftlerInnen bis zu den hospitalisierten Kranken und ihren Angehörigen. Die Psychiatrie war keineswegs nur Lösung, sondern Teil des Problems – zumindest ansatzweise scheint in Kraepelins Ausführungen auf, wie die neue Disziplin mit ihren Formen des Wissens und ihren fachlich legitimierten Praktiken selbst dazu beitrug, jene Zwischenräume, widersprüchlichen Konstellationen und Störungsmuster zu schaffen, in denen sich psychiatrisches Kranksein fortan manifestierte. Selbst steigende Einweisungszahlen galten ihm nicht als eindeutiger Hinweis auf eine erhöhte Inzidenz psychischer Störungen, weil sie auch Zeichen der wachsenden Akzeptanz einer Anstaltsbehandlung wie der Verbesserung psychiatrischer Versorgung sein konnten.18 Festhalten lässt sich somit, dass die Psychiatrie auf diffizile Weise in das Werden der neuen Zeit verwoben war. Sie stiftete den Narrativen vom nervösen Zeitalter, von der Wahnsinn machenden Großstadt und von den psychischen Gefährdungen modernen Lebens wissenschaftliche Erklärungen, mit denen sie sich zugleich etablieren konnte. Selbst einem Großmeister wie Emil Kraepelin gelang es nicht, die Psychiatrie aus der Verwicklung in die Gesellschaft herauszulösen und deren Wahnsinn auf ein medizinisch zu bewältigendes Problem zu reduzieren, für das allein die Psychiatrie die Lösung bot. Die Rollen waren somit schon damals nicht eindeutig verteilt: Weder war die Großstadt alleiniger Produzent psychischer Störungen noch die Psychiatrie nur deren Abhilfe. Mit ihren wissenschaftlichen Erklärungen und Theorien betrieb die Psychiatrie gewissermaßen doppeltes Spiel. Sie lieferte Deutungsund Handlungsmuster für ein Problem, bei deren Bearbeitung sie auf ihre eigene Beteiligung stieß. Deshalb durchziehen die Narrative eines urbanen Wahnsinns bereits von Anbeginn an eine subtile Ambiguität. Ihre zeitdiagnostischen Deutungsmuster beruhen auf ambivalenten Konstruktionen, deren Widersprüchlichkeit im konkreten Beispiel hervortritt. Hier setzt der vorliegende Band an. Die einzelnen Beiträge legen in konkreten Fallstudien die Kräfte und Gegenkräfte frei, aus deren Zusammenspiel – oftmals gegen geäußerte Inter­ essen und intendierte Ziele – psychiatrische Argumentationen und klinische Versorgungsformen ebenso wie neue Alltagsroutinen und Infrastrukturen entstanden, großstädtische Lebensformen entworfen, reguliert, eingeübt und gesteigert wurden. Die Einzelstudien sind bei der Gliederung des Bandes ihrerseits zu spannungsvollen Konstellationen gefügt: Die drei 18 Kraepelin 1909,162 f.

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Sektionen Räume der Erregung, Abwege der Routine und Ordnungen der Störung insistieren auf der wechselseitigen Abhängigkeit von Großstadt und Wahnsinn, um das vorgefertigte Narrativ von der Metropole als Quelle des modernen Wahnsinns zu unterlaufen.

Räume der Erregung Was sich bei Kraepelin als eher ruhige Reflexion über eigene Wahrnehmungen in kontinuierlichen Neuformulierungen zeigt, führte im zeitgenössischen Diskurs um die Stadt gelegentlich zu eruptiven Ereignissen und Diskussionen. Oft verdichteten sich diese, wie später bei Bennett, in einzelnen Figuren, die dann ins Zentrum von Auseinandersetzungen rückten, weil sie die Veränderungen in idealtypischer Weise zu verkörpern schienen.19 Solche Diskursverdichtungen machen diese Figuren für die Analyse besonders interessant, weshalb die in der ersten Sektion versammelten Beiträge einzelnen (immer auch intersektional kodierten) Figuren in die Erregungsräume der Stadt folgen: Der Stadtforscher (Sven Bergmann), der hedonistische Kokainkonsument (Anne Gnausch), der Spekulant (Dorothea Dornhof ), die Prostituierte (Beate Binder) sind dort zu finden, wo Neues zur Diskussion gestellt wurde; sie führen zu jenen urbanen Räumen, die sie nutzen, besetzen und gestalten. Während die letzten drei Figuren – der Kokainist, der Spekulant und die Prostituierte – Epizentren der Auseinandersetzung um Stadt bildeten, trug die erste Figur, der Stadtforscher, maßgeblich dazu bei, durch das Ausleuchten bislang unbekannter Räume den „aktiven Blick“ auf Stadt zu formieren und damit die ZeitgenossInnen in das Neue einzuüben. Die Räume der Erregung finden sich zunächst in den innerstädtischen Vierteln: Dort, wo Orte des Vergnügens und des Konsums entstanden, etablierten sich auch Umschlagplätze für Drogen, zum Beispiel für das lange Zeit legal zu konsumierende Kokain, und hier scheinen Prostitution und Animierwesen besondere Blüten zu treiben. Mitten im Zentrum ist auch die Börse mit ihren Spekulanten angesiedelt, die für Geldwirtschaft und schnellen Handel mit unsichtbar gewordenen Waren stehen. Die neuen Räume der Erregung lockten von Beginn an auch diejenigen auf den Plan, die als JournalistInnen, SozialkritikerInnen oder KundschafterInnen diese Entwicklungen beschreibend zu durchdringen suchen. Gemeinsam ist den Figuren und den dazugehörigen Räumen, dass mit und durch sie Großstadterfahrungen verbalisiert, kanalisiert und – in der Rhetorik der Störung zwischen Faszination und Abwehr changierend – diskutiert beziehungsweise kritisiert werden (können). In der öffentlichen Erregung über diese neuen Phänomene großstädtischen Lebens und die sie tragenden Figuren gewinnen unterschiedliche öffentliche, offene und geheime Räume Konturen, zeigen sich Ordnungsbestrebungen wie Transgressio19 Zur Figurierung sozialer Prozesse vgl. Binder 2012 sowie die dort zitierte Literatur.

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nen. Menschen, Räume und die daran geknüpften Narrative und Imaginationen setzen sich zu komplexen Gefügen zusammen, in denen lokale Routinen, obrigkeitsstaatliche Regulierungen und je spezifische Transgressionen wechselseitig zur Emergenz des Urbanen beitragen. Wie BeobachterInnen selbst an der Konstitution des Beobachteten beteiligt sind, zeichnet der Beitrag von Sven Bergmann mit der Figur des Trickbetrügers im 21. Band der von Hans Ostwald herausgegebenen Reihe Großstadt-Dokumente nach. Bereits Ostwald hatte den Trickbetrüger als prototypische Figur des Großstädtischen identifiziert und deshalb Johannes Werthauer aufgefordert, ihr einen Band zu widmen. Dabei interessiert Bergmann weniger der Schwindel, der sich im Aufeinandertreffen von unwissenden Landmädchen mit gewitzten städtischen Betrügern Raum greift, als vielmehr der Stadtforscher, der diese Figuration sichtbar macht. Als eine Form der „Sociology Noir“, einer Stadtforschung, die vor allem an den dunklen, unbekannten und nicht gänzlich ausleuchtbaren Räumen interessiert war, gaben die Großstadt-Dokumente dem Ungeordneten, noch Entstehenden und in steter Veränderung Befindlichen viel Raum, um die Großstadt auf diese Weise in ihrer neuen Qualität beschreibund erlebbar zu machen. Sven Bergmann greift für seine Analyse der Großstadt-Dokumente Michel Serres’ Figur des Parasitären auf, um aus relationaler Perspektive auf den urbanen Verhandlungsraum zu schauen. Parasit und Störung, so sein Fazit, „gehören zu den Produktivkräften des städtischen Wandels“: Indem sie Relationen und Netzwerke herstellen, sorgen sie – wie hier das Beispiel des Schwindels zeigt – für Mobilität und Dynamik. Mit ihren Schilderungen des Nebeneinanders von Routine und Exzess, von Erlaubtem und Verbotenem, von heimlichen und öffentlichen Räumen trug die beginnende Großstadtforschung selbst dazu bei, das Großstädtische als realen wie imaginativen Raum zu formen. Beim Kokain-Konsum hingegen ging es zunächst um das Überschreiten etablierter Grenzen bürgerlicher Ordnung. Im Drogenrausch wird nicht nur die Störung, sondern auch das Urbane als dessen Voraussetzung sichtbar. In ihrem Beitrag folgt Anne Gnausch den Spuren des Rauschmitteldiskurses in das Berlin der 1920er-Jahre. Das „Geselligkeitsgift“ Kokain symbolisierte die Krise der Weimarer Republik. Die Beschreibungen dieses Lasters lesen sich dabei wie ein „Repertoire bürgerlicher Ängste“, und entsprechend wussten die BeobachterInnen die Figur des/der KokanistIn in den neu entstehenden Orten des Vergnügens zu verorten. Wie Karl Bonhoeffer ebenso bedauernd wie selbstkritisch feststellte, entzogen sich „Gelegenheitsschnupfer“ mehrheitlich der klinischen Beobachtung. Die gleichwohl zahlreichen medizinischen Beschreibungen konnten deshalb keineswegs durch verlässliche Zahlen beeindrucken. Dennoch festigte sich das Bild von der Drogenmetropole Berlin: Das weiße Pulver fand als Phantasma zahlreich Eingang in die Repräsentationen der Stadt. Damit wurde – angefangen von den Tänzen der Anita Berber, über Gedichte und Bilder bis hin zu medizinischen Berichten – der Kokainrausch für ein breites Publikum erfahrbar. Vergnügen, Rausch und Stadt: In dieser Dreiheit entfaltete sich das Faszinosum der Großstadtnacht, zugleich wurden

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KokainnutzerInnen stigmatisiert und marginalisiert. Sie verkörperten das Laster und das Verruchte, auch wenn dies kaum an den vorliegenden Daten aus der Charité zu verifizieren ist. Einen ähnlich ambivalenten Ort stellte die Börse dar. Sie spricht als Finanzplatz von der Prosperität Berlins als aufsteigender Finanzmetropole, auch wenn das Tun vor Ort, der Handel mit Immateriellem den Blicken entzogen blieb. Dafür steht der Spekulant, der das Unberechenbare der Aktienkurse prospektiv zu managen versucht, als Kippfigur der Unwägbarkeit urbanen Lebens im Fokus der zeitgenössischen Aufmerksamkeit, als Ausdruck genialischer Produktivkraft, die vor dem Exzess bewahrt werden muss. Dorothea Dornhof zeichnet die ambivalenten Räume und Diskurse um den ‚Spekulantenwahn‘ auf der Grundlage zeitgenössischer Berichte und Bilder nach. Bereits in den Beschreibungen des imposanten Börsenneubaus in der Burgstraße zeigt sich, wie unlösbar in der zeitgenössischen Wahrnehmung Börse, Glücksspiel und Schwindel miteinander verwoben sind. Die Figur des Spekulanten bildete gewissermaßen eine Inkarnation des Rauschs an Zahlen, Geräuschen und Transaktionen. Im Spekulanten durchdringen sich Kalkül und Rausch wechselseitig. Wenn das ‚Spiel‘ der Spekulation nicht länger durch den rationalen Handel in Schach gehalten werden konnte, gewann gelegentlich der Spekulantenwahnsinn die Oberhand, was die Beunruhigung der ZeitgenossInnen noch steigerte. In der zeitgenössischen Diskussion um die Figur des Spekulanten lässt sich somit eine Genealogie der Unwägbarkeiten des Ökonomischen freilegen, die bis in die Gegenwart reicht. Die Prostituierte schließlich ist par excellence die schillernde Figur der öffentlichen Diskussion über die Großstadt. In der Figur werden zum einen die Grenzen zwischen anerkannten und nicht anerkannten Sexualitäten verhandelt, zum anderen wird die Stadt Berlin als Gesamtgebilde fixiert und eingeordnet, bewertet und abgestempelt. Dies wird deutlich in dem Beitrag von Beate Binder, der durch einige der Vergnügungszonen der neuen Metropole Berlin führt. Sie zeigt dabei das dichte Nebeneinander von Faszination und Abwehr und zugleich die dichte Verknüpfung von Sexualität und Stadt. Die Erregung, die die Prostituierte in und mit den ihr zugeordneten Räumen produzierte, geht in zwei Richtungen: Sie stand sowohl für die Möglichkeitsräume und Verheißungen der Stadt als auch für deren Verführungskraft und die Ahnung des Zerfalls sozialer wie moralischer Ordnungen. Die Grenzen des großstädtischen Experimentierens und seiner Effekte bis hin zum Wahnsinn wurden stetig neu verhandelt. Die Beiträge dieser Sektion begreifen die Kategorie des Wahnsinns als regulierende Kraft insofern, als dass das Vokabular der Alterität Möglichkeiten der Pathologisierung und Exterritorialisierung nicht erwünschter Praktiken und Phänomene erlaubte. Zugleich waren die Verwalter des Wahns, also vor allem Psychiater, aber auch Mediziner anderer Disziplinen, Sexualwissenschaftler und Kriminologen, als Experten aufgerufen: Sie sollten mit ihrem Urteil das Eingreifen und Regulieren legitimieren. Ganz anders die ErkunderInnen und BotschafterInnen der Großstadt, die sich als VerteidigerInnen des

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Neuen positionierten. Ihnen kam eine besondere Rolle zu – ebenso wie den LiteratInnen und EssayistInnen, den JournalistInnen und VerfasserInnen der vielen kleinen Schriften, die um die Jahrhundertwende in unzähligen Verlagen publiziert wurden. Ihre Beschreibungen, die sich weder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung noch dem kontrollierenden Zugriff zuordnen lassen, sind vielmehr selbst Dokumente aus den Räumen der Erregung, welche die Auseinandersetzung mit der Stadt vorantrieben, politische Prozesse ankurbelten oder schlicht neuen Eindrücken Ausdruck verleihen sollten. Die Räume der Erregung und die Figuren, die sie bevölkern, verweisen auf Stoßkanten, Reibungsflächen, Bruchzonen und Verwerfungen urbanen Lebens. Damit gerät immer beides in den Blick: Die Herausbildung der Großstadt, ihrer Phantasmen und Imaginationen, zugleich aber auch die Etablierung von moralischen wie räumlichen Ordnungen und von Infrastrukturen, mit denen die Kontingenz der Entwicklungen einerseits beherrschbar, andererseits in ihrer Ambiguität erlebbar (gemacht) wurde. In diesen Auseinandersetzungen fand die werdende Großstadt zu ihrer Gestalt. Im Reden und Streiten über die angemessene Bewertung dieser Figuren wurde das Urbane als räumliches wie soziales Gebilde koproduziert. Der sprichwörtliche Wahnsinn der Stadt steht aus dieser Perspektive nicht so sehr für das Störende. Vielmehr zeugt er von jenen sich herausbildenden Praktiken, die Wege des Umgangs mit der als dissonant, unvereinbar und widersprüchlich erlebten Dichte, Größe und Vielfalt erprobten, auf die Herausforderungen von Technisierung und Medialisierung reagierten und in sich immer weiter differenzierende Wissensräumen zu integrieren suchten. Störungen konnten im Rausch oder Exzess produktiv werden – oder auch in jenen abseits alltäglicher Routinen liegenden Momenten, in denen sich das Großstädtische bereits den ZeitgenossInnen als emergentes Phänomen offenbarte.

Abwege der Routine Routinen sind „ein Handeln nach Regeln, welche sich durch bloße Uebung gebildet haben, ohne daß man sich ihres Grundes bewußt wäre“. So definierte der Brockhaus Mitte des 19. Jahrhunderts den aus dem Französischen übernommenen Begriff.20 Gerade die Medizin basiert wesentlich auf Routinen. Ihre Ausübung lässt sich, wie in Berlin schon lange praktiziert, am besten in „Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers“ vermitteln – im Gegensatz zur „Naturkunde der Organismen“, die „als reine Wissenschaft, allgemein, ohne Beziehung, systematisch“ gelehrt werden müsse, wie die Gründer der Berliner Universität gemeint hatten.21 Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert hatten Routinen jedoch auch 20 Brockhaus Conversations-Lexikon 1864, 714. 21 Reil 1910; vgl. Hess 2010.

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den schalen „Beigeschmack einer glänzenden, aber erstarrten Manier“, wie Meyers Großes Konversationslexikon aus dem Umfeld der Bühne und des Schauspiels referiert.22 In Routinen entsteht und verfestigt sich das Soziale. Das vor-urteilende Einüben und Einspielen von manuellen Verrichtungen, komplizierten Abläufen oder beziehungsreichen Tätigkeiten entlastet durch Mechanisierung, vermeidet Unlust und Frustration und verschafft somit Befriedigung. So heißt es zumindest im Historischen Wörterbuch der Philosophie, das Routine als Gewohnheit begreift – die „innerhalb eines je bestimmten gesellschaftlichen Rahmens durch Gewöhnungsprozesse (öftere Wiederholung derselben Vorgänge) entstehende Prädisposition“.23 Routinen zähmen den Dschungel der Großstadt: Sie ermöglichen und vereinfachen den zwischenmenschlichen Umgang, wirken sozialisierend auf die Ausführenden, nehmen Entscheidungen ab, ohne Aufmerksamkeit und Bewusstsein zu beanspruchen, und sie fangen nicht zuletzt den Einbruch des Ungewohnten oder Unvorhergesehenen ab – solange die Routine hält. Doch nicht der Bruch der Routine, sondern die Momente der Spannung zwischen einer produktiven Automatisierung und dem Versagen solcher Anpassungsund Gewöhnungsprozesse sind es, wie die Beiträge dieser Sektion argumentieren, die den Wahnsinn der wechselseitigen Interaktion von psychiatrischer Ordnung und urbanem Leben charakterisieren. Die Abwege, denen die Beiträge dieser Sektion folgen, lassen sich nämlich weder auf einen Bruch von Routinen noch auf deren Perversion reduzieren. Sie fokussieren vielmehr auf jenen Moment, bevor die Routine zerbricht, ihr Mechanismus leerläuft oder Gewohnheit verdirbt. Abwege der Routinen sind eben nicht schlechte Gewohnheiten, die ihren ursprünglichen Zweckzusammenhang verloren haben – also jene sinnentleerte Wiederholung mechanisierter Abläufe, wie man sie typischerweise in großen Verwaltungen und Einrichtungen, industriellen Arbeitswelten und selbst in urbanen Freizeitkulturen findet wie die von Meyers Konversations-Lexikon bemühte „glänzende, aber erstarrte Manier“ der Theaterwelt. Stattdessen fokussieren die Beiträge auf verschiedene Interaktionsformen zwischen dem Raum der Stadt und der Psychiatrie als Institution, zwischen dem Drinnen und Draußen der Anstalt: dem Brief, der Einweisung, dem Rettungseinsatz oder der gutachterlichen Stellungnahme. Sie liefern keine Rekonstruktionen der jeweiligen Handlungsweisen im Sinne historischer Feldstudien, sondern verfolgen die Effekte einer Routinisierung, die keineswegs immer intendiert waren wie die Haltungen und Einstellungen (Wulf/Schmiedebach), die Einübung neuer Verhaltensweisen (Mählmann/Borck), das Einschleifen institutioneller Verfahren (Gnausch/ Hess) oder das Einspielen kognitiver Wahrnehmungsmuster (Kassar).

22 Meyer 1905–1909, Bd. 6, 1905, Sp. 200. 23 Funke 1974, Sp. 605.

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Einen Abweg der Routine ganz besonderer Art verfolgen Anne Gnausch und Volker Hess. Sie zeichnen den Weg, über den suizidale Menschen zu einem psychiatrischen Objekt wurden, als einen Abweg einer sich neu etablierenden Routine nach. Die Psychiatrisierung des Suizids ist, so ihr Argument, die unbeabsichtigte, aber in der Logik des Systems liegende Folge des Aufbaus einer urbanen Infrastruktur: des Rettungsdienstes mit Erste-Hilfe-Stationen und Krankenwagen – also jenes System der schnellen medizinischen Hilfe, das mit Blaulicht und Sirene zum Bild der modernen Großstadt gehört. Dass die aufgegriffenen Suizidenten in die Psychiatrie eingeliefert wurden, war eine institutionell sinnvolle und rational nachvollziehbare Regelung, die den Anspruch der Psychiater auf Zuständigkeit aller Erkrankungen des Nervensystems ernst nahm. Nicht wegen ihres Suizidversuchs, sondern der darauf meist folgenden Einschränkung des Bewusstseins wegen fuhr der Rettungsdienst die ihm übergebenen Menschen in die psychiatrische Abteilung. Als diese Praxis zur Routine zu werden begann, hatten die Psychiater weder besonderes Interesse an dieser Klientel, noch hielt man den Suizid für eine Geisteskrankheit, die der institutionellen Fürsorge oder Verwahrung bedürfe. Es war somit die notgedrungene Auseinandersetzung mit einer keineswegs gewünschten Patientengruppe, in deren Folge die Psychiater begannen, in der Person und Persönlichkeitsstruktur der Suizidalen den Anlass ihrer Aufnahme zu suchen und zu rechtfertigen. Wie Sucht als ein Phänomen des Milieus konzipiert wurde, zeigt der Beitrag von Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach. Die Psychiater der Anstalt Friedrichsberg in Hamburg waren keineswegs nur Chronisten der Erkrankungen ihrer PatientInnen. Die sorgfältige Exploration der Psychiater brachte nicht nur patientenbezogene Kenntnisse, sondern auch allgemeines Wissen über Rausch und Drogenabhängigkeit hervor. So vermitteln die von ihnen in den Krankenakten notierten Anamnesen, Berichte und Mitschriebe von Patientengesprächen das eindrucksvolle Bild eines Sündenpfuhls im Hafenviertel rund um die Große Freiheit: Prostituierte auf Nadel, koksende Zuhälter und dealende Seeleute – kurzum jenes Klischee, das bis in die Gegenwart unsere Vorstellung vom einstigen St. Pauli prägt. Sucht, gerade Rauchgiftsucht, mag zwar persönlich betreffen, aber in der Sucht äußert sich das Milieu. Sie ist zwar immer auch ein „Versagen des Einzelnen“, aber zugleich auch ein Phänomen der besonderen Lebensverhältnisse, der Lokalität mit ihren Kneipen, Gasthäusern, Apotheken und Arztpraxen, billigen Unterkünften und Stundenhotels. Bei der Rekonstruktion dieses Milieus wird sichtbar, dass Ärzte selbst nicht unmaßgeblich an dessen Entstehung beteiligt waren, und zwar in dreierlei Form: in den Aufzeichnungen der Krankenakten, direkt oder vermittelt publizistisch, und schließlich noch als Beteiligte des Geschehens, wie die wiederkehrenden Berichte über freizügige Verschreibungen nahelegen. So wurden bereits damals die Krankenakten von Dritten herangezogen, wie in jenem Beitrag aus dem Hafengesundheitsdienst, der den Heroinmissbrauch als Phänomen der großen Überseehäfen darstellte.

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Sonja Mählmann und Cornelius Borck nehmen mit dem Brief eine ursprünglich bürgerliche Kommunikationsform in den Blick, die sich mit der Ausweitung des Posttaxwesens und der Verbreitung der Postkarte am Ende des 19. Jahrhunderts auch in den unteren sozialen Schichten weit verbreitet hatte – und nun die Psychiater beschäftigen sollte. Auch die Anstalt in Lübeck konnte sich dieser populären Kommunikationstechnik nicht verweigern. Das Lübecker Beispiel zeigt, wie die Psychiater das in der großstädtischen Bevölkerung populär gewordene Medium des Postverkehrs zwischen den Kranken und deren Angehörigen als psychiatrisches Handlungsfeld usurpierten. Es war damals üblich, alle Korrespondenz zwischen den Angehörigen und den PatientInnen abzufangen, um sie erst dann weiterzuleiten, wenn es aus ärztlicher Sicht vertretbar schien. Die Vertreter einer „sozialen Psychiatrie“ schlugen weitergehend vor, sich in diese Kommunikation einzuschalten – und anstelle der Erkrankten zu antworten. Sie gaben den Angehörigen stellvertretend Auskunft über den aktuellen Zustand, erteilten Rat, machten Vorschläge für Besuche (oder ihr Unterbleiben); kurzum: sie traten als Alter Ego des Kranken in eine familiär beziehungsweise sozial gewachsene Kommunikationskette ein. Der Beitrag von Mählmann und Borck schildert anschaulich, welche absurden Folgen dieser Versuch nach sich zog, das mit dem Aufstieg zur medizinischen Disziplin sorgsam gepflegte Behandlungsmodell einer dyadischen Arzt-Patienten-Beziehung angesichts der neuen Kommunikationsformen aufrechtzuerhalten. Musterbriefe sollten den wachsenden Schriftverkehr bewältigen helfen, die systematische Abwertung des Angehörigen als störenden Dritten die alte Ordnung konzeptionell absichern. So schuf diese Routine auf Abwegen statt einer Ménage-à-trois gewissermaßen eine gedoppelte Folie-à-deux, nämlich eine parasitäre Kommunikation einerseits und eine artifiziell aufrechterhaltene Arzt-Patienten-Beziehung andererseits. Die schriftliche Kommunikation versetzte den Arzt in die widersprüchliche Situation, als Alter Ego des Patienten zugleich als dessen Therapeut und Gesprächspartner zu agieren, und sie stiftete die Angehörigen zu immer raffinierteren Interventionen gegen ihre Gängelung an. So verlagerte sich die therapeutische Praxis zunehmend ins Medium der Aktenführung. Auch der Anspruch auf einen humaneren Umgang mit dem Kriminellen zählt zu den Errungenschaften dieser urbanen Moderne. Wie in einem städtischen Gefüge aus Strafgerichten, Versorgungs- und Verwahreinrichtungen, Beurteilungsschemata und Begutachtungspraktiken das Schutzbedürfnis der sozialen Gemeinschaft bei gleichzeitiger Obsorge für den Täter auf medizinischem Wege, genauer: mithilfe der Psychiatrie austariert wurde, führt Johannes Kassar vor. Sein Beitrag zeigt sehr anschaulich, wie eng eine auf den ersten Blick fachinterne Auseinandersetzung und Verständigung über diagnostische Kategorien mit den Entscheidungsroutinen urbaner Infrastrukturen verflochten war – und in welcher Weise die Psychiater in diese einzugreifen suchten. So brachte die neue Krankheitskategorie des epileptischen Dämmerzustandes, das heißt der nicht notwendig mit Krämpfen assoziierten Epilepsie, die über ein halbes

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Jahrhundert hindurch immer wieder ergänzten und optimierten Routinen der Aufnahme und Überweisung von Geisteskranken gewissermaßen auf einen Abweg. Da diese Erkrankung so leicht mit anderen wie beispielsweise der Manie zu verwechseln sei, sollten nun alle Verdächtigen statt in die Städtische Irrenverpflegungsanstalt direkt auf die Krampfstation der Charité gebracht werden, also auch die Kranken mit larvierter Epilepsie oder einem epileptischen Dämmerzustand. Dieses Begutachtungsverfahren umging den Aufenthalt in der Städtischen Einrichtung, in der alle Berliner Geisteskrankheiten vor einer Überstellung an die Charité auf ihre Heilbarkeit überprüft wurden, um unnötige Kosten für ihre Versorgung zu vermeiden. Die epileptische Natur des „transitorischen Wahnsinns“ unterlief die restriktiven Aufnahmebedingungen für Geisteskranke. Zugleich versetzte sie die Psychiater in die Lage, eine Patientengruppe für sich zu reklamieren, auf die auch die Innere Medizin Anspruch erhoben hatte. Routinen gehen somit gelegentlich aus Störungen hervor. Umgekehrt werden Störungen und unterbrechende Ereignisse erst durch Routinen manifest, wenn etablierte Regeln mit neuen Situationen, Räumen und Größenordnungen konfligieren.

Ordnungen der Störung Mit der Verdichtung des städtischen Raums und im Zuge des gesteigerten Verkehrs im Rahmen des technischen Fortschritts schien die Stadt am Ende des 19. Jahrhunderts nicht einfach nur größer zu werden und an den Neuerungen der Zeit teilzuhaben, sondern im Übergang zur Großstadt eine Schwelle zu überschreiten, die neue Qualitäten generierte. Der Wahnsinn der Großstadt speiste sich wesentlich aus der Faszination an diesen neuen Qualitäten, die umfangreiche öffentliche Debatten und stark voneinander abweichende zeitgenössische Einschätzungen hervorbrachten. Die Ambivalenz gegenüber den neuen großstädtischen Lebensformen war dabei weniger Ausdruck einer Unsicherheit in der Beurteilung historisch unbekannter Phänomene oder Merkmal einer Übergangszeit bis zur Etablierung angepasster stabiler Ordnungen als vielmehr die sensitive Registrierung neuer Qualitäten, wie die Beiträge der vorangehenden Sektionen aufgezeigt haben. Die Großstadt generierte offenbar, so diskutierten bereits die ZeitgenossInnen, jene Zonen der Unordnung, des Exzentrischen und der Störung, welche ihre besondere Natur ausmachten. Diese Verschränkung beleuchtet die letzte Sektion anhand von Beiträgen zu psychiatrischen Gutachten über politische Revolutio­ näre (Thomas Beddies/Judith Hahn), zur zeitgenössischen Diskussion über den „jüdischen Selbsthass“ (Gabriele Dietze), zur Rolle von Mandalas in der psychiatrischen Praxis von Carl Gustav Jung (Sabine Fastert) und zum Fabulieren als diagnostischer Kategorie des psychiatrischen Diskurses (Sophia Könemann/Armin Schäfer). Die Beschäftigung mit solchen Phänomenen der ungeordneten Großstadt akzentuiert die Dynamik der Störung üblicherweise als Ausnahme zur regelhaften Ordnung. Als Ereig-

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nis und Unterbrechung ist Störung ein Differenzbegriff, der eine stabilisierte Ordnung und funktionierende Routine als vorgängigen Zustand voraussetzt. Der implizite Verweis auf den geregelten Normalfall macht die Störung selbst zu einer Ordnungsfigur, die sich zum Beispiel erfolgreich zur Regulierung der als Störung diskutierten Phänomene einsetzen ließ. Damit verfehlt der Begriff aber genau jene Normalität der Störungen, welche die Großstadt auszeichnete. Denn in der Großstadt blieben unruhige, fortwirkende Veränderungen und ambivalente Ortszuschreibungen der Bezugspunkt auch noch von Störungen. In Figurationen der Störung trafen Eigenlogiken und Ordnungsvorstellungen des Großstädtischen grundsätzlich spannungsgeladen und problematisch aufeinander. In den Krisenjahren der Weimarer Republik artikulierten sich solche Ambivalenzen beispielsweise als Widerspruch der neuen Wirklichkeit mit der überlebten alten Ordnung. In diesem Sinne mobilisierte Kurt Tucholsky etwa die grassierende Hungersnot weiter Bevölkerungsteile als Skandalon falscher Ordnungsvorstellungen: „Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören. Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören. Nur nicht schreien. Mit der Zeit wird das schon.“24 Das Gedicht mit dem schönen Titel „Ruhe und Ordnung“ entlarvte die Verhältnisse als Farce, weil die neue Zeit nach neuen Verhältnissen verlangte und nichts mit der Zeit wieder so werden durfte, wie es gewesen war. Die steckengebliebene Revolution und die neuen politischen Verhältnisse provozierten am anderen Ende des politischen Spektrums freilich nur umso entschiedenere Stellungnahmen zur Verteidigung bestehender Verhältnisse – auch mit den neuen Mitteln der zur Fachwissenschaft aufgestiegenen Psychiatrie. Wie Thomas Beddies und Judith Hahn in ihrem Beitrag herausarbeiten, benutzten führende deutsche Psychiater ihre neue Expertenrolle nach verlorenem Weltkrieg und gescheiterter Revolution gezielt, um die angeklagten Revolutionäre nicht etwa als gewalttätige politische Fanatiker strafrechtlich zu belangen, sondern um sie als minderwertige Psychopathen zu stigmatisieren. Sie seien, so das Argument, aufgrund mangelhafter hereditärer Anlagen in ungünstigen sozialen Milieus zu Führungsfiguren aufgestiegen, obwohl sie sich an der Grenze des Pathologischen bewegten, was nicht zuletzt ihre politischen Taten manifest gemacht hätten. Bereits mit Beginn der Etablierung einer wissenschaftlichen Psychiatrie waren ihre Vertreter in den Verdacht geraten, sich allzu leichtfertig in den Dienst der bestehenden Machtverhältnisse zu stellen. Ihre gerichtlichen Gutachten nach dem Untergang dieser alten politischen Verhältnisse zeigen, wie geradlinig sie ihre neu gewonnene, staatlich sanktionierte Macht zur Immunisierung eben dieser Verhältnisse mittels psychiatrischer Kategorien genutzt haben.

24 Tucholsky 1929, 68. Erstdruck unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der Weltbühne vom 13. Januar 1925.

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Die Verschränkungen von Ordnung und Störung, Politik und Revolution, Kritik und Klinik wurden am genauesten verfolgt und auf die Spitze getrieben von jenen, die nur als AußenseiterInnen an der politischen und kulturellen Debatte teilnehmen konnten. Die Kulturwissenschaften haben sich dabei insbesondere für die Gruppe der sprachgewaltigen und jüdischen Intellektuellen interessiert. Gabriele Dietze liefert in ihrem Beitrag keine weitere Darstellung ihrer schillernden Rolle in den fulminanten Debatten um Außenseiterrollen, Genialität und Künstlertum. Stattdessen mobilisiert sie ganz im Sinne der hier thematisierten Verschränkung von Normalität und Störung beziehungsweise des proleptischen Vorgreifens der Störung auf neue Ordnungen aktuelle Denkfiguren der Queer Studies zu einer Topographie „jüdischen Selbsthasses“ und seiner dynamischen Funktionalisierung im kulturellen und politischen Raum. Während die eigentlich schon überlebte wilhelminische Maskulinität Homosexualität nur als Affektstörung zu thematisieren wusste, entfaltete die rhetorische Figur des „jüdischen Selbsthasses“ unverhofft Raum zum Reklamieren von Autorschaft. Außenseiter waren insbesondere die Insassen und Insassinnen psychiatrischer Anstalten. Daran konnte auch der neue therapeutische Anspruch der Psychiatrie kaum etwas ändern. Aber in ihrer Außenseiterrolle lenkten psychiatrische Patienten zugleich Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere wenn sie mit künstlerischen Produktionen eine weitere Außenseiterrolle auf sich vereinten. Das „bildnerische Schaffen der Geisteskranken“ (Hans Prinzhorn) avancierte in der Zwischenkriegszeit zum Faszinosum kultureller Debatten, zum Produktivitätszentrum neuer Kunstauffassungen und zum Anklagepunkt einer vermeintlich als ‚entartet‘ zu brandmarkenden Kunst. Daneben wurde das Medium der bildnerischen Gestaltung als therapeutischer Raum entdeckt. Für den hier verhandelten Zusammenhang von Ordnung und Störung liefert Carl Gustav Jung, einstiger Musterschüler Sigmund Freuds, eine besonders vielschichtige Figur, wie Sabine Fastert in ihrem Beitrag zeigt. Jung ließ seine PatientInnen nicht nur zeichnen, sondern regulierte dieses Zeichnen in die engen und vorgefassten Bahnen mehrfach symmetrischer Kreismuster – der Mandalas. Selten nur ist wohl der Verlust tradierter Ordnung so radikal in Blumenmuster einer kulturevolutionären Vorgeschichte psychischer Reife beziehungsweise ihres Verlusts umgedeutet worden. Jung, der sich nach seiner Verstoßung aus dem inneren Kreis der Psychoanalyse als Entdecker der Archetypen angeborener psychischer Dispositive einen Namen zu machen suchte, benutzte seine Ideen zu einer Archäologie psychischer Autonomie nicht nur zur Diagnose und Therapie seiner PatientInnen beziehungsweise als Chiffre seiner kritischen Zeitdiagnose. Diese Formen dienten ihm auch ganz unmittelbar und materiell als Gehäuse auf seinem persönlichen Weg, mit den Unordnungen der neuen Zeit und den nicht nur unsymmetrischen, sondern in keine neue Ordentlichkeit übersetzbaren Verhältnissen zurechtzukommen. So ließ er sich am Rande des Zürichsees auf dem Grundriss eines Mandalas einen Zufluchtsort bauen.

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Die neue Wissenschaft der Psychiatrie ließ ihre PatientInnen nicht nur zeichnen, sie stellte sie vielmehr unter ein umfassendes Beobachtungsregime, in dem grundsätzlich jede Äußerung und jedes körperliche oder seelische Zeichen Bedeutung entfalten konnte. Dies war deshalb notwendig geworden, weil die in den anderen medizinischen Disziplinen produktiv anwendbare körperliche Untersuchung weitgehend erfolglos für die Suche nach den Materialisierungen psychischer Krankheit geblieben war (sieht man von den pathologischen Manifestationen der progressiven Paralyse bei einer Syphilis-Infektion ab). Auf ihrem ureigenen Terrain, den Halluzinationen und Denkstörungen, waren die Psychiater trotz genauer Untersuchungen des Körpers auf keine Spuren des Wahnsinns gestoßen. Die Psychiatrie verlegte sich deshalb auf eine Analyse des sprachlichen Zugangs zur Welt ihrer PatientInnen. Wenn schon keine Aussicht auf neue Therapien der Geisteskrankheiten bestehen sollte, dann versprach die genaue Besichtigung, Aufzeichnung und Untersuchung ihrer sprachlichen Fähigkeiten und Äußerungen, zumindest die psychiatrische Diagnostik auf eine allgemeine und gesicherte empirisch-klinische Basis zu stellen. Aber wie ließ sich auf dem schwankenden Boden der neuen Poetologien fester Grund gewinnen? Selbst scheinbar stabile Kategorien wie die Fabulation erwiesen sich angesichts der vielfältigen Phänomene psychiatrischer Praxis als eine zu grobe Vereinheitlichung. Umgekehrt traten scheinbar eindeutig als pathologisch identifizierte rhetorische Figuren im Licht der neuen literarischen Produktion als geradezu avantgardistisch hervor. Sophia Könemann und Armin Schäfer zeigen, in welcher Weise sich die Übertragung linguistisch-sprachwissenschaftlicher Kategorien auf die psychiatrische Beurteilung der Äußerungen von PatientInnen als zweischneidig erwies. Je genauer die Psychiatrie Sprache zu untersuchen begann, desto mehr verschliffen sich die Grenzen zur nicht-pathologischen Sprache. Mit ihrer Öffnung für eine linguistisch-sprachwissenschaftliche Analyse der Äußerungen von PatientInnen gewann die Psychiatrie keineswegs die erhoffte, sichere Basis für ihre diagnostische Praxis. Sie stieß vielmehr auf Dynamiken, die ihre eigenen diagnostischen Debatten weiter anheizte. Die gesuchte Ordnung der Störung entpuppte sich als kaum beherrschbarer Unruheherd. Die hier als Ordnungen der Störungen thematisierten Spannungsgefüge beleuchten exemplarisch die wechselseitige Abhängigkeit von Ordnung und Störung. Störungen blieben Vorfälle und Unterbrechungen scheinbar stabiler Erwartungen, ganz gleich, ob diese nun von den AkteurInnen oder ihrer Umwelt erhoben wurden, aber sie weisen über solche Erwartungen hinaus. Damit wurden sie zu Auslösern für neue Phänomene, Beobachtungsregime und soziale Ordnungen. Noch als Unterbrechung einer ehemals etablierten Ordnung wird Störung zum Vorgriff auf erst noch herzustellende geordnete Verhältnisse beziehungsweise zum Versprechen auf eine Dynamik jenseits aller stabilen Ordnungen. Mehr noch als andere medizinische Disziplinen blieb die Psychiatrie mit der Etablierung einer stabilen diagnostischen Ordnung beschäftigt – was die Debatte umso stärker auf problematische diagnostische

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Kriterien lenkte. In der Rückschau erweisen sich Ordnungen der Störung gewissermaßen als autonome Kraftzentren, ihre Umwelt neu zu strukturieren.

Im Dickicht der Städte Die „Kulturen des Wahnsinns“ auszuleuchten, also die komplexen Gefüge vielfältiger Kräfte und Effekte im Wechselspiel von Großstadt und Psychiatrie, in dem sich die entstehende Großstadt und die sich zur Fachwissenschaft entwickelnde Psychiatrie darstellen, bildet den Kern des vorliegenden Unterfangens. Ein solches Vorgehen kann sich nicht auf die Psychiatrie allein stützen, sondern muss auf die zeitgenössische Auseinandersetzungen mit der Großstadt zurückgreifen. In dem Maß, in dem Berlin zum Experimentierfeld der Moderne erwuchs, wurde es auch zum Proberaum und Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Als der junge Bertolt Brecht sich zur Jahreswende 1921/22 für einige Monate in der Hauptstadt der neuen Republik aufhielt, entdeckte er die Großstadt als Stoff für sein nächstes Stück Im Dickicht der Städte. Seine Tagebuchaufzeichnungen dokumentieren dabei, wie die wahrgenommene Kälte und Unübersichtlichkeit der Großstadt ihm zum Modell für ein neues Handeln auf der Bühne wurde, das bloße Kräfteverhältnisse zum Gegenstand macht. Kein Mensch habe bislang die große Stadt als Dschungel begriffen: „Wo sind ihre Helden, ihre Kolonisatoren, ihre Opfer? Die Feindseligkeit der großen Stadt, ihre bösartige steinerne Konsistenz, ihre babylonische Sprachverwirrung, kurz: ihre Poesie ist noch nicht geschaffen.“25 Im Dickicht der Städte verhandelte folglich keine leidenschaftliche Feindschaft zweier Gegner, sondern rückte die „Kampfform der Gegner“ ins Zentrum, wie Brechts Vorbemerkung als Hör- beziehungsweise Leseanweisung ausdrücklich hervorhob: „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish.“26 Die Großstadt lässt sich nicht von einer klaren Ordnung auf ein Zentrum hin verstehen. Vielmehr verdichtet sie Kräfteverhältnisse an verschiedensten Orten – der Börse, dem Rotlichtviertel, dem Drogenmilieu, der Irrenanstalt – zu Brecht’schen Kampfzonen oder, in einem weniger martialischen Vokabular, zu Räumen fortwährender Aushandlung. Nicht immer finden an diesen Orten Zweikämpfe statt oder sind klare Frontstellungen zu erkennen. In den Zwischenräumen der Hinterwelt, im Dickicht der Großstadt, das im Zentrum als auch an peripheren Orten wuchern kann, greifen die Ordnungsvorstellungen der gesellschaftlichen Organe und Institutionen mit ihren Verfahren und Routinen nicht – oder zumindest 25 Ramthun 1978, 145. Eintrag vom 4.9.1921. 26 Brecht 1967, 126.

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nicht vollständig, weshalb sie zumeist als Problemzonen und Störfälle verhandelt werden. Die hier herrschenden Kräfte sind immer konkret und situativ, und sie bilden ihre eigenen Ordnungen aus. Nur eine präzise Charakterisierung solcher Orte und Szenen verspricht Einsichten in die Eigenlogik großstädtischer Gefüge. „Beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner“ – wir können Brechts Leseanweisung nur aufgreifen und weitergeben.

Literatur Binder, Beate: Figuren der Urbanisierung aus geschlechtertheoretischer Perspektive. IMS: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2012), 92–100. Brecht, Bertolt u. a.: Gesammelte Werke: [in 20 Bänden]: 1. Stücke; 1 (= Werkausgabe Edition Suhrkamp, 1). Frankfurt/M. 1967. Brockhaus Conversations-Lexikon: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände: Conversations-Lexikon. Leipzig: 1864. Cantor-Graae, E.: The contribution of social factors to the development of schizophrenia: a review of recent findings. The Canadian Journal of Psychiatry 52.5 (2007), 277–286. Eckart, Wolfgang: „Die wachsende Nervosität unserer Zeit“: Medizin und Kultur um 1900 am Beispiel einer Modekrankheit. In: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900: II: Idealismus und Positivismus. Hg. G. Hübinger. Stuttgart 1997, 207–226. Funke, G.: Gewohnheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim Ritter u. a., Bd. 3. Basel 1974, 597–616. Hess, Volker: Medizin zwischen Sammeln und Experimentieren. In: Geschichte der Universität zu Berlin, 1810–2010. Biographie einer Institution, Praxis ihrer Disziplinen. Hg. Rüdiger vom Bruch und Heinz-Elmar Tenorth, Bd. 4. Berlin 2010, 489–565. Kraepelin, Emil: Psychiatrie: ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 2. Aufl. Leipzig 1887; 3. Aufl. Leipzig 1889; 4. Aufl. Leipzig 1893; 5. Aufl. Leipzig 1896; 6. Aufl. Leipzig 1899; 7. Aufl. Leipzig 1903; 8. Aufl. Leipzig 1909 [Bis einschließlich der 4. Aufl. unter dem Titel Psychiatrie: ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Ärzte erschienen]. Meyer, Joseph (Hg.): Meyers Grosses Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Leipzig und Wien 1905–1909. Oppenheim, Hermann: Die traumatischen Neurosen nach den in der Nervenklinik der Charité in den letzten 5 Jahren gesammelten Beobachtungen. Berlin 1889. Peukert, Detlev J.: Die Weimarer Republik: Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt/M. 2003. Radkau, Joachim: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte. Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), 211–241. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. Ramthun, Herta (Hg.): Bertolt Brecht: Tagebücher 1920–1922 (=Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954, 979). Frankfurt/M. 1978.

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Reil, Johann Christian: Reils Entwurf zur Organisation einer wissenschaftlich-medizinischen Schule. In: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Hg. Max Lenz, Bd. 4. Halle a. d. Saale 1910, 50–67. Schmiedebach, Heinz-Peter: Post-traumatic neurosis in nineteenth-century Germany: a disease in political, juridical and professional context. History of Psychiatry 10 (1999), 22–57. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden Bd. 9 (1903), 185–206. Tuan, Yi-Fu: Space and place: the perspective of experience. Minneapolis 1977. Tucholsky, Kurt: Das Lächeln der Mona Lisa. Berlin 1929. Wirth, Louis: Urbanität als Lebensform. In: Stadt- und Sozialstruktur. Hg. Ulfert Herlyn. München 1974, 42–66.

I. Räume der Erregung



Sven Bergmann

Berlin Noir. Großstadtschwindel und Großstadtreportage als parasitäre Unternehmungen1

There are no cities, no cities to love. It’s not the city, it’s the weather we love! Sleater-Kinney 2015

Ankommen in der Stadt Eine junge Frau namens Mieze bat ihren auf dem Land lebenden Bruder in einem Brief, ihren Erbteil nicht nach Berlin zu ihr und ihrem Verlobten August zu schicken, sondern für sie zu verwahren: „[…] denn wenn es auch in Berlin schön ist und wir eine gute Stelle haben, so gibt es doch viel Schwindel in Berlin und deshalb ist uns die Sache dort sicherer.“2 Der Betrug ist in Johannes Werthauers (1866–1938) Berliner Schwindel allgegenwärtig.3 Der Autor, ein bekannter Strafverteidiger, benutzte seine – vermutlich fiktiven – Figuren August und Mieze, um anhand ihrer Berlin-Erlebnisse unterschiedliche Arten des Betrugsschwindels zu schildern. Der Autor wählte, um das Netzwerk des Betrugs darzustellen, eine Figur vom Land, die, kaum in der Stadt angekommen, in den Sog des Schwindels gerät. Über August erfahren die Lesenden nur, dass er vorher Knecht auf einem Gutshof war und seine Reise auf einem kleinen Provinzbahnhof begonnen hat (Mieze winkt ihm am Bahnhof zum Abschied). Wie lang er mit der Bahn unterwegs war, wird nicht berichtet. Da er einmal umsteigen musste, die Strecke an einem Tag zu bewältigen war und er am Stettiner Bahnhof in Berlin ankam, könnte er von einem Ort Nordbrandenburgs oder Pommerns losgefahren sein.4 Während August 1 2 3 4

Unter diesem Titel erschien auch die Krimi-Trilogie Berlin Noir des Autors Philip Kerr, die aber das Noir-Element eher in den 1930er- und 1940er-Jahren ausmacht. In diesem Artikel geht es stärker um die Zeit nach der Jahrhundertwende, der Begriff selbst wird weiter unten näher erläutert. GD 21, 119. Die von Hans Ostwald herausgegebene Reihe Großstadt-Dokumente wird folgend als „GD“ mit der Bandnummer zitiert. Die Angaben zu den einzelnen Bänden sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Veröffentlicht als Band 21 der Großstadt-Dokumente. Der Ausbau der Eisenbahn und ihrer Knotenpunkte seit dem 19. Jahrhundert sowie das Angebot der unkomfortablen aber günstigen Vierte-Klasse-Abteile begünstigten die zunehmende Mobilität der un-

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im Abteil der vierten Klasse und auf dem Kreisbahnhof, wo er sich beim Umsteigen einen Schoppen genehmigte, noch recht souverän wirkte, verließ ihn diese Sicherheit, einmal in der großen Stadt angekommen, an jenem verregneten 2. Januar abends um sechs auf dem Stettiner Bahnhof: „Er passierte die Billettkontrolle und stand bald mit seinem kleinen viereckigen Kasten, in welchem seine ganze Habe enthalten war, ziemlich ratlos in der Eingangshalle des Bahnhofs.“5 Werthauer begann seine Erzählung über das Betrugswesen in Berlin mit der Ankunft seines Protagonisten in der großen Stadt. Diese arrival scene dient dazu, in die Stadt und ihr Gewebe – hier in die räumlichen Gefüge des Schwindels – einzutauchen. In der Kulturanthropologie sind Ankunftsszenen die klassische Trope des ethnologischen Berichts,6 um über Integration ins Feld und erste Kontakte zu berichten. Auch August kannte niemanden in der Stadt – er trug lediglich die Adresse einer privaten Arbeitsvermittlungsstelle bei sich –, weshalb er besonders offen für neue Bekanntschaften war. Gerade durch seine Unvoreingenommenheit wurde August zur leichten Beute für die Betrüger, die rund um den Bahnhof lauerten.7 Doch aus der Perspektive von August waren dies zunächst gar nicht so finstere Gesellen, sondern eben die ersten Menschen in der Stadt, die sich seiner annahmen und die verstörende, irritierende Situation des Alleine-in-der-Fremde-Ankommens durch Kommunikation und die Möglichkeit zur Relation erleichterten – auch wenn die Lesenden die Hilfsangebote schnell als Tricksereien entlarven.

Landratten und Stadtratten: Parasitäre und gestörte Relationen Die skizzierten Erfahrungen von August verweisen auf eine spezifische Ambivalenz von Störfiguren (hier der Schwindler und andere städtische Figuren, später die StadtforscherInnen selbst), die das Thema dieses Aufsatzes ist. Mich interessiert dabei weniger, warum Alterität produziert, sondern wie sie produziert wird. Ich werde daher besonders die Figuren beleuchten, welche die Dynamik von städtischen Beziehungen und Netzwerken herstellen. Es geht in diesem Aufsatz um den sozialen Verhandlungsraum der Relationen und darin besonders um die Position des Parasitären. Nach Michel Serres pfropfen sich Parasiten, Figuren des sozio-

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teren Klassen. Die massenhafte Abwanderung aus dem deutschen Osten und die starke Zuwanderung nach Berlin korrelierte mit der Fertigstellung von drei wichtigen Strecken in die Ostprovinzen Preußens seit den 1850er-Jahren: Stettin-Königsberg, Küstrin-Dirschau, Frankfurt an der Oder-Breslau. Vgl. Roth 2005, 146. GD 21, 1. Vgl. Pratt 1986. Zur Rolle des urbanen Ankunftsorts Bahnhof vgl. auch Nellen/Suter 2007 und Sabelus 2009, 139–144.

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logisch Dritten, jeder Ego-Alter-Beziehung auf; sie vermitteln Beziehungen und stecken „im Funktionieren der Relationen“.8 Die Rhetorik des Ankommens in der Stadt führt dabei auf zwei Ebenen in das Thema ein. Sie entwirft erstens eine spezifische Perspektive auf städtische Praktiken und Repräsentationen kurz nach der Jahrhundertwende, zweitens auf sich verändernde Genres und Narrative über die Stadt. Mein Beispiel steht für die Reihe Großstadt-Dokumente, die Roger Salerno als ein Gründungsdokument einer Sociology Noir charakterisiert hat, einer Soziologie, die sich besonders für die dunklen Ecken und Winkel der modernen Stadt interessierte.9 An dieser neuen Form der Stadtforschung mit ihrer starken Bezugnahme auf Marginalität und Alterität interessiert mich die Form der Position beziehungsweise Relation, welche die Stadtforschenden – häufig inkognito unterwegs – in ihrer Forschung herzustellen und/oder zu vermeiden suchten. Wenn mich im Folgenden die Position des Dritten, die sich einer anderen aufpfropft, und damit die Position der Störung in Relationen und Netzwerken interessiert, entwickle ich angelehnt an Serres’ Figur des Parasiten zwei Perspektiven. Wie Serres nutze ich dabei die bekannte Fabel La Fontaines (1621–1695) von der Stadtratte und der Feldratte (Landratte): Die Stadtratte lädt die Landratte zu einem opulenten Mahl. Doch plötzlich sind Geräusche zu vernehmen, die Stadtratte versteckt sich, die Landratte tut es ihr gleich – danach wird das Mahl wieder aufgenommen. Doch der Landratte verleidet die Störung den Appetit, und sie lädt die Stadtratte zu sich aufs Land ein, wo das Mahl zwar kärglicher ausfalle, doch ohne Schrecken eingenommen werden könne. Serres interpretiert die Fabel so, dass es eigentlich die Landratte und nicht das Geräusch ist, das für die Unterbrechung sorgt: „Der Gast wird nun zum Unterbrecher.“10 Die Fabel führt Serres ein, um damit die Position des Parasitären als Dritten sozialer Beziehungen zu beschreiben. Der französische Philosoph interessiert sich weniger für Begriffe wie Sein oder Individuum, als vielmehr für Beziehungen und jene „Präpositionen“, die deren Verknüpfung anzeigen, indem sie „auf eine Bewegung verweisen“.11 Nach Serres gibt es kein System und keine Ordnung ohne Abweichungen und Störungen, ohne den Parasiten. Der Parasit kann störend sein, sich aber auch unkenntlich und unbemerkbar machen, indem er sich einnistet und (mit-)funktioniert. Dabei ist der Parasit dem Joker beim Kartenspiel vergleichbar, der alle Werte annehmen kann und häufig als Narr oder „Irrer“ dargestellt wird.12 Serres stellt anhand der klassischen Fabel dar, wie sich ein Netzwerk von Relationen entfaltet, in der sich die Positionen von Wirt, Störung und Parasit ständig

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Serres 1987, 98. Salerno 2007. Serres 1987, 84. Wieser 2012 148. Serres 1987, 243.

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verändern. Ist die Ratte der Parasit im Hause ihres Wirtes (der als Steuerpächter wiederum ebenfalls parasitär wirkt), so ist die knarrende Tür die Störung des Mahls, wieder vermutlich ausgelöst durch den Wirt. Auch die Geschichte um August, Mieze und den Berliner Schwindel lässt sich aus dieser relationalen Perspektive – der Beziehung zwischen Landratte und Stadtratte – lesen. Dann interessiert nicht das Wesen der Stadt, sondern, welche Relationen jemanden dort erwarten und welche Position die Störungen einnehmen. Der Band über den Berliner Schwindel bietet sich für eine solche Lektüre an, weil Werthauer ein Netz von Relationen (des Betrugswesens und seiner Opfer, die wiederum zu Tätern werden können) flicht, das ständig in Bewegung ist und so eine spezifische Dynamik der Stadt um die Jahrhundertwende zeigt: Der Parasit hat, wie Serres schreibt, Beziehungen und „macht ein System daraus“.13 August nahm hier zunächst die Rolle der Landratte ein: Er gelangte in die Stadt, um sein Glück zu versuchen. Mit der Abschrift der Anzeige einer privaten Arbeitsvermittlung in der Tasche kam er in Berlin an, das stetig wuchs und in Bewegung war (1904 hatte die Stadt knapp zwei Millionen EinwohnerInnen). Dort traf August zunächst auf gewiefte Stadtratten, die ihn übers Ohr hauten und ihn um seine Ersparnisse brachten. Anders als die Landratte der Fabel blieb August aber in der Stadt und lernte, selbst Stadtratte zu werden – Serres würde sagen, er habe sich nun an die städtischen Störungen gewöhnt und sich durch den Kontakt mit den Parasiten immunisiert.14 Deshalb wird im weiteren Verlauf dieses Artikels die Rolle der sich zurückziehenden Stadtratte an andere namhaftere Zeitgenossen weitergereicht, die sich von der Komplexität und den Störgeräuschen der Stadt verschreckt sahen: zunächst an die Darstellung des Phänomens des Großstadtschocks, dann an den Diskurs um Großstadtfeindschaft und die Degeneration im 19. Jahrhundert. Demgegenüber stand ein aufkommendes Interesse bürgerlicher und philanthropischer AkteurInnen, die ‚anderen‘ Bezirke der Stadt zu erkunden. Schließlich wandte sich die moderne Stadtreportage – wie die Berliner Großstadt-Dokumente – gerade den Vorkommnissen in den abgelegenen Winkeln und dunklen Ecken der Stadt zu und gilt damit als Pilotprojekt der modernen Stadtforschung. Im Anschluss an diese Darstellungen wird der Fokus auf die spezifische Relation und Position des Forschenden gerichtet und gefragt, welche Rolle des Parasitären die Stadtforschung selbst einnahm; das abschließende Resümee enthält noch einen kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung dieser um die Jahrhundertwende entstandenen Stadtforschung.

13 Ebenda, 64 f. 14 Ebenda, 29.

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Urbane Moderne: Grossstadtschock und Grossstadtschwindel In der zeitgenössischen Literatur wurde das Ankommen in Berlin als Konfrontation mit der Anonymität und Blasiertheit der Großstadt geschildert. Auch in Clara Viebigs (1860–1952) Roman Das tägliche Brot (1900) kommen zwei Landmädchen an der Friedrichstraße an, suchen dort Halt an einem Pfeiler der Stadtbahn, von wo aus sie auf das dichte städtische Treiben schauen, ohne von jemandem beachtet zu werden.15 Die beiden sind noch nicht durch die Stadt – und die Parasiten – geimpft und immunisiert, sie haben städtische Verhaltenscodes wie die Blasiertheit noch nicht in ihrem Repertoire. In dieser literarischen Darstellung entdeckt die Historikerin Bettina Hitzer zahlreiche Parallelen zu den Schilderungen der von ihr untersuchten evangelischen Bahnhofsmission, die junge Mädchen als „leichte Beute von Verführern“ entwarfen, gefangen zwischen den Verheißungen der Großstadt und deren tatsächlichen Gefahren.16 Auch August wurde verführt, und das mehrfach, doch er nahm es relativ gelassen. Nach einigem Hin und Her, bei dem er sich seiner mitgebrachten Ersparnisse entledigte,17 landete er endlich in dem Mietskontor in der Ackerstraße, dessen Adresse er notiert hatte, nachdem der Schullehrer in der Dorfschänke die Annonce dieses Instituts im Kreisblatt vorgelesen hatte.18 Dort hatte er Glück und wurde sogleich für die favorisierte Anstellung als Kutscher engagiert. Ab diesem Zeitpunkt gab August quasi das Staffelholz des Betrogen-Werdens weiter an andere Charaktere, die Werthauer schließlich zu einem rastlosen Netzwerk des Schwindels gestaltete. Mieze hatte mittlerweile unabhängig von August Berlin erreicht und selbständig eine Anstellung als Dienstmädchen im Berliner Westen gefunden. Nach der Hochzeit mit einem „hochfeinen Architekten“ wollte die Tochter des Gutsbesitzers ein Dienstmädchen aus ihrer Heimat mit nach Berlin nehmen.19 Als Mieze sich später eine neue Stelle suchte, ging sie in das Mietskontor in der „Jagdherrenstraße“, womit Werthauer vermutlich das damals größte Mietskontor in der Jägerstraße andeuten wollte. In den Mietskontoren waren gewerbliche StellenvermittlerInnen

15 Hitzer 2006, 73. 16 Ebenda, 74. 17 Er zahlte einen Kredit für die Leihgabe eines wertlosen Rings („Ringnepper“), wurde in ein ‚falsches‘ Mietskontor geleitet („Vermietungsschwindel“) und von dort in eine Herberge, wo er nachts um seine restlichen Taler erleichtert wurde. Danach wurde er noch mit vielen anderen Opfer eines „Kautionsschwindels“ (wobei er eine Kaution für die Vermittlung einer Stelle zahlte), wofür ihm weitere 50 Taler, die er sich von seiner Mutter hatte schicken lassen, abgezockt wurden. 18 Die Ackerstraße stand damals emblematisch für den Berliner Norden, das proletarische Berlin. Meyers Hof in der Ackerstraße 132 mit seinen fünf Hinterhöfen galt als Paradebeispiel für die berüchtigten Berliner Mietskasernen. Vgl. Geist/Kürvers 1984, 2. Bd. 19 GD 21, 71.

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ansässig, die für die Vermittlung von ArbeitgeberInnen und -nehmerInnen eine Gebühr verlangten.20 In der zeitgenössischen Literatur, so bei Margarete Michaelson (1873–1924), die unter dem Pseudonym Ernst Georgy schrieb, wurden die dortigen Zustände um die Jahrhundertwende auch als Form des „weißen Sklavenmarkt[s]“21 beschrieben, obwohl die VermittlerInnen aufgrund des Mangels an Dienstmädchen die vorstelligen Frauen „äußerst liebenswürdig“22 behandeln würden und die Dienstmädchen in den dort geschilderten Arbeitsverhandlungen recht selbstbewusst aufträten.23 Zur bürgerlichen Identität gehörten die Auslagerung von reproduktiver Arbeit und die Beschäftigung von DienstbotInnen;24 so verzichteten nur drei Prozent der deutschen Bürgerfamilien auf Dienstmädchen.25 In den Großstädten überwog die Zuwanderung von Frauen, die sich unter anderem in folgenden Arbeitsverhältnissen wiederfanden: „Dienstboten, kleine Ladeninhaberinnen, Ladnerinnen, Comptoristinnen, Kellnerinnen, Arbeiterinnen der Bekleidungs- und Reinigungsindustrie, auch Fabrikarbeiterinnen – und Prostituierte“.26 Im damaligen Diskurs um Landflucht galt die Stadt als Verführerin des Landmädchens, die zur „Vergiftung“ und zur Verwandlung führe und die mit Unsittlichkeit assoziiert wurde.27 Kirchliche Institutionen wie die bereits erwähnte Bahnhofsmission versuchten daher, die jungen Frauen direkt am Bahnhof abzufangen und ihren Fürsorgeinstitutionen zuzuführen,28 statt sie den gewerblichen Vermittlungsstellen zu überlassen.29 Werthauer benutzte das gängige Klischee von den jungen Leuten vom Land, die – überfordert von der Stadt – sich leicht verführen lassen. Im Kontrast dazu hat die Historikerin Dorothee Wierling anhand autobiographischer Interviews mit Frauen, die um die Jahrhundertwende als Dienstmädchen in deutsche Großstädte kamen, weniger das Motiv des „Großstadtschocks“ bestätigen als vielmehr eine besondere Neugier auf das Städtische ausmachen können.30 20 Wierling 1987, 76. 21 Georgy (1900) 1917, 171. Bei Spiller 1911, 114 wird der Begriff dezidiert für alle Formen der Prostitution verwendet, bei anderen AutorInnen für den organisierten Mädchenhandel. Vgl. Sabelus 2009. 22 Georgy (1900) 1917, 172. 23 Ebenda, 173–177. Eine bei Georgy beschriebene Vermittlerin führt dies gegenüber den düpierten Herrschaften auf den Einfluss der bürgerlichen Frauen selbst und der Frauenbewegung zurück. 24 McClintock 1995, 160–165. Im beginnenden 20. Jahrhundert wurden diese bürgerlichen Vorstellungen brüchiger, was allmählich zu einer Transformation des Dienstbotenwesens führte. 25 Budde 1994, 276, auf Grundlage von erhobenen Daten zwischen 1840–1914. 26 Bauer 1904, 12. Laut Statistik sollen im Jahr 1900/1901 von den Berliner Kontrollmädchen – gegenwärtige und ehemalige Dienstboten gewesen sein. Vgl. Hanauer 1904, 418. 27 Hitzer 2006, 42. 28 Ebenda, 31–122. 29 Ebenda, 113. 30 Wierling 1987, 74.

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Werthauer führte die Figur Mieze in die Geschichte ein, um anhand ihrer Erlebnisse das Thema Heiratsschwindel zu illustrieren. Statt eine Verabredung mit ihrem August wahrzunehmen, ließ sich Mieze auf die Bekanntschaft eines Herrn Drechsels ein, der ihr fein, weltgewandt und zutiefst städtisch erschien. Dieser führte sie in ein Lokal im Grunewald aus, wo ein Komplize in der Garderobe die Schlüssel zum Anwesen ihrer Herrschaft entwendete und zwischenzeitlich dort einbrach.31 Nach diesem Abenteuer wandte sich Mieze doch wieder August zu, der zwar weniger fein, aber ehrlicher als die städtischen Herren war, und verlobte sich mit ihm, nachdem er zum Lagerverwalter aufgestiegen war. Im Band Berliner Schwindel ist die Stadt allerorten von zahlreichen hilfsbereiten und freundlichen Figuren bevölkert, die sich im Nachhinein jedoch als BetrügerInnen entpuppen. Figuren wie August und Mieze fehlte es noch an der „Blasiertheit“, dem speziellen Gemütszustand des Stadtmenschen wie ihn Georg Simmel (1858–1918) hervorhob,32 denn die Gleichgültigkeit der städtischen BewohnerInnen gegenüber den immerwährenden Reizen wirkt auch als ein Schutz vor Störfiguren wie den BetrügerInnen. Das Netzwerk des Schwindels, wie es Werthauer entfaltete, wirkte auf den Ablauf der Stadt nicht unbedingt störend, sondern auch mobilisierend. Werthauer entwarf einen Parcours durch Berlin vom Stettiner Bahnhof über die Mietskontore in der Acker- und der Jägerstraße bis zu den Villengegenden im Berliner Westen. Der Autor beschrieb mithilfe seiner wiederkehrenden Figuren, wie die Stadt von der sozialen Praxis des Schwindels territorialisiert wurde. Die Schwindler hatten sich den städtischen Raum angeeignet: Die Ringnepper entfalteten ihre Praxis in der Nähe der Bahnhöfe, die Heiratsschwindler in Cafés, die von Dienstmädchen frequentiert wurden, und eine „schwarze Bande“ schwindelte sich über strategische Annoncen und die Anmietung von wechselnden Lagerräumen ein ansehnliches Warenlager zusammen. Der Schwindel schaffte Bewegung und wirkte wie ein Motor. Auch wenn dadurch Existenzen ruiniert wurden, so wurden Waren mit ausgeklügelten Systemen von A nach B verschoben, Baugeschäfte getätigt etc. – Verbrechen wie der Betrug waren ernst zu nehmende städtische Produktivkräfte.33 Diese Einblicke in die Techniken der Betrugsdelikte scheinen aus der Tätigkeit des Autors als Rechtsanwalt zu stammen. Das traf für einen Teil der Autoren der von Hans Ostwald (1873–1940) von 1904–1908 herausgegebenen Großstadt-Dokumente zu, die anhand ihrer Berufspraxis ihr Anschauungsmaterial zu einem Text verdichteten, der eine Facette, ein Sittenbild der Stadt liefern sollte, als Abhandlung, als Essay oder wie bei Werthauer als eine Geschichte, die durch die Stadt führte. Die räumliche und mobile Praxis des Betrugs

31 GD 21, 71–77. 32 Simmel 1903, 193. 33 Vgl. Zinganel 2003.

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erzeugte bei Werthauer eine netzwerkartige Verräumlichung des Schwindels.34 Mit anderen Worten: „Überall wird gemogelt.“35 Die Schwindler bei Werthauer entsprachen dabei aber durchaus nicht den finsteren Figuren, wie sie von der Bahnhofsmission oder anderen entworfen worden waren.36 Sie wurden von ihren Opfern zunächst nicht als sinister oder bösartig erlebt, sondern als empathisch, hilfsbereit und weltmännisch, sie erleichterten die Ankunft in der Stadt. Auch der Protagonist August, so legt die narrative Strategie Werthauers nahe, schien eine ambivalente Haltung zu ihnen zu haben: Zwar wurde er betrogen und um seine mitgebrachten Ersparnisse erleichtert, aber er fühlte sich auch eingeladen zu diesen „Mahlzeiten“ zwischen Stadtratte und Landratte. Durch die Form der Einladung stellten sich aus der Perspektive von August zunächst Kommunikation und mögliche Beziehungen her, die halfen, die erste Fremdheitserfahrung beim Ankommen am Bahnhof zu überwinden. Die Interaktionen mit den Schwindlern knüpften für August eine Art soziales Netz, später dann immerhin unter den sich betrogen Fühlenden; der Parasit neigt sowohl zur Überschreitung als auch zur Vermittlung von Relationen. Die Landratte lässt sich vom plötzlichen Geräusch aufschrecken, die Stadtratte hat sich daran bereits gewöhnt, offenbar wohnt dem Gastmahl in der Stadt die Bedrohung schon immer inne. Bevor ich im Folgenden nun die Perspektive wechsle und mich um die spezifische (parasitäre) Relation der Stadtforschenden zur Stadt und den von ihnen erforschten AkteurInnen zuwende, bleibt zunächst die Frage, was aus jenen Landratten geworden ist, die sich wie in der Fabel – und anders als August – vom Geräusch vertreiben ließen. Sie waren in unterschiedliche Diskurse über und Begegnungen mit der Stadt involviert, die ich nur kurz skizzieren möchte und die sich zwischen ablehnender Großstadtfeindschaft, aber auch exotisierenden Slum-Erfahrungen und unterschiedlich motivierter philanthropischer Sozialreform bewegten. Aufgrund dieser Ansätze wird sich später die Eigenständigkeit und der Innovationsgehalt der modernen Stadtforschung ab der Jahrhundertwende besser bewerten lassen, deren Perspektive auf Alterität, ja überhaupt erst auf das „Städtische“, „Voraussetzung [war] für die Freiheit, Unterschiede hervorzubringen“.37

34 Zusammen mit den anderen Bänden der Großstadt-Dokumente werden noch weitere Milieus dargestellt, wie die „sexuelle Topografie Berlins“ (Binder 2012), jene der Prostitution und der Zuhälterei, aber auch der des Tanzvergnügens, der bunten Warenwelten und der Berliner Kleidungsindustrie. 35 GD 35, 6. 36 Vgl. Hitzer 2006, 72–122. 37 Lefebvre 1972, 184 (kursiv im Original).

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Nicht-Ankommen: Grossstadtfeindschaft und Degeneration „Sehr anschaulich läßt sich an der Hand der Berliner Statistik (1895) verfolgen, wie eine Stadt die Landbevölkerung an sich zieht“, schrieb der Rassenhygieniker Ludwig Bauer.38 Tatsächlich vergrößerte sich die Stadt Berlin vor allem durch Zuwanderung und nicht durch Geburtenüberschüsse – im 19. Jahrhundert wuchs die Stadt um 872 Prozent.39 Hatte Berlin 1801 173.000 EinwohnerInnen, war diese Zahl 1858 schon auf 500.000 gewachsen, um 1905 schon über zwei Millionen EinwohnerInnen anzuzeigen. Gegenüber der beginnenden Industrialisierung und Verstädterung formierte sich im 19. Jahrhundert ein Diskurs, der, wie es der Historiker Klaus Bergmann nachgezeichnet hat, um die Topoi „Großstadtfeindschaft“ und „Agrarromantik“ kreiste, die insbesondere von Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), einem der Begründer der deutschen Volkskunde im 19. Jahrhundert, akzentuiert wurden.40 Diese Vorbehalte gegen die Stadt hallten auch um die Jahrhundertwende in einem völkisch-konservativen Milieu nach. So beschrieb der Anthropologe und Eugeniker Otto Ammon (1842– 1916) die Großstadt als „physische und psychische Leidensgeschichte des Menschen“, sie sei wie ein kranker Mann, „der an Blutüberfüllungen des Kopfes (die Großstädte) und an Blutmangel in den Beinen und Füßen (das Land) leidet“.41 Die Stadt wurde als ein Moloch oder Magnet beschrieben, der die „Landbevölkerung […] in die Städte hineinsaugt“.42 Auffällig ist, dass in den Schriften der stadtfeindlichen Wissenschaftler die moralischen und kulturellen gegenüber den ökonomischen Argumenten zur Beschreibung der Landflucht überwogen, zum Beispiel wurden veränderte Konsumbedürfnisse und der erotische Einfluss der Stadt benannt.43 Dem Psychiater Ludwig Wilhelm Weber (1868–1926) zufolge herrschten in der Stadt Oberflächlichkeit und Rücksichtlosigkeit: „Nicht die eigene Arbeit allein ist ausschlaggebend, besser fördert oft das Talent, die Arbeit anderer sich zunutze zu machen, der Parasitismus.“44 38 Bauer 1904, 5. 39 Bade 2002, 73. Zum Vergleich: London 340 Prozent, Paris 345 Prozent, Wien 490 Prozent. Während sich das Wachstum von London zu 85 Prozent auf Geburtenüberschüsse zurückführen lässt, belief sich dieser Faktor in Berlin nur auf 27 Prozent. Ebenda, 72. 40 Bergmann 1970, 38–49. Während es in auch in anderen Industrienationen eine Kritik an der Großstadt gab, wird Großstadtfeindschaft als dezidiert deutsches Phänomen beschrieben. Vgl. Engeli 1999, 33–42. 41 Zitiert nach Bergmann 1970, 85. 42 Bonne 1904, 369 f. 43 Von Grünberg 1929, 12 f. 44 Weber 1918, 396. Hier klingt – wenn wir uns an Serres Eingangszitat erinnern – an, dass die Stadt scheinbar mehr Relationen und Gastmahle für den Parasiten bildet. Die Stadtratte lädt die Landratte zum Resteessen ein: „Die Stadtratte hat nichts produziert, ihre Einladung kostet sie nichts.“ Serres 1987, 11.

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Demgegenüber zeichne sich das Landleben durch Bescheidenheit aus und befördere die „Vertiefung der Persönlichkeit“.45 Solcherlei Idealisierung des Landlebens in Riehl’scher Tradition verstellte den Blick auch auf Transformationen der landwirtschaftlichen Arbeitsorganisation, die zur Migration der ländlichen Arbeitsbevölkerung, insbesondere östlich der Elbe, in kleine Städte und in Metropolen wie Berlin führte.46 Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht kam dem Begriff der „Entartung“ eine besondere Rolle zu. Der Begriff ist unter anderem auf die Degenerationslehre des französischen Psychiaters Bénédict Augustin Morel (1809–1873) zurückzuführen, der ihn an die spezifischen Lebensbedingungen und „Milieubedingungen“ der Großstadt koppelte.47 Wilhelm Griesinger (1817–1868), von 1864–1868 Direktor der psychiatrischen Klinik der Berliner Charité, griff Morels Thesen auf, wenn er schrieb: „Grosse Städte liefern ganz entschieden weit mehr Irre, als das platte Land.“48 Der Mediziner Georg Bonne (1859–1945) stellte fest, dass in den Großstädten Geistesstörungen prozentual zunehmen würden, in Berlin fünfmal so häufig wie in Landgemeinden, was er als Folge von Überreizung und Genusssucht interpretierte.49 Joachim Radkau gibt allerdings zu bedenken, dass gerade um die Jahrhundertwende nicht alle Schriften der Mediziner durch eine dezidierte Großstadtfeindschaft geprägt waren, sondern in erster Linie bestimmte Missstände wie das Wohnungselend angeprangert wurden.50 Beispielsweise betonte Albert Moll (1862–1939) zwar den pathogenen Einfluss der Großstadt auf die Entwicklung der Neurasthenie (die besonders häufig Kopfarbeiter befalle), distanzierte sich aber ebenso vom Mythos des gesunden Landlebens.51 Auch Darstellungen des urbanen Lebens in Zeitschriften zeigten sich mitunter aufgeschlossener gegenüber dem städtischen Leben.52 Diese Beispiele sprechen dafür, dass es um die Jahrhundertwende nicht mehr nur einen dominanten (wissenschaftlichen) Diskurs um die Stadt gab, sondern sich verschränkende wie widersprechende Diskursstränge.

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Weber 1918, 396. Heberle 1938. Krämer 2013, 3 und 5. Zitiert nach Krämer 2013, 8. Vgl. zu Griesinger und der Rolle des psychiatrischen Kommentars zu Gesellschaft auch Killen 2006, 32–36. Bonne 1904, 375. Radkau 1998, 310. Vgl. auch Bleker 1983. Moll 1908. Vgl. Dördelmann 1992.

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Exotisierende und philanthropische Transgressionen Ein englisches Arbeiterviertel betritt der Polizeibeamte und der Sensations-Dichter. Wenn die junge Lady seinen alarmirenden Roman gelesen hat, bricht sie wohl in Schluchzen aus, lässt anspannen, und fährt in die von Ihresgleichen nie betretene Gegend, nach welcher der Kutscher kopfschüttelnd den Weg sucht. In der Regel wird das Bad zu stark für ihre Nerven sein; sie schaudert vor der Armuth, sie schaudert vor der Schlechtigkeit und dem Verbrechen, welches überall die Begleiter der sich selbst überlassenden Armuth sind, fährt zurück, um nie wieder die schreckliche Gegend zu sehen, und salvirt ihre Seele durch einen Geldbeitrag an eine Armen-Kommission.53

Diese Polemik des Berliner Stadtplaners James Hobrecht (1825–1902) aus dem Jahr 1868 skizzierte bereits ein Phänomen, das einige Zeit später als slumming zuerst in London bekannt wurde. Slumming bezeichnete die Praxis bürgerlicher Schichten, Touren in die ‚anderen‘, dunklen, unbekannten Teile der Stadt vorzunehmen.54 Dabei überquerten sie sowohl räumliche Grenzen als auch Klassenschranken auf der Suche nach dem Dunklen und Unterirdischen der Stadt. Das Leben im Londoner East End galt als so weit entfernt vom bürgerlichen Alltag, das es als „dunkler Kontinent“ exotisiert werden konnte.55 Zur Praxis der ‚Expeditionsreise‘ in diese Teile der Stadt gehörte die vorherige (oftmals lustvolle) Kostümierung als urbaner Armer, als Anderer der Stadt,56 die Eric Schocket treffend als „class transvestism“ bezeichnet hat.57 In Berlin übernahm der Naturalist Hans R. Fischer (1863–1933) diese Technik für sein Buch Unter den Armen und Elenden Berlins (1887).58 Nach Fischer sollte jeder das Elend aus eigener Anschauung kennen, denn es lohne sich, „in die Tiefen hinabzusteigen und mit den Armen ein Armer zu sein“.59 Handelte es sich bei den meisten Touren um Besuche in Institutionen und Anstalten, so nutzte Fischer für die Besuche im Privatasyl in der Büschingstraße und im städtischen Obdachlosenasyl in der Friedenstraße die Form der verdeckten teil-

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Hobrecht 1868, 16. Koven 2004. Lindner 2004, 15. Koven 2004, 37. Schocket 1998, 110. Koven wählt den Begriff „cross-class masquerades“. Koven 2004, 25. Hans Hyan (1868–1944), ein Autor der GD, bot in seinem Cabaret zur silbernen Punschterrine in der Nähe der Potsdamer Straße 1904 das Veranstaltungsformat Kaschemmenfest an, bei dem sich Bürgerliche als Unterweltler verkleiden konnten. Stein 2007, 203. 58 Fischer wurde auch von Julius Bab (1880–1955) als Chronist der Berliner Boheme um 1890 erwähnt. GD 2, 39 f. 59 Fischer 1887.

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nehmenden Beobachtung. Mittels Verkleidung versuchte er, die Rolle eines Obdachlosen zu spielen: „In einem altersschwachen Anzuge, zu dem ein zerlöcherter Hut vortrefflich passte, langte ich eines Abends gegen neun vor der Nr. 53 der Friedenstraße an.“60 Fischer testete sein „Elendskostüm“61 erfolgreich: Kleide Dich, lieber Leser, willst Du Deine Freunde erproben, in die erbärmlichsten Lumpen und durchschreite die Straßen. Sei versichert, von sechszehn (sic!) Freunden, die Dir begegnen, sehen Dich zehn überhaupt nicht, fünf gehen mit einem halben Blick an Dir vorüber und nur einer flüstert Dir, sprichst Du ihn an, vielleicht zu […]. Alle ‚lieben Bekannten‘, die mir in den Weg kamen, mußten plötzlich kurzsichtig geworden sein; denn sie, sonst die Freundlichkeit in Person, sahen mich absolut nicht.62

Aufgrund seiner Verkleidung erhielt Fischer auch Eintritt im städtischen Asyl, jedoch scheiterte sein Versuch, dort die Nacht zu verbringen, dennoch: „Meine Absicht, bis zum andern Morgen im Asyl auszuhalten, ließ sich nicht verwirklichen. Nirgends bot sich ein Ruhesitz, die Luft wurde immer drückender und ich hatte Mühe, mich aufrecht zu halten.“63 Fischer stieg schließlich über die etwa 200 ruhenden Insassen der Baracke hinweg; wieder in der kalten Nacht, „hob sich die Brust“. Fischer konnte sich als ‚Parasit‘ ins Asyl einschleichen; er störte nicht, fühlte sich aber aufgrund des ungewohnten Ambientes in seiner Nachtruhe gestört und nahm die Rolle der Landratte ein. Die Bedrückung und Beklemmung steigerten sich, bis er wieder dem Ort entfliehen konnte und an die ‚freie‘ Luft trat. Allerdings hatte er einige Mühen, die Institution mitten in der Nacht zu verlassen, denn die Aufseher wollten ihn zunächst behalten: Seine Kostümierung ließ ihn die Rolle als Obdachloser nicht ganz so leicht abstreifen.64 In die städtische Irrenanstalt in Dalldorf begab sich Fischer dann allerdings nur als offizieller Besucher, während es im selben Jahr 1887 auf der anderen Seite des Atlantiks eine Reporterin erreichte, als „pseudo-patient“65 in die Irrenanstalt eingeliefert zu werden: Als die New Yorker Journalistin Nellie Bly (1864–1922) den Auftrag bekam, undercover in der Psychiatrie zu recherchieren, gab es nur das Wort ihres Verlegers, dass er sie dort nach einer Weile wieder

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Ebenda, 10. Lindner 2007, 23. Fischer 1887, 18. Ebenda, 14. Fischer schaffte es bei einem folgenden Versuch, im Privatasyl in einer Pfingstnacht zwar ebenfalls nicht zu schlafen, harrte aber dort über Nacht aus. 65 Rosenhan 1973, 381. Vgl. auch Bulmer 1982.

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herausholen würde.66 Seit Blys Reportage in der New York World und der anschließenden Veröffentlichung ihres Buches Ten Days in a Madhouse gilt sie als eine der Begründerinnen des „stunt journalism“; es waren vor allem Frauen, die diese Art des investigativen Journalismus zwischen 1880 und 1930 vorantrieben.67 Im Gegensatz zum Enthüllungsjournalismus der stunt reporters waren sozialreformerisch motivierte Gänge in das Armenviertel oftmals religiös inspiriert. Seth Koven beschreibt, wie das slumming in London von der Settlement-Bewegung aufgegriffen wurde.68 Die Schweizer Journalistin und Abstinenzlerin Else Spiller (1881–1948) unternahm für ihre Reportage sogar eine Rundreise durch diverse europäische Städte, in denen sie zusammen mit Heilsarmisten die Armenviertel besuchte.69 Die Slums, von Spiller als „Schlammviertel“ übersetzt, waren dort, wo die Armen und „sehr oft auch die Verbrecher zusammen wohnen, die dunkelsten Winkel der Grossstädte, in welche sich kaum die Polizisten hineingetrauen“.70 Spiller nutzte vor allem den Topos des Schmutzes und des Geruchs, um diese Teile der Stadt zu markieren. So stellte sie im Armeleutehaus in Nürnberg fest: „Der Armeleutegeruch hängt an den Menschen.“71 Nach Rolf Lindner bildete sich im 19. Jahrhundert eine Semantik des Schmutzes heraus, die diesen mit Armut und/oder dem Laster verband.72 Das moralische Unternehmen Spillers war daher, die Menschen aus dem Schmutz herauszuholen. Die „Schlammschwestern“ der Heilsarmee,73 waren dabei auch für ihre eigene Reportage hilfreich, für die ihr die Salutistinnen Wege in die Armenviertel und in „Verbrecherkeller“ ebneten.74 Spiller besuchte auch Berlin und war zunächst von der Modernität der Stadt beeindruckt. Im Vergleich zu London schien es ihr, als fehle die Armut, selbst „die Arbeiter kommen in der Mehrzahl gut gekleidet“.75 Doch Spiller fand die Armut schließlich doch im „Judenviertel“

66 Bly (1887) 2011, 9. 67 Darunter: Ida B. Wells, Henrietta Stackpole, Annie Laurie, Bessie van Horst, Rheta Childe Door und Cornelia Street Parker, Elizabeth Banks. Vgl. Lutes 2006, Schocket 1998, Koven 2004. 68 Koven 2004, 228–281. Die Settlement-Bewegung war eine Form der christlichen Gemeindearbeit, bei der die Mitglieder sich gezielt in proletarischen Vierteln ansiedelten, um dort sozialreformerisch zu wirken. Zur Tätigkeit der sozialen Mission ab 1911 rund um den Schlesischen Bahnhof in Berlin vgl. Wietschorke 2013. 69 Spiller 1911. Darin schildert sie die Erlebnisse ihrer Exkursionen nach Amsterdam, Rotterdam, London, Paris, Köln, Nürnberg, Dresden, Berlin, Hamburg, Bethel bei Bielefeld und Kopenhagen. 70 Ebenda, 27. 71 Ebenda, 93. 72 Lindner 2004, 20. 73 Spiller 1911, 27 f. 74 Ebenda, 133 f. 75 Ebenda, 111. Dies deckte sich mit Beobachtungen anderer zeitgenössischer internationaler Beobachter. Vgl. Huret (1909) 1979, 20 und 23.

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(Scheunenviertel) sowie im Berliner Osten und Norden, wo sie das bekannte Obdachlosenasyl Palme besuchte und die Schwestern und Offiziere der Heilsarmee bei ihren Besuchen in Hinterhäuser und Kellerwohnungen begleitete. SozialreformerInnen wie Spiller ging es in ihrem Wirken „weniger um die Verbesserung der Lebensumstände als vielmehr um moralische Verbesserung“ und „um die Vermittlung von Verhaltensnormen“.76

Die Grossstadt-Dokumente als Beginn einer Berliner Sociology Noir Im Kontrast zur bürgerlichen Moralisierung der Elendsreportagen entstand im 20. Jahrhundert ein neues wissenschaftliches Interesse am Urbanen, das auf eine neue Leidenschaft für das Marginale und auf eine andere Sichtweise auf Sexualität und Abweichung schließen lässt. Der Soziologe Roger Salerno bezeichnet diese Art der Stadtforschung, angelehnt an den Film Noir der 1940er- und 1950er-Jahre und die Hardboiled Kriminalliteratur, als Sociology Noir. Sie interessierte sich für das Randseitige und war in ihrem Stil zutiefst von der Moderne beeinflusst: Die moderne Stadt war geprägt durch die Zerstörung alter Lebensformen und durch Prozesse sozialer Desorganisation, durch Dunkelheit, Entfremdung und Geisteskrankheit.77 Noir emerges from cultures struggling with transition, struggling against traditional constraints and wrestling with the vicissitudes of modern life. Noir is the most decidedly urban; it is dominated by men and sometimes women who are in some ways ill fated, or people who survive by being clever but who are frequently disoriented by the currents of modern life.78

Ihre Ausprägung erfuhr diese dunkle Soziologie in der Chicago School of Sociology zwischen 1915 und 1935. In Chicago wurden die Feldforschungen dazu benutzt, um als wissenschaftliches Profil ein sozialökologisches Modell der Stadt zu erarbeiten.79 Die dafür angewendete Form der Reportage, des sich Herumtreibens in den dunklen Ecken der Stadt (nosing around), hatte ihre Vorläufer,80 insbesondere in Berlin, wo zwischen 1904 und 1908 die Großstadt-Dokumente (im Folgenden als GD abgekürzt) erschienen.81

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Lindner 2004, 29. Salerno 2007, 12. Ebenda, 6. Untersucht wurden die Relationen zwischen Stadtraum, Communities und BewohnerInnen, insbesondere in Bezug auf städtische Integration und Desintegration. Vgl. Park (1925) 1984. 80 Lindner 1990. 81 Fritsche 1994, 389 f.

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Die von dem Autodidakten Hans Ostwald herausgegebene Reihe umfasste 50 Bände, welche äußerst unterschiedliche Facetten der Stadt von Prostitution und Spielerei über die neu entstehenden Warenhäuser bis hin zum Pferdesport, dem Okkultismus und der Kaffeehausund Vergnügungskultur beschrieben.82 Hier entstehe die Stadt als etwas „kaleidoskopartig Zusammengewürfeltes“, so Georg Bernhard (1875–1944), ein Autor der GD.83 Auch wenn die GD durchaus – ähnlich wie die Reportagen des 19. Jahrhunderts – den Voyeurismus ihrer LeserInnen bedienten und gewissen Berlinbildern entsprachen, boten sie statt nur einer Repräsentation der Stadt verschiedene und fragmentierte Perspektiven an und entfalteten ein Bild von städtischer Moderne, das sie von anderer zeitgenössischer Literatur abhob.84 Peter Fritzsche betont diesen Innovationsschub der feuilletonistisch orientierten GD gegenüber vorangegangenen Reportagen: Die GD gestehen Störung (disorder) und Fluss einen Platz zu und vermögen so, die Stadt in neuer Qualität zu beschreiben und zu kartieren.85 Mit ihren Beschreibungen von konkreten Orten wie Tanzlokalen oder Kaschemmen haben einige der prominenteren Bände der GD sogar eine Laufbahn als Reiseführer durch spezifische Subkulturen eingeschlagen, zum Beispiel Satyrs Lebeweltnächte der Friedrichstadt (GD 30) oder Magnus Hirschfelds Berlins drittes Geschlecht (GD 3), obwohl dort aus rechtlichen Gründen keine einzige konkrete Adresse genannt wurde.86 Im ersten, von Hans Ostwald selbst verfassten Band der Reihe Dunkle Winkel in Berlin finden sich zwei Reportagen zu paradigmatischen Themen der Stadtforschung: ein nächtlicher Streifzug mit einem Obdachlosen und eine Übernachtung im größten Nachtasyl der damaligen Zeit, der Palme in der Fröbelstraße im Nordosten der Stadt.87 Im Vorwort zum ersten Band entwarf Ostwald die Programmatik der Reihe: Nicht aus „staubigen Urkunden

82 Für dieses Vorhaben gewann Ostwald 39 Autoren und eine Autorin, keine Soziologen, sondern eher ein illustrer Kreis von Leuten verschiedener Profession (Juristen, Journalisten, Publizisten, Ärzte, Rechtsanwälte etc.), die zum Teil der Boheme und der Sozialreform nahestanden. 34 Bände befassten sich dabei mit Berlin, eine vergleichende Sammlung zu Wien beschränkte sich auf sechs Bände. Des Weiteren befassten sich drei Bände mit Hamburg, einer mit St. Petersburg und drei mit stadtübergreifenden Themen. Für eine annotierte Bibliografie siehe Thies/Jazbinsek 1996. 83 GD 8, 1. 84 Vgl. Korff 1989, 82. 85 Fritzsche 1994, 392 und 394. 86 Was die Gleichzeitigkeit von Allgegenwärtigkeit und Unsichtbarkeit der Homosexualität in Berlin um die Jahrhundertwende verdeutlicht. Vgl. Abraham 2009, 98–109 und Binder 2012. 87 GD 1, 71–77. Ostwald machte leider keine Angaben, wie er sich für diesen nächtlichen Aufenthalt gekleidet hatte. Aufgrund seiner eigenen Erfahrung im Landstreichermilieu ist aber davon auszugehen, dass Ostwald das Eintauchen in diese Welten weniger schwer gefallen ist als noch Hans Fischer 17 Jahre zuvor, was schon an seiner eher ironischen Erwähnung von Insekten wie Läusen oder Kakerlaken durchklang. Ebenda, 74.

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und alten Nachrichten zu schöpfen“, sondern das städtische „Leben selbst soll sich mitteilen, soll als Stoff dienen“. Damit biete die Sammlung einen „Wegweiser durch das Labyrinth der Großstadt“.88 Diese Absage an eine Repräsentation durch historische Dokumente und Archivarisches, aber auch an den großen naturalistischen Roman à la Zola bringt Ralf Thies dazu, in seiner Biographie Ostwald den „Ethnographen des dunklen Berlins“ zu nennen.89 Sicherlich unterscheiden sich die GD stark von den im vorherigen Abschnitt skizzierten Slumund Armutsreportagen. Dennoch verdeckt die Emphase auf die Innovation der heterogenen Stadtbeschreibung der GD,90 dass sowohl die inhaltliche wie die empirische Qualität der einzelnen Bände sehr unterschiedlich ausfielen – und einige Bände eben nicht dem Leitmotiv Ostwalds der empirischen und moralfreien Darstellung folgten, sondern in ihrem Gestus eher aufklärerisch, pädagogisch oder sozialreformerisch motiviert waren. Besonders deutlich wird das beispielsweise in der Darstellung des Berliner Sektenwesens im sechsten Band der Reihe, worin der Journalist Eberhard Buchner (1877–1933) wenig unternahm, sich den Sekten in einer verstehenden, zumindest vorurteilsfreien Perspektive zu nähern. Der Autor war hingegen durch und durch einem aufklärerischen Impetus verpflichtet, wenn er die Assoziation dieser religiösen Gemeinschaften mit den eher dunklen Winkeln der Stadt beschwor: „Auf der finsteren Straße läßt sich leicht ein Fehltritt tun; das beste Mittel: man pflanze Laternen auf zu beiden Seiten des Weges.“91 Im Kontrast zur Chicago School gibt es in den GD allerdings auch Studien, die sich nicht nur städtischer Marginalität widmeten und somit ein klassisches studying down betrieben,92 sondern ebenso Reportagen aus den etablierten Milieus (zum Beispiel Georg Bernhards Band über die Berliner Banken oder Edmund Edels (1863–1934) Band über die Neureichen im Berliner Westen), was die Heterogenität der Reihe zusätzlich unterstreicht. Ähnlich wie in den späteren Studien der Chicago School wurde in den GD besonderer Wert auf die Darstellung von konkreten städtischen Orten gelegt und gezeigt, welche Rolle diese für Netzwerke und Infrastrukturen von originellen Gruppen und Praktiken spielten. Der Aufenthalt an diesen Orten generierte eine Typologie diverser Sozialcharaktere, weshalb Louis Wirth (1897–1952) in einer 1925 publizierten Bibliographie zur Stadtforschung die „classification of types“ als das

88 Ebenda, Vorwort. 89 Thies 2006. Wenngleich nur ein Teil der Bände diesem Impuls gefolgt ist, lässt sich zumindest eine ethnografische Tendenz erkennen. Vgl. zur Forschung über die Großstadt-Dokumente die Arbeiten von Fritzsche 1994, Jazbinsek u. a. 2001 und Thies 2006. 90 So bei den in der vorherigen Anmerkung genannten Autoren, insbesondere Fritzsche. 91 GD 6, 3. 92 Zur Karriere von „studying down“ und die Präferenz für die Erforschung des „underdog“ in der Anthropologie vgl. Nader 1972, 303.

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methodologische Leitmotiv der GD herausstellte.93 In den GD wurden Lebensgeschichten von Personen geschildert, die, wie Thies bemerkt, sonst nur in Kranken- oder Polizeiakten auftauchen würden.94 In den GD finden sich Geschichten von Kontrollmädchen, unehelichen Müttern, Kriminellen und Zuhältern – damit fokussierten die Bände auf die Schnittstellen von großstädtischem Leben und mental health.95 Darüber hinaus gewannen die LeserInnen aber auch Einblicke in die differenzierte Kaffeehauskultur Berlins und die sich an diesen Orten herausbildenden Szenen. Entgegen den Ansätzen philanthropischer ‚Aufklärerinnen‘ wie Else Spiller war es Ostwalds Ziel, jenseits bürgerlicher Vorstellungen nach den Moralvorstellungen und Kodizes der untersuchten Gruppen zu fragen – und dabei deren Sprache und Soziolekte ernst zu nehmen. Exemplarisch lässt sich das an Ostwalds Beschreibungen der Berliner Zuhälter, parasitären Figuren par excellence, zeigen, die provozierten, weil sie nicht den üblichen zeitgenössischen Darstellungen und den damit verbundenen Moralvorstellungen folgten.96 Trotz dieser anderen Perspektive auf Sexualitäten blieben die GD bis auf einen einzigen von einer Frau herausgegebenen Band ein männlich dominiertes Projekt, was sich in der Chicago School fortsetzte. Wie kam es zu diesem Ausschluss der Frauen aus der Sociology Noir? Während am Ende des 19. Jahrhunderts in den Praktiken des stunt journalism und des slumming noch zahlreiche Frauen aktiv waren, nahm ihre Rolle in der Stadtsoziologie ab. Jean Marie Lutes sieht einen Zusammenhang mit der Rationalisierung des (hysterischen) Frauenkörpers im 19. Jahrhundert und der Zähmung der chaotischen Stadt durch eine männliche Erzähler-Figur: Gerade weil die Stadt vom sexuellen Exzess bevölkert schien, brauchte es den männlichen Erzähler. Die Bedrohung durch die Stadt wurde verbunden mit der Bedrohung durch die übersexualisierte Frau. Die female stunt reporters agierten insofern im Zwischenraum: Da ihnen die Rolle der objektiven Reporterin verweigert wurde, nahmen sie die Rolle der besonders interessierten und empathischen Beobachterin ein. Sie setzten – wie im Beispiel von Nellie Blys Irrenhausaufenthalt – ihren eigenen Körper ein, um damit später Berichte aus erster Hand liefern zu können. Das embodiment der stunt reporters wurde zur Herausfor93 Wirth (1925) 1984, 221. 94 Thies 2006, 171. Mit den Worten Ostwalds: „Menschen anderen Menschen nahebringen. Menschen für einander zu interessieren“ (GD 5, 8). 95 Robert E. Park charakterisierte die Stadt gar als Klinik oder Labor. Park 1915, 612. Deshalb waren die GD für die Forschungsgruppe Kulturen des Wahnsinns so interessant, weil sie einen anderen Blickwinkel auf das Auffällige und Andere der Stadt boten als der alleinige Zugang über die psychiatrischen Krankenakten. In der Verknüpfung von psychiatriehistorischen und stadthistorischen Perspektiven wird ein Begriff wie ‚Störung‘ nicht nur als Defekt oder Unterbrechung verhandelbar, sondern auch im Sinne von Transformation, Konsolidierung und als etwas, das neue Dynamiken freisetzt. 96 Vgl. GD 5.

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derung der neutralen männlichen Expertise.97 Während am Ende des 19. Jahrhunderts Journalistinnen diese (parasitären) Qualitäten zugetraut wurden, fehlten sie in der Erzählung der Sociology Noir.98 Für die Erforschung der gefährlichen Straßen von Chicago waren sie nicht vorgesehen, diese waren dem abenteuerlustigen Männer-Forscher überlassen – Robert E. Park (1864–1944) und Ernest W. Burgess (1886–1966) distinguierten die Wissenschaft der Stadtforschung von feminisierter Sozialarbeit.99 Auch die meisten erforschten Akteure der Chicago School waren männlich. Frauen kamen eher als Opfer oder Femmes fatales vor.100 Auch in den GD entsteht der Eindruck, dass eine der wenigen Rollen, die Frauen zugedacht war, die der Prostituierten war.101 Weil die meist nächtlich geschilderten Straßen und Kaschemmen ständig von ihnen bevölkert sind, trugen einige Bände der GD zum Mythos des sündigen Berlins bei, das, wie es schien, ein einziger Straßenstrich war. Es bleibt die Frage, ob dies nicht vielmehr dem männlichen Blick auf die nächtliche Stadt und ihren Verlockungen geschuldet war. Eine Konsequenz davon war auch, dass Frauen, die sich die nächtliche Stadt aneignen wollten, genau durch diese Brille gesehen wurden.102 Während Sexualität ein bestimmendes Thema dieser Berliner Bände war und allgegenwärtig schien, wurde Geschlecht als positionszuweisende Kategorie wenig thematisiert. Lediglich der 26. Band der GD wurde von einer Frau verfasst. Dort kritisierte die Schriftstellerin Ella Mensch (1859–1935) ausgerechnet die radikale Frauenbewegung als Bilderstürmer in der Berliner Frauenbewegung. Es scheint, als sei ab dem 20. Jahrhundert eine Arbeitsteilung in der Beschäftigung mit dem Städtischen eingeführt worden: Frauen konnten als Sozialreformerinnen tätig sein, die Forschung und das damit verbundene Abenteuer blieb den Männern vorbehalten, die ab nun in ihren Schriften durch das großstädtische Labyrinth navigierten. Die männlichen Forscher und Reporter hatten sich dieser Relation aufgepfropft, sie gaben vor, mit der Stadt als (gefährlichem) Ort umgehen zu können. Im Folgenden werde ich die relationale Perspektive von Serres aufgreifen und fokussieren, für welche städtischen Praktiken und Taktiken sich die Sociology Noir interessierte, um danach zu analysieren, wie die Forschenden selbst zu Parasiten wurden, welche Positionen sie einnahmen und wie sie diese Art der Störung produktiv nutzten oder kaschierten. 97 Lutes 2006, 35–38. 98 Zum systematischen Ausschluss von Frauen im Chicagoer Department durch Ernst W. Burgess vgl. Deegan 1988. 99 Ebenda, 155. 100 Salerno 2007, 172 f. Gabriele Dietze beschreibt, wie auch in Boheme-Kreisen die weibliche Libertinage viel angefeindeter war und deshalb bestimmte Anschuldigungen affirmiert und weitergesponnen wurden und so der ‚Skandal‘ ein möglicher Handlungsmodus wurde. Dietze 2012. 101 Zur Figur der Prostituierten im Kontext von Stadtbeobachtung und -beschreibung vgl. den Text von Beate Binder in diesem Band. 102 Schlör 1991, 170.

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Das Darstellen und Verfolgen parasitärer Taktiken Viele der in den GD charakterisierten städtischen Praktiken lassen sich im Sinn von Michel de Certeau als Taktik oder List verstehen. Damit charakterisiert de Certeau eine Handlung, die im Gegensatz zu den Strategien der Herrschenden durch ein „Handeln aus Berechnung“ bestimmt ist.103 Die subversive Taktik hat keinen eigenen Ort, sondern nur den „Ort des Anderen“.104 Sie ist die List der Schwachen, die Lücken in der Überwachung nutzt und stärker als die Strategie, die an einen Ort gebunden ist, auf einen „geschickten Gebrauch der Zeit“ setzt, auf Gelegenheiten und Lücken wartet, in denen sie „wildert“.105 Damit ist die von de Certeau ausgemachte Taktik ein „para-site“.106 Im Sinne der Vorsilbe para fungiert sie neben einer Sache, sie benutzt eben nicht eine feste Position oder einen Ort, sondern sie ist Teil der Beziehung: „Mit der Position umgehen, mit dem Ort umgehen, heißt die Beziehung beherrschen. Es heißt Beziehung nur zur Beziehung selbst haben.“107 Damit nimmt der Parasit beziehungsweise die parasitäre Taktik die Position einer radikalen Alterität ein, ohne eigenen Ort, aber ständig Beziehungen knüpfend – eher ein sich ständig veränderndes Geflecht (meshwork) als ein graphisch darstellbares Netzwerk.108 Beispielsweise besetzten die von Ostwald beschriebenen Berliner Zuhälter im Sinne de Certeaus keinen eigenen Ort, aber eine Ansammlung von Lokalen und Kaschemmen ermöglichte ihnen, ihren eigenen taktischen Tagesablauf zu strukturieren. Wenn die zahlreichen Destillen und Kaschemmen aufgrund der Polizeistunde zwischen zehn und elf Uhr abends schließen mussten, dann war die Stunde der „Bouillonkeller“ gekommen. Obwohl diese Wirtschaften ohne Konzession keinen Alkohol ausschenken durften – es gab bloß Kaffee, Limonade, Bouillon und Stullen – schienen sie im Jahr 1904 der neueste Trend zu sein, um die Sperrstunde zu unterlaufen.109 In ihnen war zwischen ein und zwei Uhr am meisten los und sie wurden von Prostituierten und Zuhältern stark frequentiert.110 Am Morgen gegen sechs öffneten dann die ersten Kaffeehäuser: „So hat das Zuhältertum für alle Tageszeiten seine Schlupfwinkel.“111 Des Weiteren schilderte Ostwald ein spezifisches Warnsystem der 103 De Certeau 1988, 89. De Certeaus Ansatz ist es, Foucault als Analytiker der (unausweichlichen) Strategien eine Perspektive der diese unterlaufenden Taktiken gegenüberzustellen. 104 Ebenda, 21. 105 Ebenda, 92 und 89 106 Marcus 2000, 6. 107 Serres 1987, 64. 108 Zur Unterscheidung von network und meshwork siehe Ingold 2007. 109 Zur Polizeistunde vgl. Hoelger 2011 und Schlör 1991, 98–115. 110 GD 1, 8 (Beschreibung des Treibens im Bouillonkeller in der Prinzenstraße). 111 GD 5, 80.

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Prostituierten.112 Die Zuhälter wiederum operierten taktisch mit „Mimikry“: Sie kleideten sich nicht mehr auffällig mit Ballonmützen und roten Halstüchern wie noch einige Jahre zuvor. Sie glichen, wie Ostwald präzisierte, eher dem Typus des wohlhabenden Kleinbürgers, den kleinen Geschäftsleuten, so manche ähnelten gar den Kriminalbeamten.113 Auch in anderen Bänden spielten Taktiken eine große Rolle, beispielsweise jene der „Langfinger“ in den Warenhäusern,114 natürlich auch die der eingangs skizzierten Nepper und Betrüger, die der „Falschspieler“115 sowie jene der „Tipster“ auf der Pferderennbahn, ehemalige Stalljungen oder Jockeys, die als Tippmacher oder Tippgeber auftraten und zahlreiche Tricks kannten, um Polizeikontrollen zu unterlaufen.116 Wie haben die neuen Dokumentaristen des Städtischen diese Taktiken erkundet? Wie wurden sie zu diesen Gelegenheiten eingeladen? Waren sie in der Rolle des Gastes oder des Gastgebers, oder haben sie sich eingeschlichen, um diese ‚Mahlzeiten‘ wie im Bouillonkeller undercover auszuspähen? Welcher eigenen Methoden und Taktiken haben sie sich bedient? Thies vermutet, dass Ostwald seinen Autoren zunächst Stadtwanderungen als Methode vorschlug.117 Allerdings nutzte von diesen nur ein Teil wirklich Touren oder Spaziergänge als stilistisches Mittel; ein Großteil der Bände waren Berichte von Insidern über ihre Klientel oder über eine spezifische Institution wie die Schule oder die Polizei. Tauchten (vor allem nächtliche) Straßenszenen auf, so waren diese meist ausschließlich von der Prostitution und Zechgängern belebt.118 Das geschilderte Berlin war dunkel und kalt, deshalb strebte das nächtliche Leben in die mehr oder minder beleuchteten Lokalitäten. Viele der Autoren der GD schienen den Herbst oder Winter für ihre Forschungen zu präferieren, dieser Aspekt betont jedenfalls den Stil noir. Das fällt besonders auf, wenn die Erzählung mal ins Helle, ins Sommerliche wechselt und damit die Funktion übernimmt, die Normalität und das zutiefst Kleinbürgerliche von Gruppen wie den Zuhältern zu unterstreichen.119 Gehen hat in der Sozialreportage den Aspekt, aus den vertrauten Bezirken herauszukommen, in jene Stadtbezirke, die räumlich gar nicht weit entfernt sind, aber dennoch als die anderen Orte der Stadt gelten. Um diese sozialen Barrieren zu überbrücken, bot es sich an, 112 113 114 115 116

Ebenda, 52. Ebenda, 75 f. GD 47, 72 ff.. GD 35, 19 ff., 48. GD 10, 37. Der Staat in Form der Polizei war in allen GD-Schilderungen immer in der Nähe, selbst im eleganten und neureichen Berliner Westen: „Wenn der Berliner sehr lustig wird, dann ist der Schutzmann nicht mehr allzufern.“ GD 50, 47. 117 Thies 2006, 156. 118 Siehe zur Faszination des Dunklen und der Nacht auch Schlör 1991. 119 GD 5, 71.

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eine schon bestehende Relation zu nutzen, das begleitende Gehen wurde zur parasitären Taktik der Stadtreportage. Magnus Hirschfeld (1868–1935) begleitete beispielsweise die „Trinkerrettungsbrigade“ der Heilsarmee auf ihrem nächtlichen Rundgang durch Kreuzberg, um Erkenntnisse für seine Studien zum städtischen Alkoholkonsum zu gewinnen.120 Der Sozialdemokrat Albert Südekum (1871–1944) suchte ebenfalls nach dem Anschaulichen der Sozialreportage für den GD-Band Großstädtisches Wohnungselend, das er den nüchternen Zahlen gegenüberstellen wollte. Dafür begleitete er einen befreundeten Arzt in die Armutsquartiere rund um die Reinickendorfer Straße. Südekum wurde, greife ich La Fontaines Fabel wieder auf, zur Landratte, die in ein ihr unbekanntes Terrain vorstößt und anfällig für Störgeräusche wird. Bei Südekum kam der Gestus der Exotisierung, der an die viktorianischen Expeditionen in die ‚dunklen‘ Stadtteile erinnert, wieder hervor. Der Gang in den Wedding wurde wie eine Forschungsreise beschrieben, die Mietskaserne wurde als „Karawanserei“ orientalisiert, in der man den Verstand verlieren könne, zudem herrsche ein beklemmender Geruch:121 „Der Windelgeruch ist für alle Proletarierwohnungen typisch. Und wie die kleinen Kinder am meisten zur Luftverschlechterung beitragen, so leiden sie auch wiederum am meisten darunter. Was den Vater in die Kneipe treibt, treibt das Kind in die Grube.“122 Die Berliner Mietskasernen, die Südekum beschrieb, galten als Sinnbild der negativen Charakterisierung eines „steinernen Berlins“123, ebenso als Habitat von möglichen Störern der städtischen Ordnung und als Verkörperung städtischer proletarischer Armut. In der Herausstellung des Geruchs wurde die soziale Frage hier zu einer Geruchsfrage – und das nosing around der Sozialreportage wurde buchstäblich zu einer Forschung mit dem Geruchsinn. Wie bei La Fontaine das Störgeräusch einer knarrenden Tür, so hatte der Geruch eine ähnliche Funktion bei Südekum: Der Gestank markierte eine Schwelle, welche den Vater vertrieb, welche dem Reporter den Übertritt erschwerte, denn hier wurde die Praxis der Beobachtung auch zum sinnlich verstörenden Erlebnis. Es sei die „Unüberwindlichkeit der Geruchseindrücke“, so Georg Simmel, welche die Ignoranz der meisten Bürgerlichen gegenüber diesen Verhältnissen begründe, denn die „soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage“.124 Wenn die Armen mit dem Geruch, den sie „mit sich herumschleppen“125 derart imprägniert sind, ist der Geruch ein einfaches Distinktionsmerkmal für die Unterteilung in soziale Klassen. Mit dem Geruch wurden Krankheit und Armut, aber auch Sittenlosigkeit 120 121 122 123 124

GD 41, 109 f. GD 45, 19. Ebenda., 34. Hegemann 1931. Simmel 1992, 205. Vgl. zur Entstehung der ‚Unduldsamkeit‘ gegenüber dem Geruch und der „Desodorisierung“ der Städte Corbin 1988, 9–13. 125 GD 1, 53.

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assoziiert, der damit verbundene Ekel führte zur Distanzierung der bürgerlichen Klasse von der Armut.126 Während das Gehen als Methode eine topologische Beziehung zwischen Orten herstellte,127 es Lokale, Kaffeehäuser, den Straßenstrich, die Boheme und die Textilindustrie verbinden mochte, so war das Riechen bei Südekum eher ein Moment der Verstörung: Statt einem Geräusch war es hier der Geruch, der die ‚Mahlzeit‘ unterbrach. Der Geruch markierte eine topographische Schwelle, nämlich die Grenzüberschreitung zur Lebenswelt der unteren Schichten. Dennoch zog es gerade die frühe Stadtreportage wie die Chicago School oder den Berliner Kreis um Hans Ostwald in die stinkenden Ecken der Stadt. Auch wenn im Rahmen der GD keine längerfristige ethnologische Studie betrieben wurde, lässt sich in diesen Reportagen und Milieustudien durchaus ein genuin ethnographischer Ansatz erkennen: die Beobachtung sozialer Phänomene in ihrer unmittelbaren Umgebung. Diese, von der Chicago School später als Sozialökologie bezeichnete Strategie unterscheidet sich bezüglich der Beobachtung von Individuen in Institutionen, zum Beispiel der Psychiatrie. Der Ansatz, Subjekte in ihrer eigenen Lebenswelt zu untersuchen, stand somit im Kontrast zu einem Positivismus der zeitgenössischen Wissenschaft, wie sie beispielsweise in der Kriminologie durch Cesare Lombroso (1935–1909) vertreten wurde.128 Ostwald skizzierte dieses Programm als „Abweichen von der üblichen Schablone“.129 Diese Abweichungen von einer gängigen Repräsentation produzierten neue Perspektiven. Freilich waren einige der AutorInnen eher davon besessen, zu ent-stören, also mit ihrer Version der Dinge die ‚wirkliche Wahrheit‘ aufzudecken. Das zeigt sich in dem Impetus, „hinter die Kulissen zu schauen“, wo andere nur an den Oberflächen ‚herumdoktern‘.130 In welche Situationen und Rollen begaben sich die Reporter der anderen Stadtbeschreibung? Wie wurden die Autoren der GD, aber auch der anderen zeitgenössischen Reportage selbst zum Parasit?

126 Vgl. Corbin 1988, 189–200. 127 Vgl. Günzel 2007, 25. 128 1899 bezeichnete Josiah Flynt Willard (1869–1907), der Verfasser von Tramping with Tramps, seine Forschungssubjekte als menschliche Parasiten, um einen Vergleich zwischen der Parasitologie im Labor und seiner Erforschung von Menschen in ihren konkreten Lebenswelten zu ziehen. Er zog das Register eines vorurteilsbeladenen Begriffs, um die Naturwissenschaftlichkeit seiner Methode zu untermauern, die er allerdings von Zeitgenossen wie Lombroso abgrenzte. Lindner 1990, 155–158. 129 Einleitung zu GD 23, 4. 130 Thies 2006, 194.

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Der Stadtforscher als Parasit Lindner hat gezeigt, dass die Interaktion zwischen ForscherInnen und Beforschten im Feld immer eine parasitäre ist. Während der Forscher als Besucher, als Gast kommt, um zu sehen (für ihn also Beobachtung die Rolle von Handlung einnimmt), was die anderen tun und was ihm quasi dargeboten wird, sind die anderen in ihr Handeln verstrickt.131 Der Parasit versucht, sich in den fremden Relationen einzurichten, daher sorgt er zunächst dafür, dass es dem Wirt gut geht. Parasiten erzeugen ein Gewebe, das mit dem des Wirtes identisch ist, sie üben Mimikry:132 Der Parasit „täuscht vor, derselbe zu sein“.133 Die Stadtreportage brachte so Grenzgänger hervor, zum einen disziplinär zwischen Reportage, Sozialwissenschaft und Sozialreform,134 zum anderen zwischen sozialen und (sub-)kulturellen Grenzen in der Stadt: Sie übten sich im Parasitären, sie wurden zum Parasiten. Die Art der Überschreitung dieser Grenzen sagt viel über den Forscher als (bürgerliches) Subjekt aus, wie vertraut oder unbekannt ihm die anderen Stadt-Welten waren. Während Hans Ostwald oder Nels Anderson (1889–1986), der Autor von The Hobo (1923), eigene Erfahrungen mit dem Vagabundenleben hatten und ihnen so ihr Forschungsgegenstand zum Teil vertraut war, mussten andere stärker am Schwellenübertritt arbeiten. Ich habe bereits auf die Praktiken der Camouflage hingewiesen, wenn sich Forscher mit einem „Elendskostüm“ verkleideten. Im performativen Akt der Verkleidung entsteht ein spezifischer Zwischenraum des Othering, indem zunächst die eigene Person verändert wird (durch Verkleidung und die Annahme eines anderen Habitus), bevor dann in das Milieu der Anderen eingedrungen wird, um über sie später zu berichten – aus der parasitären Erfahrung am eigenen Leib. Wird die Praxis des Verkleidens genutzt, um als Anderer durchzugehen, findet ein ­Passing statt, im Sinne der Fähigkeit, die Intelligibilität von normativen Ordnungen – wie zum Beispiel geschlechtlicher Identitäten oder spezifischer sozialer Milieus – zu unterlaufen oder zu ‚durchqueren‘.135 Das Elendskostüm wurde zu einem Gestaltenwandler, zum Passing von normativen Regeln beziehungsweise von Klassengrenzen und führte zu einem embodiment des in dieser Rolle Erlebten.136 Der Wiener Journalist Emil Kläger (1880–1936) testete seine 131 Lindner 1981, 63. 132 In einem anderen Kontext als der Stadtforschung nahm Frederick W. Taylor (1856–1915), der Begründer des Scientific Management, diese Rolle der Parasiten ein, indem er, verkleidet als Arbeiter, in den Werkhallen am konkreten Arbeitsplatz Probleme der Rationalisierung studierte. 133 Serres 1987, 310. 134 Manchmal aber auch zur Kriminalistik. 135 Vgl. Lorenz 2007, 235. 136 Insofern hat der Stadtforscher hier nicht nur einen Hang zum Parasitären, sondern ihm wohnen auch Elemente des Tricksters inne.

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Verkleidung als Wiener Vagabund, indem er an einem Wachmann vorbeilief. Dessen bedenklicher Blick bürgte für die Güte der Verkleidung, was Kläger sehr viel Vergnügen bereitete.137 Während die klassenspezifische Kostümierung bei den Bürgern zum Übersehen der Person führte – wie bereits an der Verkleidung Hans Fischers beschrieben –, so wurde für die Autoritäten die Person erst dadurch interessant, während sie in ihrem Bürgerstaat die Situation unbemerkt durchquert hätte. Kläger berichtete an einer anderen Stelle von seinem Gang zu den Obdachlosen in der Wiener Kanalisation: Es war elf Uhr abends, eine lustig funkelnde Nacht im November, als wir unseren ersten Weg zu den Obdachlosenlagern unter der Stephaniebrücke machten. Schon tagszuvor hatten wir den Eingang dieses Kanalschachtes und seine Umgebung in Augenschein genommen. Diesmal hatte ich mit meinen Vagabundenkleidern zugleich eine ausgelassene Munterkeit angelegt. Es schien mir, als könnte ich jetzt alles sagen und tun, unbelästigt von dem Zwange gesetzter Bürgerlichkeit. Der Richter [Klägers Bekannter Hermann Drave] trug einen kleinen mit Munition wohlversorgten Apparat in der Innenseite eines Ueberrocks verborgen, dessen Verwüstung ihm wohl große Mühe gekostet haben mußte. An Waffen trugen wir für alle Fälle je einen englischen Schlagring mit gehärteten Stahlspitzen und einen kleinen Revolver mit.138

Die Verkleidung für die Reportage gibt Auskunft über die „soziale Kluft, die Forscher und zu Erforschende trennt“; die Verkleidung führt zur Decodierung von „Klasse als System kultureller Zeichen, bei dem Schmutz eine zentrale symbolische Rolle spielt“.139 Klägers Hinweis auf die Herrichtung des Überrocks seines Kompagnons, der von diesem in eine schlechte Form gebracht wurde, ist hier erhellend. Statt sich aus einem Fundus etwas auszuleihen, wurde die eigene Kleidung kaputt und schmutzig gemacht, damit sie authentisch abgenutzt wirkte. Die investigative Untersuchung verlangte nach einer Schwellenerfahrung der ReporterInnen – auch der stunt journalism einer Nellie Bly zeugt davon. Im Gegensatz zu den AkteurInnen auf der anderen Seite können diese ForscherInnen aber wieder zurückkehren. Der Effekt des Noir, die dunklen Seiten der Stadt zu evozieren, erhöhte auch das bürgerliche Subjekt, heroisch diese Grenzen zu überwinden.140 Der Hinweis von Kläger, dass sie nicht unbewaffnet in die Kanalisation gingen, legt davon Zeugnis ab. Die Präferenz für Formen der „verdeckten teilnehmenden Beobachtung“141 – durch Techniken der Undercover-Reportage wie Passing und Camouflage sowie dem Spielen einer Rolle 137 138 139 140 141

Kläger 1908, 73. Ebenda, 43. Lindner 2007, 24. Gilloch 1996, 148. Thies 2006, 43, Linder 2007, 23.

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– verweisen auf das Spannungsverhältnis von Beobachtung und Störung. Die frühen StadtforscherInnen haben kaum mit längeren Formen eines Eintauchens ins Feld experimentiert, daher bieten die meisten Berichte eher Streiflichter und Momentaufnahmen von zeitlich begrenzten Besuchen, bei denen es kaum Reflexion über die Rolle des Forschenden gibt. So erläuterte Ostwald, der selbst die schillerndsten Berichte des dunklen Berlins in den GD lieferte, jedenfalls nicht, wie er an den beschriebenen Situationen teilgenommen hat: Saß er im Bouillonkeller oder in den Kaschemmen der Zuhälter und Prostituierten eher zuhörend am Rand oder direkt mit am Tisch, war er gar selbst involviert in die Dialoge, die er aufzeichnete? Waren die Milieu- und Typenbeschreibungen von ihm aus eigener Anschauung verfasst worden oder kolportierte er sie aus ‚zweiter Hand‘, von Gewährsleuten oder Schlüsselpersonen des Feldes, zu denen er Kontakt hatte? Und: Gab er sich dem Feld gegenüber als Forscher aus, oder wählte er eine Form der nicht-teilnehmenden oder verdeckten Beobachtung, indem er sich als Zechgänger oder Freier ausgab? Indem Forschende ihre Identität verhüllten und sich dem Feld anpassten, versuchten sie – so könnte mit Serres argumentiert werden – sich in die Position des unsichtbaren Parasiten zu begeben: des Beobachtenden, der selbst nicht beobachtet wird und sich in Mimikry übt.142 Neben der Möglichkeit des einfacheren Zugangs, wie beispielsweise eine Nacht im Obdachlosenasyl zu verbringen, sollte die Position der verdeckten Forschung die Illusion aufrechterhalten, das zu erforschende Feld beziehungsweise die Situation werde durch das „ethnologische Rollenspiel“143 nicht gestört. Das ist Stadtforschung im Modus der parasitären Ent-Störung. Diese verdeckte Position in der Forschung gilt heutzutage als umstritten bis illegitim, außerdem wird die Rolle von Forschenden als Störfaktor im Feld eher produktiv bewertet. Eine Anekdote aus der prominenten Stadt- und Community-Forschung William Foote Whytes mag für das Problem von zu viel Entstörung und Assimilation im Feld daher erhellend sein: Als Whyte nach einer Weile im Feld plötzlich gegenüber den „Corner Boys“ anfing, in deren Slang zu reden und spezifische Obszönitäten und Codes zu verwenden, waren sie irritiert und baten ihn, damit aufzuhören. Diese Feld­ anekdote vermittelte Whyte die Erkenntnis, dass es den Corner Boys nicht darum gehe, dass Whyte wie sie werde, sondern für sie war entscheidend, dass sich jemand aus der weißen Mittelklasse für sie interessierte und ihnen zuhörte.144 Die Rolle des Parasitären und die relationale Perspektive zwischen Forschenden, Forschungsfeld und Erforschten wird hier erweitert und verkompliziert den Modus der Forschungssituation: Wer ist GastgeberIn, wer ist Gast, welche Art von Mahlzeit und potenzieller Störung findet statt?

142 Serres 1987, 365. 143 Wietschorke 2013, 240. 144 Whyte (1943) 1973, 304.

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Schluss Die Stadt macht Lärm, aber der Lärm macht die Stadt.145

In diesem Beitrag habe ich einen Zeitraum betrachtet, in dem das moderne Städtische entstand beziehungsweise produziert wurde. Meine Ausführungen habe ich mit der Erzählung von zwei jungen Menschen vom Land begonnen, die kurz nach der Jahrhundertwende in die Stadt kamen und dort einiges erleben mussten. Der städtefeindliche oder vor der Stadt warnende Diskurs verglich die Stadt dabei mit einem Magneten oder einem Moloch, dem die Neulinge ohne Schutz ausgeliefert waren. Dennoch gefiel es August und Mieze am Ende gut in der Stadt, wie in Augusts Nachschrift des anfangs zitierten Briefs von Mieze erkennbar ist: „Was den Schwindel anbetrifft, so hat das seine Richtigkeit, lieber Schwager, aber sonst ist es doch auch sehr schön hier, und namentlich was das Flaschenbiergeschäft anbetrifft, alles in Ordnung.“146 August und Mieze hatten offensichtlich mittlerweile ihre schwindelhaften Stadterlebnisse des Ankommens überwunden und in der Zwischenzeit gelernt, wie sie sich in städtischen Interaktionen verhalten mussten. Oder mit Serres gesprochen: Damit die Landratte bei der Stadtratte bleibt, muss sie ihr ähnlich werden; sie muss sich an die Geräusche und an die Störungen gewöhnen, sich in der Stadt domestizieren. „Denn der Städter, der gegen Angriffe solchen Kalibers immun ist, geht nur ein wenig beiseite und kehrt sodann an die Tafel zurück. Ohne diese Gewöhnung vermöchte er sich gar nicht zu ernähren. Er hat also ein beständiges Verhältnis zu den Störungen; sie sind ihm vertraut, er weiß sie zu zähmen, er ist selbst akklimatisiert. Er ist durch die Parasiten geimpft.“147

Die Stadtratte ist demnach weniger anfällig für die Störungen beziehungsweise weiß, mit ihnen umzugehen. Der Parasit und die Störung gehören zu den Produktivkräften des städtischen Wandels: Sie stellen Relationen und Netzwerke her, sie sorgen wie im Fall des Schwindels für Mobilität und Dynamik. Die von Werthauer geschilderten komplexeren Formen des Betrugs wie der Waren- und Kreditschwindel arbeiteten alle mit Techniken der Verschiebung und Verlagerung und bildeten insofern eine Allegorie zum Handel auf dem Börsenparkett.148 Der von Werthauer favorisierte Begriff des Schwindels lenkte dabei mehr als der nüchterne Begriff des Betrugsdelikts auf die Konnotation von Zauberei und des Verführt-Werdens, auch 145 146 147 148

Serres 1987, 29. GD 21, 19. Serres 1987, 84. Vgl. den Beitrag von Dorothea Dornhof in diesem Band. In der wohl umfangreichsten zeitgenössischen annotierten Bibliografie zur Stadtforschung notierte Louis Wirth über den Band von Werthauer: „Showing the extent to which fraud has become a technical profession.“ Wirth (1925) 1984, 219.

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auf die Nähe zum Affektiven, zum Taumel, zur Ohnmacht. Beim Schwindel verschwindet immer was: Geld, Stoffe und schließlich, wenn der Betrug aufgefallen ist, verschwinden die Urheber des Schwindels. Werthauers narrative Strategie versuchte, das mobile und sich ständig im Raum verlagernde Wesen des Betrugs einzufangen, das einen bedeutenden ökonomischen Faktor in der Stadt darstellte. So schloss auch Edmund Edel im letzten Band der GD über das neue Berlin des Westens, dass insbesondere Geschäfte der Schieberei die Stadt in der Gründerzeit und danach ökonomisch angetrieben und zu ihrer zunehmenden Ausdehnung und Verstädterung geführt hätten.149 Die Stadtreportage der Berliner GD war ein Ansatz, diesen vielfältigen, fragmentarischen Verschiebungen eine Repräsentation zu schaffen, die zumindest in ihrer Gesamtsicht Störung, Turbulenz, Konflikt und Abweichung als Elemente großstädtischer Moderne anerkannte. Diese Phänomene waren nicht nur Teil der städtischen Moderne, sondern konstituierten sie. Die Störung selbst muss nach Serres kein Hindernis für Entwicklung sein, sie bildet vielmehr den Anfang eines Systems.150 Die Perspektive auf das Parasitäre in diesem Aufsatz hat gezeigt, wie die frühe Stadtforschung zum Parasiten werden musste, um Alterität jenseits von Klassengrenzen und räumlich-moralischen Schwellen zu erforschen. Gegenüber Vorläufern der Stadtreportage aus dem 19. Jahrhundert und Praktiken des slumming, bei denen die Armen besucht, diese aber immer wieder auch als Störelement der bürgerlichen Stadt begriffen wurden, zeichnete sich die frühe Sociology Noir durch ein sich veränderndes Verständnis von Alterität und Differenz aus. Die Störung wurde produktiv – der urbane Raum ist besetzt von den Parasiten wie der Mobilität des Schwindels, die, um de Certeau erneut aufzugreifen, die Lücke nutzt, um in ihr zu wildern. Die Beobachtung dieser Praktiken nutzte Techniken der Reportage, die später in Chicago Eingang in den akademischen Empirismus fanden.151 Ostwalds Plädoyer für eine moralische Unvoreingenommenheit in der Darstellung wurde bei Werthauer konsequent anhand der Figur des August ausgearbeitet: Die Offenheit dieser Landratte wurde von den gewieften Stadtratten zwar ausgenutzt – aber sie ermöglichte erst eine relationale und verstehende Perspektive. Nicht alle AutorInnen der GD folgten diesem Modus, auch hier überlagerte der Impetus des Ent-Störens zum Teil die Einnahme einer anderen, von der herrschenden Moral abweichenden Perspektive. In Deutschland gab es nach den GD kein vergleichbares Projekt, das in dieser Breite versuchte, über alle Facetten der Stadt zu berichten.152 Wie sich an der Auswahl der AutorInnen 149 150 151 152

GD 50, 71–78. Serres 1987, 47. Lindner 1990. Eine Ausnahme bildete die rege Forschungstätigkeit der evangelischen Settlement-Bewegung in der Gegend um den Schlesischen Bahnhof in den Jahren seit 1911, die allerdings stärker sozialpädagogisch inspiriert war und sich auf die lokalen Arbeiterfamilien in diesem Gebiet fokussierte. Vgl. Wietschorke 2013.

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der GD zeigt, waren in diesem Projekt die Grenzen zwischen Stadtforschung, Kriminologie, Fürsorge und Reform oft recht durchlässig. Zu von in den GD verhandelten Themen wie der städtischen Armut, insbesondere der Wohnungsnot, wurde in den Folgejahren insbesondere von Psychiaterinnen, Eugenikern, Sozialreformerinnen publiziert, die sich allerdings wieder stärker an Thesen der Degeneration orientierten.153 Innerhalb dieser urbanen Diskursfelder schälte sich eine für die Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts bedeutende Problematisierung heraus, nämlich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Urbanität und dem Risiko einer mentalen Störung gibt.154 Ausgehend von dem prominenten Essay Georg Simmels Die Großstädte und das Geistesleben über die Mentalität des Städters und die von Simmel wiederum inspirierte sozialökologisch ausgerichtete Stadtforschung der Chicago School – „[t]he city is […] a state of mind“155 – wurden Verhältnisse zwischen Stadt, Gesundheit, mental health, psychischen Störungen und dem Wahnsinn als Form einer präklinischen Alterität in den Blick genommen.156 Im Zentrum der von der Chicago School inspirierten Arbeiten stand häufig ein Interesse an sozialer Marginalisierung und Klasse.157 So bildete sich in Chicago ein stärker soziologisches, aber auch kriminologisches und sozialmedizinisches Wissen über Milieus und Nachbarschaften heraus, die im Rahmen der in Chicago geprägten Sozialökologie als „natural areas“ bezeichnet wurden.158 Während die Sociology Noir zwar zur Sichtbarkeit von kultureller Vielfalt und Heterogenität in der Stadt beigetragen hat, hat sie sich doch nie richtig von sozialer Pathologie verabschiedet.159 Gerade die in Chicago forcierte Aktivität des mapping von „natural areas“, denen wie den „delinquency areas“ eine räumliche Eigenlogik innewohnen sollte,160 trug so weiterhin dazu bei, die Produktion von sogenannten gefährlichen Zonen zu etablie153 Dies war zum Teil dem Konnex von Wohnungsnot und Sexualität geschuldet, beispielsweise durch sexuelle Beziehungen von Schlafgängern und zwischen den Generationen in den engen Wohnungen als Element städtischer Degeneration. Vgl. beispielhaft die späteren Veröffentlichungen Victor Noacks, eines ehemaligen Autors der GD (Band 19), zur Wohnungsnot als „Kulturschande“. Noack 1925. 154 Heute sind es vor allem EpigenetikerInnen, die konstatieren, dass in den Großstädten ein höheres Risiko für die Ausbildung einer psychischen Störung existiert. Vgl. Galea/Uddin/Koenen 2011. 155 Park (1925) 1984, 1. 156 Was mitunter zur Biologisierung der Verteilung von Armut und psychischer Abweichung im städtischen Raum führt(e). Vgl. Fitzgerald/Rose/Singh 2014. 157 Als moderne Klassiker der Beziehung zwischen Geistesstörung und deren Korrelation mit dem städtischen Raum gelten die Studien von Faris/Dunham (1939) und Hollingshead/Redlich (1958). 158 Young 1925, 203. 159 Als Unterschied ist allerdings zu nennen, dass die Sozialepidemiologie sich mit dem Nachweis des Zusammenhangs Raum/Pathologie begnügt, die Karte also ein Endprodukt darstellt, während das mapping der Chicago School eher als Ausgangspunkt für die soziologische Analyse diente. Lindner 1990, 82. 160 Belina 2000, 133.

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ren und Alterität als Position im Raum zu fixieren.161 Kein Wunder, dass ein Philosoph des Parasitären wie Serres den Stadtplan nicht besonders schätzt, stattdessen geotektonische oder meteorologische Karten präferiert. Diese Karten zeigen Bruchlinien, Bewegung und mögliche Veränderungen, sie sind offen für den Zufall, das Virtuelle und das Mögliche162 – ein Grund mehr, das Wetter zu lieben.

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Anne Gnausch

Illegales Vergnügen. Kokainhandel und Kokainkonsum im Berlin der Weimarer Zeit*

Am 18. November 1924 kurz vor Mitternacht wurde der 32-jährige Kaufmann Paul Z. in die Nervenklinik der Berliner Charité eingeliefert, wo die Diagnose „Cocainrausch und Alkoholismus“ gestellt wurde. Bei seiner Aufnahme machte der Patient „einen völlig benommenen Eindruck“.1 Wie in der Krankenakte vermerkt, hatte Z. bereits am frühen Nachmittag des 18. November „im gemütlichen Zusammensein“ mit seinem Hauswirt „eine ganze Flasche Cognac“ geleert. Halb vier verließ er in angetrunkenem Zustand das Haus und suchte „verschiedene Lokale“ auf: zunächst das Restaurant Aschinger am Alexanderplatz, dann das Etablissement Gerold am Oranienburger Tor, unweit des Vergnügungsviertels um die Friedrichstraße. Um 20 Uhr kaufte er in einem Lokal in der Besselstraße – eine Querstraße im Süden der Friedrichstraße – Kokain und konsumierte etwa zwei Gramm der Substanz. Gegen 21 Uhr kehrte der Kaufmann in seine Wohnung in der Novalisstraße 1 – am nördlichen Ende der Friedrichstraße – zurück. Dort schnupfte er, der Aussage seiner Braut zufolge, „eine größere Dosis“ Kokain und trank einen „Tassenkopf“ voll Cognac.2 Anschließend verließ er das Haus wieder und begab sich „in eine Bar“ in der Friedrichstadt. Sein Rauschzustand war jedoch schon so weit fortgeschritten, dass ihm eine Fortsetzung des abendlichen Vergnügens nicht mehr möglich war: Er wurde bewusstlos. Zwei Bekannte des Kokainisten riefen schließlich einen Krankenwagen, der ihn in die Charité brachte.3 Was in dieser Fallbeschreibung anklingt, namentlich der Kokainkonsum eines jungen Mannes im Berlin der Weimarer Republik, verwundert uns als LeserInnen heute kaum. Denn die Vorstellung eines verbreiteten Drogenkonsums gehört zum Bild der als wild und golden geltenden Zwanziger Jahre. Die literarischen Darstellungen über den Rauschmittelkonsum in dieser Zeit sind Legion.4 ZeitgenossInnen wie HistorikerInnen haben die Jahre der Weimarer *



Für Hinweise und Anregungen zum Thema Drogenkonsum und Drogenpolitik in der Weimarer Republik danke ich Annika Hoffmann, Hagen Stöckmann und Stefan Wulf. 1 HPAC, 1924/4387-M. 2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 Literatur und Film widmeten sich dem Drogenkonsum mit zunehmender Begeisterung und entwarfen ein Bild der Droge Kokain, das zwischen Vergnügen und Verfall oszillierte. 1918 erschien die Novelle Kokain des Expressionisten Walter Rheiner (1895–1925), in der er die Kokainpsychose eines Dro-

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Republik mit einer beachtlichen „Kokain-“ beziehungsweise „Drogenwelle“ assoziiert. Auch wenn, wie neuere Forschungen zeigen, von einer gefährlichen „Drogenwelle“ – mithin einer medizinisch auffälligen Verbreitung des Kokainismus – in der Weimarer Republik nicht die Rede sein kann, entspann sich in der Zwischenkriegszeit ein Drogendiskurs, der eine Gefährdung der Volksgesundheit prophezeite.5 Die Nachfrage nach Kokain war durchaus vorhanden. Dies belegt nicht nur das geschilderte Fallbeispiel, sondern auch die Tatsache, dass zahlreiche Kokainhändler in der Umgegend der Friedrichstraße und des Kurfürstendamms festgenommen wurden.6 Im Berlin der 1920er-Jahre kamen täglich etwa drei bis vier Rauschgiftvergehen bei der Kriminalpolizei zum Verhör.7 Fällt es schon für die Gegenwart schwer, Aussagen über den hedonistischen Drogenkonsum – gemeint ist hier der Konsum von Drogen zu Genusszwecken – zu treffen, weil dieser stigmatisiert ist und meist nicht offen thematisiert wird, so erscheint dies für die Vergangenheit geradezu unmöglich. Karl Bonhoeffer (1868–1948), Ordinarius der Psychiatrischenund Nervenklinik der Charité, konstatierte schon in einer 1926 erschienenen Studie, dass der „Gelegenheitsschnupfer“ sich zum größten Teil der klinischen Beobachtung entziehe, und auch der Reichsinnenminister Martin Schiele (1870–1939) verwies in einem Schreiben an die Länderregierungen vom 2. März 1925 darauf, dass sich der „mit Betäubungsmitteln getriebene Missbrauch“ seiner „ganzen Natur nach im Verborgenem“ abspiele.8 Somit sind nur die Drogenkonsumierenden, deren Konsum nicht sozial integriert ablief, sondern die öffentliche Ordnung störte und somit auffällig wurde, für die Historikerin greifbar. Der vorliegende Beitrag fragt einerseits nach der Konstruktion des/der DrogenkonsumentIn im Betäubungsmitteldiskurs der Weimarer Republik und rekonstruiert andererseits die Orte und Praktiken des Drogenhandels und des Drogenkonsums in der Metropole Berlin, um so einen Einblick in die gesellschaftliche und kulturelle Drogenpraxis und deren Verbindung zum großstädtischen Leben in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zu erhalten. Bevor

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gensüchtigen beschrieb; der Dichter starb selbst an einer Überdosis Kokain. Einige Jahre zuvor, 1922, veröffentlichte der italienische Autor Dino Segre (1893–1975) seinen Roman Kokain, der den Einfluss der Droge im mondänen Pariser Gesellschaftsleben schildert. Bereits 1917 war das Gedicht Kokain von Gottfried Benn erschienen, in dem er die Wirkung der Droge beschrieb. Zur Kokainliteratur vgl. Atai 2008. Vgl. Hoffmann 2007, 2012. Dies ergab eine Recherche in der Datenbank Vossische Zeitung online 1918–1934. Ausnahmslos alle Kokaindelikte, von denen die Vossische Zeitung im Untersuchungszeitraum berichtete, fanden in der Umgegend der Friedrichstraße, des Kurfürstendamms oder des Nollendorfplatzes statt. Niederschrift über die Besprechung im Reichsgesundheitsamt am 2.2.1927. GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.–Nov.). Ebenda. Vgl. Bonhoeffer/Ilberg 1926, 230.

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diesen Fragen nachgegangen wird, sollen jedoch kurz die Bedeutung der Drogen im Kaiserreich sowie die sich wandelnden rechtlichen Rahmenbedingungen skizziert werden, um die Veränderung der Konsummuster und der Konsumentenstruktur in der Zwischenkriegszeit zu verdeutlichen.

Drogenhandel und gesetzliche Rahmenbedingungen Kokain, das Hauptalkaloid der Kokapflanze, war bereits 1860 durch den Chemiker Albert Niemann (1834–1861) entdeckt worden und hatte im späten 19. Jahrhundert einen „beispiellosen Siegeszug durch die gesamte Heilkunde“ angetreten.9 Die Substanz avancierte rasch zu einem wahren Wundermittel der modernen Medizin, wurde für alle Arten von Beschwerden – etwa zur Behandlung von Zahnschmerzen, Verdauungsstörungen und nervösen Unruhezuständen – empfohlen und fand in der Chirurgie Anwendung als Lokalanästhetikum. Sigmund Freud (1856–1939) kam 1884 gar zu dem Schluss, dass Kokain „ein weit kräftigeres und unschädlicheres Stimulans als der Alkohol“ sei und dass der universellen Anwendung nur der hohe Preis im Wege stünde.10 Im späten 19. Jahrhundert kam es zu einem regelrechten Boom bei der Verwendung von Koka in Tinkturen, Pasten und Getränken. Coca-Cola, ein aus Kokablättern und Kolanüssen hergestellter Sirup, wurde als „nervenstärkendes“ Mittel gegen „Hysterie, Kopfschmerzen und Melancholie“ angepriesen.11 Obwohl Kokain und auch Morphium zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Ruf gekommen waren, abhängig zu machen, hielten viele Mediziner an der Verwendung fest. In Fällen, in denen durch Missbrauch der Substanzen eine Sucht entstand, verorteten die Mediziner die Ursache nicht in den Arzneimitteln selbst, sondern im Charakter der Süchtigen. Es herrschte die Auffassung vor, dass die Entstehung einer Abhängigkeit durch strenge medizinische Überwachung zu verhindern sei und der ärztliche Einsatz der Stoffe weitergehen könne, ohne ein soziales Problem zu schaffen.12 Vor dem Ersten Weltkrieg waren die typischen DrogenkonsumentInnen „fast durchweg [...] Angehörige der gehobenen und gebildeten Stände“, sozial integrierte, neurasthenische PatientInnen aus der Mittelklasse und Bohemiens, die keinen Anlass zur Sorge gaben.13 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Kaiserreiches galt es nicht als anstößig, Kokain oder Morphium zu konsumieren – im Gegensatz zu später und heute. Der Drogenkonsum wurde, sofern er außerhalb des medizinischen Kontextes statt9 Gunkelmann 1989, 360. 10 Freud 20044, 62 und 68. 11 Jay 2011, 92. Seit 1903 wurde Coca-Cola auf öffentlichen Druck hin allerdings nur noch auf Basis entkokainisierter Kokablätter hergestellt. 12 Vgl. Gunkelmann, 361 f. 13 Steimann 1927, 719.

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fand, als heimliches Laster begriffen und „grundsätzlich in den Subbereich der Gesellschaft bzw. der Kultur verschoben“.14 Kokainismus und Morphinismus blieben im Kaiserreich mithin ein exotisches Oberschichtenphänomen, allein schon aufgrund des Preises. Dies änderte sich allerdings mit Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914. Im Krieg spielten Kokain und Morphium als Schmerzmittel eine wichtige Rolle; die Versorgung der Soldaten mit diesen Substanzen hatte innerhalb der Kriegswirtschaft eine hohe Priorität. Doch die Situation an der Front war nur schwer zu überblicken. Je länger der Krieg dauerte, umso mehr häuften sich die Meldungen von iatrogen erzeugten morphium- und kokainsüchtigen Soldaten.15 Der Mediziner Wilhelm Steimann sah den Grund dafür vor allem darin, dass „in vielen Lazaretten und Krankenhäusern, wo es an der nötigen Aufsicht fehlte, mit Morphiuminjektionen eine Lotterwirtschaft getrieben wurde“.16 Tatsächlich verabreichten Mediziner verletzten Soldaten Kokain und Morphium oft zu lange und in zu hohen Dosen, wie etwa der Fall des 32-jährigen Kaufmanns Walter R. verdeutlicht: R. wurde im Januar 1929 wegen Kokainhandels in Berlin festgenommen. Seiner Aussage in der Polizeiakte ist zu entnehmen, dass er aufgrund einer Kriegsverletzung so reichlich mit Kokain behandelt wurde, dass er sich bald daran gewöhnt hatte und so schließlich zum Kokainisten geworden war.17 Bei diesem Beispiel handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. Kokain und Morphium fanden im Ersten Weltkrieg wegen der schweren Verletzungen vieler Soldaten medizinisch reichlich Verwendung. Dies hatte zur Folge, dass die Stoffe jene sozialen Grenzen überschritten, die zuvor gewährt hatten, dass der Drogenkonsum nicht als soziales Problem wahrgenommen und diskutiert worden war. Der Erste Weltkrieg wirkte als „Multiplikator der Drogensucht“.18 Obwohl Betäubungsmittel schon seit 1901 apothekenpflichtig waren, durften sie zunächst auch zu anderen Zwecken als zur Heilmittelverschreibung, für die ein Rezept notwendig war, abgegeben werden. Seit 1909 fanden wiederholt internationale Opiumkonferenzen statt, die dort geschlossenen Opiumabkommen von 1912 (Den Haag), 1925 und 1931 (beide Genf ) legten den Grundstein für die bis heute international verfolgte, restriktive Drogenpolitik.19 Deutschland ratifizierte das Abkommen der ersten internationalen Opiumkonferenz von Den Haag allerdings nicht. Einerseits war das Deutsche Reich der größte Alkaloidproduzent und hatte kein Interesse an einer Einschränkung der Alkaloidproduktion, weil wirtschaft14 Sattler 2010, 141. 15 Eine Sucht ist iatrogen erzeugt, wenn der Patient nach der medizinisch indizierten Verwendung von Betäubungsmitteln von diesen abhängig wird. 16 Steimann 1927, 720. 17 Landesarchiv Berlin A Rep. 358-01, Nr. 2652. 18 Schivelbusch 1990, 225. 19 Das Opiumgesetz von 1929 hatte über 40 Jahre nahezu unverändert Bestand. Vgl. Wriedt 2006, 13.

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liche Nachteile gegenüber Nichtunterzeichnerstaaten befürchtet wurden. Andererseits war die deutsche Regierung davon überzeugt, dass die bislang ergriffenen innenpolitischen Maßnahmen völlig ausreichend waren. Erst zu Beginn des Jahres 1921, und infolge des Versailler Vertrages, trat das deutsche Opiumgesetz zur Kontrolle von Opium, Morphium und Kokain in Kraft.20 Für Import, Export, Herstellung und Verarbeitung, Handel sowie Erwerb wurde nun eine Erlaubnis des Reichsgesundheitsamtes benötigt. Die legale Abgabe der Stoffe wurde auf Apotheken beschränkt und der Handel durch Drogisten und andere Stellen somit illegalisiert. Ferner war die Abgabe an Privatpersonen nur noch unter Vorlage eines ärztlichen Rezeptes zu Heilzwecken erlaubt.21 Das deutsche Opiumgesetz verbot Betäubungsmittel also nicht, sondern regelte den Umgang mit ihnen. Menschen, die Drogen konsumierten – ob medizinisch oder hedonistisch motiviert –, standen jedoch nicht im Fokus des Gesetzes, denn der Konsum selbst wurde nicht illegalisiert. Das Opiumgesetz war ein Handels- und kein Konsumentenkontrollgesetz. Es machte keine genauen Vorschriften für die Verwendung der Substanzen. Weder war der Konsum von Betäubungsmitteln aus anderen als medizinischen Gründen ausdrücklich verboten noch untersagte das Gesetz explizit eine ärztliche Verschreibung zur Versorgung Abhängiger. Bis Mitte der 1920er-Jahre verfügten Mediziner bei der Verschreibung von Betäubungsmitteln über einen großen Interpretationsspielraum.22 Dass dieser auch ausgeschöpft wurde, illustriert die Aussage des 46-jährigen Kaufmanns Walter K., der am Abend des 19. September 1921 von Passanten gegen seinen Willen in die Charité gebracht wurde. Er hatte aufgrund seines Kokain- und Alkoholrausches „weiße Mäuse gesehen und empfunden“ und war auf offener Straße zusammengebrochen. Er schnupfte „fast täglich“ zwei Gramm Kokain.23 K. gab an, er „hätte viel Cocain auf Rezept bekommen, die Ärzte schrieben meist ‚ad usum proprium‘, ein Arzt hätte geschrieben ‚zum Schnupfen‘“.24 1926 wurde dann ein Präzedenzfall geschaffen, der großes Aufsehen erregte und die medizinische Verschreibungspraxis grundlegend veränderte: Der Mediziner Dr. Bier aus Dresden wurde vom Reichsgericht am 5. Oktober 1926 verurteilt, weil er zwischen September 1924 und Januar 1925 mehr als 3000 Rezepte über mindestens 3000 Gramm Kokain ausgestellt und an „Kokainschnupfer“ abgegeben hatte.25 Diese verwendeten die Rezepte größtenteils zum Erwerb von Kokain aus Apotheken, verkauften sie aber auch an andere KonsumentInnen weiter. Nach dem Urteil des Reichsgerichts hatte sich Dr. Bier wegen unerlaubten Inverkehrbringens von Betäubungsmitteln und Beihilfe zum unerlaubten 20 21 22 23 24 25

Zur Drogengesetzgebung vgl. Briesen 2005. Ebenda, 51. Ebenda, 53. HPAC, 1921/3232-M. Ebenda. Ad usum proprium ist lateinisch und heißt übersetzt „zum eigenen Gebrauch“. Ebermeyer, 1926.

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Erwerb strafbar gemacht.26 In der Urteilsbegründung hieß es unter Bezugnahme auf das Den Haager Opiumabkommen von 1912, dass der Verbrauch von Betäubungsmitteln auf den „medizinischen Gebrauch“ beschränkt werden und „insbesondere der regelmäßige Gebrauch zu bloßen Genusszwecken“ verhindert werden solle.27 Wie die Urteilsbegründung verdeutlicht, war hedonistischer Drogenkonsum fortan von staatlicher Seite untersagt. Der Gesetzgeber hatte bis dahin einen Spielraum gelassen, der mit diesem Urteil explizit eingeschränkt wurde. Nun richtete sich der Fokus des Gesetzes – neben den Medizinern und Pharmazeuten – auch auf die KonsumentInnen, denn die Abgabe von Betäubungsmitteln an Süchtige war nur noch dann rechtmäßig, wenn gleichzeitig eine Therapie erfolgte.28 Weil eine ärztliche Verschreibung an Süchtige nicht mehr möglich war, mussten die KonsumentInnen ihren Bedarf nun anderweitig decken; sie wurden so in die Illegalität abgedrängt und kriminalisiert.

Die Konstruktion des Drogenkonsumenten im Betäubungsmitteldiskurs „Schon vor dem Kriege wußte man, daß in vereinzelten Vergnügungsstätten der Halbwelt heimlich Kokain als ein neues Reizmittel in Form von Schnupfpulvern gelegentlich vertrieben wurde“, konstatierte 1923 der Kölner Kriminalpsychologe Gustav Aschaffenburg (1866– 1944).29 Doch Kokainsüchtige in der Zeit vor dem Ende des Ersten Weltkriegs waren unauffällig, gleichsam unsichtbar. Sie gliederten sich in die bürgerliche Ordnung ein und bildeten keine klar abgrenzbare Gruppe, weder in medizinisch-psychiatrischer noch in rechtlicher Sicht. Die meisten waren, ähnlich wie die Soldaten im Krieg, über Morphium als Medikament mit Kokain in Berührung gekommen. Der Drogenkonsum wurde nicht als Ausdruck einer soziokulturellen Differenz zur dominanten Kultur begriffen, sondern stellte vielmehr ein nach Möglichkeit zu verheimlichendes Leiden dar; Sucht und Abhängigkeit waren oft mit Scham verbunden.30 Eine öffentliche Kokainszene, die hätte Aufsehen erregen können, gab es in Deutschland vor und während des Ersten Weltkriegs nicht. Dies änderte sich in der Nachkriegszeit, wie die Berliner Suchtmediziner Ernst Joël (1893–1929) und Fritz Fränkel (1892–1944) 1924 diagnostizierten: „Das vorher fast unbekannte Wort Cocain, an Straßen26 Urteil des 1. Strafsenats des Reichgerichts in der Strafsache gegen Bier vom 5.10.1926. GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.–Nov.). 27 Ebenda. 28 Vgl. Briesen 2005, 106. 29 Aschaffenburg 1923, 98. 30 Scheerer 1989, 285–298.

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ecken und in Nachtcafés, Spelunken und Dielen den Passanten und Gästen zugeflüstert, war in wenigen Monaten, auch unter dem Spitznamen ‚Koks‘, aller Welt bekannt.“31 Der Kokainismus wurde von den ZeitgenossInnen als Symptom der Krise der Weimarer Republik wahrgenommen und der Ursprung dieses „Lasters“ demnach im Ersten Weltkrieg gesehen.32 So sei es laut Joël und Fränkel signifikant gewesen, [...] daß der Krieg bei gewissen Kreisen der Zuhausegebliebenen wie auch späterhin bei vielen Heimgekehrten die allgemeinen psychischen Bedingungen zu einem Giftkonsum großen Stils schuf. Im Kriege: rasches und verhältnismäßig leichtes Geldverdienen bei Ausschaltung einer großen Anzahl früherer Vergnügungs- und Verausgabungsmöglichkeiten, die Unsicherheit der ganzen Lebenslage, die zu einer überhasteten und möglichst viel erraffenden Genußgier führte [...].33

Die beiden Mediziner argumentierten, dass es neben dieser kriegsbedingten Veränderung der Bevölkerung vor allem die Entfremdung von geregelter Arbeit und häufig auch die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz in der Nachkriegszeit gewesen sei, die – zumal nach Jahren des Verzichts – zu einem gesteigerten und vergröberten „Rauschbedürfnis“ geführt habe.34 All diese Faktoren führten, nicht nur nach der Auffassung Joëls und Fränkels, zu „Tanzwut, der massenhaften Eröffnung flachster Unterhaltungsstätten [und] der ungenierten Entfaltung der Prostitution“.35 Kokain wurde – im Gegensatz zu Morphium, das „als Rauschgift der Einsamen“ galt – als „ausgesprochenes Geselligkeitsgift“, als Rauschmittel „der Kinoschauspieler, Jazzbandmusiker [...] endlich überhaupt aller derer, die eine Steigerung der Unterhaltung, eine Vermehrung des ‚Amusement‘ usw. suchen“, charakterisiert.36 Der Kokainismus wurde dem Genusskonsum 31 Joël/Fränkel 1924, 15. Ernst Joël und Fritz Fränkel gehörten zu den führenden Betäubungsmittelexperten der Weimarer Republik. Sie publizierten gemeinsam viele grundlegende Schriften, vor allem zu Kokain, und protokollierten etwa Walter Benjamins (1892–1940) Haschischexperimente. Beide leiteten außerdem die erste städtische Fürsorgestelle für Suchtkranke in Berlin-Kreuzberg. Sie verfolgten eine sozialistische Gesundheitspolitik (Fränkel war Gründungsmitglied der KPD). Beide Mediziner führten auch Selbstversuche mit Kokain durch. Joël wird als Kokainkonsument bezeichnet, sein früher Tod 1929 mit diesem Konsum in Verbindung gebracht. Der Neurologe Fritz Fränkel war jüdischer Abstammung. Er wurde im März 1933 verhaftet und mit der Auflage auszureisen wieder entlassen. Vgl. Exler 2005 sowie Täubert 2005. 32 Zur Krisenerhetorik der Weimarer Republik vgl. Föllmer/Graf 2005. 33 Joël/Fränkel 1924, 14. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Wolff 1928, 350.

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der „Lebewelt“ zugeschrieben, und umgekehrt galten die KonsumentInnen von Kokain als genusssüchtig, sie wurden deutlich von den MorphinistInnen abgehoben. Morphinismus wurde vielmehr als Krankheit aus dem Krieg anerkannt und exkulpiert. Der medizinisch begründete Konsum galt, im Gegensatz zum hedonistischen Drogenkonsum, als legitim und wurde gesellschaftlich nicht stigmatisiert.37 MorphinistInnen wurden in der Regel als unschuldig an ihrer Situation angesehen, selbst wenn ihr Konsum nicht medizinisch begründet war oder den medizinischen Rahmen längst verlassen hatte. So konstatierte beispielsweise der Psychiater Robert Gaupp (1870–1953), dass es sich bei dem Kokainkonsumenten um „einen genußsüchtigen, den Glücksrausch liebenden, sexuell anregungsbedürftigen Degenerierten“ handele, „den nicht die Qualen einer Abstinenz, sondern das immer wieder erwachende Verlangen nach dem Genuß und dem Rausch zum gewohnheitsmäßigen Kokainschnupfer“ mache.38 So kann es nicht überraschen, dass der Kokainismus häufig mit dem großstädtischen Nacht- und Vergnügungsleben sowie dem sogenannten „Halbweltmilieu“ in Verbindung gebracht wurde. Der Arzt Bruno Glaserfeld (1881–1949) meinte schon 1920 zu wissen, dass Portiers und Kellnerinnen zahlreicher Berliner Dielen und Bars „eifrige Vertreiber des Kokains“ wären.39 Und der Cuxhavener Mediziner Arnold Kohfahl konstatierte 1926, dass Drogenkonsumenten „unter Artisten zweiten Ranges, Berufsmusikern, Kellnern, kurz unter all den Berufen, die in Nachtlokalen ihr Brot verdienen“ zu finden seien.40 Ganz ähnlich klingt auch die Charakterisierung der KokainkonsumentInnen in der Monographie Die straf- und zivilrechtliche Stellungnahme gegen den Rauschgiftmißbrauch aus dem Jahre 1927: „Für den Kokainismus bildet vielfach das Halbweltmilieu den Ausgangspunkt. Die Kranken werden häufig selbst Rauschgifthändler im Kleinen. [...] Besonders häufig finden sich solche kleinen Kokainhändler unter Kellnern, Garderobeangestellten, Kaffeehausmusikern, Chauffeuren, der weiblichen wie der männlichen Prostitution.“41 Was in diesem Zitat anklingt, ist eine Überschneidung der Konsum- und der Handelssphäre von Kokain, mithin das Zusammenfallen von DrogenkonsumentInnen und DrogenhändlerInnen. Die Berliner Suchtmediziner Joël und Fränkel kamen gar zu dem Schluss, dass die Kokainisten sich [...] hauptsächlich in jenen Gruppen, die dem geregelten Erwerbsleben ferner stehen [finden]: Müßiggänger aus der literarischen und artistischen Bohême, Spieler, Sportinteressenten, An-

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Vgl. Hoffmann 2007, 271. Gaupp 1928, 69. Glaserfeld 1920, 185. Kohfahl 1926, 88. Fraeb/Wolff 1927, 87.

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gehörige der eleganten und der proletarischen Prostitution, Schieber und Schleichhändler, Söldner, Filmstatisten, Kellner, Nachtportiers, Hotelpagen, Kuppler, Zuhälter, Gelegenheitsarbeiter, Gelegenheitsverbrecher, aber auch sehr viele Halbwüchsige, die unverschuldet arbeitslos sind.42

Diese Konstruktionen der „Störfigur“ des Drogenkonsumenten respektive der Drogenkonsumentin lesen sich wie ein Kompendium bürgerlicher Ängste. Durch Bohemiens, Prostituierte und Müßiggänger sahen die Autoren (allesamt Mediziner) und deren Adressaten (meist Akademiker) ihre bürgerlichen Werte bedroht.43 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Kokainkonsum der Mediziner selbst im Diskurs kaum thematisiert und mit den Strapazen des Berufslebens sowie der leichten Verfügbarkeit des Stoffes begründet und exkulpiert wurde. Auffällig ist, dass die Zusammenfassung Joëls und Fränkels in sich widersprüchlich erscheint, denn auch wenn die von den Medizinern genannten Kellner, Nachtportiers und Hotelpagen teilweise ungewöhnliche Arbeitszeiten hatten, so waren sie doch nicht unbedingt „Gruppen, die dem geregelten Erwerbsleben ferner stehen“.44 Das Fazit zur Sozialstruktur der KokainkonsumentInnen spiegelt demnach weniger die umfassende Forschung der beiden Berliner Suchtmediziner wider, sondern ist vielmehr durch Stereotypisierungen und den Betäubungsmitteldiskurs geprägt.45 Obwohl der Drogendiskurs der Weimarer Republik weitgehend den Eindruck vermittelt, dass es sich bei den KokainkonsumentInnen um eine klar umrissene Gruppe, namentlich die AkteurInnen des großstädtischen Nacht- und Vergnügungsleben handelte, greift diese Deutung zu kurz – und dies war auch den ZeitgenossInnen bekannt. Um es in den Worten des Reichsinnenministers Martin Schiele aus dem Jahr 1925 zu formulieren: „[E]s ergibt sich, daß heutzutage nicht nur die Kreise der Halbwelt und die Degenerierten, sondern Leute aus fast allen Schichten der Bevölkerung, dem Kokainismus frönen.“46 Auch die Krankenakten der Charité zeigen den Kokainkonsum im Berlin der Zwischenkriegszeit als schichtenübergreifendes Phänomen. So finden sich unter den KokainistInnen, die in der Charité behandelt wurden, etliche Kaufleute und Mediziner sowie Verkäuferinnen und Stenotypistinnen, aber auch ein Filmkünstler, ein Artist, ein Schriftsteller, ein Heizer und ein Bankbeamter.

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Joël/Fränkel 1924, 15 f. Vgl. Hoffmann 2007, 268. Joël/Fränkel 1924, 15 f. Vgl. Hoffmann 2012, 196. Missbrauch von Kokain, Morphin und anderen Betäubungsmitteln (2.3.1925). GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.–Nov.).

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Berlin im Drogendiskurs der Weimarer Zeit Im Drogendiskurs der Weimarer Zeit stellte die Reichshauptstadt Berlin ein Zentrum des Kokainhandels und Kokainkonsums dar. Der Sanitätsrat Max Edel hatte beispielsweise bereits in seinem 1919 im Berliner Tageblatt erschienenen Artikel Reiz und Betäubung. Ein Beitrag zur Krankheit unserer Zeit darauf hingewiesen, dass es ein offenes Geheimnis sei, dass in Berliner Nachtlokalen, „in Dielen, Bars und an ähnlichen Stätten nächtlichen Vergnügens [...] Kokain zum Schnupfen serviert wird“.47 Aus dem Konsum dieser Substanz, so Edel, erwachse eine bedrohliche Schädigung der Volksgesundheit. Auch der Arzt Bruno Glaserfeld beklagte in seinem Beitrag Ueber das gehäufte Auftreten des Kokainismus in Berlin, der im Februar 1920 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift erschien, „daß in Groß-Berlin eine schreckliche Volksseuche, der Kokainismus, im Verborgenem blüht und leider immer weiter um sich greift“.48 Dieses Bild deckt sich jedoch nicht mit den vorliegenden Daten: Eine steigende Verbreitung des Kokainismus konnte damals statistisch zunächst weder in Berlin noch in der restlichen Republik nachgewiesen werden. Die Klage der Mediziner, dass es über den tatsächlichen Drogenkonsum keine verlässlichen Zahlen gebe, war während der gesamten Zeit der Weimarer Republik virulent. So waren die Mediziner auf Schätzungen angewiesen. Diese bezogen sich jedoch nur auf Berlin, weil der Kokainismus eben im Großstadtleben verortet und von der Annahme ausgegangen wurde, dass die Reichshauptstadt besonders betroffen sei. Ernst Joël vermutete 1923, dass in Berlin „einige Tausend“ dem Kokain verfallen seien. Er betonte aber, dass diese Zahl „doch im Wachsen ist“, und forderte seine Kollegen auf „noch lebhafter als bisher an der Bekämpfung des Kokainmißbrauchs“ teilzunehmen.49 Auch der Berliner Hygieniker Martin Hahn (1871–1943) ging 1925 von einer ähnlichen Zahl aus; er schätzte, „daß in Berlin 5000–6000 Kokainsüchtige leben“.50 Der Bedarf nach konkreten Zahlen lässt sich vermutlich damit erklären, dass die Diskursteilnehmer hofften, auf diese Weise die Dringlichkeit des Drogenproblems verdeutlichen zu können. Es war schließlich Karl Bonhoeffer, der im September 1925 die erste statistische Untersuchung zum Drogenkonsum vorlegte. Er hatte anhand von Krankenhausstatistiken der Städte Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Köln, Dresden, Leipzig, München und Wien die Ausbreitung des Morphinismus und Kokainismus untersucht. Bonhoeffer hob in seiner Studie jedoch hervor, dass eine solche Anstaltsenquete „natürlich nicht den tatsächlichen Um47 48 49 50

Edel 1919. Glaserfeld 1920, 185. Joël 1923, 819. Springer 1989, 77.

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fang des gewohnheitsmäßigen Mißbrauchs“ widerspiegle, da sich nur die „schwersten Fälle“ in den Kliniken sammelten.51 Der Kokainist entzöge sich meist dem klinischen Kontext, konstatierte Bonhoeffer. Er begründete dies vor allem damit, „daß viele Kokainschnupfer den Kokainrausch zu Hause oder noch häufiger im Kreise der Genossen ausschlafen“ und Entzugserscheinungen bei ihnen meist weniger ausgeprägt seien.52 Der große Teil der „Gelegenheitsschnupfer“ – also der KonsumentInnen, die Kokain gelegentlich und aus hedonistischen Motiven zu sich nahmen – war demnach statistisch nicht zu erfassen, auch wenn Fälle von besonders schwerem Kokainmissbrauch registriert wurden.53 So verwundert es nicht, dass die drei großen öffentlichen Berliner Anstalten zusammen mit der Berliner Charité im Jahre 1924 lediglich 41 KokainistInnen aufnahmen. Auch in den drei großen Privatsanatorien Berlins waren, Bonhoeffer zufolge, zwischen 1919 und 1924 nur 30 KokainistInnen aufgenommen worden.54 Bonhoeffer schlussfolgerte aus seiner Untersuchung zwar „eine deutliche Zunahme des Narkotismus“, der im Interesse der Volksgesundheit Aufmerksamkeit erfordere, sah aber „keineswegs Anlaß in dem Umfange des Mißbrauchs schon jetzt den Beginn einer Verseuchung unseres Volkes [...] zu erblicken“.55 Die Studie des Charité-Professors wurde in den Folgejahren häufig zitiert, seine Aussagen galten als Beleg für die Zunahme des Betäubungsmittelkonsums. Die von Bonhoeffer angeführten Einschränkungen und Relativierungen fanden aber in dem Diskurs, der vor allem auf die Verruchtheit Berlins und anderer Großstädte abzielte, kaum Beachtung. Hier wurden solche Relativierungen einfach ausgeblendet. In der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité wurden zwischen 1918 und 1933 lediglich 75 Patienten und 10 Patientinnen mit der Diagnose „Cocainismus“ aufgenommen. Diese Zahlen illustrieren einerseits, welch marginale Rolle der Kokainismus im klinischen Kontext spielte, und verdeutlichen so andererseits, dass es nahezu unmöglich ist, Aussagen über das Ausmaß des hedonistischen Kokainkonsums im Berlin der Weimarer Zeit zu treffen. Zeitgenössische Statistiken zeigen nämlich nur den Teil des Konsums, der problematisch und auffällig wurde, und sie erfassen nur die Nachfrage, die über legale Kanäle befriedigt werden konnte. Eines sollte hier deutlich geworden sein: Eine medizinisch auffällige „Drogenwelle“ in den 1920er-Jahren lässt sich, auch in der vorgeblichen „Kokainmetropole“ Berlin, statistisch nicht belegen.56 Zeitgenössische Quellen deuten jedoch auf einen regen Kokainhandel in den Vergnügungsvierteln der Reichshauptstadt hin und legen so den Schluss 51 Bonhoeffer/Ilberg 1926, 229 f. 52 Ebenda, 230. 53 Ebenda. 54 Ebenda, 234 f. 55 Ebenda, 236. 56 Schweer/Strasser, 1994.

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eines unauffälligen und unproblematischen hedonistischen Kokainkonsums nahe. Es steht also außer Frage, dass Drogenkonsum in der Weimarer Republik stattgefunden hat.

„Jetzt bekäme er ohne Rezept so viel Cocain, wie er wolle.“ Orte und Praktiken des Kokainhandels und des Kokain­ konsums Was im Drogendiskurs der Weimarer Republik immer wieder anklang, war die Verbindung zwischen dem Kokainkonsum und dem großstädtischen Nacht- und Vergnügungsleben. „Nachts! Tauentzien! Kokain! Das ist Berlin!“, schrieb 1924 der russische Dichter Andrej Bely (1880–1934).57 Doch Kokain war im Berlin der 1920er-Jahre nicht nur im Gedicht präsent: Die Nackttänzerin Anita Berber (1899–1928), die in zahlreichen Kabaretts, Klubs und Varietés der Spreemetropole auftrat, feierte mit ihren Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase 1923 ihre größten Erfolge.58 Den Höhepunkt dieses Programms bildete der Tanz Kokain, nach einem Gedicht ihres Ehemannes Sebastian Droste (1898-1927) und mit der Musik von Camille Saint-Saëns (1835-1921). Mit diesem Gedicht und dem dazugehörigen Tanz verkörperte Anita Berber die außeralltägliche Erfahrung des Kokainrausches und machte diesen so in gewisser Weise für ihr Publikum erfahrbar und zu einem Teil der öffentlichen Vergnügungskultur. Anita Berber wusste indes, was sie da tanzte, denn sie stand öffentlich zu ihrem Kokainkonsum. Amüsement, gar verbunden mit Betäubungsmittelkonsum, stand angesichts des verlorenen Weltkriegs und der prekären wirtschaftlichen Situation jedoch infrage.59 Denn die mit dem Kokainkonsum verbundene lärmende Geselligkeit in euphorischer, unbekümmerter Stimmung erschien illegitim angesichts der schwierigen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg. So schrieb Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) am 16. Februar 1921 an den Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (1852–1926), um auf das Problem der Genusssucht hinzuweisen: „Lärmende Genußsucht und sittenloses Vergnügungstreiben machen sich vielfach rücksichtslos und aufdringlich in aller Öffentlichkeit breit, in einer Zeit, da allenthalben Not an uns herandrängt und keine Hilfe genügt, um das Elend zu bewältigen.“ 60 Fehrenbach fügte Eberts Ausführungen noch einige Anmerkungen bezüglich der besonderen Situation in Berlin hinzu. Er betonte, dass gerade das Leben in der Reichshauptstadt „im krassesten Gegensatz zu dem ernsten Schicksal des gesamten Reichs und einer unendlichen Zahl einzel57 58 59 60

Bely 1924, 58. Vgl. Fischer 2006, 99–128. Vgl. Rödszus 2000, 53. Der Reichspräsident, Rk 1654 vom 16.2.1921. BArch R 1501/13693 (4).

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ner deutscher Reichsbürger“ stünde und „[d]ieser Zustand [...] nicht nur aus polizeilichen, allgemeinen, sittlichen und kulturellen Gründen bedauerlich“, sondern auch „im Interesse der gesamten inneren und äußeren Reichspolitik nicht erträglich“ sei.61 Berlin mache auf den Fremden „den Eindruck der vergnügungssüchtigsten Stadt Europas“.62 Seine „Vergnügungssucht“ konnte man im Berlin der 1920er- und frühen 1930er-Jahre in den Vierteln rund um den Kurfürstendamm und die Friedrichstraße stillen. Dies waren nicht nur Zentren der urbanen Vergnügungskultur, sondern auch des Kokainhandels und des Kokainkonsums. Alles, was ein Mensch des 20. Jahrhunderts an Bedürfnissen und Genüssen zu befriedigen habe, das biete sich ihm auf dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße, schrieb Curt Moreck (1888–1957) 1931 in seinem Führer durch das „lasterhafte“ Berlin.63 Ob er damit auch Kokain meinte, ließ er offen. Eine Glosse des Schriftstellers Adolf Stein (1871– 1948) vom 5. November 1920 vermittelt indes den Eindruck, dass der Kokainkonsum im Vergnügungsviertel am Kurfürstendamm geradezu omnipräsent war: „[...] wenn man abends in einem Kaffeehaus des Westens sitzt, fragt einen in neun von zehn Fällen der Kellner: ‚Koks, bitte gefällig?‘ Er meint aber nicht den notwendigen Stoff für unsere Zentralheizung, sondern Kokain. Und wenn wir uns umsehen, erblicken wir auch hier und da Pärchen, die das weiße Pulver schnupfen.“64 Allerdings schrieb Stein hier zu einer Zeit, zu der das erste deutsche Opiumgesetz noch nicht in Kraft, mithin Handel und Erwerb von Kokain zu diesem Zeitpunkt noch legal waren. Es ist daher zu vermuten, dass die Droge nach dem Inkrafttreten des Gesetzes weitaus seltener und vor allem nicht mehr öffentlich in Etablissements angeboten wurde. Aber der Krankenakte des 46-jährigen Kaufmanns Walter K. ist zu entnehmen, dass dieser auch noch im Jahre 1921 – also nach Inkrafttreten des Opiumgesetzes – in den Vergnügungsstätten rund um den Kurfürstendamm Kokain erwerben konnte. Er gab an: „Jetzt bekäme er ohne Rezept so viel Cocain, wie er wolle, es würde am Kurfürstendamm angeboten in Dielen u. Cafés, von Gästen, die dort verkehrten.“65 Und auch die Berliner Suchtmediziner Joël und Fränkel recherchierten dort, „wo sich das eigentliche Leben und Treiben dieser Cocainisten abspielt“, namentlich in eleganten Lokalen des Berliner Westens.66 Sie betonten jedoch, dass es solche Kokainlokale über die ganze Stadt verteilt in unterschiedlichen Ausstattungen gebe, zwischen

61 Der Reichskanzler, Rk 1654 vom 20.2.1921. BArch R 1501/13693 (5). 62 Ebenda. 63 Moreck 1931, 22. 64 Stein 1922, 41. Stein veröffentlichte von 1918 bis 1935 allwöchentlich unter dem Pseudonym Rumpelstilzchen Glossen zur Berliner Kultur, Wirtschaft und Politik in der Berliner Tageszeitung Der Tag. 65 HPAC, 1921/3232-M. 66 Joël/Fränkel 1924, 1.

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„erbärmlicher Einfachheit“ und „gesuchter Eleganz“.67 Typisch für diese Etablissements sei, so Joël und Fränkel, dass „alle Gäste einander kennen“, das Ganze mache oft einen „fast klubmäßigen Eindruck“.68 Die Aussage der 29-jährigen Kontoristin Gertrud N., die im April 1924 wegen ihrer Kokainsucht in der Charité behandelt wurde, illustriert dies: Sie berichtete, dass sie viel in „cocainistischen Kreisen“ verkehre, etwa in Lokalen in der Friedrichstadt, „wo sie jederzeit, auch wenn ihr das Geld ausgegangen“, Kokain bekäme.69 Joël und Fränkel wurde von KonsumentInnen berichtet, dass in dieser Szene fast jeder seine Kokainbüchse bei sich trage, das Schnupfen sei kein heimlicher und unerlaubter Genuss, „eine Prise würde kaum anders als ein Glas Kognak bestellt“.70 Offenbar war der Kokainkonsum in diesen Kreisen nicht stigmatisiert. Die Berliner Suchtmediziner postulierten, dass „bei der überwiegenden Mehrzahl der Cocainisten“ eine „sachliche Motivierung“, also etwa ein medizinischer Grund, für den Kokainkonsum fehle. Die Personen, die „in den geschilderten Kreisen“ verkehrten, würden „fast unfreiwillig an das weiße Pulver“ geraten, weil sie „dessen erstaunliche Wirkungen bei ihren Kameraden oft bewundern“.71 Joël und Fränkel vertraten die Auffassung, dass die Konsumintensität des Milieus, in dem sich der einzelne Konsument bewege, die entscheidende Ursache für das Entstehen einer Abhängigkeit sei. Der Einstieg in den Kokainkonsum erfolge demnach nicht aufgrund eines positiven Rauscherlebnisses, sondern aus dem Bedürfnis, der Mode zu folgen: „Zuweilen bekommt es ihnen nicht, oder sie verspüren nicht die geringste Wirkung. Dann aber wird meist aus bloßem Korpsgeist, aus Großmannssucht – nicht anders wie bei Tabak und Alkohol – trotzdem weitergeschnupft, zunächst also ohne jeden euphorischen Gewinn, bis es eines Abends doch zum gewünschten Effekt kommt, und dieser wird dann möglichst bald reproduziert.“72 Dieses „gesellige Moment“ und damit die Ausbreitung des Kokainkonsums wurden Joël und Fränkel zufolge erst durch die neue Mode des Schnupfens möglich: „Es ist ein in der Geschichte der Genußgifte wohl einzigartiger Fall, daß mit der bloßen Änderung der Applikationsweise, hier also mit dem Ersatz der Injektion durch die Prise, eine alte und schon fast abgetane Toxikomanie wieder neu aufkommt, jetzt aber ein ganz anderes Gepräge hat als früher. Eine Spritze kann man niemand anbieten, wohl aber eine Schnupfdose [...].“73 Auch wenn bei der „überwiegenden Mehrzahl der Cocainisten“ keine sachlichen Gründe für deren Kokainkonsum vorhanden seien, erkannten Joël und Fränkel doch in einzelnen 67 Ebenda, 16. 68 Ebenda. 69 HPAC, 1924/564-F. 70 Joël/Fränkel 1924, 16. 71 Ebenda. 72 Ebenda. 73 Ebenda, 17.

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„Verhältnissen noch gewisse sachliche Motivierungen“ an.74 So etwa im Fall des 20-jährigen L. E., der als Kellner in einem „Animierlokal“ tätig war. Er habe das Kokainschnupfen „auf den Rat von Freunden“ begonnen, um beim Bedienen „in seinem Schanklokal“, „wo er gedrungenerweise viel mittrinken mußte“, nüchtern zu bleiben. Dies sei insofern gelungen, „als die Alkoholwirkungen gegenüber den Cocainwirkungen in den Hintergrund traten“.75 Selbst das Taumeln der Betrunkenheit, so L. E., könne schnell durch Cocain aufgehoben werden. Der Kellner bestand darauf, dass er Kokain nicht aus hedonistischen Gründen heraus konsumierte, sondern um seiner Arbeit „besser standhalten zu können“.76 Auch der Schriftsteller Franz Rothenfelder konsumierte Kokain, um besser arbeiten zu können, wie seiner Krankenakte zu entnehmen ist. Er begründete seinen Kokainkonsum damit, dass durch den Kokainrausch „ein wahrer Arbeitstummel“ ausgelöst werde.77 Rothenfelder schildert in dem von ihm verfassten Eigenbericht des Patienten Rothenfelder über seinen Cocainismus eindrücklich die Wirkung, die das Kokain bei ihm hervorrief: „[E]s stellte sich das Gefühl völliger Leichtigkeit und Klarheit ein, ja, dies gesteigerte sich bis zur Wunschlosigkeit, ohne das Bewußtsein eines Rausches zu erzeugen.“ Der Schriftsteller betonte, dass sich dieser Zustand positiv auf seine „Arbeitstätigkeit und Beweglichkeit“ auswirke und das Kokain ihm „nicht Mittel zum Genuß, sondern zur Arbeit“ war. Wahrscheinlich wurde dies auch von anderen KünstlerInnen vertreten. Rothenfelder hatte jedenfalls das Gefühl, „ohne irgend wie hasten zu müssen in vollständiger Klarheit und Sicherheit Gedanken bis zum Abschluss aneinanderreihen zu können“. Die Zeit schien ihm „im Zustand der Kokainbelebung“ aufgehoben zu sein.78 Allerdings begann Rothenfelder mit der Zeit, unter den Halluzinationen des Kokainrausches zu leiden. Andere Krankenakten deuten jedoch auf hedonistische Motive hin: Kokain wurde auch schlicht zur Steigerung des „Amusements“ und aus dem Wunsch, das positive Erlebnis des Kokainrausches (wieder) herbeizuführen, konsumiert: So berichtete der 30-jährige Postschaffner Gustav W., der im Oktober 1925 wegen seiner Kokainabhängigkeit in die Charité kam, dass er seit 1919 „nebenbei mit Cocain gehandelt habe“ und seitdem „auch Kokain schnupfe“. Er habe in erster Zeit „aus Gaudium“ alle zwei bis drei Tage „einige Prisen geschnupft“, „allmählich einen Gefallen daran gefunden“ und sich schließlich daran gewöhnt. Nach jeder Prise habe er „ein aufmunterndes, lustiges Gefühl“ gehabt, sei sehr munter und redselig gewesen. Hunger und Müdigkeit habe er seitdem nicht mehr gekannt.79 74 Ebenda, 16. 75 Ebenda, 92. 76 Ebenda, 16. 77 HPAC, 1925/6778-M. 78 Ebenda. 79 HPAC, 1925/3961-M.

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Auch die 29-jährige Kontoristin Gertrud N. gab an, dass sie durch eine Freundin, eine Apothekertochter, zum Kokain gekommen sei. Nach dem ersten Genuss des Kokains habe sie sich „so leicht und unternehmungslustig“ gefühlt, sie habe eine Art Rausch bekommen, „so als ob sie ein wenig angetrunken, dabei aber ganz klar im Kopf“ gewesen sei. Am nächsten Tage habe sie wieder geschnupft, „weil der Zustand so angenehm war“. 80 Sie habe es dann nicht mehr lassen können. Ihr resignierendes Fazit: „Aus Übermuth habe ich es begonnen und nachher ist es bitterer Ernst geworden.“81 Diese Aussage illustriert eindrucksvoll die Doppelbödigkeit des Kokainkonsums: Kokain war eine Form des Vergnügens, die eben auch gefährlich werden und in eine Sucht führen konnte. Es gab – das zeigen die Beispiele auch – durchaus unterschiedliche Gründe und je spezifische Lebensumstände, die zum Kokainkonsum führten. Die meisten der in der Charité behandelten PatientInnen nahmen Kokain aus hedonistischen Motiven zu sich, um durch das positive Erlebnis des Kokainrausches ihre Stimmung zu verbessern und eventuelle Sorgen zu vergessen. Dass Kokain zur Steigerung der Arbeitskraft konsumiert wurde, bildete wohl eher eine Ausnahme. Kokain wurde in den 1920er-Jahren in der Regel durch Schnupfen appliziert. Joël und Fränkel beschrieben diese Praktik wie folgt: Der Kokainist nehme „seine Prise“ meist „am Tische sitzenbleibend“ mittels einer Nagelfeile oder direkt aus der „Cocainbüchse“ zu sich.82 Kokain wurde auch häufig zusammen mit Alkohol und in Gesellschaft konsumiert, wie das Fallbeispiel des Paul Z. zu Beginn dieses Beitrags schon illustrierte. Auch Walter K. gab an, dass er am Abend des 19. September 1921, also kurz bevor er wegen seines Kokain- und Alkoholrausches in die Charité eingeliefert wurde, in verschiedenen Lokalen und „in Gesellschaft“ gewesen sei.83 Der Kokainkonsum war eng verbunden mit dem nächtlichen Vergnügungsleben der KonsumentInnen. Auch ein durch die Vossische Zeitung publizierter Fall weist darauf hin: Anlässlich seiner Verhaftung schrieb die Zeitung im April 1926 über den Medizinstudenten Conrad Rosenthal, der gefälschte Rezepte auf Kokain und Morphium ausgestellt hatte, dass dieser in Tanzdielen und Bars des Berliner Westens eine „bekannte Persönlichkeit“ sei. Hunderte von Rezepten mit seiner Unterschrift seien von Apotheken entgegengenommen worden.84 KokainistInnen kamen aber nicht nur über Rezeptfälschungen oder gar ärztlich verordnete Rezepte, sondern auch über den Straßenhandel und Kleinhändler an ihre Droge. Dieser Handel lief häufig nach einem typischen Muster ab, das der Leiter des Berliner Rauschgiftdezernats, Arthur Nebe (1894–1945), 1929 wie folgt beschrieb: Der Kleinhändler ließe das

80 HPAC, 1924/564-F. 81 Ebenda. 82 Joël/Fränkel 1924, 18. 83 HPAC, 1921/3232-M. 84 Die Gönner der Kokainisten. Vossische Zeitung, 9.4.1926.

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Kokain durch „Schlepper“ an die KundInnen „weitervertreiben“.85 Der Händler würde sich „vom späten Abend bis zum Eintritt der Polizeistunde in einem verabredeten Lokal aufhalten“ und auf seine Schlepper warten.86 Außerdem, so hieß es 1930 in einem Ermittlungsbericht der Berliner Kriminalpolizei, würde der Kokainhändler seine Ware niemals bei sich führen, sondern sie versteckt halten, um bei einer polizeilichen Kontrolle nicht überführt zu werden.87 Dass das Verstecken des Kokains eine gängige Praxis der Drogenhändler vor allem im Straßenhandel war, konstatierte auch Arthur Nebe, der betonte, dass die Kokainhändler „manchmal recht eigenartige Verstecke“ wählten.88 Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Im Juni 1926 wurde der 31-jährige Kellner Friedrich Hinrichsen, der seinen KundInnen auch unter dem Namen „Koksfred“ bekannt war, festgenommen. Er hatte in der Winterfeldtstraße in Berlin-Schöneberg mit Kokain gehandelt und dabei ein „sehr geschickt ausgewähltes Versteck“ genutzt: ein Firmenschild in einer Haustürnische.89 Vier Jahre später, im September 1930, berichtete die Vossische Zeitung ebenfalls von einem äußerst skurrilen Fall: Der 30-jährige Bäcker Erich Ewert verkaufte, als Salzstangenhändler getarnt, „besonders am Kurfürstendamm“ Kokain.90 Doch bereits Ende der 1920er-Jahre war der Drogenhandel am Kurfürstendamm einigen Händlern zu gefährlich geworden, weil das Rauschgiftdezernat des Polizeipräsidiums den Wittenbergplatz „unter ständiger scharfer Beobachtung“ hielt.91 Mittels eines täglich wechselnden Zahlencodes, den nur Eingeweihte verstanden und der an einer Litfaßsäule am Wittenbergplatz angeschlagen wurde, bestellte sie ihre KundInnen an ungefährlichere Orte. Das Kokain wurde in Form kleiner „Päckchen“ zum Verkauf angeboten: Die Suchtmediziner Joël und Fränkel sowie der Leiter des Rauschgiftdezernats Nebe berichteten übereinstimmend, dass die Kleinhändler das Kokain, welches sie von den „Großhändlern“ bezögen, „mit recht viel billigen Streckmitteln, wie Borax, Natron, Salz, Soda und dergleichen“ mischen und in Briefchen – sogenannte Prisen – verpacken würden. Ein solches Päckchen enthalte dann nur noch 0,05–0,07 Gramm „bereits gestreckter Ware“, lediglich 25–30 Prozent des Pulvers seien Kokain.92 Bekam die Polizei einen Kokainhändler zu fassen, war sie nur an diesem selbst und nicht an seinen KundInnen interessiert, denn der Kokainkonsum wurde, sofern er auffällig wur85 Nebe 1929, 61 und 84. 86 Ebenda. 87 Landesarchiv Berlin, A Rep. 358-01, Nr. 2651. 88 Vgl. Nebe 1929, 84. 89 Kokain hinter dem Firmenschild. Vossische Zeitung, 28.6.1926. 90 Der Kokainhändler des Kurfürstendamms gefaßt. Vossische Zeitung, 14.9.1930. 91 Weka 1930, 109. 92 Nebe 1929, 84.

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de, zwar durchaus als „Störung“ der bürgerlichen Ordnung wahrgenommen, war aber nicht strafbar. Eben deshalb behaupteten viele der gefassten Kokainhändler, sie seien selbst nur Konsumenten der Droge, wie etwa der 32-jährige Kaufmann Walter R., vom dem in diesem Beitrag schon einmal die Rede war. Er war, so ist es der Polizeiakte zu entnehmen, „ein seit langem bekannter Kokainhändler, der seine Ware in Lokalen der Friedrichstraße und Umgegend absetzt“.93 Bei seiner Verhaftung am 10. Januar 1929 hatte er „eine Zigarettenschachtel mit 50 Stück Kokainbriefen“ bei sich.94 R. bestritt jedoch, mit Kokain gehandelt zu haben. Er gab an, für einen einmaligen Kurierdienst „Kokain zum Schnupfen“ erhalten zu haben. Doch da R. am 2. April 1930 im Lokal Cascade in der Rankestraße 30 in Berlin-Charlottenburg, unweit des Kurfürstendammes, erneut wegen Kokainhandels festgenommen wurde, scheint diese Aussage wenig glaubwürdig.

Fazit Die Geschichte des Kokains beginnt mit seiner chemischen Isolierung im Jahr 1860. Es avancierte rasch zu einem wahren Wundermittel der Medizin und fand breite Anwendung. Im Ersten Weltkrieg diente es, neben Morphium, als schmerzstillende Substanz. Aufgrund der schweren Verletzungen vieler Soldaten fanden die Stoffe medizinisch reichlich Verwendung. Iatrogene Kokain- und Morphiumabhängigkeiten waren die Folge. Doch das ist nur eine Seite der Geschichte: In der Nachkriegszeit entspann sich ein Drogendiskurs, in dem das Kokain und dessen Konsum mit der Großstadt und vor allem der Reichshauptstadt Berlin verknüpft wurde. So wusste ein Obermedizinalrat aus Karlsruhe dem Reichsgesundheitsamt 1919 zu berichten: „Der Kokainismus als bedrohliche Volksseuche wird in erster Linie als Produkt des Großstadtlebens und als Hauptbrutstätte desselben Berlin bezeichnet.“95 Kokain galt, im Gegensatz zu Morphium, dessen Konsum medizinisch begründet wurde, als „Geselligkeitsgift“, welches zur „Steigerung der Unterhaltung“ und „Vermehrung des ‚Amusements‘“ diente.96 Demgemäß wurden Handel und Konsum von Kokain vor allem mit dem Nacht- und Vergnügungsleben Berlins assoziiert.97 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Orte des Kokainhandels und des Kokainkonsums, namentlich die beiden Vergnügungsviertel der Reichshauptstadt um den Kurfürstendamm und die Friedrichstraße, medial generierte Räume waren, die ihre Wirklichkeit auch erhielten, indem

93 Landesarchiv Berlin, A Rep. 358-01, Nr. 2652. 94 Ebenda. 95 Obermedizinalrat Dr. Hauser vom 28.12.1919. BArch R 1501/10395 (364). 96 Wolff 1928, 350. 97 Glaserfeld 1920, 185.

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sie beschrieben wurden.98 So wirkten etwa Reiseführer und Reportagen an der Konstruktion dieser Orte in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit. Der Schriftsteller Christian Bouchholtz wusste in seinem 1921 erschienenen Buch Kurfürstendamm über selbigen zu berichten: „Im Detail war das Kokain eine Zeitlang in Berlin von jedem Bar- und Dielenhändler, von jedem Nachtlokalportier zu kaufen. [...] Selbst auf offener Straße war es zu kaufen. Und zwar bei jedem erstbesten wilden Zigarettenhändler, der an einer Straßenecke der Kurfürstendammgegend mit seinem Tabakkasten stand.“ 99 Und Willy Pröger bezeichnete den Wittenbergplatz 1930 in einer Reportage gar als „Rauschgiftzentrale“.100 Das im Drogendiskurs der 1920er-Jahre hervorgebrachte Wissen stigmatisierte den Kokainkonsum. Dies führte dazu, dass der Konsum von Kokain marginalisierten Gruppen, wie etwa Prostituierten, Gelegenheitsarbeitern und dem „Personal von Nachtlokalen“ zugeschrieben wurde.101 Die Debatte um den Kokainismus entwickelte so ganz eigene Phantasmen, die nicht unbedingt der Realität entsprachen. In diesem Beitrag konnte am Beispiel der Sozialstruktur der PatientInnen der Charité mit „Cocainismus“-Diagnose gezeigt werden, dass weitaus weniger der KokainkonsumentInnen „in Nachtlokalen ihr Brot verdien[t]en“, als es der zeitgenössische Betäubungsmitteldiskurs nahelegt.102 Auch eine Gefährdung der Volksgesundheit durch Kokainkonsum, die im Drogendiskurs vielfach diskutiert wurde, stellt sich angesichts von 85 „Cocainismus“-Fällen in der Charité zwischen 1918 und 1933 als diskursiv erzeugte Bedrohung dar. Zahlreiche Beispiele aus zeitgenössischen Quellen belegen gleichwohl, dass zwischen dem nächtlichen Vergnügungsleben der Metropole Berlin in der Zwischenkriegszeit und dem hedonistischen Kokainkonsum eine direkte Verbindung bestand. Obschon die in den 1920er-Jahren postulierte „Drogenwelle“ von den Zeitgenossen diskursiv erzeugt wurde, war der Kokainismus im Berlin der Weimarer Republik ein reales Phänomen. Beide Vergnügungsviertel der Reichshauptstadt, der Kurfürstendamm und die Friedrichstraße, waren Zentren des Kokainhandels und Kokainkonsums. Die Berliner Vergnügungsviertel galten mit ihrem rasanten Verkehr und ihrer gleißenden Lichtreklame als Symbole urbaner Modernität im Herzen der Metropole. Zugleich waren sie auch Räume, in denen gesellschaftliche Tabus berührt und verletzt werden konnten; so gab es in jedem Vergnügungsviertel ein „gewisses Maß an Kriminalität“.103 Ferner generierte die Anwesenheit vieler TouristInnen am Kurfürstendamm und in der Friedrichstraße eine Anonymität, die es auch den Berline98 99 100 101 102 103

Vgl. auch Becker 2011, 160. Bouchholtz 1921, 105. Weka 1930, 108. Wolff 1927, 271. Kohfahl 1926, 88. Becker 2011, 150.

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rInnen erlaubte, sich ungestört und ungehemmt zu vergnügen. Das Vergnügungsviertel war mithin der urbane Raum, in dem Neues ausprobiert und Außeralltägliches erfahren werden konnte.104 In diesem Sinne lässt sich der hedonistische Kokainkonsum im Berlin der Zwischenkriegszeit als ein Phänomen des „Vergnügungstaumels“ der 1920er-Jahre deuten, dem Gottfried Korff zufolge – als „Angstausgleich“ – eine wichtige politische Funktion zukam und in dessen Strudel auch der Kaufmann Paul Z. aus der eingangs zitierten Fallgeschichte geriet.105

Literatur Aschaffenburg, Gustav: Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidelberg 19233. Atai, Jeanine: Kokainliteratur in der Zwischenkriegszeit. Spuren des Giftes in den Texten von Walter Rheiner, Otto Rung und Pitigrilli (=Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft, 15). Frankfurt/M. 2008. Becker, Tobias: Das Vergnügungsviertel. Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende. In: Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900. Hg. Tobias Becker, Anna Littmann und Johanna Niedbalski. Bielefeld 2011, 137–168. Bely, Andrej: Wie schön es in Berlin ist (1924). In: Russen in Berlin. Malerei. Literatur. Theater. Film. 1918–1933. Hg. Fritz Mierau. Leipzig 19913, 56–68. Bonhoeffer, Karl und Gustav Ilberg: Über Verbreitung und Bekämpfung des Morphinismus und Kokainismus. Referate auf der Jahreshauptversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie in Kassel. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 83 (1926), 228–249. Bouchholtz, Christian: Der Kurfürstendamm. Berlin 1921. Ebermeyer: Der Arzt und der Kokainschnupfer. Berliner Tageblatt, 9.11.1926. Edel, Max: Reiz und Betäubung. Ein Beitrag zur Krankheit unserer Zeit. Berliner Tageblatt, 24.11.1919. Fraeb, Walter Martin und Paul Wolff: Die straf- und zivilrechtliche Stellungnahme gegen den Rauschgiftmißbrauch, mit Abänderungsvorschlägen zur Strafrechtsreform, zum BGB, und zum Opiumgesetz. Leipzig 1927. Exler, Margarete: Von der Jugendbewegung zur ärztlichen Drogenhilfe. Das Leben Ernst Joëls (1893– 1929) im Umkreis von Benjamin, Landauer und Buber. Berlin 2005. Fischer, Lothar: Anita Berber. Göttin der Nacht. Collage eines kurzen Lebens. Berlin 2006. Freud, Sigmund: Über Coca. In: Sigmund Freud, Schriften über Kokain. Hg. Albrecht Hirschmüller. Frankfurt/M. 20044. Föllmer, Moritz und Rüdiger Graf (Hg.): Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt/M. 2005. Gaupp, Robert: Die Gefahren der Rauschgifte und ihre Bekämpfung. Stenographischer Bericht über

104 Vgl. ebenda, 157. 105 Korff 1989, 87.

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die Verhandlungen des 47. Deutschen Ärztetages am 29. und 30. Juni 1928 in Danzig. Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland 57 (1928), Nr. 1462, 66–79. Glaserfeld, Bruno: Ueber das gehäufte Auftreten des Kokainismus in Berlin. Deutsche Medizinische Wochenschrift 46 (1920), Nr. 7, 185–186. Gunkelmann, Martina: Zur Geschichte des Kokains. In: Drogen und Drogenpolitik. Ein Handbuch. Hg. Sebastian Scheerer und Irmgard Vogt. Frankfurt/M. 1989, 359–368. Hoffmann, Annika: Von Morphiumpralinees und Opiumzigaretten. Zur beginnenden Problematisierung des Betäubungsmittelkonsums in Deutschland der 1920er Jahre. In: Sozialwissenschaftliche Suchtforschung. Hg. Bernd Dollinger und Henning Schmidt-Semisch. Wiesbaden 2007, 259–275. Hoffmann, Annika: Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2012. Jay, Mike: High Society. Eine Kulturgeschichte der Drogen. Darmstadt 2011. Korff, Gottfried: Berliner Nächte. Zum Selbstbild urbaner Eigenschaften und Leidenschaften. In: Berlin ... Blicke auf die deutsche Metropole. Hg. Gerhard Brunn und Jürgen Reulecke. Essen 1989, 71–103. Joël, Ernst: Kokainismus. Medizinische Klinik 19 (1923), Nr. 24, 817-819. Joël, Ernst und Fritz Fränkel: Der Cocainismus. Ein Beitrag zur Geschichte und Psychopathologie der Rauschgifte. Berlin 1924. Kohfahl, Arnold: Über Heroinmißbrauch. Deutsche Zeitschrift für die Gesamte Gerichtliche Medizin 8 (1926), 81–90. Moreck, Curt: Führer durch das „lasterhafte“ Berlin. Leipzig 1931. Nebe, Arthur: Kriminalpolizei und Rauschgifte. Kriminalistische Monatshefte 3 (1929), 59–61 und 81–85. Steimann, Wilhelm: Morphinismus als Kriegsbeschädigung. Münchener Medizinische Wochenschrift 74 (1927), Nr. 17, 29.4.1927, 719–721. Rödszus, Lothar Bruno: Das Betäubungselend. Kokainismus zur Zeit der Weimarer Republik. Unveröffentlichte Diss. med. Universität Heidelberg 2000. Sattler, Eve: Vergiftete Sensationen. Soziale und kulturelle Dimensionen des Rauschmittelkonsums im literarischen Expressionismus 1910–1914 (=Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft, 7). Düsseldorf 2010. Scheerer, Sebastian: Die Heroinszene. In: Drogen und Drogenpolitik. Ein Handbuch. Hg. Ders. und Irmgard Vogt. Frankfurt/M. 1989, 285–298. Schivelbusch, Wolfgang: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt/M. u. a. 1990. Schweer, Thomas und Hermann Strasser: Cocas Fluch. Die gesellschaftliche Karriere des Kokains. Opladen 1994. Springer, Alfred: Kokain. Mythos und Realität. Eine kritisch dokumentierte Anthologie. Wien 1989. Stein, Adolf: Berliner Allerlei. Berlin 1922.

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Täubert, Klaus: Unbekannt verzogen. Der Lebensweg des Suchtmediziners, Psychologen und KPDGründungsmitgliedes Fritz Fränkel. Berlin 2005. Weka (=Willy Pröger): Stätten der Berliner Prostitution. Von den Elends-Absteigequartieren am Schlesischen Bahnhof und Alexanderplatz zur Luxus-Prostitution der Friedrichstraße und des Kurfürstendamms. Berlin 1930. Wolff, Paul: Die Suchten und ihre Bekämpfung. (Morphinismus, Kokainismus, u. a.). Apotheker Zeitung 42 (1927), Nr. 17, 229–231; Nr. 18, 247–250; Nr. 19, 270–273; Nr. 20, 294–296. Wolff, Paul: Zur Behandlung und Bekämpfung der Alkaloidsuchten (Morphinismus, Kokainismus usw.). Auswertung einer Rundfrage. Deutsche Medizinische Wochenschrift 54 (1928), Nr. 1–10, 7–10; 51–53; 134–136; 224–226; 266–268; 349–351; 387–389. Wriedt, Jan: Von den Anfängen der Drogengesetzgebung bis zum Betäubungsmittelgesetz vom 1.1.1972. Frankfurt/M. 2006.

Dorothea Dornhof

„Die Börse handelt im Affekt.“1 Spekulation zwischen effektiver Zukunftsschau und rationalem Wahn

Vorspiel Im Jahre 1937 wurde der Berliner Dadaist Hans Richter (1888–1976) in seinem Schweizer Exil von der Züricher Börse beauftragt, in einem Werbefilm die Börse als Barometer der Wirtschaftslage zu visualisieren und einer breiten Öffentlichkeit das abstrakte Börsengeschehen als ein dem wirtschaftlichen Fortschritt dienendes Phänomen sinnfällig zu machen.2 Zwei Jahre später erschien die berühmte Studie Speculation and Economic Stability des ungarischen Keynesianers Nicholas Kaldor (1908–1986).3 Während Kaldors Buch stabile und instabile Gleichgewichte und Preiszyklen in abstrakten Modellen und Figuren veranschaulichte, musste Richter die Entwicklung des Handels vom einfachen Tauschhandel zur immateriellen Finanzökonomie im Film sichtbar machen. Die beiden Visualisierungsstrategien hätten nicht unterschiedlicher sein können: Mit Wirtschaftskurven als Repräsentationen dynamischer Abläufe betonte Kaldor das Rationale gewinnorientierter Geschäfte.4 Bei Richter führte wohl das Genre Werbefilm dazu, dass der Übergang vom produktionsorientierten Industrie- zum Finanzkapitalismus als ein der Evolution vergleichbarer Prozess dargestellt und die zunehmende Rationalisierung des Finanzmarktes als Voraussetzung der Moderne betont wurde. Jedoch geht Richters filmästhetische Übersetzung unsichtbarer finanzökonomischer Vorgänge nicht in der durch Bild und Kommentar angestrebten Rationalisierung auf: Mit einem breiten Spektrum an visuellem Material und unterschiedlichen Darstellungsmethoden verknüpfte er in rasanter Abfolge Zeichnungen, Gemälde, Stand- und bewegte Bilder im Dokumentarstil sowie in kurzen Spielszenen, begleitet von einer ebenso atemlosen Kommentarstimme, die nur ein einziges Mal 1 2

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Lewinsohn/Pick 1933, 288. Als Maler und Filmemacher war Hans Richter einer der bedeutendsten Künstler der europäischen Avantgardebewegung. Sein Werk ist von Expressionismus, Kubismus, Züricher Dada und Konstruktivismus geprägt. Er arbeitete als Werbefilmer zum Beispiel für Philips, Ovomaltine, S. R. Geigy SA und war von 1937 bis zu seinem Wechsel zur Frobenius Film AG in Basel Produktionsleiter für Werbefilme bei der Central Film AG in Zürich. Der Film Die Börse als Barometer der Wirtschaftslage wurde 1939 in seinem Exilland Schweiz aufgeführt und gehört gemeinsam mit seinem abstrakteren Film Inflation (D 1928) zu den avancierten intermedialen Dokumenten visueller Kapitalismuskritik. Kaldor 1939. Tanner 2002, 148.

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unterbrochen wird. Eine minutenlange Einstellung zeigt das Gewirr und Geschrei, die wild gestikulierenden Hände und Männerkörper mit verzerrten Gesichtern auf dem Börsenparkett. Gerade in dieser Szene wird sinnfällig, dass nicht nur tatsächliche Ereignisse und Fakten die Kurse bestimmen, sondern diese maßgeblich auch durch die Reaktionen und Stimmungen der Börsenteilnehmer beeinflusst werden. Die Rückkehr der Körperlichkeit in die Ökonomie, Geld und moderne Großstadt, die Globalität der Finanzmärkte und der gespenstische Eigensinn zirkulierender Objekte und Zeichen verbinden sich in Richters Film, der den ZuschauerInnen die Parallelität von medialen Techniken des Films – vor allem dessen Rhythmus – und Technologien der Spekulation vor Augen führt. Filmische Montage, Doppelbelichtungen oder gekippte Kamera stellen auf visueller Ebene Zusammenhänge her – zum Beispiel die Abläufe einer Börsenorder zum Verkauf von Nestlé-Aktien, mit deren Erlös dann Reichsanleihen angelegt werden –, die im Grunde unsichtbar sind. So werden nicht nur die „dunklen Kräfte von Zeit und Unwissen, welche uns die Zukunft verhüllen“, 5 sichtbar, auch den Unterschied zwischen Produktion und Spekulation hat Richter durch die Montage von Bildern rauchender Fabrikschornsteine mit Bildern des hektischen Börsentausches eindrucksvoll inszeniert. Während in der filmischen Narration die im Börsendiskurs so virulent unternommene Abgrenzung des Spekulanten vom Spieler ausgeblendet bleibt, wird die seismographische Funktion der Börse stark betont. Eine Off-Stimme resümiert: Auf alles dies reagiert die Börse wie ein feines Instrument. Das Publikum verleiht seinen Hoffnungen und Befürchtungen, seinem Vertrauen und Misstrauen durch Käufe und Verkäufe von Wertpapieren sichtbaren Ausdruck. All dies spiegelt sich in den Kursen wider. Weil günstige Erträgnisse oder mögliche Verluste in den Kurven eskomptiert werden, wird die Börse – und zwar mit Recht – als das Barometer der Wirtschaftslage bezeichnet.

Richters Film verweist auf Visualisierungsmodi als wichtiges Merkmal spekulativer Handlungen. Dass umgekehrt die Börse und vor allem Börsenkrisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine besondere Anziehungskraft auf das Medium Film ausübten, lag auch an der physischen Präsenz der Spekulanten auf dem Börsenparkett, über die eine irrationale panische Masse in Szene gesetzt wurde. Ausgehend von der Wortbedeutung – spekulari heißt so viel wie prüfen, sehen, spähen, vorausschauen6 – zieht sich im Spekulationsdiskurs vom 17. Jahrhundert bis in 5 6

Keynes 1936, 64. Zur Visualisierung von Erregungszuständen an der Börse siehe Richter 1929, Stäheli/ Verdicchio 2006, Knorr Cetina/Bruegger 2002. Der englische Gelehrte Samuel Johnson gab in dem von Robert James herausgegebenen dreibändigen Wörterbuch A medicinal dictionary, including physic, surgery, anatomy, chimistry and botany (1743–1745) in seinem Eintrag zu „speculation“ folgende Bedeutungen an: 1. Prüfung vermittels des Auges; Anblick, Betrachtung, 2. Betrachter oder Forscher; ein Spion, 3. inneres Anschauen; Prüfung durch den

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die Gegenwart der Vergleich mit dem Okkulten und der Prognostik: Jeder Spekulationsakt enthält Momente der Zukunftsorientierung, Unbestimmtheit und Fiktionalität, die genau das wirtschaftliche Risiko ausmachen und die virtuelle Gesellschaft der Finanzmärkte bestimmen.7 Als Risikomanager dieses Zukünftigen wird der Spekulant als Störfigur ökonomischen Handelns und etablierter ökonomischer Sichtweisen entworfen: Als zentrale Figur des Kapitalismus wird er in seiner räumlich-performativen sowie in seiner Wissensdimension im Zentrum meines Aufsatzes stehen.

Einbettungen: Die Börse als Diskurs und Schauplatz entmaterialisierter Ökonomie Seit der Tulpenmanie von 1620 wird mit fiktiven Werten spekuliert und Spekulation in Beziehung zum Wahn gesetzt. Mit seiner Bemerkung, dass die Finanzspekulation im Herzen des „instituierten Imaginären“ der westlichen Gesellschaften angesiedelt sei,8 hat Cornelius Castoriades eben diesen nicht-funktionalen und dennoch die industrielle Produktion bestimmenden Charakter der Börse bestätigt. Bereits im 19. Jahrhundert findet sich in einem Spekulationsratgeber des Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) die Wertschätzung des Spekulanten als Spezialisten im Umgang mit unsichtbaren Kräften als Kern moderner Ökonomie: „Die Spekulation ist das Genie der Entdeckung. Sie erfindet, erneuert, versorgt, und schafft gleich dem unendlichen Geist alle Dinge aus nichts.“9 Das Imaginäre ist somit an der Basis realökonomischer Abläufe eingelagert und wird als „ökonomisches Imaginäres“ in den Kämpfen um die Spekulation im Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Zukunft wirksam.10 Mit der zunehmenden Abstraktion als Grundlage kapitalistischen Wachstums bei gleichzeitig steigender Macht von Geld und Aktien über das reale materielle Leben11 kann von der allmählichen Ausgestaltung eines Wahngebäudes gesprochen werden, einer spiritistischen Séance vergleichbar, in der der Spekulant (der Experte) als Medium der Geisterbeschwörung agiert.12 Die Neustrukturierung ökonomischen Handelns durch Finanzkapital und Börsenspekulation setzte einen Prozess in Gang, mit dem wirtschaftliches Handeln aus traditionellen Verstand; Betrachtung in Gedanken, 4. eine durch Nachsinnen erzeugte Gedankenfolge, 5. Gedankenplan, 6. Sehvermögen, zitiert nach Mottram 1932, 8. Zu Spekulation als Gegenstand historischer Forschung vgl. Primel 2013, Engel 2013. 7 Soros 1987, Yamada 1989, Chancellor 2000, Goede 2005. 8 Castoriades1990, 212. 9 Proudhon (1857) 2009, 8. 10 Stäheli 2007, 43, von Braun 2009. 11 Dornhof/von Braun 2015, 10. 12 Stroczan 2002, 21.

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sozialen Einbettungen herausgelöst wurde. Institutionalisiert wurde hingegen eine ebenso autonome wie artifizielle ökonomische Sphäre, die nach Karl Polanyi (1886–1964) durch zwei konstituierende Fiktionen geprägt ist: den „selbstregulierenden Markt“ und die „fiktiven Waren: Arbeit, Boden und Geld“.13 Nach Polanyi verselbständigen sich in der Marktwirtschaft Ökonomie und Profitstreben gegenüber der Gesellschaft. In dieser kulturellen und sozialen Entbettung sieht Polanyi daher den Grund dafür, dass westliche Industriestaaten allmählich ihre eigenen Voraussetzungen zerstören. Mit der Suche nach Techniken und Daten, die Sicherheiten und Risiken und damit die ungewisse Zukunft kalkulierbar und kontrollierbar machen sollen, konstituieren Spekulation und Wahn gleichermaßen eine Grenze der Kommunikation, der Repräsentation und der subjektiven Identität. Die Konturen dieser spezifischen ökonomischen Kultur14 können seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Debatten um das Funktionieren der Ökonomie und die Position der Spekulation ausgemacht werden. In ökonomischen Theorien wie auch in verschiedenen Ansätzen angewandter Psychologie, etwa der Psychotechnik, wurden Verhaltensweisen, Kommunikationsformen, Gerüchte, Schwindel und damit Kulturtechniken15 des Ökonomischen untersucht, um das Agieren des Spekulanten zu legitimieren. Das Handlungsfeld dieser neu entstehenden Berufskultur war die Börse. Sie entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts – ebenso wie der Film – im urbanen Raum moderner Massenkultur zu einem funktionalen Medium, das maßgeblich an der Etablierung artifizieller und kontingenzförmiger Wirklichkeiten teilhatte. Wie in Richters Film wurden auch in zeitgenössischer Dichtung und Kunst sowie später in der Metropolenforschung Großstädte wie Berlin mit ihrer beschleunigten Zirkulation, forcierten Kommunikation und ihrer Kultur der Zerstreuung als eine „riesige Zirkulationsmaschine“ beschrieben.16 Dabei agierte das Medium Geld im Zeitalter virtueller Zahlungsmittel nur noch als ein abstraktes Zeichen, ohne Sicherung beziehungsweise Deckung durch einen Signifikaten.17 An der Börse schuf dieses Medium seine eigene künstliche Realität und nahm Einfluss auf das Denken, die zir-

13 Polanyi 1978, 102. 14 Vgl. Berghoff/Vogel 2004. 15 In den Medien- und Kulturwissenschaften ist Kulturtechnik ein analytisches Konzept zur Untersuchung jener Techniken, die bei der Entstehung von Kultur wirksam sind, womit die Begriffe Medien, Technik und Kultur gemeinsam zur Disposition gestellt werden. Dazu gehören die symbolischen Techniken des Schrift-, Bild- und Zahlengebrauchs ebenso wie Körpertechniken. Cornelia Vismann fasst damit all jene Beziehungen, die sich zwischen Menschen und Dingen etablieren und Raum und Zeit organisieren, Organisations- und Übersetzungsketten, die örtliche Distanzen und zeitliche Dauer überbrücken. Vismann 2010, 171 ff. 16 Lethen 1986,192. Vgl. auch Kracauer 1996, Killen 2006. 17 Leyshon/Thrift 1997.

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kulierenden Bilder und die Psychen. Gemeinsam mit der Verbreitung des Papiergeldes und dem allmählichen Verlassen des Goldstandards ab dem späten 19. Jahrhunderts waren es die veränderten Wahrnehmungsformen der Stadt, die den spezifischen Charakter der Börse als suggestives Massenmedium prägten, ebenso wie die verrückten Vorgänge an der Börse in die Stadt hineinwirkten. Die Börse mit ihren Akteuren, Praktiken, Ritualen, Stimmen und Affekten und den mit ihr verbundenen globalen medialen Netzwerken war Schauplatz einer paradoxen Figuration konfliktreicher Diskursverflechtungen. Grenzgänge zwischen Psychologie, Wirtschaft und Psychiatrie dienten dazu, den Transfer zu erfassen, der den Schauplatzcharakter der Börse ausmachte: Sie werteten einerseits das Psychische auf und kultivierten es andererseits in einem Spektrum komplexer Pathologien. Denn die Börse war auch Ort des Spekulantenwahns, einer modernen Form psychischer Abweichung. Da der Wahnsinn stets theatralischer und spektakulärer Zurschaustellung unterworfen ist, ist im Kontext von „irrational exuberance“18 und „durchgedrehter Normalität“19 der Stellenwert spekulativer Performance an der Börse besonders interessant, eröffnet sich hier doch ein mehrschichtiges Feld unterschiedlicher Verdichtungen und Konstellationen, in denen dem Spekulanten als Störfigur spezifische Funktionen zukommen. Über diese (Kon-)Figuration wurden Zeitdiagnosen und all jene Unwegsamkeiten urbanen Lebens artikuliert, wie kollektive Stimmungen und Verhaltensweisen, Paniken, Manien und Suizide. Zugleich gingen damit Rationalisierungsverfahren einher, die darauf zielten, all dem zu entgehen und die unsicheren Vorgänge und immateriellen Prozesse zu korrigieren und zu ordnen. Der Spekulant ist somit eine paradoxe Figur, die sich am Schnittpunkt von ökonomischer Rationalität und ausschweifender Phantasie20 konstituiert: eine ermöglichende Trope, die ökonomisch kalkulieren und zugleich Zukünfte und Chaos managen und prognostizieren muss. Auch in der zeitgenössischen Verwissenschaftlichung der Spekulation waren diese Paradoxien in ihrer ganzen Breite zu finden. Durch die sich zeitgleich etablierende Psychiatrie als Disziplin wurde der ‚Wahnsinn‘ entzaubert, rationalisiert und klassifiziert und zugleich entgrenzt: Er umfasste nun alle Formen psychischer und sozialer Alterität.21 So wundert es nicht, dass das Störungspotenzial des Spekulanten (speculative insanity, Spekulantenwahn, Spekulationspsychosen) von der Psychiatrie ebenso argwöhnisch beobachtet wurde wie von den Wirtschaftswissenschaften (wirtschaftliche und sittliche Gefahren der Spekulation, Bör-

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Shiller 2000. Link 1996, 2. Stäheli 2010, 356. Vgl. Hess/Schmiedebach 2012, Dietze/Dornhof 2014.

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senfieber und kollektiver Wahn, Glücksspiel).22 Indem Wirtschaftspsychologie, Psychotechnik und Psychopathologie ökonomische Praktiken reflektierten und Analogien zwischen Strukturen des Finanzkapitalismus und psychischen Dispositionen aufriefen, gerieten die Börse und die Spekulation in den Ruch des Anormalen und des Schwindels. Der Spekulant wurde dabei zu einer kreativen Störfigur, weil er – zwischen homo oeconomicus, homo ludens und homo sentimentalis changierend – ständig herausgefordert ist, den konfligierenden anthropologischen Annahmen des Kapitalismus gerecht zu werden. Jakob Tanner hat darauf hingewiesen, dass im Zuge moderner Ordnungsbestrebungen in der Psychiatrie nicht nur das Irrationale, Störende und Kontingente ausgeschlossen wurde, sondern dass die Gleichzeitigkeit von ausschließenden beharrenden und produktiv verändernden Strebungen für die Disziplinwerdung ausschlaggebend war. „Nicht nur die Geschichte der Geisteskrankheiten, sondern auch die der Wirtschaftssysteme und des politischen Denkens ist eine Geschichte von sich wandelnden und oftmals rivalisierenden Ordnungsvorstellungen. […] Ordnung als imaginärer Attraktor der Moderne generiert soziale Demarkationslinien und kulturelle Zuschreibungen.“23 Auch die Wirtschaftswissenschaften sind seit ihrer Entstehung mit der Figur des homo oeconomicus24 von der Gleichzeitigkeit rivalisierender Ordnungsvorstellungen geprägt: Sie stellen dem Spekulanten als Glücksspieler den wissenschaftlichen Spekulanten gegenüber, der auf der Basis spieltheoretischer mathematisch-ökonomischer Handlungsmodelle agiert.25 Neben dem Bedürfnis nach Klarheit, Gleichgewicht und Vorhersagbarkeit gehen in die Wissensproduktion immer auch Ängste, Unruhe und Konfusionen ein, die divergierende Ansätze hervorbringen.26 Die Börse ist eben mehr als ein Barometer der Wirtschaftslage. Als Ort eines weitläufigen Marktgeschehens unterliegt sie verschiedenen Ordnungen der Gleichzeitigkeit, rationale 22 Senf 2004, 152 f. 23 Tanner 2007, 273. Eine vergleichbare wissenschaftsgeschichtliche Perspektive wird in der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises 2013 an die Ökonomen Robert J. Shiller, Eugene Fama und Lars Peter Hansen deutlich, die die Charakterisierung von Aktienkursen und Finanzmarktentwicklungen als rational oder irrational, vorhersehbar oder unvorhersehbar etc. als Komplexitätsreduktion kritisieren. Vgl. Akerlof/Shiller 2009. 24 Zur Entstehung von politischer Ökonomie, Nationalökonomie und des homo oeconomicus als einen weitläufigen Diskurszusammenhang, der eine zentrale Position in der Kultur der Aufklärung besetzt und politische, anthropologische, sozialphilosophische und ästhetische Dimensionen umfasst, vgl. Vogl 2004. 25 Vgl. Tanner 2004, Langenohl/Schmidt-Beck 2007. Sichtweisen einer Ökonomie als Human- und Gesellschaftswissenschaft, die an Marx anknüpfend nie ganz verschüttet waren, haben in letzter Zeit wieder an Bedeutung gewonnen, vor allem durch mikroökonomische Experimente, vgl. Fehr/Schwarz 2002. 26 Tanner 2007, 274.

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wie zufällige, verrückte wie effiziente Szenarien verlaufen unterschiedslos nebeneinander.27 Als der „Markt der Märkte“28 entwickeln Börsentransaktionen ein eigenes Leben: Indem sie Störungen des Gleichgewichts korrigieren sollen, reproduzieren sie diese jedoch auch immer wieder. Wenn es nicht mehr primär um den Kauf von Gütern in der Jetztzeit geht, sondern um Zukunftsorientierung und Ziel, instabile Gewinnmöglichkeiten zu nutzen, dann liegt der Schwerpunkt des Marktgeschehens im Aufschub, durch den zukünftige Transaktionen in der Gegenwart antizipierbar werden: An die Stelle der traditionellen Orientierung an Ruhe und Stabilität treten Variabilität und Unbeständigkeit.29 Mit der Börse als Schauplatz effektiver Fiktionen30 und der Figur des Spekulanten im Spannungsfeld von kalkulierender Rationalität und unkontrollierter Zukunftsschau werden konvergierende Wissensformen, Praktiken und Räume miteinander in Beziehung gesetzt.

Raumordnungen: Regulierungen und spekulative Performance Die skizzierten Gleichzeitigkeiten und Ordnungsfunktionen können zunächst in der Verschränkung von städtischem Raum und dem durch technische Medien geprägten Raumgefüge der Berliner Börse entfaltet werden. Die Berliner Börse verkörperte nach der Reichsgründung und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die herausragende Bedeutung der Stadt Berlin als Wirtschaftsstandort. Berlin entwickelte sich zum weltweit anerkannten Finanzplatz, zum internationalen Handelszentrum und zu einem der größten Industriestandorte der Welt, mit den zentralen Großbanken, vor allem den vier „D“: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Disconto-Gesellschaft und Darmstädter Bank sowie zahlreichen Privatbanken, darunter die Bankhäuser Mendelssohn & Co. und S. Bleichröder, und mehr als 1000 Aktiengesellschaften.31 Wie in anderen Metropolen auch war die Berliner Börse im Zentrum der Stadt situiert. Sie reihte sich in das Bankenviertel ein, das sich in der Nähe der historischen „Prachtstraße“ Berlins, der Allee Unter den Linden, und der Behrenstraße befand.32 27 Vgl. Minsky 2011, Vogl 2010. 28 Schmoller 1900, Bd. 1, 121:„Die Börse ist heute der Markt aller Märkte, der Mittelpunkt alles geschäftlichen Lebens. Die Börsenmeinung ist die Destillation der Geschäftskenntnisse aller leitenden Persönlichkeiten. […] Sie ist gewissermaßen das Gehirn der Volkswirtschaft geworden. […] Die Börse zertrümmern, weil sie Auswüchse und Schäden hat, weil ihre Zentralisation der Geschäfte einzelne riesenhaft bereichert, heißt doch, das Instrument lahmlegen, das die Volkswirtschaft leitet.“ 29 Esposito 2010, 99. 30 Vogl 2010, 17. 31 Cassis 2007, 163 f. Vgl. auch Hübener/Hübscher/Hummel 2000. 32 Bernard 1905, 4.

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Abb. 1: Außenansicht Berliner Börse 1939. Wir befinden uns Ecke der Burg- und Neuen Friedrichstrasse. Wir stehen vor dem Tempel des Gottes Merkur oder der Göttin Fortuna – wie man will. Die Börsianer selbst nennen das mächtige prächtige Haus etwas unehrerbietig, aber mit anerkennenswerther Unbefangenheit und Offenheit, den Palast der Prinzessin – M u m p i t z ; welches Wort ungefähr so viel wie – S c h w i n d e l bedeutet.33

Dr. Ludwig Lewin (1887–1967), Leiter der Berliner Lessing-Hochschule, verwies gleich zu Beginn seiner atmosphärisch dichten Beschreibung eines Tages an der Berliner Börse auf den Schwindel als der immanenten Störungsfigur der Börse, die den Diskurs um die symbolische Dimension der Finanzmärkte seit Beginn der Spekulation durchzog.34 Er verwies auch auf die Beziehungen zur urbanen Kultur der Stadt, besonders auf Erscheinungen des Spielbetriebs im Berlin der Inflationsjahre, womit wiederum die unlösbare Beziehung zwischen Börse, 33 Lewin 1928, 294 f. 34 Vega de la (1688) 2010, Wahrmund 1838, Anonymus 1894, Glagau 1875, Lewinsohn/Pick 1933, Dash 1999.

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Abb. 2: Eröffnung des vierten Börsensaals 1922.

Glücksspiel und Schwindel aufgerufen wurde. An allen zentralen Begegnungsorten Berlins wie rund um das Börsenviertel am Alexanderplatz oder im Scheunenviertel befanden sich kleine Spielsalons. Haus um Haus hatte so seine Spielhöllen. […] Die öffentliche Meinung ward schwankend gegen die Spielsucht. Im April 1923 wurde den Spielklubs der Kampf angesagt. Zwei Tage später wurde der Vorschlag gemacht, die Spielklubs zu konzessionieren.35

Wird das Gebäude der Berliner Börse mit seinen Akteuren und Schauplätzen genauer betrachtet, dann zeigt sich ein Geflecht von Räumen und Kommunikation, Beobachtung und Kontrolle. Der Sozialökonom Oskar Stillich (1872–1945), der sich in einem umfangreichen Werk mit der gesellschaftlichen Wirkungsweise von Geld, Banken und Börsen auseinandersetzte und gleichzeitig praktische Ratgeber für das Börsenpublikum verfasste, betonte genau diesen kulturellen Aspekt der Börse: 35 Ostwald 1931, 36 f. Vgl. Widdig 2001.

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Dorothea Dornhof In der Nähe des königlichen Schlosses in Berlin, am Strande der Spree stehen zwei große imposante, die Augen des Vorübergehenden fesselnde Bauwerke. Das eine ist der neu erbaute, nach dem Himmel deutende Dom, das andere die altergraute, dem irdischen Erwerbsleben zugewandte Börse. So verschiedenartig, ohne Zweifel, beider Zwecke sind, so haben sie doch eins miteinander gemein: beide sind Kultusstätten.36

Doch die Börse war ein umstrittenes Feld. Zahlreiche Schriften richteten sich gegen die Spekulation und begründeten ihr öffentliches Anliegen damit, der zügellosen, verderblichen und gewissenlosen Spekulation die Flügel zu beschneiden, um der volkswirtschaftlich nützlichen den Weg zu ebnen: Begeben wir uns rechtzeitig um 12 Uhr in die Hallen des stolzen Börsengebäudes an der Burgstraße, damit wir sehen, in welcher Weise dort täglich dem Dienste des goldenen Kalbes gehuldigt und wie nach der Vorstellung der Feinde der Börse mühelos und zum Schaden der Gesamtheit an dem Markte des Volkes gezehrt wird.37

Mit den Gefahrenwahrnehmungen der ‚Kultstätte‘ Börse waren stets Abwehrrhetoriken verbunden, die sich zu Regularien und Präsenzritualen formierten und aufgerufen wurden, um diese abzuwehren. Es ist ¼ vor 12. An der Ecke Burg und Neuen Friedrichstr. entwickelt sich ein lebhafter Verkehr. Vor uns liegt das imposante, architektonisch schöne Börsengebäude, das um 1860 von Hitzig erbaut und in den achtziger Jahren nach Süden erweitert worden ist. Die Hauptfassade ist durch eine doppelte Kolonnade hervorgehoben; darauf eine Sandsteingruppe von Begas: Borussia, Ackerbau und Handel beschirmend. Zu Fuß der Wagen, von allen Seiten strömen die Börsenbesucher herein. Eine mächtige Tür, in Form eines mit grünem Tuch ausgeschlagenen Drehkreuzes, bildet den Hauptzugang. Die am Eingang postierten Börsendiener sorgen dafür, daß ‚Unberechtigte‘ sich nicht durchschmuggeln. Nur wer eine Börsenkarte besitzt, […] dem öffnen sich die Börsenhallen. Rasch füllt sich der große, prächtige Börsensaal, der mehr als 5000 Personen faßt. Der mit Stuckmarmor bekleidete Hauptsaal ist über 100 Meter lang, etwa 30 Meter breit und 30 Meter hoch. Säulenreihen teilen ihn in drei Abteilungen.38 36 Stillich 1909, 1. Vgl. auch Stillich 1911, 1924. 37 Anonym 1894, 4. 38 Obst 1922, 13 f., vgl. Schneider 1926. Georg Obst (1873–1938) war deutscher Ordinariums für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Breslau. Bis Mai 1906 war er Leiter der Depositenkasse der Dresdner Bank in Berlin, wo er auch die Fachschule für Bankbeamte gründete. Von 1906–1910 war er Dozent für Bank- und Finanzwesen an der Handelshochschule Berlin. August Schneider war zu diesem Zeitpunkt Direktor der Börsenverwaltung.

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Die Beobachtungen eines ordinierten Börsenspezialisten deuten auch soziale Hierarchien und Zutrittsbeschränkungen für ungebetene Gäste an. Die Besucher werden aufgeteilt in „Wissende“ und „Unberufene“: Wissend ist der spekulierende Direktor, das spekulierende Aufsichtsratsmitglied, wissend ist weiter auch der Bankier, sobald er den Börsenauftrag bekommt, sofern er nicht bereits als Aufsichtsratsmitglied ‚Wissender‘ geworden ist. Die Bankbeamten, die Börsenvertreter sehen, daß Wissende‘ kaufen, ziehen daraus Schlüsse und kaufen auch.39

Über die zum Börsenhandel zugelassenen Personen entschied ein Börsenvorstand, der sich aus Vertretern der Abteilungen Wertpapierbörse, Produktenbörse und Metallbörse zusammensetzte. Der Vorstand hatte für Ordnung in den Börsenräumen zu sorgen sowie Personen auszuschließen, die den Geschäftsverkehr in den Börsenräumen stören (könnten). Als Organ der Landesregierung wurde nach dem Börsengesetz von 1896 ein Staatskommissar eingesetzt, der als Bindeglied zwischen Börse und Regierung dienen und die Einhaltung der Gesetze überwachen sollte. Eine Börsenkarte erhielt, wer einen Antrag an den Börsenvorstand stellte und drei ‚Paten‘ an der Berliner Börse benennen konnte. So gesehen war der Börsenhandel zunächst für Direktoren der Banken sowie Kurs- und Fondsmakler zugänglich, es gab aber auch einfache Eintrittskarten für Angestellte und Börsenvertreter sowie für Besucher, die dem Treiben von den Galerien zuschauen konnten: Man blickt auf ein Meer von Köpfen, vielfach gelichtet und kahl und erglänzend wie silberner Mondenschein. Die Menschen laufen, rennen und brechen sich mit Armen und Schultern Bahn; sie gestikulieren, sprechen, rufen und schreien. Kein einziges Wort aber versteht man. Es ist wie eine große Volkszene im Schauspielhaus oder wie brausende See.40

Frauen waren zunächst von der Börse ganz ausgeschlossen – und darin den Nicht-Zugelassenen, den Entmündigten, Ehrlosen, Betrügern und Irrsinnigen gleichgestellt.41 Erst mit einer zweiten Gesetzesänderung, das heißt ab 1. Januar 1922, veränderte sich das.42 Obwohl räumlich getrennt, ähnelten sich die Zuschauer auf der Börsengalerie und die Teilnehmer im Parkett – Privatanleger, institutionelle Anleger, Banken, Händler, Freimakler, Makler – in punkto Kompetenz und Informationsfluss.43 39 40 41 42 43

Obst 1922, 34. Ebenda, 14. Stillich 1909, 41. Pohl 1992, 228. Goldinger 2002, 197.

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Bereits das Börsengesetz von 1896 hatte die Börse zu einem rechtlich regulierten Raum gemacht, in dem eine strenge Kontrolle der Börsengeschäfte eingeführt wurde, die Spekulationen erschweren und Betrug bekämpfen sollte.44 Dies betraf vor allem die Getreidebörse und ein Verbot des Terminhandels: Die Wertpapierbörse aber war an die Stelle des ihm praktisch unmöglich gemachten Börsentermingeschäfts zu anderen plumperen Geschäftsformen übergegangen, in denen sich die Spekulation ungehindert, zeitweise in sehr großem Umfange betätigte. Man konnte die Erfahrung machen, daß man den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben hatte.45

Für den Bonner Juristen Heinrich Göppert (1867–1937), der sich in den 1920er-Jahren kritisch mit dem Börsengesetz und den staatlichen Regulierungsversuchen auseinandersetzte, wurde die Berliner Börse damit zu einem hybriden Gebilde. Er beklagte vor allem eine wilde, durch starke Beteiligung des Publikums „entartete Spekulation“, die einen „Filter gegen allzu große Verunreinigungen in Gestalt einer Zulassung zum Börsenbesuche“ notwendig mache.46 Darum ist die Berliner Börse zwar kein offener Markt mehr, d. h. sie ist nicht jedermann zugänglich, aber sie ist insofern ein freier Markt geblieben, als sie der herrschenden Schicht, der Bank- und Bankierswelt Großberlins, für jedes Geschäft dient, das im Rahmen ihres weiten Geschäftskreises zweckmäßig an der Börse erledigt wird. Darum muss sie ein amorphes Gebilde bleiben, keine Korporation des öffentlichen Rechts, keine irgendwie geartete Vereinigung des privaten Rechts, sondern eine rechtlich überhaupt nicht zu qualifizierende, durch die nach Maßgabe des Börsengesetzes erlassene Börsenordnung reglementierte regelmäßige Zusammenkunft eines überaus gemischten Publikums.47

Die Bankenkrise führte 1927 zu einer Intensivierung des Kampfes gegen Börse und Spekulation. Die Panik der Krise48 entwickelte sich im Verlauf der Hyperinflation zu einem verrückten Börsenspiel, das sich im Rückblick als Abfolge unterschiedlicher Erregungszustände darstellt. Auf der Suche nach Schuldigen für die Kurseinbrüche standen die Berliner Großbanken am Pranger.49 Denn ihre angekündigten rigorosen Maßnahmen zur Einschränkung der Spekula44 45 46 47 48

Vgl. Knipper 1902, Klebba 1920, Blumenthal 1928. Göppert 1930, 8. Ebenda, 10. Ebenda, 22. Ein schwarzer Tag an der Berliner Börse. Große Kursstürze infolge der Reportkrediteinschränkung. Handels-Zeitung des Berliner Tagblatts, Freitag, 13. Mai 1927, Nr. 225 und 226. 49 Vgl. Ufermann 1924, Neckarsulmer 1925, Bernhard 1905 und 1900, Pinner 1924, Blaich 1985 und 2005.

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tionskredite hatten Millionenverluste der Aktienbesitzer zur Folge. Die Reichsregierung wies offiziell jede Schuld von sich, und der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht (1877–1970) beteuerte, dass die Großbanken ihren Entschluss ohne Druck der Reichsbank gefasst hätten.50 Auf einer Börsenversammlung an der Burgstraße erklärten die Börsenteilnehmer ihr Misstrauen gegenüber Banken und Reichsbank und forderten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Mit der Losung „Kampf gegen Börse und Spekulation“51 hatte Reichsaußenminister Gustav Stresemann (1878–1929) auf einer Tagung von Berliner Maschinenbauern im Mai 1927 eine Kampagne gegen die Börsenspekulation gestartet und vor kommenden schwarzen Börsentagen gewarnt. Auch Reichsbankpräsident Schacht wandte sich gegen die Börsenkredite der Banken, denn diese bemühten sich um ausländisches Geld, inszenierten an der Börse leichte Kursbewegungen und zogen immer weitere Kreise in die Börsengeschäfte hinein, ungeachtet der Gefahr eines erneuten Börsenkrachs. So gingen die Banken dazu über, immer mehr Geld in Form von Krediten an die Börsenspekulation auszuleihen. In einer Flut von Zeitungsartikeln wurden diese starken Bewegungen mit militärischen Metaphern wie „Stürmischer Baisse-Angriff“52 oder „Die Berliner Bankwelt zum Kurssturz“53 jeweils so dargestellt, als sei der Tiefstand an der Börse bereits erreicht.54 Nachdem sich 1929 der Crash der New Yorker Börse – „Fieberstimmung in New York“55 – auch in Deutschland ausgebreitet hatte, war das Versagen der Frühwarn- und Regulierungsfunktion der Finanzmärkte endgültig offensichtlich. Diese hier nur knapp skizzierten Erregungszustände gelangten durch die mediale Berichterstattung in die Öffentlichkeit. Ihren Ort in der Stadt fanden sie im repräsentativen Gebäude der Börse. Als öffentlicher Resonanzraum war die Börse ein theatralisch-spektakulärer Raum, in dem die Spekulation nicht einfach Fiktion war, sondern auch Performance ihrer eigenen Fiktionalität.56 In all den beschriebenen Facetten des räumlichen Börsengefüges, der Regularien und der Atmosphäre wird deutlich, wie störende Elemente rituell wiederholt wurden. Damit wurden vorrangig Mechanismen zur Abwehr von Bedrohungen aufgerufen und eingesetzt, um die Selbststabilisierung zu sichern, mit der die destabilisierenden Faktoren der spekulativen Performance überblendet wurden. Die Affekte und imaginären Dimensionen des Börsenraumes waren jedoch fest in dessen Strukturen verankert und wurden durch die technischen Medien permanent erzeugt und verstärkt. 50 51 52 53 54 55 56

Börse fordert Untersuchung. Berliner Morgenpost, 17.5.1927, Nr. 117. Die Börse im Kreuzfeuer. Berliner Morgenpost, 15.5.1927, Nr. 116, Sechste Beilage. Berliner Börsen-Curier, Nr. 488, 18.10.1929, 9. Berliner Börsen-Curier, Nr. 489, 19.10.1929, 9. Weber (1939) 1959, 297, vgl. Galbraith 2005, Kindleberger 2001. Berliner Börsen-Curier, Nr. 499, 25.10.1929, 7. Vgl. Stäheli 2007, 113, Schößler 2009.

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Abb. 3: Zellengang 1933.

Neben den vier großen Sälen befanden sich in der Börse noch spezielle kleinere Räume, etwa 69 Nischen, die teilweise großen Bankhäusern gehörten, sowie zahlreiche Börsensitzplätze.57 In den Kellerräumen waren Kojen, Devisenplätze, Fernsprechzellen und Lichtsignale untergebracht. Die Kurse liefen über den Börsenticker, auf dessen endlosen Papierstreifen die Einzelabschlüsse mit Angabe von Menge und Preis erschienen. Der Börsenticker registrierte alle Änderungen, auf die die Makler aus ihren Büros heraus reagieren konnten, was wiederum Kursänderungen zur Folge hatte und neue Entscheidungen verlangte. Mit dem Phänomen des „Echtzeithandels“ ging eine räumliche und sachliche Ausdehnung des Börsengeschehens einher, geprägt durch den Telegraphenverkehr: „Die Schnelligkeit der Übermittlung ist so groß, daß Depeschen, die von Berlin nach London gingen, rascher eintrafen, wenn sie den ‚kleinen‘ Umweg über New York machten, als wenn sie den direkten Weg liefen. Die Schnelligkeit ist besonders für den Arbitrageverkehr von Wichtigkeit.“58 Durch pneumatische Röhren glitten die Telegrammzettel innerhalb des Gebäudes in die im Keller befindlichen Büros 57 In der Berliner Börse trugen sie Namen wie „Bochumer Markt“ oder „Harpener Ecke“, mit denen sich auch soziale Hierarchien reproduzierten. 58 Obst 1922, 19.

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Abb. 4: Börsensaal.

der Kabelgesellschaften, wo die „Geheimmitteilungen“59 der Kursstände von den Boten abgeholt und auf die Börsenplätze verteilt wurden. Die aktuellen Kurswerte, die über den Fernschreiber liefen, wurden auf Tafeln geschrieben und in den Schaufenstern ausgestellt. Man konnte sowohl innerhalb wie außerhalb der Börse ständig den Verlauf des Börsengeschehens verfolgen. Durch die kontinuierliche Echtzeitübertragung von Informationen kam es zu einer medialen Enträumlichung des Marktes und zugleich zu einer Verräumlichung moderner Stadtwahrnehmung an der Börse. „Eigenartige Menschenmasse, die sich in den Sälen drängt und schiebt, und das Getöse von Angebot und Nachfrage, jenes dumpfe Rauschen der Börsenflut, von dem das Dröhnen und der Lärm der Großstadt siegreich übertönt wird, die dem Galeriebesucher in erster Reihe auffallen und als charakteristisch für die Börse erscheinen.“60

59 Ebenda. 60 Stillich 1909, 2.

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Mit dem Börsenticker trat neben die räumliche und soziale Ordnungsfunktion, die Zugehörigkeit regelte, eine zeitliche.61 Der Börsentelegraph generierte via Synchronisierung Zeitstrukturen und verwandelte individuelle Erfahrungen in eine kollektive Kraft. Die mit dem Lärm verbundene physische Dimension hatte an der Abstraktheit des Wirtschaftsgeschehens teil, beide Aspekte hoben sich jedoch nicht auf, sondern verstärkten sich gegenseitig.62 Der Börsenfernschreiber wurde dabei häufig mit pathologischen Metaphern beschrieben: Der spasmodische Rhythmus erzeuge einen hypnotischen Schwindel, sodass der sich im Schwindel befindende Tickerbandleser vom Medium eingenommen werde und jene Fähigkeit und erhöhte Aufmerksamkeit verloren zu gehen drohe, die ein rationales und transparentes Agieren der finanzökonomischen Kommunikation garantiere.63 Die evozierten Affekte der technischen Medien waren darüber hinaus geschlechtlich codiert: Die Börse in Aktion ist ein übererregter Organismus, der sich bis zum Orgasmus erhitzt. […] Man darf daher den Satz wagen: die Börse handelt im Affekt. Sie ist rasch wechselnden Stimmungen unterworfen, wie eine hysterische Frau, unlogisch, sprunghaft, ohne rechtes Augenmaß für Ursache und Wirkung, immer zu Übertreibungen geneigt.64

Zu den Papierfluten gehörten auch die Veröffentlichung der Tageskurse in den Börsenzeitungen und die täglichen Dossiers der Bankarchive65 als Teil der vor allem temporal organisierten Ordnung der Gleichzeitigkeit.66 Die täglich schwankenden Kurse wurden für Börsenbesucher wie -teilnehmer überdies topographisch in Karten festgehalten: Es gibt oberflächliche Karten, die nur die großen Werte und die Spekulationsströme, an denen sie liegen, verzeichnen, es gibt etwas genauere, die auch die kleineren Werte und Spekulationsflüßchen markieren, und es gibt, wie beim Großen Generalstab, die großen Börsenkarten, denen selbst kleinste Werte nicht entgehen: die amtlichen Kurszettel.67 61 Preda 2006, 118. 62 So wurde z. B. der Lärm des Tickers mit einer Glashaube gedämpft, jedoch nicht zum Verschwinden gebracht. Vgl. Windmüller 2014, 73. 63 Stäheli 2007, 261. 64 Lewinsohn/Pick 1933, 287 (Kursivierung DD). Vgl. auch Hotchkiss 1905, Barnard 1929, Gelman/ Burhop 2008. 65 te Heesen 2006, 239; zu rationalisierter Informationsverarbeitung in Bank- und Börsengeschäften siehe das Kapitel zu Bankarchiven, 235–244. 66 Stäheli betont den Umbau einer auf Repräsentation beruhenden Ordnung hin zu einer in erster Linie temporal organisierten Ordnung der Gleichzeitigkeit durch die technischen Medien der Börse. Stäheli 2007, 321. 67 Lewinsohn/Pick 1933, 258.

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Letztere verzeichneten Angebot und Nachfrage und die ersten und letzten Kurse des Tages. „Der Kurszettel ist gewissermaßen das Publikationsorgan für die wesentlichen Vorgänge an der Börse, die in einer äußerst konzentrierten Form der Öffentlichkeit berichtet werden.“68 Mitunter herrscht eine furchtbare Aufregung. Aus der ganzen Welt laufen hier während der Börsenzeit Nachrichten ein. Die Börse lebt von Neuigkeiten. In drei Stunden passiert hier mehr als vielleicht im ganzen Lande. Das ist die Quelle aller Erregung und Bewegung. Auch die Psyche des Börsenbesuchers wird davon in hohem Maße beeinflußt. Die Gesamttendenz der Börse kann flau, unsicher oder fest sein.69

Wenn auch die Börse majestätisch an der Spree ruhte, so war ihr Gebäude zugleich ein lebendiger öffentlicher Resonanzraum. Über technische Medien vermittelt, ging hier die Preisbildung an den Märkten der Welt lärmend vonstatten. Durch finanzielle Transaktionen, die per Telegraph vollzogen wurden, spaltete sich das Maklerwesen in Anlage und Spekulation auf, wobei der Spekulant mit Nichts handelte. Spekulative Arbeit an der Börse bestand darin, in affektiv besetzten Räumen aus Preisdifferenzen Gewinn zu bestimmten Terminen zu erzielen. Damit agierte der Spekulant auf einem organisierten Markt fungibler Werte für den mobilen Kapitalverkehr.70 Der Ausbau des Informations- und Kommunikationsnetzes fiel mit der Veränderung des Effektenmarktes – Kapitalanlage in Wertpapieren, Aktien, Anleihen – zusammen und ließ den Börsenhandel wachsen. Der mediale Charakter dieser Vorgänge ging in die Vision einer Weltbörse als Form globaler Vernetzung ein, wie sie der Nationalökonom August Sartorius von Waltershausen (1852–1938) zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwarf: Das Netz der elektrischen Nachrichtenübermittlung gleicht einem Nervensystem der Erde. Eine Erschütterung an einem Punkt macht sich alsbald überall fühlbar. Die Menschheit erhält durch diese Einrichtung ein Gesamtempfinden, ein gemeinsames Nachdenken, Urteilen, Wollen. […] Durch die so schnelle und sichere Verständigung von Ort zu Ort ist es beinahe so, als wenn auf der Erde nur eine Börse bestände, eine Weltbörse, auf der sich auch Käufer und Verkäufer zwar nicht von Angesicht zu Angesicht erblicken, doch durch das Telefon hören können. Durch solche Einrichtungen versteht man so recht, daß die Weltwirtschaft eine reale Einheit ist.71

68 Caleb/Koch 1928, 5. Für die Lektüre der Kurszettel gab es Anleitungen wie die hier zitierte. Vgl. auch Glaser 1908. 69 Stillich 1909, 3. 70 Vgl. ebenda, 30. 71 Zitiert nach Walter 1995, 188.

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Die Analogie von der spekulativen kontingenten Dimension des Börsengeschehens und den Erschütterungen des Nervensystems verweist auf eine wechselseitige Verdichtung ökonomischer, psychologischer und medialer Phänomene. Besonders über den weiblichen Körper und seine Deutungen wurde versucht, die Unbestimmtheit einer weitgehend immateriellen Ökonomie als Wahnsystem an der Börse zu fassen. Ebenso wie die Kurse schwankten die Bedeutungspotenziale der Figur des Spekulanten: Er wurde ebenso als genauer Analyst von Kapitalströmen wie als Künstler mit Hang zu Verführung und Exzess beschrieben. Dass die gegenläufigen Bewegungen von wissenschaftlicher Prophetie und irrationaler Leidenschaft in einem Moment zusammenfallen, wurde in den Debatten um die Spekulation immer wieder zum Anlass genommen, das eine vom anderen abzuspalten.

Spekulation – Kalkül und Rausch Im Bemühen, die „wahre“ von der „falschen“ Spekulation zu separieren, charakterisierten im von Ökonomen, Historikern, Juristen, Politikern, Journalisten und Medizinern geführten Spekulationsdiskurs Begriffe wie Beobachtung, Daten, Gefühlsmanagement versus turbulente Oberfläche des Börsenparketts, Spiel, Exzess, Sucht, Emotionen, Schwindel oder Mangel an Analyse ein terminologisches Oszillieren zwischen ökonomischen Fachdiskursen und politischen Kampfbegriffen.72 Scharfe Kritiker standen engagierten Verteidigern der Risikobereitschaft des Spekulanten gegenüber.73 So erfolgte die Formierung des Spekulantenwahns im Kontext veränderter Parameter der wirtschaftlichen Theoriebildung. Infrage gestellt wurden traditionelle Formen der Produktivität und der Ethos körperlicher Arbeit. Nun profilierten neue subjektive Werttheorien das Kontraktuelle und Temporäre von Werten, die von substanziellen Werten wie Arbeit und Materialität abgelöst wurden. Dabei konkurrierte die Grenznutzenschule mit der marxistischen Arbeitswertlehre und stellte den Wert einer Sache als etwas fundamental Subjektives dar, das vom Preis bestimmt wird.74 In diesem Wissenskorpus konstituierten sich Preise durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Doch mit der Subjektivierung des Werts öffnete sich auch ein neuer Pfad zur Pathologisierung des Spekulanten. Das Phantasma treffsicherer Prognosen und richtiger Entscheidungen machte den Spekulanten zu einem Akteur, der jenseits affektiver Ausbrü72 Lautmann 1969, 608. 73 Vgl. die „Financial Instability Hypothesis“ des amerikanischen Ökonomen Hyman P. Minsky, der davon ausging, dass Konjunkturzyklen in Aufschwungsphasen dank hoher Liquidität und stabilem Vertrauen in die Persistenz des Booms notwendig spekulative Phänomene produzieren und damit Instabilität. Minsky 2011. Zur Börse als Ort von Ressourcenkonflikten im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Bankhistorisches Archiv 1/2013. 74 Gossen 1854.

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che auf dem unkontrollierbaren Organismus des Marktgeschehens zu handeln weiß. In wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen, kulturhistorischen Studien, Spekulationsratgebern und Börsenhandbüchern wurde vor allem der an Charles MacKay (1814–1889)75 angelehnte Irrationalitätsdiskurs fortgeschrieben, gekennzeichnet durch Wahn, Unmoral und unkontrollierte Gier. Wunschziel war es, eine scharfe Trennlinie zwischen produktiver professioneller Spekulation und ungebändigter inkompetenter schädlicher Spielerei zu ziehen, was jedoch von den Terminbörsen des Finanzkapitalismus immer wieder konterkariert wurde. Die Schwierigkeit, echte von spekulativer Investition zu scheiden, lag zunächst in der Immaterialität der Spekulation selbst begründet. Es waren vor allem die Terminbörsen, die im Unterschied zum Rohstoffhandel der Warenbörsen die klassischen Referenzen des Ökonomischen außer Kraft setzten und eine Ökonomie zweiter Ordnung hervorbrachten. „Financial markets belong to a second-order economy were the ‚goods‘ are contracts (equities, bonds, currencies, derivatives) that circulate rather than being channeled to end consumers.“76 Als sich die Ökonomie von einer Subdisziplin der Staatswissenschaften zu einer eigenständigen akademischen Disziplin entwickelte, führte sie ihre wissenschaftliche Legitimation gerade darauf zurück, dass sie von kulturellen und sozialen Faktoren und historischen Kontexten unabhängig sei. In formalistischen Modellen wurde der homo oeconomicus als ein von rationalem Handeln bestimmter ökonomischer Akteur neu gefasst. Sein Expertentum verband ökonomische und wissenschaftliche mit prophetischen Qualitäten, die es ihm ermöglichten, seine finanziellen Ziele als universell und rational zu legitimieren.77 Der Phantomhandel78 und die Verwerfung von Spekulation und Spiel brachten objektivierbare, auf rationalen Fakten basierende, naturwissenschaftlich generierte Erklärungsansätze hervor. Die determinierende Kraft des Unwägbaren bei den Verkündungen künftiger Kurse ließ bei Verfehlungen einzelne Individuen zu Psychopathen der Börse werden: Die Zerstreuungs- und Vergnügungssucht des Spekulanten würde zu starker Nervenüberreizung führen, sodass die Nervosität als Berufskrankheit des Börsianers ausgewiesen werden könne.79 Verführungen und hypnotische Wirkungen auf ein Massenpublikum galten als Gefahren, die nur durch Gesetze zu kontrollieren und zu steuern seien. Börsenmetaphern wie „Gambler, Bull, Bear, Monkey, Pigeon, Projector, Sharper, Lame Duck“80 prägen bis heute das Finanzvokabular, und als Ursachen von Finanzkrisen wird von „spekulativen Orgien“ und „wiederkehren75 76 77 78 79 80

MacKay/Joseph de la Vega 2010. Knorr Cetina/Preda 2005, 4. Preda 2005, 141 f. Vgl. auch Preda 2002. Carret 1998, 101 f. Vgl. Bernard 1905, 57. Preda 2005, 151.

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den Epochen des Wahnsinns“ gesprochen.81 Moralische Pamphlete – die gängigen Repräsentationsmedien von Börsentransaktionen – wurden in der Nationalökonomie seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch naturwissenschaftliche Begriffe und formalisierte Modelle mit Objektivitätsanspruch ersetzt. Mit Kurvendiagrammen und Statistiken wurden Analogien von Wirtschafts- und Naturphänomenen hergestellt und damit vermittelt, dass Finanzmärkte eben nicht von Stimmungen und Gefühlen, sondern durch objektive Gesetze regiert würden. Diese Form der Theoriebildung, wie sie in Frankreich Jules Regnault (1834–1894) entwickelte, mit der Preise durch Wahrscheinlichkeitstheorie berechnet werden,82 fand in anderen Ländern zunächst kaum Zuspruch. Die sich in der Folge entwickelnde Wissenschaft der Finanzmärkte zielte jedoch ebenfalls – mit anderen Instrumenten – auf Beobachtung und Analyse. Der Spekulant sollte die verborgenen Gesetze des Finanzmarktes entdecken; er war damit zu einem wissenschaftlich agierenden, leidenschaftslosen Akteur geworden. Auch die grundsätzlichen Verteidiger der Börse wollten das Spielerische der Spekulation als verführerische Größe ausmerzen. So beschrieb etwa Max Weber (1864–1920) die Börse als eine notwendige Institution moderner Ökonomie, die schnelle Preisbildungen ermögliche, die jedoch durch falsch agierende Spekulanten, die die Börse parasitär missbrauchen würden, bedroht sei: Der kleine Spekulant, welcher in kleinen Preisdifferenzen zu verdienen sucht und die Börse zu einem Ort macht, auf welchem er ein Vermögen, welches er nicht besitzt, erst erjagen möchte, erfüllt gar keinen volkswirtschaftlichen Zwecke; das was für ihn als Verdienst abfällt, zahlt die Volkswirtschaft ganz unnötigerweise an einen überflüssigen Schmarotzer.83

Indem Weber die unprofessionelle Spekulation ablehnte, entwarf er die Börse ausschließlich als Raum für „berufene“ finanzstarke Investoren. In ähnlicher Weise unterschied der deutsche Nationalökonom und Professor für Wirtschaftslehre an der Technischen Hochschule und Universität Berlin Wilhelm Prion (1879–1939) in seinem noch immer aktuellen Buch über die Preisbildung an der Wertpapierbörse insbesondere auf dem Industrieaktienmarkte der Berliner Börse drei Gruppen von Faktoren, die professionelles Handeln an der Börse ermöglichen: 1. persönliche Faktoren, insbesondere die Motive der Beteiligten, also der Banken (der Kapitalisten), der Spekulanten und der langfristigen Anleger, 2. börsentechnische Faktoren, 81 Otte 2005, 19. 82 Regnault 1863, 143 f. Das Buch Calcul des chances et philosophie de la Bourse ist die erste Publikation moderner Finanztheorie, die wichtig wurde für mathematische Finanzmodelle. Die hier erstmalig formulierte „Random Walk Hypothese“ ging auch in John Maynard Keynes Doktorarbeit A Treatise on Probability (1921) ein. Vgl. Jovanovic/Le Gall 2002. 83 Weber (1894) 1999, 171.

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das heißt Positions- und Engagementverhältnisse im Kassen-, Termin- und Prämiengeschäft, und 3. wirtschaftliche Faktoren, nämlich der „innere Wert“ der Aktien, die Verhältnisse auf den Geld- und Kapitalmärkten sowie die Konjunktur. Damit stellte Prion eine wissenschaftliche Methode vor, die psychische, börsentechnische und wirtschaftliche Faktoren getrennt analysiert, um in alle „Winkel des Preisbildungsgetriebes an der Börse hineinzuleuchten“.84 Durch die Verabschiedung der älteren Preislehre, wonach Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen und „nicht mehr müßiges Zahlenspiel“, verwies Prion auf die kompliziertesten gesellschaftlichen Verhältnisse und psychischen Zusammenhänge als „Letztentscheidendes bei der Preisbildung“.85 Da er sich nicht auf das Börsenspiel einließ und nur die berufsmäßige Spekulation im Auge hatte, sind auch seine Ausführungen mit zahlreichen graphischen Darstellungen und Tabellen versehen, die vor allem den Anstieg der Berufsspekulation nach der Hyperinflation zu normalisieren versuchen.86 Obwohl Prion das Psychische aufwertete, wurden dem Spekulanten in dieser Form ökonomischer Rationalität jegliche Lust am Spiel und an der Kontingenz und damit das ludische Potenzial abgesprochen.87 Die Bedeutung der Psychologie für das Wirtschaftsleben wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus verschiedenen disziplinären Perspektiven thematisiert, weil damit die Möglichkeit gegeben war, das störende kontingente Moment der Spekulation aufzugreifen oder produktiv zu wenden. Das Kalkül, die nervöse Empfindsamkeit, ja sogar der Schwindel wurden nun als Nervenstärke wahrgenommen: Der Urgrund des Börsenbedarfs ist nicht nur wirtschaftlicher, sondern vor allem psychologischer Art. Die Börse ist ein Markt für Illusionen, die Geld bringen sollen. Doch schon aus der Tatsache, daß auch die meisten von denen, die an der Börse Geld verlieren, immer wieder zu ihr zurückkehren, muß man schließen, daß die Illusion das Wichtigste ist.88

Eine genealogische Betrachtung ökonomischer Subjektivierungsweisen führt erneut nach Frankreich zu den Schriften des französische Juristen und Soziologen Gabriel Tarde (1843– 1904), der bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine „Psychologie économique“ (1902) entwarf, in der er eine durch Störung motivierte Aktionskraft zum zentralen Motor der Ökonomie und des Sozialen entwickelte. Damit war er einer der ersten Wissenschaftler, die sich für eine ökonomische Psychologie interessierten, und bestand darauf, dass man die Kursschwankun84 Prion 1910, 1 und Prion 1929. 85 Prion 1929, VIII. 86 Horwitz 1929. Prion übernahm zur Kennzeichnung der Konjunkturverläufe zahlreiche graphische Darstellungen aus diesem Buch. Prion 1929, 233 f. 87 Vgl. Prion 1939. 88 Lewinsohn/Pick 1933, 14.

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gen und Preisbildungen der Börse nur verstehen könne, wenn man ihre psychologischen Ursachen und „l’imagination économique“ untersuchen würde, namentlich „Hoffnungen und Enttäuschungen des Publikums, Ausbreitung von guten oder schlechten Nachrichten“.89 Tarde versuchte, mit seiner Affekt-Soziologie eine Massentheorie mit den „Gesetzen der Nachahmung“ (1890) zu begründen. Für ihn waren Begehren und Überzeugen (désir et croyance) produktive Kräfte, die den Nachahmungsprozess vorantreiben und sich gegenseitig in einer Logik der Ansteckung verstärken. Dies könne zu „Epidemien des Luxus, des Spiels, der Lotterie, der Börsenspekulation, der gigantischen Eisenbahnarbeiten usw. und ebenso Epidemien des Hegelianismus, des Darwinismus usw. führen“.90 Massen bilden in seinem Entwurf eine irrationale Gefahr für moderne Gesellschaften und zugleich deren Integrationsprinzip. Und diese tumultuöse Welt der ökonomischen Aktivität, das heißt diese herzzerreißende und tiefe, leidende und müheselige Welt, sollte von einer geometrischen Deduktion kalter Theoreme à la Ricardo regiert werden, anwendbar auf ich weiß nicht welche groben – schematischen oder mechanischen – Menschen! Der ökonomischen Psychologie kommt es zu, die ganze sogenannte gefühlsmäßige Seite der Produktion, der Verteilung, der Konsumtion der Reichtümer wieder an ihren wahren Platz, den ersten, zu setzten; sie sind im Leben der Körperschaften zu studieren, wo sie sich mit so viel pittoresker Originalität manifestiert, und im Leben der neuen, wo sie noch kraftvoller sich entlädt.91

Tardes ökonomische Psychologie verortete das ökonomische Selbst in einer interaktiven Ordnung, in der der Wert eine von Überzeugungen und Begehren abhängige Dimension besitzt. Die Nachahmungssuggestion ist damit für den Spekulanten – das ökonomische Subjekt par exellence – ebenso wichtig wie die Abgrenzung von der Gewalt und Intensität der Masse, um nicht dem Börsenfieber und dem kollektiven Wahn zu verfallen.92 Zugleich werden Konversation und Gerüchte93 aufgewertet, steigern sie doch die Effizienz ökonomischen Handelns: „Die Konversation ist ein Thema, das den Ökonomen ganz besonders interessiert. Es gibt keine ökonomische Beziehung zwischen Menschen, die nicht zunächst begleitet wäre von Worten, gesprochenen Worten oder geschriebenen, gedruckten, telegrafierten, telefonierten.“94 In dieser nicht-statistischen Betrachtung von Märkten sind leidenschaftliche Interessen, Gefühle

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Tarde 1902, 230. Tarde 2003, 169. Vgl. Borch/Stäheli 2009. Tarde 1902, 117. Vgl. Latour/Lépinay 2010, Menschel 2002. Senf 2004. Vgl. Rose 1951, 461–486. Tarde in Latour/Lépinay 2010, 70.

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und Stimmungen95 zentral für die Kursentwicklung. Weder Gesellschaft noch Ökonomie werden dabei als quasi natürliche Bereiche vorausgesetzt. In Deutschland gingen Anregungen der ökonomischen Psychologie in Ansätze der angewandten Experimentalpsychologie ein. Mit diesem Ansatz trugen Hugo Münsterberg (1863–1916)96 und Fritz Giese (1890–1935)97 zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu bei, eine neue Wissenskultur zu entwickeln, die sich vor allem in Diskursen zur Psychologie und zur Ethik der Berufe und Stände niederschlug.98 Aber auch Utopien einer „glücklichen Arbeit“, wie sie der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930) in die Diskussion einbrachte, trugen zur wissenschaftlichen Aufwertung affektiver Dimensionen des Börsengeschehens bei.99 Einige Jahre nach Tardes gelungenem Versuch, Ökonomie und Psychologie in einen produktiven Dialog zu bringen, erschien in deutscher Übersetzung eine ökonomische und rechtspsychologische Untersuchung von Aktienwesen und Spekulation, die als radikale Ausformulierung ökonomischer Rationalität bezeichnet werden kann.100 Der Petersburger Jurist Leon von Petražycki (1867–1931) entfaltete darin eine ungewöhnliche psychologische Prämisse der wirtschaftlichen Rechtspolitik, wenn er schrieb: „Das Recht ist eine psychologische Erscheinung.“101 Zugleich kritisierte er traditionelle Muster der Spekulationskritik, die in der spekulativen Tätigkeit „Ausschreitungen“ oder „Spekulationsfieber“ sah.102 In Petražyckis Spekulationspsychologie ist der Wunsch nach leichter Befriedigung bei minimalster Gegenleistung ein „allgemeines privatkapitalistisches Prinzip“. Der Wunsch, mit geringem Aufwand größtmöglichen Profit zu erzeugen, gehöre zu den anthropologischen Konstanten: Die gewöhnliche Lehre von den Ursachen der Spekulation wird schon dadurch verdächtig, daß sie sich zur Erklärung einer bestimmten Kategorie sozialer Krankheiten einer These und eines Prinzips bedient, die der sozialen Gesundheit unentbehrlich sind, und zur Verdeckung 95 Vgl. Hartenberg 1904, Hassoun 2005. 96 Münsterberg lehrte seit 1897 an der Harvard University und kam 1910 nach Berlin. Er hat damals das erste Kolleg über Psychologie und Wirtschaftsleben gehalten. Die Psychotechnik verhieß vor allem experimentell zu gewinnende Lösungen für die politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen des Krieges, nachdem Männer mit verstümmelten Körpern und zerrütteten Psychen wieder im zivilen Alltag und als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Münsterberg 1912, 1914, Weber 1927. 97 Giese 1928, 1927 und 1925. Vgl. Baxmann 2009, de Mazza 2011. 98 Vgl. Altmann 1914, 196–200, Lewin 1928. 99 Bücher 1899. 100 Stäheli 2007, 132. 101 Petražycki 1906, 1. 102 Ebenda, 58.

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des Widerspruchs und des logischen Sprungs Wendungen gebraucht, die diesem Prinzip eine unsympathische Färbung geben und ihm einen leichten Makel anhängen.103

Die Unterscheidung eines verhältnismäßigen kleinen Kreises echter Börsenspezialisten und einer großen Menge von Nicht-Spezialisten führte dazu, dass der Spekulationsspezialist mit ökonomischer Rationalität ausgestattet wurde. Nicht die aufwendige kalkulierende Abschätzung von Kurssteigerungen und Preisbildung, sondern die mit geringstem Aufwand ausgewählte spontane Entscheidung für diese oder jene Aktie galt hier als zielführend und daher erwünscht. Petražycki zufolge ist diese ökonomische Logik nicht für die Entgleisung der Spekulation zum Wahn verantwortlich zu machen. Spekulative Abnormitäten erklärte er vielmehr mit der subjektiven Tendenz zur übertriebenen Bewertung von Gewinnchancen: „Dieses Theorem geht deduktiv aus dem allgemein verbreiteten psychologischen Zug des Menschen hervor, der in der Tendenz besteht, die günstigen und erwünschten Chancen bei Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu überschätzen und entsprechend einer derartigen unverhältnismäßigen Bewertung zu handeln.“104 Dass das Publikum generell Gewinnchancen zu hoch bewerte, basiere auf einer Massenpsychologie der Ansteckung. Zu den persönlichen Erwägungen und Neigungen des Spekulanten würden zudem unbewusste Stimmungen der Massen hinzutreten, und es sei daher ganz naturgemäß, und der psychologischen ‚Ordnung der Dinge‘ entsprechend, wenn in solchen Zeiten der Erhöhung der Aktiennachfrage und der Aktienkurse, die Ausdehnung der aktienmäßigen Produktion und überhaupt die steigende Entwicklung der aktienmäßigen Unternehmerschaft und Spekulation die den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechenden, vernünftigen Grenzen überschreiten.105

Es ist diese psychologische Tendenz der optimistischen Überbewertung erworbener Chancen, die zur Tollkühnheit des Aktienpublikums und menschlicher Handlungen führt, die den Aktionen Irrsinniger ähneln (im Sinne von Aktien-Manie und Spekulationsfieber). Sein aus psychologischen Theorien abgeleitetes Gesetz der allgemeinen und normalen Überschätzung stützte der Autor durch Beispiele und Statistiken, die er aus umfangreichen Materialien von Finanzkrisen einbrachte. Diese Psychologie der Spekulation ist so interessant wegen ihrer Nähe zum Spiel: Im Grunde können Spiel und Spekulation nicht mehr unterschieden werden, weil das „Element, welches das Aktienwesen mit der Lotterie, dem Totalisator usw. ge103 Ebenda. 104 Ebenda, 47. 105 Ebenda, 63.

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mein hat […] dieselbe eigenartige psychische und wirtschaftliche Erscheinung hervorbringt, die auf dem Gebiete des Spiels zum Vorschein kommt“.106 Diese radikale Verteidigung der Spekulation entzieht sich jeglicher moralischen Kritik und steht allen theoretischen Versuchen gegenüber, die Spekulation vom Spiel abzugrenzen. Besonders wirksam wurde diese Vorstellung später bei Werner Sombart (1863–1941), der sich in seiner Typologie des kapitalistischen Unternehmertums ebenfalls auf die besonderen spielerischen Fähigkeiten des Spekulanten bezog. Er beschrieb sie als eigentliches Movens des Marktes: Keine Spekulationsunternehmung größeren Stils ohne Börsenspiel. Das Spiel ist die Seele, ist die Flamme, die das ganze Wirken durchglüht. […] Und die Arbeit des Spekulanten ist vollbracht, seinen Zweck hat er erreicht, wenn weite Kreise in einen Zustand des Rausches geraten, in dem sie alle Mittel zu bewilligen bereit sind, die er zur Durchführung seines Unternehmens braucht.107

Spekulation und Psychopathologie Die positive Integration des Spiels als Bestandteil ökonomischer Rationalität bleibt in den zeitgenössischen Debatten eher die Ausnahme. Diskursbestimmend ist die Abgrenzung vom Spiel,108 wodurch die Zukunft zu einer kalkulierbaren Instanz und der Zufall zur Anomalie109 erklärt werden kann. Fehlgeschlagene Spekulation wird auf diesem Weg zu einem medizinischen Problem, mit dem die klassischen pathologischen Muster des Glücksspiels aufgerufen werden.110 So verdeutlicht die Aussage eines amerikanischen Marktpsychiaters, wie medizinisches und ökonomisches Wissen verknüpft wird, um das Marktgeschehen zu erklären. „The market has a manic-depressive character by nature. From the clinical perspective, manic depression is the reason for bewildering price signals. However, this disease shouldn’t be cured. It should be fostered.“111 Wird hier auch der Markt zum Patienten gemacht, so wurden in der psychiatrischen Literatur eher bestimmte Berufsgruppen wie Spekulanten oder Bankangestellte mit einer besonderen Störauffälligkeit in Verbindung gebracht.112 106 107 108 109 110 111

Ebenda, 75. Sombart 1920, 122 f. Bernstein 1996, Brenner/Brenner 1990. Bunia 2013, 199. Hand/Henning 2004. Interview mit dem Psychiater Robert Shuman im Dokumentarfilm Fictions and Futures #1 – Happiness in the Abstract von Arne Hector und Minze Tummescheit, Deutschland/Norwegen 2013. 112 Bernhard 1905, Sammet 2003.

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Von psychopathologischem Interesse waren Fragen von Aktienwesen und Größenwahn. Dies geht zum Beispiel aus dem Krankenbericht des Tübinger Psychiaters Eduard Reiss (1878–1957) über Ludwig Christian Haeusser (1881–1927) hervor, einen „Inflationsheiligen“113 der 1920er-Jahre aus dem Umfeld des Berliner Dada,114 der unter die psychopatischen Typen eingereiht wird: „Er ist ein echtes hypomanisches Temperament. Vielleicht könnte man ihn sogar als leichte chronische Manie bezeichnen.“115 Auch in Abhandlungen zur Neurasthenie finden sich zahlreiche Beispiele von Börsenjobbern oder Bankangestellten.116 In einer medizinisch-wirtschaftlichen Abhandlung zum „Spekulationswahnsinn“ von 1908 wurde Spekulation als illusionsbasierte triebhafte Krankheit des Seelenlebens beschrieben.117 Der anonym bleibende Verfasser untersuchte auf der Grundlage völker- und massenpsychologischer Schriften die psychologische Kraft der Suggestibilität, mit der Menschen eine Fähigkeit zur psychischen Vaccination entwickeln würden. Als eine gefährliche Eigenschaft der Seele sei dieses Vermögen vergleichbar mit den sexuellen Perversionen, die ebenfalls auf psychischer Ansteckung beruhten. Der Autor zitierte aus einem Bericht über den Kurssturz an der New Yorker Börse: „A Wave of Hysteria has passed over the street.“118 Um Ansteckung und Verführung zu veranschaulichen, bezog er sich auch auf alltagspraktische Phänomene: Börsenplätze versenden Millionen von Prospekten an ahnungslose Bürger, die Überredungskunst von Boten und die Kursberichte der Zeitungen wirken auf ein ahnungsloses Publikum. Aber auch die Neurasthenie wurde als besondere Gefahr angeführt.119 Die Pathologisierung der spekulativ Tätigen ist als ein Versuch zu betrachten, für den phantasmatischen Bereich des prognostischen Expertenwissens, das nicht selten zum Crash und zu hohen Verlusten für viele Anleger führt, Schuldige ausfindig zu machen und diese als Psychopathen der Börse zu demaskieren. Auch in zahlreichen Selbstmordlehren findet sich der mit der Figur des Spekulanten einhergehende Gefahrendiskurs: Sie gehen von einer Analogie der Selbstmörder- und der Spekulantenpsyche aus. In seiner Studie Der Selbstmord als Spekulation des modernen Verbrechertums erklärte Franz Chyle die unmoralische moderne Erziehung und die zum moralischen Ruin

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Vgl. Linse 1983. Reiss 1921, 192. Ebenda, 77. Cramer 1906, 155 f. Befunde für die Anfälligkeit bestimmter Tätigkeitsgruppen (Bank- und Börsenangestellte) und Rauschzustände, wie Kokainsucht und Morphinismus finden sich auch in den Krankenakten des Historischen Psychiatriearchivs der Charité. HPAC, 1923/123-M, 1923/130-M, 1924/101-M, 1924/142-M, 1924/319-M, 1924/342-M, 1924/383-M, 1924/508-M, 1924/612-M, 1924/668-M, 1924/780M, 1924/817-M, 1924/823-M, 1924/840-M. 117 Anonym 1908, 9 f. 118 Ebenda, 12. 119 Ebenda, 39.

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führenden Einrichtungen der modernen Gesellschaft zur Hauptursache des Selbstmordübels. Der Selbstmord wurde hier in der Störfigur des Spekulanten zu einer Kritikfigur urbaner Großstadtphänomene. Der moderne Selbstmord erfolgt nach Chyle in den meisten Fällen in vollkommen zurechnungsfähigem Zustand, als eine der materialistischen Lebensanschauung entsprungene Spekulation, die sich um den Preis einer Kürzung des Lebens alle Genüsse verschaffen will. Chyle stützte sich auf einen bestimmten Typus des Selbstmörders, der als arbeitsunlustiger Lebemann auf Kosten der Mitmenschen ein auf den Selbstmord berechnetes Genussleben führen würde.120 Im Begriff des Spekulationsselbstmords schwingen all die Eigenschaften des Spekulanten als Spieler mit, die ihn vom seriösen, analysierenden Beobachter des Börsengeschehens unterscheiden. Als Ausweg aus der „Selbstmordmanie“ empfahl Chyle kulturkritisch eine grundlegende Reform von Familienerziehung und Rechtsprechung.121 Mit dem Spekulanten als Psychopathen und als Selbstmörder ist das „Verbarium der Börse“122 mit sozialen Großstadtphänomenen ausgestattet, die geeignet sind, die phantasmatische Gestalt des Spekulanten mit den dazugehörigen Phantomqualitäten vergessen zu lassen.

Ausblick Die Störfigur des Spekulanten ist als Manifestation heterogener Phänomene besonders in Krisenzeiten geeignet, kollektive Prozesse und psychische wie soziale Kompetenzen des Finanzmarktes in konvergierenden Ansätzen zu bündeln. Diese gehen aus der zunehmenden Beschleunigung und Virtualität des urbanen Raumes und der medialen Enträumlichung des Marktes hervor und wirken wiederum in soziale und medizinische Bereiche zurück. Somit ist der Spekulant eine Spiegelfigur, mit der grundlegende Veränderungen des homo oeconomicus bis in die Gegenwart hinein reflektiert werden. Der heutige Hochfrequenzhandel, auch algorithmic trading genannt, hat den virtuellen Schauplatzcharakter des Parketthandels an der Börse getilgt und die Anomalien der Finanzpraktiken in Maschinen verlagert. Damit geht auch die einst durch technische Medien bedingte Verräumlichung moderner Stadtwahrnehmung an der Börse verloren. Mit den elektronischen Börsen sind die Spielregeln der Spekulation komplexer und diffuser geworden. Jedoch gehört es inzwischen zu den Gemeinplätzen des ökonomischen Diskurses, dass das Spiel im Grunde aus nichts anderem als den Regeln besteht.123

120 Chyle 1908, 16. 121 Ebenda, 31. Zum Verhältnis von Börsenspiel und Selbsttötung siehe auch Osiander 1812, Hoffbauer 1862, Placzek 1915 und Föllmer 2009. 122 Stroczan 2002, 35 f. 123 Vgl. Sedláček/Graeber 2015, 50.

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Der historische Prozess der Entmaterialisierung des Geldes vom sakralen Opfer über die Münze zum Papiergeld bis hin zu den entreferenzialisierten Geldströmen hat die gespensterhafte Unsichtbarkeit wie Unbeständigkeit der Finanzmärkte mehrfach radikalisiert. Dieser Abstraktionsprozess ist begleitet von Rematerialisierungen und symbolischen Aufladungen in globalen medialen Netzwerken, die den Eindruck erwecken, als hätten die Maschinen – trading machines124 – die Macht übernommen, in denen „Geister-Algos“ regieren. Börsen errichten heute eigene Datenzentren gigantischen Ausmaßes, bei denen der Zeitfaktor – das heißt die Kabellängen (Nanosekunden) zur matching engine, dem Zentralserver der Börsen – über Gewinne und Verluste entscheidet. In diesen Szenarien wird von „Invasions-Algorithmen“ und „flash crash“ gesprochen, die in Sekundenschnelle Kurseinbrüche simulieren und Finanzkrisen auslösen können.125 Börsenpsychologien sind vor mehr als einhundert Jahren als innovative Strategien entstanden, um die irrationalen Überschüsse und Affekte in flexible Ordnungsvorstellungen zu überführen. Heute ist die Börsenpsychologie ein etabliertes Genre im Dienste der Gewinnmaximierung, das angehende Spekulanten auf erfolgreiches Handeln an der Börse vorbereitet und das mit der Monetarisierung der Gefühle durch die moderne Psychologie einhergeht.126 Noch immer oder schon wieder ist das Börsenspiel mit seinem Expertentum aus wissenschaftlichen, ökonomischen und prophetischen Kräften in psychiatrisch zu behandelnde Spielsucht127 und wissenschaftlich informierte Spekulation aufgespalten. Wenn Ökonomen heute von „Börsenfieber und kollektivem Wahn“ sprechen, wird von einem Realitätsverlust ausgegangen, von gemeinsamen Mustern des individuellen Wahnsinns der Psychiatrie wie auch des kollektiven Wahns.128 Die Börse bindet ein breites Spektrum von Störungen und stellt historisch kontingente Kompromissbildungen zwischen nicht vergleichbaren Werten und damit für das Denken gleichzeitig notwendiger Rationalisierungen und spekulativer Phantasie bereit. In seiner gleichermaßen Wissen stabilisierenden und destabilisierenden Funktion ist es dem Spekulanten als Störfigur möglich, polare Setzungen – etwa die Gegenüberstellung von ökonomisch monetärer Rationalität und Selbstverausgabungsexzess – zu unterlaufen. Gleichzeitig verdeutlicht diese Figur, wie sich Wissen immer wieder neu verkörpert und verräumlicht. Mit einem historisch-rekonstruierenden Blick auf die Börse als urbaner Resonanzraum werden somit bis heute wirksame divergierende Kraftzentren der Finanzökonomie sichtbar. Die Börse mit ih-

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Schwesinger 2014, 271 f. Smith 2014. Illouz 2007. Vgl. Hand 1998. Senf 2004, 154 f.

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rem Geflecht aus Räumen, Beobachtungen und Regulierungen ist kulturelles Handlungsfeld und besonderes Medium, in dem Paradoxien und Gleichzeitigkeiten, irrationaler Überschuss und strenges Kalkül in ihren störenden Momenten zur Triebkraft eines insgesamt rationalen (Wahn-)Systems werden. Die Störfigur des Spekulanten zeigt auch, wie legitimierte Typen sozialer Akteure generiert und wieder verworfen werden. Positiv gewendet steht die ermöglichende Figur des Spekulanten für die Heterogenität ökonomischer Praktiken und Orte, deren determinierende Kraft des Unwägbaren für die Analyse wirtschaftlicher Prozesse unumgänglich ist. Ob nun in Börsenpsychologien, die in Gesetzen und Gleichungen profitables Handeln generieren und disziplinieren, oder in Preisbildungstheorien, die den Börsengewinn durch überlegenes Faktenwissen oder Handeln zu maximieren versuchen – der psychologische Risikofaktor und die Medialität der Börse lassen die Unterscheidung von Spiel und Spekulation immer wieder zusammenbrechen.129 Mit den Grenzgängen zwischen Psychologie, Wirtschaft und Psychiatrie werden die wahnhaften Überschüsse der spekulativen Tätigkeit erneut rationalisiert und normalisiert, aber letztlich bleiben die performativen Dimensionen ökonomischen Wissens130 in den jeweiligen Erklärungsansätzen stets wirksam. Mit der Austauschbewegung interdiskursiv produzierter Argumente und Metaphern wird das Störende der Spekulation einerseits für die Aufrechterhaltung ökonomischer Gleichgewichts- und Ordnungsphantasmen funktionalisiert und entfaltet andererseits gleichzeitig in produktiver Hinsicht ein Überschreitungspotenzial (von Fachdiskursen) und dient somit neuer Wissensgenerierung131 zur Analyse des selbstreferenziellen eigendynamischen Beziehungswahns des Finanzmarktes.

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Beate Binder

Moralische Landschaften. Die Figur der Prostituierten und die Konstitution von Stadt um 1900

Nicht der Handel allein lockt den Menschen in die Großstadt oder gar die vielerlei Vergnügungen, aber der mächtige Atemschlag, die gewaltige Bewegungsmöglichkeit, der Austausch des spannenden Gauklerspiels seiner pulsierenden Gedanken und Gefühle. Wie jede Stadt einem Gulliver ein Riesenspielzimmer bedeutet, enthält selbst das wissenschaftlichste Buch seines Autors Spielsachen. Else Lasker-Schüler: Stadt, Buch und Läden

Stadt, Sexualität, Wahnsinn: Zur Figurierung von Stadt und Urbanität In der Einleitung zu ihrem Buch Die psychopathischen Konstitutionen und ihre sociologische Bedeutung beklagte sich Helenefriederike Stelzner (1861–1937), eine der ersten weiblichen Psychiaterinnen in Deutschland, über das Verschwimmen der Grenze zwischen der imaginären Welt der Literatur, medizinischem Wissen und alltäglichen Praktiken. In einer deutlich abwertenden Sprache beschwerte sie sich über die „gänzlich unerwünschte Popularität der Psychiatrie“ und erläuterte: Leider ist das psychisch Abnorme auch in der Dichtkunst und Unterhaltungslektüre stark in Aufnahme gekommen. Was Ibsen in seinen Dramen nicht entbehren zu können glaubte, was d’Annunzio, Wilde, Maeterlinck, Verlaine und eine Reihe deutscher Nachempfindler einzig als würdiges Objekt der Poesie ansahen, das wird heute schon in jedem Hintertreppenroman breitgetreten, und hysterische und neurasthenische Absurditäten, besonders aber in Form sexueller Perversitäten, werden wahllos in die Hausmannskost der Familienlektüre verbacken, so daß jedes Kind sich berechtigt glaubt, seine Fehler hinter erblicher Belastung oder nervöser Veranlagung zu verschanzen (…).1

1

Stelzner 1911, 2 f.

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Der Wahnsinn, so könnte gefolgert werden, stört, weil er zu Ausflüchten aus Verantwortung einlädt und die Phantasie in unerwünschter Weise beflügelt, sie den realen Verhältnissen enthebt. Ich möchte Helenefriederike Stelzners Beobachtung als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zur Konstitution von Stadt um 1900 nehmen, weil mich das darin anklingende Zusammenspiel von Imagination, Wahrnehmung und alltäglichen Praktiken interessiert. Doch im Gegensatz zu Stelzner verstehe ich Imaginationen nicht als Gegenspieler, sondern als Sediment des „Realen“. Ich beziehe mich dabei auf Überlegungen von Rolf Lindner, der mit Blick auf Stadt schreibt: „The imaginary of the city, in Pierre Sansot’s poetic formulation, is ‚la reverie du réel‘, the fantasy of the real.“2 Rolf Lindner sieht die symbolisch durchdrungenen und historisch gesättigten Räume der Repräsentation, also das Imaginäre, als Drehund Angelpunkt für die Trias von gelebtem, wahrgenommenem und vorgestelltem Raum: „As a culturally coded space the city constitutes a space of mental images, superimposed on physical space, insofar as the space is lived and experienced by way of the accompanying pictures and symbols.“3 Wieder unter Bezugnahme auf Pierre Sansot stellt Lindner fest: „The lived nourishes, authentifies certain mythologies and these in return, give consistence to the lived.“4 Von diesen Überlegungen ausgehend und mit Fokus auf die Stadt Berlin werde ich im Folgenden der wechselseitigen Durchdringung von sozialen und imaginären Räumen dort folgen, wo Sexualität im Zusammenhang mit Stadt und Urbanität verhandelt wurde. Denn auch Stelzners Betonung der „sexuellen Perversitäten“ scheint mir symptomatisch: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich mit der Sexualwissenschaft ein Wissensfeld, das sich mit besonderem Interesse unterschiedlichen Erscheinungsformen und Erlebensweisen des Sexuellen widmete und dabei maßgeblich zur Konstitution und Ausformung des Konzepts Sexualität beitrug. In dichter Verbindung zu Psychiatrie und Psychoanalyse wurde dabei unter dem Stichwort der Sexualpathologie auch die Grenze zwischen ‚normalen‘ und ‚perversen‘, legitimen und illegitimen Formen des Sexuellen gezogen und verhandelt.5 Städte galten dabei – und dies prägt bis heute unsere Vorstellung von Urbanität – als Produktionsstätten und Bühnen unterschiedlicher sexueller Praktiken; und sie wurden schließlich auch „Sammelpunkte und Archive für Ressourcen, die das Studieren, Klassifizieren, Kommodifizieren, den Vertrieb und das Teilen verschiedenster Kategorien perverser Erotik möglich machten“.6 Die „Erfindung der Sexualität“7, so Gabriele Dietze und Dorothea Dornhof in der Ein2 3 4 5 6 7

Lindner 1999, 289. Lindner 2006, 210. Ebenda, 211. Foucault 1989, Rubin 2003, Herzog 2011. Toepfer 2014, 320. Vgl. Eder 2009².

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leitung des Bands Metropolenzauber,8 war um 1900 vor allem im Urbanen lokalisiert; das „Mehr“ metropolitaner Kultur speiste sich zu einem Gutteil aus der dichten Verknüpfung von Sexualität und Stadt.9 Die Stadt war dabei beides: sozialer Raum, in dem sexuelle Praktiken gelebt werden konnten, und Vorstellungsraum, in dem die sexuelle Moderne ihre Form erhielt.10 Der im Verlauf der Urbanisierung prominent gestellte Zusammenhang zwischen Stadt und Sexualität bildete selbst einen Raum, in dem sich Wissensproduktionen, Imaginationen und Praktiken gegenseitig durchdrangen. „From the correlation between urbanization and the ,making of the modern homosexual‘, to narratives of sexual possibility and peril – ,cities of dreadful delight‘ – the city and the sexual appear culturally and conceptually inseparable“,11 fasst Matt Houlbrook die Effekte dieser Liaison zusammen. Ich schließe an diesen Forschungsstrang an, wenn ich mich im Folgenden an die Fersen einer ‚Figur‘ hefte, die den skizzierten Zusammenhang von Stadt und Sexualität in spezifischer Weise verkörpert: Im Zentrum wird die Figur der Prostituierten stehen, die um 1900 in den Auseinandersetzungen um Stadt auffällig präsent war. In ihr bündelte sich Einiges des Konflikthaften, Widersprüchlichen und Ambivalenten, das die Beobachtung und das Erleben moderner Städte durchdrang. Die Figur der Prostituierten gehört, hier folge ich Donna Haraway, zweifelsfrei zum „Inventar“ der sozialen (urbanen) Welt. Wie Haraway betont, „we inhabit and are inhabited by such figures that map universes of knowledge, practice and power“.12 Damit legt Haraway eine doppelte Perspektive auf Figuren nahe, die mit den kulturanthropologischen Überlegungen zur Figurierung als sozialer Praxis korrespondieren: Figuren sind zunächst komplexitätsreduzierende Typisierungen, die das Navigieren durch die vielfältigen und widersprüchlichen Erfahrungen der sozialen Welt erleichtern; zugleich wirken sie formierend und strukturierend auf die Wahrnehmung dieser sozialen Welt zurück. Dies fortführend, schreibt der US-amerikanische Kulturanthropologe John Hartigan: „Figures call attention to the way people come to consider their identities in relation to potent images that circulate within a culture.“13 Aus einer solchen Perspektive interessiert nicht der 8 9 10 11

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Dietze/Dornhof 2014, 12 f. Zum „Mehr“ der Metropole vgl. Becker/Niedbalski 2011, Brantz/Disko/Wagner-Kyora 2012, Dietze/ Dornhof 2014. Vgl. Weigel 1995, Frank 2003. Houlbrook 2006, 133. Meist unter Bezugnahme auf Foucault (1997) wurde dies in einer Vielzahl von Studien weiter verfolgt, mit Blick auf die Herausbildung und Etablierung homosexueller beziehungsweise queerer (Sub-)Kulturen sowie die Entstehung der Sexualwissenschaften – zum Beispiel Chauncey 1994, Houlbrook 2005, Beachy 2014, Binder 2012b –, auf den Zusammenhang von Geschlecht und Stadt – zum Beispiel Frank 2003, Weigel 1995, Bergius 1986 – sowie nicht zuletzt mit Blick auf Sexarbeit beziehungsweise Prostitution – zum Beispiel Lücke 2008. Haraway 1997, 11. Hartigan 2005, 16 sowie Ege 2013, 26–74.

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Wahrheitsgehalt von Figuren, sondern deren Funktion, zwischen abstrakten Konzepten (von Stadt) und alltäglichen (urbanen) Erfahrungen zu vermitteln, dabei gesellschaftliche Differenzierungsprozesse anzuleiten und zu stabilisieren.14 Im Anschluss an diese Überlegungen begreife ich das Figurieren als soziale Praxis, durch die die Stadt organisiert und für – disziplinierende wie widerständige –Interventionen greifbar gemacht werden kann.15 Die Figur der Prostituierten wird mich im Folgenden zu einigen der Stellen führen, an denen die Grenze zwischen anerkannten und nicht anerkannten Sexualitäten verhandelt und zugleich die Stadt – hier Berlin als paradigmatische Metropole des deutschen Kaiserreichs – (ein)geordnet, bewertet und gewusst wurde. Die Prostituierte war eine schillernde Figur: Sie stand sowohl für die Möglichkeitsräume und Verheißungen der Stadt, damit auch für eine von den rigiden Moralvorstellungen des späten Kaiserreichs befreite Sexualität, als auch für die Verführungskraft der Stadt und den möglichen Zerfall sozialer wie moralischer Ordnungen. In diesem Sinn wurden mithilfe der Figur der Prostituierten soziale Problemlagen diskutiert, die als Auswuchs von schnellem Städtewachstum sowie sozio-ökonomischen Wandelprozessen gedeutet wurden. Auch hier wurde die Figur der Prostituierten mit der Verführungskraft der Stadt verbunden, die Stadt als Ganzes jedoch zur „Hure Babylon“ 16. Im Effekt rechtfertigten diese Bilder die Einhegung des Sexuellen durch Abwertung, Pathologisierung und/oder Kriminalisierung. Aus beiden Perspektiven wurde die Figur der Prostituierten in Beziehung gesetzt zur städtischen Anonymität, die schnell als zentrales Merkmal urbaner Umgangsformen und als Voraussetzung für das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensweisen und auch sexueller Praktiken identifiziert worden war.17 Die Figur der Prostituierten trug auch zur Konstitution der Stadt als moralische Landschaft bei, mit ihrer Hilfe wurde Sexualitäten in der Stadt ihr Ort zugewiesen und dieser mit moralischen Bewertungen verbunden. Auch diese Versuche, (unerwünschte Formen von) Sexualität in der Stadt zu verorten, changierten zwischen Projektion und Beschreibung, vor allem aber hatten sie performativen Charakter: Sie formatierten Blicke auf die Stadt als Ganzes wie auch auf einzelne Räume städtischen Alltags, weckten Erwartungshaltungen und provozierten Reaktionen. In den Auseinandersetzungen um Prostitution wurde das als störend Wahrgenommene mit und in der Figur artikuliert, wobei die Art und Weise der ‚Problem‘14 Zu dieser Unterscheidung vgl. de Certeau 1988, 184 ff. 15 Vgl. Binder 2012a. Die mit Selbst- und Fremdetikettierungen verbundenen alltäglichen Praktiken des Klassifizierens und Beurteilens – Verfahren also, in denen ästhetische Einordnungen mit sozialen Differenzierungen und moralischen Beurteilungen verknüpft werden – tragen zu Grenzziehungen zwischen sozialen, geschlechtlichen, ethnischen usw. Gruppen bei. Vgl. auch Ege 2013, Moebius und Schroer 2010. 16 Bergius 1986. 17 Grundlegend Simmel 1903.

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Beschreibung Auswirkungen darauf hatte, welche Lösungen – seien es Regulierungen, begleitende Infrastrukturen oder institutionalisierte Routinen – ersonnen, präferiert und entwickelt wurden.18 Aus einer solchen performativen Perspektive wurde die Stadt selbst durch sexuelle Praktiken, Imaginationen und Wissensarchive konstituiert. Dabei war (und ist) „die Stadt“ stets auch, wie Tobias Becker schreibt, „Teil des Diskurses und wurde als die treibende Kraft verstanden, von der Veränderungen in Sozialverhalten, Wahrnehmung und Empfindsamkeit ausgingen“.19 Auch dies ist ein Effekt diskursiver Verhandlungen des Urbanen, denn erst durch die Formierung einer vereinheitlichten Vorstellung von ‚der Stadt‘ wird diese regulierund kontrollierbar.20 Im Folgenden werde ich die Figur der Prostituierten dazu nutzen, den Austauschprozessen zwischen Stadtwahrnehmung, -imagination und urbaner Praxis nachzugehen.21 Auf diesem Weg durch die Stadt wird mich der ‚Wahnsinn‘ begleiten, auch hierfür liefert Helenefriederike Stelzners Lamento einen wertvollen Hinweis. Wird die Figur der Prostituierten mit dem Wahnsinn verknüpft, geraten zunächst psychiatrische und sexualwissenschaftliche Klassifizierungspraktiken in den Blick, mit deren Hilfe das ‚Andere‘ der (Stadt-)Gesellschaft ausgemacht und zum Zielpunkt medizinischer, karitativer und polizeilicher Anstrengungen werden konnte. Doch Wahnsinn zeigte sich auch als alltägliches Instrument der Klassifizierung und Beschreibung, vor allem dort, wo es um moralische Einordnungen ging. Der doppelte Einsatz des Wahnsinns führt zu Punkten, an denen Alterität zum konstituierenden Moment von Stadt und Urbanität wurde.22 Ich beginne meine Erkundung bei einem Bestseller, schaue von dort auf unterschiedliche Praktiken und soziale Milieus des Stadt-Erkundens, -Beschreibens und -Verhandelns, um zum Schluss nochmals auf den Grenzraum zwischen sozialem und imaginärem Raum einzugehen.

Das Tagebuch einer Verlorenen: Diskussionen um die „Authentizität“ einer Figur der Prostitution Im September 1905 erschien in der Berliner Zeitung Der Tag unter dem Titel Tagebuch-Psychologie eine Buchbesprechung von Willy Hellpach (1877–1955). Der Psychiater begann seine 18 19 20 21

Vgl. zur Verbindung von „Problembeschreibung“ und „Problemlösung“ auch Frank 2003, 87. Becker 2014, 62. De Certeau 1988, bes. 181ff. Vgl. auch Binder 2012a. Vgl. Henri Lefebvres Unterscheidung zwischen gelebtem, wahrgenommenem und vorgestelltem Raum (lived, perceived and conceived space) beziehungsweise zwischen Raumpraktiken (spatial practice), Repräsentationen von Raum (representations of space) und Raumvorstellungen (representational space). Lefebvre (1974) 1991, insbesondere 38 ff. 22 Binder 2009.

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Rezension zunächst mit einigen allgemeinen Überlegungen zum Wert von Tagebuchaufzeichnungen, Schriftwechseln und Memoiren als Quelle psychologischer Erkenntnis. Auch wenn Laien dazu neigten, solchen Zeugnissen große Bedeutung beizumessen, wüsste ein Psychologe doch, so schrieb Hellpach, „mit wie großer Vorsicht und welchem Mißtrauen er gerade dieser Art Geisteserzeugnisse zu benutzen hat“.23 Dem von Margarete Böhme (1867–1939) publizierten Tagebuch einer Verlorenen bescheinigte Hellpach jedoch, dass es „rein medizinisch, psychopathologisch zu lebensrichtig, als daß ich es der poetischen Erfindung zutrauen möchte“. Es handele sich bei dem Tagebuch weder um Fiktion noch Fälschung, vielmehr komme es einer „‚klassischen‘ psychiatrischen Krankengeschichte, eines Schulbeispiels“ gleich. Hellpachs Einordnung erfolgte vor dem Hintergrund der erbbiologisch fundierten Tätertypenlehre: „Was sich seelisch vor uns aufrollt, ist der bis ins kleinste typische Defektzustand der ‚geborenen Prostituierten‘.“24 Hellpach klassifizierte das Buch im Sinne dieser Denkschule, wie sie prominent von Cesare Lombroso (1835–1909) vertreten und auch für Prostituierte ausbuchstabiert worden war.25 Hellpach bewertete das Buch als ernst zu nehmenden Beitrag zur allgemeinen wie auch psychiatrischen Diskussion, wenn er es mit der Bemerkung empfahl: „Wer den eigentümlichen, angeborenen moralischen Schwachsinn der zum ‚Fall‘ Prädestinierten kennen lernen will, der mag getrost zu diesem Tagebuch greifen; es spiegelt ihn diagnosefähig wider.“26 Hellpachs Rezension ist nur ein Indiz für die große Popularität des von Margarete Böhme verfassten und herausgegebenen Tagebuchs einer Verlorenen.27 Erstmals 1905 im Berliner Verlag Fontane & Co erschienen,28 wurden bis 1930 über eine Million Exemplare verkauft.29 Später wurde der Stoff auch, wenngleich teilweise mit nur mäßigem Erfolg, auf die Bühne gebracht 23 Willy Hellpach: Tagebuch-Psychologie. Der Tag 6.9.1905, vgl. auch Bammé 1994, 207 ff.. Arno Bammé (1994) versammelt Teile der im Privatarchiv der Autorin nachgelassenen Rezensionen und Leserbriefe. Wenn ich mich hierauf beziehe, gebe ich die Originalquelle nur bei der ersten Zitation an. 24 Bammé 1994, 208. 25 Es kann hier nicht genauer auf die Wirkungen von Lombrosos Thesen zum „Weib als Verbrecherin und Prostituierte“ eingegangen werden. Als Beispiel für die Diskussion seiner Thesen vgl. Sichel 1913, außerdem Gadebusch Bondio 1995, Janssen-Jurreit 1986a, 20 sowie Schulte 1979, 250, Anm. 79. 26 Bammé 1994, 208. 27 Zeitgleich erschienen weitere ‚Prostitutionsromane‘. Vgl. Borst 1993, Schönfeld 1996. Zu literaturwissenschaftlichen Analysen des Tagebuchs insbesondere mit Blick auf Weiblichkeitsentwürfe und weibliche Kreativität vgl. Borst 1993 und Günther 2007. Eva Borst betont, dass diese Bücher ihren Autorinnen auch erlaubten, „weibliche Subjektpositionen zu finden, die möglicherweise die Konstituierung einer weiblichen sexuellen Identität zulassen“. (Borst 1993, 53). 28 Böhme 1931/1905. Ich beziehe mich auf eine Ausgabe von 1931; 1989 erschien eine Neuauflage im Suhrkamp-Verlag, herausgegeben von Hanne Kulessa. 29 Vgl. Bammé 1994, 42. Damit erreichte das heute weitgehend in Vergessenheit geratene Buch Verkaufszahlen nahe denen von Erich Maria Remarques (1898–1970) Klassiker Im Westen nichts Neues (1928).

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und mehrmals verfilmt, unter anderem 1918 von Richard Oswald (1880–1963) und 1929 von Georg Wilhelm Papst (1885–1967).30 Das Tagebuch rief neben psychiatrischen Beurteilungen auch eine Vielzahl weiterer Reaktionen hervor. Da der Roman in weiten Teilen in Berlin spielt, gibt er zudem Auskunft über die prostitutiven Räume der Stadt, deren Wahrnehmung und Einordnung. Die unauflösliche Differenz zwischen Literatur und Lebenswelt31 verschwamm nicht nur in Hellpachs Lesart des Tagebuchs; vielmehr zog sich die Frage nach der „Authentizität“ des Tagebuchs wie ein roter Faden durch nahezu alle Besprechungen. Die meisten RezensentInnen setzten an der Frage an, ob Margarete Böhme tatsächlich ein (redigiertes und kommentiertes) Originaldokument vorgelegt hatte, dessen Herkunft sie nicht preisgeben wollte, wie es im Vorwort suggeriert wurde. Die Autorin erläuterte dort, dass sie auf Anraten ihres Verlegers, „die Aufzeichnungen nach der erforderlichen Überarbeitung im Original der Öffentlichkeit“ übergeben habe, statt sie zu einem Roman zu verarbeiten.32 Andere überlegten, ob nicht vielleicht eigene Erfahrungen den Schilderrungen zugrunde liegen könnten, die nur zum eigenen Schutz anonymisiert publiziert worden waren. Dafür sprach, dass es einigen LeserInnen unwahrscheinlich schien, dass eine bürgerliche Frau derart detaillierte Einblicke in das Prostitutionsmilieu hätte gewinnen können; andere bezweifelten, dass bei diesem Thema so viel schriftstellerische Imaginationskraft überhaupt möglich sein könnte. Ähnlich wie Hellpach beurteilten einige die psychologische Überzeugungskraft der auftretenden Figuren, deren Porträts grundsätzlich als plausibel wahrgenommen wurden; für andere sprachen Erzählstil und sprachliche Mittel, die ebenfalls genauerer Prüfung unterzogen wurden, für den Realitätsgehalt des Buches.33 Das Tagebuch einer Verlorenen erzählt im Format des Tagebuchs die Lebensgeschichte von Thymian Gotteball, die, aus bürgerlichem Milieu stammend, wegen eines unehelichen Kindes ihr Elternhaus verlassen musste und den größten Teil ihres Lebens in der deutschen Hauptstadt als sogenannte „Halbweltdame“ lebte. Wie Therese Schlesinger-Eckstein (1863– 1940) in einer Rezension in der sozialdemokratischen Neuen Zeit feststellte, ist es jedoch „weniger ein typisches Frauenschicksal, das sich uns darstellt, als ein Argument dafür, wie sinnlos die Verachtung ist, mit der die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Opfer trifft“.34 Während Hellpach diesen Aspekt als „Lamento“ abtat, bewerteten sozialdemokratische und aus un30 Vgl. Bammé 1994. Wegen der mit Louise Brooks prominent besetzten Hauptrolle ist diese Verfilmung die bekannteste. Der Plot wurde dabei stark verändert. 31 Kilian 2014, bes. 39 f. 32 Böhme 1931/1905, 5. 1907 publizierte Margarete Böhme zum selben Thema noch den Roman Dida Ibsens Geschichte. 33 Bammé 1994, 16–22. Vgl. hierzu auch Borst 1993, Günther 2007. 34 Schlesinger 1906, 40.

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terschiedlichen Teilen der Frauenbewegung stammende RezensentInnen die Schilderungen des Lebenswegs gerade aus diesem Grund als „authentisch“. Diese ökonomische These konkurrierte mit der Interpretation von Prostitution als angeborenem Merkmal. Dann rief die Figur der Prostituierten zur Solidarität auf: An der Diskussion um Prostituierte beteiligte SozialdemokratInnen, FrauenpolitikerInnen und AbolitionistInnen nutzten die Figur der Prostituierten, um Geschlechterverhältnisse und die dominante Sexualethik des Kaiserreichs zu kritisieren.35 Der große Erfolg des Romans ist darin zu suchen, dass Margarete Böhme mit ihren sozialen und (entwicklungs-)psychologischen Deutungen überzeugend an diese zeitgenössischen Diskussionen um Prostitution, Frauenrechte und Ethik anknüpfte. Sie wollte „einen authentischen Beitrag zu einer brennenden sozialen Frage unserer Tage“36 liefern, wie es im Vorwort heißt. Dementsprechend machte sie die Ursache für das Schicksal von Thymian Gotteball in erster Linie in der bürgerlichen Moralordnung des Kaiserreichs sowie in der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung und Rechtsstellung von Frauen aus. Oder, wie Richard Evans es formuliert: „It is not poverty that is responsible for driving women such as Thymian into prostitution, the book suggests, but the rigidity of social convention, often enforced in public by men who spend their time undermining it in private.“37 Mit ihrer Repräsentationsstrategie stellte Margarete Böhme das alltägliche Leben einer Prostituierten ins Zentrum, betonte deren Menschlichkeit und Normalität. Sie schuf die Figur weitgehend jenseits von Exotisierung und Pathologisierung,38 vielmehr nutzt das Buch den Imaginationsraum des Fiktionalen, um die Perspektive auf soziale Alltagswelten zu verschieben und Diskurse jenseits des Literarischen zu kritisieren. Indem Thymian Gotteball als empfindsame, sozial engagierte und gebildete Frau entworfen wurde, versuchte der Text, die Grenze zwischen sozial anerkannten sozialen Gruppen und der der Prostituierten durchlässiger zu machen.39 Sexuelle Praktiken, pornographische Sequenzen oder, wie es in einer Rezension hieß, „Pikanterien und Frivolitäten“40 fehlen vollständig – zumindest kann ich als heutige Leserin nichts davon entdecken. Damit setzte sich der Roman deutlich von anderen zeitgenössischen Darstellungen der Prostitution ab, die auf die voyeuristische Sensationslust ihres Publikums setzten.41 35 36 37 38 39 40

Vgl. zum Beispiel Wischermann 2003, 63 ff., Wobbe 1989, 88 ff. Böhme 1931/1905, 5. Evans 1998, 169. Vgl. Richards 2000,105. Zur Grenzziehung zwischen anerkannter und nicht anerkannter Sexualität vgl. Rubin 2003. Dorothee Goebeler: Aus den Tiefen des Lebens, Berliner Hausfrau, Nr. 228. Zitiert nach Bammé 1994, 164. 41 Vgl. Schlör 1994, 198 und die dortigen Hinweise auf solche „pseudodokumentarische pornographische Literatur“.

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Doch Margarete Böhme knüpfte auch an etablierte psychologische und psychiatrische Erklärungsmuster an, indem sie, wie auch Hellpach herausstellte, ein Psychogramm von Thymian Gotteball entwarf. Das Tagebuchformat erlaubte ihr die Darstellung einer Innensicht auf die Welt der Prostitution und deren subjektives Erleben. Neben der Schilderung von Ereignissen und Stationen im Leben der Thymian Gotteball legte Margarete Böhme daher besonderes Gewicht auf innere Dialoge und (Selbst-)Reflexionen ihrer Protagonistin: „Daß ich für die bürgerliche Gesellschaft tot bin, ist mir bei Daubs oft genug plausibel gemacht worden. Meine Nähe könnte ‚unschuldige‘ junge Mädchen verführen. Keine anständige Frau will was mit ‚so einer‘ zu tun haben. Na, und dann? Was soll ich denn mit mir anfangen?“42 Während dieser Selbstgespräche nimmt Thymian Gotteball auch Bezug auf die Vorstellung von der „geborenen Prostituierten“, wie es Hellpach in seiner Rezension zentral gestellt hatte. So bezieht sich Margarete Böhme etwa auf das Blut, das in den Adern ihrer Protagonistin fließt: Thymian Gotteball deutet an mehreren Stellen ihr Schicksal als Folge der „paar verspritzten Tropfen französischen Kokottenblutes“, die „sich in der nachfolgenden Generation erhalten“ hätten und sich „wie ein vererbter Fluch“ immer wieder geltend machten.43 Es könnte sein, dass auf diese Weise die Absurdität der Abstammungshypothese vorgeführt und als Verblendung, die durch das Zirkulieren psychiatrischen Wissens entsteht, gebrandmarkt werden sollte. Vor der Autorität des Psychiaters Hellpach wurde diese Strategie zum Fehlschlag, wenn er urteilte, dass „das Räsonnement der Verfasserin gänzlich wirkungslos, sofern es als sozialpsychologische Anklage gemeint ist“, verhallen müsse: „Das ‚Kokottenblut‘, das die ‚Heldin‘ geerbt hat, rollt schon in ihren kindlichen Adern so übermächtig, daß die den Fall auslösenden Lebensumstände beinahe belanglos werden.“44 Aus dieser Perspektive stützte der Roman zugleich auch Helenefriederike Stelzners Vermutung, dass psychiatrisches Wissen in alltägliche Deutungen einging, zwischen Literatur und Lebenswelt zirkulierte und zugleich als Entschuldungsstrategie eingesetzt wie eingeschätzt wurde.45 In dieses Bild fügt sich auch, dass die Protagonistin noch mit weiteren Formen des Wahnsinns „kämpfte“: So wurde Thymian Gotteball auch Opfer der „Kaufwut“, der sogenannten Magazinitis, die im zeitgenössischen Diskurs mit den neuen Formen der Warenpräsentation in Kaufhäusern in Zusammenhang gebracht wurde und dicht mit Weiblichkeitsentwürfen verwoben war: Frauen erlagen, so vermutete man, der Verführungskraft der Waren, die sie zum irrationalen (Kauf-) Handeln brachte und ansonsten unerklärliche Schwindelgefühle zur Folge hatte. Außerdem wurde Thymian Gotteball an verschiedenen Stellen von den Männern, die sie finanzieren, 42 43 44 45

Böhme 1931/1905, 113. Ebenda, 63. Hellpach 1905, zitiert nach Bammé 1994, 209. Kilian 2014, bes. 39 f.

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dabei auch durchaus freundschaftlich begleiten, als „nervenkrank“ etikettiert.46 Man könnte diese Zu- und Einschreibungen des Wahnsinns als Entlastungsstrategie interpretieren, indem sie die Figur an die Grenze rationaler Handlungsfähigkeit stellen. Es könnte auch sein, dass Margarete Böhme auf diese Weise die zweifache ‚Unschuld‘ ihrer Protagonistin betonen wollte. Nicht nur die sozialen Verhältnisse und rigiden Moralvorstellungen führten zum ‚Fall‘ der Thymian Gotteball, sondern auch ihre erbbiologische Konstitution. Plausibler scheint mir jedoch die Vermutung, dass Margarete Böhme ihren LeserInnen den unterschiedlichen Status der beiden Erklärungsregister vor Augen führen wollte. Indem Thymian Gotteball Selbstvorwürfe mit dem Verweis auf ihr „Kokottenblut“ zu relativieren versuchte, zeigte Margarete Böhme die Effekte dieses Wissens auf und unterstrich zugleich, dass die Protagonistin vor allem an den sozialen Verhältnissen ‚scheiterte‘. Thymian Gotteball versteckt sich nicht hinter psychiatrischen Diagnosen, wie wohl Helenefriedrike Stelzner vermutet hätte, sondern sieht trotz des Wissens um ihre ‚erbbiologische Devianz‘, dass soziale Verhältnisse und moralische Ordnungen ihr Schicksal maßgeblich bestimmen. Margarete Böhme ließ ihre Protagonistin immer wieder mit durchaus scharfen Formulierungen die Selbstgerechtigkeit der „moralisch Unanfechtbaren anprangern, die mit so wunderschöner, unnachahmlicher, stolzschwerer Rührmichnichtan-Betonung das Wort ‚Dirne‘ aussprechen“.47 Thymian Gotteball klagt insbesondere diejenigen an, die „da draußen, in der ruhigen Beschaulichkeit ihres bürgerlichen Milieus“, im „westlichen Berliner Ausland“ leben48 und liefert dabei erste Hinweise auf die Figuration der moralischen Topographie Berlins. Die Figur stand auch für die Erfolglosigkeit polizeilicher Maßnahmen. Eben weil es keine soziale Anerkennung gab, scheiterten jegliche Einhegungsversuche: Statt Kontrolle provozierten diese vor allem, so legt die Erzählung nahe, Taktiken des Ausweichens oder der Abwehr und produzierten Gefühle der Angst und der Scham.49 Emotionale Register griff auch die Schilderung des Unterschieds zwischen „Kontrollierten“, also registrierten Prostituierten, die sich regelmäßig ärztlichen Untersuchungen unterziehen mussten, und „Halbseidenen“ auf, die der ständigen Gefahr ausgesetzt waren, von der Polizei aufgegriffen und bestraft zu werden. „Zwischen den Kontrollierten und uns Halbseidenen ist äußerlich kein wahrnehmbarer Unterschied. Jede Halbseidene umgeht natürlich die Sitte wie die Pest, obgleich bei den Kontrollierten eben diese wahnsinnige Angst vor dem Abgefangenwerden fortfällt.“50 Margarte Böhme beschrieb, wie der öffentliche Raum der Stadt gesetzlich reguliert wurde und der po-

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Böhme 1931/1905, 230–238. Vgl. auch Richards 2000, 104. Böhme 1931/1905, 198. Ebenda, 283 und 282. Zum Berliner Polizeigesetz von 1902 vgl. Schulte 1979, 176–181 sowie Hammer 1905, 23–27. Böhme 1931/1905, 141.

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lizeiliche Zugriff auf der Prostitution verdächtige Personen bis in die Privat- und Intimsphäre hineinreichte – also in die Schutzzone bürgerlicher Intimität. Die Autorin zeichnete recht genau die polizeilichen Vorschriften nach, die in Berlin auch Regelungen zu Bekleidung, Benehmen und Aufenthaltsorten umfassten. So war es Prostituierten etwa verboten, sich in bestimmten Straßen am Fenster zu zeigen, und die Polizei konnte im Verdachtsfall Wohnungsdurchsuchungen durchführen. Böhme zeigte aber auch Formen der Solidarität und wechselseitigen Unterstützung, die nicht nur die Frauen, sondern auch Freier und Zuhälter einbezog. Und schließlich griff Margarete Böhme das Argument gegen Prostitution auf, dass diese die gesellschaftliche Reproduktion gefährde, weil sie maßgeblich zur Verbreitung von Geschlechtskrankheiten beitrüge.51 So tauchten vererbte Pathologien als Erklärungsregister auf, doch mutet dies wie ein zwangsweises Zurückgreifen auf psychiatrisches Wissen an, um der sozialen und polizeilichen Ausgrenzung begegnen zu können. Zusammengenommen betonen die im Tagebuch geschilderten sozialen wie sozial-psychologischen Effekte von Regulierung und Ausgrenzung den grundlegenden Widerspruch, der den Umgang mit Prostitution in der Kaiserzeit – und im Grunde bis heute – prägte: Die Doppelmoral – von Anna Pappritz (1861–1939) und anderen Frauenrechtlerinnen als Herrenmoral52 beschrieben – sorgte für die Gleichzeitigkeit von Ausgrenzung und Duldung: „Warum“, so fragt (sich) entsprechend Thymian Gotteball, sanktioniert „die Polizei durch die Kontrolle das Gewerbe eigentlich gewissermaßen […], wenn sie den Mädchen nicht zu wohnen gestattet“.53 Dabei bleibt das Tagebuch ein Stück weit selbst in diesem Widerspruch gefangen. Zwar wird Prostitution als zwangsläufige Folge einer gesellschaftlich geschaffenen Situation beschrieben, zugleich aber anderen Erwerbstätigkeiten und vor allem der Liebesehe diametral gegenübergestellt. Diese Grenze zwischen legitimen und illegitimen Formen der Erwerbstätigkeit wird durch Gefühle des Selbsthasses kontrolliert – die nicht anders als durch erbbiologische Erklärungsmuster entlastet werden können: Damals als ich nach Berlin kam, habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben, einen ehrlichen Erwerb zu finden, weil das andere Leben mich anekelte, da ich aber nichts fand und man doch leben will, blieb mir nichts anderes übrig, als mich fortzuwerfen, und ich hab’s mit innerem Abscheu getan, wie einen widerwilligen Tribut dem Moloch Selbsterhaltung.54 51 Vgl. grundlegend Sigusch 2008, Janssen-Jurreit 1986b. 52 Anna Pappritz: Herrenmoral, zitiert nach Janssen-Jurreit 1986b, 83–94. Pappritz beschrieb in diesem 1903 publizierten Beitrag die Politik der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die 1902 in Berlin gegründet worden war, als weiteres Beispiel patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen. Vgl. auch Janssen-Jurreit 1986a. 53 Böhme 1931/1905, 141. 54 Ebenda, 207.

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Margarete Böhme entwarf ihre Figur der Prostituierten im Rahmen bürgerlicher Bewertungsmaßstäbe und dominanter moralischer Ordnungen. Sie setzte vor allem auf das Mitleid ihrer LeserInnen, auch hier fügt sich der Verweis auf erbbiologische Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster ein. Sie plädierte mit dem Tagebuch für die rechtliche wie gesellschaftliche Anerkennung von Frauen, insbesondere von ledigen Müttern; auf diese Weise sollte Prostitution der Boden entzogen werden. Weitergehende Vorschläge der Gesellschaftsreform entwickelte die Autorin mithilfe ihrer Figur nicht. Entsprechend urteilt Eva Borst, dass das „Tagebuch gewiss zu seiner Zeit sensationell“ war, aber „an Schärfe“ verloren habe, „da die Schreiberin sich nicht zu einer uneingeschränkten Solidarität mit den Prostituierten bekennen kann“. 55 Die Frage, ob dies eine Konzession an ihre Leserschaft war oder die genuine Haltung der Autorin, muss offenbleiben.56

Das Tagebuch einer Verlorenen als Dokument städtischer Prostitution Während Hellpach vor dem Hintergrund eines Weiblichkeitskonzepts, das Frauen sexuelle Bedürfnisse weitgehend absprach, und seiner autoritär gesetzten psychiatrischen und sexualpathologischen Expertise bewertete, führten einige RezensentInnen ihr Wissen um Stadt und urbanes Leben ins Feld – und machten das Buch damit zum Bestandteil dessen, wie Stadt gewusst wurde. Sie setzten die Schilderungen in Beziehung zu ihrem Bild von Berlin und dem anderer erwähnter Städte. Hierbei bot die Passgenauigkeit zu eigenen Erfahrungen wie auch zu Vorstellungswelten den Maßstab: Umso besser Bühnen wie Staffage des Romangeschehens sich in eigene Vorstellungen städtischer Lebenswelten und dem Urbanen fügten, umso plausibler und ‚wahrer‘ erschien die Geschichte. Dieses Bewertungsverfahren gehört untrennbar zur Praxis sozialer Imaginationen: Im Abwägen, Vergleichen und Beurteilen werden nicht nur differente Lesarten eines Textes sichtbar,57 sondern auch Prozeduren, durch die eigene Erfahrungen und Vorstellungen ins Verhältnis zu Wahrgenommenem wie auch zu – fiktiven wie dokumentarischen – Repräsentationen (von Stadt) gesetzt werden. Auch dieses Beurteilen erzeugt im sozialen Gebrauch eines Textes dessen „Authentizität“.58 Die imaginativen Möglichkeitsräume des Romans bestätigten so einerseits Bedeutungszuschreibungen und Wahrnehmungsmuster, eröffneten aber zugleich auch einen Raum für 55 Borst 1993, 143. 56 Viel spricht für letzteres, denn auch andere ProtagonistInnen der Sexualwissenschaft wie der Frauenbewegung sprachen sich vehement gegen alle Formen der Prostitution aus. Vgl. zum Beispiel Hirschfeld 1991/1904, Meisel-Heß 1909 u. a. 57 Hall 1999. 58 Zur Authentifizierung als sozialer wie politischer Strategie vgl. Lindner 1998.

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neue Perspektivierungen, wenn sie mit sozialen Situationen, Personenkonstellationen und Alltagswelten verbunden wurden. Das Hebammen-Heim in Hamburg, in dem das von dem Provisor des Vaters verführte Apothekermädchen entbindet, die Kreise der Offiziersdirnen in Hannover, das Treiben der Dirnen in einem Hamburger ‚Salon‘, im Café ‚Keck‘ und im ‚National‘ zu Berlin, die gewaltige Solidarität der Zuhälterzunft, die uns der Berliner Bergerprozeß Ende vorigen Jahres so eindringlich demonstrierte, das äußere und das so besonders interessante seelische Verhältnis der Dirnen zu ihrem ‚Louis‘, die Beziehungen ‚besserer‘ Halbweltdamen zu ihren ‚aristokratischen‘ Freunden werden mit großer, im guten Sinne des Wortes realistischer Treue geschildert. Jeder, der über Dirnenwesen künftig öffentlich oder privat sprechen will, wird das Buch gelesen haben müssen,

urteilte beispielsweise im September 1905 ein Autor mit dem Kürzel K. H. in der Dortmunder Arbeiter-Zeitung.59 Dass hier Prostitution vor allem mit dem Fortbestehen feudaler Lebensweisen in Verbindung gebracht wurde, stand im Einklang mit der weit verbreiteten sozialdemokratischen Einschätzung, dass Prostitution notwendige Begleiterscheinung sozialer – kapitalistischer – Missverhältnisse und insbesondere der sozialen Problemlage proletarischer Frauen sei.60 In der Bergischen Arbeiterstimme fasste Oscar Mysing (1867–1933) seine Lektüreeindrücke folgendermaßen zusammen: Eine Fülle anregender Gedanken und tiefe Einblicke in das Leben der ‚Ausgestoßenen‘ gestattet uns das Buch von Margarete Böhme. In kaleidoskopartigem Wechsel ziehen die bunten Bilder des großstädtischen Nacht- und Prostituiertenlebens an unserem Auge vorüber, weniger pikante Lektüre als Belehrung für den Menschenfreund und Soziologen gebend.61

Auch Walter Benjamin (1892–1940) notierte, in dem Tagebuch werde ein „komplettes Inventar des Sexualgewerbes von der Heiratsvermittlerin, der Vorsteherin einer diskreten Entbindungsanstalt bis zur Kuppelwirtin und zum Strichjungen“ ausgebreitet.62 59 K. H.: Der Frauen wunderlich Wesen, Arbeiter-Zeitung 17.9.1905. Zitiert nach Bammé 1994, 27. 60 Konieczka 1986, Evans 1998, 170. Maßgeblich beigetragen hat zu diesem Bild auch August Bebel mit seinem Buch Die Frau und der Sozialismus (1879). Bebel charakterisiert hier Prostitution als „notwendige Institution der bürgerlichen Welt“, die nur mit einer radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verschwinden würde. 61 Oscar Mysing: Tagebuch einer Verlorenen, Bergische Arbeiterstimme 6.7.1905. Zitiert nach Bammé 1994, 197–201, 201. 62 Benjamin 1991, 152.

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Der in Berlin situierte Teil der Erzählung spielt vor allem in innerstädtischen Quartieren, solchen also, die auch in anderen Darstellungen und Berichten eine zentrale Rolle einnehmen, die in der Polizeigesetzgebung als verbotene Aufenthaltsbereiche gelistet und somit bereits mit Prostitution in Verbindung gebracht worden waren.63 So landet Thymian Gotteball bei ihrer Ankunft in Berlin in der Zimmerstraße in einem Untermietverhältnis, das der damals üblichen Vermietungspraxis mit überhöhten Mieten für alleinstehende Frauen entsprach.64 Spätere Wohnungen liegen in der Markgrafen- und Bülowstraße sowie in der Nähe des Kurfürstendamms. Auch ein Hotelzimmer an der Friedrichstraße – finanziert von einem ihrer Freier – wird angeführt. Geschildert werden aber auch Gänge durch die Stadt, bei denen Thymian Gotteball gelegentlich Bekannte trifft, darunter auch Frauen, die ebenfalls allein unterwegs sind. Die Textpassagen verweisen auf soziale Gebrauchsweisen des urbanen Raums: „Ich hatte Besorgungen gemacht und bog gerade von der Mauerstraße in die Leipziger, als jemand [eine frühere Freundin, BB] mich anrief“65, ist da zu lesen, oder es heißt über Ausflüge in die Stadt mit einer Freundin: „[…] wir schlossen Freundschaft und verkehrten seitdem fast täglich zusammen, gehen oder fahren morgens in den Tiergarten zusammen spazieren, sind häufig abends im Theater und besuchen uns oft gegenseitig.“66 Weitere Textpassagen spielen in der Bellevue- und Leipziger Straße; es wird von einer Einkehr im Teezimmer von Wertheim oder von abendlichen Besuchen im Nationalcafé, in Restaurants und im Theater berichtet. Margarete Böhme stattete Thymian Gotteball mit einem bürgerlichen Habitus aus, mit entsprechender Bildung und Benehmen, der ihr Auftreten beziehungsweise das Auftreten von Prostitution – auch diese Lesart legt der Text nahe – in bürgerlich kodierten Räumen erlaubte; zugleich vermochte die Protagonistin es, in diesen (halb-)öffentlichen Räumen Geschäftsbeziehungen anzubahnen. Auch wenn bei diesen Schilderungen genauere Details fehlen, klassifiziert die Protagonistin mit Blicken ihre Umgebung und unterhält sich beiläufig mit Passanten, um den Kontakt zu potenziellen Kunden herzustellen. Böhme griff damit auf existierendes Wissen zurück, auch wenn sie selbst womöglich diese Codes der Straße gar nicht zu lesen vermochte. Margarete Böhme zeichnete offenbar für ihre LeserInnen überzeugend die physischmaterielle, infrastrukturelle und soziale Topographie der Stadt nach. Die Schilderungen knüpften an zeitgenössische Beschreibungen an, bestätigten diese und erlaubten zugleich die Thematisierung von Unausgesprochenem und Unzugänglichem.67 Die Autorin skizzierte 63 64 65 66 67

Vgl. Eitler 2009, Schulte 1979, Kap. IV, insbesondere 176–181 sowie Schlör 1994, 190. Vgl. Gunga 1995, 86 ff. Böhme 1931/1905, 281. Ebenda, 222. Kilian 2014, 39. Vgl. auch Schlör 1994, Schulte 1979 sowie den Beitrag von Sven Bergmann in diesem Band.

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im Tagebuch das Zusammenspiel unterschiedlicher Personen und Institutionen, sodass sich Prostitution als sozialer Raum, als einzelne Personen übergreifende Infrastruktur wie auch als solidarisches Netzwerk darstellte. Zwar war es keinesfalls das genuine Anliegen der Autorin, Stadt zu beschreiben. Doch indem sie den Schilderungen von Thymian Gotteballs Werdegang konkrete Orte zuwies, bettete sie die Handlungen in urbane Alltagswelten ein. Auf diese Weise gab das Buch gewissermaßen en passant auch Auskunft über Nutzungs- und Aneignungsweisen städtischer Räume: Die Autorin setzte mit der Figur der Prostituierten soziale Imaginationen von urbanem Handeln in Szene. Offenbar ist dies in den Augen zeitgenössischer RezipientInnen auf plausible Weise gelungen, anders kann die Empfehlung, den Text als soziologische Schilderung ernst zu nehmen, nicht verstanden werden. Auch auf diese Weise stellte sich die Authentizität der Erzählung her, selbst dort, wo das Buch als literarisches Konstrukt eingeschätzt wurde: Es erhielt in Hinblick auf Prostitution als urbanes Phänomen den Stempel eines quasi-dokumentarischen Berichts. Indem die Protagonistin des Tagebuchs sich an den gerade im Entstehen begriffenen Orten des urbanen Konsums und Vergnügens bewegte, wurden diese zunächst schlicht als Orte des Alltags wie der Arbeit einer Prostituierten gekennzeichnet. Margarete Böhme erfand diese Verbindung nicht, sondern griff auf städtisches Wissen, auf öffentliche Diskurse zurück. In Straßen und Grünanlagen, allen voran dem Tiergarten, in Cafés, Restaurants und hier vor allem den einschlägigen ‚Nachtcafés‘, im Foyer und auf dem Vorplatz von Theatern waren Prostituierte offenbar – so legen es viele zeitgenössische Berichte nahe – stets präsent. 68 Stefan Zweig (1881–1942) erinnerte sich, dass die „Gehsteige derart durchgesprenkelt [waren] mit käuflichen Frauen, daß es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden“.69 Rund um die Friedrichstraße hatten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Restaurants, Cafés und Theater angesiedelt, hinzu kamen Läden, wichtiger aber noch die neuen Bau- und Konsumformen der Kaufhäuser und Passagen. Rund um die Friedrichstraße und den Kurfürstendamm waren Konsum- und Vergnügungsviertel entstanden, die zugleich als Ergebnis wie Zeichen der mit dem Schlagwort Urbanisierung umrissenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse diskutiert wurden. Tobias Becker beschreibt diese Viertel als heterotopische und heterochronische Räume, die „mit ihren mehrstöckigen Häusern, ihrem rasanten Verkehr und ihrer gleißenden Lichtreklame als Symbole moderner Urbanität galten“ und in denen sich eine Vielfalt unterschiedlicher Räume überschnitten und überlagerten: Das Vergnügungsviertel „war wechselweise oder zugleich liminaler, heterosozialer, egalitärer, kosmopolitischer, kommerzieller, medialer und theatraler Raum“.70 Prostitution stand am 68 Becker 2011, 142 f. 69 Zweig (1944) 1991, 104. 70 Becker 2011, 149. Zwar scheint mir Beckers Darstellung an manchen Stellen, etwa in Hinblick auf

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Schnittpunkt dieser unterschiedlichen Raumkonstellationen. Die Figur der Prostituierten gehörte dazu – sie repräsentierte Formen des alltäglichen Erlebens und der Nutzung von Vergnügungs- und Konsumangeboten; sie bot zugleich den Raum, um die Entwicklung dieser neuen urbanen Formen mit ihrer Bündelung unterschiedlicher Angebote und Sensationen zu diskutieren, und sie verkörperte die Ambivalenzen, mit denen diesen Räumen praktisch wie diskursiv begegnet wurde. Mit ihrer Hilfe konnte der großstädtische oder auch metropolitane Charakter Berlins herausgestrichen werden; die Figur wurde aber auch genutzt, um auf den pathologischen und gefährlichen Charakter der aktuellen Entwicklungen wie der bislang unbekannten Phänomene hinzuweisen. Aus dieser Perspektive wurde die Figur der Prostituierten zum Ausweis für die Auflösung oder Verschiebung moralischer Ordnungen in der – wachsenden – Stadt. So urteilte der Arzt und Sexualwissenschaftler Iwan Bloch (1872–1922) in Das Sexualleben unserer Zeit, dass „die öffentliche Straßenprostitution […] in der Tat z. B. in der Berliner Friedrichstraße [...] bedenkliche Zustände hervorgerufen“ hätte: Die Berührung von öffentlichem Leben und Prostitutionswesen ist ohne Zweifel ein großes Uebel, das Treiben der Dirnen auf offener Straße, die schamlose und lüsterne Zurschaustellung ihrer Geschlechtsreize, die freche Anlockung coram publico, die herausfordernde Art des ganzen Unzuchtsbetriebes, das alles vergiftet unser öffentliches Leben, verwischt die Grenze zwischen Sauberkeit und Befleckung und stellt das Bild der geschlechtlichen Korruption tagtäglich vor aller Augen hin – vor die des reinen, unschuldigen Mädchens sowohl wie der ehrbaren Frau und des unreifen Knaben. Treffend hat man diese Straßenprostitution die Kloake des sozialen Lebens genannt, die auf offener Straße entleert wird, während wenigstens die Bordellprostitution nur eine geheim bleibende Kloake darstellt, deren üblen Geruch nicht alle Welt zu spüren bekommt […].71

Wie hier wurden Grenzen gezogen, um „Reines“ von „Verschmutztem“ zu trennen;72 dabei wurden auch auf größerer Skala die innerstädtischen Viertel ruhigeren Wohnvierteln gegenübergestellt und vor dieser Folie Personen auf der Straße klassifiziert und bewertet. So geschah es beispielsweise in der Schilderung des Arztes Wilhelm Hammer (1879–nach 1940) von seinem abendlichen Nachhauseweg. In seiner Studie Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen: und zehn Beiträge zur Behandlung der geschlechtlichen Frage heißt es:

egalitäre Begegnungen im öffentlichen Raum, zu euphorisch (zumal er gerade dort mehrmals auf Quellen aus den 1920er-Jahren zurückgreift), doch zeigt er eindrücklich die Produktivität des Konzepts Heterotopie für die Beschreibung neuer urbaner Vergnügungsformen. 71 Bloch 1909, 379 f. 72 Douglas 1985.

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Das Nachtleben der Hauptstadt begann. Aus den Vierzehntelausschänken klangen rauhe Männerkehlen. Auf der taghell erleuchteten Friedrichstraße spazierten feingekleidete Herren, schwebten Damen. Sechsmal in kurzer Zeit wurde von früheren Kranken mein Name genannt, niemals unfreundlich. Vom Halleschen Tore an lag die Stadt im Schlafe. Nur hin und wieder schlich ein Mädchen an mir vorbei oder strebte ein einzelner Herr seiner Junggesellenburg zu.73

Ebenso wie im Tagebuch, in dem der Berliner Westen als deutlich ‚andere‘, eben bürgerliche Wohngegend geschildert wurde, in der auch (noch) andere Regeln sozialen Miteinanders herrschten, wurde das innerstädtische Quartier rund um die Friedrichstraße auch hier zum Inbegriff des Großstadtlebens. Erst um 1900 begann, so Joachim Schlörs Beobachtung, eine ablehnende Haltung zunehmend der Neugier zu weichen. 74 Doch weiterhin wurde die Veränderung im Rahmen des Nexus von Stadt und Sexualität diskutiert – mit unterschiedlichen Intentionen. So schrieb etwa Iwan Bloch mit spürbar ambivalenten Gefühlen: „Besonders das Großstadtleben, wo das Wesen der modernen Kultur am konzentriertesten zutage tritt, ist sexuelles Stimulans im höchsten Grade, mit seinem Hasten und Jagen, seinem ‚Nachtleben‘ und den mannigfaltigsten Genüssen für alle Sinne, den gastronomischen und alkoholischen Exzessen, kurz mit seiner neuen Devise, daß nach der Arbeit das Vergnügen komme und nicht die Ruhe.“75 Bloch stellte zugleich fest, dass es keinem der Ladenmädchen oder Fabrikarbeiterinnen zu verdenken sei, dass „das Verlangen brennend wurde, nach aller Tagesarbeit abends auch einmal ein klein bißchen von den sich aufdringlich zur Schau stellenden Herrlichkeiten der Großstadt zu genießen“.76 Wie er sahen auch andere in der großstädtischen Trias von „wilder Liebe“, „Genußleben“ und Verführung das Ver-rückte der Stadt: Wenn sich Imagination und Alltagsleben in dieser Weise überschneiden, berühren sich auch Stadt und Wahnsinn und verlangen nach einem dokumentierten Wissen über die Stadt. Dieser Wunsch wurde nicht zuletzt auch dadurch bestärkt, dass der Übergang von „freier Liebe“ zu Prostitution von Bloch wie auch von einigen Vertreterinnen der Frauenbewegung als fließend wahrgenommen wurde. „Die wilde Liebe aber muss auch als ständige Verbindung mit der Prostitution bekämpft werden“, ist bei Bloch zu lesen.77 Er begründete dieses Urteil mit der Gefahr von Geschlechtskrankheiten, als deren hauptsächlicher „Herd“ die Prostitution angesehen wurde. 73 Hammer 1905, 47. 74 Schlör 1994, 196. 75 Bloch 1909, 326. Ähnlich argumentierte auch Emil Kraepelin (1856–1922) in seinem Lehrbuch der Psychiatrie (1905) – ein Dankeschön an Cornelius Borck für diesen Hinweis. 76 Bloch 1909, 332. 77 Ebenda, 338.

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Bloch lokalisierte auch die „geheimen Stätten“ der Prostitution im Vergnügungsviertel, namentlich in „Wirtschaften mit ‚Damenbedienung‘, sogenannten Animierkneipen“, die durch bunte Lampen auf sich aufmerksam machten, in „Ballokalen und Tanzsalons“, in „Variétés, Tingel-Tangel und Kabaretts“, deren Hauptzweck „‚das Totschlagen der Zeit‘ auf recht amüsante Weise“ darstelle, in „‚Pensionaten‘ und Maisons de passe“, „Massageinstituten“ wie auch in „Weibercafés“, die Tagesprostitution vermittelten. Zwar, so resümierte Bloch seinen Gang durch die städtischen Institutionen der Prostitution, „erschöpfen die genannten Rubriken bei weitem nicht den Umfang und Art der modernen Prostitution, die viel mehr Schlupfwinkel und Möglichkeiten der Betätigung hat. […] Prostitution kann überall getrieben werden, und die Verlockungen dazu finden sich an allen Orten, wo größere Menschenmengen zusammenkommen“.78 Solche Schilderungen im Stil der Dokumentation mit ihren eingelagerten (moralischen) Wertungen spielten denjenigen zu, die das städtische Leben im Namen der Trias von Ruhe, Sicherheit und Ordnung regulieren wollten. An dieser Stelle existierte ein unmittelbarer Übergang vom Bericht zu urbaner Praxis. Sittenpolizeiliche und sozialpolitische Maßnahmen, die neben der Prostitution auch dem Alkoholkonsum galten, zielten auf die Disziplinierung der Unterschichten und die Zensur aller als obszön eingeschätzten Erscheinungen.79 Das entsprechende Instrumentarium boten vor allem Sperrstunden und Konzessionsvergaben, Erlasse und Personenkontrollen.80 Gerade letztere Maßnahme betraf grundsätzlich alle Frauen, die allein unterwegs waren und – wie der „Fall Koeppen“ eindrücklich zeigt81 – unter einem generellen „Unzuchtsverdacht“ standen: Sie konnten angezeigt, in polizeiliches Gewahrsam genommen und einer Zwangsuntersuchung zugeführt werden. Auch deshalb nutzte die sich konstituierende Frauenbewegung die Figur der Prostituierten, um Rechte für Frauen einzuklagen: Sie verlangte nach der „ungehinderten Bewegungsfreiheit auch der weiblichen Bürger zur Nachtzeit wie bei Tage“82 – und forderte eine Reform der Sexualmoral, auch wenn die Ausmaße dieses Umbaus umstritten waren.83 In diesen Argumentationsstrang ordnet sich auch das Tagebuch ein. Dahingegen folgten die Bemühungen, Prostitution aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verbannen, der Logik von Kontrolle und Regulierung. „Zweck der Sittenpolizei ist“, so führte der Arzt Alfred Blaschko (1858–1922) 1902 in seiner Schrift Die Prostitution im 19. Jahrhundert aus, „die Unsichtbarmachung der Prostitution, ihre Beschränkung entweder auf Bordelle oder 78 79 80 81 82 83

Ebenda, 388. Auch die Vielfalt der Institutionen wird hier ausgebreitet. Ebenda, 381–387. Vgl. Hoelger 2011, 24 und 26, Frank 2003, 69 ff. sowie Schlör 1994, 192 f. Becker 2011, 148. Wischermann 2003, 237 ff., Konieczka 1986, 118, D’Souza/McDonough 2006. So in der Zeitschrift Frauenbewegung 1898, 2, 13. Zitiert nach Wischermann 2003, 239. Wischermann 2003.

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auf dunkle und entlegene Straßen, Hinterhäuser, auf Abend- und Nachtstunden, ihre Entfernung von öffentlichen Straßen und ihre scharfe Trennung von der guten Gesellschaft“.84 Entworfen wurde mit solchen Schilderungen eine moralische Topographie, in der sich das Dunkle, Andere mit Bildern der unkontrollierbaren Stadt verband. Die Grenzen der prostitutiven Welt wie auch anderer Formen öffentlich sichtbar werdender Sexualität standen unter Bewachung der bürgerlichen moralischen Ordnung. Stefan Zweig schrieb rückblickend: „Wie die Städte unter den sauber gekehrten Straßen mit ihren schönen Luxusgeschäften und eleganten Promenaden unterirdische Kanalanlagen verbergen, sollte das ganze sexuelle Leben der Jugend sich unsichtbar unter der moralischen Oberfläche der ‚Gesellschaft‘ abspielen.“85 Doch das Unsichtbar-Machen wurde – gerade auch in Hinblick auf Geschlechterdifferenzen – von den bürgerlichen BeobachterInnen immer deutlicher als „unzeitgemäß“ wahrgenommen: Hieran entzündeten sich Debatten um Sittlichkeit und die Geschlechterverhältnisse, knüpften Forderungen der entstehenden Frauenbewegung nach einer neuen (Sexual-) Ethik und nach Gleichberechtigung an.86 Diese doppelte Bewegung aus Beschreibung und Verbot, aus Sprechen und (Ver-)Schweigen trug zur Produktion großstädtischer Urbanität maßgeblich bei. Das Grenzen-Ziehen und Unsichtbar-Machen, wie es Blaschko ansprach, zeigt eine überaus machtvolle soziale Praxis, mit der Blick- und Wahrnehmungsregime etabliert und kontrolliert werden sollten. Zugleich artikulierte sich in dieser doppelten Bewegung aus Kenntnisnahme und Kritik, durch die Prostitution zum großstädtischen Phänomen erklärt und die Figur der Prostituierten als soziale Figur entworfen wurde, die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Genauer noch zeigt sich in dieser Praxis Moral als ein überaus wirkmächtiges „Doing“.87 Beides – polizeiliches Eingreifen wie die Rede von der „unsichtbaren“ Parallelwelt – sind Praktiken der Bedeutungsproduktion, durch die – wie es der Geograph Yi-Fu Tuan nennt – ein „discerning eye“ generiert wird: ein wahrnehmendes Auge, das die Codes der Straße und deren räumliche Botschaften entsprechend bestehender Deutungs(an)gebote zu entziffern und zu bewerten vermag.88 Trotz aller Bemühungen der Einhegung und des Unsichtbar-Machens waren die Orte der Prostitution aber offensichtlich recht einfach zu finden und auch zu besuchen, wie zahllose Berichte über Exkursionen zu den – wie es im zeitgenössischen Duktus heißt – „dunklen 84 Zitiert nach Schlör 1994, 198. Diese Anstrengungen korrespondieren mit Evans’ Interpretation, dass Thymian Gotteball sich als Prototyp einer Prostituierten in einer Parallelwelt bewege, „cut off from respectable society by an invisible curtain while shadowing it at every level“. (Evans 1998, 169) 85 Zweig (1944) 1991, 101. 86 Wischermann 2003, 68 ff. 87 Schlör 1994, 176. 88 Tuan 1977, 192.

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Seiten“ der Stadt nahelegen. Aus diesen Texten spricht Neugier, gepaart allerdings meist mit aufklärerischen und/oder sozialmoralisch-erzieherischen Ambitionen.89 Gelegentlich blitzt hier auch wieder der „Wahn“ auf, vor allem als Beschreibungsregister für die ‚Andersartigkeit‘ dieser städtischen Räume und ihrer BewohnerInnen.90 Dieses stellte einen offenbar angemessen erscheinenden Wortschatz bereit, um der emotionalen und sensuellen Turbulenzen Herr zu werden, die solcherart Exkursionen bisweilen auslösten. So stellte beispielsweise die Sozialdemokratin Johanna Loewenherz (1857–1937) ihren Überlegungen zur Prostitution aus dem Jahr 1895 folgende Schilderung voran: Ich hatte einen Besuch in einem der bekannteren Berliner Nachtkaffee’s gemacht. Zum ersten Mal im Leben betrat ich einen solchen Ort, und es war mir, als überstiegen seine Schrecken alle Schilderungen davon. Wenigstens: was mir in der Vorstellung zu ertragen möglich gewesen war – im Augenblick, da ich es als Wirklichkeit vor mir sah, unterlag ich dem Eindruck. Ich litt. Meine Empfindungen und Gedanken wogten wirr und quälend durcheinander. Wie Betäubung legte es sich mir auf’s Hirn, und ich dankte ihr, denn sie war wohlthätig. Da erblickte ich wenigstens nur durch einen Nebelschleier alle diese häßlichen Dinge, und manchmal war es mir, als könnten sie nicht wirklich sein – als spiele sich da ein Mummenschanz vor mir ab, den tollgewordene, dem Orkus entstiegene Geister – Satyre, Faune und ihre Damen da vor mir aufführten. - - - Unwirklich! Unlebendig! ein Wahn, eine wilde Ausgeburt der Fieberphantasie. - - -91

Loewenherz’ Bericht mit den sich anschließenden Reflexionen gehörte, wie das Tagebuch, zu der wachsenden Zahl an von Frauen verfassten Schriften zur Prostitution, mit denen – in kritischer Distanz zur dominanten Ordnungslogik der Polizei – zum einen Geschlechterverhältnisse und Weiblichkeitskonzeptionen, aber auch die Wahrnehmung und Bewertung von Stadt verschoben werden sollten. Die Texte öffneten einen Raum für Widersprüche und Ambivalenzen, die das herrschende Geschlechterverhältnis und dominante Sexualitätskonzepte produzierten. Sie verwiesen zugleich auf die paradoxe Konstitution von Urbanität aus und als Störung: In der Auseinandersetzung mit als alteritär erlebten Räumen entstanden Routinen der Beschreibung, Einordnung und Aneignung von Stadt.

89 Vgl. Lindner 2004, 34 f. 90 Hierzu auch Schlör 1994, 196–201. 91 Loewenherz 1895, 4.

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Spaziergänge, emotionale Erlebnisräume und urbane Ambivalenzen Einerseits waren die zuletzt skizzierten Praktiken und Politiken der Ausgrenzung und Abwertung des sexuell Unerwünschten erfolgreich: Die entsprechenden Räume wurden als verrucht oder sogar dämonisch markiert, die darin verkehrenden Personen mit Mitleid betrachtet und/ oder Verachtung bestraft. Soziale Anerkennung war Prostituierten weitgehend verwehrt, vielmehr wurde Prostitution als sexuelle Praxis schnell in Verbindung mit Kriminalität gebracht und ein Platz jenseits dominanter Werte und urbaner Ordnungsvorstellungen zugewiesen. Andererseits griffen die Strategien der Alterisierung, die sie begleitenden Platzierungen und Abwertungen nie vollständig. Im Gegenteil gehörten Prostitution und die Figur der Prostituierten zum untrennbaren Beschreibungsrepertoire des Lebens (in) einer Metropole. Gerade künstlerische Arbeiten nutzten die Figur der Prostituierten, um Stadt und Urbanität greifbar zu machen, Aspekte des Städtewachstums zu repräsentieren und die Stadt als Möglichkeitsraum zu fassen. Anders als Böhmes Tagebuch wollte die künstlerische Praxis jedoch nicht zur Diskussion um Prostitution beitragen. Vielmehr wurde die Figur der Prostituierten hier zum Merkmal des Urbanen selbst: Sie stand für zentrale Aspekte der Metropolenkultur und die Figur des Wahnsinnigen stand ihr zur Seite. Wie Christiane Schönfeld gezeigt hat, verbildlichte die Figur der Prostituierten in expressionistischen literarischen Darstellungen ‚die Moderne‘ selbst: Sie stand als ambivalente Figur gleichermaßen für die Abgründe der Stadt wie für die heterotopische Neuordnung der Gesellschaft; sie verkörperte in ihrer doppelten Kodierung als Verkäuferin und Ware die Dialektik der Moderne und war wichtiger Repräsentationsmodus für die Ambivalenzen der Großstadt.92 In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg trugen die ExpressionistInnen als exzessive StadtbeobachterInnen wie StadtnutzerInnen maßgeblich zur Figurierung von Stadt und Sexualität bei.93 Die zur künstlerischen Bewegung des Expressionismus zu rechnenden Personen lebten mehrheitlich in Städten und waren lose miteinander verbunden in dem Bestreben, neue Ausdrucksformen für moderne – urbane – Gesellschaftserfahrungen zu entwickeln.94 So hieß es etwa bei Kurt Hiller (1885–1972), einem der Berliner Protagonisten: 92 Schönfeld 1996, bes. Kap. 8, 151 ff. 93 Zum Expressionismus übergreifend Beil/Dillmann 2010 sowie Staatliche Museen zu Berlin und Nationalgalerie und Kupferstichkabinett 1986. Zur literarischen Tradition der Darstellung von Prostitution vgl. Schönfeld 1996. Zu Expressionismus aus emotionstheoretischer Perspektive Binder/Dietze 2016, zur Darstellung des Eros im Expressionismus Täuber 1997, 75 ff.; vgl. auch Binder 2015. 94 Zum Begriff der emotionalen Gemeinschaft vgl. Rosenwein 2002, zum expressionistischen Umgang mit Stadt vgl. Schönfeld 1996. Die von außen kommende, aber als Selbstetikettierung übernommene Bezeichnung Expressionismus betonte die Abgrenzung von Naturalismus und Impressionismus.

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Wir wollten bei aller Kunstzucht (mithin Kontranaturalistik) ehrlich bis dorthinaus sein, und zwar als geborene Großstädter absolut auf ‚Asphalt‘-Grundlage. Wir wollten unsere Kenntnisse, unsere Problematik, unsere Sprechweise […] in unsere Dichtungen und Prosastücke tun, uns weder dümmer stellen, als wir waren, noch feierlicher, als wir waren; [...] Wir waren nicht gegen das Große, Gewaltige, Einfache, Gradlinige, aber mit besonderer Wut protestierten wir gegen das verteufelnde Verbot, das ein bösartiger, bürgerbärtiger, ‚bodenständiger‘ Simplizismus, welcher effektiv auf Kaiser Wilhelm, Konservativität und Krieg hinauslief, über alles Komplizierte, weltstadthaft Intellektuelle, Kultürliche, von Philosophie Berührte, über die Abschattungen, über die präzise, hirnkontrollierte Nuance verhängt hatte.95

Für ihre künstlerische Praxis wie für ihre Gesellschaftskritik war die Stadt gleichermaßen Ausgangs- wie Zielpunkt. Dabei stellten die ProtagonistInnen mit und in ihren sprachlichen und visuellen Ausdrucksformen den als selbstverständlich angenommenen Konnex zwischen Außenwelt, innerem Erleben und Symbolisierung infrage.96 Der Parcours, das Gehen durch die Stadt und die Wahrnehmung unterschiedlicher Alltagswelten in der Stadt lieferten den Stoff; das Urbane war zugleich Erfahrungs- und Resonanzraum. Ludwig Meidner (1884–1966) etwa erinnerte sich an die stundenlangen Fußmärsche durch das nächtliche Berlin, die wir (van Hoddis und er, d. Verf.) häufig unternahmen. Diese Weltstadt Berlin war damals das große Erlebnis, und nicht nur für mich, den geborenen Kleinstädter, sondern auch für van Hoddis, der Berliner war. Wir verließen nach Mitternacht das ‚Café des Westens‘ und marschierten stramm, ziemlich rasch geradeaus durch die Straßen, immer der Nase nach. (…) und schließlich als die Frühsonne die obersten Häuserkanten beleuchtete, fragten wir einander immer noch nicht, in welchem Stadtviertel wir gelandet wären. Es war zumeist der äußere Norden oder Nordosten der Stadt, aber immer noch Häuserzeilen, die fröhlich-traurigen Mietskasernen von Berlin mit den zahllosen traurig-fröhlichen Balkonen und dazu die ersten Zeugen des anbrechenden Berliner Wochentags, der uns in jenen Tagen in seiner Nüchternheit gar nicht nüchtern und banal vorkam, sondern schön, großartig, einmalig, ja, erhaben und von unausdrückbarem Reiz. So verliebt waren wir in diese Stadt.97

95 Kurt Hiller: Begegnungen mit „Expressionisten“. Der Monat 13/148, 1961, 54–59. Zitiert nach Raabe 1965, 27. 96 Wende 1999, 24. 97 Meidner 1973, 69 f.

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Die fortlaufende Erkundung der Stadt lieferte den Stoff, Ziel war es jedoch, die sinnliche und affektive Wahrnehmung des äußeren Geschehens in Worte beziehungsweise Bilder zu fassen. Um „weltstädtischer Schilderer“ – im Gegensatz zum „Schilderer der Weltstadt“98 – zu werden, wie es Ernst Blass (1890–1939) unterschied, war es notwendig, das urbane Leben durch den eigenen Körper gehen zu lassen, es in allen Facetten zu erkunden.99 So schrieb Ernst Blass im Vorwort seiner Gedichtsammlung Die Straßen komme ich entlanggeweht (1912): Ich erinnere mich, wie mir zumute war, als ich Einiges von dem hier Aufgenommenen verfaßte. Wie man damals das Inhaltsmäßige fühlte; wie man die Straßen entlang geweht kam (am 31. Januar 1912; vorher war man mit Herrn W. F. und Herrn H. zusammen im Englischen Café; dann die nachtumwaldete Tauentzienstraße); oder wie manchmal Bedrückendes beim Schaffen wich; wie aber doch manches bedrückend war … Einzelnes; halbgespenstisch. Meine Empfindungen heut abend stehen in keinem Gedicht des Bandes, – dennoch sind die Gedichte des Bandes meine Empfindungen … (Beim Herausgeben muss man das erwähnen).100

In diesem Kontext der körperlich-emotionalen Zuwendung zur Stadt als Möglichkeitsraum erhielt die Figur der Prostituierten ihre spezifische Gestalt. Sie gehörte in expressionistischen Prosatexten, Gedichten wie auch der bildenden Kunst – nicht als mitleiderregende Gestalt, sondern als selbstbewusste Frau – zum selbstverständlichen Beschreibungsrepertoire. So fasste beispielsweise Ernst Blass die städtische Abendstimmung in folgende Zeilen: Stumm waren längst die Polizeifanfaren, Die hier am Tag den Verkehr geregelt. Im süßen Nebel liegen hingeflegelt Die Lichter, die am Tag geschäftlich waren. An Häusern sind sehr kitschige Figuren. Wir treffen manchen Herren von der Presse Und viele von den aufgebauschten Huren, Sadistenzüge um die Fresse.101

98 99 100 101

Zitiert nach Schumann 1980, 11. Vgl. Schönfeld 1996, 60 f. Zitiert nach Schumann 1980, 8–12, hier 8. Das sind die ersten acht Zeilen von insgesamt 20. Zitiert nach ebenda, 14.

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Die Räume der Prostitution, wie sie bei Iwan Bloch als das Andere der Stadt gelistet wurden, gehörten für viele der KünstlerInnen zur selbstverständlichen Erfahrung und urbanen Praxis. Rita Täubner schildert in Der hässliche Eros, wie Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) immer wieder Bekanntschaften in Tanzlokalen und einschlägigen Cafés suchte, nicht zuletzt, um Modelle für seine künstlerische Arbeit zu finden.102 Ludwig Meidner berichtet darüber, dass Georg Grosz (1893–1959) und Max Herrmann-Neiße (1886–1941) „für Kaschemmen, Nachtlokale und Berliner Tanzsäle“ geschwärmt hätten und oft nächtelang dort unterwegs waren.103 Damit korrespondieren Aufzeichnungen in Grosz’ autobiographischem Text Ein kleines Ja und ein großes Nein, in dem über die Friedrichstraße vermerkt ist: Die Huren „standen in den Hauseingängen wie Schildwachen und flüsterten ihr stereotypes: ‚Kleiner, kommste mit?‘ Es war die Zeit der großen Federhüte, der Federboas und des hochgeschnürten Busens“. Auch Grosz stellte dabei einen Zusammenhang zwischen Stadt-Lektüren, Stadtwahrnehmung und künstlerischer Praxis her: „Wir hatten Flaubert und Maupassant gelesen, und so umgaben wir dieses Nachtleben mit einer Art Poesie. Viele jüngere Dichter besangen die Hure unter der Laterne, den Zuhälter und allgemein die freie Liebe. Vielen wurde die Hure zu einer Idealgestalt. Auch das lag in der Zeit.“104 Gelegentlich nahm diese Idealisierung quasi-religiöse Züge an, meist blendete sie soziale Verhältnisse gänzlich aus.105 In dem Gedicht Friedrichstraßendirnen von Paul Boldt (1885– 1921) ist dies zu finden, wenn das Angeln der Freier liebevoll in Metaphern von/vom Fischen gekleidet wird: Sie liegen immer in den Nebengassen, Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt, Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt, Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen.106

Mit der Figur der Prostituierten konnte die moralische Ordnung, insbesondere die rigide Sexualethik des Kaiserreichs kritisiert werden. Als am Rand stehende Existenz wurde die Prostituierte deshalb auch in den eigenen Kreis aufgenommen und den ‚Irren‘ an die Seite gestellt, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg – auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit psychischer Alterität107 – ebenfalls das Bild des wahrhaftigen, authentischen 102 103 104 105 106 107

Täuber 1997, 93. Meidner 1973, 21. Grosz 1974, 98. Vgl. hierzu Schönfeld 1996. Erste vier Zeilen von 14, zitiert nach Kühnel 2009, 66. Anz 1980, 159 f., vgl. auch Rothe 1972.

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Menschen verkörperten.108 In dem Gedicht Der Nervenschwache von Ernst Blass begegnet dieser der Prostituierten: Mit einer Stirn, die Traum und Angst zerfraßen, mit einem Körper, der verzweifelt hängt an einem Seile, das ein Teufel schwenkt, – So läuft er durch die langen Großstadtstraßen. […] Die Dirnen züngeln im geschlossnen Munde, Die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben. Ihn ängsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben, Zuhältermesser und die großen Hunde.109

Das „Wir“ der Künstlergruppe umfasste in der eigenen Darstellung alle, die außerhalb der moralischen Ordnung etablierter Bürgerlichkeit standen. Emphatisch formulierte etwa Ludwig Rubiner (1881–1920) in seinem Essay Der Dichter greift in die Politik: Wer sind Wir? Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige. Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen.110

Das Grenzüberschreitende dieser Liste war eher Geste als gelebter Alltag, vor allem Vehikel für Erkenntnissuche wie Gesellschaftskritik.111 Das „Wir“ konstituierte jedoch eine Heterotopie, in der sich temporär eine andere, „authentischere“ moralische Ordnung realisierte – zumindest für diejenigen, die (sich) dazu zählten. Ein privilegierter Ort dieser Heterotopie war das Café, das zugleich – und in Übereinstimmung mit der aus heutiger Sicht eher biederen Einrichtung – wie ein stabiler Ort im Raum der radikalen Infragestellung etablierter moralischer Ordnungen wirkte. Insbesondere im Rahmen von Lesungen, der Aufführung von Theaterstücken oder auch bei Bällen entstanden affektive Räume, die einer ‚anderen‘ moralischen 108 109 110 111

Guratzsch 2003, 18. Zu Unterschieden zwischen den beiden Figuren vgl. Schönfeld 1996, 118. Erste und letzte von vier Strophen, zitiert nach Anz 1980, 52. Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik, 1912. Zitiert nach Haug 1988, 62. Schönfeld 1996, 52 ff. und 113 f. Zur Leugnung sozialer Differenz vgl. ebenda, 116.

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Topographie zugehörten. Das Publikum, so schrieb Claire Jung (1892–1981) im Rückblick auf die Berliner expressionistischen Künstlerkreise, „saß hier in den meist kleinen, von Zigarettenrauch erfüllten Räumen, begierig lauschend“. Die meist jungen Menschen – damals zählte auch sie selbst dazu – fühlten, „daß in dem Pathos der Verse oder Prosa, die zwischen den Bildern von Kokoschka und Kandinsky, Max Pechstein und Franz Marc oder Paul Klee hier vorgetragen wurden, der Ausdruck eines neuen Lebensgefühls sich darstellte, das in die Zukunft wies und geistige Kräfte aktivieren sollte“.112 In diesem Kontext, in diesen Räumen stand die Figur der Prostituierten ebenso wie die des Wahnsinnigen für ein aus bürgerlichen Konventionen befreites Leben, insbesondere für eine befreite Sexualität.113 Nicht zufällig stehen in Rubiners Aufzählung neben Prostituierten auch die „Liebespaare inmitten der Umarmung“ – beide machen Begehren öffentlich sichtbar, in der Rede darüber erscheint die nicht erfüllte Sehnsucht nach intimer Nähe als Motor des eigenen Handelns. Viele der KünstlerInnen propagierten und/oder praktizierten Intimbeziehungen jenseits des Konzepts der bürgerlichen Kleinfamilie. Wenngleich diese Aneignung urbaner Räume vor allem Männern möglich war, überschritten auch Frauen die Grenzen zwischen dominanten bürgerlichen Anstandsregeln und großstädtischer Halbwelt – am bekanntesten hierfür ist Emmy Ball-Hennings (1885–1948), die in ihrer Berliner Zeit als Schauspielerin und Sängerin im Cabaret auftrat, als Modell und auch als Prostituierte arbeitete.114 Auch in expressionistischen Gedichten wurden innerstädtische Straßen und Plätze zu paradigmatischen Orten – allen voran wieder Friedrich- und Leipziger Straße, außerdem der Potsdamer Platz, der Neue Westen, die Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und der Tauentzien. Aber diese Orte sind mehr als Pars pro Toto für das Gesamtgebilde Stadt zu verstehen als in den zuvor betrachteten Romanen, Reportagen oder Erinnerungstexten von Böhme, Loewenherz oder Hammer. Die nächtlichen Wanderungen führten ziellos in das „Häusermeer“: Ihre Beschreibungen waren nicht geleitet von dem Wunsch, soziale Differenzen oder moralische Ordnungen im Stadtraum zu markieren, sondern strebten an, das als neu Erlebte der Stadt – auch in seiner Hässlichkeit – als Faszinosum und ästhetische Qualität festzuhalten. Letztlich schien die gesamte Stadt vorangetrieben von der sexuellen und erotischen Energie urbaner AkteurInnen. Die Anziehungskraft der Stadt artikulierte sich in Bekanntschaft und Liaison, die Stadt wurde zum Möglichkeitsraum, der auch dem eigenen Vergnügen diente. So wurde mit der Figur der Prostituierten zwar Urbanität greifbar (gemacht), doch die moralische Landschaft der Stadt blieb in den expressionistischen Darstellungen eher konturlos. Dass der Wahnsinn dabei manche der ProtagonistInnen im wahrsten Sinne des 112 Claire Jung: Erinnerung an Georg Heym und seine Freunde. Zitiert nach Raabe 1965, 45. 113 Vgl. auch Täuber 1997, 76. 114 Reetz 2001, bes. 61 f. sowie Schönfeld 1996, 120–127.

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Wortes einholte, gehört untrennbar zu diesem Aufbruch aus etablierten Ordnungen und Orientierungsrahmen dazu: Viele der ProtagonistInnen der Boheme kamen – freiwillig oder erzwungen – in psychiatrische Behandlung.115

Zum Figurieren von Stadt und Urbanität In der Figur der Prostituierten bündelten sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg Diskurse um Sexualität, Moral und Geschlecht; zugleich wurde mithilfe dieser Figur das Neue großstädtischer Räume und Praktiken greif- und verhandelbar gemacht. Für den Erkundungsgang am Schnittfeld von Stadt, Sexualität und Alterität bot sich die Figur der Prostituierten an, weil sich in dieser Figur Affirmation und Kritik der bürgerlichen heteronormativen Geschlechterordnung wie auch der dominanten Sexualmoral kreuzten. Beide, Geschlechterordnung und Sexualmoral, wurden in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg auf vielfältige Weise problematisiert, allen voran von der sich formierenden Frauenbewegung und der sich etablierenden Sexualwissenschaft. Die Stadt war dabei nicht nur Austragungsort sozialer und politischer Auseinandersetzungen, sondern wurde selbst auf zweifache Weise in diesen Verhandlungen zum Akteur: zum einen, indem urbane Struktur, die konkreten wie heterotopischen Räume, diesen Auseinandersetzungen eine Bühne bot; zum anderen aber auch, indem ‚der Stadt‘ in den Verhandlungen ein Akteursstatus zuerkannt wurde, der auch interessegeleitetes Handeln unsichtbar machen konnte. Ausgehend von der These, dass die Darstellung und Beschreibung von Prostitution nicht allein repräsentativen, sondern immer auch performativen Charakter hat, bin ich unterschiedlichen – vorrangig bürgerlichen – Thematisierungen und Problematisierungen gefolgt, die an die Figur der Prostituierten anschließen. Als Lotsin führte mich die Prostituierte dabei in die Vergnügungszentren rund um die Friedrichstraße wie auch in den Neuen Westen, die Figur verknüpfte sich mit sozialen Räumen, mit urbanen Infrastrukturen und Routinen, mit Vorstellungswelten und erhielt einen Platz in der moralischen Topographie Berlins. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um das Phänomen Prostitution selbst mitsamt seiner sozialen Verwerfungen und asymmetrischen Geschlechterbeziehungen konnte ich dabei einige der Praktiken identifizieren, mittels derer diese Figur inmitten von Stadt und Urbanität platziert wurde: Im Reden und Schreiben über Prostitution entstanden Wahrnehmungsmuster und Umgangsweisen mit Stadt, urbanen Lebenswelten und Phänomenen. Praktiken des (Ein-)Ordnens, Klassifizierens und Bewertens ließen die Stadt als Ganzes greifbar werden und formatierten zugleich legitime Praktiken im Umgang mit urbanem Raum. Ausschnitthaft sichtbar wurden damit auch Zirkulationsprozesse zwischen imaginärem, sozialem und physischem Raum. Stadt 115 Guratzsch 2003, Anz 1980, Dietze 2015.

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und Urbanität konstituierten und formten sich nicht nur durch Handeln im Raum, sondern auch in dem, wie Stadt gewusst und wahrgenommen wurde. Im Wechselspiel von Sayings und Doings, von räumlichen und diskursiven Praktiken, leitete die überaus schillernde Figur der Prostituierten Wahrnehmungs- und Aneignungsweisen des Urbanen, bestätigte, befragte und/ oder korrigierte Vorstellungen von Stadt und Urbanität. Besonders betont habe ich dabei Austauschprozesse zwischen Imagination respektive Repräsentation auf der einen und räumlichen Praktiken auf der anderen Seite. Die Texte zeigen, wie das Erkunden der Stadt und die Aneignung städtischer Räume und Angebote in das Darstellen und Reden über die Stadt einflossen und wie umgekehrt Gelesenes die Wahrnehmung von Stadt und Urbanität präfigurierte und bestätigte. Die Praktiken des Beschreibens, Einordnens und Bewertens waren dabei stets auch Teil von Prozeduren der Verräumlichung: Die Figur der Prostituierten wurde verbunden mit urbanen Infrastrukturen und eingebettet in eine moralische Topographie, die Personen, Praktiken und Dingen ihren (richtigen) Platz zuwies und Orte entsprechend normativer Wertsysteme kodierte – eben weil räumliche Praktiken und Artikulationen stets auch mit der Herstellung, Zirkulation und Aneignung von Normen und Werten verknüpft sind.116 Auf diese Weise wird Imagination im Sinne einer sozialen Praxis zum Schlüssel, um Ordnungsvorstellungen, Handlungsmaximen und Loyalitätskonzepte zu rekonstruieren.117 Eben weil Figuren in Prozesse der Klassifikation und Bewertung eingebunden sind, geben sie auch Auskunft über gesellschaftliche Bewertungsmatrizes und moralische Ordnungen, die mit räumlichen Anordnungen und Strukturen verknüpft werden. Indem Moral – und die mit ihr verknüpften (be-)wertenden Einschätzungen von Personen, Praktiken, Situationen und Verhältnissen – nicht als normativer Wertmaßstab, sondern als kontingenter und kontextspezifischer Prozess der Herausbildung von Normensystemen verstanden wird, wird die Stadt als eine moralische Landschaft sichtbar, in der Menschen, Dingen und Praktiken ihr jeweiliger Ort zugewiesen wird.118

116 Vgl. auch Fassin 2012, Zigon 2008 und 2007. 117 Appadurai schreibt: „The world we live in today is characterized by a new role for the imagination in social life. To grasp this new role, we need to bring together the old idea of images, especially mechanically produced images (in the Frankfurt School sense); the idea of the imagined community (in Anderson’s sense); and the French idea of the imaginary (imaginaire) as a constructed landscape of collective aspirations, which is no more and no less real than the collective representations of Emile Durkheim, now mediated through the complex prism of modern media.“ (Appadurai 1996, 31) Vgl. auch Stoetzler und Yuval-Davis 2002. 118 Cresswell 2007, 128. Das Konzept der moralischen Geographie, das auf Raum und Prozesse der Verräumlichung fokussiert, argumentiert somit im Sinne von Paul Rabinows Anthropologie der Vernunft (Rabinow 2004). Dabei interessiert sowohl das, was im Sinne eines Common Sense am richtigen Platz scheint, als auch die Momente, die zur Verhandlung stehen und sich als Kämpfe um Raum im Raum artikulieren.

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Sexualität, vor allem sexuelle Alterität, so die hieran anschließende These, hatte maßgeblich an diesem Konstitutionsprozess teil, als Faszinosum und moralischer Skandal, als lebensweltliche Erfahrung und zu beobachtendes Phänomen. Romane, Berichte, Reportagen und Gedichte über Prostituierte waren Teil des Wissens um die Stadt, die Figur der Prostituierten wurde in die Landschaft urbaner Konsum- und Vergnügungsangebote eingeordnet, deren Bedeutung wiederum vor dieser Folie diskutiert. Die Figur der Prostituierten verkörperte spezifische Aspekte des metropolitanen Charakters Berlins, der je nach Standpunkt und Weltanschauung bewertet wurde. Dabei entstanden in der Auseinandersetzung mit dem als alteritär Klassifizierten Routinen der Beschreibung, Einordnung und Aneignung der Stadt. Die Figur der Prostituierten und die sie begleitenden Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen dabei auch auf einen Moment des „moral breakdown“119: Die dominante moralische Ordnung funktioniert nicht (mehr) ‚störungsfrei‘, sondern wird als problematisch und widersprüchlich wahrgenommen. Der Blick von den Diskussionen um Geschlecht, Sexualität und Moral auf Stadt und Urbanität legt Prozesse der Aushandlung räumlicher wie moralischer Ordnungen frei. 120 Die Konfiguration moralischer Topographien wie auch die Infrastrukturen der Alterität sind Argumentationsstoff wie Beharrungsmoment gleichermaßen: Sie verleihen dem Wunsch nach dem Ver-Rücken Gewicht, bilden zugleich ein Widerstandspotenzial gegen schnelle Veränderungen. In ihnen sind rechtliche Regulierungen, dominante Deutungen und politische Interessen sedimentiert, die durch Imagination und taktisches Manövrieren verfestigt, aber auch verflüssigt werden können. Der Wahnsinn steht bei diesen Erkundungen in doppelter Weise Pate: Die Figur der Prostituierten war, das wurde bei meinem Erkundungsgang deutlich, auf mindestens dreifache Weise mit dieser spezifischen Form der Alterität verknüpft: erstens in Hinblick auf die Frage nach den psychopathologischen Hintergründen der Prostitution, zweitens als individuelle Antwort auf die nicht mehr zu verkraftende Entgrenzung urbaner Handlungsräume und Milieus und drittens schließlich als Beschreibungsrepertoire vor allem dort, wo moralisches wie sensuelles Erleben grundsätzlich infrage gestellt zu sein schien. Auf diese Weise durchzog der Wahnsinn die Räume der Großstadtproduktion und bildete seinerseits eine Schnittfläche zwischen imaginärem, sozialem und physischem Raum.

119 Zigon 2007. 120 Vgl. Zigon 2008, 18 ff., Fassin 2012, 7. Foucault (1989, 36–45) versteht Moral im umfassenden Sinn als das Zusammenspiel eines Sets von Regeln, dem auf dieses bezogenen Handeln und individuellen Selbstentwürfen.

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II. Abwege der Routine

Anne Gnausch und Volker Hess

Rettungswesen, Stadtmission und die Psychiatrisierung des Suizids, 1885–1930

Entsetztes Erstaunen steht am Anfang dieses Beitrags: Heute sterben mehr Menschen durch die eigene Hand als im Straßenverkehr. Wie in den Vorjahren verunglückten im Jahr 2012 in Deutschland knapp 4.000 Menschen im Autoverkehr tödlich, rund 10.000 hingegen nahmen sich selbst das Leben. Doch der Umgang damit ist paradox: Während seit Jahrzehnten alle erdenklichen Anstrengungen (Einführung des Sicherheitsgurtes, Bau von Fahrradstraßen etc.) zur Reduktion der Zahl der Verkehrstoten unternommen werden, gibt es keine vergleichbaren Anstrengungen, die hohe Rate der Selbsttötungen zu reduzieren. Dabei sprechen die nackten Zahlen eine deutliche Sprache: Auf jede Selbsttötung kommen 10 bis 15 Suizidversuche, rund 30 Prozent aller Sterbefälle durch äußere Ursachen gehen auf das Konto der „vorsätzlichen Selbstbeschädigung“ (so der Terminus des Statistischen Bundesamtes) zurück, und in der Gruppe der jungen Erwachsenen ist Selbsttötung die häufigste Todesursache überhaupt. Selbstmord oder Suizid ist dennoch kein Thema, das die Gesellschaft beunruhigt.1 Das war nicht immer so. Vor rund 100 Jahren stand die Selbsttötung im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, und zwar in der breiten Öffentlichkeit der Tagespresse ebenso wie in der Fachöffentlichkeit der Seelsorger, Pädagogen, Ärzte und Gesundheitspolitiker. 1927 lagen mehr als 5.000 eigenständige Schriften zu diesem Thema vor, die Zahl der Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften ist Legion.2 Heute hingegen sind die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Suizidzahlen kaum eine Notiz wert. Warum beunruhigt der Freitod oder Selbstmord unsere Gesellschaft nicht mehr? Die Antwort scheint einfach: Suizid ist ein Problem der Medizin geworden. Selbsttötung wird heute als Zeichen einer Geisteskrankheit betrachtet. Neueren Metastudien zufolge sollen rund 90 Prozent aller Selbsttötungen mit einer psychischen Erkrankung einhergehen. Nach psychiatrischem Verständnis gilt – unbenommen aller methodischen Schwierigkeiten – jeder Suizid letztlich als Resultat einer krankhaften Entwicklung.3 Laut WHO gehen allein 65 bis 1 2 3

Aufgrund ihrer sachlich neutralen Form bevorzugen wir im Folgenden die analytischen Begriffe „Suizid“ und „Selbsttötung“. Die negativ konnotierten Begriffe „Selbstmord“ und „Selbstmörder“ hingegen bezeichnen den historischen Gegenstand. Rost 1905. Eine Recherche in der Datenbank Vossische Zeitung online 1918–1934 lieferte für den Suchbegriff „Selbstmord“ in der Volltextsuche 3571 Ergebnisse, in der Beitragstitelsuche 1.682 Ergebnisse. http://db.saur.de/VOSS (Stand 23.10.2014). Cavanagh u. a. 2003, Hawton/van Heeringen 2009, 1374. Vgl. Rubenach 2007, 961.

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Anne Gnausch und Volker Hess

90 Prozent aller Selbsttötungen auf Depressionen zurück, nicht eingerechnet andere Diagnosen wie bipolare Störungen oder Schizophrenie.4 Wer sich selbst umbringt, ist krank. Das ist auch Tenor der öffentlichen Debatte. Wenn eine Selbsttötung in die Schlagzeilen gerät wie im Fall von Hannelore Kohl (2001), Robert Enke (2009) oder Robin Williams (2014), dann wird mit der öffentlichen Berichterstattung zugleich auch eine bessere Betreuung von Schwerkranken gefordert oder ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Depression angemahnt.5 Wenn heute über Suizid in der Öffentlichkeit gesprochen wird, dann gilt er als Folge einer psychischen Affektion oder Erkrankung. Diese Psychiatrisierung des Selbstmords, wie man die Verschiebung der Selbsttötung in den Bereich der psychiatrischen Erkrankungen bezeichnen könnte, stellt ein rezentes Phänomen dar.6 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war man sich weitgehend darin einig, dass der Suizid vor allem ein soziales Phänomen und Folge der sozialen Verhältnisse des Gemeinwesens sei. Betrachtete der französische Soziologe Émile Durkheim (1858–1917) den Suizid weitgehend neutral als unvermeidlichen, nur im Ausmaß veränderlichen Ausdruck sozialer Strukturen, so werteten andere den Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation oder gar als Zeichen des moralischen Verfalls. Selbst viele Psychiater gingen am Ende des 19. Jahrhunderts noch davon aus, dass nur einem Drittel aller Selbsttötungen eine Geisteskrankheit zugrunde liege.7 Erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurde aus dem sozialen ein medizinisches Phänomen. Diskursmächtige Psychiater wie Robert Gaupp (1870– 1953) hatten sich des Themas angenommen.8 Sie plädierten auf der Grundlage klinischer Daten dafür, Selbstmord grundsätzlich als Zeichen einer psychischen Erkrankung zu erachten.9 Im Folgenden möchten wir am Beispiel Berlins aufzeigen, dass diese Verschiebung der Selbsttötung in den psychiatrischen Verantwortungsbereich auch als Vorgang einer ‚Entsorgung‘ begriffen werden kann. ‚Entsorgung‘ ist hierbei wörtlich wie im übertragenen Sinne gemeint: Zunächst wurden die nach einem Suizidversuch aufgegriffenen Menschen durch die Einlieferung in die Psychiatrie ent- und versorgt. Die Psychiater stellte die neue Klientel jedoch vor erhebliche Probleme: Was tun mit PatientInnen, für die es bis dahin keine Dia­ gnose, geschweige denn eine Therapie gab? Wohin mit den Menschen, die nicht ‚richtig‘ 4 5 6 7 8 9

Krug u. a. 2002, 192. Vgl. exemplarisch den Artikel: Suizid und Depression. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Achtsamkeit! Tagesspiegel 6.2.2015. http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/suizid-und-depression-mehr-aufmerksamkeit-mehr-achtsamkeit/11328368.html (Stand 7.2.2015). Vgl. Minois 1996, Bähr/Medick 2005, Evans/Farbrerow 2003. Masaryk 1881, 108, Kraepelin 1904, 375. Rehfisch 1893, Leubuscher 1900, Baer 1901, Gerling 1904, Gaupp 1905, Stelzner 1906, Freudenberg 1926, Donalies 1928, Gruhle 1940. Vgl. Leins 1991.

Psychiatrisierung des Suizids

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geisteskrank waren, wohl aber einer besonderen Aufsicht und Kontrolle bedurften? Die Antwort lieferte die Deutung des Suizids als Symptom einer Geistesschwäche oder Charakterstörung. Die Pathologisierung dieser neuen Patientengruppe entzog der Milieutheorie den Boden. Als medizinische Diagnose beziehungsweise als Ausdruck einer individuellen Störung des Geisteszustandes begriffen, gab der Suizid keinen Anlass für eine gesellschaftliche Sorge. Die Individualisierung der sozialen Not und ihre Deutung als psychisches Problem des Einzelnen haben wesentlich zur Ent-Sorgung einer gesellschaftlichen Verantwortung für den Suizid beigetragen. Vorangetrieben wurde diese Verschiebung wesentlich von der Konjunktur zwischen Rettungswesen und Psychiatrie, ein mehr oder minder unbeabsichtigter Effekt der Herausbildung einer großstädtischen Infrastruktur. Dieses Argument werden wir durch den Einbezug alternativer Handlungsstrategien untermauern. Denn die Psychiatrisierung des Suizids war nicht die einzige Option für den Umgang mit diesem Phänomen. Andere Institutionen wie die der Inneren Mission oder der Heilsarmee entwickelten alternative Formen der Betreuung und Versorgung von SuizidentInnen. Die Psychiatrisierung des Suizids war somit nicht Ursache für die Beschäftigung der Psych­ iater mit suizidalen Menschen, sondern die Folge einer unvorhergesehenen und keineswegs intendierten Konfrontation mit diesem Problem. Es war die Metropole Berlin, die den Psychiatern dieses Problem – bildlich gesprochen – vor die Füße spülte, genauer: Es war eine für die moderne Großstadt spezifische Entwicklung, der sich diese Zuweisungspraxis verdankte. Nicht Industrialisierung, große Wohndichte, Verkehrs- und Trinksitten, Rauschgiftsucht oder Bindungslosigkeit, sondern der Aufbau eines zunehmend effektiven Rettungsdienstes war der Grund. Auf diese sehr spezifische historische Entwicklung – den Aufbau eines Rettungswesens – verweisen die in den Krankenakten festgehaltenen Aufnahmeszenarien.

Das Rettungswesen als urbane Infrastruktur der Moderne Organisierte Formen einer medizinischen Notfallversorgung lassen sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisen. Erst die Einführung der Unfallversicherung 1894 verlieh jedoch den Initiativen bürgerlicher Philanthropie und christlicher Nächstenliebe eine systematische Bedeutung. Denn die Forderung nach einer raschen und effizienten Erstversorgung von Arbeitsunfällen zog den Aufbau der sogenannten Rettungskette nach sich: Den Sofortmaßnahmen am Unfallort folgte der Notruf, die mobile Erste Hilfe leistete die medizinische Erstversorgung und der Rettungstransport fuhr das nächstgeeignete Krankenhaus an. Dieses zwischen 1895 und 1903 in Berlin entworfene Schema hatte einen wegweisenden Charakter für die institutionelle Ausdifferenzierung der medizinischen Notfallversorgung im Deutschen

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Anne Gnausch und Volker Hess

Reich.10 Gründung und Ausbau, Finanzierung und Trägerschaft sowie Aufgaben und Tätigkeitsbereich des Berliner Rettungswesens sind Thema des folgenden Abschnittes. Bei Reichsgründung gab es zwei Berliner Sanitätswachen, die bis Anfang der 1890er-Jahre auf gut 25 Wachen erweitert wurden. Ihre Aufgabe bestand wesentlich in der Entlastung der niedergelassenen Ärzte außerhalb der regulären Sprechzeiten. Mit knapp 100.000 Behandlungen (Angabe für 1895) übernahmen sie einen beachtlichen Anteil der ambulanten Versorgung. Mit der Gründung der gewerblichen Berufsgenossenschaften wurde die subsidiäre, lokal organisierte Notfallbereitschaft in eine systematische Notfallversorgung überführt. Bereits zu Beginn des Jahres 1894 wurden die ersten Unfallstationen gegründet, die im Unterschied zu den bisherigen Sanitätswachen neben einem ärztlichen Tagesdienst auch über „eine stationäre Klinik mit vollständiger, den neuesten Anforderungen entsprechender chirurgischer Ausstattung“ verfügten.11 Mit zunehmendem Misstrauen beäugte die Berliner Ärzteschaft das parallele Versorgungssystem, das mit den berufsgenossenschaftlichen Unfallstationen im öffentlichen Raum entstand. Spät, aber umso heftiger, zog sie gegen die Unfallstationen ins Feld. Vor allem Ernst von Bergmann (1836–1907) mobilisierte die Berliner Politik und Ärzteschaft gegen die von ihm als „Privatunternehmen“ verunglimpften Unfallstationen und trieb den Aufbau eines Rettungsdienstes voran, der den Universitätskliniken und Städtischen Krankenhäusern als verlängerter Arm dienen sollte. Die Herausbildung und Etablierung der institutionell-funktionalen Strukturen des modernen Rettungswesens kann somit als eine Antwort auf den Aufbau der berufsgenossenschaftlichen Einrichtungen gelten.12 Als Ende 1897 schließlich die Berliner Rettungsgesellschaft aus der Taufe gehoben wurde,13 wurden die bis dahin konkurrierenden Einrichtungen zusammengefasst und ihre Aufgaben und Funktionen weiter ausdifferenziert. Um 1900 gewährleisteten Sanitätswachen die Erstversorgung von Hilfebedürftigen und Verletzten, Unfallstationen deren Einlieferung in eine stationäre Einrichtung und die mit mindestens einer Transportkutsche ausgestatteten Rettungswachen sollten den raschen Transport vom Unfallort in ein Krankenhaus sicherstellen14 und „jeden[n] Punkt der Stadt in höchstens zehn Minuten“ erreichen.15

10 Goldmann 2000, 18. 11 Rundschreiben des Reichsversicherungsamtes an die Berliner gewerblichen Berufsgenossenschaften vom April 1894. Zitiert nach Goldmann 2000, 169. 12 Ebenda, 21 und 170. 13 Vgl. hier und im folgenden Goldmann 2000. 14 Prenzel 1969, 45. 15 Ärzteverein West-Berlin 1890, 13.

Psychiatrisierung des Suizids

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Abb. 1: Verteilung der Rettungswachen [Vollwachen] (2), der Rettungswachen mit Sanitätswachen (4), der Sanitätswachen (9), der Unfallstationen (5), der Unfallstationen mit Sanitätswachen (7) in der Berliner Innenstadt 1907.

Die Kommunalisierung der Berliner Rettungsgesellschaft 1913 überführte das rasch wachsende Netzwerk des Rettungswesens nicht nur in städtische Hand16, sondern gab ihm durch eine „feste Organisation“ und „Centralisirung“ einen „officiellen Charakter gleich dem der Feuerwehr“. Kontinuierlich wurde die urbane Infrastruktur weiter ausgebaut. Im Jahr 1907 gab es 16 Prenzel 1969, 252.

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Anne Gnausch und Volker Hess

neben den 13 „Hauptwachen“ in den großen Krankenhäusern Berlins sieben Rettungswachen (zwei Vollwachen und fünf Tageswachen), 13 Sanitätswachen und 14 Unfallstationen.17 1908 wurden durch das Berliner Rettungswesen nach amtlichen Angaben rund 13.000 Fälle behandelt. Auch die Zahl der Krankentransporte stieg rasch. Von 1905 bis 1911 kamen die Rettungswagen bereits weit über 100.000-mal zum Einsatz – meist mit öffentlichen Krankenhäusern als Ziel.18 Der Einsatz automobiler Fahrzeuge beschleunigte und intensivierte den Krankentransport. Im Zuge dieses Ausbaus wurde das Rettungswesen mehr und mehr als städtische Aufgabe begriffen, nämlich als notwendiges Element einer urbanen Daseinsfürsorge.19 Von den im Jahr 1906 insgesamt erbrachten 153.774 „Hülfsleistungen“ im Deutschen Reich entfielen 68.500 auf Berlin einschließlich Charlottenburg und Schöneberg, auf München hingegen nur 19.500.20 Diese „Hülfsleistungen“ wurden auch den Opfern von Suizidversuchen zuteil. In den peripheren Rettungswachen wurden zwischen April 1912 und März 1913 342 „Selbstmorde und Selbstmordversuche” versorgt.21 Statistisch gesehen kam damit auf zwei erfolgreiche Suizidversuche ein Suizidversuch, der durch die neue Einrichtung „gerettet“ wurde.22 Die Zahlen der folgenden Jahre zeichnen ein ganz ähnliches Bild: 1914 meldete die Statistik 778 Suizide in der Reichshauptstadt, in den Rettungswachen versorgt wurden 335 ­SuizidentInnen; im darauf folgenden Jahr waren es 589 Suizide, während 297 SuizidentInnen über die Rettungswachen versorgt wurden.23 Diese Zahlen machen eines deutlich: Mit dem Auf- und Ausbau des Rettungswesens wurden die Krankenhäuser zunehmend in die Versorgung suizidaler Menschen eingebunden. Das brachte auch die Psychiatrie ins Spiel. Ein prominentes Beispiel gibt München. Auch dort wurde am Ende des 19. Jahrhunderts ein zentraler Rettungsdienst aufgebaut.24 Dieser lieferte das Material für die einflussreichen Schriften von Robert Gaupp. Denn ermöglicht wurden Gaupps Untersuchungen durch „die sehr vernünftige Sitte, jeden Menschen, der bei Ausführung eines Selbstmordversuchs betroffen wird, kurzerhand im Sanitätswagen in die psychiatrische Klinik zu bringen“, da „auf dem Einweisungsformular [...] unter der Rubrik ‚Krankheit‘ de[r] ‚Vermerk Selbstmordversuch‘“ notiert war.25 17 18 19 20

Die Verwaltungsberichte über das Berliner Rettungswesen, 1908–1916. LAB Rep. 000-02-01 Nr. 1804. Meyer 1905, 33. Vgl. Pütter 1911, 766. Zentralkomitee für das Rettungswesen in Preussen. Denkschrift (1906). GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl Friedrich Theodor Althoff, Nr. 362 Rettungswesen Berlin. 21 Ebenda. 22 In den offiziellen Suizidstatistiken wurden keine Suizidversuche, sondern nur vollendete Suizide erfasst. 23 Vgl. Elsner 1983, 218–239. 24 Steininger 2009, 5. 25 Gaupp 1910, 20 f.

Psychiatrisierung des Suizids

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Es war folglich nicht, wie wir behaupten möchten, der hitzige Diskurs über die Ursachen des Suizids und dessen mögliche Pathologie, der die Psychiater mit dem Problem konfrontierte. Vielmehr ließ die Integration der psychiatrischen Anstalt in ein kommunales Versorgungssystem die psychiatrische Klinik in die vorderste Front der Erstversorgung treten. Nicht Wegsperren, sondern Versorgung war durch die Integration in das kommunale Rettungswesen gefordert. Das hatte, so die zweite These, Auswirkungen auf den Umgang mit den unglücklich aufgegriffenen Menschen: Weniger die Kontrolle und Verhinderung weiterer ­Suizidversuche, sondern die weitere Betreuung der betroffenen Menschen war die Aufgabe, der sich die Psychiatrie zu stellen hatte.

Der hospitalisierte Suizid Der Auf- und Ausbau des Rettungswesens lässt sich in den Aufnahmebüchern der Berliner Nervenklinik gut verfolgen. Wurden vor der Jahrhundertwende knapp 2,8 Promille der ­PatientInnen wegen eines Conamen suicidii aufgenommen, so waren es in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende deutlich über 10 Promille. Diese Zunahme um das Drei- bis Vierfache scheint angesichts der kleinen Zahlen nur marginal zu sein, doch stehen diese Angaben auf einer verlässlichen Quellengrundlage. Ausgewertet wurden zwei Samples: Das erste Sample (n=7.862) basiert auf der Erfassung von etwa drei Viertel aller überlieferten Krankenakten im Zeitraum von 1880 bis 1899 in einem elektronischen Findbuch. Die zweite Stichprobe (n=6.212) beruht auf einer Auswertung der Diagnose- beziehungsweise Aktenfindbücher von 1910 bis 1932, wobei pro Jahr allerdings nur drei Monate (März, Juli und November) erfasst wurden.26 In diese Stichprobe eingeschlossen wurden alle Aufnahmen, die wegen eines Suizidversuchs oder unter einer Diagnose, die einen Suizidversuch vermuten ließ (Luminalintoxikation, Veronalvergiftung, Leucht- oder Stadtgasvergiftung etc.), in die Berliner Charité kamen. Auf diese Weise haben wir insgesamt 22 Suizidfälle für die zwei Jahrzehnte vor und 66 Fälle für die Zeit nach der Jahrhundertwende nachgewiesen.27 Dabei ist zu beachten, dass der höheren Fallzahl eine Auswertung von nur jeweils drei Monate pro Jahr zugrunde liegt. Der absolute Anstieg suizidaler PatientInnen ist somit beachtlich. Erst eine qualitative Auswertung der Krankenakten, soweit sie erhalten sind,28 offenbart den Grund für diese deutliche Zunahme: Wurde in den Jahren vor der Jahrhundertwende 26 Das Jahrzehnt 1900 bis 1909 ist leider noch nicht erfasst. 27 Der Anteil der Frauen (n=27) im Sample 1910 bis 1932 entspricht der üblichen Verteilung von 40 zu 60. Für die Zeit vor 1900 sind keine Frauenakten überliefert. 28 Da die zweite Stichprobe auf den Angaben der Diagnose- beziehungsweise Aktenfindbücher basiert, sind alle Aufnahmen berücksichtigt, auch die jener Patienten, deren Krankenakte nicht erhalten blieb beziehungsweise bei erneuter Aufnahme in einem anderen Jahresbestand archiviert wurde.

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Anne Gnausch und Volker Hess

die Mehrzahl der unter den genannten Diagnosen aufgenommenen PatientInnen noch von einem niedergelassenen Arzt eingewiesen oder von einer anderen Abteilung aus dem eigenen oder einem anderen allgemeinen Krankenhaus überwiesen, so erfolgte in den Jahren zwischen 1910 bis 1932 eine Aufnahme in der psychiatrischen Klinik zunächst bevorzugt, und schließlich sogar ausschließlich im Zuge der Notfallversorgung. Tabelle 1: Aufnahmewege bei „versuchtem Selbstmord“ in die Nervenklinik der Charité

Einweisung Verlegung* Rettungswache* unbekannt

1880–1889 2 8 1

1890–1899 2 2 3 1

1910–1919 2 4 3 1

1920–1929 6 1 12

1930–1932 0 1 10

*Mehrfachnennungen möglich

Diese Veränderung vollzog sich allmählich über einen Zeitraum von fast vier Jahrzehnten. Auch wenn in dieser Hinsicht mit dem Jahr 1900 kein neues Zeitalter begann, lassen sich doch zwei Konstellationen idealtypisch unterscheiden: Vor 1900 wurden die unter der Dia­ gnose „Selbstmordversuch“ behandelten Personen im damals üblichen Verfahren aufgenommen. Unabhängig davon, ob der PatientIn von zuhause oder aus einer anderen Krankenhausabteilung kam: In jedem Falle wurde die Notwendigkeit einer Behandlung in der psychiatrischen Klinik durch ein Attest von zwei Ärzten bestätigt. Selbst wenn die Einweisung über ein Polizeirevier erfolgte, so war doch immer ein Amtsarzt daran beteiligt, der die für eine Aufnahme erforderliche „Gemeingefährlichkeit“ attestierte. Diese Menschen waren, soweit sich das aus den Krankenakten beurteilen lässt, in der Regel auch ernsthaft krank. Ohne der Versuchung einer retrospektiven Diagnostik zu verfallen, sprechen die in der Aufnahmeuntersuchung dokumentierten Beobachtungen und Befunde für eine ausgeprägte psychopathologische Symptomatik: So wurde Anton Sch., der 1887 über die neurologische Abteilung in die Psychiatrie verlegt wurde, immer wieder von Stimmen gequält, von denen er sich nicht hatte distanzieren können: „Geh ins Wasser, du bist nichts werth.“29 Ebenfalls in Wasser gegangen, aber von Schiffern herausgezogen worden, war Wilhelm G., der Kaiser und König durch anarchistische „Umtriebe beleidigt zu haben“ glaubte.30 Unter „ausgesprochenen Beeinträchtigungsideen und Verfolgungsideen“ litt auch der Schlosser Albert H., der 29 Krankenblatt von Anton Sch., HPAC, 1887/3639-M (Diagnose: „Suicidversuch“). 30 Krankenblatt von Wilhelm G., HPAC, 1898/6112-M (Diagnose: „Suicidium“).

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im Frühsommer 1887 vom Elisabeth Krankenhaus nach der Erstversorgung seiner Stichverletzungen in Brust und Armen in die psychiatrische Abteilung der Charité verlegt worden war. Ebenso war Jakob Z. den Chirurgen zufolge, die nach einem Selbstmordversuch seine Verletzungen versorgt hatten, „von schweren melancholischen Ideen befallen“.31 Friedrich K. hingegen hatte keine „eigentlichen Wahnvorstellungen“. In seinem alkoholischen Delir vermittelte er jedoch den „Eindruck eines Verrückten“, weshalb ihn der Arzt auf dem zuständigen Polizeirevier in die Psychiatrie einwies.32 Alkohol war auch der Grund, weshalb sich Emil L. im Sommer 1898 das Leben nehmen wollte. Er hatte „einen Suppentopf voll“ Ätznatron getrunken. Nach nur wenigen Tagen wurde der Arbeiter in die Medizinische Klinik verlegt, wo er zehn Tage darauf an einer diffusen Bauchfellentzündung verstarb.33 Natürlich sind solche zeitgenössischen Zuschreibungen mit Vorsicht zu behandeln. Denn man könnte davon ausgehen, dass die beteiligten Ärzte schnell, wenn nicht sogar vorschnell mit einer Diagnose zur Hand waren, die eine psychiatrische Hospitalisierung rechtfertigte. Diese Arbeitshypothese wird von den überlieferten Krankengeschichten jedoch nur teilweise bestätigt. So erkannten die Chirurgen oder Internisten zwar schnell auf die Diagnose einer „gemeingefährlichen Geisteserkrankung“. Doch die Psychiater revidierten nicht selten solche Zuschreibungen. Ein prägnantes Beispiel gibt die Behandlung von Johann S. im Winter 1882. Da sie bei einer „melancholischen Stimmung“ und „Verfolgungsideen“ das „Auftauchen neuer Selbstmordideen“ fürchteten, hatten die Internisten den 22-jährigen Studenten der Chemie rasch in die psychiatrische Abteilung verlegt. Dort konstatierte der Aufnahmebefund einen ruhigen, „aber wenig begabten Menschen“. Der hatte seinen eigenen Angaben zufolge im Laboratorium „Alkohol getrunken, was die Ungarn immer trinken. Danach sei er betrunken geworden und [...] umgefallen“, weshalb ihn zwei Assistenten hierher gebracht hätten. Das war für die Psychiater kein Grund, ihn als geisteskrank zu hospitalisieren. Zwar wirkte der junge Mann etwas „verlangsamt und infantil“, doch bei der Demonstration im Hörsaal „nach seinen Analysen“ befragt, schrieb er „die betreffenden Formeln geläufig an die Tafel“. Von „einem Aufregungszustand ist nichts zu bemerken“, hieß der Entlassungsbefund nach acht Tagen.34 Auch der Schumacher Paul R., den der Arzt du jour wegen „Grübelsucht“ und suizidalen Neigungen den Psychiatern überwies, blieb nicht lange dort. Arbeitskollegen hatten den Schumacher zur Charité gebracht, weil er ein „völlig geistiges verändertes Verhalten gezeigt“ habe: Während „er [sonst] bei seiner Arbeit fast ununterbrochen sang, ließ er heute dasselbe völlig ruhen, zeigte ein verstörtes Wesen, stierte mit leidenden Gesichtsausdruck vor 31 32 33 34

Krankenblatt von Jakob Z., HPAC, 1888/579-M (Diagnose: „schwere melancholische Ideen“). Krankenblatt von Friedrich K., HPAC, 1885/6156-M (Diagnose: „alkohol. Irresein“). Krankenblatt von Emil L., HPAC, 1898/1475-M (Diagnose: „Suicidium “). Krankenblatt von Johann S., HPAC, 1882/1423-M (Diagnose „Imbezillität“).

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sich hin, [und] sprach auch viel verkehrtes Zeug“.35 Für die Psychiater ergab sich daraus aber keine Gemeingefährlichkeit. Sie schickten den jungen Mann nach sechs Tagen wieder nach Hause. Tabelle 2: Suizid und Geisteskrankheit

Conamen suicidii davon geisteskrank von Delir nicht geisteskrank

1880–1889 10 5 2 3

1890–1899 8 4 0 4

1910–1919 10 1 1 8

1920–1929 19 2 0 16

1930–1932 10 0 0 10

Solche Beispiele verweisen nicht nur auf unterschiedliche Toleranzschwellen im Alltag, im Krankenhausbetrieb und in der Psychiatrie. Sie belegen zugleich, dass die Diagnose einer gemeingefährlichen Geistesstörung nicht leichtfertig vergeben wurde. Vielmehr ist anzunehmen, dass in jenen Jahren die unter der Diagnose eines Suizidversuchs aufgenommenen ­Patienten in der Regel ernsthaft psychisch erkrankt waren. Sie mögen ihrer „Selbstmordneigung“ wegen in die psychiatrische Abteilung eingewiesen worden sein, behandelt wurden sie jedoch wegen ihrer psychischen Erkrankung. Das zeigt auch die psychiatrische Anamnese. Die meisten suizidalen Patientinnen blickten auf eine einschlägige Vorgeschichte zurück. So war Leopold S., der sich im Juli 1883 in die Brust geschossen hatte, bereits eineinhalb Jahre auf einer „Irrenstation“ untergebracht gewesen.36 Auch der schon erwähnte Wilhelm G. war wenige Monate vor seiner erneuten Aufnahme aufgrund seiner Verfolgungsideen stationär behandelt worden. Wilhelm B. hingegen, der wegen seines „Nervenleidens in den Nordhafen gesprungen war“, befand sich in der offenen Familienpflege bei seiner Frau.37 Der Suizidversuch war Anlass, aber nicht Grund der Hospitalisierung. Dies änderte sich nach der Jahrhundertwende drastisch. Die Gruppe der suizidalen Patienten stellt sich nun in einer anderen typologischen Konstellation dar – in mehrfacher Hinsicht: Zunächst kamen die Patientinnen immer seltener mit einem formalen Einweisungsgutachten in die Klinik. Obwohl gesetzlich weiterhin gefordert,38 war für die formelle Bescheinigung 35 Aufnahmeattest des Arztes du jour (Arzt vom Dienst), HPAC, 1885/1203-M. 36 Krankenblatt von Leopold S., HPAC, 1883/5602-M (Diagnose: „Suicidversuch“). 37 Krankenblatt von Wilhelm B., HPAC, 1897/590-M (Diagnose: „Hirnerweichung“). Zur Familienpflege siehe Falkenberg 1898 sowie Beddies/Schmiedebach 2001. 38 Es findet sich stattdessen ein Vordruck der Rettungswache, mit dem die Krankenhausbehandlungspflichtigkeit (so der moderne Terminus technicus) bescheinigt wurde.

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einer Geisteskrankheit in der Routine einer Notfallversorgung offenbar kein Platz.39 Dem mag die Verfügung vom 26. März 1901 Rechnung getragen haben, die eine beschleunigte Einweisung bei „besonderer Dringlichkeit“ ermöglichte.40 Das spiegeln auch die von uns eingesehenen Krankenakten wider. Wie Tabelle 1 zeigt, imponiert ein Aufnahmemodus, der vor der Jahrhundertwende offenbar keine Rolle gespielt hatte: So findet sich nach 1900 wiederkehrend die Aufnahmefigur41 „wird mit Krankenwagen eingeliefert, ist dösig und verlangsamt in allen Reaktionen“42 oder wird „von zwei Transporteuren im komatösen Zustand in die Klinik eingeliefert“.43 Manche Patientinnen wurden dem diensthabenden Nervenarzt sogar „fast leblos“ oder „bewußtlos“ auf der Tragbahre liegend im wahrsten Sinne des Wortes vor die Füße gekarrt.44 Auf diesem Wege wurden in den Jahren der Weimarer Republik zunächst die Hälfte, schließlich fast alle nach einem Selbstmordversuch aufgenommenen Patienten von Transporteuren oder Schutzleuten eingeliefert. Mit einem Wort: Nicht das Attest oder Gutachten eines einweisenden Arztes, sondern das neu aufgebaute Berliner Rettungswesen brachte die suizidalen Menschen nach 1900 in die Klinik. Dabei kam eine andere Rationalität zum Tragen. Einweisung und Einlieferung wurden nun als kommunale Dienstleistung zentral organisiert. Die Verteilung der nach einem Suizidversuch aufgegriffenen Menschen auf die zahlreichen Berliner Krankenhäuser erfolgte nicht zufällig. Da im nächstgelegenen Krankenhaus oft kein Krankenbett frei war, wurde im Frühjahr 1906 eine Zentralmeldestelle eingerichtet.45 25 Krankenhäuser aus dem GroßBerliner Raum übermittelten mehrmals täglich über eine direkte Fernsprechverbindung die Anzahl ihrer freien Betten an die zentrale Meldestelle im Rathaus. Ab Sommer 1907 partizipierte auch die Berliner Rettungsgesellschaft an der kommunalen Einrichtung.46 Die Stadt hatte jedem Bezirk bestimmte Krankenhäuser zugeordnet, dabei aber die staatliche „Charité sehr kümmerlich bedacht, die psychiatrische Klinik sogar ganz ausgeschaltet“, wie der Verwaltungsleiter klagte.47 Da die Stadt der hohen Tagessätze wegen städtische Einrichtungen 39 40 41 42 43 44

Erlass von 1895 und 1896. Verfügung von 1901. Vgl. hierzu Dohrmann 2015, 80. Krankenblatt von Georg G., HPAC, 1928/831-M (Diagnose: „Luminalintoxikation“). Krankenblatt von Ida Sch., HPAC, 1922/326-F (Diagnose: „Gasvergiftung“). Krankenakte von Fritz T., HPAC, 1932/806-M (Diagnose: „Veronalvergiftung“); Krankenakte von Heinz H., HPAC, 1932/252-M (Diagnose: „Veronalvergiftung“). 45 Jakobi 2012, 40. So wurde beispielsweise das Ehepaar S., das im November 1918 eine Gasvergiftung erlitten hatte, durch die Aufnahme in unterschiedliche Krankenhäuser getrennt. Krankenblatt von Emma S., HPAC, 1911/279-F. 46 Der Zentrale Bettennachweis bestand bis Anfang 1994. 47 Jakobi 2012, 40.

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bevorzugte, erhielt die Nervenklinik über den Rettungsdienst fast zwangsläufig nur solche Personen, die aufgrund ihres Zustandes einem anderen Krankenhaus nicht eindeutig zugewiesen werden konnten. Und das waren gerade jene Menschen, die einerseits hilflos und damit prinzipiell teuer und andererseits komatös und damit nicht auskunftsfähig waren. Das galt auch für suizidale Personen. Verletzungen wurden auf der chirurgischen Abteilung versorgt, wie eine zeitgenössische Zusammenstellung zeigt.48 Alle ansprechbaren Menschen, bei denen man von einem „Giftselbstmordversuch“49 ausging, wurden zur Magenspülung in die chirurgische oder innere Abteilung gebracht. Wer hingegen nicht bei vollem Bewusstsein war, wurde von der Pforte ohne die übliche „Aufnahmeverhandlung“ direkt mit dem Rettungswagen zur Station gefahren.50 Anders lässt sich der wiederkehrende Topos „wird [...] mit dem Rettungswagen zur Klinik gebracht“ kaum erklären.51 Oft wies der Aufnahmearzt solche Transporte wegen mangelnder „Verpflichtung zur Aufnahme von Kranken“ wieder ab,52 wobei laut Verwaltungsbericht die Hälfte aller abgewiesenen Geisteskranken aus „Alkoholisten“ bestand.53 In vielen Fällen war eine Abweisung jedoch nicht möglich. Der enorme Anstieg der hilflosen Personen ging aber nicht allein auf raschen Transport und beschleunigte Aufnahme zurück. Auch andere Entwicklungen trugen dazu bei: Die flächendeckende Versorgung mit Stadtgas – 1890 zählten die Berliner Gaswerke gut 1,5 Millionen „Privatflammen“ bei einer Bevölkerungszahl von 1,9 Millionen – und der Verkauf konfektionierter Arzneimittel – Veronal kam 1903, Luminal 1912 auf den Markt – schlugen sich auch in den zeitgenössischen Selbstmordstatistiken nieder. Die Kombination von effektiven Schlafmitteln, stadtweiter Gasversorgung und effizientem Rettungswesen führte zu einem drastischen Anstieg der „Gasvergiftungen“ und „Intoxikationen“. Mit ihm kam eine andere Klientel: Beziehungskrisen und Liebeskummer, Furcht vor Strafe oder Freiheitsentzug, Drogensucht, wirtschaftliche Not und Arbeitslosigkeit waren nun die Gründe für einen Suizidversuch bei den per Rettungsdienst eingelieferten Personen. Mit einem Wort: Keine psychiatrische Erkrankung, sondern das Elend des urbanen Lebens bot sich den Psychiatern bei der Exploration dieser PatientInnen. So hatte Heinrich B. sich wegen unerwiderter Liebe das Leben zu nehmen versucht – nicht im Affekt, sondern sorgfältig vorbereitet, wie der in die Akte eingeklebte Abschiedsbrief verrät. Als ihm die letzte Schlaftablette der Packung jedoch im Halse steckenblieb, sprach er 48 Vgl. Schönfeldt 1918. 49 Ebenda. 50 Anweisung der Charité-Direktion vom 17.1.1917. UAHUB, Akten der Charité-Direktion 1725–1945, Nr. 89, die Aufnahme in die Charité betreffend, Bl. 167. 51 HPAC, 1932/1091. 52 Pütter 1906, 17. 53 Ebenda, 19.

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den Schutzmann auf dem nahegelegenen Nollendorfplatz an. „Mehr wisse er nicht mehr“, gab er zu Protokoll.54 Hedwig S. hingegen trank Lysol, da ihr Freund sie „belogen und betrogen“ hatte.55 Das in hohen Konzentrationen toxische Desinfektionsmittel wurde damals auch in der „Frauenhygiene“ populär. Ebenfalls über die „Frauengeschichten“ ihres väterlichen Freundes enttäuscht, drehte die Bankangestellte Ella W. den „Gashahn“ auf, nachdem sie sorgfältig Fenster und Türen abgedichtet hatte.56 Erna H. hingegen wurde Ende Juli 1921 am Kronprinzenufer aus dem Wasser gezogen. Das 21-jährige Mädchen war der festen Überzeugung gewesen, der Tripper, mit dem sie sich bei ihrem Freund angesteckt hatte, sei unheilbar.57 Manche Liebesdramen fanden gar Eingang in die Tagespresse, wie ein in die Krankenakte eingeklebter Ausriss über einen doppelten Selbstmordversuch im Hotel Schlachtensee belegt.58 Das Liebespaar war in seinem Zimmer bewusstlos aufgefunden worden, doch ohne Rücksicht auf die zarten Gefühle lieferte die Feuerwehr den 37-jährigen Dentisten Hans G. in die Charité, seine blutjunge Freundin hingegen in das städtische Krankenhaus am Urban ein. Gleich zwei Jugendliche finden sich im Sample, die sich der anstehenden Einweisung in eine Erziehungsanstalt durch Suizid entziehen wollten: Der zwölfjährige Max F. hatte vor dem anstehenden Termin beim Jugendgericht versucht, sich in der Küche seiner Mutter mit Gas das Leben zu nehmen. Der 18-jährige Franz W. hingegen entging dem Abtransport in die Erziehungsanstalt Berlinchen ausgerechnet in der Arrestzelle der Polizei. Dort vergiftete er sich mit der aus der Tollkirsche gewonnenen Belladonna (Atropin), das er aus der Apotheke seines Arbeitgebers entwendet hatte. Während Max nach seiner Entlassung doch ins Erziehungsheim kam,59 entging Franz diesem: Als er Mitte September 1918 – zwei Monate vor dem Ende des Ersten Weltkrieges – entlassen werden sollte, holte ihn die Fürsorge trotz mehrmaliger Aufforderung nicht ab, sodass ihn die Klinik schließlich als „geheilt nach Hause“ entließ.60 Vor allem in den Jahren der Weltwirtschaftskrise verbergen sich hinter den dürren Einträgen der Krankenakten oftmals wahre Dramen. Gleich zweimal wurde Theodor L. binnen weniger Monate mit dem Rettungswagen eingeliefert. Beim ersten Mal führte der behandelnde Arzt die Einnahme einer Tablettenpackung Veronal (Barbital) auf die „seit Monaten gedrückte Stimmung“ zurück, für die eine „veränderte materielle Lage“ verantwortlich sei: der „Kon54 55 56 57 58 59

Krankenblatt von Heinrich B., HPAC, 1928/7332-M (Diagnose: „Luminalvergiftung“). Krankenblatt von Hedwig S., HPAC, 1922/297-F (Diagnose: „Affektkrise“). Krankenblatt von Ella W., HPAC, 1927/502-F (Diagnose: „Gasvergiftung“). Krankenblatt von Erna H., HPAC, 1921/299-F (Diagnose: „Selbstmordversuch“). Krankenblatt von Hans G., HPAC, 1927/636-M (Diagnose: „Veronalvergiftung“). Krankenblatt von Max F., HPAC, 1915/548-M (Diagnose: „Suizid“). Zu den Erziehungsheimen jener Zeit siehe Alltagsgeschichte 2011. 60 Krankenblatt von Franz W., HPAC, 1918/35-M (Diagnose: „Atropinvergiftung“).

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kurs seines Warenhauses“, den der 46-jährige Kaufmann nicht verwand. „Welches Quantum ist denn nun eigentlich groß genug?“, soll er auf Anruf des aufnehmenden Arztes geklagt haben, als ihn der Rettungsdienst ein halbes Jahr später erneut einlieferte. Diesmal war er im Salzburger Hof bewusstlos aufgefunden worden. Nachdem sich die zwischenzeitlichen Verhandlungen mit einer Firma zerschlagen hatten, war nun auch noch das Haus verloren.61 Auch beim Suizidversuch von Louise T. spielten „wirtschaftliche Sorgen“ eine entscheidende Rolle. Ihr Mann hatte sein Geschäft aufgeben müssen.62 Die Folgen der Wirtschaftskrise trafen keineswegs nur die Besitzenden. So hatte sich Eva H. „sehr zu Herzen genommen“, dass sie nach der Pleite ihres bisherigen Arbeitgebers über Wochen keine Neuanstellung fand. Das kannte die junge Kontoristin nicht. Bis dahin hatte sie immer sofort Arbeit gefunden, wenn sie „abgebaut“ worden war.63 Aus ähnlichen Gründen hatte sich das Servierfräulein Helene G. aus dem Fenster gestürzt. Sie war aus Bayern in die Reichshauptstadt gezogen, in der Hoffnung, dort eine Stellung zu erhalten.64 Nicht jede hilflose Person, die unter dem Verdacht eines Selbstmordversuchs eingeliefert wurde, war auch tatsächlich suizidal: So entpuppte sich manch ein Suizidversuch als schwere Sucht und Missbrauch wie im Falle der 49-jährigen Arztfrau Helene C., die neben Morphin auch Chloroform „geschnupft“ hatte, allerdings zu viel.65 „Da kann man nichts gegen machen“, lautete der lapidare Eintrag, mit dem diese Patientin zu ihrem Ehemann entlassen wurde. Dieses Zitat verdeutlicht vielleicht am besten, womit sich die Psychiater nun konfrontiert sahen: War der Suizidversuch vor der Jahrhundertwende in der Regel die Begleiterscheinung einer psychischen Erkrankung, so führte der Auf- und Ausbau des Berliner Rettungswesens der psychiatrischen Klinik suizidale Menschen zu, die nicht im bisherigen Sinne krank waren. Was sollten die Psychiater mit den Patienten machen, für die es keine richtige Diagnose gab? Bevor wir aber auf den praktischen Umgang mit diesem Problem und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen eingehen, wollen wir den Blick auf eine alternative ‚Entsorgungsstrategie‘ lenken.

Suizidprävention und -fürsorge ausserhalb der Klinik Im zeitgenössischen Diskurs wurde Suizid weniger als medizinisches und psychiatrisches denn als soziales Problem verhandelt. So nimmt es nicht wunder, dass der Stadtverein für

61 62 63 64 65

Krankenblatt von Theodor L., HPAC, 1932/49-M (Diagnose: „Veronalvergiftung“). Krankenblatt von Louise T., HPAC, 1925/4470-F (Diagnose: „periodische Depression“). Krankenblatt von Eva H., HPAC, 1930/531-F (Diagnose: „Luminalintoxikation“). Krankenblatt von Helene G., HPAC, 1925/490-F (Diagnose: „Constitutionelle Depression“). Krankenblatt von Helene C., HPAC, 1930/843-F (Diagnose: „Intoxikationspsychose“).

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Innere Mission in Dresden seit dem Frühjahr 1905 eine Selbstmordseelsorge betrieb. Diesem Beispiel folgend, begann auch die Berliner Stadtmission als erster Verein in Preußen im Juli 1910 mit der sogenannten Selbstmordseelsorge. Der Verein für Berliner Stadtmission wurde im März 1877 vom Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835–1909) gegründet. Er verstand die Stadtmission als „berufsmäßige Laienhilfe in der Seelsorge und Evangelisation innerhalb der Massengemeinde der Reichshauptstadt.“66 Das „eigentliche Arbeitsfeld“ der Stadtmission war der „seelsorgerische Besuch in den Familien“.67 Bereits im Jahre 1880 verfügte die Berliner Stadtmission über 26 Stadtmissionare, und die Organisation war – wie auch die Reichshauptstadt Berlin – ständig im Wachsen begriffen. 1889 beschäftigte sie bereits 35 Stadtmissionare und 5 Missionarsschwestern, 1910 waren es schließlich 43 Stadtmissionare, 13 Stadtmissionsschwestern und „etliche theologische Helfer“.68 Die Missionare unterstützten die Pastoren der „Berliner Riesengemeinden“ in ihrer Gemeindearbeit. Ihre Hauptaufgabe bestand im Hausbesuch, etwa bei „den Eltern säumiger Konfirmanden oder verwahrloster Kinder“, „zu entlassenden Gefangenen oder ihren Familienangehörigen“, bei „Alten und Einsamen, Kranken und Sterbenden“. Aber auch jene, „die Selbstmord versuchten“, oder solche, „denen ein Familienglied durch Selbstmord aus dem Leben schied“, erhielten Besuch von der Stadtmission.69 Die Stadtmissionsarbeiter absolvierten jährlich etwa 100.000 Hausbesuche. Darüber hinaus war je ein Stadtmissionar dem „Bureau für Armensachen“, dem „Bureau und Asyl für entlassene Gefangene“ sowie dem „Zentral-Bureau“ zugeteilt.70 Der Stadtmissionar für Armensachen hielt seine Sprechstunde täglich zwischen 9 und 10 Uhr, in dieser konnten „die Bittsteller ihre Sachen vorbringen“.71 Die Stadtmission forderte sogar „unsere Freunde“ dazu auf, möglichst alle „Anträge und Wünsche diesem ‚Zentral-Armen-Bureau“ zu senden.72 1.250 Bittsteller kamen binnen eines knappen Jahres in die Sprechstunde, 300.000 Mark gab die Stadtmission für diese soziale Fürsorge jährlich aus.73 Im Jahr 1905 wurden in Berlin 1082 Selbstmorde polizeilich gemeldet, von denen 695 zum Tode führten, für die Stadtmission ein Indikator der Großstadtnot.74 Zwischen 1910 und 1912 (also innerhalb der ersten zwei Jahre) betreute die Berliner Stadtmission 1400 suizidale Men66 Schlegelmilch 1910, 6. 67 Verein für Berliner Stadtmission 1897, 12. 68 Schlegelmilch 1910, 5. 69 Ebenda, 6. 70 Verein für Berliner Stadtmission 1897, 12. 71 Ebenda, 41. 72 Ebenda. 73 Vgl. Schlegelmilch 1910, 15. 74 Schlegelmilch 1909, 6.

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Abb. 2: Formular Berliner Stadtmission.

schen. Das entsprach der Suizidrate in diesen Jahren, was einerseits die hohe Reichweite der Selbstmordseelsorge der Berliner Stadtmission aufzeigt, andererseits aber auch deren Notwendigkeit. Geleitet von dem Theologen Martin Olpe „in einem Geiste und von einer Stelle“, war die Stadtmission in die Infrastruktur der kommunalen Einrichtungen eingebunden: Das Kommissariat zur Sicherstellung der Leichen überwies ihr regelmäßig die Berichte „über die in diesem Zeitraum erfolgten Selbstmordversuche und ausgeführten Selbstmorde“75 (vgl. Abb. 2). Olpe wiederum verteilte diese Akten unter den für den jeweiligen Bezirk verantwortlichen Stadtmissionaren und freiwilligen Helferinnen, damit „die Unglücklichen“ zuhause aufgesucht wurden.76 Bei „verlorenen Töchtern und Söhnen“ versuchte die Stadtmission, die Beziehungen zum Elternhaus neu zu beleben; „gefallenen Mädchen“ wurde Obdach und Heimat in den Mädchenheimen der Berliner Stadtmission gewährt. Sofern Verdacht auf eine Geisteskrankheit bestand, wurde ärztliche Unterstützung gesucht. Kirchliche Fürsorge und städtisches Gesundheitswesen griffen ineinander. Suizidale Menschen wurden, wenn notwendig, direkt in medizinische Behandlung weitervermittelt. Aber auch umgekehrt übermittelte die Berliner Charité ihre „Selbstmordrecherchen“ den Stadtmissionaren.77 Der Berliner Stadtmission kam es vor allem darauf an, die „Motive“ (so die Rubrik in der zeitgenössischen Statistik) des Selbstmords zu bekämpfen. So wurde „bei wirklicher Armut oder Stellenlosigkeit“ meist materielle Hilfe geboten.78 Konnte sie den unglücklichen Menschen selbst keine Stellung anbieten, wurden diese den entsprechenden Behörden vermittelt, wie das Beispiel einer 33-jährigen alleinstehenden Näherin zeigt: Diese war infolge eines un75 Olpe 1913, 64. 76 Ebenda. 77 Ebenda. 78 Ebenda.

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heilbaren Magenleidens kaum noch arbeitsfähig und hatte sich mit dem Reinigungsmittel Lysol zu vergiften versucht. Die Kriminalpolizei brachte sie zur Seelsorge der Berliner Stadtmission, wo sie in einem christlichen Hospiz eine Stellung als Näherin erhielt.79 Auch Olpe musste jedoch einräumen, dass die Selbstmordseelsorge „nicht ganz ihr Ziel erreicht“ habe. Meist träfen die Akten der Polizei erst acht bis zehn Tage nach einem versuchten Selbstmord ein. Als Vorsorge müsse die Selbstmordseelsorge jedoch vor der eigentlichen Tat in Aktion treten. Das sei immer dann möglich, „wenn der Selbstmord nicht infolge von Geisteskrankheit ausgeführt“ werde.80 Wenn die Selbstmordseelsorge scheiterte, so läge das nicht an den karitativen Bemühungen, sondern am Wahnsinn der zu Betreuenden. Für alle anderen aber sei Hilfe möglich, weshalb die Selbstmordseelsorge weiter ausgebaut werden müsse. In allen Großstädten solle nach Londoner Vorbild „ein Antiselbstmordbureau“ eingerichtet werden.81 Zentral gelegen, unter christlicher Leitung und mit weiblicher Assistenz für die Selbstmörderinnen ausgestattet, sollten die „Antiselbstmordbureaus“ die Vergabe von Bargeld vermeiden. Stattdessen sollten sie eine Suppenküche enthalten und Arbeitsstätten für Betroffene schaffen. Hierfür bedürfe es keiner besonderen Organisation. Qualifiziert sei vielmehr jeder, und alle „in denen der Geist Jesu Christi lebendig ist, sollen mit dieser Arbeit beginnen“.82 Verwirklicht werden konnte dieses Programm aber erst nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der Hyperinflation wurde das Problem nicht nur erneut virulent, sondern geriet auch zur Projektionsfläche zeitgenössischer Krisenwahrnehmungen.83 Am 15. Januar 1925 brachten Gerhard Füllkrug (1870–1948), Direktor des Centralausschusses für Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, und Johann Heinrich Wienken (1883–1961), Direktor des Caritasverbandes für das katholische Deutschland, kirchliche sowie städtische Vertreter zusammen, um „über Massnahmen gegen die überhandnehmende Selbstmordsucht in Berlin und im Reiche“ zu beraten.84 Hieraus ging eine „ständige Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfrage“ hervor, in der neben Vertretern der Inneren Mission, der evangelischen und katholischen Kirchenbehörden, des Caritasverbandes, des Jugend- und Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde auch die Heilsarmee, das Polizeipräsidium und die Krankenhausfürsorge vertreten waren.85 Der Suizid und seine Bekämpfung wurden als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen und verhandelt. 79 Ebenda, 66. 80 Ebenda. 81 Ebenda, 73. 82 Ebenda, 73 und 75. 83 Baumann 2001, 323. 84 Sitzung über die Selbstmordfrage am 15.1.1925 im Neuen Rathaus zu Berlin-Schöneberg. ADE CA Nr. 1206I. 85 Ebenda.

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In Absprache mit der Kommission wandelte die Berliner Stadtmission zum 1. Juli 1925 die „Auskunftstelle für Armensachen“ in die „Soziale Hilfe“ um. Unter einem Dach (Am Johannistisch 5 in Berlin-Kreuzberg) war neben der Arbeitsvermittlung und einer Schreibstube für arbeitslose „Kaufleute und Angehörige des Mittelstandes“ auch die „Beratung Verzweifelter und Lebensmüder“ untergebracht: das Antiselbstmordbureau. Drei hauptamtliche Mitarbeiter und eine ehrenamtliche Helferin standen „von morgens um 8 Uhr bis abends um 7 Uhr“ zur Verfügung, zwei der Mitarbeiter unternahmen Hausbesuche.86 Die Presse mokierte sich allerdings über die periphere Lage im vorderen Kreuzberg, wo das Büro nur „über Treppen und Treppchen“ zu erreichen war.87 Nichtsdestotrotz wurde das Antiselbstmordbureau stark frequentiert: „Was wir seit dem [der Eröffnung] erlebten an Not, Verzweiflung und Menschenelend – dafür fehlen uns die Worte. Ein fast übermenschlicher Kampf setzte für unsere kleine Stelle ein“, berichtete ein Mitarbeiter der Berliner Stadtmission nach den ersten drei Monaten.88 Glaubt man einem Artikel im Berliner Tageblatt, so fanden Hilfesuchende umgehend praktische Unterstützung. Sie erhielten Essen und Kleidung, Erwerbslose wurden „in der Schreibstube“ gar „gegen anständiges Entgelt beschäftigt“. Darüber hinaus halfen manche als ehrenamtliche Mitarbeiter in der Beratungsstelle, die „an Körper, Geist und Seele gesundet sind und noch vor wenigen Wochen jedem blinden Zufall dankbar gewesen wären“.89 Die Berliner Stadtmission begriff ihr Angebot als „soziale Beratung, die jede blosse Abfertigung zu vermeiden sucht und auf individuelle Behandlung eingestellt ist“.90 Das ist angesichts des Andrangs von 50 bis 60 Menschen täglich schwer vorstellbar. Rasch wurde das Personal aufgestockt. Bereits im Dezember 1925 wurden zwei weitere feste Mitarbeiter – ein Jurist und ein „Kaufmann-Ingenieur“ – eingestellt. Infolge der wirtschaftlichen Not wurde das Antiselbstmordbureau nun verstärkt durch „abgebaute oder existenzlos gewordene Angehörige des Mittelstandes, speziell des Kaufmann- und Bankbeamtenstandes“ in Anspruch genommen.91 Binnen drei Monaten hatte die Soziale Hilfe rund 1000 Hilfesuchende aktiv betreut, zum Teil auch finanziell unterstützt sowie 220 Menschen in Arbeit gebracht. Allein in der Schreibstube waren 80 Menschen beschäftigt. Unter den Hilfesuchenden, die die Beratungsstelle täglich aufsuchten, waren durchschnittlich sechs bis zehn „schwere Fälle“, die „wirklich Beratung Lebensmüder beanspruch[t]en“.92 Rasch wurde die Soziale Hilfe weiter 86 Ebenda. 87 Rheinebner1925. 88 Bericht vom 1.9.1925. ADE CA Nr. 1206I. 89 Hilfe für Lebensmüde. Das Antiselbstmordbureau. Eine Beratungsstelle für Gescheiterte in Berlin. Berliner Tageblatt, 20.8.1925. 90 Bericht der Berliner Stadtmission vom Dezember 1925. ADE CA Nr. 1206aI. 91 Ebenda. 92 Protokoll der Sitzung der Selbstmord-Kommission am 11.9.1926, Bericht der Berliner Stadtmission ohne Datumsangabe (vermutlich Ende 1925). ADE CA Nr. 1206aI.

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ausgebaut. Im Jahr 1926 wurde das Angebot um eine Beratungsstelle für Alkoholiker mit täglich zwei Sprechstunden erweitert. In der Schreibstube waren nun täglich 100 Menschen beschäftigt. Dieser Einsatz wurde belohnt: 1926 gelang es, rund 2000 Menschen in Stellung zu bringen.93 Die Tatsache, dass täglich sechs bis zehn suizidale Personen die Soziale Hilfe der Berliner Stadtmission aufsuchten, verweist auf Nachfrage und Bedarf. Darüber hinaus gaben die städtischen Wohlfahrtsämter „besonders schwer lösbare und eines wirklichen Aufbaus würdige Fälle“ an die Stadtmission ab.94 Allein in den ersten fünf Monaten ihres Bestehens verausgabte die Soziale Hilfe rund 15.000 Mark, die von der Handelskammer, dem Centralausschuss für Innere Mission, der Provinzialsynode sowie einigen Banken aufgebracht wurden.95 Das Antiselbstmordbureau war nicht die einzige Einrichtung dieser Art. Auch das Evangelische Hauptwohlfahrtsamt (Pallasstraße 8–9 in Berlin-Schöneberg) und die Heilsarmee (Dresdenerstraße 34–35 in Berlin-Kreuzberg) berieten suizidale Menschen und waren wohl ähnlich stark frequentiert. Dennoch musste die Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfragen im Februar 1927 feststellen, dass es „auch dort nur möglich [sei], in ganz dringenden Fällen zu helfen. Die Abteilungen der Heilsarmee sind sehr überlaufen.“96 Diese Institutionen arbeiteten jedoch nicht immer erfolgreich zusammen, wie das Beispiel von Gertrud W. illustriert: Anfang 1929 hatte die am Kottbusser Ufer 56a (heute Paul-Lincke-Ufer) wohnende Frau in der Sozialen Hilfe Selbstmordgedanken geäußert, worauf am 5. Februar das Evangelische Hauptwohlfahrtsamt eingeschaltet wurde. Von dort aus wurde noch am gleichen Tag die zuständige Pfarrerin W. verständigt – doch zu spät. Denn Fräulein W. hatte sich „bereits am 26. Jan. mit Gas vergiftet“ und war bereits beerdigt worden.97 Auch von privater Seite aus wurde versucht, „an die Menschen, die sich mit Selbstmordgedanken tragen, heranzukommen“.98 Einige Ärzte richteten „Sprechstunden für Lebensmüde“ ein, die sehr stark besucht wurden.99 So eröffnete beispielsweise Heinrich Dehmel (1890–1932), Sohn des Dichters Richard Dehmel (1863–1920), im Oktober 1925 ein „Institut

93 Protokoll der Sitzung der ständigen Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfragen vom 15.2.1927. ADE CA Nr. 1206I. 94 Bericht der Berliner Stadtmission ohne Datumsangabe (vermutlich Ende 1925). ADE CA Nr. 1206aI. 95 Ebenda. 96 Protokoll der Sitzung der ständigen Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfragen vom 15.2.1927. ADE CA Nr. 1206I. 97 Ebenda. 98 Ebenda. 99 Schreiben von Gerhard Füllkrug an den Westfälischen Provinzialverband für Innere Mission vom 26.5.1928. ADE CA Nr. 1206I.

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für Lebenshilfe“, in dem er unentgeltlich Sprechstunden abhielt.100 Es kämen jedoch „verschwindend wenig Selbstmordkandidaten“ in seine Praxis, beklagte sich Dehmel, stattdessen „Schnorrer oder Heuchler, die sich interessant machen“ würden. Denn die meisten „seelisch Kranken“ hätten keine Ahnung von der Existenz der „seelischen Rettungsämter“. Vom Wohlfahrtsamt hingegen seien viele seiner Patienten „eher abgeschreckt als ermutigt worden“. Das liege nicht nur an der Überforderung der kommunalen Einrichtung. Vielmehr betrachte das Amt den suizidalen Menschen „als Normale[n] und nicht als Patient[en]“. Dehmel räumte jedem seiner Klienten eine „meist zweieinhalbstündige“ Sprechstunde ein und ging für sie sogar aufs Amt, wenn „sie Angst haben“.101 Lange hielt Dehmel dieser Arbeitsbelastung nicht stand: Knapp eineinhalb Jahre nach Eröffnung schloss er sein Institut und verwies seine Klienten an die Heilsarmee.102 In der zeitgenössischen Presse waren aber nicht nur positive Berichte über die städtische und kirchliche Suizidprävention zu lesen. Im September 1930 erschien der Erfahrungsbericht des Journalisten Fritz Reppo, der die Angebote „christlicher Nächstenliebe“ für seine kommunistische Leserschaft austestete.103 Als arbeitsloser Lebensmüder und in Lumpen gekleidet hatte er die verschiedenen evangelischen Sozialeinrichtungen aufgesucht. Zuerst begab er sich in Füllkrugs Büro im feinen Vorort Dahlem, „wo die steinreichen Geschäftsleute der Berliner City wohnen“. Dort traf er nur dessen Frau an, die ihn mit Wurststullen und 20 Pfennig abspeiste: Er möge doch auf die „göttliche Barmherzigkeit“ vertrauen und zum Wohlfahrtsamt gehen. Als nächstes wandte sich Reppo an die Soziale Hilfe am Johannistisch 5. Dort warf ihm der Stadtmissionar vor: „Mensch, Sie klagen ja wie ein altes Weib“, bot ihm aber an, zwei Tage im Missionshaus zu wohnen. Schließlich versuchte Reppo sein Glück in der Stadtmission des Arbeiterbezirks Moabit, wo ihm der Pastor empfahl, sich im Gebet zu üben, ihm 50 Pfennig gab und weiterschickte. Mit der „christlichen Wohlfahrt“ sei es, so resümierte der Journalist, nicht weit her.104 Es wäre jedoch voreilig, die Bemühungen der Berliner „Selbstmord-Kommission“ deshalb grundsätzlich infrage zu stellen. Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten war das von der Kommission initiierte interkonfessionelle Beratungs- und Hilfsangebot eine „fortschrittliche Form der Suizidprophylaxe“ jenseits der Anstalt.105 Dieses Angebot stellte „Trost für alle“ in Aus-

100 Bouchholtz 1925. 101 Zitate ebenda. 102 Protokoll der Sitzung der ständigen Kommission zur Bearbeitung der Selbstmordfragen vom 15.2.1927. ADE CA Nr. 1206I. 103 Reppo 1930. 104 Zitate ebenda. 105 Baumann 2001, 335.

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sicht, „die am Leben verzweifeln“ und die sich in sozialer Not an die Hilfestellen wandten.106 Doch das blieb, wie die steigenden Zahlen zeigen, ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die Psychiatrisierung des Suizids Während die städtische Gemeinschaft präventive Strategien wie das Antiselbstmordbureau beförderte, sahen sich die Psychiater mit einer Klientel konfrontiert, die sie in verschiedener Hinsicht vor erhebliche Probleme stellte. Erstens wurden besondere Vorsichtsmaßnahmen gefordert. Denn die Patientinnen sollten an einer Wiederholung ihres Suizidversuchs gehindert werden. Das zeigt, wie bereits oben diskutiert, das Verlegungsmuster. Denn die Nervenklinik verfügte über besondere Sicherungsmaßnahmen. Das betraf zum einen die räumliche Situation: Ob im Isolierraum oder im Wachsaal, akut kranke Patienten wurden in der Psychiatrie engmaschiger betreut als auf anderen Stationen. Stündlich, gegebenenfalls noch häufiger wurde im „Wachbuch“ oder auf besonderen Überwachungsbögen der Zustand der Patientinnen notiert.107 Suizidale Patienten erhielten oftmals darüber hinaus Einzel- oder Sitzwachen, die sich nur um diesen Patienten sorgten. Zweitens fürchteten die Psychiater eine „moralische Kontagion“.108 Unter dieser Bezeichnung wurde im Fachdiskurs das Phänomen der „psychischen Ansteckung“ verhandelt. Nicht nur bei den damals die breite Öffentlichkeit beunruhigenden Schülerselbstmorden galten Nachahmungseffekte als entscheidendes Moment.109 Manche Psychiater befürchteten, dass dieser „Virus“ auch in psychiatrischen Anstalten um sich greife. Gerade geistesgesunde Suizidale würden angesichts der Unterbringung auf engem Raum schnell zum Vorbild. Drittens unterlief diese Klientel die institutionelle Ratio, da der Conamen suicidum in keine psychiatrische Diagnosekategorie fiel. Die Psychiater hatten dieser Patientengruppe weder Therapie noch fachspezifische Prävention zu bieten. Auch Lehrbücher hielten keine Handlungsstrategien bereit. Vorschläge wie beispielsweise der Rat des praktischen Arztes Eugen Rehfisch (1862–1937), man müsse zur Vorbeugung von Schülerselbstmorden „die Freude am Wahren, Schönen und Edlen [...] in allen Kindern“ wecken, waren eher Zeichen einer großen Hilflosigkeit. Selbst die Hoffnung, der Fortschritt der Wissenschaften werde „als Freund der Armen und Unterdrückten“ die Menschheit von dieser Krankheit „heilen“, verschob wirksame Maßnahmen in eine eher ferne Zukunft.110

106 107 108 109 110

Poritzky 1933. Dohrmann 2015, 100 und 220. Návrat 1907, 89. Schiller 1992, Hahn 1994. Rehfisch 1893, 60 f.

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Alles in allem erforderten die suizidalen Patienten somit erheblichen Aufwand. Ihre Betreuung band Ressourcen (Sitzwachen, engmaschige Kontrollen), die an anderer Stelle fehlten. Mehr Personal wurde gebraucht, wenn die „Mahlzeit [...] zu einem undefinierbaren Durcheinander zusammengeschnitten“ werden sollte, um zu vermeiden, dass sich der Patient den Hals aufschneide. Bett und Nachttisch – letzte Rückzugsmöglichkeiten an Privatheit – wurden durchwühlt, Briefe und Bilder durchsucht, um Scheren oder Rasierklingen zu finden, am „Fenstergitter und Riegel“ gerüttelt, ob auch wirklich alles fest sei.111 Zeitgenössische Berichte reflektieren eine fast paranoische Vorsicht: „Faltengekräusel des Nachthemds, die Haare oder Hände“ werden zur Erdrosselungswaffe, „Bleifederspitzer oder auch einfach die Zähne durchschneiden die Arterie, vornübergebeugt in die Wanne mit offenen Munde tauchend wird das Badewasser tief in die Lungen aspiriert – wer kann all den Wegen folgen, die kranke, aller Hemmungen beraubte Phantasie ersinnt“.112 Es ist nicht verwunderlich, dass auch vonseiten der Krankenpflege über die besonderen Anforderungen nachgedacht wurde: Nur Krankenschwestern mit „Herzensbildung, natürlichem Takt und guter Intelligenz“ seien geeignet, um suizidale Patientinnen zu betreuen.113 Gleichzeitig waren die suizidalen Patienten kaum für Forschung und Lehre geeignet. Zwar wurde der eine Patient oder die andere Patientin für den klinischen Unterricht herangezogen. So wurde die 19-jährige Elisabeth W. gleich zweimal im Krankenbett in den Hörsaal gefahren. Zuerst wurde den Studierenden das Bild eines akuten Intoxikationszustandes durch Schlafmittel, dann die allmähliche Rückkehr kognitiver Fähigkeiten anhand psychologischer Tests demonstriert.114 Doch ein solcher Einsatz blieb eher die Ausnahme, die Psychiater betrachteten diese Patientinnen selten als „klinisches Material“. Gerade den zahlreichen Fälle von Selbsttötungsversuchen aus „sozialer Ursache“ stand die Institution ratlos gegenüber. Viele Diagnosezuschreibungen klingen hilflos: So kamen die Psych­ iater nicht umhin, dem oben bereits erwähnten Abschiedsbriefschreiber Heinrich B. zu testieren, „seine „Depression [sei] etwas oberflächlich“.115 Bei Heinz H. hingegen übernahmen sie zwar die Meinung der Ehefrau, die von einem demonstrativen Selbstmordversuch sprach, doch kaschierte die zusammenfassende Beurteilung eines nicht geisteskranken, aber „dürftigen, sich stark überschätzenden Patienten“ nur mühsam eine gewisse Antipathie. Auch im Falle der Bankangestellten Ella W. fanden die Psychiater keinen Hinweis auf eine psychische Erkrankung: Ihre tiefe Enttäuschung sei verständlich und nachvollziehbar.116 Das galt auch für Dora H., der Karl Bonhoeffer 111 Chomse 1909. 112 Ebenda. 113 Ebenda. 114 Krankenblatt von Elisabeth W., HPAC, 1931/363-F (Diagnose: „Suizidversuch“). 115 Krankenblatt von Heinrich B., HPAC, 1928/7332-M (Diagnose: „Luminalvergiftung“). 116 Krankenblatt von Ella W., HPAC, 1927/502-F (Diagnose: „Gasvergiftung“).

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als Leiter der Klinik bescheinigte, „der Selbstmordversuch [sei] aus einem Zustand schwerer reaktiver Depression“ erfolgt, „die ausschließlich durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt“ wäre. Eine psychiatrische Erkrankung bestehe nicht.117 Nicht selten notierten die Kliniker in den Akten, dass „nichts Pathologisches [...], nichts Depressives“ zu finden sei, und stellten den Patienten sogar schriftlich aus: „Eine „Gemüts- oder Geisteskrankheit liegt nicht vor.“118 Aber was sollten die Psychiater mit PatientInnen tun, die aus fachspezifischer Perspektive gesund, zumindest nicht geisteskrank waren? Eine Möglichkeit war die rasche Entlassung. Nicht der Nachweis, sondern der Ausschluss einer Geisteskrankheit war die Handlungsmaxime der psychiatrischen Klinik – auch wenn die Gesundheit noch nicht vollständig wiederhergestellt war. So wurde in der Krankenakte einer „Direktorenfrau“ vermerkt: „Es blieb ein psychisches Bild, das im wesentlichen durch reaktive Dinge, Schwierigkeiten mit dem Ehemann bedingt war.“119 Im Jahr 1888 wurde Max P. mit der paradoxen Feststellung „nicht krank, gebessert entlassen“ – und das, obwohl der behandelnde Hausarzt in seinem Einweisungsgutachten dringende Behandlungsbedürftigkeit attestiert hatte.120 Viele dieser Heilungen lassen sich nachvollziehen: Das Dienstmädchen, das wegen einer ungewünschten Schwangerschaft eine Packung Schlaf­ tabletten geschluckt hatte, war nach Einsetzen der Regelblutung umgehend „bereit wieder nach Hause zu gehen“.121 Auch die bereits erwähnte Elisabeth W., die dem Bruder den Haushalt führte, wurde „gebessert entlassen“, nachdem sie sich auf der Station „eingefügt“ hatte.122 Die nach einem Suizidversuch eingelieferten Patienten wurden somit regelhaft als geheilt oder gebessert nach Hause geschickt: Manche wurden noch am gleichen Tag von einem Familienangehörigen abgeholt, andere erst nach mehreren Wochen. Nur selten findet sich der Eintrag „ungeheilt“ – meist in den Fällen, in denen die klinische Behandlung „auf Befehl der Direction“, das heißt aus Kostengründen beendet wurde. Auch Patientinnen mit massiver Selbsttötungsabsicht und mit einem hohen Autoaggressionspotenzial wie der bereits oben erwähnte Albert H., der sich mit einem Messer mehrfach schwer verletzt hatte, wurden nach mehreren Monaten als „gebessert entlassen“. Und selbst ein wiederholter Suizidversuch wie im Falle des oben erwähnten Kaufmanns Theodor L. löste keine institutionellen Reflexe aus. Vielmehr wurde der Betroffene rasch der Ehefrau anvertraut, die ihn in Berlin-Schlachtensee im Sanatorium von Dr. Moser unterbringen wollte.123 117 Krankenakte von Dora H., HPAC, 1930/326-F (Diagnose: „Luminalvergiftung“). 118 Krankenblatt von Erich H., HPAC 1921/1040-M (Diagnose: „Gasvergiftung“); Krankenakte von Fritz T., HPAC, 1932/806-M (Diagnose: „Veronalvergiftung“). 119 Krankenakte von Dora H., HPAC, 1930/326-F (Diagnose: „Luminalvergiftung“). 120 Krankenakte von Max P., HPAC, 1888/4187-M (Diagnose: „Suizidversuch“). 121 HPAC, 1931/369-F. 122 HPAC, 1931/363-F. 123 HPAC, 1932/300-M, 2. Aufnahme.

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Die Aufnahme nach versuchter Selbsttötung bildete somit keinen Auftakt für eine psychiatrische Karriere. Vielmehr bemühten sich die Psychiater redlich, soweit sich das aus der perspektivisch verkürzten Sicht der Krankenakten beurteilen lässt, um eine rasche Entlassung. Für diese Patienten war die psychiatrische Abteilung der falsche Ort. Sie bereiteten nur Arbeit, sie bedrohten die Ordnung der Station, und es gab keine ‚richtige‘ Diagnose. Doch der institutionellen Logik konnten sich auch die Psychiater nicht entziehen: Worauf bezog sich der Akteneintrag zur Entlassung, wenn dort ein „gebessert“ oder gar „geheilt“ eingetragen wurde? Auch wenn es nur eine Formalie war, der Lückentext des Aktendeckels verlangte eine Entscheidung: Unter welcher Diagnose wurden die Menschen behandelt, die der Rettungsdienst der psychiatrischen Klinik überantwortet hatte? Und von welcher Krankheit konnte man diese Patientinnen nicht kurieren, wenn man sie nach vier oder sechs Wochen als „unheilbar“ entließ? Diese Frage ist nicht trivial. Ohne Diagnose keine Kostenerstattung und ohne Kostenerstattung keine Behandlung. Die Diagnose einer Luminal- oder Veronalintoxikation rechtfertigte keinen zweimonatigen Krankenhausaufenthalt, war doch eine Entgiftung nach zwei oder drei Tagen abgeschlossen. Auch bei einem Suizidversuch mit Stadtgas war die Kohlenmonoxid-Vergiftung selten so schwer, dass es einer langen stationären Behandlung bedurfte. Wie rechtfertigt man den Einsatz von Ressourcen, den Aufwand an Arbeit und Aufmerksamkeit für eine Gruppe von Menschen, für deren Behandlung die Institution weder legitimiert noch qualifiziert ist? Einen Hinweis geben die zahlreichen Studien, die sich des Phänomens annahmen. Ob in München oder in Berlin: Einerseits bemühten sich Psychiater wie Helenefriederike Stelzner (1871–1937) oder Robert Gaupp, die alte These von der krankhaften Natur des Selbstmords zu bekräftigen. Andererseits fiel auch die psychiatrische Klientel nicht aus dem statistischen Rahmen. So gab das Statistische Bureau zu Berlin um 1900 für rund ein Drittel aller Suizide von Männern und Frauen das Motiv Geisteskrankheit an, das Königlich-Bayerische Statistische Bureau hingegen etwa 40 Prozent.124

124 Diese Verteilung blieb weitgehend stabil. 1908 zählte man rund 25 Prozent Geisteskranke, nimmt man die separat geführten „Nervenkrankheit“ und „Geistesschwäche“ zu den „Beweggründen für den Selbstmord“ hinzu, so hätte man gerade einmal ein knappes Drittel der Suizide auf eine Geisteskrankheit im weiteren Sinne zurückführen können. Daran sollte sich bis zum Ende des Kaiserreichs nichts ändern, sieht man davon ab, dass während der Kriegsjahre der Anteil der Geisteskranken unter den Suizidalen anstieg, was auf den Rückgang der Selbsttötungen bei den Männern zurückführen sein dürfte (Preußisches Statistisches Landesamt 1919/1920, Heft 3, 17) Auch 1915 zählte man 34 Prozent Geisteskranke.

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Psychiatrisierung des Suizids Tabelle 3: Stelzners Analyse von 200 Selbstmordfällen (1906) Geisteskrank Andere Erkrankungen Nicht (ernsthaft) krank

Depression, Psychose, manisch-depressive Erkrankung Alkoholismus, Epilepsie, Demenz, Imbezillität Psychopathische Konstitution und „keine Diagnose“

118 20 63

Stelzner kam in ihrer großangelegten Nachuntersuchung zu dem Schluss, dass rund 120 von insgesamt 200 weiblichen Patienten während ihres Suizidversuchs an einer ernsten Geisteskrankheit gelitten hätten. Neben 65 Fällen von Depression beziehungsweise Melancholie zählte Stelzner fast ebenso viele Diagnosen aus dem psychotischen und dementiellen Formenkreis (Paranoia, Dementia senilis, Dementia paralytica und praecox, Epilepsie). Mit einem Anteil von knapp 60 Prozent Geisteskranken lag ihre Erhebung aber noch unter den Angaben der offiziellen preußischen Statistik, die unter dem deutlich kleineren Anteil weiblicher Suizidenten über 70 Prozent Geisteskranke zählte.125 Hingegen waren knapp 15 Prozent der ehemaligen Patientinnen, die Stelzner in ihrer Wohnung aufgesucht und dort nachuntersucht hatte, „geistesgesund“. Trotz aller Bemühungen war es der ersten Psychiaterin an der Charité nicht gelungen, bei der Nachuntersuchung einen Hinweis auf „krankhafte psychische Symptome“ zu finden.126 Gaupp hatte für seine Untersuchung über zwei Jahre hinweg die vom Rettungsdienst in die Münchener Klinik eingelieferten Suizidalen herangezogen. Von insgesamt 124 auf Zählkarten erfassten Aufnahmen wurde „nach eingehender psychiatrischer Untersuchung“ aber nur „eine einzige Person als psychisch gesund“ bewertet. Und selbst hier müsse man annehmen, dass diese Patientin wegen Schwangerschaft „in keinem ganz normalen Zustande“ gewesen sein könne. Als „sicher geisteskrank“ qualifizierte Gaupp aber nur 44 Personen beziehungsweise 35 Prozent, darunter Dementia praecox (11), manisch-depressiv (17), alkoholisches Delir (4) und senile Demenz (4) – womit er ebenfalls die amtliche Statistik grosso modo bestätigte.127 Beide – Stelzner wie Gaupp – identifizierten bei diesen statistischen Rechenspielen somit eine Gruppe, die sie nicht für gesund, aber auch nicht für sicher geisteskrank hielten. In der Münchner Untersuchung stellte diese Gruppe von „nicht ausgesprochen geisteskranken Personen“ den größten Anteil unter den eingelieferten Suizidalen mit 79 Patienten beziehungsweise 64 Prozent. Die meisten von ihnen seien, so Gaupp, krankhafte Persönlichkeiten „von 125 Olpe 1913, 25. Der höhere Anteil geisteskranker Frauen fiel weniger ins Gewicht, da die Statistik deutlich mehr männliche als weibliche Suizidenten zählte. 126 Stelzner 1906, 4. 127 Gaupp 1910, 22.

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pathologischer Affektivität, die in meist noch jugendlichem Alter auf geringen Anlass mit Selbstmordimpulsen reagierten“.128 Auch Stelzner grenzte in ihrem Kollektiv eine Gruppe ab, bei der die versuchte Selbsttötung „meist durch irgend ein okkasionelles Moment, vor allem z. B. durch einen Affektshock ausgelöst“ werde. Der Suizid stelle somit „die pathologische Reaktion einer abnormen psychischen Konstitution auf irgend einen Gelegenheitsreiz dar“.129 Mit dieser neuen Grenzziehung eliminierten die Psychiater viele der besonderen „Selbstmordmotive“, die in der offiziellen Statistik bislang fein säuberlich ausgewiesen worden waren: So führte die amtliche Statistik bis zum Beginn der Weimarer Republik unter anderem „Lebensüberdruss, körperliche Leiden, Leidenschaften, Laster, Trauer und Kummer, Reue, Scham und Gewissensbisse, Ärger & Streit“ sowie „unbekannte Motive“ auf.130 Ein Selbstmord aus diesem Grund war Psychiatern wie Gaupp zufolge aber „durch eine ausgesprochene Geisteskrankheit bedingt“, selbst wenn die Patienten „nicht auf den ersten Blick geisteskrank“ waren:131 Wenn ein Gymnasiast sich erschießt, weil er Angst vor dem Schulexamen hat, wenn ein anderer Gift nimmt, weil er ein schlechtes Zeugnis erhielt, wenn ein 14jähriges Mädchen ins Wasser geht, weil seine Mutter vom Vater misshandelt wurde (alles beglaubigte Vorkommnisse), so handelt es sich hier immer um eine krankhafte Reaktion eines erregbaren Seelenlebens auf ein an sich gleichgültiges oder wenigstens nicht wesentliches Ereignis.132

Schließlich würden andere Menschen bei ähnlichen Vorfällen, so Gaupp, sich nicht das Leben nehmen. Diese Reaktionsform sei vielmehr Ausdruck der unzureichenden Lebensbewährung auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft: „Leidlich guter Verstand, grosse Gefühlserregbarkeit ohne Nachhaltigkeit, schwächliche Willensantriebe ohne Erfolg, egoistische Triebe von starker Ausprägung, gesteigerte Empfindlichkeit für unlustbetonte Eindrücke und Erlebnisse – ein solches Gemisch geistiger Fertigkeiten erweist sich dem Ansturm des Lebens gegenüber nur allzuleicht als unzureichend.“133

Damit machte Gaupp sich und seiner Zunft ein Problem zu eigen, das bis dahin als soziales Phänomen galt. Was Émile Durkheim noch als eine wesentliche Artikulation menschlicher 128 129 130 131 132 133

Ebenda, 23. Stelzner 1906, 64. Oettingen 1881, 66. Gaupp 1910, 23 und 27, auch 29. Gaupp 1905, 25. Gaupp 1910, 29.

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Sozialität begriff, was Kulturkritiker als Anzeichen für die Erkrankung der Gesellschaft betrachteten, war für Gaupp die bloße Folge einer mangelnden Lebensbewährung und degenerativen „Entartung“. Für diese Patienten, die das Rettungswesen den Psychiatern in die Klinik spülte, kannte Gaupp nur ein Wort: „Wir nennen sie in der Regel kurz Psychopathen.“134 Auch Stelzner fasste die Patientinnen, die sich aus „unglücklicher Liebe, zerrütteter Ehe, Heimweh, Einsamkeitsgefühl, körperliche[r] Krankheit, Suggestion u. a. m.“ das Leben zu nehmen versucht hatten, in einer großen Gruppe der „erblich degenerative[n] und der „hysterisch psychopathische[n] Konstitution“ zusammen.135 In der Tat ist Psychopathie die häufigste Diagnose, die sich in verschiedensten Kombinationen in den Krankenakten suizidaler Patienten findet: Psychopathische Reaktion, psychopathische Konstitution oder psychopathische Persönlichkeit sind die Zuschreibungen, mit denen das Phänomen der „nicht als geisteskrank“ bezeichneten, aber doch „krankhafte Züge mannichfaltiger Art“ aufweisenden Klientel in die psychiatrische Ordnung integriert wurde. Diese Form der Psychiatrisierung des Suizids kann somit als Versuch begriffen werden, diese ‚Störung‘ in die institutionelle Logik und Wissensordnung einzubinden. Der Preis hierfür war hoch: Zum einen erhielten die Betroffenen nun eine moralisch diskriminierende und pejorative Diagnose. Hatte Jean-Étienne Esquirol (1772–1840) eine „aus edelsten und erhabensten Gefühlen getrieben[e] Selbsttötung“ dezidiert vom Selbstmord unterschieden,136 wurde nun jedes abweichende Verhalten einer „zunehmenden Degeneration“ zugerechnet.137 Selbst vorsichtige Stimmen wie Stelzner, die den „psychologischen Selbstmord“ vom pathologischen zu unterscheiden versuchten, sahen sich zunehmend mit dem Problem konfrontiert, dass „eine strenge Scheidung zwischen dem Selbstmord Geistesgesunder und Geisteskranker“ unmöglich sei – woraus allerdings der Schluss gezogen wurde, dass auch die Suizide von Geistesgesunden „als Äusserungen eines momentanen psychopathischen Zustandes“ betrachtet werden müssten.138 Zum anderen verschob sich mit der Zuschreibung einer psychopathischen Konstitution auch die Frage nach dem Motiv oder der Ursache. Nun waren nicht mehr soziale Not, wirtschaftlicher Misserfolg und Armut, Ehrverletzung und Misshandlung, Unterdrückung und Gewalt, kurzum: das Milieu verantwortlich. Stattdessen bildeten mangelnde Lebensbewährung, Minderwertigkeit, hereditäre Veranlagung und psychische Infekt­ion den eigentlichen Anlass für selbstbeschädigende Handlungsweisen.139 Und damit wurde es auch Aufgabe der Psychiatrie, sich um die dem Suizid zugrunde liegenden „Störungen“ zu küm134 135 136 137 138 139

Ebenda, 23. Stelzner 1906, 66. Esquirol 1838, 298. Gaupp 1910, 29. Stelzner 1906, 65 und 99. Ebenda, 93 und 97, Gaupp 1910, 29.

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mern und zu behandeln. Was wir hier also sehen, ist ein „looping effect“140, der sich durch ein institutionelles Arrangement, funktionale Differenzierung, räumliche Separierung und anderes entfaltete.

Das Ende der Fürsorge 1932 verzeichnete Berlin die meisten Selbsttötungen seit Beginn der amtlichen Aufzeichnungen.141 „Allein in den letzten 12 Jahren hat Berlin rund 20.000 Selbstmorde zu verzeichnen“, klagte die Berliner Börsen-Zeitung an.142 Die seelsorgerischen Angebote kamen der steigenden Nachfrage nicht nach.143 Auch wenn nur um „Gnaden“ gebeten wurde, konnten diese nur selten gewährt werden. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise machten die schrumpfenden Mittel der Stadtmission „den Abbau an Gaben und Kräften notwendig“.144 Im Vorjahr hatten sich darüber hinaus noch 50.000 Arbeitslose an die Berliner Stadtmission gewandt, die mit insgesamt 100.000 Mark in bar unterstützt worden waren. Die finanzielle Situation der Einrichtungen der Berliner „Selbstmord-Kommission“ wurde immer prekärer. Gerhard Füllkrug rief im Februar 1933 in der Zeitung Berliner Westen nachdrücklich auf, „unserer Arbeitsgemeinschaft beizutreten, wer wirtschaftlich [...] in der Lage [ist] uns zu unterstützen“.145 Im Mai 1933 wies er die Mitglieder der Kommission, die inzwischen als „Hilfe für Lebensmüde“ firmierte, sogar an: „Jeder soll versuchen, in seinem Bekanntenkreise Freunde für die Arbeit zu gewinnen, die durch kleine Geldspenden die Arbeit unterstützen.“146 Dass der Vorsitzende sogar in seiner Privatwohnung eine Beratungsstelle für Lebensmüde einzurichten plante, verdeutlicht die finanzielle Notlage eindrucksvoll. Die Arbeitsgemeinschaft überlegte außerdem – wie Stelzner bereits 1906 vorgeschlagen hatte –, Selbstmordkandidaten „aus ihren alten Verhältnissen herauszuführen und für einige Zeit in einem Heim unterzubringen“. Aber auch hierfür fehlten jegliche finanziellen Mittel.147

140 Hacking 1995. 141 Tote klagen an. 20.000 Berliner Lebensmüde seit Versailles. Berliner Börsen-Zeitung, 14.6.1933. 142 Ebenda. 143 Protokoll der Sitzung der ständigen Kommission zur Bearbeitung der Lebensmüdenfürsorge am 10.3.1932. ADE CA G Nr. 350. 144 Ebenda. 145 Lebensüberdruß wird erforscht. Eine interkonfessionelle Arbeitsgemeinschaft in Dahlem. Berliner Westen, 12.2.1933. 146 Niederschrift über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Lebensmüde“ am 4.5.1933. ADE CA G Nr. 350. 147 Ebenda.

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Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ließ die Mitglieder der Berliner Kommission zunächst auf zusätzliche finanzielle Unterstützung hoffen. Die Suizidzahlen waren seit dem Kriegsende 1918 gestiegen und 1932 höher als je zuvor, sie galten als Symbol für die verheerenden Zustände in der Weimarer Republik. Die Nationalsozialisten versprachen, diese zu beseitigen. In seiner Reichstagsrede vom 17. Mai 1933 machte Reichskanzler Adolf Hitler (1889–1945) den Versailler Vertrag und Reparationszahlungen nicht nur für die wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik verantwortlich: „Seit dem Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages [...] haben sich in unserem deutschen Volk fast nur aus Not und Elend 224 900 Menschen mit freiem Willen das Leben genommen, Männer und Frauen, Greise und Kinder!“148 Diese Rede ermutigte Füllkrug, „bei der Regierung wegen einer grösseren Spende für die Hilfe der Lebensmüden vorstellig zu werden, am besten durch eine persönliche Verhandlung durch Dr. Göbbels selbst“.149 Im Juli 1933 wurde ein Dezernent der NS-Volkswohlfahrt in den Arbeitsausschuss „Hilfe für Lebensmüde“ gewählt, „um den Weg zu einer persönlichen Verhandlung mit Goebbels zu ebnen“.150 Doch zu dieser Unterredung kam es nie. Die NS-Volkswohlfahrt teilte Füllkrug im August 1933 vielmehr mit, „dass nach den neuen Richtlinien die Betreuung der Lebensmüden nicht zu ihren Obliegenheiten gehöre“. Der Arbeitsausschuss solle sich „mit den kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen“ in Verbindung setzen.151 Im Dritten Reich unternahmen die staatlichen Stellen wenig, um Suizide zu verhindern, denn aus Sicht der Nationalsozialisten hatten die Menschen ja keinen Grund mehr, sich zu suizidieren.152 Der Diskurs über den Suizid hatte sich im Nationalsozialismus weitgehend von den in der Weimarer Republik üblich gewordenen sozioökonomischen Erklärungen verabschiedet. Die nationalsozialistische Position zur Selbsttötung ging von zwei Kernideen aus, die in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander standen: Einerseits wurden die Suizidenten als „minderwertige“ Menschen betrachtet, deren Tod im Sinne der Rassenhygiene kein Verlust war, andererseits galten sie als unverantwortliche Egoisten, die ihre persönlichen Probleme über die der Nation und Volksgemeinschaft stellten.153 Die Selbsttötung war nicht nur für die politischen Akteure, sondern auch für die zeitgenössischen Sozialwissenschaftler und 148 Domarus 1962, 279. 149 Niederschrift über die Verhandlungen der Arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Lebensmüde“ am 26.5.1933. ADE CA G Nr. 350. 150 Ebenda. 151 Ebenda. 152 Die Berliner „Selbstmord-Kommission“ traf sich nach 1933 nur noch unregelmäßig, Unterlagen über Sitzungen nach 1937 sind nicht überliefert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Kommission aufgelöst hat. 153 Vgl. Goeschel 2011, 258 f.

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Psychologen ein Akt persönlicher Schwäche und Feigheit. Die Nationalsozialisten dachten nicht vom Individuum her, sondern vom ‚Volk‘. Das Leben des Einzelnen gehöre dem Volk, konstatierte der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Martin Bormann (1900–1945), im Sommer 1944.154 Der Suizid von Deutschen galt als Verrat an der Volksgemeinschaft.155 Auch wenn der Suizid damit aus der politischen und sozialen Tagesordnung genommen wurde, blieben die Suizidraten auf hohem Niveau. Bis 1939 stieg die Zahl der jährlichen Selbsttötungen sogar weiter an. Gleichwohl wurde im Wirtschaftspolitischen Dienst von 1936 behauptet, die Zahl der Selbsttötungen habe seit der Machtübernahme durch die NSDAP aufgrund der zunehmenden Rechtssicherheit abgenommen.156 Die Idee einer von Suizid und sozialer Not befreiten Volksgemeinschaft blieb bloße Ideologie.157 Es ist vielleicht eine besondere Ironie, dass die Psychiatrisierung des Selbstmords durch die von der nationalsozialistischen Ideologie massiv vorangetriebene Individualisierung des Suizids weiter stabilisiert wurde. Mit der Propaganda für ein ‚Recht auf den Tod‘ wurde der Suizid (oder assistierte Suizid) des unheilbar Kranken als ‚heiligste Pflicht‘ an der Volksgemeinschaft und als Akt einer letztmöglichen freien Willensentscheidung ideologisch überhöht. Zugleich wurde der Suizid als sozial akzeptierter Ausweg für chronisch Kranke und rassisch Verfolgte konzeptualisiert und legitimierte das nationalsozialistische Euthanasieprogramm. Hatten die hohen Selbstmordraten der nationalsozialistischen Hetze bis 1933 noch als Beleg für die moralische Verkommenheit und das politische Versagen der Weimarer Republik gedient, so wurde der Suizid nun gänzlich aus dem Raum des Sozialen und Gesellschaftlichen in den Verantwortungsbereich des Einzelnen verschoben. So sollte die vom Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900–1945) im Frühjahr 1939 initiierte detaillierte statistische Erfassung aller Suizide und Suizidversuche und insbesondere der zugrunde liegenden Motive dazu dienen, die ‚feindliche Lügenpropaganda‘ zu entkräften. Diese genaue Erfassung hätte, darauf haben Susanne Hahn und Christina Schröder bereits 1992 hingewiesen, die Grundlage für den Aufbau einer gesellschaftlichen Prävention und Prophylaxe sowie die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Phänomens liefern können.158 Doch diese Chance wurde vertan. Stattdessen wurde der Suizid binnen weniger Jahrzehnte – von Politik, Gesellschaft und Medizin – als soziales Problem entsorgt und der Psychiatrie überantwortet.

154 155 156 157 158

Vgl. Goeschel 2005, 179. Vgl. Goeschel 2011, 263. Vgl. Goeschel 2005, 180. Vgl. Winkler 1977. Hahn/Schröder 1992.

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Conclusio Suizid oder Selbsttötung ist heute kein Thema mehr, das die Öffentlichkeit beunruhigt. Das liegt wesentlich daran, dass dieser ‚Nullpunkt jeder Sozialität‘159 inzwischen als medizinisches, genauer: als psychiatrisches Problem betrachtet wird. Heute gilt die Selbsttötung als Symptom und Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingegen erregte das Phänomen die Gemüter. Es bildete sowohl das „Gravitationszentrum weltanschaulicher und politischer Kontroversen“ als auch die „Projektionsfläche für Krisenwahrnehmungen“.160 Diese Verschiebung von einem öffentlichen und gesellschaftlichen Problem zu einem psychiatrischen, die wir am Beispiel Berlins verfolgt haben, hat letztendlich zur ‚Entsorgung‘ des Suizids geführt. Als ‚Entsorgung‘ ist diese Transformation im doppelten Sinne zu verstehen. Erstens im Sinne einer Beruhigung: Jeder Suizid ist für die Angehörigen und Freunde im wörtlichen Sinne ein Selbst-Mord, nämlich persönliche Katastrophe und Anlass der Verzweiflung. Dennoch gibt der Suizid keinen Anlass für eine existenzielle Beunruhigung unserer Gesellschaft. Eine Selbsttötung prominenter Personen mag wenige Tage die Schlagzeilen bestimmen, doch bleibt die öffentliche Debatte meist bei der Frage des individuellen Schicksals stehen. Zweitens im Sinne einer Beseitigung: Wenn der Suizid heute kein soziologisches Phänomen oder Symptom für soziale Missstände, sondern Zeichen einer schweren Depression ist, Hinweis auf eine unzureichende Schmerzbehandlung oder Ausdruck einer schlechten Betreuung, dann ist nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Medizin zuständig. Die Betreuung und Versorgung von Suizidalen ist ihre Aufgabe. Und da heute 90 Prozent der Selbsttötungen auf eine psychische Erkrankung zurückgeführt werden, sind es die Psychiater, die in der Regel hierfür herangezogen werden. Diese identifizieren dann nach den großzügigen Regeln des Diagnostic and Statistical Manual eine der zahlreichen mental disorders (Geistesstörungen),161 womit sich die Sorge um und die Versorgung von suizidalen Menschen als eine nach Reichsversicherungsordnung erstattungspflichtige Leistung mit den Krankenkassen abrechnen lässt. Diese Psychiatrisierung des Suizids kann man als Effekt einer funktionalen Differenzierung der Versorgung begreifen: Medizinische Experten, ausgestattet mit obrigkeitlichen Befugnissen, einem ausgefeilten wissenschaftlichen Instrumentarium und institutionellem Apparat kümmern sich – stellvertretend und im Auftrag der Gesellschaft fürsorglich, effektiv und nachhaltig um dieses Problem. Dieser systemtheoretischen Sichtweise wollen wir aber nur bedingt folgen. Denn es liegt weder am Gegenstand oder in der Natur des Suizids be159 Durkheim (1903) 1983. 160 Baumann 2001, 10 und 323. 161 Siehe zum Beispiel Waern u. a. 2011.

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gründet, dass gerade die Psychiatrie diese Funktion übernahm. Vielmehr begreifen wir die Psychiatrisierung des Suizids als Effekt einer mehr oder minder kontingenten Konjunktur. Denn es war, wie wir gezeigt haben, der Auf- und Ausbau eines modernen Rettungswesens am Ende des 19. Jahrhunderts, durch den die Psychiater die komatösen oder bewusstseinsgetrübten Suizidenten zugewiesen bekamen. Und es waren gerade die Segnungen einer industrialisierten Gesellschaft – die flächendeckende Versorgung mit Stadtgas ebenso wie die bis 1908 frei verkäuflichen Barbiturate –, deren missbräuchliche Verwendung solche komatösen Zustandsbilder erzeugte. Die Psychiatrisierung des Suizids stellt somit gewissermaßen den unbeabsichtigten Effekt verschiedener, sich überschneidender Entwicklungen dar: Industrialisierung der Arzneimittel, Aufbau städtischer Energieversorgungsnetzwerke, Kommunalisierung des Rettungswesens als städtische Aufgabe der Daseinsfürsorge. Gemeinsam ist allen diesen Entwicklungen der Bezugsrahmen der Stadt. Leuchtgas, Rettungswagen und Industrieprodukte zählen gewissermaßen zu den Errungenschaften einer urbanen Moderne – und nicht zufällig stellte sich für die Zeitgenossen der Selbstmord als ein Problem der Großstadt dar.162 Die Psychiatrie bekam diese modernen urbanen Suizidalen somit nicht anvertraut, weil sie für diese Aufgabe besonders prädestiniert gewesen wäre. Vielmehr wusste die Institution mit diesem neuen Typus des suizidenten Menschen wenig anzufangen, wie wir gezeigt haben. Denn „Selbstmord“ war damals keine Begleiterscheinung melancholischer, depressiver oder psychotischer Erkrankungen. Stattdesseen lieferten Schwangerschaft und Liebeskummer, soziales Unglück und wirtschaftliche Not, Ehestreit und Disziplinarmaßnahmen oftmals den Grund einer Verzweiflungstat. Für diese Sorgen gab es aber weder in der Ordnung der Anstalt noch in der Ordnung des psychiatrischen Wissens einen angemessenen Ort. In diesem Sinne bildete der Suizid eine ‚Störung‘ der institutionellen Logik und Wissensordnung. Die häufige Diagnose einer „Psychopathie“ in verschiedensten Kombinationen war folglich weniger Ausdruck eines positiven Wissens als einer institutionellen Verunsicherung und Verlegenheit. Mit dieser Diagnose wurden die Motive und Ursachen des Suizids zugleich aber aus den gesellschaftlichen Umständen in die individuelle Veranlagung oder persönliche Konstitution verlagert. Alternativen zur Psychiatrisierung des Suizids hätte es gegeben. Neben dem Ausbau des Rettungswesens wurde in jenen Jahrzehnten auch das Modell einer präventiven oder sogar prophylaktischen Fürsorge entwickelt. Es blieb, wie wir gezeigt haben, nicht ohne Erfolg. Selbst in den Krisenjahren der Weimarer Republik wurden diese Initiativen weiterentwickelt und in die städtische Infrastruktur integriert. Doch verhindern konnte diese Entwicklung die heutige Deutung des Suizids nicht: Psychopharmaka und Psychotherapien gelten als jene 162 Goeschel 2011, 32, siehe zum Beispiel Gruhle 1940, 68.

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Mittel, die maßgeblich zur Halbierung der Selbsttötungen in Deutschland seit den 1970erJahren beigetragen haben.163

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163 Vgl. Wedler 2000, 91.

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Anne Gnausch und Volker Hess

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Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach

Rausch – Sucht – Wahnsinn. Die Hamburger Drogenszene auf St. Pauli in den 1920er-Jahren*

Im Fokus des Aufsatzes steht eine besondere Formation des ‚modernen‘ Wahnsinns: die Drogensucht der Metropole. Ausgehend von einschlägigen psychiatrischen Patientenakten wollen wir am Beispiel Hamburgs die Entstehung dieses Wahns zwischen Rausch und Sucht in der Großstadt genauer lokalisieren und an die ‚Eigenlogik‘ eines bestimmten Stadtraums zurückbinden. Unser Interesse gilt dabei dem hafennahen Vergnügungsviertel St. Pauli. Hier ist es möglich, ein spezifisches Beschaffungs- und Distributionssystem rauscherzeugender Narkotika zu rekonstruieren, dessen vielschichtige Topographie zumindest in Ansätzen herausgearbeitet werden soll.1 Der Hamburger Psychiater Friedrich Meggendorfer (1880–1953)2 schrieb in seiner umfassenden Abhandlung über die Intoxikationspsychosen in Oswald Bumkes Handbuch der Geisteskrankheiten 1928: So sind es bei uns besonders niedere Künstler und Artisten, Angehörige der Bohème, Schieber, gewerbsmäßige Spieler, Kellner sogenannter Nachtkneipen und das dort verkehrende Publikum aller Kreise samt Straßenmädchen und Zuhältern, die dem Schnupfcocainismus als Opfer anheimfallen, daneben freilich zuweilen auch vollwertige und hochwertige junge Leute, die aus Zufall, aus Neugierde oder durch Verführung einmal in diese Kreise kommen.3

Und über das Heroin ist zu lesen:

*



1 2 3

Ein besonderer Dank gilt Frau Gunhild Ohl-Hinz vom St. Pauli-Archiv, Hamburg, für eine Reihe wichtiger Hinweise. Der vorliegende Aufsatz lässt sich dem Themenkomplex ‚Wahnsinn und Hafen‘ zuordnen, zu dem in den letzten Jahren auf Grundlage der Friedrichsberger Patientenakten für Hamburg eine Reihe von Untersuchungen (u. a. Wulf/Schmiedebach 2010, 2012a, 2012b und 2014) erschienen sind. Seit 1918 an der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg in Hamburg tätig, seit 1928 als Oberarzt (1927 a. o. Prof.), seit 1934 Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik Erlangen und o. Prof. an der Universität Erlangen. Vgl. Kreuter 1996, Bd. 2, 934–936 sowie Riebeling 1953. Meggendorfer 1928, 330.

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Als Genußgift ist das Heroin vor allem in Amerika in Gebrauch gekommen; von hier aus wird der Heroinismus durch Seeleute in den Hafenstädten verbreitet. […] Der Heroinismus ist, in Hamburg wenigstens, besonders in den gesellschaftlich niederen Kreisen verbreitet, unter den Seeleuten, den Dirnen sowie den Angestellten, Kellnern, Artisten, Musikern der Kneipen und Nachtlokale.4

Meggendorfer war seit Ende 1918 an der Hamburger Staatskrankenanstalt Friedrichsberg5 tätig und hatte dort reichhaltige klinische Erfahrungen auf dem Gebiet der Suchterkrankungen sammeln können. Er wandte sich mit seiner Darstellung an ein überregionales Publikum. Dabei verzichtete er in Hinsicht auf das Kokain auf jede lokale Bezugnahme, verwies aber für das Heroin ausdrücklich auf Hamburg. Es ging ihm hier nicht um die Frage der Berufs- oder Tätigkeitsstruktur von Süchtigen. Er fokussierte vielmehr auf eine spezifische Szene, ein bestimmtes großstädtisches Milieu, das in der Hafenmetropole Hamburg in einer besonderen Weise ausgeprägt war. Die zitierten Feststellungen aus seiner Abhandlung verweisen – wenn auch keineswegs ausschließlich und auch nicht explizit, so doch erkennbar – auf das international bekannte Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli. Sie provozieren die Frage, wie sich die Rolle von Drogenhandel und -konsum in diesem Stadtraum aus den unterschiedlichen Perspektiven der zahlreichen AkteurInnen für die 1920er-Jahre darstellt. Während die Berliner Ärzte Ernst Joël (1893–1929) und Fritz Fränkel (1892–1944) in den frühen 1920er-Jahren Feldforschung zum Kokainismus in der Reichshauptstadt betrieben, indem sie relevante öffentliche Räume und Gruppen aufsuchten,6 sind vergleichbare Zeugnisse systematischer ärztlicher Beobachtung in der Stadt beziehungsweise außerhalb der Klinik für Hamburg nicht überliefert. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die für Hamburg typische hafenstädtische Drogenszene mithilfe der einschlägigen psychiatrischen Patientenakten der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg sowie behördlicher Akten und dort gesammelter Presseartikel sichtbar zu machen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Quellen jeweils nur bestimmte eingeschränkte Perspektiven repräsentieren. Während in den behördlichen Quellen Ordnungsaspekte und die Erfassung von störenden Milieus sowie deren Begrenzung oder auch Auflösung dominieren, eröffnen die psychiatrischen Quellen eine komplementäre Sichtweise, indem über Strategien der Psychopathologisierung versucht wird, die störenden Phänomene und Personen mithilfe der psychiatrischen Kompetenz zu beherrschen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die in den Krankenblättern dokumentierten Aussagen der süchtigen PatientInnen jeweils von deren eigenen Interessen bestimmt sein können. 4 5 6

Ebenda, 323. Weygandt 1910, 1922 und 1928. Joël/Fränkel 1924, 1 und 15–19.

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Die Explorationen süchtiger PatientInnen durch die Friedrichsberger Psychiater brachten in erster Linie Wissen über die jeweiligen Kranken und verschiedene Formen von Drogenabhängigkeit, Rausch und entsprechenden Wahnzuständen hervor, lassen aber auch einen Prozess der Wissensgenerierung und damit auch der Gestaltung von Bildern und Vorstellungen über bestimmte urbane Räume sowie besondere Orte und Praktiken in ihrer spezifischen Anbindung an Drogenbeschaffung, -konsum und -kriminalität erkennen. Auch wenn das Material aus Friedrichsberg nur einen Teil der Hamburger Süchtigen jener Jahre erfasst und von der psychiatrischen Praxis bei der Erstellung der Krankenakten7 geprägt ist, also nur ein selektives Bild im doppelten Sinne vermitteln kann, wird dieses Material bewusst von uns genutzt, um einen besonderen Zugang zur Hamburger Drogenszene auf St. Pauli und am Hafen im Kontext einschlägiger Krankengeschichten und signifikanter Einzelschicksale zu entwickeln, wie sie in den Patientenakten eindrucksvoll dokumentiert und überliefert sind. In den ergänzend betrachteten behördlichen Unterlagen werden – bezogen auf St. Pauli – vor dem Hintergrund eines zunehmend inkriminierten Rauschmittelkonsums8 entsprechende Aufmerksamkeits-, Interventions- und Regulierungsschwellen sichtbar. Presseartikel schließlich setzen besondere Akzente und werfen prägnante Schlaglichter auf öffentliche, halb­öffentliche und private Rausch- und Suchtorte in St. Pauli. Die genannten Quellen zeichnen sehr unterschiedliche Bilder der dortigen Drogenszene. Es hätte den Rahmen des Aufsatzes gesprengt, personenbezogene Akten aus den Beständen der Polizeibehörde beziehungsweise der Staatsanwaltschaft mit Blick auf Drogenkriminalität systematisch und in detaillierter Form zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Auswertung der psychiatrischen Patientenakten und ihre Aussagekraft für das Thema. In nicht wenigen einschlägigen Patientenakten finden sich allerdings auch Auszüge aus gerichtlichen und polizeilichen Akten, sodass dieser Themenkomplex nicht gänzlich außerhalb der Betrachtung bleibt. In der zeitgenössischen Fachliteratur findet man eine Reihe von Aufzählungen, die mit denen Meggendorfers vergleichbar sind. Das Nachtleben, das Rotlichtmilieu und die sogenannte Halbwelt werden auch hier als wesentliche Bezugspunkte (groß-)städtischer Drogenmilieus genannt. Wenn in einer neueren Arbeit zur Geschichte des Drogenkonsums derartige Feststellungen primär als Stereotype, als negative Zuschreibungen oder bloße Elemente einer Problematisierungsstrategie von Rauschmitteln verstanden werden,9 so zeigt dies nur eine Seite des Problems. Meggendorfer jedenfalls teilte Erfahrungen mit, die in den Krankenakten und anderen historischen Quellen deutlichen Niederschlag gefunden haben. Das Drogenpro7 8 9

Vgl. Meier 2008, Hess 2011. Zur Opiumgesetzgebung siehe den Beitrag von Anne Gnausch in diesem Buch. Ein Überblick findet sich bei Wriedt 2006. Hoffmann 2012, 191–214, relevante zeitgenössische Zitate besonders 198–204.

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blem wurde nicht einfach bestimmten Randgruppen der Gesellschaft zugeordnet, sondern lässt sich umgekehrt kaum hinreichend verstehen, ohne gerade diese Gruppierungen am Rande der Gesellschaft in den Fokus zu nehmen. Die Definition von Drogen als „kulturelle Konstrukte“ stammt aus Jakob Tanners richtungsweisendem Aufsatz Rauschgiftgefahr und Revolutionstrauma.10 Ein entsprechender spezifischer ‚Konstruktionsprozess‘ ist beispielsweise vor dem Hintergrund der zunehmend strengeren internationalen Opiumgesetzgebung und der behördlichen und medizinischen Reaktion darauf erkennbar und somit nicht zuletzt auch Gegenstand dieses Aufsatzes. An der „kulturellen Konstruktion“ der Droge war gerade auch die Medizin beteiligt. Im Beitrag wird deutlich, wie Ärzte und die Einrichtungen des Gesundheitswesens von Anfang an und in vielschichtiger Weise in die Formierung einer Drogenszene eingebunden waren, zum Beispiel durch das Verschreiben und die Verteilung der Suchtmittel und die Erzeugung von Abhängigkeiten, aber auch durch das Aufschreiben entsprechender Krankengeschichten und Ereignisberichte in den Patientenakten oder als Informationslieferanten für die Ordnungsbehörden. Gerade Behörden – vor allem die Hamburger Sozialbehörde – sind als zentrale Akteure bei der Gestaltung St. Paulis als Drogenort zu benennen. Durch die wichtige Rolle von Seeleuten, die als Lieferanten der Suchtmittel fungierten, oder Kneipenwirten und nicht zuletzt auch Zeitungsredakteuren, die an der Gestaltung dieser Formation des Wahnsinns mitwirkten, wird gerade auf St. Pauli ein besonders komplexes Konstruktionsgeflecht greifbar. Dabei können auch vielfältige Angaben über das Agieren von DrogenpatientInnen aus den medizinischen Akten herausgefiltert werden. DrogenpatientInnen, wie sie in den Quellen greifbar werden, lassen sich jedoch nicht als bloße „kulturelle Konstrukte“ begreifen. Wir nehmen sie als ‚eigensinnige‘ Akteure ernst. Wenn zum Beispiel in einer Krankenakte berichtet wird, dass ein Drogenpatient beim Ausgang in die Stadt versucht habe, den ihn begleitenden Pfleger zum Rauschmittelkonsum zu bewegen, so kann diese Darlegung als eine durch das medizinische Aufschreibesystem erzeugte Konstruktion einer besonderen Gefährlichkeit des Patienten und seiner hartnäckigen Verführungsversuche gesehen werden, die eine grenzüberschreitende Expansionskomponente besitzt und die Tendenz einer ubiquitären ‚Verseuchung‘ mit Drogen signalisiert. Diese Lesart sollte aber ergänzt werden durch eine weitere, die den Drogenpatienten als ‚eigensinnigen‘ Akteur ernst nimmt, dessen Interesse es war, die ihn begleitende und kontrollierende Person durch einen gemeinsamen Rauschmittelkonsum in die Rolle des Komplizen zu versetzen, um auf diese Weise die Kontrollfunktion der Begleitperson aufzuheben oder zumindest zu relativieren. Beide Perspektiven sind in der Akte angelegt und sollten bei der Analyse der Dynamik im Gestaltungsprozess des Drogenwahns und seiner topographischen Besonderheiten 10 Tanner 1990, 398.

Rausch – Sucht – Wahnsinn

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Berücksichtigung finden. Die Darlegungen hier folgen dieser differenzierenden Intention, was freilich nicht immer eine klare Zuspitzung hinsichtlich eines eindeutigen Bildes oder „Konstruktes“ erlaubt, denn die Formation des Drogenwahns entfaltete ihre Wirkmächtigkeit in einem komplexen Zusammenspiel von Medizinsystem, Behördenkontrolle und topographischen Selbst- und Fremdverortungen. Wenn hier und im Folgenden von St. Pauli11 (oder vom Kiez) gesprochen wird, so ist nicht der ganze Stadtteil gemeint, sondern in erster Linie der südliche Teil mit der Reeperbahn (und dem Spielbudenplatz) als Hauptachse und den von ihr nach Norden und Süden abzweigenden Neben- sowie entsprechenden Querstraßen. Nördlich dieses Bereichs liegen nach heutiger Benennung das Schanzen- und das Karolinenviertel. Der Gebietsteil St. PauliSüd hatte während des Untersuchungszeitraums zwischen 30.000 und 34.000 EinwohnerInnen.12 St. Pauli hieß ursprünglich Hamburger Berg (Umbenennung 1833). Es liegt tatsächlich auch – leicht erhöht – oberhalb der Elbe. Große Teile des Berges waren allerdings bis ins 17. Jahrhundert abgetragen worden. Die Redewendung „auf St. Pauli“ jedoch hat hier ihre Wurzeln. 1894 wurde die Vorstadt St. Pauli in die Freie und Hansestadt Hamburg eingemeindet. Bis zum Groß-Hamburg-Gesetz 1937/38 grenzte St. Pauli im Westen an die legendäre Große Freiheit, die bis dahin noch zu Hamburgs Nachbarstadt Altona gehörte. Auch das sogenannte Grenzgebiet zwischen St. Pauli und Altona ist Gegenstand dieser Untersuchung. Der Boom St. Paulis als Vergnügungsviertel13 begann in den 1890er-Jahren. Die Anfänge reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Hier gab es nicht nur die ‚sündigste Meile der Welt‘, sondern im Laufe der Jahre und Jahrzehnte auch eine beachtliche Zahl an Schauspiel- und Konzerthäusern, großen Revue- und Varietétheatern, Zirkusmanegen und eleganten Ballhäusern.14 Das Publikum war international. Die Einnahmen aber nutzten nur wenigen. Hinter den Kulissen des Amüsements und im Schatten des großen Geldes der Hamburger City herrschte große soziale Not. St. Pauli-Süd war sehr dicht bebaut. Viele Wohnungen waren für die MieterInnen nur durch Aufnahme von UntermieterInnen erschwinglich.15 Nach 1945 entwickelte sich St. Pauli zu einem der ärmsten Stadtviertel der Bundesrepublik, in jüngster Zeit zu einem offenen Szeneviertel im Kontext von ‚Gentrifizierung‘ und neuartiger Kulturszene. Die Besonderheit der Drogenszene auf St. Pauli ist die Nähe zum Hafen, genauer zu einem der größten Häfen Europas. Der Hamburger Hafen war während der Weimarer Republik

11 12 13 14 15

Einen guten ersten Überblick zur Geschichte St. Paulis gibt Mathar 2003. Vgl. hier Statistisches Jahrbuch 1920, 13; 1926/27, 9 und 1930/31, 16. Vgl. zum Vergnügungsviertel allgemein Becker 2011. Vgl. dazu Thinius 1975, Tietgen 2009. St. Pauli-Archiv 1990, 21–24.

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Abb. 1: Die St.-Pauli-Landungsbrücken in Hamburg.

ein wichtiger Umschlagplatz des offiziellen, aber auch illegalen internationalen Drogenhandels.16 Zwar war ein Hafen nicht unbedingte Voraussetzung für die Entstehung großstädtischer Drogenszenen. Der überseeische Schiffsverkehr verlieh dem Drogenmilieu auf St. Pauli jedoch seine spezifische Internationalität und sorgte in eigener Weise für ein hohes Maß an Fluktuation von Menschen und Rauschmitteln. Die besondere räumliche Konstellation ergab sich ab 1839 aus der Anlage sowie dem weiteren Ausbau der St. Pauli-Landungsbrücken, nur wenige hundert Meter von der späteren Reeperbahn entfernt. Beide Aspekte – Drogenschmuggel und Drogen auf dem Kiez – haben auch in der Hamburger Romanliteratur (wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise) ihren Niederschlag gefunden.17 In jüngerer Zeit war es vor allem Lars Amenda, der in seiner fundierten Studie über die chinesische Einwanderung nach Hamburg den Stadtteil St. Pauli in den Fokus der Betrachtung gerückt hat.18 Dabei geht er auch auf die dortige Drogenszene ein. Amendas Interesse gilt primär den Opiumhöhlen. Er konstatiert eine „Selbstabschottung“ der chinesischen Kon16 Vgl. etwa de Ridder 2000, 141 f. sowie auch Staatsarchiv Hamburg (=StAHH), 351-10 I (Sozialbehörde I), GF 44.10, Bd. 2 (Missbrauch von Rauschgiften, April 1930–1932), Bll. 17 und 18. 17 Leip 1982, bes. 37, 71, 168 f., 232, 246, 257 und 323 sowie Zech 1937, 73–85. 18 Amenda 2006, 143–170, bes. 151 f. Vgl. auch Amenda 2011, 50–67.

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sumenten, in deren Folge diese Szene – von Amenda eingehend untersucht und behandelt – weitgehend ein eigenes Drogenmilieu auf St. Pauli darstellte. Die Drogenszene, auf die Meggendorfer Bezug nahm und die in den einschlägigen Friedrichsberger Patientenakten dokumentiert wurde, hatte wiederum wenig oder gar nichts mit den Opiumhöhlen chinesischer Immigranten zu tun. Der vorliegende Aufsatz bezieht diese deshalb auch nicht in seine Betrachtung ein. Dennoch waren auch sie Teil des Drogenmilieus auf dem Kiez und ein wichtiger Aspekt der Drogenfrage dieser Zeit.

Die Drogenszene auf St. Pauli im Spiegel psychiatrischer Krankenakten Im historischen Krankenaktenbestand der Irrenanstalt beziehungsweise späteren Staatskrankenanstalt Friedrichsberg19 konnten für die Jahre 1900 bis 1930 insgesamt 301 Patientenaufnahmen wegen Rauschmittelsucht nachgewiesen werden.20 Durch eine Reihe von Mehrfachaufnahmen ist die Gesamtzahl der betreffenden PatientInnen aber deutlich geringer. Da der überlieferte Gesamtbestand der Friedrichsberger Patientenakten als zum Teil lückenhaft betrachtet werden muss, war andererseits die tatsächliche Anzahl der Anstaltseinweisungen mit Sicherheit höher als ermittelt. Aus der Zeit von 1900 bis 1919 liegen 38 einschlägige Kran19 Die Friedrichsberger Krankenakten befinden sich im Historischen Krankenblatt-Archiv (=HKbA) des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bei PatientInnen mit Mehrfachaufnahmen wird als Nachweis in den Fußnoten jeweils die letzte Aufnahmenummer angegeben. Dies ist die Nummer, unter der die Akten abgelegt worden sind. Zitiert wird ohne Vereinheitlichung der Rechtschreibung und der Zeichensetzung. Auslassungen sowie Anonymisierung von Namen im Zitat sind durch eckige Klammern gekennzeichnet, ebenso notwendige Auflösungen von Abkürzungen. Im Interesse einer guten Lesbarkeit der zitierten Textpassagen wurden offensichtliche Fehler ohne weitere Kennzeichnung korrigiert. Hervorhebungen im Original sind kursiv gesetzt. Vgl. zur Materialität der Friedrichsberger Akten Sammet 2006. 20 Es existieren keine Aufnahmebücher, durch die der Friedrichsberger Krankenaktenbestand näher erschlossen werden könnte, etwa nach Diagnosen. Zur Aushebung der Friedrichsberger DrogensuchtFälle zwischen 1900 und 1930 musste deshalb der gesamte Aktenbestand von mehr als drei Jahrzehnten durchgesehen werden. Maßgebend waren die Aufnahmebögen. Aus Zeitgründen war es nicht möglich, diese sehr aufwendige Suche nach relevanten Patientenakten auch für die frühen 1930erJahre (1931 ff.) fortzusetzen. Es ist aber wahrscheinlich, dass in den Akten von PatientInnen aus diesem Zeitraum bei Mehrfachaufnahmen auch noch Krankenblätter aus den späten 1920er-Jahren abgelegt worden sind. Die Zahlen bis 1930 stellen also Mindestwerte dar, zumal auch für den Gesamtbestand erfahrungsgemäß nicht mit einer Überlieferungsrate von 100 Prozent gerechnet werden kann. 1927 sind nach Weygandt insgesamt 42 MorphinistInnen in Friedrichsberg aufgenommen worden. Dem stehen 36 Krankenakten von rauschmittelabhängigen PatientInnen gegenüber, die sich im Hamburger Krankenblatt-Archiv nachweisen ließen. Vgl. Weygandt 1929, 504.

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kenakten und -blätter vor, aus der Zeit von 1920 bis 1930 sind es 263. Im Rahmen unserer systematischen quantitativen und inhaltlichen Auswertung der Akten wurden auch relevante Bezüge der Krankengeschichten zum Stadtviertel St. Pauli berücksichtigt und erfasst. Während sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in keiner der einschlägigen Patientenakten Hinweise auf das Gebiet rund um die Reeperbahn fanden, ließen sich für 1920 bis 1930 immerhin 36 entsprechende Krankengeschichten nachweisen, in denen St. Pauli – im Kontext von Drogenbeschaffung und -konsum – explizit genannt oder auf bestimmte Straßen, Plätze oder Orte auf dem Kiez verwiesen wurde.21 Dies entspricht einem Anteil von etwa 14 Prozent der Fälle,22 der im ersten Moment als nicht besonders hoch erscheint, aber doch im Schnitt fast jeden siebten überlieferten Fall betrifft. Fokussiert man auf die Diagnosen, so ergeben sich interessante Aufschlüsse. In den insgesamt 36 Krankengeschichten mit St. Pauli-Bezug findet sich 12-mal die Diagnose Heroinismus, 9-mal die Diagnose Kokainismus und 11-mal die Diagnose Morphinismus. Heroinismus ist in den einschlägigen Friedrichsberger Fällen von Drogensucht insgesamt nur 24-mal nachgewiesen, Kokainismus nur 26-mal. Die Diagnose Morphinismus findet sich hingegen 171-mal auf den Aufnahmebögen der betreffenden PatientInnen. 50 Prozent aller überlieferten Heroinismus-Fälle haben demnach einen Bezug zur Szene auf St. Pauli. Für die überlieferten Kokainismus-Fälle ergibt sich immerhin noch ein Kontingent von 34,6 Prozent. Der Anteil der Morphinismus-Fälle hingegen liegt bei gerade einmal 6,4 Prozent. In diesen Akten ist also für Hamburg eine Konzentration des Heroin- und Kokainkonsums auf St. Pauli ausgewiesen. Dies wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass sich der Begriff „Morphinismus“ in den untersuchten Patientenakten nicht ausschließlich auf reine Morphiumsucht bezieht, sondern zum Teil als eine Art Oberbegriff für den ‚Missbrauch‘ von Narkotika insgesamt greifbar wird.23 Betrachtet man die elf genannten Fälle mit St. Pauli-Bezug, bei denen die Diagnose auf Morphinismus lautete, so ergibt eine genaue Analyse der entsprechenden Krankenakten, dass es sich in sieben Fällen primär um Heroinismus beziehungsweise Ko21 Demgegenüber finden sich in gerade einmal zwei Akten entsprechende Bezüge zum Vergnügungsviertel St. Georg beziehungsweise zum Rotlichtmilieu rund um den Hamburger Hauptbahnhof. 22 Dies ist nur ein Mindestwert. Bei einigen PatientInnen mit mehreren Aufenthalten in Friedrichsberg ist der St. Pauli-Bezug mitunter nur in einer Krankengeschichte explizit belegt. Die anderen Aufnahmen wurden hier nicht mitgezählt, da entsprechende Bezüge – wenn überhaupt – nur sehr mittelbar erschließbar gewesen wären. Nicht mitgezählt wurden auch Fälle, bei denen eine Wohnadresse auf St. Pauli der einzige Bezug gewesen wäre. Insgesamt wird man also von einem höheren Anteil als 14 Prozent ausgehen können. 23 Für Steimann etwa umfasste der Morphinismus den „süchtigen Gebrauch aller Narkotika“. Vgl. Steimann 1927, 719, Anm. 1.

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kainismus handelte.24 Auch wenn auf der Grundlage von 36 Patientenakten an dieser Stelle keine allzu weitreichenden Schlussfolgerungen für ein Stadtviertel gezogen werden sollen, in dem immerhin mehrere 10.000 Menschen lebten, so wird auf Basis dieser Akten gerade für St. Pauli doch eine neue Form des Drogenkonsums und -kleinhandels erkennbar, denn die anscheinend starke Verbreitung von Kokainismus und Heroinismus auf dem Hamburger Kiez in den 1920er-Jahren markiert im Vergleich zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine Veränderung. Der „alte Cocainismus“ (Meggendorfer) war zu jener Zeit primär bei älteren Personen und in wohlhabenden Kreisen verbreitet,25 Heroin war als Rauschmittel praktisch nicht bekannt gewesen.26 In 17 der 36 St. Pauli-Fälle finden sich die Begriffe „Psychopathie“ beziehungsweise „De­ generation“ zusätzlich als Diagnose vermerkt. In diesen Fällen ging man ärztlicherseits von einer Prädisposition der jeweiligen PatientInnen aus, das heißt, es wurden Persönlichkeitsstörungen (Haltlosigkeit, Willenlosigkeit etc.) für die Entstehung der Suchterkrankung verantwortlich gemacht.27 Die Zuweisung sogenannter psychopathischer Minderwertigkeit oder hereditärer Belastung ist in den Krankengeschichten mit St. Pauli-Bezug aber nicht weniger oder häufiger nachzuweisen als im Gesamtbestand der Friedrichsberger Drogenakten. Der jeweilige Anteil ist praktisch identisch (47 beziehungsweise 45 Prozent). Entsprechende Argumentationen dienten oftmals der Entmündigung der Betroffenen und damit der Möglichkeit, Zwangsentziehungen durchführen zu können. Der Drogenkonsum auf St. Pauli in den 1920er-Jahren, zumindest wie er durch die Friedrichsberger Akten greifbar wird, betraf fast durchweg die ärmsten Schichten. Das Durchschnittsalter der Friedrichsberger PatientInnen mit St. Pauli-Bezug lag am Aufnahmetag bei 28,7 Jahren. Es handelte sich um deutlich mehr Männer als Frauen. In den 36 einschlägigen Krankengeschichten werden aufgrund einiger Mehrfachaufnahmen 32 unterschiedliche ­PatientInnen greifbar. Allein sieben Patientinnen waren sogenannte Kontrollmädchen, also Prostituierte. Ihre Akten geben interessante Blicke auf das Milieu frei. Besonders aussagekräf-

24 Der Anteil entsprechender Fälle bei Morphinismus-Diagnosen in den Friedrichsberger Krankenakten ohne St. Pauli-Bezug ist ungleich geringer. Grundsätzlich muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass in einer Reihe von Fällen in Hamburg nicht genau zwischen Morphinismus, Kokainismus und/oder Heroinismus getrennt werden kann. Nicht wenige der drogensüchtigen PatientInnen hatten vor ihrem Anstaltsaufenthalt nicht nur ein Rauschmittel, sondern je nach Gelegenheit und Verfügbarkeit unterschiedliche Drogen konsumiert. Vgl. dazu Kraepelin 1927, 627. So findet man auch Doppeldiagnosen wie etwa „Morphinismus, Cocainismus“ oder „Kokainismus, Heroinismus“. In dem Bestand mit St. Pauli-Bezug ist das viermal der Fall. 25 Meggendorfer 1928, 330. Vgl. auch den Beitrag von Anne Gnausch in diesem Buch. 26 Kohfahl 1926, 81 f. Vgl. zur Geschichte des Heroins de Ridder 2000. 27 Vgl. Wulf 2016.

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tig sind aber auch die Krankenakten drogensüchtiger Seeleute. Diese beiden Gruppen machen mehr als ein Drittel des hier interessierenden Patientenkontingents aus. Sie repräsentieren wie kaum eine andere Gruppierung das hafennahe Vergnügungsviertel St. Pauli. Insbesondere die Seeleute hatten eine Schlüsselstellung in der Drogenszene auf dem Kiez inne. Es ist deshalb naheliegend, ihnen im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zu schenken und danach näher auf die Fälle einiger Prostituierter einzugehen. In den ausgewählten Akten treten zwar auch PatientInnen in Erscheinung, die lediglich als Besucher des Stadtviertels etwas zu berichten hatten. Es finden sich – neben den Prostituierten und Seemännern – meist aber Patienten, die Teil dieser Szene waren (Barmusiker, Kellner, Gastwirte, Straßenverkäufer, Kleinkriminelle). Und es gab PatientInnen, die gerade aus purer Not in diese Szene abzurutschen drohten, als sie in die Friedrichsberger Anstalt gebracht wurden. Manche kamen aus dem Hafenkrankenhaus,28 einige von der Davidwache,29 nicht wenige aber direkt aus ihrer Unterkunft auf dem Kiez.

Seeleute Im Folgenden werden besonders eindrückliche Fälle vorgestellt, die das Bild der Hamburger Drogenszene auf St. Pauli zeichnen. Erkennbar werden spezifische Distributionswege und differente Beschaffungsmöglichkeiten. Seemänner werden dabei sowohl als Konsumenten als auch als Kleinhändler von Rauschmitteln erkennbar. Im Oktober 1924 wurde der 40-jährige Leo T.30 wegen Heroinismus in Friedrichsberg aufgenommen. Er wohnte auf St. Pauli in der Kastanienallee 32 zur Untermiete und kam zu Fuß von dort in die Anstalt. Schon in sehr jungen Jahren war er zur See gefahren, zunächst als Schiffsjunge (Messraumsteward), später als Matrose und als Trimmer. 22 Jahre war er in Amerika gewesen, so erinnerte er sich, habe kaum gearbeitet, sich herumgetrieben, gespielt und in den USA auch kurze Haftstrafen verbüßt. In San Francisco sei er viel mit Chinesen zusammengekommen und habe mit ihnen auch Opium geraucht.31 Er habe auch viel Kokain genommen. Nach einer Entziehungskur in einer amerikanischen Irrenanstalt sei er drei Jahre frei von Rauschmitteln gewesen, bis er nach dem Krieg wieder nach Deutschland kam. Er fand in Hamburg keine Arbeit, schlug sich als Dolmetscher und Klavierspieler durch: 28 Polizeibehörde Hamburg 1904, Hafenkrankenhaus Hamburg 1975. 29 Gebäude des Hamburger Polizeikommissariats 15, ehemals Wache 13 (Architekt: Fritz Schumacher, 1914); gelegen an der Reeperbahn, Ecke Spielbudenplatz/Davidstraße; bekannt vor allem durch Film und Fernsehen als Davidswache (Polizeirevier Davidswache, Regie: Jürgen Roland, 1964; Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache, Regie: Wolfgang Staudte, 1971). 30 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 54458. 31 Opium wird hier als eine Art Einstiegsdroge erkennbar. Diese mögliche Facette in der Dynamik des Drogenkonsums lässt sich für Hamburg in den einschlägigen Krankenakten nicht nachweisen.

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Im Verkehr mit den Ausländern und als er Hunger hatte, bekam er wieder Lust nach den Giften. Die Ausländer nähmen hier alle Heroin, [...]. In jeder Wirtschaft am Hafen könne man Heroin kaufen. Meist von den Spaniern. Auch in den Apotheken bekomme man es auf ein Rezept. (Dr. Sommer und eine Menge andere, deren Namen er momentan nicht kenne. Eine zeitlang hätten die Apotheken auch Heroin ohne Rezept gegeben, aber jetzt geben sie es nicht mehr.)32

Zuerst habe er geschnupft, so T., später habe er gespritzt. Das habe er schon von Amerika gekannt. T. hielt es nicht lange in der Anstalt. Gegen ärztlichen Rat wurde er bereits nach knapp drei Wochen wieder entlassen. Bemerkenswert ist zunächst seine Beobachtung, dass man Heroin in Apotheken inzwischen nicht mehr ohne Rezept bekäme. Diese Angabe vom 16. Oktober 1924 ist vor allem deshalb interessant, weil im Monat zuvor ein Apotheker auf St. Pauli zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden war, weil er (beziehungsweise sein Angestellter) große Mengen Heroin und Kokain ohne Vorlage von Rezepten verkauft hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass T. sich hier in erster Linie auf die Praktiken in einer bestimmten Apotheke des Viertels, der Adler-Apotheke am Wilhelmsplatz, bezog. Auf diesen Fall wird im nächsten Kapitel noch detaillierter einzugehen sein. Besondere Aufmerksamkeit verdient ein weiterer Aspekt. Denn nicht nur in T.s Krankenakte wurde ein Dr. Sommer genannt, der offenbar sehr freigiebig Rezepte ausstellte und in St. Pauli eine Art Anlaufstelle für Drogensüchtige gewesen zu sein scheint. Auch der 25-jährige Walter H.,33 der ebenfalls im Oktober 1924 wegen Heroinmissbrauch in Friedrichsberg aufgenommen wurde, besorgte sich bei diesem Arzt Rezepte für Kokain und Heroin. Er war – wie Leo T. – Seemann. Auch in seiner Akte findet sich als Berufsbezeichnung Steward, später wurde er auch als Werftarbeiter bezeichnet. 1914 bis 1923 war er regelmäßig zur See gefahren, zunächst als Schiffsjunge und Leichtmatrose, 1917 bis 1919 auf Torpedo- und UBooten und nach der Entlassung aus der Kaiserlichen Marine auf amerikanischen Schiffen. Er hatte bereits in jungen Jahren die Welt gesehen, war in Australien, Amerika und Afrika gewesen. Auch H. wohnte auf St. Pauli, und zwar in der Langestraße 39 bei seiner Mutter. Es ist möglich, dass seine Heroinabhängigkeit iatrogen34 bedingt war. Nach eigenen Angaben hatte er drei Jahre zuvor nach einer Stichverletzung, die er bei einem Straßenüberfall erlitten hatte, im Krankenhaus große Mengen Morphium erhalten, nach seiner Entlassung aus der 32 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 54458, Eintrag 16.10.1924. 33 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 61265. 34 Als iatrogen bedingte Drogensucht bezeichnet man eine durch ärztliche Behandlungsmaßnahmen verursachte Abhängigkeit von Narkotika.

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Klinik unter erheblichen Abstinenzerscheinungen gelitten und dann selbst zu Kokain und Heroin gegriffen: Zuerst habe er es durch Rezept von Dr. Sommer bekommen (Pferdemarkt), da habe er aber nicht genug bekommen und er habe sich darum etwas unter der Hand Coc. und Her. besorgt. Dieses habe er in der Schmuckstraße in Lampes guter Stube bekommen und im spanischen Café auf der Reeperbahn und im Hotel Europa von wilden Händlern […].35

H.s Hinweis auf den Pferdemarkt als Sitz der ärztlichen Praxis des besagten Arztes verweist auf Dr. med. et chir. J. Sommer, der – laut Hamburger Adressbuch – seine Praxis am Neuen Pferdemarkt 12 in der ersten Etage hatte.36 Der Arzt wird in den Krankenakten als wichtige Figur der Drogenszene in St. Pauli greifbar, wenngleich seine Praxis schon etwas außerhalb des eigentlichen Vergnügungsviertels lag, nämlich im heutigen Schanzenviertel.37 Walter H. aber war durch den Drogenkonsum immer mehr heruntergekommen, konnte nicht mehr arbeiten und lebte ohne eigenes Einkommen bei der Mutter. Bei der Exploration ging er auch detaillierter auf die sogenannten wilden Händler ein, die er als „ganz wilde Gesellen“ bezeichnete, die „immer mit dem Revolver in der Hand“ arbeiten und vor nichts zurückschrecken würden:

35 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 61265, Eintrag 21.10.1924. Das Hamburger Adressbuch 1925 verzeichnet: Lampe, K., Wirtsch., Schmuckstraße 9, E[rdgeschoss] u. [Etage] I. Lage des Hotels Europa: Reeperbahn 130. Eine Friedrichsberger Patientin gab an, dass ein „Café Europa“ an der Reeperbahn auch „Span. Café“ genannt wurde. (HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 57074, Auszug Polizeiakte 1925). Seine genaue Lage konnte nicht ermittelt werden. Viele Restaurants, Cafés, Kneipen und Spelunken auf St. Pauli sind über die Adressbücher nicht genauer zu lokalisieren. Möglich ist dies in der Regel nur, wenn der Betreibername Bestandteil des Namens der Lokalität ist wie bei „Lampes guter Stube“. Da viele Kneipen zudem nur ein paar Jahre (oder auch kürzer) existierten, ist es in manchen Fällen fast unmöglich, nähere Hinweise zu finden. Sofern bei fraglichen Fällen auch im St. Pauli- Archiv keine entsprechenden Nachweise vorlagen, wurde im Folgenden die Lage der betreffenden Kneipe oder Bar als unbekannt eingestuft. In den meisten Fällen allerdings konnten einschlägige Angaben aus den Patientenakten konkretisiert werden. 36 Hamburger Adressbuch 1924. 37 Dr. Julius Sommer (geb. 1867) war Jude und beging 1938 wahrscheinlich Selbstmord. Deshalb wurde ihm ein „Stolperstein“ gewidmet und über sein Leben geforscht. Andernfalls wüssten wir wahrscheinlich kaum etwas über ihn. Er hatte sich etwa 1895 am Neuen Pferdemarkt in allgemeinärztlicher Praxis niedergelassen. 1911 war er in die Hamburger jüdische Gemeinde eingetreten. Aus seinen kontinuierlich steigenden, hohen Gemeindeabgaben konnte geschlossen werden, dass seine Praxis am Neuen Pferdemarkt gut gelaufen sein muss. Wenn seine Schwiegertochter 1960 im Zuge des Entschädigungsverfahrens seine ruhige Art und seine medizinische Sicherheit als Gründe dafür anführte, trifft das sicherlich den Kern, erklärt seine große Klientel aber wohl nur zum Teil. Vgl. Jungblut/Ohl-Hinz 2009, 180-182, Villiez 2009, 399. Zur Lage der Praxis vgl. auch den Plan im Anhang.

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Es seien zumeist Deutschamerikaner, Seeleute, ganz rohes Volk. Sie seien sehr vorsichtig, ein Kriminalbeamter könne da gar nicht herankommen. Man könne das H. & C. nur durch Fürsprache oder durch einen Spitzel bekommen. Wenn man es direkt fordere, lachten sie einen aus. Und selbst wenn man ihnen Geld auf den Tisch legt, dann rückten sie es nicht ohne Weiteres heraus.38

Ein Händler sitze bereits seit über einem halben Jahr in dem Lokal in der Schmuckstraße. Zwei junge Mädchen seien schon durch das Heroin, das sie durch ihn bezogen hätten, gestorben. Er sei aber immer noch nicht verhaftet worden. Auch ein Bekannter von H. sei in einer Kneipe in der Hafenstraße infolge einer Heroinvergiftung in seiner Gegenwart gestorben. H. wurde nach nur zwölf Tagen aus Friedrichsberg entlassen. Er wurde sofort rückfällig und beschaffungskriminell. Rund drei Jahre später kam er erneut in die Anstalt. Inzwischen war er vorläufig entmündigt worden. Dies ermöglichte die Zuführung nach Friedrichsberg zwecks Zwangsentzugs. Nach einem knappen Vierteljahr lief H. weg und wurde von der Anstalt abgeschrieben. Wiederholt erwähnte H. seinen Freund aus Kindertagen Willy R.,39 mit dem er zusammen zur See gefahren sei und alles „durchgemacht“ habe. Auch R. hielt sich – ebenso wie H. – in der zweiten Hälfte Oktober 1924 in Friedrichsberg auf. Auch R. wohnte auf St. Pauli, genauer im Zentrum des Vergnügungsviertels in der Silbersackstraße 3, und wie sein Freund H. bei seiner Mutter. Über die Entstehung seiner Abhängigkeit machte R. allerdings andere Angaben als H., obwohl auch er bei der Messerstecherei 1921 schwer verletzt worden war und im Krankenhaus Morphium erhalten hatte. R. allerdings gab an, bald danach Ausländer, besonders Amerikaner, mit denen er auf einem Schiff arbeitete, kennengelernt und von ihnen Heroin in Substanz erhalten zu haben. Die Amerikaner hätten ihm die Zubereitung der Lösung gezeigt. In der Folge hätte er sich das Mittel über Ärzte verschafft. Hatte er das Mittel genommen, konnte er gut arbeiten und fühlte sich so, „wie man sein soll“. Ohne Stoff hingegen hatte er Schmerzen in der Herzgegend, schwitzte stark, konnte nicht schlafen, fühlte sich „ganz kaputt, ganz elend“ und hätte sich am liebsten erschossen. Auch R. nannte Namen von Ärzten, bei denen er sich Rezepte holte. So erwähnte er einen Dr. Rosental, einen Dr. Strauss und einen Dr. Weiss. Da es sich hier um sehr verbreitete Namen handelte und die genaue Lage der Praxen offenblieb, ist es kaum möglich, diese Angaben konkret zuzuordnen.40 R.s Feststellung: „[d]as tut jeder“, macht jedoch deutlich, dass die 38 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 61265, Eintrag 21.10.1924. 39 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68851. 40 In den einschlägigen Akten des Hamburger Wohlfahrtsamtes finden sich allerdings Hinweise auf eine Strafsache gegen einen Dr. Weiss („u. Gen.“) wegen Vergehens gegen das Opiumgesetz (u. a.

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meisten Drogensüchtigen in seinem Umfeld bei der Beschaffung ihres Stoffs bestimmte Ärzte in Anspruch genommen haben. Dies ist auch in vielen Krankengeschichten ohne St. PauliBezug erkennbar, also nicht für diesen Stadtteil spezifisch. Allerdings, so R., müsse man den Ärzten schon längere Zeit bekannt sein, sonst würden sie einem nichts verschreiben. Greifbar wird hier ärztliches Handeln in einer Umbruchphase, in der auch die Behörden vor dem Hintergrund der neuen Opiumgesetzgebung nach dem Ersten Weltkrieg erst einmal Material zusammentragen und sich in dieser Frage orientieren mussten.41 Erst allmählich bildete sich auf ärztlicher Seite ein Problem- und Unrechtsbewusstsein heraus. Im Rahmen einer späteren Exploration R.s anlässlich seines zweiten (von vier) Friedrichsberger Aufenthalts 1927 sprach dieser davon, dass er neben Heroin auch Kokain genommen hätte. Zu dem Kokaingebrauch sei er wiederum durch amerikanische Seeleute gekommen, die er in der Pensilvania-Bar42 kennengelernt habe: Im Rausch bildet man sich vieles ein, was in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. Wenn man in ein Lokal kommt, meint man immer, man werde von allen Anwesenden beobachtet. Es sei auch als ob jemand hinter einem her sei. Man macht viele Bewegungen, die gar nicht nötig sind. Er habe sich auch immer unsicher gefühlt, man stehe nicht richtig auf den Beinen. Die Bewegungen werden immer steifer, es tritt eine gewisse Lähmung ein. Die Bewegungen seien so abgepasst; man hat das Empfinden als sei man eine aufgedrehte Puppe. Wenn man zur Toilette geht um eine Prise zu nehmen, habe man das Gefühl als ob man von allen beobachtet würde. Geschnupft werde hauptsächlich nur in den Toiletten.43

Die Grenzen zwischen Drogenkonsumenten und -dealern waren fließend. In einem ausführlichen psychiatrischen Gutachten Meggendorfers heißt es im Juli 1927 über R.: „Es war in einer Wirtschaft der Hafenstraße allgemein bekannt, dass er mit ‚Koks‘ handelte; und es konnten ihm auch mehrere Einzelfälle nachgewiesen werden, in denen er Betäubungsmittel verkauft hatte.“44 Es fällt auf, dass H. und R. zwar exakt zur gleichen Zeit, nämlich nach der Entlassung aus dem Hafenkrankenhaus und der Behandlung ihrer Stichverletzungen, rauschgiftabhängig geworden sein wollen, aber – trotz ihrer engen Beziehung – angeblich völlig unabhängig voneinander. Wahrscheinlich war der von H. behauptete iatrogene Zusammenhang nur eine Schutzbehauptung, denn auch er scheint – nach Auszügen aus einem Gerichtsurteil

41 42 43 44

„Ärzte als Aussteller von Rezepten“) von Februar und März 1928. StAHH, 351-10 I (Sozialbehörde I), GF 44.10, Bd. 1 (Missbrauch von Rauschgiften, 1924–April 1930), Bll. 92a und 92b. Vgl. etwa StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. 1, Bll. 35, 37, 61, 86, 111, 116. Die genaue Lage dieser Bar konnte nicht ermittelt werden. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68851, Eintrag 23.6.1927. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68851, Gutachten Meggendorfer 19.7.1927, 2.

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gegen ihn, seinen Freund R. und andere in seiner Friedrichsberger Krankenakte – mit Drogen gehandelt zu haben. Anders wiederum lagen die Dinge bei dem obdachlosen Seemann Ludwig B.,45 der 41-jährig Anfang 1928 in die Friedrichsberger Anstalt aufgenommen wurde. Diagnose: Heroinismus. Bei der körperlichen Untersuchung stellte man unter anderem fest, dass sich B. in stark reduziertem Ernährungs- und Kräftezustand befand und Tätowierungen auf Rücken, Brust, beiden Armen und am linken Knie hatte. Die Befragung ergab, dass er aufgrund von Appetitlosigkeit 38 Pfund abgenommen hatte. B. wollte zum Morphium gekommen sein, als er 1907 in New York mit Malaria im Hospital gelegen hatte. Man hätte es ihm dort verordnet. Danach spritzte er selber weiter. 1914 bis 1924 war er in den USA im Gefängnis gewesen und hatte keine Drogen konsumieren können. Er kehrte nach Hamburg zurück und fing sofort wieder an zu spritzen. Er fuhr zeitweise zur See oder arbeitete im Hafen. Knapp ein halbes Jahr blieb B. in Friedrichsberg. Dann nahm ihn seine Mutter zu sich, wollte sich um ihn kümmern. Bald darauf starb die Mutter. B. wurde rückfällig und im September 1929 erneut in Friedrichsberg aufgenommen. Diesmal blieb er rund zwei Monate. Ab Juni 1930 folgte der dritte Anstaltsaufenthalt. Seine Lage war praktisch ausweglos. Aus Verzweiflung über seine Arbeitslosigkeit, wie er sagte, hatte er erneut begonnen, Heroin zu spritzen: Mitgewirkt habe wohl der Umstand, daß er wieder in seine alte Umgebung hineingeriet, auf die er wegen seiner Obdachlosigkeit angewiesen war; der Verführung konnte er nicht widerstehen. Er trieb sich die ganzen Nächte auf den Straßen herum u. schlief dann tagsüber in den Lokalen von St. Pauli, den Kopf auf den Tisch legend, sitzend. Oft hatte er tagelang nichts zu essen; das war ihm auch nicht so wichtig wie das Spritzen.46

Mitunter hatte er Gelegenheitsarbeit. Dann ging der größte Teil des ohnehin knappen Ertrags für den Erwerb des Heroins drauf, „das er von Zuhältern und Prostituierten bezog“. Ansonsten pumpte er sich Geld oder stahl es. Kurz bevor er Anfang Juni 1930 erneut nach Friedrichsberg gekommen war, hatte er einem Heroinhändler 25 Päckchen der Substanz aus der Geldtasche geklaut: „Wenn er es merkt, so schlägt er mich tot. Das gibt auf St. Pauli eine ganze Clique von solchen Leuten.“ Nicht zuletzt war diese Angst der Grund, warum er zurück in die Anstalt gekommen war. Dort stellte man zum psychischen Status Ludwig B.s fest: Der Pat. macht einen sehr verfallenen, geschwächten u. heruntergekommenen Eindruck. Er scheint ein völlig haltloser Mensch zu sein, der durch sein Leben auf der Straße u. in den 45 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68454. 46 Ebenda, Eintrag 6.6.1930.

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dunkelsten Gegenden von St. Pauli immer mehr gesunken ist. Vor den ekelhaftesten Dingen schreckte er nicht zurück, wenn er Heroin spritzen wollte; öfters entnahm er z. B. das Wasser zum Auflösen des Pulvers (für intravenöse Injektionen) der Klosettschüssel.47

Immer wieder ist in den Friedrichsberger Patientenakten – bezogen auf das Kennenlernen oder die Beschaffung von Heroin oder Kokain, mitunter aber auch Morphium – von Seeleuten, Ausländern, Deutschamerikanern etc. die Rede. Auch der vielfach vorbestrafte Drogendealer Fritz B.48 machte entsprechende Angaben während seines Anstaltsaufenthalts. B.s Standort als Dealer war St. Pauli. Er kam 1930 freiwillig zum Entzug nach Friedrichsberg. 1922 hatte er mit dem Kokainschnupfen angefangen, nachdem er „in solche Kreise“ hineingeraten war: „Prostituierte, Zuhälter, Matrosen, Ausländer (Engländer, Philippinen, Amerikaner).“ An anderer Stelle sprach er von „Seeleuten, Dänen“ als damalige Bezugsquellen für das Heroin. Die 17-jährige Morphinistin Hedwig H.49 gab 1925 in Friedrichsberg an, den Stoff über Ausländer bezogen zu haben, die sie im Café Alraun auf der Reeperbahn50 kennengelernt hatte und die auch Morphium nahmen. Die Prostituierte Martha P.51 berichtete im selben Jahr, dass in der Hafengegend „von Seeleuten hauptsächlich Amerikanern“ das Kokain in kleinen Päckchen verkauft worden sei. Der Arbeiter Hans E.52 schließlich, wohnhaft in der Herbertstraße 27, hatte 1926 begonnen, Kokain und Heroin zu spritzen. Den Stoff bezog er als Pulver „in St. Pauli von Seeleuten“. In seiner Akte ist auch von einem Seemann die Rede, „der auf orient[alischen] Dampfern fuhr“, und von dem er einige Jahre später günstig Morphium bezog. 1926 veröffentlichte der im Hamburgischen Hafengesundheitsdienst tätig gewesene Mediziner Arnold Kohfahl einen Artikel über den Heroinmissbrauch und stellte fest: „In Deutschland sind es besonders die großen Hafenstädte mit Hamburg an der Spitze, wo der Heroinismus seine Anhänger gefunden hat; dies ist ja auch aus der Tatsache erklärlich, daß die Kenntnis vom Gebrauch des Heroins durch ausländische Seeleute vermittelt wird.“53 Kohfahl betonte ihre Bedeutung als Händler und zugleich Konsumenten des Stoffes: Wir finden Heroinisten unter den Prostituierten, die sich durch den Heroingenuß in die für ihr Gewerbe nötige Gleichgültigkeit hineinzuversetzen suchen. Alkoholisten kommen in den Gasthäusern evtl. durch Bekannte zum Heroin; ferner findet man Heroinisten unter Artisten 47 Ebenda. 48 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68438. 49 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 58197. 50 Reeperbahn 61. 51 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 57074. 52 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 68071. 53 Kohfahl 1926, 85.

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zweiten Ranges, Berufsmusikern, Kellnern, kurz unter all den Berufen, die in Nachtlokalen ihr Brot verdienen. Vor allem aber sind es die Seeleute, die das Hauptkontingent an Heroinsüchtigen stellen, und die dadurch, daß sie von Hafen zu Hafen ziehen, für die Weiterverbreitung der Heroinsucht eine verhängnisvolle Rolle spielen.54

Kohfahls Einsichten in die Szene basierten auf zwei unterschiedlichen zeitgenössischen Materialbeständen. Zum einen war ihm durch den Hamburger Psychiater Meggendorfer Einsicht in die bis 1924 angelegten einschlägigen Patientenakten der Friedrichsberger Anstalt gewährt worden. Meggendorfer wiederum orientierte sich 1928 in seinem eingangs angeführten Handbuchartikel an Kohfahl. Zum anderen war diesem auch Einblick in das bis dahin gesammelte Material der Hamburger Polizeibehörde gewährt worden. In einer Denkschrift der Behörde vom Oktober 1924 wurde explizit auf St. Pauli (neben der Neustadt) verwiesen, wobei gerade auch die führende Rolle der „sich hier beschäftigungslos umhertreibenden ausländischen Seeleute“ besonders im Kokainhandel hervorgehoben wurde.55 Folgt man den Friedrichsberger Krankenakten, so hat eine größere Zahl von PatientInnen im Lauf der Jahre völlig unabhängig voneinander und gegenüber verschiedenen Ärzten immer wieder Ausländer oder ausländische Seeleute als Bezugsquellen von Heroin oder Kokain angegeben. Behördliche Quellen bestätigen dies. Hier erscheint das vielschichtige Fremde als Kontrast und verweist auf den Heroinismus als Sucht der Seeleute und Prostituierten. Auch wenn man im Einzelfall eine negativ intendierte Zuweisung nicht ausschließen kann, verweisen diese Patientenangaben auf eine spezifische Internationalität der Szene im Kontext der Hafenmetropole. Vergnügungsviertel waren mehr als andere Räume in der Stadt „kosmopolitische Räume“56 – im weitesten Sinne des Wortes – und markierten hier auch ein Anderssein beim Drogenkonsum. Ausländische Seeleute jedenfalls, vor allem wohl Amerikaner und auch Spanier, werden – neben ihren deutschen Kollegen und in Hamburg ansässigen Ärzten und Apothekern – als eine zentrale Personengruppe der Drogenszene auf St. Pauli in den 1920erJahren erkennbar.

„Kontrollmädchen“ Die 25-jährige Prostituierte Anna Sch.,57 zeitweilig in der Herbertstraße 27 auf St. Pauli wohnhaft, gab im August 1928 in Friedrichsberg zu Protokoll, dass ihr „in der Belvedere“ 54 55 56 57

Ebenda, 88. StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. Bll. 25 f. Becker 2011, 156–158. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 64549.

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(Bernhardstraße 12), wo sie als „Kellnerin“ arbeitete, im Januar ein spanischer Seemann Kokain und Heroin zum Schnupfen angeboten habe. „Da der Spanier tägl. wieder nach Belvedere kam, ließ sie sich tägl. wieder was von dem Heroin für Geld geben.“58 Mitunter schnupfte sie auch Kokain. Das Heroin spritzte sie später, und zwar täglich ein Gramm, „was sie immer von dem Spanier entweder in der Kneipe oder auf der Straße nach Verabred[un]g kaufte“. Schon drei Jahre zuvor hatte sie acht Tage lang Kokain geschnupft, „als sie in der MonaLisabar – Reeperbahn Bardame war, durch Vermittl[un]g eines Ausländers, der in ihrer Bar verkehrte“.59 Sie wurde nach Friedrichsberg gebracht, nachdem sie in der Wohnung ihrer Mutter den Gashahn aufgedreht hatte. Ihre Mutter hatte sie immer wieder aus dem Milieu herauszuholen versucht. Zeitweise wohnte Anna Sch. bei ihr in der Frickestraße in Eppendorf, „aber dann zog sie mit einem Male wieder nach St. Pauli“. Auch nach Friedrichsberg kam sie während ihres zweiten Aufenthalts einmal nicht vom Urlaub zurück und wurde erst Wochen später von der Polizei wieder in die Anstalt gebracht. Sie hatte wieder Heroin genommen. Bezogen habe sie das von einem Seemann, den sie nicht näher kannte. Und sie hatte sich wieder auf St. Pauli niedergelassen, mitten im Herzen des Rotlichtmilieus, angeblich ohne sich prostituiert zu haben. Doch diese Frage war ihr im Grunde völlig gleichgültig: „Das ist doch egal. Mein Leben ist so verpfuscht u. so verpfuscht.“60 Anna Sch. wurde wegen Geistesschwäche entmündigt. Doch das Blatt wendete sich. Sie hielt die Entziehungskur durch, suchte sich selbständig Arbeit und wurde daraufhin aus der Friedrichsberger Anstalt entlassen. Im Juli 1931 und im August 1932 kehrte sie freiwillig zur Nachuntersuchung nach Friedrichsberg zurück. Sie war im Juni 1930 nach England gegangen, hatte dort als Hausangestellte gearbeitet. Es ging ihr gut. Sie war frei von Rauschgiften und betrieb – offenbar mit Erfolg – ihre Wiederbemündigung. Aus ärztlicher Sicht jedenfalls waren die Voraussetzungen dafür gegeben. Hier bricht die Akte ab. Die Lösung vom Milieu auf St. Pauli dürfte diese Entwicklung nicht unmaßgeblich beeinflusst haben. Von Interesse ist auch die Krankenakte der Prostituierten Maria B.61 27-jährig wurde sie im März 1929 in Friedrichsberg aufgenommen. Bereits seit 1922 arbeitete sie auf St. Pauli, zunächst wohl als Küchenmädchen im Lokal Zum Anker auf der Reeperbahn.62 In den nächsten Jahren verdiente sie dann als „Kontrollmädchen“ auf St. Pauli ihr Geld:

58 59 60 61 62

Ebenda, Eintrag 4.8.1928. Ebenda. Die genaue Lage dieser Bar konnte nicht ermittelt werden. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 64549, Eintrag 2.9.1929. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 65146. Reeperbahn 105. Zech erwähnt das Lokal im Zusammenhang mit dem Verkauf von Kokain. Zech 1936, 50–53 und 88–92.

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Das Spritzen habe sie angefangen, nachdem sie sich in einem Hause in der Linkolnstraße ein Zimmer genommen habe, im Parterre desselben Hauses befand sich das ‚Sportkasino‘. Dort hätten lauter Morphinisten verkehrt, dort lernte sie auch einen Koch, namens P[…], kennen, der gewerbsmäßiger Morphium-Schleichhändler war, die dortigen Morphinisten – Stammgäste – versorgte, bemerkenswerterweise aber selber nicht spritzte.63

Mit diesem Mann lebte sie ein Jahr zusammen, bis er verhaftet wurde. Danach bezog sie das Morphium aus anderen Quellen. Nach der Spritze habe sie sich unternehmungslustig und gehoben gefühlt, ohne sei sie „gar kein Mensch mehr gewesen“. Das Sportkasino in der Lincolnstraße findet auch in anderen Friedrichsberger Akten in gleicher Hinsicht Erwähnung. Es scheint eines der Hauptzentren der Drogenbeschaffung auf St. Pauli gewesen zu sein. Einer der sogenannten Stammgäste dort war Walter M.64 Er konsumierte Kokain und Heroin: „Er sei da schon bekannt von früher her, denn jedem werde das nicht verkauft.“65 Dort, so M., verkehrten nur Leute, „die es kauften und verkauften“. In einer anderen Patientenakte ist in einem einliegenden Gerichtsurteil von „Rauschgifthändlern in den bekannten Börsen des Sportkasinos und sonstigen Lokalen an den Grenzen von Hamburg-Altona“ die Rede.66 Maria B. aber kam immer mehr herunter. Eine spätere Unterkunft, ebenfalls in der Lincolnstraße auf St. Pauli, wurde von den Behörden als „ein Absteigequartier allerniederster Sorte“ bezeichnet. Schließlich wurde sie wiederholt obdachlos in der Finkenbude, einem berüchtigten Logierhaus mit Kneipe in der Finkenstraße 13, im Hamburg-Altonaer Grenzgebiet aufgegriffen. Auf diese Kaschemme67, so eine zeitgenössische Benennung, wird im nächsten Kapitel noch näher einzugehen sein. Anna Sch. und Maria B. hielten sich rund ein Jahr lang zeitgleich in Friedrichsberg auf und gerieten dort im Juni 1929 tätlich aneinander. Sie kannten sich aus St. Pauli, wo beide ‚auf den Strich‘ gegangen waren. Und sie hatten gemeinsame Bekannte auf dem Kiez. Ihr Verhältnis scheint von jeher nicht das Beste gewesen zu sein. Während nun Maria B. in einem Prozess gegen ihr bekannte Rauschgifthändler ausgesagt hatte, hielt sich Anna Sch. in dieser Hinsicht bedeckt. Dabei ging es vor allem um einen „Königsberger Franz“, von dem beide Frauen in der Vergangenheit auf St. Pauli Drogen bezogen hatten. Maria B. ging wohl nicht zu Unrecht davon aus, dass sie sich nach ihrer Entlassung aus der Anstalt auf dem Kiez nicht mehr sehen lassen könne, da einer der Angeklagten, gegen die sie ausgesagt hatte, „ihr 63 64 65 66

HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 65146, Gutachten (Name des Arztes fehlt) 7.1.1930, 7. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 58834. Ebenda, Eintrag 21.9.1926. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 61265, Urteil Strafsache Rudloff u. a. (hier: Henning) 28.7.1927. 67 Jürgens 1930, 31–35.

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mit Kaltmachen gedroht habe“. Derartige Verbindungen zwischen PatientInnen in Friedrichsberg – wie etwa auch bei Walter H. und Willy R. – oder mit Dritten aus dem Milieu, deren Namen wiederum in verschiedenen Patientenakten (in einliegenden Aktenauszügen der Staatsanwaltschaft, Polizei- oder Wohlfahrtsbehörde) nachweisbar sind, und schließlich auch wiederholte Nennungen von Straßen oder Orten auf St. Pauli, wie das Sportkasino, unterstreichen, dass es sich hier um eine bestimmte Szene handelte, die sich in gewisser Hinsicht auf personaler Ebene in Friedrichsberg fortsetzen konnte (Streit, Freundschaft) und unter veränderten Vorzeichen (Entzug, Strafverfolgung) in den Patientenakten sichtbar wird. In den Akten der Anstalt tauchen bestimmte Beziehungskonstellationen aus St. Pauli wieder auf, die am anderen Ort weiterzuwirken schienen. Die Grenzen zwischen den Orten wurden im Mit- oder Gegeneinander der PatientInnen partiell aufgehoben. Was im Kontext eines Stadtraums unterhalb der behördlichen Aufmerksamkeitsschwelle lag, rückte in der Anstalt in den Fokus des psychiatrischen Blicks. Die Unruhe durch den Streit zweier Frauen hatte in Friedrichsberg – im Vergleich zum ‚Unruheherd‘ St. Pauli – einen anderen Stellenwert und traf auf differente Toleranzschwellen. Noch ein weiterer Fall einer Prostituierten, die sich in Friedrichsberg wiederholt als Patientin aufgehalten hat, ist hier von Interesse. Auch die 24-jährige Margarethe C.,68 wohnhaft in der Kastanienallee 26 nahe der Reeperbahn, bezog ihre Rezepte für Heroin und Kokain bei Dr. Sommer am Neuen Pferdemarkt, und zwar „jede Woche“. Da die von ihm verschriebenen Mengen nicht ausreichten, kaufte sie unter der Hand zu, und zwar in dem zuvor schon erwähnten Hotel Europa auf der Reeperbahn 130: „Da sind Ausländer, sie kennt sie nicht. Sie schickt Bekannte rein, die holen es.“ Anlässlich ihres zweiten Friedrichsberger Aufenthalts 1926 gab die Patientin dann an, ab und zu auch im Sportkasino in der Lincolnstraße Heroin gekauft zu haben. Das Besondere am Fall der Margarethe C. ist aber ein Brief des Direktors der Friedrichsberger Anstalt, Wilhelm Weygandt (1870–1939),69 an das Hamburger Gesundheitsamt, in dem er Ende 1924 seiner vorgesetzten Behörde die Angabe der Patientin mitteilte, „dass im Hotel Europa, Reeperbahn, von Ausländern Heroin zu kaufen wäre, das Gramm für M 4.-“.70 Durch die Exploration von PatientInnen wie Margarethe C. wurden in der Anstalt Aussagen provoziert, deren Relevanz sich nicht im Verstehen des jeweiligen Falls 68 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 57423. 69 1893 Dr. phil. (Leipzig), 1896 Dr. med. (Würzburg), 1897–1899 Assistenzarzt bei Emil Kraepelin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg, 1904 a. o. Prof. an der Universität Würzburg, 1908–1934 Direktor der Irrenanstalt, später Staatskrankenanstalt Friedrichsberg in Hamburg, 1919 apl. Ordinariat für Psychiatrie an der neu gegründeten Universität Hamburg, ab 1923 dort o. Prof., 1924/25 Dekan der Medizinischen Fakultät. Vgl. Weber-Jasper 1996. 70 Weygandt an das Gesundheitsamt 22.12.1924. StAHH, 352-3 (Medizinalkollegium), IV G 14 (Personal-Acte betreffend den Apotheken-Besitzer Josephy, Otto, 1896–1934).

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oder der Erkrankung erschöpfte, sondern die darüber hinaus die Spezifität eines bestimmten Ortes in der Stadt und die dort herrschenden Praktiken erkennbar werden lassen. Weygandt verließ hier – und auch in anderen Fällen71 – den medizinischen Bereich und stellte ein ärztliches ‚Ermittlungsergebnis‘ in den Dienst einer möglichen behördlichen Intervention oder Strafverfolgung. Hergestellt wurde eine psychiatrisch-behördliche Einheit in der Gefahrenfeststellung und -abwehr. Sowohl in den Friedrichsberger Patientenakten als auch in den Hamburger Verwaltungsakten lässt sich insgesamt eine Verzahnung von Psychiatrie, Behörden und Polizei feststellen. Dies dürfte spezifische Folgen für das Verhältnis zwischen dem ärztlichen Personal und den PatientInnen, die Art der anamnestischen Befragung sowie die Führung der entsprechenden Krankenakten gehabt haben.

Am Ende: „Krückenwilly“ Die meisten Beschreibungen, die man in den einschlägigen Friedrichsberger Patientenakten über die Drogenszene auf St. Pauli findet, sind den ärztlichen Akteneinträgen im Rahmen der Anamneseerhebung zu entnehmen. Singulär in dieser Hinsicht ist ein Schriftstück, das sich in der Krankenakte des Heroinisten Rudolf R.72 befindet. Es handelt sich um den vierseitigen Bericht eines Anstaltspflegers, der am 31. Dezember 1926 zwischen zehn Uhr morgens und zwei Uhr mittags R. während seines Ausgangs „zur Stadt“ begleitete, was diesen aufs Höchste erregte. Schon an den Bahnhöfen versuchte R., möglichst starke opiumhaltige Zigaretten zu erwerben, die es an den Verkaufsstellen aber nicht gab. Sehr bald führte sein Weg nach St. Pauli, wo er Bekannte treffen wollte. Er versuchte einiges, den Begleitpfleger in bestimmte Lokale zu locken. Worum es ging, war klar. Er wollte Rauschgift haben. Über Heroin und Morphium sagte er zu dem Pfleger gleich zu Beginn ihres Ausflugs: „Sie wissen es ja gar nicht, was für eine Wirkung es hat, dieser Rauschzustand, man fühlt sich ganz leicht, haben Sie schon mal versucht? Wer es gethan hat, thut es nachher immer wieder, die meisten Ärzte thun es ja auch, meinen Sie nicht?“73 Vier Monate später, in der Nacht nach seiner Entlassung aus Friedrichsberg, starb Rudolf R. in seiner Unterkunft in der Lincolnstraße 10 an einer Überdosis.

71 Weygandt an das Gesundheitsamt 23.7.1926. StAHH, 351-10 I (Sozialbehörde I), GF 44.13 (Akten über fünf Rauschgiftsüchtige, 1926–1931), Akte Friedrich Hasse. 72 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 59182. 73 Dies ist eine Anspielung auf die Tatsache, dass verhältnismäßig viele Ärzte Morphinisten und Kokainisten (auch Morphio-Kokainisten) waren. Vgl. Pohlisch 1931, 24 und 27–30; speziell für Hamburg: Meggendorfer 1928, 299 f. und 333.

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Das hier gezeichnete Bild über die Drogenszene auf St. Pauli in den 1920er-Jahren wäre hinsichtlich der Vielfalt der individuellen Schicksale und der Distributionswege unvollständig ohne „Krückenwilly“. Im November 1929 wurde der 30-jährige Willy H.74 in Friedrichsberg aufgenommen. Er kam aus dem Hafenkrankenhaus. Da sein linkes Bein bereits viele Jahre zuvor amputiert worden war, ging H. an Krücken. H. war obdachlos: In den frühen Morgenstunden zwischen 2–4 Uhr geht H. in St. Pauli von Lokal zu Lokal und verkauft Streichhölzer. Auch auf der Strasse handelt er mit Streichhölzern. […] Das Gesicht ist von einem braunen wildwuchernden Vollbart umrahmt. Wäsche scheint H. nicht im Besitz zu haben. Die Haut der Hände und des Gesichts ist mit einer Schmutzkruste bedeckt. Die Kleidung ist zerlumpt und schmutzig.75

Willy H. verkaufte aber nicht nur Streichhölzer, sondern auch Rauschgifte auf dem Kiez. Er war seit langem Morphinist. Vier Amputationen am linken Bein und die Schmerzen im Stumpf hatten ihn dazu gemacht. 1919 war er nach Hamburg gekommen. Gleich am ersten Abend, so H., sei ihm auf St. Pauli von einem Ausländer Heroin angeboten worden. Da die Heroinbeschaffung auf St. Pauli billiger war als durch einen Arzt, war er bei dieser Bezugsquelle geblieben. Mitunter nahm er Kokain hinzu.

Die Drogenszene auf St. Pauli im Spiegel behördlicher Akten Im historischen Aktenbestand des Hamburger Medizinalkollegiums, der heutigen Gesundheitsbehörde, findet sich eine umfangreiche „Personal-Acte betreffend den Apotheken-Besitzer Josephy, Otto“.76 Diese Akte ist sehr gut geeignet, das bisher gezeichnete Bild der Drogenszene auf St. Pauli mit einer anderen Perspektive zu kontrastieren. Josephy, 1869 in der Nähe von Breslau geboren, war seit 1896 Inhaber der Adler-Apotheke am Wilhelmsplatz 2, dem heutigen Hans-Albers-Platz, gut 100 Meter von der Reeperbahn entfernt. 1923 gerieten er und sein Angestellter Eugen Simons in den Fokus der Hamburger Polizeibehörde. Es wurde ein Ermittlungsverfahren gegen beide eingeleitet, und zwar „wegen Abgabe starkwirkender Arzneimittel ohne ärztliche Verordnung“. Am 4. September 1924 wurde Josephy zu einer Geldstrafe von 3000 RM verurteilt, wegen Vergehens gegen das internationale Opiumabkommen vom 30. Dezember 1920. Es konnte nachgewiesen werden, dass Josephy im Vergleich zu den 74 HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 66977. 75 Ebenda, Auszug Polizeiakte 18.11.1929. 76 StAHH, 352-3, IV G 14. Diese Akte hat nur zum Teil eine Blattzählung. Es werden in den folgenden Anmerkungen deshalb jeweils Dokument und Datum angegeben.

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anderen Hamburger Apotheken auffallend große Mengen Heroin und Kokain bezogen und umgesetzt hatte. In der Urteilsbegründung hieß es, dass nach Meinung des Gerichts allein schon aus dieser Tatsache der Schluss gerechtfertigt sei, dass in der Apotheke des Angeklagten die beiden Betäubungsmittel nicht nur als Heilmittel, das heißt auf Rezept, sondern auch als Ware verkauft worden seien: „Im Jahre 1923 war auf St. Pauli allgemein verbreitet, daß in jener Apotheke Kokain ohne Rezept abgegeben werde.“77 Als Schlüsselfigur dieser Praxis wurde zwar Josephys Provisor Simons erkannt, dennoch war nach Ansicht des Gerichts Josephy als Inhaber der Apotheke in nicht geringem Maße verantwortlich und zu bestrafen. Jedoch sah man bei ihm zunächst noch von einer Gefängnisstrafe ab. Gut zwei Wochen später legte die Staatsanwaltschaft gegen das Strafmaß Berufung ein: „Derartigen volksschädigenden und vernichtenden Übeln muß mit aller Schärfe entgegengetreten werden. Wie im Verfahren gegen den – ebenfalls bis dahin unbestraften […] – Simons kann auch gegen den Verurteilten Josephy nur eine Freiheitsstrafe die ausreichende Sühne bilden.“78 Das Exempel wurde statuiert und Josephy am 6. Februar 1925 zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten und 6000 RM (oder drei Monate Gefängnis) verurteilt: „Nach dem Zeugnis des Kriminalwachtmeisters Lindau hat auf St. Pauli in der fraglichen Zeit jedes Kind davon gesprochen, daß in der Apotheke des Angeklagten ‚Koks‘ ohne weiteres zu haben sei.“79 Der Verbrauch an Kokain und Heroin in den Jahren 1922 und 1923 sei „auch mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der in St. Pauli liegenden Apotheke des Angeklagten als ganz außerordentlich hoch“ zu betrachten. Er betrage das Zehnfache des Verbrauchs anderer Hamburger Apotheken. Diese Formulierung ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass behördlicherseits offenbar ein besonderes Bild von St. Pauli existierte und ein anderer Maßstab für diesen Stadtraum angelegt wurde. Grundsätzlich wurde festgestellt, dass die Abgabe von Kokain und Heroin zu Genusszwecken geeignet sei, „die Volkswohlfahrt auf das Schwerste zu schädigen“ und der Angeklagte als Apotheker gerade dazu berufen sei, „für die Volkswohlfahrt und Gesundheitspflege zu wirken, nicht aber ein gemeinschädliches Laster zu fördern“. Dies rechtfertigte aus Sicht des Gerichts die deutliche Erhöhung des Strafmaßes. Josephy durfte seine Apotheke mehrere Jahre nicht selbst führen. 1934 verkaufte er sie und ging in Ruhestand. Es ist bemerkenswert, dass im Hamburger Wohlfahrtsamt, der späteren Sozialbehörde, erst 1924 eine Generalakte „Mißbrauch von Rauschgiften“ angelegt wurde.80 Das Wohlfahrtsamt verfolgte von Beginn an eine scharfe Anti-Drogenpolitik in der Hansestadt. Das Amt beließ es nicht dabei, gegebenenfalls Rauschgiftsüchtigen die Unterstützungsleistungen zu strei77 78 79 80

Ebenda, Urteil Amtsgericht Hamburg 4.9.1924. Ebenda, Berufungsbegründung der Staatsanwaltschaft Hamburg 19.9.1924. Ebenda, Urteil Landgericht Hamburg 6.2.1925. StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. 1.

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chen, sondern führte aktiv eigene Ermittlungen gegen Personen durch und engagierte sich mit Nachdruck dafür, bestimmte Drogensüchtige einer Zwangsentziehung zuzuführen, indem es zahlreiche Entmündigungsanträge stellte.81 So beklagte die Morphinistin Hedwig H., die ihren Stoff überwiegend von Händlern auf St. Pauli bezog, die „Hetzjagd“ durch die Fürsorgebehörde.82 In der angeführten Generalakte des Hamburger Wohlfahrtsamtes für den Zeitraum von 1924 bis 1930 finden sich Dokumente, die die Drogenszene auf St. Pauli gezielt beleuchten. In einem internen Papier der Behörde mit dem Titel „Das Rauschgift und die öffentliche Wohltätigkeit“ vom 20. Dezember 1924 heißt es: Gerade in St. Pauli, wo so viele leichtfertige Menschen zusammenströmen und wo alle Laster zu beobachten sind, treten auch die Nachteile des übermässigen Rauschgiftgenusses zutage. […] Der Opiumgenuss wurde fürsorgerisch noch nicht beobachtet. Dagegen sind Morphinismus und Kokainismus schon stark verbreitet. Entweder sind schmerzhafte Krankheiten die Veranlassung zur Morphiumsucht oder aber Verführung durch Dirnen und Zuhälter. […] Der heimliche Handel in zweifelhaften Lokalen und in manchen Strassen durch Händler mit Zigaretten und Süssigkeiten muss unter allen Umständen unterdrückt werden.83

Eine Fokussierung dieser Art auf „Dirnen und Zuhälter“ lässt sich durch die Friedrichsberger Krankenakten nicht stützen. Die Sonderakte der 30-jährigen Morphinistin Gretchen W.84 im Bestand der Hamburger Wohlfahrtsbehörde verweist auf eine Konstellation, die zwar nicht unbedingt typisch für den Stadtteil St. Pauli war, aber die ganze Bandbreite von Drogenkonsum und -beschaffung auf dem Kiez erkennen lässt. Gretchen W. bezog – aus nicht näher bekannten Gründen – regelmäßig auf Kosten der Wohlfahrt Morphium. Bei bestimmten medizinischen Indikationen, insbesondere im Kontext des Ersten Weltkriegs, war das in den frühen Jahren der Weimarer Republik ziemlich verbreitet.85 Gretchen W. jedenfalls stand Morphium auf Wohlfahrtskosten zu. Allerdings versuchte sie es – nicht ohne Erfolg – von mehreren Ärzten gleichzeitig zu beziehen. Sie hatte ohne Frage mehr als sie brauchte oder vorgab zu brauchen. Und sie veräußerte es – aber nicht in Kneipen oder auf der Straße, sondern in der Nachbarschaft und an Bekannte. Und: Sie verabreichte die Spritzen gleich selbst.

81 82 83 84 85

Vgl. dazu Wulf 2016, 200-204. HKbA Hamburg, Akte Friedrichsberg Nr. 58197. StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. 1, Bll. 18 f., hier Bl. 18. Vgl. auch Bll. 25 f. StAHH, 351-10 I, GF 44.13, Akte Gretchen W., vgl. auch die Akte Friedrich und Gretchen L. Vgl. u. a. Steimann 1927.

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Gretchen W. wohnte 1924 für einige Monate in der von der Reeperbahn nördlich abgehenden Thalstraße 27, im zweiten Stock des fünften Hinterhauses zur Untermiete. Die 22-jährige Prostituierte Gertrud M. gehörte in dieser Zeit zu ihren ‚Kundinnen‘. Sie wohnte nur fünf Fußminuten entfernt, in der Seilerstraße 45, auch in der zweiten Etage und ebenfalls zur Untermiete.86 Frau M. erhielt Morphiumeinspritzungen von Frau W. Außerdem konsumierte sie auch Kokain, das sie allerdings von anderen Quellen bezog. Frau W. erhielt von Frau M. für die Einspritzungen entweder eine Mark in bar oder auch einmal eine Bluse. Oder Gertrud M. bezahlte für Gretchen W. gelegentlich die Zeche. Gretchen W. pries das Morphium im Haus, in dem sie wohnte, einigen Nachbarinnen an, auch ihrer Vermieterin. Diese aber wollte damit nichts zu tun haben und verklagte sie. So wurde der Fall aktenkundig. In der Generalakte der Wohlfahrtsbehörde zum „Missbrauch von Rauschgiften“ findet sich eine große Zahl einschlägiger Zeitungsartikel, in denen auch das Treiben im Drogenmilieu von St. Pauli in journalistischer Manier festgehalten wurde, durch die aber vor allem spezifische Orte und Räumlichkeiten von Drogenhandel und Drogenkonsum auf dem Kiez greifbar werden. Dies soll abschließend an einem Beispiel gezeigt werden, der Finkenbude. Im Hamburger Echo erschien im Juni 1929 ein Artikel unter der Überschrift Die Morphiumseuche im Grenzgebiete. Die Rauschgifte Morphium, Heroin und Kokain, so hieß es dort, seien im Hamburg-Altonaer Grenzgebiet begehrte Handelsartikel geworden: Wer als harmloser Passant einmal abends spät über die Reeperbahn nach der Altonaer Grenze zu geht, wird im Vorbeigehen oftmals das halblaut gesprochene Wort ‚Koks‘ hören. Das sind die Rauschgifthändler, die auf diese Weise ihre Ware anbieten. In fast allen Grenzlokalen ist ohne Schwierigkeit Morphium […] zu haben.87

So verbreite sich die „Rauschgiftseuche“ immer weiter und fange bereits an, eine öffentliche Gefahr zu werden. Das habe die Polizei, so hieß es in dem Artikel weiter, nun veranlasst, fast täglich Razzien auf Rauschgifthändler und Morphinisten durchzuführen: „Am 26. April dieses Jahres wurde wieder einmal die Finkenbude nach Morphinisten überholt. Die Polizei überraschte dabei den Arbeiter Karl O., als er gerade im Begriff war, im Abort einem Mädchen eine Dosis Morphium einzuspritzen. Der Arbeiter Richard Schw. stand dabei Schmiere.“88 Am 86 1927 lebten in mehr als 44 Prozent der Wohnungen in St. Pauli-Süd ein oder mehrere Untermieter. Dies war mit Abstand der höchste Wert im gesamten Hamburger Stadtgebiet. Statistisches Jahrbuch 1927/28, 113. 87 Die Morphiumseuche im Grenzgebiete. In: Hamburger Echo, 7.6.1929. StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. 1, Bl.117. 88 Ebenda. Vgl. zum Ablauf solcher Razzien Zech, 1937, 77–83. Zechs Roman ist im Law and OrderTon der NS-Zeit verfasst und literarisch auf einem erschreckend schwachen Niveau, basiert aber ganz

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Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach Abb. 2: Finkenbude, Finkenstraße 13 (1930).

7. Februar 1930 berichtete das Hamburger Fremdenblatt über eine erneute Festnahme in dieser Kneipe im Dezember 1929. Diesmal waren zwei Geldbörsen von einem Händler sichergestellt worden, die vollgestopft waren mit gebrauchsfertigen Kokainpäckchen.89

offensichtlich auf einer sehr guten Kenntnis der Szene in den 1920er-Jahren. Erwähnt wird hier auch das Lokal Hamann in der Lincolnstraße (=Lincolnstr. 4), wo – zumindest in den 1930er-Jahren – mit Kokain gedealt wurde. Vgl. dazu auch Kiss 2012, 217. 89 Ein Rauschgifthändler vor Gericht. In: Hamburger Fremdenblatt, 7.2.1930 (Abend-Ausgabe). StAHH, 351-10 I, GF 44.10, Bd. 1, Bl. 139.

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Die Finkenbude90 in der Finkenstraße 13, Kneipe und Logierhaus, berühmt-berüchtigt für ihr zwielichtiges Publikum, war ein bevorzugter Ort der Drogenbeschaffung auf St. Pauli in eben jenem Grenzgebiet zwischen Hamburg und Altona. In seinem Artikel Auf der Reeperbahn nachts um halb eins schrieb Kurt Tucholsky 1927: In der ‚Finkenbude‘ (Finkenstraße) war, als wir eintraten, jener schnelle kühle Luftzug durch das Lokal geflitzt, der immer hindurchzuziehen pflegt, wenn Leute eintreten, die da nichts zu suchen haben – telepathisch geht ein unhörbares Klingelzeichen durch den Raum: ‚Achtung, Polente!‘ Und dann sehen die Leute so unbefangen drein, und die Kartenspieler spielen so eifrig und so harmlos, und alle sind so beschäftigt […].91

Auch der Schriftsteller Hans Leip hat in seinem Bordbuch des Satans die Verhältnisse in der Finkenbude thematisiert,92 Hans Harbeck in seinem Buch von Hamburg, dem achten Band der Reihe Was nicht im Baedeker steht,93 Alfons Zech in seinem nazistischen Trivialroman St. Pauli: Davidwache, der in den 1920er-Jahren spielt94 und schließlich Ludwig Jürgens in seinen Bildern aus einer fröhlichen Welt.95 Im Hamburger Echo wurde im April 1927 die fragliche Kaschemme näher beschrieben: Da ist zunächst die Finkenbude, die Stuhlmannsche Herberge in der Finkenstraße. Durch den stets bis in die späte Nacht hinein dicht besetzten Schankraum hindurch gelangt man über einen schmalen, unbelichteten Korridor zu den sogenannten Aufenthaltsräumen. Zwei kahle Räume von zusammen etwa 40 Quadratmeter Größe, mit Bänken an den Wänden entlang. Das waren die bevorzugten Schlafplätze. Für die Masse der Beherbergten aber galt der nackte Fußboden als Lagerstätte. Wenns hoch kam, stand als Unterlage ein Stück Zeitungspapier zur Verfügung. In diesen verhältnismäßig kleinen Räumen preßten sich im Winter zuweilen 40 bis 50 Personen zusammen.96

Wenn hier in der Zeitform der Vergangenheit berichtet wurde, dann deshalb, weil die Finkenbude (oder: das Stuhlmannsche Logierhaus) – wie auch einige andere ‚Massenherbergen‘ – von den Behörden kurz zuvor geschlossen worden war. Die Schließung war aber nur vorü90 91 92 93 94 95 96

Vgl. zur Finkenbude in eher anekdotischer Art Kiss 2012, 216 f. Tucholsky 1985, Bd. 5, 282-284, hier 282. Leip 1961, 384. Harbeck 1930, 88. Zech 1937, 75 und 82 f. Jürgens 1930, 31–35. Im Kampf gegen das Herbergselend – Schließung Altonaer Logierhäuser. In: Hamburger Echo 12.4.1927.

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bergehend gewesen. Aus Sicht der Behörden wie auch der Presse war die Finkenbude ein überaus störender Ort: Anziehungspunkt vieler ‚heruntergekommener Elemente‘, gesundheitliche und soziale Gefahrenquelle. Hier konzentrierten sich die, wie es hieß, „üblen Elemente der Hafenstadt“. Ende 1936 wurde das Gebäude abgerissen.

Fazit Die Analyse der einschlägigen Friedrichsberger Patientenakten ergibt ein facettenreiches Bild des Rauschmittelkonsums auf St. Pauli in den 1920er-Jahren und der diesbezüglichen topographischen Konturen des Hamburger Vergnügungsviertels. Die ebenfalls zur Auswertung herangezogenen behördlichen Akten und Presseberichte fügen diesem Bild weitere Perspektiven hinzu. Es treten uns in diesen Krankenakten vor allem jüngere Menschen ohne eigene Familie entgegen. Erkennbar werden primär Beziehungen zur Herkunftsfamilie (Rolle der Mutter) oder Freundschaften aus Kindheit und Jugend. Das Fehlen der ‚eigenen‘ Familie korrespondierte mit Tätigkeitsfeldern wie Seefahrt oder Prostitution. Seeleute und sogenannte Kon­trollmädchen waren in den Akten am häufigsten vertreten. St. Pauli zeigt sich einerseits als ein Ort, an dem eine gewisse soziale Verankerung Drogensüchtiger möglich und eine materielle Grundstabilität gegeben sein konnte. Andererseits werden aber auch Beispiele von Drogenabhängigkeit im Kontext von Armut und Obdachlosigkeit greifbar. Nicht zuletzt dieser Zusammenhang lässt den Begriff „hedonistisch“ als mögliches Attribut des Drogenkonsums auf St. Pauli eher fragwürdig erscheinen. Iatrogene Zusammenhänge spielten keine ausschlaggebende Rolle auf dem Kiez, obwohl sich Hinweise auf sie im betrachteten Quellenmaterial durchaus finden. Die Auswertung der Hamburger Krankenakten mit St. Pauli-Bezug macht deutlich, dass Heroin und Kokain in der fraglichen Zeit im Hamburger Vergnügungsviertel dominiert haben dürften. Der Konsum und Handel von Morphium bleibt jedenfalls deutlich im Hintergrund. Die Opiumhöhlen im chinesischen Viertel St. Paulis werden in den hier herangezogenen Quellenbeständen praktisch nicht erwähnt, waren aber faktisch ein Teil der dortigen Drogenszene. Regelmäßig führte die Drogensüchtigen auf dem Kiez ihr Weg zu bestimmten verschreibungsbereiten Ärzten und zu Apothekern, die Heroin und Kokain zunächst sogar noch ohne Rezept verkauften. Diese gerieten aber relativ bald in den Fokus der Behörden, die ihre distributiven Spielräume spürbar einschränkten. Während die Apotheke von Otto Josephy sehr zentral in der Nähe der Reeperbahn lag, befand sich die Praxis von Dr. Julius Sommer schon etwas außerhalb des eigentlichen Vergnügungsviertels, nämlich im Norden des Stadtteils St. Pauli. Ein bestimmter Konsumentenstrom floss zwischen St. Pauli-Süd und den angrenzenden Gebieten in beide Richtungen. Es gibt aber auch Beispiele für Drogensüchtige, die aus weiter entfernten Stadtbezirken kamen, um auf dem Kiez ihren Bedarf an Narkotika

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zu decken. Hervorzuheben sind als Anlaufstellen im Sinne der Rauschmittelbeschaffung vor allem eine größere Zahl namentlich genannter Cafés, Kneipen, Bars und weitere spezielle Orte wie das Hotel Europa auf der Reeperbahn, das Sportkasino in der Lincolnstraße sowie die berüchtigte, von Behörden, Presse und Schriftstellern gleichermaßen beachtete Finkenbude. Zudem gab es auf St. Pauli Straßenhandel oder die Spritze als quasi nachbarschaftliche Gefälligkeit innerhalb der Mietwohnung. Greifbar wird ein Netz aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Orten und Räumen. Die Süchtigen und Berauschten, die dem Drogen-Wahn Verfallenen im St. Pauli der 1920er-Jahre sind jenen psychiatrischen Patientengruppen in Hamburg zuzuordnen, deren Krankengeschichten – wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – an die Funktion der Hansestadt als Welthafen gebunden waren. Es waren in entscheidendem Maße Seeleute verschiedener Nationalitäten, die nach Landung ihrer Schiffe die Rauschsubstanzen mit an Land brachten und sie in kleinen Mengen auf St. Pauli verkauften. Nicht wenige dieser Seeleute waren selbst süchtig. Auffallend häufig nannten Friedrichsberger PatientInnen gerade ausländische Seeleute als „Schleichhändler“ von Rauschmitteln auf dem Kiez. St. Pauli präsentierte sich auch auf diesem Gebiet als ‚kosmopolitischer‘ Ort. Der Stadtteil lässt sich entsprechend auch in einem globalen Raumgefüge verorten. Während über Ärzte und Apotheker primär Produkte der deutschen (oder schweizerischen) Pharmaindustrie in den Verteilungskreislauf gelangten, war die Herkunft der über den Hafen aus aller Welt in das Hamburger Vergnügungsviertel kommenden Rauschmittel dazu im Wesentlichen different. Hier wird vereinzelt auch das Schiff als Ort der Distribution und des Konsums von Drogen greifbar. Topographisch von Interesse ist außerdem die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg als eine Art Gegenort zu St. Pauli. Die Anstalt im Osten Hamburgs war aber keineswegs frei von Rauschmitteln und auch kein vollkommen abgeschlossener Ort. Während drogenabhängigen PatientInnen die Substanzen dort konsequent entzogen wurden, war Friedrichsberg andererseits traditionell eine Institution, an der etwa Morphin zur Ruhigstellung psychisch Kranker freigiebig verabreicht wurde. Freundschaften oder Konflikte vom Kiez setzten sich unter veränderten Vorzeichen in Friedrichsberg fort. Aus der Anamnese eruierte Details über die Drogenszene auf St. Pauli konnten im Rahmen von Interaktionen der Anstalt mit den Behörden die Verhältnisse im Stadtteil unmittelbar beeinflussen. Es lässt sich zudem eine Zirkulation von PatientInnen zwischen St. Pauli und der Anstalt feststellen, wenn diese nach ihrer Entlassung aus Friedrichsberg wieder in das alte Milieu kamen und rückfällig wurden, was zu erneuten Aufenthalten in der Hamburger Anstalt führen konnte. DrogenkonsumentInnen, die sich auf St. Pauli bewegten, hatten eine Vielzahl an Möglichkeiten, Rauschmittel zu erwerben. Die in den Quellen sichtbar werdende Drogenszene auf dem Kiez legt den Schluss nahe, dass es sich bei der verhältnismäßig geringen Zahl der überlieferten Friedrichsberger Fälle allenfalls um die oft zitierte ‚Spitze des Eisbergs‘ handelte. Das sichtbar

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Abb. 3: Hamburg-St. Pauli. Unterkünfte von im Aufsatz erwähnten drogensüchtigen Personen auf St. Pauli: 8

7 6

3 10

11

9

4

1 5 2

1. Adler-Apotheke 2. Belvedere 3. Café Alraun 4. Davidwache

5. Hafenkrankenhaus 6. Hotel Europa 7. Lampe‘s gute Stube 8. Praxis Dr. Julius Sommer

9. Sportkasino 10. Zum Anker 11. Zur Finkenbude

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werdende Distributionssystem war nicht nur für ein paar gelegentlich Konsumierende angelegt, sondern für eine größere Zahl von ständig Abnehmenden. Einige angeführte Orte des Drogenerwerbs wurden wiederholt genannt und besaßen somit eine gewisse Dauerhaftigkeit.

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Briefflut und Papierstau. Angehörige als Adressaten und Akteure in der Anstaltskommunikation

Die Fernhaltung der Angehörigen ist häufig conditio sine qua non für die Genesung.1 Theodor Ziehen

In den Akten der Heil- und Pflegeanstalt Strecknitz der Freien und Hansestadt Lübeck präsentiert sich die Psychiatrie als schreibender Zweig der Medizin. Psychiater führten Akten, füllten Formulare aus, verhandelten mit der Verwaltung oder erstellten gelegentlich Gutachten – wie andernorts auch. Vor allem aber kommunizierten sie auf schriftlichem Weg mit den Angehörigen ihrer PatientInnen. In vielen Akten dieser auf eine angemessene und fachlich qualifizierte Versorgung, aber nicht auf psychiatrische Forschung ausgerichteten Anstalt nimmt die Kommunikation mit den Angehörigen den weitaus größten Raum ein.2 Neben Schreiben aus der alltäglichen Verwaltungsarbeit der Anstalt, etwa zur Verpflegungsklasse, zur Kostenträgerfrage oder zur Bestellung neuer Kleidungsstücke, finden sich in diesen Dokumenten vom Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig Berichte an Angehörige über den Krankheitszustand der PatientInnen, besonders viele Schreiben stehen im Zusammenhang mit Besuchsfragen. Die folgende Zusammenstellung einiger weniger Briefpassagen soll überblicksartig einen ersten Eindruck vermitteln: Das Befinden Ihres Mannes ist im großen ganzen dasselbe geblieben [...]. Immerhin sind Fortschritte des Leidens so wohl in geistiger wie in körperlicher Hinsicht für den Sachverständigen unverkennbar. Trotzdem ist es auch jetzt noch möglich, dass Besserungen von mehr oder minder längerer Dauer eintreten, wenn es auch nicht wahrscheinlich ist. Sehr geehrte gnädige Frau! Ihre soeben eingegangene Karte kann ich unserer Patientin nicht aushändigen, da sie dazu augenblicklich zu krank ist. Ich lasse sie Ihnen daher wieder zugehen.

1 2

Ziehen 1902, 299 f. Dieser Befund ist zumindest unserer Kenntnis nach ungewöhnlich, dürfte aber vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass sich in den Lübecker Patientenakten eine Kommunikation erhalten hat, die andernorts vermutlich zumindest ähnlich geführt, aber wegen ihrer medizinischen Belanglosigkeit entweder gar nicht erst archiviert oder später ausgesondert wurde.

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Unsere liebe Kranke hat den lebhaften Wunsch von Ihnen einmal wieder besucht zu werden. Wenn sich nun in der Krankheit selbst auch nichts Wesentliches gegen früher geändert hat, weder noch auf der guten noch auf der schlechten Seite hin, so erscheint es ärztlicherseits doch zweckmäßig wenn ihr einmal wieder dieser Wunsch erfüllt wird. Ihre Anfrage vom 20. März ds. Mts. wird ergebenst dahin beantwortet, dass es zu unserem Bedauern nicht angängig ist, dass Sie Herrn G. K. besuchen. Wir sind gebunden durch einen ausdrücklichen Wunsch der Ehefrau, außerdem erlaubt sein Befinden zur Zeit keinen Besuch. Hochachtungsvoll Die Direktion. Sehr geehrte Frau! Nach einer längeren Phase stärkerer Erregung mit schwerer gedanklicher Verworrenheit ist in der letzten Zeit wieder grössere Ruhe bei unserem Patienten eingetreten. Doch fehlt vollkommen jede Krankheitseinsicht und querulatorische Tendenzen und hypochondrische Vorstellungen beherrschen die Szene. Von einem ehem. beabsichtigten Besuch bitte ich vorläufig Abstand zu nehmen, doch sind einige freundliche Zeilen an den Kranken erwünscht. Sehr geehrter Herr Ökonomierat! Das Befinden Ihres Herrn Sohnes ist z. Z. noch ein derartiges, dass von einem Besuch entschieden abgeraten werden muss. Ein solcher würde den Kranken noch mehr erregen und eine Verschlechterung seines Zustandes herbeiführen können. Hochachtungsvoll! I.[m] A.[uftrag] d.[es] l.[eitenden] A.[rztes] Dr. Henssen. Das Befinden unserer lieben Kranken ist ein rasch wechselndes. Zur Zeit geht es wieder besser. Fr. Gruss gez. Dr. Wattenberg.3

Wenn nach Michel Foucault die Einweisung in die Psychiatrie einen „Bruch mit der Familie“ implizierte,4 dann muss diese These für die Lübecker Situation offensichtlich modifiziert werden. Zwar galt auch hier die Einweisung in die Heilanstalt als zentrale therapeutische Maßnahme und das familiäre Milieu für die Therapie eines Kranken als tendenziell schädlich, weil es den Ausbruch der Krankheit mindestens nicht hatte verhindern können. Auf dem Boden solcher Überzeugungen gab es gute Gründe, während des Anstaltsaufenthalts Familienkontakte soweit wie möglich einzuschränken, allein schon um nicht mit dem erhofften Heilungsprozess zu interferieren. Aber in der Lübecker Anstalt scheint die Trennung von der Familie mit einer umso intensiveren Kommunikation zwischen Anstalt und Familie einhergegangen zu sein. In einzelnen Akten finden sich regelmäßige, oft sogar wöchentliche Mitteilungen an 3

4

Historisches Archiv der Klinik für Psychiatrie, Universität zu Lübeck (HPUL), Krankenakten der Staatsirrenanstalt, Akte W. S. Aufnahme 8.5.1916, Akte F. v. P. Aufnahme 2.1.1910, Akte L. W. 1. Aufnahme 21.11.1876, 2. Aufnahme 21.12.1898, Akte G. K. Aufnahme 11.7.1916, Akte J. A. 1. Aufnahme 18.5.1910, 2. Aufnahme 9.11.1914, Akte J. A. 1. Aufnahme 1.5.1910, 2. Aufnahme 9.2.1914, Akte F. v. P. Aufnahme 2.1.1910. Foucault 2005, 150.

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die Angehörigen beziehungsweise Briefe oder sonstige Nachrichten von ihnen. Dieser auffällige Befund gibt Anlass, ausgehend von dem Lübecker Material, grundsätzlicher nach der Rolle und dem Status der Angehörigen in der psychiatrischen Versorgung zu fragen. Dazu wird neben dem Lübecker Aktenmaterial die sogenannte Ratgeberliteratur herangezogen, in der Psychiater sich allgemein an ein Laienpublikum oder gezielt an die Angehörigen psychiatrischer PatientInnen wandten. Dieses Genre scheint in jener Zeit eine gewisse Konjunktur durchlaufen zu haben. Außerdem wird der fachinterne psychiatrische Diskurs auf eine Thematisierung der Rolle, Funktion und Aufgaben von Angehörigen beziehungsweise auf die professionelle Positionierung der Angehörigen in der psychiatrischen Therapie hin untersucht.5 Das ist selbstverständlich keine umfassende Quellenbasis, vor allem fehlen Vergleiche zu anderen Anstalten auf dem Lande oder aus großstädtischen Räumen und zu universitären Kliniken. Aber schon auf der gewählten Materialbasis lässt sich eine fundamentale Ambivalenz der Psychiatrie den Angehörigen gegenüber herausarbeiten. Einerseits bedienten sich Psychiater regelmäßig und selbstverständlich der Angehörigen als Informationsgeber bei der Aufnahme, weil sie deren Angaben zur Vervollständigung der Anamnese benötigten, und sie verließen sich selbstverständlich auf deren tatkräftige Unterstützung bei der Einweisung oder zur Vorbereitung einer Entlassung. Andererseits wurden Angehörige systematisch ausgegrenzt, auf Distanz gehalten und ausgeschlossen. Das galt sowohl auf der praktischen und sozialen Ebene, wo die Angehörigen aus dem therapeutischen Prozess, aus der Anstalt und oft sogar aus der Kommunikation mit den PatientInnen ausgeschlossen wurden, als auch in epistemologischer Hinsicht, wenn Angehörige im Diskurs allein als (zumeist als unzuverlässig eingeschätzte) Informationsquellen vorkamen, deren epistemische Funktion mit der Übermittlung der Daten erlosch und deren Spuren im weiteren Prozess konzeptionell getilgt wurden. Diese Ambivalenz galt auch für die Lübecker Anstalt, wie sich schon an den Schriften und Richtlinien der dort tätigen Psychiater zeigt. Da sich hier aber zusammen mit solchen für den Diskurs typischen Stellungnahmen auch die Dokumente und Spuren der alltäglichen Kommunikation mit den Angehörigen in den Akten erhalten haben, eröffnen diese Materialien ein Fenster auf die Praxis des tatsächlichen Umgangs mit den Angehörigen – gewissermaßen jenseits ihres offiziellen Ausschlusses und diesseits ihrer epistemischen Tilgung.6 5 6

Das kann hier so umfassend versprochen werden, weil in der anschwellenden psychiatrischen Fachliteratur der Zeit des deutschen Kaiserreichs die Angehörigen so gut wie gar nicht vorkommen. Ob es sich bei dieser ausführlichen Dokumentation der Kommunikation in der Akte um einen Sonderfall der Überlieferung handelt oder um eine in Provinzialanstalten nicht seltene Praxis, entzieht sich unserer Kenntnis. Die schriftliche Kommunikationspraxis selbst trägt alle Zeichen einer gängigen Geläufigkeit, wenn sich solche Dokumente in anderen zeitgenössischen Archiven (wie zum Beispiel der Charité) nicht erhalten haben, erscheint eher der Aufwand des Kopierens dieser zumeist banalen Mitteilungen als Grund für ihr Fehlen.

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Als Adressaten und Akteurinnen dieser Kommunikationspraxis zeigen sich die Angehörigen keineswegs als passive Opfer, die ihren Ausschluss aus der Anstalt hinnahmen und hilflos der Macht der Psychiater ausgeliefert waren. Vielmehr erweisen sie sich als ebenso findige wie gelehrige Mitspielende in einem System zunehmend ausgeklügelter Regeln, zu deren Perfektionierung sie maßgeblich beitrugen. Die Nachrichten aus der Anstalt mit ihren Bedenken und Begründungen funktionierten nicht nur als Reglementierungen im Verkehr zwischen PatientInnen und Angehörigen, sondern sie fungierten implizit auch als genaue Anleitungen zur Aushandlung weiterer Interaktionen. Die Interventionen der Angehörigen scheinen dabei die Kommunikationsflut in der Psychiatrie der Jahrhundertwende ebenso angestachelt zu haben wie der psychiatrische Wille ihrer Ausschließung – bis das System an der in Gang gesetzten Schreibarbeit regelrecht zu ersticken drohte. Neben einer solchen Blockade des Systems durch ihr geläufiges Mitspielen im Schreibprozess, konnten Angehörige mit ihren schriftlichen Kommunikationsakten dabei durchaus Besuchswünsche durchsetzen oder eine Verlegung nach Hause durchkreuzen,7 und gelegentlich intervenierten sie auch direkt in die psychiatrische Therapie, generierten ärztliche Aufmerksamkeit und verzögerten damit eine Vernachlässigung in der Betreuung einer Patientin mit einer chronisch-degenerativen Erkrankung, wie an einem abschließenden Beispiel gezeigt werden soll. Der Beitrag nimmt damit am Lübecker Beispiel Angehörige als eine Figur des Dritten in den Blick,8 die in der Psychiatrie als Ausgeschlossene in den Betrieb eingeschlossen blieben, ähnlich wie die psychiatrischen PatientInnen durch ihren Einschluss in die Anstalt aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Während dieser Punkt in der psychiatriehistorischen Forschung immer wieder betont wurde, scheint der einschließende Ausschluss der Angehörigen noch weitgehend unterbelichtet weiterer Erforschung zu harren.9 Angehörige blieben als Ausgeschlossene essenzieller Teil der Infrastrukturen des psychiatrischen Wissens. Selbst noch dort, wo ihre Funktion in der psychiatrischen Episteme scheinbar getilgt wurde, haben sie Spuren in den Medien des psychiatrischen Aufschreibesystems hinterlassen, weil die Psychiater vielfältig auf Vermittlung seitens der Angehörigen angewiesen blieben. Daneben generierte gerade ihr Ausschluss aus der Anstalt mannigfache Störungen im alltäglichen Betrieb, weil auf die Besuchs- und Kontaktwünsche reagiert werden musste. Die Akten bilden dabei nicht einfach die Vermittlungsrolle und das Störpotenzial der im psychiatrischen Diskurs 7 8 9

Wie das Sophie Strelczyk zum Beispiel für die Kommunikation zwischen Familie Mann und Wattenberg herausgearbeitet hat. Vgl. Strelczyk 2013. Zur Theorie der Figur des Dritten vgl. zum Beispiel Eßlinger u. a. 2010. Eine umfassende Gesellschaftsgeschichte dieser Ausschließungsform hat zuletzt Cornelia Brink 2010 vorgelegt, dort auch die relevante Literatur. Gegenakzente setzen der von Bartlett/Wright 1999 herausgegebene Sammelband sowie Suzuki 2006, die wiederum aber kaum auf die Kommunikation mit der Anstalt eingehen.

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als Ausgeschlossene eingeschlossenen Angehörigen ab, vielmehr lassen sich im Sinne einer Figur des Dritten Vermittlung und Störung hier paradigmatisch als Effekte des Ausschlusses sichtbar machen. Die Interaktionen mit den Angehörigen erlauben damit, die Eigenlogik der psychiatrischen Episteme aus den blinden Flecken und konstitutiven Paradoxien ihrer Praxis zu analysieren.

Reform in der Provinz: Die Lübecker soziale Psychiatrie „Die Anstaltsfürsorge für die Geisteskranken hat in den letzten Jahren eine Ausgestaltung erfahren, wie sie in diesem Umfange und in dieser Vollkommenheit wohl vorher niemand geahnt hätte.“10 Ausgerechnet im Umbruchsjahr 1919 publizierte Johannes Enge (1877–1966), inzwischen Oberarzt an der Lübecker Heilanstalt, eine Soziale Psychiatrie. Das Buch war eine Positionsbestimmung und zugleich eine Intervention in die Geburtswehen der ersten deutschen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs, wie Enge in seinem Vorwort andeutete: Wir ringen zurzeit noch schwer um die Erhaltung unserer wirtschaftlichen und nationalen Existenz. Erst wenn diese gesichert ist, wird Menschengeist und Menschenfleiß und menschliches Streben wieder friedlicher Arbeit und allgemeinen und besonderen sozialen Bestrebungen sich zuwenden können. Dann ist mit Bestimmtheit zu erwarten, daß auch in der Irrenfürsorge die Durchführung gewisser Grundsätze, wie sie der politischen Umwälzung, d. h. der sozialistischen Lehre und Weltanschauung entsprechen, zur Erörterung gestellt werden wird.11

Enge konnte dabei auf einen reformerischen Neuanfang in der Psychiatrie der Hansestadt Lübeck zurückblicken, denn im Jahr 1912 war man aus beengten Verhältnissen am Rande der Innenstadt in eine großzügig angelegte Anstalt umgezogen. Der weit draußen vor der Stadt gelegene und nun Heilanstalt Strecknitz genannte Neubau war der architektonische Ausdruck einer psychiatrischen Reform in Lübeck,12 mit der man den „weitgehendsten Forderungen der Humanität und der allgemeinen Hygiene“ nachkommen wollte.13 Wie überall auf dem Gebiet des Deutschen Reichs war auch in der Freien und Hansestadt Lübeck die Zahl der Aufnahmen in die Irrenanstalt im Laufe des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts stark angestiegen. Mit Oskar Wattenberg (1863–1951) hatte 1893 erstmals ein speziell psychiatrisch ausgebildeter Arzt die Leitung der Lübecker Einrichtung übernommen. Bereits kurz 10 11 12 13

Enge 1919, 13. Ebenda, 5. Vgl. Wattenberg 1914,172–184, Enge 1930. Enge 1919, 13.

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nach seiner Ankunft schaffte der reformerisch orientierte Wattenberg die Unterbringung von ­PatientInnen in Isolierzellen ab, weil „aufgeregte Kranke“ dort ohnehin nur „ohne resp. ohne genügende Beaufsichtigung“ seien, während in seinem therapeutischen Konzept die permanente Krankenbeobachtung oberste Priorität hatte.14 Damit erreichte er nicht nur nationale Aufmerksamkeit,15 sondern startete geschickt eine sozialengagierte, lokalpolitische Kampagne zur Verbesserung der Situation von Geisteskranken.16 Schon vor dem Umzug in die neue Heilanstalt hatte Wattenberg eine Assistenzarztstelle durchsetzen können, für die der bereits genannte Johannes Enge, der später Wattenbergs Nachfolger werden sollte, 1903 an die Lübecker Anstalt gekommen war. Enge hatte sich 1916, also vier Jahre nach der Eröffnung der neuen Anstalt und mitten im Ersten Weltkrieg, mit einem Ratgeber für Angehörige von Geisteskranken an ein breiteres Publikum gewandt.17 Drei Jahre später nun adressierte seine Soziale Psychiatrie „Ärzte, Juristen, Sozialpolitiker, Krankenhausbeamte und gebildete Laien“, wie es im Untertitel hieß. In dieser Schrift betonte er, dass die Psychiatrie „immer mehr eine soziale Wissenschaft“ werde und die „sozialen Bestrebungen und Beziehungen nach Möglichkeit“ gefördert werden müssten. Dabei ging es ihm jedoch nicht um eine Sozialpsychiatrie im modernen Sinne des Wortes oder um einen besonderen humanitären Ansatz beziehungsweise eine ethische Verpflichtung gegenüber Geisteskranken.18 Vielmehr verfolgte er mit seinem Konzept die Absicht, die praktische Psychiatrie für die Sozialpolitik zu öffnen. Das hieß primär, die Kompetenzen und den Einfluss der Psychiater auf den Bereich der Sozial-, Wohlfahrts- und Fürsorgepolitik auszudehnen und die Psychiatrie für die Stärkung der „Volksgemeinschaft“ im Nachkriegsdeutschland dienstbar zu machen. Deshalb stellte er den Präventionsgedanken, die Aufklärung der Bevölkerung und neue sozialtherapeutische Angebote in den Mittelpunkt. Zur Prävention geistiger Erkrankungen setzte er sich für eine Eugenik ein, gleich zu Beginn seiner Monographie forderte er ein staatliches Eheverbot, und zur „Verhinderung der Nachkommenschaft“ erschienen ihm „künstliche Fehlgeburt, Kastration bezw. Sterilisation“ als geeignete Maßnahmen.19 Dem berechtigten Schutz der Allgemeinheit vor „unsozialen Menschen“ sollten langfristige Bescheinigungen von Anstaltsbedürftigkeit durch gutachterliche Tätigkeiten dienen.20 Gleichzeitig befürwortete er eine Entlohnung der arbeitenden Geisteskranken (wovon ein Teil den Irren14 Wattenberg 1901, 119. 15 Wattenberg 1895, 829. Vgl. ebenso Kalmus 1901, 118 f. Das fand in weiten Kreisen Beachtung, selbst von Emil Kraepelin. Vgl. Kraepelin 1918, 98. 16 Vgl. Ptok/Dilling 1999. 17 Enge 1916. 18 Enge 1919, 197. Zur Differenz zur Sozialpsychiatrie vgl. Priebe/Schmiedebach 1997, 3–9. 19 Enge 1919, 7. 20 Ebenda, 55.

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Hilfsvereinen zugutekommen sollte), betonte die Bedeutung qualifizierten Pflegepersonals und votierte für einen Ausbau der psychiatrischen Versorgung in Form von Polikliniken für psychisch Nervöse, Nervenheilanstalten, eine dem Wohlfahrtsamt zugehörige psychiatrische Fürsorgestelle sowie eine „Zentralauskunftsstelle für das Irrenwesen“ zur Erhebung statistischer Daten. Auf dem Boden eines autoritär-professionellen Selbstverständnisses legte Enge also mit seiner Sozialen Psychiatrie ein umfassendes Konzept zur institutionellen Integration der Psychiatrie in die Sozialpolitik vor. Auch schon in seinem zuvor erschienenen Ratgeber hatte Enge sich als ebenso reformerischer wie autoritärer Psychiater in seinem sozialen Engagement für die Gruppe der Angehörigen gezeigt. Die Schrift widmete sich explizit ihrer Aufklärung, Enge nahm sie als Angehörige von hospitalisierten psychiatrischen PatientInnen durchaus ernst und zielte darauf, ihnen das Anliegen der Psychiatrie zu vermitteln. Dem modernen Verständnis der Psychiatrie nach seien Geisteskrankheiten kein „bürgerliches Todesurteil“ mehr, sondern „ihrem innersten Wesen nach körperliche Erkrankungen“ des „Zentralnervensystems“; Geisteskranke seien Gehirnkranke, die für ihre Erkrankung keine Schuld, Sühne oder Strafe träfe, die aber zur Heilung der Ruhe bedürften, wie sie das moderne psychiatrische Krankenhaus mit seiner Trias von Bett-, Bäder- und Beschäftigungsbehandlung als therapeutische Prinzipien bereithalte. Die moderne Anstalt verfolge das „Endziel der Heilung“ und sei keine „Bewahrungsanstalt“ mehr; wesentliche Voraussetzung für den therapeutischen Erfolg sei dabei das Vertrauen der Kranken zum Arzt – für das Enge mit dieser Schrift warb.21 Damit unterschied sich Enges Buch von der zeitgenössischen Ratgeberliteratur, die sich zumeist auf eine populärwissenschaftliche Einführung ins Fach beschränkte, wie gleich noch genauer gezeigt werden soll. Anstelle des sonst üblichen simplifizierenden Gesamtüberblicks über die verschiedenen Geisteskrankheiten stellte Enge seinem Ratgeber nur ein kurzes Kapitel über „Wesen und Beginn der Geisteskrankheiten“ voran, das auf wenigen Seiten die Grundanschauungen des Faches in einfachen Sätzen skizzierte.22 Dabei war Enge vor allem ein Erkennen des Krankheitsbeginns wichtig, insbesondere im Jugendalter wegen der frühzeitigen Behandlungsbedürftigkeit des „Jugendirreseins“, um keine Behandlungschancen zu verpassen. Enge zielte also keineswegs auf eine Abschottung der Psychiatrie und auch nicht explizit auf eine Verselbständigung der Anstalt, sondern betrachtete ganz im Gegenteil die Auseinandersetzung und intensive Kommunikation mit der Gruppe der Angehörigen als einen Teil der

21 Enge 1916, 3–6. 22 Enge schilderte zwar durchaus verschiedene Formen von Irresein, weil auch der Laie zwischen „Tobsucht, Verblödung und Verrücktheit“ unterscheiden und fälschlicherweise einen Gegensatz zwischen Geistes- und Gemütskrankheiten vermuten würde, aber weitere Differenzierung und genaue Formenkenntnis waren hier offenbar unwichtig.

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neuen sozialreformerischen Orientierung der Psychiatrie, deren therapeutischer Kern freilich die Anstalt selbst war. Auch diese besondere Ausrichtung der psychiatrischen Arbeit dürfte dazu beigetragen haben, dass den Lübecker Patientenakten aus dieser Zeit eine auffällig hohe Zahl an Korrespondenz mit den Angehörigen der PatientInnen beiliegt. Und umgekehrt dürfte diese vergleichsweise intensiv geführte Kommunikation auch ein Grund dafür gewesen sein, dass Enge in seinem Ratgeber dem „Briefwechsel“ eigens ein ganzes Kapitel widmete, das mit mehr als neun Seiten den umfangreichsten Abschnitt seines Büchleins bildete und mit dem er die Angehörige vor allem zu einem korrekten Abfassen von Anfragen an die Anstalt anzuleiten suchte. Fachlich argumentierte Enge dabei immer auf dem Boden der psychiatrischen Lehrmeinung, dass auch Briefe das Nervensystem überanstrengen konnten, was bei den als Gehirnkrankheiten erkannten Geistesstörungen selbstverständlich zu vermeiden war. Deswegen gab es in der Anstalt grundsätzlich eine Zensur aller Schriftstücke und einem Briefwechsel konnte erst stattgegeben werden, wenn dem keine medizinischen Bedenken mehr entgegenstanden – in der Regel erst drei bis vier Wochen nach der Aufnahme und auch das nur „kurz und nicht zu inhaltsreich“.23 Außerdem durften Briefe keine Klagen enthalten, keine Aufforderungen zur Antwort (denn darüber durfte nur der Arzt entscheiden), und angesichts einer besonderen „Magie der Worte“ musste man immer mit einer möglichen ungünstigen Wirkung von Briefen auf die Kranken rechnen. Todesnachrichten von Familienmitgliedern zum Beispiel durften erst nach der Beerdigung übermittelt werden. Versprechungen oder Besuchsankündigungen, über die sowieso nur der Arzt entscheiden konnte, mussten strikt vermieden werden. Das Kapitel über den Briefwechsel war nicht nur so lang geraten, weil sich hier die Einzelaspekte und Teilschritte im Verkehr der Angehörigen mit der Anstalt am genauesten ausbuchstabieren ließen, sondern weil eine totale Kommunikationskontrolle als Kehrseite der therapeutischen Anstaltsruhe im Zentrum dieser reformerisch engagierten Psychiatrie stand. In diesem strengen Reglement offenbarte Enges soziale Psychiatrie ihre Janusköpfigkeit. Einerseits adressierte er die Angehörigen seiner PatientInnen direkt, so wie er auch täglich viele Briefe an sie schrieb, und sie waren ihm eine eigene Publikation wert. Andererseits nutzte er die öffentliche Äußerung im Buch wie auch die meisten seiner brieflichen Mitteilungen vor allem zur überwachenden Einschränkung der Kommunikation. In dieser Hinsicht lässt sich Enges Ratgeber als Effekt der an der Klinik eingeführten Kommunikationskontrolle lesen: Sie wurde im Buch nicht nur retrospektiv legitimiert, sondern scheint durch einen Überschuss an Kontaktwillen auf Seiten der Angehörigen regelrecht veranlasst, den Enge nun seinerseits durch öffentliche Aufklärung einzudämmen und in seine Schranken zu weisen suchte. Nach 100 Jahren Medien- und Rationalisierungsgeschichte der Kommunikation mitsamt deren 23 Enge 1916, 38.

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Versprechungen eines papierlosen Büros dürfte heutige BeobachterInnen nicht weiter überraschen, dass Enges öffentlicher Appell zur Kommunikationsregulierung kaum einen Rückgang der Schreibarbeit zeitigte, sondern ganz im Gegenteil eine ungeahnte Papierflut auslöste. Bemerkenswert bleibt aber, wie Enge im Buch selbst den Keim dazu gelegt hat, indem er die Angehörigen zugleich aufforderte, von direkten Briefen an ihre erkrankten Familienmitglieder abzusehen und stattdessen vor jedwedem Kontakt zunächst mit der Anstaltsleitung in eine schriftliche Kommunikation einzutreten. Mit seinen bis in die verschiedensten Details genau ausgearbeiteten Instruktionen zur Einschränkung des Schriftverkehrs erzeugte Enge damit auch auf Seiten der Psychiater eine enorme Kommunikationssteigerung im Umgang mit den Angehörigen. Denn die aufgestellten Prinzipien mussten nicht nur sämtlich bis in ihre Details überwacht werden, sondern Enge instruierte die Angehörigen auch explizit zur Metakommunikation mit dem Arzt, weil er auf eine Kommunikationskontrolle durch schriftliche Aufklärung setzte. Gerade weil Enge die Angehörigen zu Anfragen und zur Schriftproduktion angetrieben hatte, konnte es nicht ausbleiben, dass schließlich nicht nur die PatientInnen zu schützen waren, sondern auch jedwede unnötige Belastung der Ärzte durch Briefe zu vermeiden war: „Man warte wenigstens acht Tage nach der Aufnahme, ehe man die erste Anfrage [zum Befinden der Patientin/des Patienten] stellt. […] Die Anfrage selbst soll sich auf das Notwendigste beschränken. Man frage nicht nach nebensächlichen Dingen und enthalte sich vor allem jeder Vorschläge über Behandlung der Kranken, was oftmals von Seiten der Angehörigen geschieht.“24 Enges Ratgeber war gewissermaßen das Formelwerk eines Zauberlehrlings, das die Angehörigen zu Erfüllungsgehilfen einer therapeutischen Kommunikationsüberwachung zu machen suchte und ihn zum Opfer der provozierten metakommunikativen Briefflut werden ließ.

Abstandsregulierung: Psychiatrische Ratgeberliteratur um 1900 Wenn Psychiater sich um 1900 verstärkt in allgemeinverständlichen Werken an ein breites Publikum wandten, muss diese Ratgeberliteratur im historischen Kontext einer damaligen heftigen öffentlichen Diskussion über die Psychiatrie, vor allem aufgrund der stark gestiegenen Zahl an Hospitalisierungen, gesehen werden. Nicht nur Betroffene und ihre Familien, sondern ein breites Publikum diskutierte Mitte der 1890er-Jahre Befürchtungen über unrechtmäßige Einweisungen und eine überzogene Entmündigungspraxis.25 Spätestens seit diesen massiven Auseinandersetzungen wussten die deutschen Psychiater, wie labil ihre im 24 Enge 1916, 43f. 25 Vgl. Schwoch/Schmiedebach 2007, Goldberg 2002.

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Kaiserreich gerade erst gewonnene soziale Stellung in Hinblick auf den Umgang mit Patient­ Innen und deren Familien war. In dieser aufgeheizten Stimmung konnte sich das Ignorieren der Kritik und eine Vernachlässigung der Angehörigen ebenso schädlich auf das öffentliche Ansehen des Fachs auswirken wie ihre zu starke Berücksichtigung, wenn etwa Psychiater zur Rechenschaft gezogen wurden, weil sie eine Einweisung allein auf die Aussagen von Familien­ angehörigen gestützt hatten.26 Ein nicht unerheblicher Teil der Ratgeberliteratur dürfte vor diesem politischen Hintergrund entstanden sein, wenigstens beklagten Psychiater in diesen Schriften regelmäßig den aufgrund der verfälschenden und reißerischen Berichterstattung schlechten Stand ihres Fachs. Einen deutlichen Hinweis in dieser Richtung geben die Ratschläge für Irrenpfleger über den richtigen Umgang mit den Angehörigen des Osnabrücker Anstaltsarztes Schneider. Ihnen gegenüber brauchte der Psychiater keine besonderen Rücksichten auf Unwissenheit, Ängstlichkeit oder eine ablehnende Haltung zu nehmen, wie bei den an Angehörige gerichteten Ratgebern. Umso klarer manifestierte sich hier die durchgängig strategische Ausrichtung im Umgang mit den Angehörigen: Den Pflegern gegenüber sprach Schneider offen vom Misstrauen der Angehörigen, die inzwischen regelrecht zu „Kontrollbesuchen“ kämen. Das könne man ihnen angesichts der allgemeinen Stimmung gegen die Anstalten nicht einmal übelnehmen, vor allem aber dürfe man es ihnen nicht verdenken, um das Image der Psych­ iatrie nicht noch weiter zu verschlechtern, denn „die Angehörigen der in der Anstalt befindlichen Kranken bilden nun gewissermaßen eine Verbindung von der Anstalt zum Publikum“.27 Diese Verbindung zwischen „Anstalt und Publikum“ war aus Sicht der Psychiater das zentrale Problem, denn darin sahen sie vor allem eine Gefährdung der Abgeschlossenheit der Anstalt. Die Anstalt war als autonome Einheit konzipiert, deren Betrieb über den Ausschluss aller nicht unmittelbar Beteiligten als geschlossenes System geregelt war und deren therapeutische Wirksamkeit dem Fachverständnis nach gerade von diesem Ausschluss abhing. Entsprechend strikt regulierte auch ein sozial engagierter Psychiater wie Enge den Ausschluss der Angehörigen: In zahlreichen Fällen kann ein Besuch heftige Gemüthsbewegungen und Leidenschaftsausbrüche hervorrufen. Diese können nicht nur nachteilig auf den Zustand des Kranken einwirken, sie können auch für die Besuchenden peinlich werden, ja sogar bedrohlich werden. […] Hier26 Das belegt der Fall Johannes Lehmann-Hohenberg, dessentwegen sich der Jenenser Psychiater Otto Binswanger (1852–1929) verantworten musste (vgl. Gaderer 2016) oder auch der buchstäbliche Fall des angesehenen britischen Psychiaters George M. Burrows. Vgl. Suzuki 2006, Kap. 2. 27 Schneider 1897, 148. Der Autor ging in seinem Artikel sogar darauf ein, warum die Aufnahmesituation, die für die Pfleger Teil des Alltags sei, von den Angehörigen als belastend erlebt werde und worauf sie mit besonderem Gesprächsbedarf und vielen Hinweisen reagieren würden.

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aus ergibt sich ohne weiteres, daß in den seltensten Fällen vor Ablauf einiger Wochen (vier bis fünf im Durchschnitt) ein Besuch angezeigt sein wird. Erst danach fragt man bei dem Anstaltsarzt wegen eines etwaigen Besuches an.28

Die systematische Ausgrenzung der Angehörigen galt zugleich als ein Erfordernis aufgrund der klinischen Besonderheit der Krankheiten und als therapeutische Notwendigkeit. Im Zentrum der Ratgeberliteratur standen entsprechend die Legitimierung der Einweisungspraxis und eine Darlegung der Anstalt als Ort der richtigen Therapie. Insbesondere auf die Probleme bei der Einweisung gingen die Psychiater in ihren Ratgebern ausführlich ein. Das Abholen zuhause, der Akt des Transports und die Ankunft in der Anstalt stellten eine heikle Angelegenheit dar, und hier versprachen sich die Psychiater buchstäblich einen handgreiflichen Nutzen von ihren Ratgebern: Sie schilderten anschaulich die notwendige Mithilfe der Familienangehörigen, die über das Zupacken hinausreichen sollte und vor allem eine geradlinige und aufrechte Haltung gegenüber den Einzuweisenden verlangte. Unisono empfahlen Psychiater ein entschiedenes Auftreten, eine Unterstützung durch tatkräftige HelferInnen und das Vermeiden jedweder Täuschung der Betroffenen über die bevorstehende Unterbringung in einer Anstalt – nicht zuletzt weil sonst der Anstaltsaufenthalt mit einem Betrug begonnen würde, was für die notwendige Vertrauensbeziehung schädlich sei.29 Wenigstens an dieser Stelle gerieten die Ausführungen der Psychiater in ihren Ratgebern konkret und praktisch. Ansonsten beschränkten sich die Bücher und Broschüren zumeist auf eine Popularisierung des neuen Fachwissens, gaben eine knappe Einführung in die Krankheitslehre und die daraus abgeleitete Notwendigkeit der Anstaltsbehandlung. Die Pflege und Behandlung entlassener Geisteskranker von Ernst Arlt liefert ein extremes Beispiel für dieses Schema, weil hier trotz des Titels nichts über die Behandlung von Geisteskranken, ihre Pflege oder auch nur einen angemessenen Umgang mit ihnen zu erfahren war.30 Nicht einmal Ratschläge für die Zeit nach der Entlassung lieferte Arlt, sondern lediglich basales Fachwissen über die damals einschlägigen psychiatrischen Krankheitsbilder. Dennoch war das Buch nicht nur als 28 Enge 1916, 31 ff. Die in den Akten überlieferten abgelehnten Anfragen belegen, dass die Anstaltsdirektion Besuchswünschen äußerst vorsichtig begegnete. Denselben Geist spiegelt auch die folgende Antwort an die Ehefrau eines Patienten: „Der Besuch seitens seiner nächsten Angehörigen am Ende vorigen Monats ist verhältnismäßig recht gut verlaufen. Er hat für unseren Patienten keine nachteiligen Folgen nach sich gezogen.“ HPUL, Akte W. S., Aufnahme 8.5.1916. Hatten sich zwei Angehörige gleichzeitig für Besuche angekündigt, wurde einem abgesagt, dabei zog einmal die Ehefrau in Konkurrenz mit der Mutter des Patienten den Kürzeren und wurde auf einen Besuch zu einem unbestimmten Zeitpunkt vertröstet. HPUL, Akte J. A., 1. Aufnahme 12.5.1910, 2. Aufnahme 9.11.1914. 29 Vgl. zum Beispiel Finckh 1907, Enge 1916, Arlt 1933. 30 Arlt 1933.

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„Ratgeber für Angehörige“ konzipiert, sondern sogar als Preisschrift zum weiteren Ausbau der sozialen Fürsorge ausgezeichnet worden. Diese Vernachlässigung sämtlicher Fragen, die über die Einweisung, Anstaltsbetreuung und ihren geregelten Ablauf hinausgingen, könnte man als Ausdruck eines neu gewonnenen professionellen Selbstverständnisses auffassen, mit dem die Herren der Anstalt für ihr Refugium argumentierten. Gleichwohl muss diese vollständige Ausblendung der Angehörigen selbst dort, wo sie explizit adressiert werden sollten und wo es um die Beziehungen aus dem professionellen therapeutischen Setting ins soziale Umfeld der Kranken ging, überraschen. Obwohl Psychiater regelmäßig mit Angehörigen zu tun hatten, auf ihre Mithilfe bei der Einweisung angewiesen waren und Vorkehrungen zur Entlassung von PatientInnen in ihre Familien zu treffen waren, sahen sie in den Angehörigen offenbar vor allem ein Problem. Psychiater trafen mannigfaltige institutionelle, bürokratische und sogar architektonische Vorkehrungen, um eine Einmischung der Angehörigen als Kompetenzüberschreitungen und Grenzverletzungen zu pönalisieren und ‚Störungen‘ möglichst zu verhindern. „Nicht zum kleineren Theil“, so schrieb etwa der Direktor der Irrenanstalt St. Urban, Jost Lisibach, 1893 in der psychiatrischen Monatsschrift für praktische Ärzte Der Irrenfreund, kommen die vermeidbaren Schwierigkeiten, welche mit dem Berufe des Irrenarztes verbunden sind, von solchen Personen, welche den Geisteskranken am nächsten stehen, mit ihnen verwandt, befreundet sind, und den Arzt in seinem Bestreben und Wirken unterstützen möchten. Immer und immer wieder kommen im Verkehr der Angehörigen mit den Kranken Verstöße vor, durch welche der Verlauf der Krankheit verschlimmert und verlängert, und die ohnehin schwierige Pflege und Behandlung ohne Noth noch mehr erschwert wird.31

Bereits für Ewald Hecker (1843–1909), der 1879 eine der ersten Anleitungen für Angehörige von Geisteskranken verfasst hatte, bestand das Problem vor allem darin, dass „die Angehörigen, wenn sie ihren Patienten in die Anstalt bringen, dem Arzte gleich gewisse Vorschriften machen wollen, wie ihr Kranker zu behandeln sei“.32 Nur selten scheinen die vielfältigen Verschränkungen und Verflechtungen von Anstalt, PatientInnen und Angehörigen überhaupt in den Blick geraten, geschweige denn eigens thematisiert worden zu sein. Zu den raren Beispielen zählt ein knapper Text von Heinrich Laehr­ (1820–1905), Leiter des Berliner Privatsanatoriums Schweizerhof. Als Ausnahme bestätigt er die Regel, denn als Leiter einer Privatanstalt musste Laehr selbstverständlich ganz andere Rücksichten auf sein Publikum nehmen, als eine öffentliche Anstalt, die nach der Institut­ 31 Lisibach 1893, 40. 32 Hecker 1879, 25.

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ionalisierung der Psychiatrie mit obrigkeitsstaatlicher Autorität agierte. Dennoch setzte auch Laehr den Schwerpunkt eindeutig auf eine weitestgehend abgeschottete Anstaltsbehandlung als wichtigster therapeutischer Maßnahme. Aber nach allerlei zeittypischen Hinweisen auf die möglichst ungestörte Ruhe in der Anstalt und einen möglichst reibungslosen Betriebsablauf postulierte er immerhin auch einen möglichen Nutzen eines Angehörigenbesuchs, wenn dieser „den Arzt in seinem Heilverfahren unterstützt“. Laehr führte sogar verschiedene günstige, indirekte Effekte von Besuchen an, weil so die Angehörigen das Vertrauen der Kranken stabilisieren und als positive Propaganda für die Anstalt wirken könnten. Außerdem bekämen Ärzte bei Besuchen von Angehörigen Gelegenheit, das Umfeld ihrer Patienten kennenzulernen, während andere Patientinnen sähen, dass Besuche grundsätzlich gewährt würden. Allein deshalb schon sollten die Besuche nach Möglichkeit in den Wohnräumen in der Anstalt und nicht in gesonderten Besuchsräumen stattfinden. So würden letztlich alle PatientInnen in der Anstalt „leichter ausharren“.33 Laehrs Aufsatz drückt damit ebenso eine grundsätzlich strategische Einstellung aus, aber in seiner besonderen Situation als Leiter eines Privatsanatoriums mit leicht verschobenen Akzenten. Auch in solchen Einschätzungen wird der Angehörige als eine paradigmatische Figur des Dritten markiert, die sich störend und doch unentbehrlich zwischen Gesellschaft und Psychiatrie positionierte – und nicht zuletzt deswegen in der Ratgeberliteratur adressiert werden musste. Über die Vermittlung von Basiskenntnissen im Fach und ihre Überzeugungsarbeit für die Anstaltsbehandlung hinaus verfolgten diese Schriften typischerweise ein naheliegendes, anderes Ziel: Die Etablierung eines genau geregelten und kontrollierten Abstands zur Anstalt.

Déformation professionelle: Ärztliche Musterbriefe Der in der Ratgeberliteratur legitimierte systematische Ausschluss der Angehörigen aus der Behandlung tritt im Diskurs der Psychiatrie als deren epistemische Ausgrenzung hervor. Ein einschlägiges Beispiel liefert die Literatur zur Ausbildung junger Kollegen in der professionellen Kommunikation, zu der auch schriftliche Mitteilungen an Angehörige gehörten. Denn nicht nur Angehörige mussten an die Kommunikationskontrolle seitens der neuen Psychiatrie angepasst werden, sondern auch angehende Psychiater hatten neben den Techniken für eine sorgfältige Dokumentation ihrer Fälle und das Abfassen von Gutachten auch die schriftliche Kommunikation mit Angehörigen zu erlernen. Zu diesem Zweck stellte Werner Becker, Oberarzt an der Landesirrenanstalt Herborn, Musterbriefe zu einem Buch zusammen, aus denen das folgende Schreiben als exemplarisch zitiert werden kann:

33 Laehr 1877, 14.

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Ihre Schwägerin leidet an einer sogenannten hysterischen Lähmung der rechtseitigen Extremitäten. Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, diese Lähmung zu beseitigen. Was aber die Irrenanstaltspflege hauptsächlich bedingt, ist ihre Klatschsucht, ihre Neigung zu intriguieren, ihre Launenhaftigkeit und ihre mangelnde Wahrheitsliebe, Eigenschaften, die ich nicht als Charakterfehler, sondern als Ausfluß ihrer Geistesstörung angesehen wissen möchte. Diese Eigenschaften machen sie zu einem so unsozialen Element, daß sie selbst in der Anstalt überall anstößt und oft die Abteilung hat wechseln müssen. Sie hat jetzt ihr Bett auf der Siechenstation inmitten lauter mehr oder weniger verblödeter und deshalb nicht reizbarer Mitkranker. Hier hat sie am wenigsten Gelegenheit, ihren unsozialen Neigungen zu frönen.34

Bei diesem Dokument handelt es sich nicht um zufällig überliefertes Treibgut aus psychiatrischen Krankenakten oder ein vermeintlich schlechtes Beispiel für den Schriftverkehr mit Angehörigen. Vielmehr hielt Becker ein solches Schreiben für angeraten und vorbildlich, um im Verkehr mit Angehörigen zusammen mit Informationen über den Zustand einer Patientin zugleich psychiatrische Handlungskompetenz herauszustellen. Aus der historischen Distanz fällt Beckers Buch vor allem durch seinen anmaßenden Ton und autoritären Duktus auf. Für die psychiatriehistorische Forschung sind zwei andere Details an Beckers Musterbriefen besonders aufschlussreich: Erstens umfassen die im Buch abgedruckten Briefe – bis auf das hier vollständig zitierte sowie einige kürzere Schreiben aus dem Anhang – stets mehr als zehn Seiten, obwohl das allein schon aus pragmatischen Gründen kaum der gängigen Praxis entsprochen haben dürfte und vermutet werden muss, dass im Anstaltsalltag viel weniger Zeit zum Abfassen solcher Briefe zur Verfügung stand. Zweitens waren Beckers Briefe mit der jeweiligen Diagnose überschrieben und das Buch entsprechend einem damaligen Diagnoseschema gegliedert. Becker organisierte seine Anleitung zum S­ chreiben von Angehörigen-Briefen also entlang der Nosologie, indem er jeder Geisteskrankheit einen bestimmten Typus von Angehörigen-Brief zuordnete. Dagegen darf vermutet werden, dass in der täglichen Praxis Psychiater ihre Brief-AdressatInnen, also die Angehörigen ihrer PatientInnen, vermutlich zuvörderst aufgrund je spezifischer Anliegen und ansonsten entsprechend dem jeweiligen sozialen Status beziehungsweise der vermuteten Bildung angesprochen haben dürften. Aber von einer entsprechenden Berücksichtigung individueller, kultureller oder sozialer Aspekte findet sich in Beckers Buch keine Spur. Ihm ging es offensichtlich um exemplarische Mitteilungen aus fachlich-psychiatrischer Sicht, die er deswegen nach Krankheitsbildern ordnete. Seine Veröffentlichung spiegelt die Perspektive eines dirigierenden Psychiaters, für den PatientInnen zu Exemplaren psychischer Störungen geworden waren. 34 Becker 1917, 78 f. Das Eingangszitat findet sich im Vorwort.

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Becker hatte sich zwar veranlasst gesehen, jüngeren Kollegen eine Handreichung zur Kommunikation mit Angehörigen zu geben, aber sein Buch dokumentiert die wichtige Rolle der Angehörigen für die psychiatrische Praxis nur noch als Leerstelle. Selbst noch in Briefen an Angehörige kamen sie quasi nur noch als Anhängsel eines Krankheitsbildes vor. Die Auslöschung der Angehörigen aus dem professionellen Selbstverständnis lässt sich wohl kaum deutlicher ausdrücken. Bei diesem Befund ist außerdem zu beachten, dass Becker mit seiner Sammlung von Musterbriefen nicht die Angehörigen, sondern Kollegen und den auszubildenden Nachwuchs adressierte. Bei seinem Buch handelt es sich deshalb um einen Fall schwarzer Pädagogik, dessen implizites Lernziel gerade nicht die explizit adressierte Kommunikation mit den Angehörigen war, sondern deren fachgerechte Ausgrenzung.35 Dem kol­ legial-fachlichen Nachwuchs demonstrierte Becker, wie mit einem Ton schamloser Direktheit selbst private, eheliche und familiäre Probleme thematisiert, sozusagen als ‚Mustersymptome‘ der Krankheit in der Familie beim Namen genannt werden sollten, um die Angehörigen auf gefügige Distanz zu halten. Nicht alle Psychiater mögen so offen zynisch mit den Angehörigen ihrer PatientInnen umgegangen sein, wie Becker es den Kollegen in seinem Buch empfahl. Aber seit der Positionierung der Anstalt als therapeutischer Einrichtung galt dem Fach der Ausschluss der Angehörigen als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Medikalisierung der Geisteskrankheiten.36 An die Stelle zerrüttender Verhältnisse in der Patientenfamilie sollte die geregelte Welt der Anstalt als abgeschlossener Kosmos jener Ideale treten, die in der realen Welt der Angehörigen vermeintlich fehlten. Das hatte Heinrich Schüle (1840–1916) bereits in seinem Beitrag über die Geisteskrankheiten zu Ziemssens Handbuch der Speciellen Pathologie und Therapie kategorisch als Segen für den Patienten herausgestellt: Die „Neuregulirung seines Tageslaufs 35 Beckers Musterbriefe sind obendrein Ausdruck einer allgemeinen Militarisierung, wenn er etwa der Mutter eines nervösen Gymnasiasten, der inzwischen wegen „Entartungsirresein“ in der Anstalt war, sich dort aber sowohl bei der Gartenarbeit als auch beim Kopieren der Krankenakten bewährte, beschied, dass über eine Rücknahme der Entmündigung frühestens in einem Jahr erneut befunden würde – es sei denn, der Sohn meldete sich als Kriegsfreiwilliger. (Ebenda, 58) Den harschen Ton seiner Ausführungen wird man teilweise auf die Zeitumstände schieben müssen, als der Erste Weltkrieg in die Phase des Stellungskrieges geraten und die zugespitzte Versorgungslage insbesondere für psychiatrische Anstalten prekär geworden war. 36 Noch angesichts der massiven Hospitalisierung psychiatrisch Kranker am Ausgang des 19. Jahrhunderts sahen Psychiater die Anstalt grundsätzlich als eindrucksvolles Zeichen für den Fortschritt ihres Faches, auch wenn sie gelegentlich dessen zweifelhafte Konsequenzen in den Blick nahmen. Auf seine früheren Erfahrungen als Oberarzt um 1900 zurückschauend, gestand Hermann Simon einmal, dass er trotz der „wohltätigen und fortschrittlichen Erkenntnisse“ in der Geisteskrankenbehandlung sich damals lieber habe umbringen wollen, als selbst in einer solchen Anstalt zu landen, obwohl seine Abteilung „therapeutisch auf der Höhe“ gewesen sei. Vgl. Simon 1927, 152.

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[tritt] nicht etwa rauh an ihn heran, sondern mild, wenngleich ernst und unbeugsam. Es ist der Geist des familialen Lebens, welcher alle Mitarbeiter und Pfleglinge verbindet, Wartepersonal und Kranke aneinander knüpft.“37 Die Anstalt sollte mit dem streng geregelten Gefüge von Ordnung, Arbeit und Ruhe, mit ihrer festen Anordnung verschiedener Abteilungen und Häuser dem aus den Fugen geratenen Leben der Irren neue Struktur geben. Die Anstalt war die zu Stein erstarrte Form der Kontrolle über die Störungen der PatientInnen, ihr Pendant der geregelte Ablauf des Anstaltslebens, der sich zum therapeutischen Prinzip verselbständigt hatte. Weil die Anstalt gemäß dem neuen therapeutischen Selbstverständnis des Faches nicht mehr nur der Verwahrung der Irren, sondern ihrer Therapie dienen sollte und als oberste therapeutische Prinzipien die ungestörte Funktion und ruhige Ordnung der Anstalt selbst galten, mussten die Angehörigen ausgeschlossen werden, wie Emil Kraepelin (1856–1926) in seinem Lehrbuch klar ausführte: „Der Arzt hat [...] in erster Linie für die mögliche Fernhaltung aller äußeren und inneren Reize zu sorgen. Dahin gehören namentlich der Verkehr mit den nächsten Angehörigen [...]. Darum werden in der ersten Zeit der Krankheit [...] die Besuche auf das äußerste einzuschränken sein.“38 Angehörige gehörten nicht zum System der Anstalt und tauchten deshalb vor allem als Störgrößen auf, die sich nur schwer kontrollieren ließen: „Mehrfach habe ich von Collegen den Seufzer gehört: mit den Kranken kann ich schon fertig werden, wenn nur die Angehörigen nicht wären!“39 Nicht zuletzt wegen dieses Ausschlusses der Angehörigen dürfte in den Irrenanstalten die schriftliche Kommunikation mit ihnen einen substanziellen Teil der Arbeitszeit gebunden haben – fast wie ein Komplement zur Forschungsarbeit in den psychiatrischen Kliniken. Auch in der fachwissenschaftlichen Literatur der Zeit wurden Angehörige gar nicht oder allenfalls am Rande erwähnt, obwohl sie auf vielfältige Weise an der Konstitution psychiatrischen Wissens als Informantinnen, Adressaten, Kritikerinnen, Störer etc. beteiligt waren. Selbst umfangreiche psychiatrische Lehrbücher aus der Zeit – wie die von Bleuler, Ewald oder Binswanger – haben in ihren Registern keine Einträge zum Stichwort „Angehörige“. Es fehlt in Jaspers Psychopathologie ebenso wie in den sorgfältig erstellten Registern der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie oder im Archiv für Psychiatrie.40 Selbst im einschlägigen Lehrbuch 37 Schüle 1880, 618. 38 Kraepelin 1903, 428. Wenige Seiten später ergänzte Kraepelin konsequent, dass eine familiäre Betreuung Geisteskranker nur möglich sei, wenn „die Häuslichkeit [...] selbst zu einer Irrenanstalt im kleinen umgestaltet wird.“ (Ebenda, 451) 39 Schneider 1897, 145. 40 Die Recherche in den digitalisierten Beständen des Archivs liefert bezeichnenderweise nur Hinweise auf „Angehörige“ im Sinne der Mitglieder bestimmter Truppengattungen. Vgl. zum Beispiel Kastan 1916.

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von Emil Kraepelin kommen Angehörige in der auf zwei Bände angeschwollenen siebten Auflage von 1903 außer als Informantionsquelle bei der Anamnese nur noch an einer Stelle vor, an der Kraepelin deren fehlgeleitetes Drängen auf frühzeitige Entlassung problematisierte.41 Obwohl die Psychiater selbstverständlich wussten, wie abhängig sie von den Angehörigen für das reibungslose Funktionieren ihrer Arbeit, für einen geräuschlosen Ablauf des Anstaltsalltags, für die öffentliche Wahrnehmung der Psychiatrie beziehungsweise einer Anstalt und insbesondere für die weitere Betreuung im Falle zu entlassender PatientInnen waren, rückten die Angehörigen nicht in die Stelle eines Bindeglieds oder Mitspielenden auf. Selbstverständlich standen Psychiatern bei ihrem regelmäßigen Umgang mit Justiz und öffentlicher Verwaltung auch andere Informationsquellen wie amtliche Schreiben, Zeugnisse und Gutachten zu Gebote, aber in der täglichen Praxis dürften die Angehörigen eine viel entscheidendere Rolle gespielt haben. Selbst dort noch, wo in diesen Büchern etwa bei der Erhebung der Familienanamnese oder der Vorgeschichte der Erkrankung die Angehörigen Erwähnung finden, werden sie stereotyp ausgegrenzt. Kein psychiatrisches Lehrbuch der Zeit gibt nähere Hinweise, wie Angehörige in die Psychiatrie einzubeziehen wären, wie sie befragt werden sollten und wie mit ihren Informationen umgegangen werden könnte. Offenbar bilden sie den blinden Fleck im Wissen der Psychiatrie. Dieser blinde Fleck ist umso erstaunlicher angesichts der von den Psychiatern oft genug beklagten Rolle der Angehörigen in der täglichen Praxis. Hier geht es um mehr als die Vernachlässigung einer wichtigen Gruppe. Der Befund veranlasst zur Vermutung, dass das Wissen der Psychiatrie sich wesentlich dem Ausschluss der Angehörigen verdankte: Die Befunde, Diagnosen, postulierten Kausalitätsbeziehungen und therapeutischen Maßnahmen erreichten epistemische Dignität gerade dadurch, dass die Herkunft aus der Interaktion und Kommunikation mit den Angehörigen getilgt wurde. Denn ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis nach positionierte sich die Psychiatrie als autonomes Fach, das sein Wissen aus der Beobachtung der Kranken generierte und sich dabei auf ein binäres Verhältnis von Arzt und PatientIn fixierte, ohne auf einen Dritten angewiesen zu sein. Dazu mussten alle externen Informationen als isolierbare Daten über den Fall verbucht werden. Dieses fallzentrierte Selbstbild hat den Blick auf das Dreieck Arzt-PatientIn-Angehörige verstellt, welches damit psychiatriehistorisch ein umso wichtigeres Desiderat darstellt. Denn wenn die Angehörigen im Diskurs der Psychiatrie um 1900 allenfalls als Adressierte der Ratgeberliteratur vorkamen, aber ansonsten im Verborgenen weitgehend eine Gestalt off-stage blieben, bedeutet dies nicht, dass ihnen keine tragende Rolle bei der Herausbildung der Psychiatrie und ihres Wissens zukam. Vielmehr dürfte die Etablierung, Institutionalisierung und Professionalisierung psychiatrischer Praxis wesentlich dadurch an41 Kraepelin 1903, 463.

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getrieben worden sein, dass Angehörige ausgeschlossen wurden und als Ausgeschlossene im psychiatrischen Alltag präsent blieben. Offenbar um ihrem Selbstverständnis als autochthone Wissenschaft zu entsprechen, sah sich die Psychiatrie veranlasst, Anwesenheit und Einfluss dieser Dritten zu verdrängen und zu verleugnen.

Im Schatten der Anstalt: Psychiatrische Historiographie Nach Erving Goffman sind Psychiatrische Anstalten „totale Institutionen“, deren Funktionslogik teils absichtsvoll, teils aus autonomer Spezifizierung darauf ausgelegt war, ihre Insassen einem „reibungslosen Arbeitsablauf“ zu unterwerfen, wobei im Zuge einer forcierten Rollenzuweisung nicht nur die Betroffenen ihrer Autonomie beraubt wurden und ihr Selbstbild verloren, sondern ebenso auch das Personal durch die professionellen Rollen geformt und in seinem Handeln bestimmt wurde.42 Beckers Musterbriefe liefern auf mehreren Ebenen Hinweise für eine solche Anpassung an die professionelle ärztliche Rolle und die Anforderungen der Institution. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie sich das Ziel, die Angehörigen auf Distanz zu halten, gleichsam als roter Faden durch Beckers Ausführungen zog. Becker vermittelte Strategien, wie eine Position unbezweifelbarer psychiatrischer Autorität gewonnen werden könne – etwa indem mit Fachwissen eine Prognose mitgeteilt, trotz bereits eingetretener Besserung vor gefährlichen Rückschlägen gewarnt oder für nützliche Detailinformationen gedankt und gleichzeitig aber die Überfülle des nutzlos Mitgeteilten als Laienperspektive entschuldigt wurde. Damit instruierten seine Briefe die angehenden Kollegen, eine strikte räumliche und zeitliche Distanz zu den Angehörigen aufzubauen und zu stabilisieren. Beispielsweise sollte der Tochter einer lebensbedrohlich an einer Depression erkrankten Patientin überhaupt erst nach vier Wochen etwas über den Zustand ihrer Mutter mitgeteilt werden, Angehörigen chronischer PatientInnen wurde empfohlen, sich frühestens nach sechs Monaten wieder nach dem Befinden zu erkundigen, und ohnehin galt eine frühzeitige Entlassung fast immer als kontraindiziert. Die Antipsychiatrie des 20. Jahrhunderts artikulierte massive Zweifel an der Institution der Anstalt als adäquatem Ausdruck eines auf Gesundung ausgerichteten Umgangs mit dem Wahnsinn. Ihr lieferte Goffman mit seinen Studien gewissermaßen die Blaupause, weil er auf die pathologischen Folgen von Langzeithospitalisierungen aufmerksam machte, wie er sie in den 1950er-Jahren im St. Elizabeth Hospital in Washington beobachtet hatte, einer Anstalt mit über 7000 PatientInnen. Dorthin hatte er sich als vorgeblicher Assistent des Sportbeauftragten begeben, um mittels teilnehmender Beobachtung den Alltag vor allem der Hospitalisierten zu explorieren. Goffmans Analysen sozialer Rollen haben weit über den Bereich 42 Goffman 1973, 83.

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der Psychiatrie hinaus Verbreitung gefunden, zugleich verengte auch seine Darstellung die Perspektive auf die Anstalt als geschlossenes und von der Umwelt abgekoppeltes System. Damit blieben auch in Goffmans Studien die Angehörigen weitgehend ausgeschlossen, obwohl er mit seinen Beobachtungen der sozialen Interaktion – in neuerer Terminologie der sozio­ epistemischen Ko-Konstruktion der Anstaltspsychiatrie – einen Weg gewiesen hat, der hier weiter verfolgt werden soll. Neben den radikalen Impulsen aus der Antipsychiatrie bildete bekanntlich Michel Foucaults kaum weniger radikale These von der Entstehung der Psychiatrie als moderner, ausgrenzender Disziplinarmacht die zentrale Wendemarke für die Historiographie zu psychiatrischen Anstalten.43 Autoren wie Andrew Scull und David Rothman stellten die Herausbildung des modernen Verständnisses von Wahnsinn und Verrücktheit in den Kontext der Industrialisierung und beschrieben die Anstalt als Kontrollmaschine.44 Die nachfolgende Psychiatriegeschichtsschreibung betonte stärker die politisch-soziale Komplexität psychiatrischer Phänomene und verwies darauf, dass die Psychiatrie weder reine Erfüllungsgehilfin des modernen Staates gewesen war, noch ein monolithisches Machtmonopol besessen hatte – „after all, psychiatry had always been a house divided against itself, uneasy in its stance towards both the public and the medical profession at large, and aware of its embarrassing want of ,magic bullets‘“, wie Roy Porter in einem seiner letzten Texte formuliert hat.45 Aber auch diese Psychiatriegeschichte folgte weitgehend der vom Fach vorgelegten Ausblendung der Angehörigen. Dabei hat Michael MacDonald bereits vor 30 Jahren auf den ebenso lapidaren wie fundamentalen Umstand hingewiesen, dass bis weit ins 20. Jahrhundert medizinische ExpertInnen nur selten an der initialen Entscheidung beteiligt waren, jemanden als wahnsinnig zu behandeln.46 Und erst die neuere Psychiatriegeschichte hat mit der Annahme aufgeräumt, Einweisungen seien einer dauerhaften Internierung gleichgekommen. So wissen wir aus einer anderen britischen Studie, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert die Mehrzahl der eingewiesenen PatientInnen weniger als ein Jahr blieb und nur ein Fünftel der Entlassenen erneut eingewiesen wurde.47 Andere Studien hoben die Rolle kommunaler Versorgungssysteme hervor oder beschrieben, wie Familien ihre kranken Angehörigen nicht duldsam an die Anstalt abgaben, sondern gezielt auf die jeweiligen psychiatriepolitischen Regelungen und Versorgungsange-

43 Foucault 1976. Als psychiatrieinterne Kritikbewegung hatte es die Antipsychiatrie sogar bis ins renommierte Handbuch geschafft. Vgl. Kisker 1979. 44 Scull 1979, Rothman 1971. 45 Porter 2003, 1. 46 MacDonald 1987. 47 Bartlett/Wright 1999, 3.

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bote reagierten:48 „Psychiatric practitioners tried hard to adapt themselves to this new game of the dual mastership of the family and the public, rather than dominating the game.“49 So eindrucksvoll zum Beispiel Akihito Suzuki die Stimmen und Aktivitäten der Betroffenen und ihrer Angehörigen beziehungsweise Familien rekonstruierte und damit ein sehr viel komplexeres Bild psychiatrischer Handlungszusammenhänge zeichnete, gingen diese Studien nun aufgrund der Blickverlagerung auf die Psychiatrie außerhalb der Anstalt jedoch ihrerseits nur selten auf die Mitwirkung und die aktive Rolle der Angehörigen bei der Anstaltspsychiatrie ein.

Archivpost: Papierstau in den Akten Hier setzt der vorliegende Beitrag an, denn das Archiv der Lübecker Heilanstalt liefert aufschlussreiches Material für die sich wechselseitig aufschaukelnde Verschränkung von psychiatrischen Kontroll- und Regulierungsimperativen einerseits und multiplen Adaptionsstrategien auf Seiten der Angehörigen andererseits. Die erhaltenen Unterlagen zeigen, wie die Lübecker Anstalt das in Enges Ratgeber empfohlene Regime schriftlicher Kommunikation perfekt zur strikten Kontaktkontrolle implementierte – und die Akten vermitteln mit ihren überquellenden Spuren schriftlicher Kommunikation Einblicke, wie sich dieses System dabei partiell verselbständigte: Die schriftlichen Zeugnisse zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit persönlicher Kommunikation erzeugten vor allem Papierstau. Der gesamte Schreibverkehr zwischen den Angehörigen und der Anstalt beziehungsweise den PatientInnen sollte in den Krankenakten lückenlos abgeheftet werden – und findet sich dort für gewöhnlich noch heute. Von knappen Anfragen nach Besuchen oder dem Befinden der PatientInnen über Kostgeldquittungen, Portoeinzahlungen bis hin zu Telegrammen mit der Mitteilung über den Versand von Briefen oder eine Zugverspätung, weshalb ein Angehöriger erst verspätet zu einem angekündigten Besuch in der Anstalt eintreffen würde.50 Daraus entstand auch ein verwaltungstechnisches Problem der Verarbeitung und Archivierung höchst disparater Formate und heterogener Materialien. Wie ernst es Enge dabei mit seinen Vorstellungen zur Archivierung nahm, lässt sich daran ablesen, dass er sowohl im Ratgeber als auch in Briefen an die Angehörigen daran appellierte, bitte auf einem möglichst großen Papierbogen Briefe und Anfragen zu schreiben, damit die Akte nicht zum Kompositum heterogener Dokumente würde: „Die Anfragen sind 48 Prestwich 1994. 49 Suzuki 2006, 183. 50 Nicht zuletzt aus diesem Grund erreichen die Akten der Lübecker Staatsirrenanstalt einen Umfang, der mit dem der Krankenakten der Berliner Charité durchaus vergleichbar ist, obgleich nur dort systematisch geforscht wurde. In den Akten der Charité haben sich jedoch kaum Angehörigenbriefe erhalten, wurden vielleicht nie aufbewahrt.

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249 Abb. 1: Getippte Abschrift eines Angehörigen-Briefes samt Antwort der Direktion.

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auf ein besonderes Blatt Papier zu schreiben, am besten auf einen möglichst großen Bogen, da jedes solches Schreiben den Akten beigeheftet werden muss. Postkarten, Briefkarten, Visitenkarten verkrümeln sich leicht und sind schlecht zum Heften geeignet.“51 Trotz solcher Unterweisungen wurde allerdings weiterhin auf handlichen, aber für die Akte viel zu kleinen Bögen, nämlich in den damals für den Briefverkehr üblichen Formaten geschrieben. Andererseits wurde jeder noch so belanglose, an Angehörige abgegangene Brief – sei er von PatientInnen oder der Anstaltsdirektion geschrieben – zur Archivierung nochmals fein säuberlich abgetippt, mit dem Stempel der Strecknitzer Heilanstalt versehen und nummeriert in die Akte eingelegt. Zusätzlich blieb kein PatientInnen-Brief, der als geeignet für die Absendung an die Angehörigen erachtet wurde, von Wattenberg oder Enge unkommentiert – was deshalb rekonstruierbar ist, weil auch diese Kommentare in Abschrift in die Akte aufgenommen wurden: „Hochgeehrtes Fräulein“, schrieb Wattenberg etwa einer Ehefrau: „Ihren Brief mit Glückwunsch habe ich unserem Patienten persönlich ausgehändigt. Seine Antwort darauf sind anliegende Zeilen, welche ich mir hiermit Ihnen zu übersenden gestatte.“52 Nicht selten wurden Briefe auch umgeleitet und zum Beispiel als Beweis einer Geisteskrankheit an die Angehörigen verschickt: „Wir hielten es für besser, den beiliegenden Brief mit seinem kranken Inhalt nicht an den Herrn Rechtsanwalt zu senden“,53 oder: „Anhand dieses Briefes ihres Sohnes können sie sich selbst von seinem Zustand überzeugen.“54 Umgekehrt ließen die Psychiater Angehörigen-Briefe gelegentlich nicht an die vorgesehenen AdressatInnen in der Anstalt gelangen, sondern schickten sie retour – nicht ohne ihren Inhalt und die Retournierung sorgfältig zu dokumentieren: „Ihre soeben eingegangene Karte kann ich unserer Patientin nicht aushändigen, da sie dazu augenblicklich zu krank ist. Ich lasse sie Ihnen daher wieder zugehen.“55 Weil es dem ‚sachverständigen Urteil‘ des Arztes überlassen war, ob ein Angehörigen-Brief an eine Patientin oder vice versa vom Patienten an einen Angehörigen übermittelt wurde,56 und die aufgehaltenen Schreiben aber nicht vernichtet wurden, enthalten die Lübecker Akten neben zahllosen Briefen (beziehungsweise deren Abschriften) etliche ärztliche Vermerke, weshalb ein Brief nicht abgesendet wurde. Selbstverständlich wurden auch noch die Instruktionen des Arztes an einen Angehörigen, dass eine Antwort zu unterlassen oder mit ein paar freundlichen Zeilen zu antworten sei, in Abschrift in die Akte genommen. Oder eine Abschrift vermerkt, dass ein Angehöriger um Rücksendung eines Patienten-Briefes nach der 51 52 53 54 55 56

Enge 1916, 45 ff. HPUL, Akte C. F., 1. Aufnahme 22.7.1899, 2. Aufnahme 7.11.1908, 3. Aufnahme 8.11.1911. HPUL, Akte J. P., Aufnahme 9.10.1891. HPUL, Akte J. A., 1. Aufnahme 12.5.1910, 2. Aufnahme 9.11.1914. HPUL, Akte F. v. P., Aufnahme 2.1.1910. Enge 1916, 36.

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Lektüre gebeten wurde, weil dieser von „ärztlichem Interesse“ sei und deshalb in der Akte abgelegt werden sollte. Besonders geschickte (oder durch Enges Ratgeber und die bereits stattgehabte Kommunikation geschulte) Angehörige schrieben daher zunächst an den Arzt mit der Bitte, beiliegenden Brief auszuhändigen, wenn dies den Gesundheitszustand der Patientin bzw. des Patienten nicht verschlechtern würde. Das entsprach vollauf Enges System, der ohnehin gefordert hatte, dass Briefe an Kranke doppelt kuvertiert werden sollten: „Man nimmt einen großen Briefumschlag, versieht ihn mit der Anschrift: an die Direktion der Anstalt zu X und legt den Brief für den Kranken, am besten nochmals in einem Umschlage mit dem Namen des Patienten hinein.“57 Da nicht alle Angehörigen dieser Regel Folge leisteten, sah Enge sich veranlasst, seinerseits schriftlich und mit Verweis auf die Aufnahmebedingungen darauf aufmerksam zu machen, dass alle Briefe an die Direktion zu adressieren waren, weil es nur so möglich sei, „Störungen im Betriebe tunlichst zu vermeiden“.58 Auf diese Weise mutierte die Anstaltsleitung zunehmend zu einem die gesamte Arbeit umgreifenden und verdoppelnden Schreibbüro, das einer sich mehr und mehr verselbständigenden Schriftproduktion kaum noch Herr werden konnte, wie der folgende Fund belegt, wobei von einer „Abschrift“ keine Rede mehr sein kann: „1 Brief des Patienten F. an seine Tante Fräulein Adele O[...], Moislinger Allee. Mit gew. Besuch kann ich mich nicht einverstanden erklären. 17.2.17 gez. Dr. Wattenberg.“59 Briefe, die den Akten etwa mit dem Vermerk auf dem Umschlag, „der Wärterin zur heimlichen Beförderung übergeben“, beiliegen, belegen, dass in diesem ausgeklügelten Kontrollsystem immer wieder nach Schleichwegen gesucht wurde. In einem Fall wurde sogar ein Brief über die Anstaltsmauer geworfen, der einen kleinen Zettel mit der Bitte an den Finder enthielt: „Sie werden freundlichst gebeten, diesen Brief mittels Brieftaube auf die Post zu geben, aber nicht in den nächsten Postkasten stecken.“60 Auch diese Strategie ging nicht auf und wurde dadurch zum Dokument der Aktion und zum Beleg der perfektionierten Zensur, denn der Brief landete ordnungsgemäß in der Akte des Patienten. Dass dennoch manche anderen Strategien der heimlichen Weiterbeförderung gelangen, darüber gab Enge in seinem Ratgeber selbst Auskunft: „Gelegentlich werden die Angehörigen auch einen Brief erhalten, der nicht durch die Hand des Arztes gegangen ist, sondern den der Kranke auf unrechtmäßigem Wege aus der Anstalt beförderte. Hat der Angehörige das Gefühl, dass letzteres der Fall ist, so benachrichtige er den Arzt.“61 Enge verriet sogar Methoden, an denen erkenntlich sei, ob ein

57 58 59 60 61

Ebenda, 45. HPUL, Akte R.P., Aufnahme 16.12.1908. HPUL, Akte C.F., 1. Aufnahme 22.7.1899, 2. Aufnahme 7.11.1908, 3. Aufnahme 8.11.1911. HPUL, Akte C. L., 1. Aufnahme 5.12.1890, 2. Aufnahme 1.6.1893. Enge 1916, 41 f.

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„Brief die Hand des Arztes durchlaufen hat. Z. B. wird auf dem Briefumschlag oder auch im Brief selbst an einer Stelle ein unauffälliges Zeichen wie etwa der Anfangsbuchstabe des Namens des Anstaltsleiters angebracht. Anderwärts wird das ‚frei‘ in der linken Ecke des Briefes vom Anstaltsleiter geschrieben oder wenn es der Kranke selbst schon angebracht hat, nochmals überschrieben.“62

Durchaus kam es vor, dass gelehrige Angehörige, die Post aus der Anstalt ohne ärztliche Erlaubnis erhalten hatten, diese ordnungsgemäß an die Anstalt zurückschickten. In dieser allumfassenden Dokumentation und Aufbewahrung selbst noch der scheinbar nebensächlichsten Mitteilungen verselbständigte sich nicht nur der Schriftverkehr zu einer Metakommunikation. Vielmehr gibt die Aktenüberlieferung zu der Vermutung Anlass, dass das ausgeklügelte System der Abstandsregulierung den Arbeitsalltag der Ärzte in einem solchen Maße bestimmt hat, dass die Patientenakte kaum noch ihren eigentlichen Zweck einer Krankengeschichte erfüllte und die PatientInnen zunehmend zu Randfiguren der schriftlichen Kommunikation zwischen Arzt und Angehörigen wurden.

Der Fall Marie D.: Angehörigen-Briefe als Motor psychiatrischer Praxis Gelegentlich konnte das fortgesetzte Schreiben der Angehörigen zum Generator psychiatrischer Beobachtungen oder zumindest einer ärztlichen Dokumentation werden. Das mag auf den ersten Blick nicht weiter überraschen, schließlich sollten PatientInnen in einer Reformanstalt doch medizinisch betreut werden. Aber im Unterschied etwa zur forschenden Berliner Charité wurde in der Lübecker Anstalt der langfristige Verlauf einer Erkrankung nicht immer durch die Fortführung des Krankenjournals dokumentiert, wenn sich der Zustand nicht wesentlich geändert hatte. Zu umfassenden Eintragungen in die Akte kam es ausschließlich in den Tagen nach der Einweisung, während später der Verlauf der Erkrankung oft nur noch in knappen Eintragungen festgehalten wurde und die Akte allein durch den Schriftwechsel aus der Verwaltungsarbeit und der Kommunikation zwischen Arzt und Angehörigen weiter anschwoll. Die Akte einer Lübecker Langzeitpatientin hingegen zeigt nicht nur, wie sich die Anstaltsdirektion durch dauernde Anfragen von deren Schwester gestört fühlte und mit welchen Strategien sie diesen zunehmend lästiger werdenden Anfragen begegnete, sondern ebenso, wie diese störenden Anfragen zugleich auch die medizinische Aufmerksamkeit auf die Patientin aufrechterhielten, die als Langzeitpatientin in einer Verwahranstalt ein genuin ärztliches Interesse längst verloren hatte. Weil ihre Angehörigen regelmäßig auf Antwort 62 Ebenda, 42.

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drängten, regten sie damit unterschwellig immer wieder eine ärztliche Beobachtung und Dokumentation an. Marie D. war 1910 auf Wunsch ihres Bruders von der Anstalt Ihlten bei Hannover in die Lübecker Heilanstalt überführt worden, wo sie sieben Jahre später an einer Lungenerkrankung sterben sollte.63 Ihre im Lübecker Archiv erhaltene Krankenakte umfasst 134 Seiten, wovon 110 Seiten allein auf den Schriftwechsel zwischen Arzt und ihren Angehörigen, das heißt ihrem Bruder und zwei Schwestern, zurückgehen. Ohne die ständigen Anfragen der Angehörigen nach dem Befinden der Patientin würde die Akte also nur wenige Blätter enthalten. Mit der umfangreichen Korrespondenz zählt sie nun zu den überdurchschnittlich dicken Akten im Lübecker Archiv. Damit gewann der Krankheitsverlauf der Patientin, der bereits in Ihlten eine Hebephrenie im Spätstadium attestiert worden war, vornehmlich im Spiegelbild der Angehörigen-Korrespondenz an Konturen. Von ihr ist kein einziges Ego-Dokument überliefert; weder finden sich von ihr Briefe noch andere Aufzeichnungen wie etwa eine Schriftprobe oder eine Unterschrift. Aber ebenso wenig enthält ihre Akte ein Krankenjournal, medizinische Aufzeichnungen oder eine ausformulierte Krankengeschichte, was vermutlich dadurch zu erklären ist, dass die Patientin bereits in Ihlten die Diagnose einer unheilbaren Hebephrenie erhalten hatte und damit den Lübecker Ärzten der Krankheitsverlauf vorhersehbar erschienen war und nicht mehr hinterfragt wurde. Selbst im Schriftwechsel zwischen Arzt und Angehörigen wurde die Patientin nur ein einziges Mal in direkter Rede zitiert. Auf die Frage, was er denn nun mit einem Brief der Schwester, den die Patientin nicht hätte lesen wollen, anfangen sollte, habe die Kranke geantwortet: „Verbrennen.“ Vermutlich um die Schwester endlich zum Schweigen zu bringen, hatte Enge ihr die Reaktion der Patientin in diesem Falle wortwörtlich mitgeteilt, denn er empfahl ihr, „im Interesse des Befindens des Kranken“, bis auf weiteres keine weiteren Briefe an die Anstalt zu richten.64 Selbst zur regelmäßigen medizinischen Beobachtung – so zumindest der Eindruck nach Sichtung der Akte – gaben nur die Anfragen ihrer Angehörigen, vor allem der in Lübeck wohnenden Schwester Elisabeth, Anlass. Ob die ärztlichen Antworten, die sich in den vielen Jahren kaum voneinander unterschieden, dabei tatsächlich immer wieder einen erneuerten medizinischen Blick auf die Patientin veranlasst hatten oder stets nur das Gleiche wiederholten, wie Enge in seinem Ratgeber verriet, muss dahin gestellt bleiben. Von den Angehörigen wurde dabei erwartet, dass die „Zwischenräume zwischen den Anfragen in beiderseitigem Interesse immer länger werden. Denn der Arzt wird immer gleichlautende Berichte absenden müssen und auch die Angehörigen haben nicht viel davon, wenn sie immer wieder mit an63 Es kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, ob dieser Tod möglicherweise mit einer kriegsbedingten Mangelversorgung in Verbindung stand. 64 HPUL, Akte M. D., Aufnahme 8.2.1910.

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deren Worten dasselbe lesen müssen“.65 Auf jeden Fall aber bewirkten die Angehörigen mit ihren Anfragen, dass die ärztliche Dokumentation zu dieser Patientin nicht abbrach, weil sämtliche ärztlichen Antworten auf die Anfragen zum Befinden der Patientin beharrlich ad acta gelegt wurden. Im Laufe des langen Briefwechsels wurde dabei seitens der Ärzte jedoch immer seltener das Befinden der Patientin, hingegen vermehrt das Verhältnis zwischen den Angehörigen und dem Arzt beziehungsweise der Anstalt thematisiert, während die Schwester der Patientin immer wieder zur Beantwortung einer Reihe von medizinischen und teils sehr persönlichen Fragen drängte. Da Enge solche Fragen nicht zu beantworten wusste, ging die Schwester der Patientin zu einer anderen Strategie über: Die Fragen, die sie sonst im Laufe des Briefes aufgelistet hatte, notierte sie am Schluss eines erneuten Schreibens auf einem gesonderten Bogen Papier nacheinander und mit viel Raum für ärztliche Antworten. Die Angehörige ahmte also – absichtlich oder unbewusst durch das Kommunikationstraining geschult – jene strenge Vorstrukturierung nach, die Enge mit seinem Angehörigen-Formular einst eingeführt hatte. Der aber ließ sich auf diese Gängelung seiner Antwort nicht ein, sondern antwortete in der gewohnten Kürze mit den üblichen Floskeln. Nach etlichen Anfragen bat Elisabeth D. schließlich die Anstaltsdirektion, fortan unaufgefordert über die Patientin Auskunft zu erteilen – am besten monatlich. „Die briefliche Auskunftserteilung“, erwiderte Enge auf ihren Vorschlag, „muss bei der großen Zahl unserer Kranken für die auswärts wohnenden Angehörigen vorenthalten bleiben. Regelmäßige Ausnahmen von dieser hier geübten Praxis müssen zu unheilsamen Störungen im Betriebe führen.“66 Wenige Jahre später sollte Enge in seinem Ratgeber deshalb anordnen, dass „den Angehörigen nur auf besondere Anfrage und niemals regelmäßig in vorher zu bestimmenden Zwischenzeiten schriftliche Auskunft erteilt“ werde. Schließlich müsse berücksichtigt werden, „dass Geisteskrankheiten für gewöhnlich einen langsamen Verlauf zu nehmen pflegen. Ein Zeitraum von drei bis vier Wochen bedeutet in ihrem Verlauf nicht viel“.67 Auch hier finden wir also den Anstaltsleiter am Gängelband der von ihm initiierten schriftlichen Kommunikationskontrolle. Da die Direktion nur auf Anfrage Auskunft erteilte, blieb der Angehörigen nichts anderes übrig, als nach Ablauf der von ihr selbst gesetzten monatlichen Frist eine weitere Anfrage zu starten – wobei sie sich erneut als gelehrige Schülerin der Enge’schen Instruktion präsentierte: Zu „Besuch bei ihrem Bruder in Celle weilend“, machte sie das Recht auf eine briefliche Auskunftserteilung für auswärts lebende Angehörige geltend.68 Dieser Brief wurde zwar noch förmlich von Enge erwidert, aber zurück in Lübeck schrieb Elisabeth D. 65 66 67 68

Enge 1916, 43. HPUL, Akte M. D., Aufnahme 8.2.1910. Enge 1916, 43. HPUL, Akte M. D., Aufnahme 8.2.1910.

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innerhalb von drei Monaten zwei weitere Briefe an die Anstalt, sendete ihrer Schwester Schokoladenpudding mit Vanillesauce sowie Pfirsiche und Birnen, fragte, wann ihre Schwester Besuch haben dürfte, und äußerte darin die Vermutung, dass die Irrenanstalt die Patientin noch kränker gemacht habe. Auf solcherweise insistierende Kommunikation reagierte die Anstaltsleitung mit zunehmender Kommunikationsverweigerung. Während Elisabeth D. stets auf Besserung des Zustands ihrer Schwester hoffte, reagierten die Anstaltsärzte zunehmend verärgert über die wiederholten Anfragen nach dem Befinden einer Patientin, die sie längst als unheilbar aufgegeben hatten. Nach etlichen Antworten ging die Direktion daher zu Ermahnungen über, und der Schwester wurde schlicht Schreibverbot erteilt. Ihrem Lübecker Hausarzt Paul Reuter teilte Wattenberg in einem Brief mit: Frl. D. ist zu ungezählten Malen schriftlich und mündlich über das Befinden ihrer Schwester etc. unterrichtet. Irgend welchen Eindruck haben unsere Mitteilungen nicht gemacht. Es scheint mir daher unbedingt geboten, dass etwas schärferes Geschütz aufgefahren wird. Auf vorstehenden Brief hat die Überbringerin den Bescheid erhalten, dass Besuch nicht stattfinden könne. Das Obst (4 Birnen!) ist für die Kranke zurückbehalten, der Pudding nebst Vanillesauce an die Absenderin zurückgewandert. Ich wünsche in allseitigem Interesse Ihren Bemühungen guten Erfolg.69

Worin allerdings das „schärfere Geschütz“ bestand, welches die Ärzte auffuhren, ist der Akte – abgesehen vom erteilten Schreibverbot für die Angehörigen – leider nicht zu entnehmen. Wie es Enge in seinem Ratgeber prophezeit hatte, verloren allem Anschein nach die Angehörigen von Marie D. mit Ausnahme der Schwester Elisabeth bald das Interesse an der Patientin. Sie sandten keine weiteren Briefe in die Anstalt, da sie ohnehin nur gleichlautende Antworten erhielten. Damit sollte auch die ärztliche Dokumentation über die Patientin, die nur noch durch die wiederholten Anfragen aufrechterhalten worden war, endgültig abreißen. Elisabeth D. konnte zwar nicht mehr auf Antwort seitens der Anstaltsärzte hoffen, führte daraufhin aber die Dokumentation des Befindens ihrer Schwester in ihren Briefen an die Anstalt eigenständig weiter, in denen sie nun über ihre Besuche bei der Patientin und etwa über ihre schlechte körperliche Verfassung, aber gutes Gedächtnis berichtete. Hatte Elisabeth D. zunächst die Ärzte erfolglos zu einer unaufgeforderten Auskunftserteilung über das Befinden ihrer Schwester gedrängt, so trat sie schließlich selbst in die Rolle einer Berichterstatterin ein. Nicht aus fachlichem Interesse, sondern aus familiärer Verbundenheit mit ihrer kranken Schwester suchte Elisabeth D. die psychiatrische Betreuung und 69 Ebenda.

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Berichterstattung am Laufen zu halten und drehte dazu schließlich das Verhältnis zwischen Arzt und Angehöriger um, in dem sie ihrerseits in ihren Briefen an die Anstalt das Befinden der Patientin für die Ärzte dokumentierte. Dadurch wurden die Ärzte zu so passiven Adressaten, wie sie es einst von der Angehörigen gefordert hatten. Ihre ‚laienhaften‘ Kenntnisse standen dem professionellen psychiatrischen Wissen dabei scheinbar in nichts nach: Ihre fortgesetzten Briefe blieben seitens der Ärzte unkommentiert und wurden nicht mehr beantwortet, aber auch ohne Antwort und quasi als letztes Zeugnis über das Befinden der Kranken wurden sie bis zum Tod der Patientin stoisch in der Krankenakte abgeheftet, wo sie an die Stelle jener Briefe traten, in denen zuvor seitens der Ärzte über die Patientin berichtet worden war.

Rückkopplungseffekte: Angehörige und Anstalt im Spiel der Kommunikationskontrolle Blickt man in die Ratgeberliteratur dieser Zeit, so erscheinen Angehörige als Sand im geschmeidigen Getriebe der Psychiatrie, die den therapeutischen Prozess mit ihrer Anwesenheit behindern, die Therapie stören und mit ständigen Anfragen nach Besuchswünschen oder dem Befinden die Ärzte unnötig beanspruchen und von ihren eigentlichen Tätigkeiten abhalten. Die überlieferten Akten, die den Anstaltsalltag dokumentieren, offenbaren hingegen, auf wie vielfältige Weise die Ärzte von den Angehörigen abhängig waren: Bereits bei der Einweisung, bei der Anamnese und der Diagnosestellung waren sie auf die Hilfe und die Informationen der Angehörigen angewiesen. Auch die alltäglichen Verwaltungsgeschäfte ließen sich oft nur mit den Angehörigen klären. Die schriftliche Kommunikation wurde weiter angetrieben durch die Aushandlungen über Besuchsfragen und die Regulierung des Briefverkehrs mit den PatientInnen. Hier verstetigte und verselbständigte sich eine Schreibpraxis, in der gegenüber den Angehörigen immer auch psychiatrisches Wissen ausgehandelt, ausformuliert und konstatiert wurde – etwa wenn ihnen gegenüber die psychiatrische Beweisführung einer Diagnosestellung erprobt oder aus Diagnose und Verlaufsbeobachtung die Regeln für den Umgang mit den Kranken abgeleitet wurden. So wie die konsequente Durchgestaltung des Anstaltsalltags zu einem geschlossenen therapeutischen Milieu den Ausschluss sämtlicher Störungen legitimierte und damit auch das Regime der Abstandskontrolle gegenüber den Angehörigen, trieb dessen Durchsetzung eine fortgesetzte schriftliche Kommunikation an, die im Namen einer Professionalisierung der Psychiatrie als therapeutischer Disziplin ihre Praxis zum Gegenstand schriftlicher Aushandlungen machte. Die epistemisch ausgeschlossenen Angehörigen blieben dabei nicht nur Verborgene im psychiatrischen Diskurs, sondern ihr Ausschluss aus der Anstalt setzte eine sich mehr und mehr verstetigende und verselbständigende Schreibpraxis in Gang, die auf dem Wege der Legitimierung, Erläuterung und Aushandlung psychiatrischer Praxis wesentlich zu deren

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Professionalisierung beigetragen hat. So strikt Angehörige aus der Anstalt und dem Selbstverständnis des Fachs ausgeschlossen wurden, blieben sie als Figur des Dritten im System und bestimmten die Praxis der Psychiatrie mit. Wie vielschichtig das Handlungsrepertoire von Angehörigen noch in der Ambivalenz ihres einschließenden Ausschlusses sein konnte, verdeutlicht der Fall der Marie D. in der Lübecker Anstalt. Die Patientenakte dokumentiert, mit welchen Schritten die Psychiater die Einhaltung ihrer Regeln zur Kommunikation durchsetzten; die Akte zeigt zugleich, wie gelehrig sich die Angehörigen erwiesen und sich die Regeln anzueignen verstanden. Auf diese Weise lernten sie, in die Routinen des Anstaltsalltags zu intervenieren, und wurden so zum Motor für eine weitere psychiatrische Versorgung, als die Ärzte ihren therapeutischen Anspruch verloren hatten, weil sie die Diagnose als unveränderliches Schicksal hinnahmen. Im Spiegel der Lübecker Krankenakten zeigt sich Enges soziale Psychiatrie nicht nur als Beispiel für eine bürokratische Verdoppelung psychiatrischer Praxis im Medium ihrer Aktenführung, sondern als ein unerwartet produktives System der schriftlichen Kommunikationskopplung. Im Zuge seiner sozial engagierten Aufklärung der Angehörigen über die medizinischen Gefahren persönlicher Kontakte zu AnstaltspatientInnen und die Fallstricke schriftlicher Kommunikation mit ihnen unter der Maxime einer strikten Wahrung der therapeutischen Beruhigung stimulierte Enge eine wechselseitige Schriftproduktion seitens der Anstaltsleitung, der Angehörigen und der PatientInnen, bei der zunehmend die Kommunikation über die Kommunikation zum Gegenstand wurde. Enges Ratgeber für Angehörige liest sich als Leitfaden für ein effektives Kommunikationstraining, das in einer entsprechenden Steigerung der Schriftproduktion auf allen Seiten resultierte. Dabei erwiesen sich auch PatientInnen gelegentlich als allzu gelehrige SchülerInnen psychiatrischer Aufklärungsarbeit. So wurde der Anstaltsarzt einmal selbst zum eingeschlossenen Ausgeschlossenen, als er als Dritter in ein Familienverhältnis intervenieren sollte. Ein Patient schrieb einen mehrseitigen Brief an die Lübecker Anstalt, den er als „psychiatrische Mitteilung“ deklarierte, offenbar um dadurch die medizinische Relevanz seines Schreibens hervorzuheben. Darin machte er die Ärzte darauf aufmerksam, „dass meine Eltern dauernd in den letzten 10 Jahren Interessen von mir nicht wahrgenommen haben, und dass ihr Verhalten sich auch trotz ihrer Konsultation des Herrn Dr. Larenowsky in Sielbeck […] und Nachbehandlung in Blankenburg nicht geändert hat. Ich werde die Wohnung meiner Eltern lediglich zwecks Abholung meiner Sachen wieder betreten.“70 Ob die Mitteilung allerdings seitens der Ärzte berücksichtigt und dem Patienten zugutegehalten wurde, darf bezweifelt werden. Vermutlich schaffte es der Brief nicht weiter als bis in seine Akte, wo er als Indiz der Geisteskrankheit dieses Patienten aufbewahrt werden sollte. 70 HPUL, Akte E. C., Aufnahme 6.7.1915.

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Die Lübecker Akten zeigen mit ihren zahllosen eingelegten Briefen, Anfragen, Abschriften und Interventionen die PatientInnen und ihre Angehörigen als ebenso willfährige wie adaptive KommunikationspartnerInnen, die geschickt die Anstaltsleitung nolens volens zu Vollzugsgehilfen ihrer Aktionen werden ließen. Sie dokumentieren aber auch, wie die psychiatrische Praxis im Namen eines geregelten Anstaltsalltags und einer strikten Überwachung der Kommunikation zu einem Exzess der Kommunikation und Dokumentation führte, bei dem die Kommunikationskontrolle zum Zentrum der psychiatrischen Praxis avancierte und mindestens im Fall der Patientin D. regelrecht zum Substitut klinischer Beobachtung wurde. Auch Enge hatte in seiner Sozialen Psychiatrie die Angehörigen als Ressource oder als Partner im therapeutischen Prozess weitgehend ausgeklammert, aber seine Bemühungen, ihre störenden Interventionen in den therapeutischen Prozess durch Kommunikationskontrolle zu minimieren, führten zu einer paradoxen Wirksamkeit der Angehörigen, in deren Folge sich die psychiatrische Praxis mehr und mehr auf die Kommunikation mit den Angehörigen verlagerte. Die Ärzte, die zunächst als Autoren kluger Ratschläge und geschickter Regeln hervorgetreten waren, wurden schließlich zu Erfüllungsgehilfen ihrer eigenen Schreibverordnungen. Solche indirekten Effekte wird man bis heute zur unverhofften Wirksamkeit institutioneller Praktiken zählen dürfen. Heinrich Laehr hatte in seinem Plädoyer für eine großzügige Besuchsregelung bereits in den 1870er-Jahren von dem „indirecten Nutzen“ der Besuche für die Ärzte gesprochen, weil sie über die Angehörigen „unmerklich [...] die Verhältnisse des Kranken kennen[lernen]“ und somit Einblick in die „Elementartheile“ der Krankheit in ihrer „Combination von physischen und psychischen Ursachen“ gewännen.71 Enges Engagement für eine soziale Psychiatrie 40 Jahre später verblieb gegenüber solchen Austauschprozessen grundsätzlich skeptisch – und setzte sie damit nur umso wirksamer in Gang. Eine Historio­ graphie psychiatrischer Praktiken, der Eigenlogik ihrer Institutionen und der Effekte ihrer Medien kann darauf aufmerksam machen, wie die institutionellen Arrangements von Kontrolle und Kommunikation die „Elementartheile“ psychiatrischer Wirklichkeit bilden.

Literatur Arlt, Ernst: Pflege und Behandlung entlassener Geisteskranker. Ein Ratgeber für Angehörige. Mit einem Geleitwort von Hofrat Prof. Dr. J. Wagner-Jauregg. Wien 1933. Bartlett, Peter und David Wright (Hg.): Outside the walls of the asylum: The history of care in the community 1750–2000. London 1999. Bartlett, Peter und David Wright: Community care and its antecedents. In: Outside the walls of the asylum: The history of care in the community 1750–2000. Hg. Peter Bartlett und David Wright. London 1999, 1–18. 71 Laehr 1877, 14.

Briefflut und Papierstau

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Johannes Kassar

Der transitorische Wahnsinn. Zur Genealogie des epileptischen Dämmerzustandes (1867–1876)

Epileptische Psychosen 1 Am 19. Oktober 1885 tagte der Südwestdeutsche Verein von Irrenärzten in Karlsruhe. Thema des zweiten Kongresstages war die „jedem Praktiker bekannte Kategorie von gefährlichen Epileptikern“. An der Spitze der Agenda stand die Frage, wie man jene Individuen versorgen solle, die „zeitweise ganz ruhig, normal und geordnet sind, deren Krankheit sich aber in immer wiederkehrenden Anfällen von verändertem, gewaltthätigem, verbrecherischem Wesen oft ohne Krampfanfälle äussert“.2 Diese an periodischen „Dämmerzuständen“3 leidenden Epileptiker seien, wie die Sitzungsprotokolle weiter vermerkten, „in guten Zeiten zu gut, in schlechten Zeiten zu schlecht für ihre Umgebung“. Nach Ansicht der Psychiater habe der Staat die Pflicht, die gefährlichen Epileptiker „dauernd unschädlich zu machen“ und spezialisierte Einrichtungen zu erbauen, in welchen den Verantwortlichen bei „beginnender Bewusstseinsstörung die Möglichkeit gegeben wäre, sie ohne jedes Aufsehen und jede Ruhestörung zu internieren“.4 Gefahr, Verbrechen und Unberechenbarkeit: Der Dämmerzustand galt den Psychiatern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als eine besondere Herausforderung. Binnen weniger Jahrzehnte wurden Epileptiker5 kriminalisiert und zur potenziellen Gefahr für den Gesellschaftskörper stilisiert. Empfohlen wurde die ununterbrochene Überwachung durch die Angehörigen und die Einlieferung in eine geschlossene Anstalt beim kleinsten Hinweis auf einen Dämmerzustand. Gleich den Infektionskrankheiten, deren Prävention zeitgleich im 1

Ich danke Eric J. Engstrom, Sophie Ledebur, Volker Hess, Madeleine Kassar und Cornelius Borck für Hinweise und Korrekturen. 2 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 2. Sitzung am 19. Oktober 1885, 671. 3 Vorgeschlagen wurde der Begriff „Dämmerzustand“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Richard von Krafft-Ebing. Von „psychischen Dämmerzuständen“ sprach der Psychiater, wenn ich es recht sehe, erstmals 1872. Krafft-Ebing 1872, 123, vgl. auch ders. 1877. Diese durchaus fragwürdige Autorschaft hat sich bis heute überliefert. Der Tagesspiegel zum Beispiel feiert Krafft-Ebing als „Entdecker des Dämmerzustandes“: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/der-entdecker-desdaemmerzustands/376846.html (Stand 12.7.2015). 4 Ebenda. 5 Die hier involvierten Akteure waren männlich, auch die unten thematisierte Studie wurde an einer Männerabteilung durchgeführt.

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Reichstag in Berlin diskutiert wurde, sollten epileptische Erkrankungen verpflichtend beim Kreisphysikus angezeigt werden. Andere argumentierten, der psychiatrische Gutachter habe vor Gericht nicht allein die Unzurechnungsfähigkeit der Inkriminierten zu beweisen, sondern „die Situation in ihrer absoluten Unberechenbarkeit darzulegen“, um die zuständigen Verwaltungsbehörden beziehungsweise das Gericht von der Gefährlichkeit der epileptischen Psychosen zu überzeugen.6 Alle Beweisregister wurden gezogen: Immer wieder wurde von einschlägigen Vorfällen berichtet, um vor der hohen Wahrscheinlichkeit gesetzeswidriger Handlungen durch epileptisch Erkrankte zu warnen. Immer wieder beriefen sich Irrenärzte auf Statistiken, andere wiederum forderten die lebenslange Internierung potenziell ‚gemeingefährlicher Epileptiker’. Der Psychiater Hans Roemer (1878–1947) sollte es 1909 in aller Deutlichkeit sagen: „[J]eder Fall von anerkannter, schwerer psychischer Epilepsie [stellt] eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. [...] Wohl bei keiner anderen psychischen Erkrankung kann der Mangel an rechtzeitiger Erkennung soviel Schaden anrichten wie bei der psychischen Epilepsie.“7

Zur Geschichte einer Störfigur Nachfolgend wird es mir darum gehen, das Auftauchen eines neuen Wissensobjekts im Feld der Psychopathologie zu rekonstruieren.8 Der Artikel fokussiert die ersten konkreten Bemühungen der weit über Preußen hinaus tonangebenden Berliner Universitätspsychiatrie, die Untergruppe der „psychischen Epilepsie“ nosologisch abzugrenzen, zu erforschen und zu konsolidieren. Im Sinne einer präziseren Eingrenzung der folgenden Diskussion soll einleitend vorausgeschickt werden, dass mit der Epilepsie innerhalb des zur Disposition stehenden Zeitraumes 6 7 8

Ziehen 1897, 183 f. Roemer 1909, 306. Der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking hat in den pathologischen Traum- und Trancezuständen, wie sie spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Diskurs der Psychopathologie auftauchten, ein Vorgängermodell der „multiplen Persönlichkeitsstörung“ erkannt (Hacking 1995 und 1998). Der Rechtshistoriker Joel Peter Eigen ist dieser Einschätzung weitgehend gefolgt (Eigen 2004). Auch wenn es zu den leichteren Übungen gehört, diese Autoren für ihre präsentistischen Prämissen zu kritisieren – beide Studien suggerieren Kontinuität, indem sie anachronistisch von „dissoziativen Persönlichkeitsstörungen“ sprechen –, ist der Verweis auf aktuelle Klassifikationssysteme (das DSM-5 oder das ICD-10) insofern hilfreich, als er uns daran erinnert, dass es sich um Symptomkomplexe handelt, die heute kein Spezialist mehr der Epilepsie zurechnen würde. Auch wenn der Begriff des „postiktalen oder postparoxysmellen Dämmerzustandes“ nach wie vor in Gebrauch ist und eine häufig an eine Serie von epileptischen Anfällen anschließende Bewusstseinsstörung bezeichnet, ist es jedoch ratsam, auch hier nicht vorschnell Kontinuitäten zu konstruieren.

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bereits ein verhältnismäßig kongruent beschriebenes, in vergleichsweise klare Unterformen aufgegliedertes Krankheitsbild zur Verfügung stand, und die Diagnose Epilepsie auch vor Gericht regelmäßig erfolgreich vergeben wurde, vorausgesetzt ein Krampfanfall vor oder nach der Tat konnte nachgewiesen werden. Das Argument ist in nuce dieses: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass zwischen 1867 und 1876 erhebliche epistemologische, symbolische, institutionelle und andere Ressourcen mit dem Ziel mobilisiert wurden, ältere Formen, die unter „transitorischer Manie“ beziehungsweise „Monomanie“ firmierten, den taxonomischen Architekturen einer an der Neurologie orientierten Psychiatrie anzugliedern. Mit der Diagnose einer „psychischen, nonkonvulsiven Epilepsie“ antworteten die Berliner Neuropsychiater einerseits auf konkrete Herausforderungen, die an sie in ihrer Funktion als Sachverständige und Agenten des Justizsystems gestellt wurden, andererseits auf lokal spezifische Kontingenzen, die von den Psychiatern der Charité als untragbare Defizite des Berliner Versorgungssystems empfunden wurden. Ich werde wie folgt vorgehen: Um zu sehen, was hier auf dem Spiel stand, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte zu werfen. Entwicklungen in Frankreich gaben die Hintergrundfolie für die Situation in Deutschland ab. Der erste Abschnitt behandelt dementsprechend die Monomaniefrage in Frankreich. Im darauf folgenden Hauptteil soll der deutsche Kontext fokussiert werden. 1867, unmittelbar nach dem Internationalen psychiatrischen Kongress in Paris, kam eine regelrechte Kampagne in Gang, deren Zentrum die Berliner Charité war und die eine Entwicklung und Konsolidierung neuer Untergruppen zum Ziel hatte. Abschließend wirft der Beitrag einen Blick auf die erste groß angelegte psychiatrische Epilepsiestudie, die von dem jungen Psychiater Paul Samt zwischen 1873 und 1874 an der Charité durchgeführt wurde. Dabei soll gezeigt werden, wie zentral das problematische Verhältnis zwischen Stadt und Charité-Klinik, das in zahlreichen Konflikten um Verwaltungsund Finanzierungsfragen seinen wohl deutlichsten Ausdruck fand, in das wissenschaftliche Projekt hineinspielte.

Die erfolglose Suche nach dem Grund Im justiziellen Dispositiv des 19. Jahrhunderts war die grundlose Tat das Ergebnis einer erfolglosen Suche nach dem Grund. Beamte wurden in betroffene Familien ausgeschickt, befragten Pfarrer und Bürgermeister. Nichts, kein Hinweis, erklärte den abrupten Ausbruch aus der Normalität, die radikale Transgression. Die Leumundszeugnisse präsentierten den Agenten der Justiz ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft, dessen regelkonformes Verhalten es in der Gemeinschaft verschwinden ließ. Kein Weg führt zurück, von der Tat zum Täter. Zahlreich waren die Fälle, die in den Zeitschriften für Arzneikunde und in kriminalpsychologischen Gutachtensammlungen der Öffentlichkeit in der ersten Jahrhunderthälfte prä-

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sentiert wurden: Akteure, die ohne sichtbares Zeichen von Wahnsinn ein Blutbad anrichteten, Menschen, die wie aus dem Nichts katastrophale soziale Schäden hinterließen, um im Nachhinein nichts mehr von ihren Taten zu wissen.9 Berichtet wurde von plötzlichen und unerwarteten Tobsuchtsausbrüchen oder irrationalen Handlungen bei Individuen, deren „geistige Gesundheit und Moralität“ bisher niemand bezweifelt hatte.10 Wie Foucault gezeigt hat, irritierte das Moment der Motivlosigkeit eine Ökonomie der Strafmacht, die ihr Recht zu strafen auf der Annahme des freien Willens gründete.11 In zweifelhaften Fällen – Fälle in welchen die Umstände der Tat nahelegten, dass es sich um das Vergehen eines Geisteskranken handelte – sah sich die Anklage gezwungen, aktiv zu begründen, dass es sich um einen kalkulierten Akt handelte, die Tat zum Beispiel aufgrund ökonomischer Interessen oder aus Eifersucht begangen worden war. Unzurechnungsfähigkeit zu beweisen, bedeutete für die medizinischen Sachverständigen, nachweisen zu können, dass die Inkulpierten sich zur Zeit der Tat in einem krankhaften Zustand der Geistesstörung befunden hatte. Wie aber war es möglich, einen wissenschaftlichen Beweis zu führen, wenn das Verbrechen, die soziale Verfehlung, das einzige Symptom war, das sich dem Gericht bot? Was tun, wenn sich keine Inkubationsphase, keine Anzeichen von Wahnsinn nachweisen ließen, wenn der Inkriminierte, gefragt nach der Tat, antwortete: „Ich kann mich nicht erinnern!“? Wie waren die Geschworenen und Richter davon zu überzeugen, dass der Wille suspendiert, der Geist erkrankt war, wenn die Nachforschungen keine Aufklärung des Sachverhaltes ergaben, sondern nur eine Diskontinuität zwischen Vergehen und ermittelter Vorgeschichte?12 Eine erste medizinische Antwort auf die skizzierte Problemkonstellation hatte die LeibSeele-Anthropologie zu geben versucht. Es existiere, so hatte Ernst Platner (1744–1818) am Ende des 18. Jahrhunderts argumentiert, eine Form des versteckten Wahnsinns, eine Amentia occulta, die nur dem Auge des Experten sichtbar sei.13 Um 1830 hatte der maitre de penser der klassischen Psychiatrie, Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772–1840), dem transitori9 Vgl. zur Frage der transitorischen Manie allgemein Marc 1840. 10 Vgl. exemplarisch Adolf Henke: „Ist die Existenz einer Manie ohne Verstandeszerrüttung erwiesen, so geht daraus das Resultat hervor, dass man deshalb, weil die Inquisiten ihre gesetzwidrigen Handlungen planmäßig und auf eine überlegte Weise ausführten, und nachher keine Spur von Verstandesverwirrung zeigten, diese noch immer nicht als vernünftig betrachtet, und ihnen jene Handlungen als Verbrechen zurechnen könne.“ In „älterer Zeit“, schreibt Henke weiter, „waren die Ausbrüche der Manie ohne Verstandeszerrüttung von den gerichtlichen Ärzten als Furor transitorius zugeschrieben worden“ (Henke 1812, 150 f.). Zur Geschichte der Kriminalpsychologie in der ersten Jahrhunderthälfte siehe Greve 2004. Zur ‚Vorgeschichte‘ der wissenschaftlichen Kriminologie vgl. Galassi 2004, speziell zum „Verbrechen als Krankheit“ und zur Kategorie „Amentia occulta“ siehe ebenda, 72 f. 11 Foucault (1974/1975) 2003, 147 f. 12 Vgl. für den englischen Kontext Eigen 2003, 2010. 13 Platner, 1820.

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schen Wahnsinn einen Namen gegeben: Monomanie. Der Begriff bezeichnete eine partielle Störung, eine isolierte psychische Dysfunktion, die in der Regel nur einmal im Leben eines Individuums auftrat und im Gegensatz zum klassischen „Delirium“ keine sicher erkennbaren Anzeichen von Wahnsinn darbot.14 In Frankreich war die Monomanielehre innerhalb weniger Jahre zu einem gesellschaftlichen Phänomen avanciert, das Streitschriften und Karikaturen hervorbrachte, die Presse in Atem hielt, die Juristen verunsicherte und der Psychiatrie die Hoffnung gab, ihre Ansprüche auf mehr Mitspracherecht vor Gericht durchzusetzen.15 Diese Konjunktur dauerte jedoch nicht allzu lange an. Schon in den 1850er-Jahren wurde dem Konzept jegliche wissenschaftliche Grundlage abgesprochen.16 Zwei Akteure der sich konstituierenden französischen (Neuro-)Psychiatrie waren maßgeblich an der Revision beteiligt: Bénédict Augustin Morel (1809–1873) und Jean-Pierre Falret (1794–1870). Der Wendepunkt kam 1852, als Falret, ein Student von Esquirol, seine Thèse de médecine mit dem Thema Die Inexistenz der instinktiven Monomanie veröffentlichte. Im selben Jahr hatte auch Morel eine Kritik an der Diagnose publiziert.17 In ihrer mittlerweile klassischen Arbeit Console and Classify hat Jan Goldstein die These aufgestellt, dass die Monomanie in einer Phase aus den Nosologien und sukzessive aus den Registratur- und Aufnahmebüchern der Pariser Salpêtrière verschwand, als die französische Psychiatrie erstmals gesellschaftliche Anerkennung fand, ein neues professionelles Selbstverständnis entwickelte und neues Vertrauen in ihre diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten gewann.18 So überzeugend die Hypothese Goldsteins auch ist: Die Autorin erwähnt mit keinem Wort, dass sich Morel und Jean-Pierre Falrets Sohn Jules maßgeblich auf die Erforschung des epileptischen Irreseins konzentrierten. 1861 publizierte Jules Falret die Ergebnisse seiner Studie, in der die postepileptischen Zustandsbilder erstmals akribisch beschrieben wurden.19 Falret stellte zwei Gruppen auf: den Petit und den Grand mal intellectuel. Der Petit mal manifestierte sich primär in Angstgefühlen, die in den Augen Falrets der Grund für das häufig beobachtete aggressive Verhalten der Kranken war. War der psychische Anfall vorüber, 14 Esquirol, 1838, 803 f. In Esquirols Lehrbuch findet sich die klassische Beschreibung der von ihm als „Mordmonomanie“ bezeichneten Krankheitsform: „Il existe une espèce de monomanie-homicide dans laquelle on ne peut observer aucun désordre intellectuel ou moral; le meurtre est entraîné par une puissance irrésistible, par un entraînement qu’il ne peut vaincre, par une impulsion aveugle [...]; sans intérêts, sans motifs, sans égarement, à un acte aussi atroce et aussi contraire aux lois de la nature.” 15 Foucault (1974/1975) 2003. Zum berühmten Fall der Henriette Cornier, zum grundlosen Verbrechen und zur Emergenz des Triebbegriffs siehe ebenda, 143–214. Vgl. auch Chauvaud 2000, 124 f. sowie Barras 1990. Für den deutschen Sprachraum siehe Kaufmann 1995, 305–335. 16 Goldstein 1987, 189 f. 17 Ebenda. 18 Ebenda, vgl. dort auch das Kapitel „Monomania“. 19 Falret 1861.

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erwachten die Betroffenen wie aus einem bösen Traum. Die Erinnerung für die Dauer des Traumzustandes war in hohem Maße defekt – es bestand nachträgliche Amnesie. Der Grand mal unterschied sich von der ‚kleineren‘ Form in Dauer und Intensität, durch ein ausgeprägtes Delirium, dessen schreckhafte Inhalte die Kranken in Todesangst versetzten. Die Dauer der postepileptischen Zustände konnte sich auf mehrere Tage erstrecken.20 Galt der generalisierte Krampfanfall, der sich in tonisch-klonischen Konvulsionen manifestierte, bisher als Charactére pathognomique21 bezeichnet– als notwendige Bedingung für die Diagnostizierung einer Epilepsie, vertrat Morel, der Begründer der Degenerationstheorie, die kontroverse Ansicht, dass psychische Anfälle als „Substitutionen“ des konvulsiven Grand mal auftraten, als motorische Anfälle in, wie er sich ausdrückte, „maskirter“ Form. Um dieser Klasse von epileptisch Erkrankten einen Ort in den Taxonomien zu geben, führte er die Kategorie der „Epilepsie larvée“22 ein und erklärte, dass sich bei PatientInnen, die nicht an Krampfanfällen litten, eine Reihe an unspezifischen, nur für das geschulte Auge des Klinikers erkennbaren Störungen der Sensibilität, der Emotionen und des Intellekts zeigen würde, Symptome, die in der Regel unmittelbar im Anschluss an den generalisierten Krampfanfall beobachtbar seien. 23 Bald nachdem die beiden Arbeiten erschienen waren, trat der französische Arzt Armand Trousseau (1801–1867) vor die Academie de Médecine, um Morels Kategorie zu bestätigen und ihre gerichtsmedizinische Relevanz zu betonen: Si un individu a commis un meurtre sans but, sans motif possible, sans profit pour lui ni pour personne, sans préméditation, sans passion, au vu et au su de tous, par consequent en déhors de toutes les conditions ou les meurtres se commettent, j’ai le droit d’affirmer devant le magistrat que l’impulsion au crime a éte presque certainement le resultat du choc epileptique.24 20 Temkin 1971, 316 f. 21 Esquirol 1838, 290. 22 Morel 1860. Die „maskierte Epilepsie“ wurde von Morel dezidiert als Wahrscheinlichkeitsdiagnose ausgewiesen, als Kategorie für (noch) zweifelhafte Fälle. Erst die Beobachtung des motorischen Anfalls ‚verifizierte‘ die von den Psychiatern angestellte Vermutung, es handle sich tatsächlich um Epilepsie. Zu den epileptischen Psychosen vor Gericht vgl. Eigen 2010. 23 Morel 1860, Berrios 1984, Temkin 1971, 316 f. 24 Trousseau 1861, 192. Richard von Krafft-Ebing schloss in einem frühen Text, der als erstes deutschsprachiges ‚Manifest‘ des Dämmerzustandes bezeichnet werden kann, an den programmatischen Satz von Trousseau an: „Es sollte der Grundsatz in der Gerichtspraxis gelten, dass überall, wo schreckliche, urplötzliche, motivlose, ohne Berücksichtigung der Umstände, Mittel, etwaiger Zeugen unternommene gleichsam instinctive Gewaltthaten vorkommen zunächst an Epilepsie gedacht würde.“ (Krafft-Ebing 1868, 61) In Krafft-Ebings Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, dem gerichtspsychiatrischen Standardwerk der Zeit, wurde Trousseau nicht mehr direkt zitiert. Der Satz selbst fand jedoch wieder

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Wie jenseits des Rheins war der umstrittenen Monomanie-Diagnose auch im deutschen Sprachraum um die Jahrhundertmitte die wissenschaftliche Grundlage abgesprochen worden. Was blieb, war eine Leerstelle, und die Psychiatrie stand unter gehörigem Druck, alternative medizinische Erklärungsmodelle zur Verfügung zu stellen.25 Hatte die französische Psychiatrie erste Vorschläge unterbreitet, sollte die Diagnose „psychische Epilepsie“ auch in der deutschen Psychiatrie eine zentrale Rolle spielen. Dass das Interesse an der Neudefini­tion der Epilepsie aber nicht nur als direkte Antwort auf die Monomanie-Frage zu verstehen, sondern im größeren Kontext der Institutionalisierung einer an die Universitäten drängenden Neuropsychiatrie zu verorten ist, macht ein Blick auf folgende Äußerung des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) deutlich. Dieser ließ 1867 einen Beitrag mit dem Titel Zur Casuistik der „Epilepsia larvata“ in ein explizites Plädoyer für die Umwandlung der gerichtlichen Psychologie in eine Psychopathologie münden: Von dieser Seite kann vielleicht etwas für die gerichtliche Psychiatrie geschehen, können an die Stelle unsinniger Willenskrankheiten und Monomanieen empirisch wahre klinische Krankheitsbilder treten. Die gerichtliche Psychiatrie bedarf einer Restauration in diesem Sinn, um aus einer blossen gerichtlichen Psychologie, die mit rein psychologisirenden und doctrinären Anschauungen den Erscheinungen Zwang anthut, zur Psychopathologie […] sich zu erheben, die sich auf allgemein wissenschaftliche Thatsachen stützt und das kranke Seelenleben nach allen seinen Richtungen, nicht blos nach einer, zu erfassen weiss.26

Kampfansagen und Aufrufe zur Revision bleiben jedoch so lange nicht viel mehr als Gerede, bis sich konkrete Maßnahmen daran anschließen, die es sich zum Ziel setzen, in die Zirkulation zu werfen, was hier als „wissenschaftliche Thatsache“ angesprochen ist. Um diese Maßnahmen soll es im folgenden Abschnitt gehen. Denn im selben Jahr, in dem Krafft-Ebing Eingang und wirkt durch die Streichung der Fußnote noch apodiktischer (Vgl. Krafft-Ebing 1875). Im selben Werk, das auch an einen nicht-ärztlichen Leserkreis gerichtet war, nicht nur Fachleute, sondern auch Juristen adressierte, erklärte Krafft-Ebing zudem, dass es „wahrscheinlich“ sei, „dass die Mehrzahl der in der älteren Medizin geläufigen Formen der Monomanien, transitorischen Manien etc. in solchen transitorischen neuropathischen Manien ihre Erklärung finden“ (Ebenda, 210). Wiederholt warnte er davor, Fälle von transitorischem Wahnsinn unter die obsoleten diagnostischen Kategorien einzureihen. 25 So forderte etwa Adolf Richter die Erklärung des partiellen Wahnsinns – der Mordmonomanie – aus dem Charakter und den Stufen der Bildung und diskreditierte die Lehre der Monomanie mit der Begründung, es existiere keine „einmalige Störung des Willens“. Er sah die Konsequenz, die aus der Revision der Monomanie zu ziehen war, darin, die Anfälle von Wahnsinn anderen Kategorien von Geisteskrankheiten zuzurechnen. Vgl. Richter 1858, 307. 26 Krafft-Ebing 1867, 473 f.

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diese Zeilen veröffentlichte, kam eine Kampagne in Gang, die zum Ziel hatte, die transitorischen Manien, die alten „Willenskrankheiten“, durch neue Kategorien zu ersetzen.27

Irrenstatistik, Meerschweinchen und die Degradierung des Grand mal Im Jahr 1867 wurde im Rahmen der ersten Tagung des Congres Alieniste International in Paris eine internationale Kommission eingesetzt. Auf Anregung des französischen Generalinspektors der Irrenhäuser und des Gesundheitswesens, Ludger Jules Joseph Lunier (1822–1885), erhielten die Teilnehmer den Auftrag, die Grundlagen für eine internationale ‚Irrenstatistik‘ zu erarbeiten. Ein erster Vorschlag, der nach drei Sitzungen abgeschlossen war, ging an alle psychiatrischen und statistischen Vereine sowie an die Regierungen Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Bitte, innerhalb von drei Monaten Bewertungen und Kommentare einzusenden. Zwei Jahre später wurde der Entwurf in den einflussreichen Annales Medico Psychologique abgedruckt.28 Mehr noch als dieses ambitionierte Projekt, das sich in den nationalen Wettstreit um internationale Standards einreihte,29 oder der Umstand, dass sich die Teilnehmer des Kongresses auf ein nosologisches Raster – wenngleich dezidiert als provisorisch ausgewiesen – einigen konnten, interessiert hier, dass der internationale Kongress explizit dazu aufforderte, jenen Symptomkomplex, der bislang unter der Bezeichnung einer „transitorischen Manie“ geführt 27 Die Orientierung der Psychiatrie an der Neurologie war, wie Volker Hess und Eric Engstrom gezeigt haben, nicht ausschließlich eine professionsstrategische Maßnahme der Psychiatrie, sie wurde auch ausdrücklich vonseiten der Gerichtsmedizin gefordert (Hess/Engstrom 2001, 107). Im Berliner Kontext hatte sich die ‚klassische‘ Epilepsiediagnose bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor Gericht als durchaus anschlussfähig erwiesen. Es mangelt nicht an Belegen, dass Freisprüche unter Berufung auf den Paragraphen der Zurechnungsfähigkeit erwirkt wurden, vorausgesetzt ein Krampfanfall vor der Tat konnte nachgewiesen werden. Die Sachverständigen beriefen sich auf die „ZacchiasRegel“, benannt nach einem Renaissancegelehrten und Juristen, die besagte, dass einige Tage vor und nach den epileptischen Anfällen Vernunft- und Willensfreiheit gestört seien. Entscheidend für den Nachweis war aber der „Zungenbiss“, die Spur, die der tonisch-klonische Grand mal in der Regel hinterließ. Er galt, glaubt man den Diskussionsbeiträgen in der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft, als allgemein akzeptierter Exkulpationsgrund: „Ein schwieriger Punkt ist es, wie wir uns zu verhalten haben bei Epileptikern, bei denen wir eine psychische Störung nicht nachweisen können. Wenn sie ein Crimen nach den Anfällen begehen, so glaube ich, dass es keine Schwierigkeiten haben wird, sie als unter der Gewalt des epileptischen Anfalls stehend zu betrachten. An demselben Tage, an welchem der Anfall stattfand, müsste man sicher exculpiren.“ Protokoll der Sitzung der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft vom 14.2.1873. Archiv für Psychiatrie 5 (1875), 284. 28 Lunier 1869. Vgl. zur ‚Irrenstatistik‘ auch Roelke 2003, 172 f. 29 Siehe Cahan 1992.

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wurde, als „Epilepsie larvée“ (maskierte Epilepsie) aufzuführen.30 Wie aus einem Bericht hervorgeht, war es der deutsche Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) gewesen, der vorschlug, „die psychologischen Formen der Manie, Melancholie etc.“ aus den statistischen Tabellen zu entfernen.31 Der Einsatz auf dem Pariser Kongress gab den Startschuss für eine regelrechte Kampagne, wie sich an den konzertierten Bemühungen ablesen lässt, die Griesinger und seine Nachfolger in den nächsten Jahren entfalteten. Im Rahmen des gut besuchten Eröffnungsvortrages zum Sommersemester 1867 im großen Saal des Charité-Krankenhauses sprach Griesinger in einiger Ausführlichkeit über forensisch-psychiatrische Fragen32 und warb für die Vorlesungsreihe zur gerichtlichen Psychiatrie, die er im kommenden Sommersemester erstmals an der Universität anbieten wollte.33 Im Mittelpunkt stand, wie der Redner in seiner Ankündigung zu betonen wusste, vor allem eine Kategorie gefährlich Geisteskranker: der Epileptiker (und auch die Epileptikerin). Etwa zeitgleich berichtete Griesinger über eine Serie an Tierexperimenten, die seine Mitarbeiter im Anschluss an Charles-Édouard Brown-Séquards (1817–1894) Versuche am Meerschweinchen an der Charité durchgeführt hatten. Die operierten Tiere, die wenige Wochen nach dem chirurgischen Eingriff eine laut Griesinger „epileptische Disposition“ entwickelten, wurden den Studierenden regelmäßig im Unterricht demonstriert und bei den Sitzungen der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft vorgeführt.34 Die Aufmerksamkeit galt 30 Lunier 1869, 37: „La folie épileptique, ou folie avec épilepsie, soit que l’affection convulsive ait précédé la folie, et paraisse en être la cause, soit au contraire qu’elle n’ait apparu, dans le cours de la maladie mentale, que comme symptôme ou complication.“ Eine Kritik an der Kategorie äußerte zum Beispiel Friedrich Wilhelm Hagen: „Ich bin damit einverstanden, dass eine Manie ganz das Gepräge einer mit Epilepsie complicirten tragen kann, und dass man in solchen Fällen muthmaassen darf, es liege Epilepsie zu Grunde; so wünschenswerth es aber auch wäre, wenn man die Epil. larvee mit Sicherheit diagnosticiren könnte, über den Bereich der Wahrscheinlichkeit können wir im einzelnen Falle doch wohl kaum hinaus und um diese Formen unter solcher Benennung in Tabellen einzutragen, dazu ist die Sache denn doch noch nicht reif genug.“ Hagen 1871, 287. 31 Psychiatrische Congresse und Versammlungen. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1 (1868/69), 182–199, Zitat 188; Meynert 1872, 22. Die transitorische Manie wird, so Meynerts Eröffnungssatz „nach dem Vorschlag des internationalen psychiatrischen Congresses als epilepsia larvata aufgeführt werden“. 32 Westphal 1868/69, 232. 33 Griesinger 1868/69c, 636. 34 „Herr Griesinger bemerkt, dass er an einem auf seine Veranlassung von Fick operiirten Meerschweinchen, welches gleichfalls epileptisch wurde, eine allmälige Veränderung des psychischen Verhaltens beobachtet hat. Aehnliche Erscheinungen, wie die von Brown-Séquard an den operirten Thieren beobachteten, erhält man, wenn man Meerschweinchen, auf einem horizontalen Brette befestigt, in Schwingungen versetzt. Ueber die spinale Epilepsie bemerkt Herr Griesinger, dass er sie seit langer

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dabei nicht ausschließlich den neurologisch relevanten Symptomen – den „epileptiformen“ Krämpfen, die durch einen Reiz in einer „epileptigonen Zone“ ausgelöst wurden –, sondern den psychischen Alterationen, die sich nach nur wenigen Wochen einstellten. Hatte schon Brown-Séquard von einem postepileptischen Zustand berichtet, den er als „drowsiness“35 bezeichnete, argumentierte Griesinger, und das ist eine bedeutende Erweiterung, er habe eine „allmälige Veränderung des psychischen Verhaltens“ an den Tieren beobachtet. Damit rechtfertigten die am Tier erzeugten epileptoiden Symptome die Behauptung, dass sich psychische Störungen auf cerebraler Grundlage entwickeln und sich Symptome, die man am Menschen beobachtet hatte, auch im Tierversuch zeigen würden. Die in Hinblick auf ihre Rezeptionsgeschichte wohl wichtigste Arbeit zum Thema publizierte Griesinger in der ersten Nummer des Archivs für Psychiatrie und Nervenheilkunde im Jahr 1868.36 Der Artikel Ueber einige epileptoide Zustände präsentierte der wissenschaftlichen Öffentlichkeit einen Katalog an Symptomen, die im Verlauf der Erkrankung auftreten konnten: Schwindelzustände, die, so der Autor, in der Regel als Digestionsstörungen aufgefasst werden, Absence-Episoden, Schluckbewegungen sowie psycho-motorische Symptome.37 Die Entgrenzung des Krankheitsbildes führte über die Degradierung des generalisierten Krampfanfalls, des ‚klassischen‘ „caractère pathognomique de l’epilepsie“ 38, wie an folgendem Zitat deutlich wird: Nun – nach meiner Beobachtung gibt es Fälle, wo eine sehr stark entwickelte Reihe intervallärer, sensitiver und psycho-sensitiver Symptome neben sehr leichten und kurzen, also ganz incompleten und zuweilen selbst noch seltenen Anfallen besteht. Hierdurch entsteht ein Symptomenbild, das sich von der gewöhnlichen Epilepsie gänzlich entfernt. Bei dieser erscheinen

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Zeit annehme und in seinen Vorlesungen demonstrire.“ Protokoll der Sitzung der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft vom 18.2.1868. Archiv für Psychiatrie 1 (1868/69) 752 f. Brown-Séquard 1857, 9. „Besides, we find, after long and violent fits, that these animals are, for a time, in a state of drowsiness, like men after epileptic convulsions.“ Griesinger 1868/69b. Vgl. zu den epileptischen Psychosen in Deutschland auch die Darstellung von Schmitz 2001. Griesinger 1868/69b. „Es ist gar nicht werthlos, wenn Zustände, die in der Pathologie so gut wie keine Stelle haben, die trotz der ungeheuren Leben-zerstörenden Beschwerden die sie machen, doch pathologisch-diagnostisch bis jetzt zum Theil geradezu in der Luft stehen, an etwas Bekanntes angereiht werden können zu dem sie unzweifelhaft gehören“ (Ebenda, 321). Unter den Symptomen sei vor allem der ‚epileptoide‘ Traum- und Dämmerzustand hervorgehoben: „Ist unter mehreren s. g. Schwindelanfällen auch einmal ein Zustand gekommen, wo der Kranke sich zwar auf den Beinen hielt, aber wie im Traume herumging, unpassende Dinge sprach und verkehrtes Zeug machte und sich nachher der Sache nicht erinnerte, und hatte sich derselbe auch erst im 60. Lebensjahre gezeigt, und jeden Augenblick kann ein gewöhnlicher vollständiger Anfall kommen“ (Ebenda, 324–329). Esquirol 1838, 290.

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die Anfälle ganz als die Hauptsache, die intervallären Symptome treten zurück oder fehlen in vielen Fällen ganz.39

Im selben Jahr veröffentlichten die Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen ein Epilepsie-Gutachten in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin. Erstmals in der Geschichte des Journals wurde eine Epilepsiediagnose gestellt, die auf das Kriterium Krampfanfall verzichtete und es durch eine Reihe an „epileptoiden“ Symptomen ersetzte.40 Erster Referent der Arbeit war kein anderer als Wilhelm Griesinger.

Die klinische Erforschung der „psychischen Epilepsie“ an der Berliner Charité Die Stabilisierung von Wissen, die Konsolidierung diagnostischer Kriterien ist Sache der Gemeinschaft. Um epileptoide Symptome als Zeichen zur Geltung zu bringen, war nicht nur die Arbeit eines einzelnen Akteurs gefragt – auch wenn er mit der Autorität Griesingers auftrat –, sondern die Scientific Community. Tatsächlich lagen seinem Definitionsversuch, wie sich rasch zeigte, zu ‚schwache‘ diagnostische Kriterien zugrunde. Als Griesinger 1868 überraschend starb, stellte sein Nachfolger, Carl Westphal (1833–1890), die neue Krankheitskategorie grundlegend infrage und sprach den epileptoiden Symptomen jede diagnostische Spezifität ab. Diese seien, so Westphal, keineswegs typisch für Epilepsie. Vielmehr gehörten sie zu den häufigsten Symptomen neuropathischer und psychopathischer Zustände.41 Untermauert werden sollte diese Kritik durch eine breit angelegte Studie. 1873 übergab Westphal seinem ersten Assistenten, dem 31-jährigen Paul Samt (1844–1875) ein Bündel an Krankenakten und persönlichen Aufzeichnungen mit dem Auftrag, seine Aufmerksamkeit den Epileptikern zu

39 Griesinger 1868/69b, 326. 40 Griesinger 1868, 305. Der Passus, der hier interessiert, liest sich folgendermaßen: „Die Mutter des Z. litt an Krämpfen, welche wahrscheinlich epileptisch waren; bei ihm selbst sind zeitweise Anfälle von Schwindel, Vergehen der Sinne mit krampfartigen Zittern der Glieder ärztlich constatirt. Diese ,Schwindelzufälle‚ bestehen bei ihm seit dem Sturze kopfüber in den Brunnen; sie kamen Anfangs nur im angetrunkenen, später auch im nüchternen Zustande. Es besteht für uns kein Zweifel, dass sie epileptoider Natur sind, wenn gleich vollständig ausgebildete epileptische Krämpfe nicht ärztlich constatirt worden sind.“ 41 Westphal 1872, 156. „Je länger ich mit besonderer Aufmerksamkeit das Vorkommen epileptischer und epileptoider Anfälle verfolge, desto mehr drängt sich mir die Thatsache auf, dass diese Anfälle, mögen sie spontan oder – wie es anscheinend nicht selten der Fall ist – durch geringfügige Veranlassungen hervorgerufen sein, zu den allerhäufigsten Symptomen der verschiedenartigsten psychopathischen und neuropathischen Zustände gehören.“

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widmen, die der Charité zugeführt wurden.42 Ergebnis der wissenschaftlichen Bemühungen Samts waren zwei Artikel, die im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten unter dem Titel Epileptische Irreseinsformen in den Jahren 1875/76 publiziert wurden. Auf Basis von rund vierzig ausführlichen Fallbeschreibungen präsentierte Samt der wissenschaftlichen Öffentlichkeit acht neue Untergruppen des epileptischen Irreseins (4–12), die er den bereits anerkannten Gruppen (1–4) hinzufügte.43 Einzelne, akribisch aufgezeichnete case reports, die das epileptische Irresein in seiner typischen Entwicklung und in seinem Verlauf illustrieren, bildeten die Grundlage des Klassifikationsversuchs. Samts Arbeit war die erste kasuistische Studie zum Thema. Sie schloss direkt an die Publikation Falrets an, die Samt – trotz der Ressentiments wenige Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg – als „wahrhaft classische [...] Arbeit“ würdigte.44 Auch wenn hier aus Platzgründen nicht ausführlich auf diese aus wissenschaftshistorischer Perspektive hochinteressante Studie eingegangen werden kann, so will ich doch zwei Aspekte hervorheben: Anders als seine Vorgänger sah Samt das Problem weniger darin, dass die Fälle von „transitorischem Irresein“ der Klasse der Manien zugerechnet wurden, sondern in der fehlenden Überzeugung von der Existenz differenziell abgrenzbarer Krankheitsbilder. Aus dieser Situation resultiere, dass die Ärzte die spezifischen Entwicklungen und Verläufe einzelner Geisteskrankheiten ignorierten. Vor allem in „zweifelhaften Fällen“, so der Autor, müsse immer: der Gesammtverlauf entscheiden, nicht allein dieses oder jenes Stadium, dieses oder jenes Symptom [...], so wie in einem zweifelhaften Falle von exanthematischem oder Abdominaltyphus, von Abdominaltyphus oder Militärtuberkulose [...] nicht dieses oder jenes Einzelsymptom in der Regel ausreicht, die differentielle Diagnose zu sichern, sondern hauptsächlich die Entwicklung und der Gesammtverlauf der Symptome die entscheidenden Kriterien abgiebt.45

Um zu verstehen, wie kontrovers diese Ansichten um 1870 noch waren – Jahre bevor Emil Kraepelin (1856–1926) erste Entwürfe seiner „naturwissenschaftlich ausgerichteten Verlaufspsychiatrie“46 präsentierte – müssen wir uns vor Augen halten, dass in der Psychiat42 Westphal 1874, 453. „Von dem Kranken-Material, welches in den letzten Jahren zur Beobachtung kam, hat Herr Dr. Samt die epileptischen Irreseinsformen, Herr Fürstner die Puerperalpsychosen bearbeitet.“ 43 Samt 1875 und 1876. 44 Samt 1876, 110. 45 Ebenda 405. Was Samt hier anführte, waren die ‚Klassiker‘, wie man sagen könnte, jene Krankheiten nämlich, die sich zu dieser Zeit nicht per Sektion unterscheiden ließen. Vgl. Lindemann 1986. 46 Hoff 1994, 172.

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rie, im Gegensatz zu anderen medizinischen Disziplinen, denen die pathologische Anatomie ätiologische Grundlagen geschaffen hatte, die Annahme einer Differenz zwischen Zustandsbild und Grunderkrankung alles andere als State of the Art war. Der Psychiatrie standen, wie Ewald Hecker (1843–1909) es in einem programmatischen Aufsatz Zur Begründung des klinischen Standpunktes in der Psychiatrie 1871 formulierte, mit Ausnahme der „Progressiven Paralyse“, noch keine allgemein akzeptierten, eigenständigen Krankheitsbilder zur Verfügung.47 Nachdem es ein Jahrzehnt zuvor gelungen war, mit der „Progressiven Paralyse“ ein solches Krankheitsbild zu stabilisieren und gegen die Lehre der „Einheitspsychose“ ins Feld zu führen, hatte sich unter den Psychiatern die Hoffnung breit gemacht, weitere eigenständige Krankheitsformen identifizieren zu können. So erfolgreich die Abgrenzung der „Progressiven Paralyse“ – in Form klar identifizierbarer Symptome und Stadien, die sich dem geschulten Auge des Klinikers als ‚Experiment der Natur‘ darboten und post mortem einen endgültigen (anatomischen) Beweis lieferten – auch war, wurde schnell offensichtlich, dass die Ausrichtung der Psychiatrie an der Neuropathologie keineswegs rasch zu weiteren bahnbrechenden Ergebnissen führen würde. Anschließend an diesen Befund versuchten Anstaltsärzte wie Ludwig Kahlbaum (1828–1899) und sein Assistent Ewald Hecker – um 1870 eher Randfiguren innerhalb der Profession – einzelne Krankheitsbilder nach klinischer Entwicklung und Verlauf zu klassifizieren. Hecker grenzte das Krankheitsbild der „Hebephrenie“48 und Kahlbaum das der „Katatonie“49 ab. Der grundlegende Wandel von einer statischen, synchronen, an einzelnen Symptomen orientierten Psychiatrie hin zu einer diachronisch-klinischen Perspektive, wie sie mit den Arbeiten Emil Kraepelins deutlich später allgemein Anerkennung finden sollte, zeichnete sich in den Schriften dieser Autoren in aller Deutlichkeit ab. Um die Programmatik von Samts Ausführungen zu erfassen, lohnt es sich, einen Blick auf einen Vortrag zu werfen, den er etwa ein Jahr vor der Publikation seiner Epilepsie-Studie vor der Berliner Medicinisch-Psychologischen Gesellschaft gehalten hatte. In diesem Vortrag präsentierte sich der zweite Assistenzarzt an der psychiatrischen Abteilung der Charité als entschiedener Anhänger der klinischen Methode: „Die Auffassung der verschiedenen Geisteskrankheiten als verschiedener Stadien einer Geisteskrankheit […], welche mit Melancholie beginnt, mit Verrücktheit oder Blödsinn endet, erweist die objective Beobachtung als grundfalsch.“ 50 Samt redete hier einem Diskurs das Wort, der die Lehre der „Einheitspsychose“, wie sie von Albert Zeller (1804–1877) popularisiert worden war,51 als nosologische Zwangsjacke 47 48 49 50 51

Hecker 1871b. Hecker 1871a. Kahlbaum 1874. Beide Krankheitsbilder konnten sich allerdings nicht auf Anhieb durchsetzen. Samt 1874, 38. Zur Konzeptgeschichte der Einheitspsychose vgl. Berrios/Beer 1994, mit Blick auf Berlin und Griesinger auch Sammet 2000, 139 f.

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begriff. Trotz divergierender Positionen hatte die ältere Medizin, die hier in der Kritik stand, eine Substruktur angenommen, einen Ablauf, der dem global verstandenen „Irresein“ zugrunde lag: Als die vier Stadien, die zwar variieren würden, aber bei allen Geisteskranken zu erkennen seien, galten Melancholie, Manie, Verrücktheit und Blödsinn. Die Identifizierung des jeweiligen Stadiums hatte eine Reihe an praktischen Implikationen für die Psychiatrie: Sie ermöglichte es beispielsweise, für jedes der Stadien Vorhersagen über die Heilungschancen zu treffen.52 In den ersten beiden, den primären Formen, war die Prognose günstig; hatte sich die Erkrankung zu Verrücktheit oder Blödsinn entwickelt, sah es hingegen düster aus. Die Vertreter der klinischen Methode zogen daraus den Schluss, dass die Begriffe Manie, Melancholie, Verrücktheit und Blödsinn lediglich Zustandsbilder bezeichnen und keine eigenständigen psychischen Krankheiten darstellen würden.53 Auch wenn typische Verläufe spezifischer Geisteskrankrankheiten in Zukunft noch akribisch zu charakterisieren seien, stand für Samt eines fest: Weder entwickelte sich die Manie, wie die Vertreter der „Einheitspsychose“ proklamierten, aus der Melancholie, noch endete sie regelhaft in Verrücktheit. Die Annahme, dass sich die Manie in der Regel sekundär aus der Melancholie entwickele, wurde unter Berufung auf Fälle, die Samt persönlich an der Charité beobachtet und behandelt hatte, suspendiert. Die Manie sei vielmehr ein morbus sui generis, eine eigenständige psychische Krankheit, mit einem nur ihr spezifischen Verlauf. Sie zeige, so Samt, mithin keine Ähnlichkeit mit Krankheitsbildern, die unter „transitorischer Manie“ firmierten. Das hatte durchaus Folgen für die prognostische Beurteilung der Erkrankung. Im Gegensatz zur Melancholie seien die Heilungschancen durchaus positiv zu bewerten.54 52 Vgl. zur Geschichte der Einheitspsychose Viotti-Daker 1994. Siehe auch Engstrom 2003, 27 f., 59 f. und 125 f. 53 Hecker 1871b, 204 f. „Es spricht sich dieser Uebelstand besonders in der jedem Psychiater zur Genüge bekannten Thatsache aus, dass die zur Bezeichnung der psychischen Krankheiten allgemein gültigen Namen: Melancholie, Manie, Verrücktheit und Blödsinn ganz ungeeignet sind weil diese Namen nicht eigentliche Krankheitsformen, sondern nur temporäre Zustandsformen bezeichnen.“ Diese Momentaufnahmen, würden, so Hecker weiter, „auf die somatische Medicin übertragen, etwa einer Eintheilung der Krankheiten in Kopfschmerz, Brustschmerz und Bauchschmerz etc. entsprechen. Die Melancholie ist ebenso wie der Kopfschmerz ein Symptom, das bei den verschiedensten Krankheitsformen auftreten kann, das bald eine grössere bald eine geringere Bedeutung hat, das bald für sich bestehen, bald mit Brustschmerz, Bauchschmerz (resp. Manie, Verrücktheit) wechseln, oder in diese Symptome übergehen kann“. Vgl. auch Kahlbaum 1874. 54 Samt 1876. Sein differenzialdiagnostisches Verfahren führte Samt im Verlauf des Textes wiederholt vor. Sein Denken bewegte sich innerhalb einer Systematik, die 1874 so noch nicht in gedruckter Form existierte. Dabei dienten ihm die gängigen Charité-Diagnosen – Alkoholismus, Melancholie, Manie und progressive Paralyse – als Hintergrundfolie. Einige Beispiele: Der Melancholiker gibt, nach Personalien gefragt, Name, Alter und Geburtsjahr richtig an, während der Epileptiker im Dämmerzustand das Geburtsjahr auf 1600 datiert. „Niemals wird“ der Melancholiker im Stupor, bei der Visite zu seinen

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In Samts Text manifestierte sich nicht nur eine neue Ordnung der Symptome. Verhandelt wurden auch, und in nicht zu geringem Umfang, die epistemologischen Bedingungen, die es nach Ansicht der klinischen Psychiater zu erfüllen galt, um sicherzustellen, dass ein Satz überhaupt den Anspruch erheben konnte, wissenschaftliche Tatsache zu sein. Mit anderen Worten: Samt brachte nicht nur einen neuen Typus der epileptischen Irren hervor, sondern er entwarf auch einen neuen Typus des Psychiaters, einen Irrenarzt, der sich für die Abgrenzung und Verzeitlichung der Seelenstörungen einsetzte und differenzialdiagnostisch vorging.55 In der Kritik stand nicht nur die Annahme einer „Einheitspsychose“, sondern jener diagnostische Blick, der in Büchern blätternd auf bedruckten Seiten eine Antwort auf die Frage zu finden glaubte, wie sich eine Geisteskrankheit entwickeln würde, bevor der konkrete Fall über längeren Zeitraum hinweg klinisch beobachtet worden war. Der ideale Psychiater war ein Arzt, der sich von falschen Theorien freizumachen wusste, keine voreiligen Urteile abgab, sondern intensiv beobachtete und die Beobachtungen akribisch in Akten dokumentierte.

Didaktische Rationalität Samt sah seinen Auftrag nicht nur darin, den Beweis zu führen, dass „das epileptische Irresein qua Irresein ein spezifisches“56 sei, es sich bei der „psychischen Epilepsie“ also um eine eigenständige Krankheit handelte, die von der Manie unterschieden werden müsse. Es war ihm vielmehr auch darum zu tun, konkrete Handlungsanleitungen in Umlauf zu bringen. Die Fallgeschichten waren mit dem erklärten Ziel verfasst, konkrete Vollzüge und Praktiken zu strukturieren. Die Funktion und die historische Bedeutung dieser case reports erschließen sich erst, wenn sie dem Register des ‚operativen‘ Wissens zugeordnet werden. Aus dieser Perspektive sind vor allem paradigmatische Fallgeschichten – und Samts Geschichten beanspruchten diesen Status – als Gebrauchsgegenstände zu analysieren, auf die zurückgegriffen wird, um Handlungen anzuleiten. Sie sind demnach Ausdruck didaktischer Rationalität. Es sei darAngstzuständen befragt, ein „unverständliches Convolut von Worten“ äußern. Immer wieder führte Samt die differenzielle Abgrenzung vor: Der Melancholiker im Stupor taumelt im Gegensatz zum Epileptiker nicht. Der Alkoholiker (Delirant) dagegen befindet sich nicht stundenlang im Stupor. „Der stumme Maniacus kann [...] mit gravitätischem Blick auf den Spucknapf sehen, er wird vielleicht mit dem Zeigefinger in die Spucke tauchen und sie betrachten, oder sie dem Wärter ins Gesicht zu schmieren suchen, oder er wird irgend welche anderen Scherze treiben, er wird aber sicher nicht [...] ohne jede Rücksicht auf den Wärter loshauen, wie um sich vor etwas Schrecklichem zu wehren.“ (Ebenda, 113 und 117) 55 Der Frage nach den epistemischen Tugenden, die in Samts Text zum Ausdruck kommt, kann hier nicht nachgegangen werden. Es erscheint mir dennoch als instruktives Vorhaben, die wissenschaftlichen Ideale mit den konkreten Wissens- und Praxisräumen in Verbindung zu bringen. 56 Samt 1875, 402.

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an erinnert, dass Thomas Kuhn darauf hingewiesen hat, dass jede Disziplin „Musterbeispiele“ benötige, die didaktisch eingesetzt werden und deren primäre Funktion es sei, Vollzüge anzuleiten.57 Auch wenn Samts Artikel nicht dem wissenschaftlichen Genre des Lehrbuchs zuzurechnen sind, sah der Autor seine Aufgabe dezidiert darin, Handlungsanleitungen zu formulieren. Die Krankheiten, dargestellt in ihrem spezifischen Verlauf und ihrer Entwicklung, spielten die Rolle von Modellen. Sie führten der Leserschaft vor, welche Stadien eine Krankheit durchläuft und wie die eigenen Beobachtungen in der Klinik, die fragmentarischen Beschreibungen, losen Hinweise, Protokolle, Briefe aus Gerichts- und Krankenakten zu verwerten sind. Zudem stellte der Autor – wie schon in seinem bereits erwähnten Vortrag – eine ganze Reihe an Regeln auf, die es zu befolgen galt, um in der Klinik wie vor Gericht zu validen Urteilen zu gelangen und ein brauchbares nosologisches System zu entwickeln. Kurz: Das Klassifikationsschema, die case reports, die daran anschließenden Erläuterungen und Kommentare zielten auf möglichst effiziente Anwendbarkeit. Die Umsetzung in die diagnostische Praxis hob darauf ab, professionelle Expertise zu verbreiten und ein Denkkollektiv zu etablieren, nämlich jene Gemeinschaft aus Medizinern, die im Berufsalltag mit Geisteskranken zu hatten. Als Repräsentant einer universitären Einrichtung sah sich Samt in der Rolle eines Lehrers, der einen Auftrag wahrzunehmen hatte: Die Instruktionen, die den gesamten Text durchziehen, waren darauf gerichtet, Denkweisen zu modifizieren und verbindliche Standards zu setzen. Standen bisher epistemologische, didaktische und forschungsstrategische Aspekte im Vordergrund, soll abschließend gezeigt werden, dass auch andere Gründe für eine rasche Akzeptanz der neuen Krankheitskategorie sprachen. Nicht nur die internationale Debatte um eine Irrenstatistik, nicht der nationale Streit um die Rolle der Psychiatrie vor Gericht, sondern auch die Situation vor Ort befeuerte die Invektiven von Paul Samt. Das Forschungsprogramm gab, so mein Argument, auch Antworten auf die institutionelle Einbettung der Universitätspsychiatrie in die Berliner Krankenversorgung.

57 Kuhn 1977. Kuhns These kann als bekannt vorausgesetzt werden: Nicht durch abstrakte Axiomatiken, nicht durch die Regeln werden die Prinzipien einer Wissenschaft erlernt. Vielmehr erwerben WissenschaftlerInnen im Umgang mit konkreten Problemen die Kompetenzen, die dazu nötig sind, im Forschungsalltag zu bestehen. Der Psychoanalysehistoriker John Forrester hat prominent von „thinking in cases“ gesprochen und Hackings Liste einen für die Rechtswissenschaften und Medizin spezifischen ‚Argumentationsstil‘ hinzugefügt. Forrester 1996, vgl. zu dieser Position Hacking 2012.

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Geeignete Studienobjekte Um die Jahrhundertmitte hatte sich ein neues Verständnis des klinischen Unterrichts durchgesetzt.58 Da die Ausbildung nun am Krankenbett erfolgen sollte, erhielten auch die Krankenabteilungen der Charité eine neue Funktion. Dies galt insbesondere für die Irrenabteilung. Als psychiatrische Klinik war diese auf akute Erkrankungen für Unterricht und Forschung angewiesen.59 Wilhelm Griesingers Konzeption des Stadtasyls gab eine erste Antwort auf die Anforderungen dieser neuen, universitären Psychiatrie. Mit der ersten „Versorgungsform“ hatte Griesinger zugleich ein institutionelles Angebot für eine wachsende Großstadt entworfen. Wie er in seinem Traktat Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland ausführte, diene eine psychiatrische Klinik in der Stadt – im Gegensatz zum Landasyl – als ambulante Anlaufstelle für akute, transitorische Fälle,60 nämlich vor allem für jene Individuen, die sich sozial auffällig verhielten und deren Zustand eine augenblickliche Intervention verlangte.61 Konterkariert wurde diese Konzeption einer Anlaufstelle für akute Erkrankungen jedoch durch institutionelle Restriktionen ganz anderer Art: Eigentlich hätte die Regel, nach der die Charité stiftungsgemäß alle unvermögenden heilbaren Geisteskranken aus Berlin kostenfrei aufnehmen und behandeln sollte, das Griesinger’sche Stadtasyl füllen müssen. Doch weit gefehlt. Da die Charité der Stadt die Behandlung jener Geisteskranken auf die Rechnung setzte, die sich im Laufe der stationären Behandlung als unheilbar erwiesen, hatte der Berliner Magistrat sich vorbehalten, vor einer Aufnahme in die Charité zunächst die Heilbarkeit zu prüfen. Zu diesem Zweck wurden die Kranken vor ihrer Überweisung in die Charité teilweise über Wochen hinweg erst im Arbeitshaus und Irrenasyl – der Städtischen Irrenverpflegungs­ anstalt – untersucht. Erst wenn alle Kriterien für die Aufnahme in die Charité erfüllt waren,62 58 Zur ‚Entdeckung‘ des Krankenhauses als Wissensraum siehe Hess 1995–1997, zum Unterricht in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts auch Engstrom 2003. 59 Siehe hierzu Sammet 2000, 112. Die ersten Stadien der Einheitspsychose (Melancholie und Tobsucht) waren nach der Einteilung von besonderem Interesse, während die chronischen Zustände (Verrücktheit und Blödsinn) als weitgehend wertlos für Unterricht und Forschung erachtet wurden. 60 Griesinger 1868/69a, 12 f. Vgl. auch die Überlegungen von Sammet 2000, 137 f: „Griesinger versuchte, die Begriffe ‚heilbar‘/,unheilbar‘ durch die Verwendung der Begriffe ,akut‘/,chronisch‘ zu ersetzen. Er wolle unter den ‚acuten Zuständen weder bloss frische Erkrankungen, noch heilbare Formen‘ verstehen; vielmehr fasse er ‚ausdrücklich auch darunter Excerbationszustände ganz chronischer Formen, wie die zahlreichen Fälle, welche aus den Heilanstalten ‚geheilt‘ entlassen werden, die ich den Hysterischen vergleiche, bei denen Krampfattaquen für längere Zeit aussetzen‘.“ 61 Sammet 2000, 104. 62 Die kostenlose Aufnahme in die „Irrenabteilung“ der Charité war nur für heilbare, arme, ortsansässige Patienten möglich. Diese Patientenklientel wurde gratis behandelt. Die Feststellung konnte bisweilen

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konnte sie tatsächlich erfolgen.63 Auch die Polizei brachte jene Menschen, die wegen Störung der öffentlichen Ordnung aufgegriffen wurden, in der Regel erst in die städtische Anstalt am Alexanderplatz. Diese vorgeschaltete Prüfung brachte die psychiatrische Abteilung um jenes ‚Patientenmaterial‘ aus den armen Bevölkerungsschichten, das für Forschung und Lehre so dringend gebraucht wurde. Vor allem akute Fälle waren, wie oben dargestellt, für die Epilepsieforschung von besonderem Interesse, denn eine Aufnahme in die Klinik64 während dieser Phase war grundlegende Bedingung, um Wissen über die Symptomatologie der Erkrankung und die Schwankungen und Dysfunktionen der Erinnerungsfähigkeit zu gewinnen.65 Die Polemik Samts gegen die Fehldiagnostizierung – vor allem gegen die Verwechslung der „psychischen Epilepsie“ mit der Manie – kann folglich im doppelten Sinne als eine Strategie in dieser für Forschung und Lehre prekären Situation gelesen werden. Denn zum einen reklamierte die Psychiatrie diese Krankheitsfälle – gegen die Ansprüche der medizinischen Klinik – für sich und mobilisierte hierfür die forensische Bedeutung des Dämmerzustands. Zum anderen aber eröffnete diese Strategie einen Weg, die strenge Prüfung auf Behandlungsfähigkeit und Kostenerstattung zu umgehen, da für die Krampfkranken die Regeln der Abteilung für Geisteskranke nicht galten. Zahlreich sind die Fälle, in denen die Aufnahmeabteilung der Charité eine Krampferkrankung diagnostizierte, die sich, welch ein Zufall, nach Überstellung in die psychiatrische Klinik am nächsten oder übernächsten Tage als psychische Erkrankung herausstellte, sodass die Patienten dann ohne weitere Prüfung durch städtische Beamte auf die Abteilung für Geisteskranke verlegt werden mussten. Wenn es folglich gelang, auch die zuweisenden Stadtärzte davon zu überzeugen, dass die Fälle eines „transitorischen Irreseins“ dem Formenkreis der epileptischen, also der Krampfkrankheiten und nicht dem psychiatrischen Formenkreis zuzuordnen seien, dann ermöglichte es dieser Winkelzug, die Aufnahmebedingungen, die nach der königlichen Verordnung von 1831 ausschließlich für die psychiatrische Station galten, zu umgehen. Stand im Attest des Stadtarztes die Diagnose „Epilepsie“ statt „Manie“, dann fiel der Patient den Buchstaben der Berliner Rechtsprechung

einige Wochen dauern. Diese Situation resultierte aus den restriktiven Aufnahmebedingungen der Direktion und hatte, wie Carl Westphal im selben Jahr, in dem Samt seine Studie begann, klagte, sinkende Patientenzahlen zur Folge. Vgl. hierzu Engstrom 2000. 63 Aufgenommen werden konnten aber PatientInnen, die für ihren Aufenthalt selbst aufkamen, oder solche, die von ihren Kassen unterstützt wurden. 64 Engstrom spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten „Dogma der rechtzeitigen Einlieferung“. Engstrom 2003a, 32 f. 65 Wurden die Kranken in die Anstalt am Alexanderplatz geschickt, waren oft Wochen vergangen, die Symptome abgeklungen und die PatientInnen für Forschung und Unterricht wertlos. Auch die klinische Prüfung des Gedächtnisses, der Erinnerung an die Ereignisse während des Dämmerzustandes, verlor dadurch an Aussagekraft.

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gemäß nicht mehr unter die Kategorie „geisteskrank“. Es ist nicht auszuschließen – wenn diese Spekulation erlaubt ist – dass Griesingers Einsatz für die Neukonzeptionalisierung der Epilepsie ein ähnlicher Hintergedanke zugrunde lag. Tatsächlich spiegelte sich diese missliche Situation auch in Samts Publikation. Die Gruppe der Epileptiker ohne Krämpfe rekrutierte sich ausschließlich aus wohlhabenden oder zumindest berufstätigen Kranken, die versichert waren oder von anderen Abteilungen innerhalb der Charité in die Irrenabteilung verlegt wurden. Um die Gruppe der epileptischen Äquivalente bilden zu können, standen Samt damit ausschließlich zahlende Kranke zu Verfügung.66 Zur zweiten Gruppe zählten arme, ortsansässige Kranke, die nicht als ‚Irre‘, sondern als neurologische PatientInnen im akuten postepileptischen Stadium – ohne zuvor in der Städtischen Irrenverpflegungsanstalt auf ‚Heilbarkeit‘ überprüft worden zu sein – in die „Krampfabtheilung“ eingeliefert und, nachdem sie Anzeichen von Geistesstörung zeigten, innerhalb der Klinik „nach der Irrenabtheilung verlegt“ 67 wurden. Noch eine weitere Korrektur war vonnöten, um epileptisch Kranke über längere Zeiträume an der Klinik zu behalten: die Neudefinition der prognostischen Aussichten. Fällen von Epilepsie wurde in der Regel eine ungünstige Prognose gestellt. Das Krampfleiden galt, wie Griesinger in seinem Lehrbuch betonte, als chronische Erkrankung, der nur in äußersten Ausnahmefällen therapeutisch beizukommen war.68 Auf der Grundlage klinischer Beobachtungen insistierte Samt jedoch darauf, dass sich die Prognose für die meisten Fälle von epileptischem Irresein als günstig erwies. Allgemeine Aussagen über die Heilbarkeit der Krankheit traf er nicht, mit der Begründung, die Quantität der beobachteten Fälle sei noch zu gering, um statistisch valide Aussagen zu treffen. Drängte die Administration der Charité darauf, unheilbare Patienten möglichst schnell in die entsprechenden Heilanstalten zu verlegen, konnten Fälle mit günstiger Prognose länger an der Klinik behalten werden. Die Neudefinition der Epilepsie muss demnach – so meine Interpretation – auch als ein Appell an die Stadtärzte 66 Der erste Fall – ein Medizinstudent – wurde, wie aus der Fallbeschreibung hervorgeht, als zahlender Patient für längere Zeit an der Klinik behalten. Der zweite Fall wurde intern verlegt, er kam, nachdem er einen „unmotivierten Wutanfall“ erlitten hatte, von der „syphilitischen Abtheilung“ an die psychiatrische Station. Der dritte Fall der Serie war von Beruf Maurer, somit ein krankenversicherter Patient. Ebenso versichert waren der vierte, fünfte und sechste Fall, die von der Abteilung für Delirante an die Irrenabteilung verlegt wurden. Samt 1875, 407 f. und 414–432. 67 Westphal 1874, 455. 68 Griesinger 1861, 413. Vgl. auch Kirn 1869, 146: „Der alte Satz des Hippocrates von der Unheilbarkeit der mit Seelenstörung verbundenen Epilepsie ward bis auf die neueste Zeit als Dogma der Pathologie festgehalten, welchem Psychiater und Neuropathologen beistimmten. [...] Als seltene Ausnahme von dieser allgemein geltenden Regel ward in unserer Anstalt ein Fall schwerer, mit Epilepsie complicirter Seelenstörung beobachtet, welcher mit Genesung endete; wir halten uns verpflichtet, ihn der Oeffentlichkeit zu übergeben.“

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gelesen werden, Fälle von epileptischem Irresein an die Klinik und nicht an die kommunalen Anstalten zu überweisen. An einer Stelle heißt es explizit: „Von practischer Wichtigkeit ist die Kenntniss dieses Irreseins besonders für den practischen Arzt, kennt er das psychischepileptische Aequivalent, so wird er es leicht diagnosticiren, er wird eine günstige Prognose stellen und er wird den Fall […] nicht nach der Anstalt dirigiren.“69 Anstatt die Betroffenen als unheilbar krank und gefährlich aus der Gesellschaft auszuschließen, war den Universitätspsychiatern daran gelegen, diese neue Patientengruppe für Forschung und Unterricht der Klinik zuzuführen.

Schluss Paul Samt sollte die Diskussionen, die im Anschluss an seine Publikation entbrannten, nicht mehr erleben. Er starb am 6. Dezember 1875 an den Folgen einer Infektion, die er sich auf der Suche nach den morphologischen Grundlagen des Wahnsinns am Seziertisch zugezogen hatte.70 Die Meinungen innerhalb der psychiatrischen Gemeinschaft waren geteilt: Die einen attestierten ihm das Verdienst, „den Begriff des epileptischen Aequivalents“ definiert zu haben.71 Seine Publikation trug wesentlich dazu bei, die psychische Epilepsie als eigenständige Krankheitsform zur Geltung zu bringen und die neue Diagnose zu stabilisieren. Vonseiten der Neurophysiologie hingegen wurde diese neue Grenzziehung hingegen scharf kritisiert. So schrieb der Experimentalphysiologe und Internist Hermann Nothnagel (1841–1905), einer der Epilepsiespezialisten der Zeit, dass „nur wirkliche epileptische Anfälle im usuellen Sinn einen Fall als Epilepsie beweisen“.72 Heinrich Schüle (1840–1916) polemisierte in seinem Handbuch 69 Samt 1875, 413. 70 Nachruf auf Paul Samt. Berliner Klinische Wochenschrift 2 (1875), 683. Aus dem Nekrolog geht hervor, dass Samt den Separatabdruck seiner Arbeit über die Epilepsie erst einige Tage vor seinem Tod erhalten hatte. 71 Rosenbach 1884, 401. 72 Nothnagel 1877, 191: „Von Alters her galten als charakteristisch für E. die Krampfanfälle; fehlten diese, so nahm man eben das Leiden nicht an. Dass man allerdings einerseits nicht alle Zustände mit epileptiformen Anfällen als Epilepsie bezeichnen darf, haben wir vorhin dargelegt. Wir haben andererseits erörtert, dass man auch gewisse Anfälle ohne Krämpfe als symptomatologischen Ausdruck der epileptischen Veränderung, der wirklich vorhandenen E. auffassen kann und muss: wenn aber der bestimmte Begriff der E. nicht ganz ins Breite gehen und dem individuellen Gutdünken überlassen werden soll, so sind für dieses letztere Vorgehen zwei Bedingungen erforderlich – es muss neben den abnormen Formen des Insults ein mehr oder weniger ausgeprägter gewöhnlicher Krampfanfall vorkommen, oder es muss die abnorme Anfallsform wenigstens als Theil eines ausgeprägten Insults sich darstellen. Aus diesen Gründen muss ein Verfahren der Art, dass man periodisch wiederkehrende, plötzlich auftretende Geistesstörungen allein deshalb und wegen einer bestimmten Form des Irreseins als psychische E. bezeichnet, sehr mit Vorsicht aufgenommen werden.“

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der Geisteskrankheiten, dass „Samt jeden frischen Kranken, der sich stumm verhält, ängstlich vor dem Arzte niederkniet, diesen Gott benennt und gelegentlich rücksichtslos um sich schlägt“, als einen „epileptischen Irren“ diagnostizieren möchte.73 Die Geschichte des epileptischen Dämmerzustandes stellt folglich eine konfliktreiche Geschichte der Entwicklung und Konsolidierung alternativer diagnostischer Kriterien dar. Die non-konvulsive, „psychische Epilepsie“ wurde keineswegs euphorisch aufgenommen. Die Aneignung der Epilepsie durch den Diskurs der Psychopathologie, insbesondere durch die Universitätspsychiatrie, gab nicht nur Anlass für Konflikte und Kritik außerhalb des Fachdiskurses, sondern wurde auch innerhalb der Disziplin überaus argwöhnisch beurteilt. Werfen wir abschließend einen Blick auf die lokal spezifischen Verhältnisse in Berlin. Mit der Eröffnung der Irrenanstalt Dalldorf 1880 änderte sich die Funktion der psychiatrischen Universitätsklinik innerhalb des Versorgungssystems in der Stadt radikal. Sie wurde nun zu einer Durchgangs- und Transitstation.74 PatientInnen wurden an der Klinik aufgenommen, oft innerhalb weniger Tage diagnostiziert, als „unheilbar“ deklariert und in die Anstalt außerhalb der Stadt transferiert. In der Publikation Die Beziehung zwischen Geistesstörung und Verbrechen. Neue Beobachtungen in der Irrenanstalt Dalldorf aus dem Jahre 1886 berichteten der dirigierende Arzt der „Irren-Siechen-Anstalt“ Wilhelm Sander (1838–1922) und sein erster Assistenzarzt Alfred Richter, dass der Irrenanstalt ausschließlich schwere Formen der Epilepsie zugeführt wurden, „namentlich solche“, wie die Autoren betonen, „bei denen Tobsuchtsanfälle als Äquivalente der Krämpfe auftreten“.75 Ich werte diese Stelle als Indiz dafür, dass sich die Kategorie der psychischen Epilepsie in Berlin durchgesetzt hatte. Ich habe gezeigt, wie die Monomanie nach einer nur kurzen Konjunkturphase eine Leerstelle hinterließ, die durch ein neues und in den Augen der Zeitgenossen valideres Krankheitsbild gefüllt wurde. Die ersten Bemühungen, die „transitorischen Manien“ durch die „maskierte Epilepsie“ zu ersetzen, gingen von Frankreich aus und wurden, nachdem die Kategorie seit dem psychiatrischen Kongress 1867 ihren Weg in die Klassifikationssysteme fand, auch in Deutschland zum Gegenstand von Studien und daran anschließenden Debatten. Noch im selben Jahr kam eine Kampagne in Gang, die das Krankheitsbild Epilepsie entgrenzte und alternative kategoriale Kriterien entwickelte. Hierfür steht die Studie Paul Samts. Sie macht deutlich, dass die Geschichte einer solchen Diagnose sich weder von epistemischen Idealen noch von lokal spezifischen institutionellen Voraussetzungen ablösen lässt. Forensische Debatten, Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ klinische Methode, neue Verhaltensregeln für den Arzt, restriktive Aufnahmebedingungen, die institutionelle Kopplung der 73 Schüle 1878, 412. 74 Vgl. Engstrom 2000. Zur Geschichte der Anstalt siehe Beddies 1999. 75 Sander/Richter 1886, 119.

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Psychiatrie an die Neurologie – diese heterogenen Faktoren gilt es zu berücksichtigen, wenn die Historiographie die vergangene Zukunft wirkmächtiger psychiatrischer Konzepte besser verstehen möchte. Die konsequente Historisierung psychiatrischer Krankheitsbilder, nosologischer Projekte und ihrer konkreten Eingebundenheit in lokal spezifische Bedingungen76 ist angesichts der aktuellen Debatten um DSM-5 und ICD-10 erneut zu einem Desiderat geworden.

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III. Ordnungen der Störung

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Vom Unbehagen in der Psychiatrie. Psychopathologische Deutungen von Umbruch und Revolution 1918/19

Es ist die Niederlage, die vermittelt und begreiflich gemacht werden will. Dementsprechend ist es auch der unterlegene Part einer kriegerischen Auseinandersetzung, der mehr als der Sieger geneigt oder gedrängt wäre, (sich) das Ergebnis zu erklären und daraus Konsequenzen für künftiges Tun und Lassen abzuleiten; dem Überlegenen bliebe dagegen ein nachhaltiger Erfahrungsgewinn verwehrt.1 Aber sind die Verlierer stets die besseren Beobachter und Analysten? Und gewinnen sie regelhaft tiefere Einsichten in die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Krieges? Vorstellbar ist immerhin auch, dass aus der Niederlage eine Verzerrung der Wahrnehmung erwächst, dass frühere Denk- und Handlungsweisen nicht zwangsläufig aufgegeben werden. Eine Niederlage führt dann nicht notwendig in eine neue Richtung, vielmehr drängen Scham, Revanchismus und Ressentiment auf einen rächenden Sieg. Friedrich Nietzsche beschrieb die Psychologie des Ressentiments als Selbstvergiftung durch gehemmte Rache: „Einen Rachegedanken haben und ihn ausführen, heißt einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt […] eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen.“2 Ähnlich argumentierte Max Scheler, der 1912 ebenfalls von einer „seelischen Selbstvergiftung“ sprach, verursacht durch eine „systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen“.3 Auch hier liegt der Ausgangspunkt im Ressentiment, in einem gehemmten „Racheimpuls“, verbunden mit einem „Gefühl des ‚Nichtkönnens‘, der ‚Ohnmacht‘ […] – sei es aus Schwäche leiblicher und geistiger Art, sei es aus Furcht und Angst vor jenen, auf welchen die Affekte bezogen sind“.4

Problemaufriss Dies vorausgeschickt, setzt unsere Darstellung mit der militärischen Niederlage Deutschlands 1918 und den sich daran anschließenden revolutionären Ereignissen ein. Krieg, Kapitulation 1 2 3 4

Haller 2012, 39. Vgl. auch Horst/Kortüm 2004, außerdem Mauri 2011. Nietzsche (1878) 2000, Zweites Hauptstück, Aph. 60. Scheler (1912) 1978, 4. Ebenda, 5.

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und Revolution werden als zusammengehörige, auch sich bedingende Ereignisse gesehen, da für die heraufziehende Niederlage und die Auflösungserscheinungen im Heer ebenso wie an der ‚Heimatfront‘ sowie für die verspäteten politischen Reformansätze und die revolutionären Ereignisse Zusammenhänge und Kontinuitäten ausgemacht werden können, die eine isolierte Betrachtung nicht zulassen. Psychiatrische Expertise und Deutungsmacht, darum geht es im Folgenden, waren in dieser Umbruchzeit für den militärischen wie für den zivilen Bereich gleichermaßen gefragt. Krieg und Kriegsfolgen gehörten zu den Leitkategorien (sozial-)politischen, kulturellen und medizinisch-wissenschaftlichen Handelns in der Weimarer Republik und prägten wesentlich auch die Selbstbeobachtung und -beschreibung der Gesellschaft. So beschäftigte der Krieg in seinen Auswirkungen auf Geist und Seelen der Kombattanten wie auch der Zivilbevölkerung die Psychiater nachhaltig. Immer wieder sahen sie sich veranlasst, zum Massenphänomen der „konstitutionell Psychopathischen“ und „Schwächlinge“ Stellung zu nehmen, die ihnen als „Kriegszitterer“ und „Rentenneurotiker“, als Deserteure und Verweigerer, als Revolutionäre und Kriminelle zugeführt wurden.5 Der Erste Weltkrieg hatte – während bürgerliches Selbstverständnis und militärische Kultur noch von Vorstellungen politisch und strategisch begrenzter Kriege zwischen einzelnen Nationen geprägt gewesen waren – in seinem Verlauf die Dimension und Vernichtungskraft eines Massenkrieges angenommen. Moderne Techniken und Geräte der Kriegsführung bis hin zum Einsatz von Giftgas entfalteten eine bis dahin unvorstellbare Wirkung, indem sie in neuartiger Weise Körper wie auch Seelen der Soldaten zerstörten und zersetzten. Andauernder Gefechtslärm und die Druckwellen der Detonationen hatten als immaterielle Eindrücke, vor denen es keinen Schutz gab, wesentlichen Anteil an der Zermürbung der Soldaten.6 Der britische Kriegsreporter Philip Gibbs berichtete bereits im November 1914 in der Frankfurter Zeitung: Es ist unmöglich die gewaltigen Schrecken des Granatfeuers zu übertreiben. [...] Der Lärm war noch niederdrückender als die Aussicht auf den nahen Tod. [...] Jede Granate, die über die Dünen hineingesandt wurde, war wie ein Donnerkeil des Jupiter: Körper und Seele wanden sich in Qualen – der Lärm war geradezu höllisch! Die Erschütterung war so gewaltig, daß meine Hirnschale wie unter Hammerschlägen schmerzte; lange nachher zitterte ich noch unter dem Einfluß jener Lautwellen.7 5 6 7

Einen Überblick über die zeitgenössische psychiatrische Literatur bietet Bresler 1919 und 1920. Der Literaturanhang seiner Arbeit umfasst mehr als 700 einschlägige Titel, vornehmlich aus den letzten Kriegsjahren. Vgl. Lethen 2000. Frankfurter Zeitung vom 27.11.1914, Nr. 329, I. Morgenblatt. Zitiert nach: Plaut 1920, 32 f. Vgl. auch Eckart 2014, 94.

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Anders als im Bewegungskrieg war vor allem in den Situationen des Stellungskampfes, unter dem ständigen Getöse der Detonationen weniger der „aktive Mut der Muskeln“ als vielmehr der „passive Mut der Nerven“ gefordert.8 Weder auf die Erfahrung von Grausamkeit und Verstümmelung im industrialisierten Krieg noch auf die Zahl der Toten und Verwundeten, noch auf die Ausdehnung und die Dauer dieses Krieges oder gar die Sinn- und Ausweglosigkeit zu dessen Ende waren Mannschaften und Offiziere vorbereitet; im Schützengraben gerieten vielmehr bis dahin selbstverständliche, Orientierung bietende Wert- und Ordnungsvorstellungen ins Wanken. Dieser Krieg war nicht als Abenteuer erleb- oder gestaltbar, sondern nur ohnmächtig zu überstehen, als ein Inferno, das es auszuhalten, dem es standzuhalten galt. Mit Eva Horn lässt sich sagen: „Der erste moderne Krieg ist kein Erlebniskrieg, sondern der totale Ausfall des Erlebnisses.“9 Die zeitgenössisch populäre (und wissenschaftspopularisierende) Einschätzung, dass die „Kriegsneurosen“ vor allem „weniger gefestigte, gemütlich erregbare, nervöse und haltlose Persönlichkeiten“ befallen hätten und dass in wachsender Zahl sogenannte Unfähige, Schwachsinnige, Haltlose zum Dienst herangezogen worden seien,10 spielt hier insofern eine Rolle, als es vor allem auch diese „Kriegsmüden“ und „Minderwertigen“ waren, die nach psychiatrischer Einschätzung in der Revolution und den unruhigen ersten Jahren der Republik als störend, hemmend und gefährlich hervortraten. Auch von dieser Seite her ist also die Nachkriegszeit vielfältig auf die Effekte des Weltkriegs für Staat und Gesellschaft zu beziehen.11 Dass die im Erfahrungsraum ‚Heimat‘ sich abspielende Revolution in einem direkten Zusammenhang mit dem militärischen Zusammenbruch stand,12 wurde unmittelbar erfahrbar, als sich an den Straßenkämpfen und Kundgebungen zunehmend auch Fronttruppenteile beteiligten, die – Fremdkörper im urbanen Umfeld – rücksichtslos die Gewalt des Krieges in die Stadt trugen und deren sinnliche Wahrnehmung unvermeidlich machten. Magnus Hirschfeld (1868– 1935) urteilte in Hinblick auf den fortdauernden Zustand geistiger Aufrüstung der Soldaten in der frühen Nachkriegszeit: „Es währte lange, bis sie den Zeitsinn eines Zivilisten wiedergewannen. Dem Soldaten ist es im Kriege zur zweiten Natur geworden, in der Gegenwart zu leben.“13 8 9 10 11

Plaut, 1920, 43. Horn 2000, 139. Fränkel 1920. Militärmedizinische und im engeren Sinne psychiatriehistorische Implikationen der „Kriegspsychosen“ stehen hier ausdrücklich nicht im Fokus. Die „Kriegshysterie“ stellt mittlerweile für die Medizingeschichte ein recht gut erforschtes Untersuchungsfeld dar. Vgl. etwa Köhne 2009, Seidler/Eckart 2005, Hofer 2004, Lerner 2003, Majerus 2003, Micale/Lerner 2001. 12 Der Frage, ob die Revolution Folge oder Ursache des militärischen Zusammenbruchs war, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. dazu Benz 1992, 59 ff. 13 Hirschfeld 1930, 311.

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Wie 1918/19 der Krieg und die Krieger in den Alltag der Berliner einbrachen und die Stadt und ihren Raum militärisch zu nutzen verstanden, schildert ein Augenzeugenbericht: So ward Berlin zum Kampfgelände ganz im Sinne der vergangenen vier Jahre. […] Die große Stadt bringt neue Bedingungen – sofort sind sie mit der langerprobten Anpassungsfähigkeit in Rechnung gestellt, ausgenutzt, selbst zum Kampfmittel gemacht. Die massiven Häuser werden als geborene Stützpunkte ersten Ranges erkannt. Die Eckhäuser zumal sind fast uneinnehmbare Forts. Aus beherrschenden Fenstern glotzen Maschinengewehre, umbaut mit Papierballen, Briefbündeln, Büchern, Zeitungsbänden, die die Rolle der Sandsäcke spielen. Sandsteinfassaden sind so gut wie Betonbauten. [...] Aber als riesige, ungedeckte, schwierige Annäherungsgräben dienen die Schluchten der Straßen. Benutzt man sie, so muß man sich an die Wände drücken, vorsichtig tastend sich vorwärts schieben. Durchquert man sie, muß man springen, laufen – peng! saust eine Gewehrkugel vorbei. Ganz wie es draußen war. Mitten in der Friedrichstadt erinnert man sich der wohlvertrauten Inschriften: ‚Eingesehene Stelle!‘ ‚Achtung! Flankenfeuer!‘ Die Berliner haben sich schnell an diese neuen Einrichtungen gewöhnt. Im ersten Augenblick waren sie verblüfft, aber nach ein paar Tagen nahmen sie Deckung, sprangen, liefen, duckten sich wie alte Praktiker. Schüsse imponierten ihnen nicht mehr. Auge und Ohr begannen bereits abgestumpft zu werden. [...] Und die Stadt sieht die Bilder der Zerstörung. […] Ringsum die hohlen Augen der scheibenlosen Fenster. Herabgestürzte Skulpturen. Umhergestreuter Mörtel- und Ziegelstein-Wirrwarr. Fassaden mit Spritzern bis zum Giebel hinauf. Artillerie fährt in Stellung und feuert, wie im Tank-Gefecht, aus nächster Nähe in direkten Schüssen. Minenwerfer und Flammenwerfer werden herbeigeschleppt. Kleine Sturmtrupps pürschen (sic!) sich heran. Dazwischen Klatschen und Knattern, das Dröhnen von Handgranaten und Gewehrgranaten. Dazwischen Soldaten hüben und drüben in aller Erregung des Gefechts. Bewachte Gefangenentrupps. Schanzwerk. Scheinanlagen. Gefallene. Verwundete. In der Heimat! In unserer armen Stadt! [...] Der Krieg, meint man, sei tot. Aber sein Gespenst geht um und kann nicht zur Ruhe kommen.14

Massendemonstrationen und Straßenkämpfe gehörten unversehens zur täglichen Realität, Umkehrungen in den Hierarchien und soziale Turbulenzen verstörten die Menschen ebenso wie die Unübersichtlichkeit der Lage und die Unfähigkeit der Exekutive, ihren Aufgaben nachzukommen. Die Revolution beschleunigte nicht nur das ohnehin rasch pulsierende Leben in der Stadt;15 neben der Rasanz der Ereignisse spielte vielmehr auch deren Plötzlichkeit 14 M. O.: Berlin als Kampfgelände, Vossische Zeitung vom 13.01.1919, Morgen-Ausgabe, 2. 15 Karl Marx sprach von der „Revolution als Lokomotive der Geschichte“ und bezog sich damit sowohl

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eine besondere Rolle, indem Unterbrechungen und Unvorhersehbarkeiten zu Irritation und Verstörung führten. Diese Beobachtungen fügten sich zeitgenössisch ohne Weiteres in eine pejorative Beurteilung der Moderne ein und erneuerten damit ein weiteres Argument zur Pathologisierung der Zeitereignisse: „In den Revolutionen und besonders in den Revolten überstürzt sich der Fortschritt, der Philoneismus, wenn er einmal angefangen hat […] bis zu den äussersten Extremen […].“16 Es war dies ein Szenario, dem auch ärztlich zu begegnen war: Wir sind ein müdes Volk, und daraus sollten wir Ärzte vor allem eine Mahnung ableiten. Wir geraten in Gefahr, in einen Rausch von Reformen hineinzutaumeln. [...] Ein neues Zeitalter soll von heute auf morgen geschaffen werden. Ich meine aber, dass es nicht gut sei, dass ein krankes Volk sich von heute auf morgen Gesetze gibt, die sein Leben grundsätzlich umformen und auf lange Zeit hinaus beherrschen sollen. An solchen Gesetzen ist kein Segen. Also hüten wir uns davor, jetzt allzu viel reformieren zu wollen.17

Insbesondere für das Bürgertum ging die Revolution, die „Fortsetzung der Politik auf dem kürzesten Weg“18, einher mit der endgültigen Auflösung einer auf Zusammenhalt und Überwindung der politischen, sozialen und konfessionellen Konflikte angelegten Gesellschaft.19 Der bis dahin ‚staatstragenden‘ Schicht (zu der auch die hier besonders interessierenden Psychiater zu rechnen sind) fiel es schon deshalb schwer,20 den militärischen Zusammenbruch, die Radikalität der Veränderungen und die Zerstörung ihrer Lebenswelt als Konsequenz eines einst „herbeigesehnten“ Krieges zu akzeptieren,21 weil sie der Zusammenbruch unvorbereitet traf. Die Militärs selbst, vor allem aber die Zivilsten hatten die Psychologie des Krieges bis zu seinem Ende nicht erfasst:

16 17 18 19 20

21

auf die Durchsetzungskraft als auch auf den Beschleunigungseffekt im historischen Geschehen. (Marx (1850) 1960, 85). Für seinen Namensvetter, den Gerichtsmediziner Hugo Marx (gest. 1919), waren Revolutionen „nichts anderes, als der Ausdruck dafür, dass im seelisch körperlichen Geschehen von Völkern […] mächtige Verkürzungen der Tempi und der Wege Platz gegriffen haben.“ (Marx 1920a, 66) Lombroso/Laschi 1891, 37. Marx 1919, 1079. Marx 1920b, 219. Vgl. Verhey 2000. Mit dem Begriff „Bürgertum“ wird jener Teil der Bevölkerung bezeichnet, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Adel, Bauern und Arbeiterschaft eindeutig unterschied. Ohne dass jeweils eine scharfe Abgrenzung möglich wäre, können die (freien) Berufe mit akademischer Qualifikation (hier die Ärzte) jedenfalls zum Bürgertum gezählt werden. Vgl. Bieber 1992, 15. Barth 2003.

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Nahezu alle Tagesberichte sprachen nur von Sieg und Sieg. Die Niederlagen wurden verschwiegen oder so frisiert, dass nur wenige ganz Kundige sie verstanden. Diese Berichterstattung war gleich gefährlich nach innen wie nach außen; denn die Masse des deutschen Volkes fragte, warum denn der Friede noch nicht komme, wenn man jeden Tag einen Sieg erlange.22

Vor dem Hintergrund der infolge von Realitätsverlust und Realitätsbeschönigung unvermutet hereinbrechenden militärischen Niederlage waren es kollektive Beschämung und ohnmächtige Wut,23 die in Gestalt der eingangs angesprochenen Ressentiments die Überleitung der Kriegs- in eine Friedensgesellschaft unmöglich machten.24 Vor allem konservative Kreise waren angesichts des Versailler ‚Schandfriedens‘ vom Juni 1919 ebenso gedemütigt wie empört in Hinblick auf die auferlegten Reparationen und die Kriegsschuldzuweisung. Die Gräuel des von den Kulturnationen geführten ersten ,totalen Kriegs‘25 und das Aussetzen des individuellen Gewissens wurden in der Folge nicht in Form einer Introspektion ergründet und in Geständnissen erläutert, vielmehr lenkte man gerade in Deutschland den Blick (und den Zeigefinger) sehr schnell auf die ‚grausamen‘ Sieger und den ‚inneren‘ Feind. Vielleicht, so Helmuth Lethen, traf sich in dieser Blickwendung eine Künstlerbewegung wie der Dadaismus mit der Nachkriegsstimmung der einfachen Landser und Bürger. Jedenfalls gibt es Anzeichen, dass jene „periphere Strömung“ eine weiter verbreitete mentale Einstellung zum Ausdruck brachte, die nicht mehr gewillt war, sich mit der inneren Geißel einer „Schuldkultur“ herumzuplagen:26 „Sämtliche Symptome des schlechten Gewissens (bim!), der Schuld (bam!), wie tiefes Erröten, Erbleichen, Stottern, unsteter Blick, Zwang zum Sprechen von dem, was verrät, etc. pp. Quatsch […]“,27 liest man in Walter Serners (1889–1942) dadaistischem Manifest aus dem Jahr 1920. 22 23 24 25 26 27

Erzberger 1920, 7 ff. Zum akuten Einbruch des Selbstwertgefühls vgl. Lethen 1994, 23–26. Epkenhans 1999. Zitat in der Einleitung zu Bauerkämper/Julien 2010, 7. Lethen 1994, 27. Serner 1920, 31. Zitat vollständig: „29/ Eine vorzügliche Zigarette durchaus erforderlich ... Sämtliche Symptome des schlechten Gewissens (bim!), der Schuld (bam!), wie tiefes Erröten, Erbleichen, Stottern, unsteter Blick, Zwang zum Sprechen von dem, was verrät, etc. pp. Quatsch treten, wenn die Sensibilität (Mangel an Beherrschung des hohen Idioms) einen sehr großen Grad erreicht, lediglich auf Grund dieser Sensibilität ein, welche sie zu den augenblicks erkannten Möglichkeiten so schnell antizipiert, daß sie sich ihrer faktisch nicht mehr zu erwehren vermag (oder dies gar nicht mehr mag: der Zustand ...) ... Dieses längere Satzgebilde dem ohnedies schon überstattlichen Bankrutt der Psychologie so leichthin noch nachgespien! (‚Nachbarin, Euer Knie!‘).“ Nach Gabriele Dietze wäre Serners „Lockerung“ freilich eher als Programmatik einer „Aktiven Traumadynamik“, also der Inszenierung von Trauma-Simulationen auf der Bühne, zu deuten. Vgl. Dietze 2014, 337.

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Besonders aus der ‚rechten‘, strikt antikommunistischen, nationalistischen und monarchistischen Perspektive wurden die Verwerfungen des privaten und öffentlichen Lebens als bedrohliches Chaos wahrgenommen, in dem sich Egoismus, Neid und Gier als niedrigste Triebe im Menschen ungehemmt austobten und Kultur und (politische) Gesittung radikal infrage stellten.28 Archaische Regungen drohten verinnerlichte Kontrollmechanismen zu durchbrechen und die Menschen mit sich zu reißen, so wie das ‚Individuum‘ – gleichsam das Allerheiligste des bürgerlichen Welt- und Menschenbildes29 – von den entfesselten Massen drohte, hinweggespült zu werden. Das heraufbeschworene Schreckensbild verwies dabei auf einen bereits im frühen 20. Jahrhundert verbreiteten Diskurs, der den gewöhnlichen Menschen, die „Fabrikware der Natur“,30 als zentrales Phänomen der Beunruhigung und Unsicherheit betrachtete. Den Zeitgenossen der frühen Nach- und Zwischenkriegszeit musste das Kriegsende, indem es Begründungs- und Legitimationsstrategien für die darauf folgende Zeit hervorbrachte, geradezu als Brutkasten einer bedrohlichen Moderne erscheinen, in der die fanatisch „blinde Macht der Masse“ zur Herrschaft strebte.31 Die Revolution, so urteilte der Jurist und ‚Nationalbolschewist‘ Hans von Hentig (1887–1974) bereits 1919, sei ganz folgerichtig „wie ein Treibhausgewächs emporgeschossen aus einem Ausnahmezustand, einem erschöpfenden, fürchterlich blutigen, schließlich auch noch unglücklichen Krieg“.32 Wir haben es also mit einer andauernden, manchmal offenen, manchmal auch unterschwelligen Präsenz des Krieges in der Weimarer Republik zu tun. Unter dem Gesichtspunkt des Ressentiments handelte es sich dabei auch um den verzweifelten Versuch der Unterlegenen, materielle und personelle Nachteile durch eine Höherwertung ‚geistiger‘ Fähigkeiten und ‚sachlicher‘ Aufklärung über das Wesen des modernen Krieges zu kompensieren, sodass sich mit der erzwungenen personellen und materiellen Abrüstung auf der einen ein trotziger mentaler Aufrüstungsprozess auf der anderen Seite verband. Dass man als Ursache der Niederlage moralische Schwäche, fehlende Geschlossenheit und mangelnden Wehrwillen der Heimat zu erkennen glaubte, ist in diesem Zusammenhang als symptomatisch anzusehen.33 28 Zitat aus Hagener (i. e. Hermann Dreyhaus) 1921, 94. 29 Hettling/Hoffmann 1997. 30 „Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden hervorbringt, ist wie gesagt, einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig: er kann seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgend eine, wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben.“ (Schopenhauer 1819) 31 Vgl. Le Bon 1982, 5: „Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei. Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage. Plötzlich wird die blinde Macht der Masse für einen Augenblick zur einzigen Philosophie der Geschichte.“ 32 Hentig 1919, 47. 33 Vgl. etwa Theweleit (1977/78) 2000, Bd. 1, 411.

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Als Konsequenz in Hinblick auf ein Wiedererstarken wurde jedenfalls eine moralische und aufklärerische Vorbereitung sowie eine innere Homogenisierung des gesamten Volkes für notwendig angesehen.34

„Psychopathologie“ der Revolution Aber nicht nur die Beschwörung einer starken und reinen Volksseele spielte eine Rolle, vielmehr noch waren es die Gegenbilder, anti- und konterrevolutionäre Phantasien, in deren Mittelpunkt die „Psychopathologie“ der Revolution stand: Da akute Krisen, politische Modernisierung und künstlerische Moderne hier in beispielloser Weise zusammengingen, konnten die Phänomene unter dem Gesichtspunkt der Zerstörung hergebrachter Gemeinschaft und Sicherheit, Autorität und Kultur auch als pathologisch wahrgenommen werden.35 Außenseiter wären es, die das politische und öffentliche Leben der jungen Republik dominierten, darunter Vertreter einer selbst erklärten künstlerischen Avantgarde. Der Münchener Psychiater Oswald Bumke (1877–1950) erblickte hierin „Krankheitserscheinungen“ und Formen, „unter denen sich der Zusammenbruch eines durch vier Jahre hindurch unerhört belasteten großen Volkes schließlich vollziehen musste“.36 Ein befriedeter Umgang mit dem Ausgang des Krieges und seinen Opfern ist vor diesem Hintergrund nicht auszumachen – und wurde kaum angestrebt. Anders als in England oder Frankreich, wo nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich bald schon nach Ende des Krieges eine „moralische Abrüstung“ stattfand,37 kam es in Deutschland zu keiner wirklichen „kulturellen Demobilisierung“. Die fortgesetzt kriegerische Perspektive auf das Zeitgeschehen während der Weimarer Republik ging vom Grundgedanken eines auf Dauer kaum einlösbaren gefährdeten Überlegenheitsanspruchs der Nation aus. Das sozialdarwinistische Argument einer Vernichtung der Tüchtigen bei Schonung der Schwachen im Krieg gehörte dabei zu den populären Deutungen der Zeit. Die Konstruktion kriegerischer Männlichkeit brachte zwangsläufig auch ihr abwertendes Gegenbild hervor:

34 35 36 37

Bergien 2012, 75. Peukert 1987, 89. Vgl. auch Nipperdey 1986. Bumke, 1953, 83. Während in Frankreich und England Erinnerungsstätten eingerichtet wurden, blieb der Umgang mit den Toten in Deutschland unbestimmt. Denn stellte man sie in den Zusammenhang eines Gedenkens an das Leid des Krieges, hätte dies ein Eingeständnis der Niederlage erfordert. Sollte die Niederlage nicht eingestanden werden, konnten die Toten nur für die Forderung nach einem neuen Krieg stehen. Vgl. Horne 2005, 147.

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Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt daß bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte.38

Wie sollte das Leben eines Volkes aber organisiert, von welchen Wertvorstellungen sollte es bestimmt sein, damit es in einem künftigen, siegreichen Volkskrieg zur Aufbietung aller Kräfte in der Lage wäre? Die für die Zeit typische Auto-Mobilisierung und Aneignung des Krieges durch zivile Akteure lassen hier unter anderem eine Auflösung der hergebrachten Dichotomie zwischen Militär und ziviler Gesellschaft und daraus entstehende Hybridisierungen zwischen ‚Zivilität‘ und ‚Militarität‘ erkennen, die sich auch im psychiatrischen Diskurs, zunehmend geprägt durch Wertbestimmungen, finden: Die Figur des nervenstarken Kriegers richtete sich gegen den ‚willensschwachen Traumatiker‘, den ‚Kriegsneurotiker‘, den ‚verweichlichten und träumerischen Pazifisten‘ ebenso wie gegen Revolutionäre und ‚Antisoziale‘, gegen alles kulturell und ‚rassisch Minderwertige‘. Der ‚Krieg in der Nachkriegszeit‘ oder die ‚Präsenz des Krieges im Frieden‘, kurz: Krieg als Leitkategorie bestimmte also auch das psychiatrische Wissenssystem. Auch die Psychiater sollten ihren Platz im künftigen ‚wehrhaften Staat‘ ausfüllen, über spezifisches, auf ihre Tätigkeit abgestimmtes Wehrwissen verfügen und dieses Wissen zur Verfügung stellen. Es ging dabei nicht nur um ein eventuell ‚pathologisches Beiwerk‘ von Revolution und Demokratie; es ging vielmehr um eine grundsätzliche Pathologisierung derselben, um ihre Desavouierung als Ausgeburt einer Krankheit des Geistes. Diese Anordnungen, die im Phänomen des entgrenzten Krieges, im Komplex aus Niederlage und Versailler Vertrag wie auch in den Entwicklungstendenzen des zeitgenössischen Wissenschaftssystems angelegt waren, verdichteten sich im Lauf der 1920er-Jahre und manifestierten sich als „Wehrsyndrom“, das in den Bestrebungen „alter Eliten“, des Offizierskorps und des nationalen Lagers als Programm zur „Wehrhaftmachung“ seinen Ausdruck fand.39 Dabei scheint im psychiatrischen Diskurs ein Entwurf auf, der maßgeblich von medizinischer (männlicher) Expertise geprägt war und in dem sich zentrale Modernisierungsparadigmen und Ziele der Revolution – politische Partizipation, soziale Gleichstellung, Gleichberechtigung der Frau, ökonomische Mitbestimmung – nicht finden lassen. Vielmehr geht aus dem bisher Gesagten bereits hervor, dass sich die deutsche Psychiatrie nach 1918 für einen „seelischen Wiederaufbau des deutschen Volkes“ (Stransky) zur Verfügung stellte, der auch ideologisch geprägt war.40 So entstand nach dem Ersten Welt38 Nonne 1922, 112. 39 Reichherzer 2012, 103 ff. 40 Wir nutzen die Diskussion der „angewandten Psychiatrie“, um die Allianz von Wissenschaft und Po-

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krieg eine ganze Anzahl von Beiträgen, die sich auf grundsätzlicher Ebene (Weltanschauung der Masse), aber auch kasuistisch (revolutionäre Führer) mit den Wechselwirkungen gesellschaftlicher Umbrüche und individueller oder kollektiver seelischer Veränderungen, also mit psychiatrischen Aspekten politischer Zeitfragen beschäftigten.41 Ganz überwiegend urteilten die Psychiater dabei im Sinne einer Pathologisierung der kollektiven wie auch der einzelnen Akteure, manchmal sogar der „Weltanschauung“.42

Erwin Stransky So formulierte der Wiener Psychiater Erwin Stransky (1877–1962) mit seinem Modell einer „angewandten Psychiatrie“43 wohl eines der extremeren Programme für die Psychiatrie. Stransky war vehementer Verfechter eines ‚großdeutschen‘ Zusammenschlusses – wobei er betonte, dass seine Position nicht mit den Zielen der Alldeutschen zu verwechseln sei, denen Psychiater wie der Münchener Emil Kraepelin (1856–1926) nahestanden.44 Beide Richtungen begründeten ihre Anliegen zwar auch mit eugenischen Argumenten. Im Vergleich zu

41 42

43 44

litik anhand einer ideologisierten Auseinandersetzung in der Psychiatrie der 1920er-Jahre darzustellen. Dabei verstehen wir die Analyse des Programms und der Wirkung der „angewandten Psychiatrie“ als Beitrag zur Diskussion einer Verwissenschaftlichung der Politik und Politisierung der Wissenschaft, die zuletzt durch Beiträge von Mitchell G. Ash und Volker Roelcke wieder intensiviert wurde. Vgl. Ash 2010, Roelcke 2010. Vgl. etwa Brennecke 1921 für Hamburg, Kahn 1919 für München und Hildebrandt 1920 für Berlin. Vgl. hierzu die Kontroverse der Psychiater Erwin Wexberg (1889–1957) und Rudolf Allers (1883–1963) über die „Psychopathologie der Weltanschauung“. Während Allers aus individualpsychologischer Sicht argumentierte, „Psychopathologie und die Psychologie sind inkompetent, über Weltanschauungsfragen zu Gericht zu sitzen, und jede solche Grenzüberschreitung kann nur zu ihrem eigenen Schaden ausschlagen“, vertrat Wexberg – etwas spitzfindig – die Meinung, eine Psychopathologie der Weltanschauung käme als „Psychologie der weltanschaulichen Stellungnahme bei Psychopathen“ durchaus infrage. Allers 1925, 331 sowie Wexberg 1926, 322 und 1925. Stransky bezog sich unter anderem auf Kraepelin 1919, Kahn 1919 und Stelzner 1919. Kraepelin unterzeichnete 1917 den Gründungsaufruf der Deutschen Vaterlandspartei, der von Anhängern des Alldeutschen Verbandes getragen wurde. Vgl. Weber u. a. 2009, 34. Der 1886 gegründete Alldeutsche Verband stellte zunächst die Verteidigung deutscher Kolonialinteressen in den Mittelpunkt seines Wirkens. Ab den 1890er-Jahren sprach er sich für eine aggressive Expansions- und Annexionspolitik mit dem Ziel aus, in Europa, Afrika und dem Nahen Osten eine deutsche Hegemonialstellung zu erlangen. Die Mitgliederzahl stieg während des Krieges stark an. Nach Ende des Ersten Weltkrieges agierte der Alldeutsche Verband antirepublikanisch, propagierte völkische, rassische, antisemitische Ziele und forderte neben der „Wiedererrichtung eines starken deutschen Kaisertums“ nicht zuletzt auch die „Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich“. Vgl. die Satzung des Alldeutschen Verbandes vom 31.8.1919. Alldeutsche Blätter XXIX (1919), 310, zitiert nach http://www.polunbi.de/inst/ alldeutscher-verband.html (Stand 1.5.2015). Vgl. außerdem Hartwig 1983.

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den antirepublikanischen, offen rassistisch judenfeindlichen Positionen der Alldeutschen maß Stransky, selbst jüdischer Herkunft, diesen aber geringeres Gewicht bei.45 Sein psychiatrisches Konzept der „angewandten Psychiatrie“ spiegelt dennoch – nicht nur professionspolitisch – ein Expansionsstreben wider. „Angewandte Psychiatrie“ verstand er als intervenierende Wissenschaft, die nach seiner Einschätzung unter Zugrundelegung „eines gesunden ärztlichen Imperialismus“ geradezu die Pflicht habe,46 in das Zeitgeschehen einzugreifen. Dabei handele es sich letztlich, so Stransky, um „Kulturimperialismus“, mit dem der Arzt „ein gut Stück seiner Sendung als Menschheitserzieher“ erfülle.47 Ausdrücklich stellte er sich gegen eine „endopsychische und individuelle Eigenartskultur“ mit einer damit einhergehenden „Abblendung gegenüber den innen- und außenpolitischen Lebensbedingungen des deutschen Volkes“ und sprach sich für eine „exopsychische, soziale Ausdruckskultur“ aus, die allein in der Lage sei, echtes Nationalgefühl im Sinne einer „Selbstbehauptungstendenz“ zu gewährleisten.48

Arthur Kronfeld Es war diese, in Stranskys Programm offen zum Ausdruck gebrachte Forderung, die Psych­ iatrie habe aktiv, auch eugenisch, auf die angesprochene Homogenisierung des Volkes hinzuarbeiten, die seinen Berliner Fachkollegen Arthur Kronfeld (1886–1941) zu einer kritischen Entgegnung bewog. Bezogen auf die Gegenwartspolitik mahnte Kronfeld, die „angewandte Psychiatrie“ dürfe ebenso wenig wie die Psychiatrie an sich dem „Totschlag von Ideen“ dienen:49 „Die historische Bedeutung und der ethische und soziale Sinn der revolutionären Gegenwartsperiode ist nicht damit erschöpft, daß man sie psychiatrisch als eine psychische

45 In einem Appell für ein „Grossdeutschland“ erörterte Stransky 1919 die Frage, ob „Deutschösterreich“ aus Sicht österreichischer Ärzte den Anschluss an Deutschland wünschen sollte. Er bejahte dies mit der Begründung, dass unter standes- und wissenschaftspolitischen Gesichtspunkten die Vorteile überwiegen würden. Nach dem Vorbild der USA wünschte er sich eine Republik „Grossdeutschland“, in der „Deutschösterreich“ ein eigener Bundesstaat bliebe. Deutlich grenzte Stransky sich von der Partei der Alldeutschen ab: „Alles zu vermeiden, was auch nur den Verdacht der Wiederbelebung alldeutscher Agitation erwecken könnte – denn ‚alldeutsch‘ ist so wenig mit ‚großdeutsch‘ zu vergleichen wie Bagdad mit Wien, wie Meerherrschaftsgelüste mit der Verteidigung deutscher Alpenseen! –, ist heute mehr denn je gebieterische Pflicht. […] Auch die Richterin Geschichte hält sich an ‚Termine‘ und ‚Verfallsfristen‘ und anerkennt keine lendenlahmen Nachtragsentschuldigungen für ‚versäumte Gelegenheiten‘! Oder sollte diese bittere Lehre dem Deutschösterreicher fremd geblieben sein?“ (Stransky 1919, 3 f.) 46 Stransky 1921a und 1921b. 47 Stransky 1918, 35. 48 Stransky 1920, 276. 49 Kronfeld 1921, 367.

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Volkserkrankung hinstellt.“50 Stranskys Anspruch, die Psychiatrie zur Leitwissenschaft mit besonderen staatlichen Aufgaben aufzuwerten,51 wies er als verkürzt und unwissenschaftlich zurück: Hüten wir uns nur davor, den Rahmen und die Grenzen unserer im Kern ontologischen Disziplin unvorsichtig zu sprengen und in die Subjektivität der Normsetzungen und der Affekte hineinzugeraten. Hüten wir uns davor, an Stelle des psychopathologischen Studiums der Folge­ erscheinungen historischer oder sozialer Bewegungen und Ereignisse, das uns zukommt, die Wertung jener Bewegungen selber, ihrer Bedeutung und ihres Ideengehaltes zu setzen – womöglich gar unter Mißbrauch der ganz anders abgestellten Begriffe aus der ärztlichen Diagnostik.52

In direktem Bezug auf die Revolution konzedierte Kronfeld zwar, dass „es im Wesen revolutionärer Bewegungen und Ereignisse liegt, bei charakterologisch bestimmten Typen latente psychopathische Dispositionen und Mechanismen zu aktualisieren, und manifeste Psychopathien in großem Ausmaß zu soziologisch interessanten Auswirkungen hinzuleiten“.53 Wissenschaftlich verdiene dies zwar untersucht zu werden, doch forderte er darüber hinaus politische Neutralität: „Drängen wir uns auch nicht mit unserer Wissenschaft in eine Präceptorenrolle! Die Volksgemeinschaft, deren Pflegschaft wir uns in jener ‚angewandten‘ Psychiatrie ohne rechtliche Beglaubigung vindizieren, hat ihre Zustimmung nicht gegeben.“54 In deutlich sozialkritischer Weise verfuhr Kronfeld bei seinem Versuch, dem Begriff des Psychopathen das Stigma des notorisch Kriminellen zu nehmen. Bereits 1920 veröffentlichte er einen Aufsatz Über einen schweren Gewohnheitsverbrecher, der wieder sozial wurde.55 Darin beschrieb er den Fall eines vagabundierenden Psychopathen, der sich nach Jahrzehnten unsteten Lebens, das mit etlichen Gefängnisaufenthalten verbunden war, schließlich als Händler in einer Kleinstadt niederließ und dort sozial angepasst lebte. Mit diesem Fallbeispiel wollte er ausdrücklich Irrenärzte und Justizbeamte auf die ‚blinden Flecken‘ in der psychiatrischen Beurteilung von Kriminellen hinweisen.56 Kronfeld leitete aus diesem Beispiel allgemeine Schlüsse ab, nannte Bedingungen, die für den vorliegenden Typus des „phantastischen Psychopathen“ ein Abgleiten ins Kriminelle verhindern konnten. Demnach gehörte ein freieres Leben, wie es gerade die Großstadt ermöglichte, verbunden mit einer Arbeit, die eine flexible 50 51 52 53 54 55 56

Ebenda, 366. Vgl. Stransky 1918, bes. 37. Kronfeld 1921, 364. Ebenda, 365. Ebenda, 367. Kronfeld 1920/21. Ebenda, 163 f.

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Zeit- und Aufgabeneinteilung zuließ (beispielsweise als Hausierer), zu den wesentlichen Voraussetzungen, um sozial zu bleiben.57 Nicht nur mit der Beschreibung der Vorteile des Großstadtlebens schlug Kronfeld in diesem Aufsatz damit argumentativ eine Volte, auch die daraus abgeleiteten Forderungen nach weniger Kontrolle wichen von den üblichen psychiatrischen Empfehlungen sozialdisziplinierender Maßnahmen ab. Ganz anders als Stransky stand Kronfeld der Kulturkritik des Expressionismus nahe, die auf die entfremdeten Lebensbedingungen in der Großstadt und die fundamentale Desorganisation der Existenz im Krieg reagierte, indem sie konsequent bei der subjektiven Wahrnehmung des Einzelnen ansetzte und dieser – bürgerliche Normen sprengend – zum Ausdruck verhalf. Er stellte damit auch bezüglich der Organisation psychiatrischer Praxis die Bedürfnisse des durch Entwicklungen der Moderne versehrten Individuums in den Mittelpunkt: Es galt, den einzelnen Menschen, deformierende gesellschaftliche, soziale und Umwelteinflüsse einbeziehend, in seiner Persönlichkeit zu erfassen.58 Als philosophisch wie psychiatrisch geschulter Wissenschaftler gehörte Kronfeld in der Weimarer Republik damit einer „neuen Richtung“ an, die – die Perspektive erweiternd – psychiatrisches Handeln gemeinsam mit psychologischem Denken und psychotherapeutischer Behandlung als Bestandteile einer psychischen Heilkunde zu etablieren suchte.59 Das Umfeld, in dem er diesen Ansatz in Berlin verfolgte, war von „sozialistischen Ärzten“ geprägt, die mit den veränderten politischen Verhältnissen die Hoffnung verbanden, sozialreformerische Konzepte der Fürsorge umsetzen zu können, – und die sich dafür ab 1918 aktiv politisch engagierten.60 Kronfeld bekannte sich zu einer „Sozialisierung“ des Ärztestandes und warb mit einem Artikel in der Räte-Zeitung unter der Arbeiter57 Ebenda, 223. 58 In der Vorbemerkung zur Schrift Sozialtherapie und Psychotherapie in den Methoden der Fürsorge, die Kronfeld 1932 gemeinsam mit Siddy Wronsky (1883–1947) publizierte, heißt es: „Eine neue Entwicklung muß […] ihre Erkenntnisse aus den Lebensgesetzen des Menschen gewinnen und sich an dem Ziel der Freiheit und Selbständigkeit des Menschen im Rahmen der Gesellschaft orientieren. Diese Forderung nach Erkenntnis der Persönlichkeit des Hilfsbedürftigen, seiner sozialen Organe und ihrer Funktionsweisen wird von den Berufskreisen erhoben, die sich der Behandlung des Menschen widmen: den Ärzten, den Erziehern, den Fürsorgern.“ (Wronsky/Kronfeld 1932). 59 Vgl. Kittel 1988, 9 ff. 60 In Berlin hatte sich bereits 1913 der Sozialdemokratische Ärzteverein (SÄV) gegründet – ein organisatorisch parteiunabhängiger Zusammenschluss sozialdemokratischer Ärzte, dessen Aktionsradius sich bis zu seiner Auflösung 1926 beziehungsweise dem Übertritt einer Mehrzahl der Ärzte in den Verein Sozialistischer Ärzte (VSÄ) weitgehend auf Berlin beschränkte. Gegründet von Ignaz Zadek (1858– 1931) – ein Schwager von Eduard Bernstein –, dem Psychiater und Mitbegründer des Berliner Psychoanalytischen Instituts Ernst Simmel (1882–1947) sowie Karl Kollwitz (1863–1940), stand dieser Verein in seiner Anfangszeit programmatisch dem revisionistischen Flügel der SPD nahe. Neben Kronfeld engagierten sich auch Magnus Hirschfeld (1868–1935), Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, sowie Alfred Grotjahn (1869–1931) in diesem Verein. Vgl. Hubenstorf 1989, bes. 202 ff.

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schaft für eine differenzierte Bewertung der Ärzte im Konflikt mit den Krankenkassen.61 Als sozialistischer Arzt saß er in dieser Auseinandersetzung, die 1923 in einem zweiten ‚Ärztestreik‘ (nach einem ersten 1913) gipfelte, zwischen allen Stühlen. Arbeiter beurteilten Ärzte oftmals als Handlanger kapitalistischer Unternehmer, während die Mehrheit der im Leipziger Verband organisierten Ärzte in der „Sozialisierung“ eine fundamentale Bedrohung für den ärztlichen Berufsstand, ihren ärztlichen Status als „Künstler“ und die „freie Arztwahl“ sah.62 So klar Kronfeld seine Kritik an Stransky formulierte, so deutlich lassen sich auch deren Grenzen benennen: Er wandte sich zwar gegen das expansionistische, staatstragend-instrumentalisierende und autoritäre Vorgehen einer „angewandten Psychiatrie“. Gleichzeitig anerkannte er es aber als „im Wesen revolutionärer Bewegungen“ liegend, dass sich Psychopathen bestimmter Charaktertypen „in großem Ausmaß“ an der Revolution beteiligten.63 Kronfeld akzeptierte damit trotz aller Kritik eine pathologisierende Argumentation.64 Dies mag auch an der äußerst dehnbaren Verwendung des Begriffes des „Psychopathen“ gelegen haben, auf die ein Gutachten des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld (1869–1935) zur Verteidigung eines Revolutionärs verweist.

Magnus Hirschfeld Bei dem Angeklagten handelte es sich um den schweizerischen Schriftsteller Adrien Turel (1890–1957),65 der im Februar 1919 wegen der Beteiligung an spartakistischen Unruhen in Berlin vor Gericht stand. Das Berliner Tageblatt berichtete: 61 Kronfeld 1919. 62 Ebenda. 63 Kronfeld 1921, 364. 64 Ingo-Wolfgang Kittel verweist in diesem Zusammenhang auf Kronfelds Verwendung des Begriffs der Degeneration. Zwar habe Kronfeld sich gegen degradierende Urteile in der Psychiatrie gewehrt, jedoch sei er dem eigenen Anspruch auch nicht konsequent gerecht geworden, wenn er beispielsweise den Degenerationsbegriff selbst verwendete. Vgl. Kittel 2009, 400. 65 Adrien Turel war Essayist, Lyriker, Erzähler, Philosoph und Psychoanalytiker deutsch-schweizer Herkunft. Er kam 1917 durch Magnus Hirschfeld und Heinrich Körber (1861–1927) mit der Psychoanalyse in Berührung, der er sich fortan engagiert widmete. Seit dem Debüt mit dem expressionistisch beeinflussten Lyrikband Es nahet gen den Tag (1918) entwickelte er allmählich eine eigene „,Weltlehre‘, die naturwissenschaftliche, astronomische, psychologische und anthropologische Elemente miteinander verschmolz und in der Theorie vom ‚vierdimensionalen Menschen‘ gipfelte, der mit den Mitteln des atomaren ‚Ultratechnoikums‘ ein neues, paradiesisches Kapitel der Menschheit herbeiführen sollte.“ (Linsmayer 1991) In seiner Autobiographie schildert Turel distanziert-ironisch seine Teilnahme an der Besetzung des Mosse-Hauses im Berliner Zeitungsviertel 1919 sowie den anschließenden Gefängnisaufenthalt und sein Verfahren vor Gericht. Dass er an den Folgen einer Kinderlähmung litt und zeitlebens rechtsseitig stark eingeschränkt war, trug demnach möglicherweise zu einem milderen Urteil des Gerichts bei. Vgl. Turel 1956, 217–235.

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Der Sachverständige, Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, bekundete, daß der Angeklagte Turel, dessen Vater im Verfolgungswahn Selbstmord begangen habe, eine schwer neuropsychopathische Konstitution auf Grund erblicher Belastung besitze; unter normalen Verhältnissen müsse seine Zurechnungsfähigkeit bejaht werden, dagegen seien in ungewöhnlicher Zeit in hochgespannter Erregung Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit geltend zu machen.66

Das Gericht hielt Turel zwar letztlich für zurechnungsfähig, doch berücksichtigte der Richter in seinem Urteil das Gutachten und stellte fest, „daß der Angeklagte nicht das Bewußtsein hatte, sich strafbar zu machen“. Turel wurde freigesprochen.67 Der Fall ist insofern bemerkenswert, als das Gutachten durchaus im Einklang mit den Ausführungen von Psychiatern wie Eugen Kahn (1887–1973) stand, der in seinem 1919 erschienenen Artikel über Psychopathen als revolutionäre Führer68 Münchener Räterevolutionäre wie Ernst Toller (1893–1939) und Erich Mühsam (1878–1934) denunziatorisch als psychopathische Persönlichkeiten beschrieb und dabei ebenfalls auf Gerichtsgutachten zurückgriff. Die gängige Bezeichnung der „psychopathischen Konstitution“, verstärkt durch eine „erbliche Belastung“, die in Rentengutachten für Kriegsneurotiker bereits erprobt war, fand hier wie da bruchlos Anwendung.69 Während Kahn es aber seinem Lehrer Kraepelin wie auch der Münchener Staatsanwaltschaft gleichtat,70 indem er mit seinem Artikel Revolutionäre und Revolution gleichermaßen zu delegitimieren suchte, ging es Hirschfeld darum, mithilfe seines Gutachtens einen Freispruch für Turel zu erwirken. Kahn pathologisierte für die restaurative Anklage, Hirschfeld für die Verteidigung des Revolutionärs.

Eugen Kahn Jenseits strategischer Überlegungen und forensischer Praxis vor Gericht, die sicherlich eine Rolle spielten, lassen sich hier auch unterschiedliche Perspektiven auf das Zeitgeschehen ablesen. Dabei sind spezifische revolutionäre Ereignisse und damit verbundene Erfahrungen zu 66 Spartacus vor Gericht. Kommunistische Schwärmer auf der Anklagebank. Berliner Tageblatt vom 21.2.1919. Leider sind zu diesem Fall weder das psychiatrische Gutachten noch Prozessakten überliefert. 67 Ebenda. 68 Kahn 1919. 69 Ausführlich hierzu vgl. auch Freis 2013, 50–53. 70 Das mithilfe einer pathologisierenden Argumentation ganz auf Delegitimierung der Räterevolutionäre gerichtete Plädoyer des Oberstaatsanwalts Hoffmann im Münchener „Geiselmord-Prozess“ und weitere Dokumente und Vernehmungen der Angeklagten Ernst Toller und Eugen Leviné (1883–1919) vor dem Standgericht München 1919 sind abgedruckt in Kreiler 1978, 77–124.

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berücksichtigen: Magnus Hirschfeld befand sich 1919 in Berlin, Eugen Kahn in München. In Berlin behielten auch in der Zeit der Straßenkämpfe jene Kräfte politisch die Oberhand, die für Kontinuität und eine evolutionäre Veränderung der Gesellschaftsordnung standen. In München dagegen schienen während der kurzen Phase der Räteregierung grundlegende Veränderungen Realität zu werden. Mit der Verwirklichung einer kommunistischen Staatsordnung, gar einem Sieg des ‚Bolschewismus‘ in Bayern, standen bürgerliche Ideale, Eigentum wie auch Vorstellungen der sozialen Ordnung grundlegend infrage. Anders als in Berlin verunsicherte dies nicht nur Münchens Bürgerinnen und Bürger, sie fühlten sich existenziell bedroht. Selbst Thomas Mann (1875–1955), der die Revolution 1918 begrüßt hatte,71 hielt nach der Niederschlagung der Räteregierung in München in seinem Tagebuch fest: Die Münchner kommunistische Episode ist vorüber; es wird wenig Lust vorhanden sein, sie zu erneuern. Eines Gefühls der Befreiung und Erheiterung entschlage auch ich mich nicht. Der Druck war abscheulich. Hoffentlich wird man der gewissenlosen ‚Massen‘-Helden, die auch die verbrecherische Rammeldummheit des Geiselmordes auf dem Gewissen haben, habhaft und hält exemplarisches Gericht.72

Besonders in Hinblick auf die sogenannten Geiselmorde, die Erschießung zweier ‚Weißgardisten‘, von sieben Mitgliedern der antirepublikanischen Thule-Gesellschaft und eines Unbeteiligten, beurteilte er die Räteregierung als „wüste Narrenwirtschaft“ und „greuliche Farce“ – und beschrieb damit eine in weiten Teilen der Münchener Bürgerschaft verbreitete Stimmung.73

71 „Ich bin durchaus versöhnlich und positiv gestimmt gegen die großdeutsche soziale Republik Deutschland, die sich zu bilden scheint. Sie ist etwas Neues, auf der deutschen Linie Liegendes, und das Positive in der Niederlage ist, daß durch diese Niederlage Deutschland in der politischen Entwicklung an die Spitze kommt: die soziale Republik ist etwas über die Bourgeois-Republik u. Plutokratie des Westens hinaus und hinweg Gehendes, zum ersten Male wird Frankreich Deutschland politisch nachzufolgen haben.“ (Mann 1979, 73 f., Eintrag vom 12.11.1918) 72 Ebenda, 219, Eintrag vom 1.5.1919. 73 „Er gab Détails über den Geiselmord. Es war von Münchens untilgbarer Blamage die Rede, das sich die wüste Narrenwirtschaft so lange stumpfsinnig gefallen ließ. Es ist das Ineinander von bodenständiger ‚Gemütlichkeit‘ und kolonialem Literatur-Radikalismus, wodurch die greuliche Farce möglich wurde.“ (Ebenda, 226, Eintrag vom 4.5.1919) Ausgespart blieb bei dieser Betrachtung die große Brutalität, mit der Regierungstruppen und Republikgegner bei der Niederschlagung der Räteregierung zwischen dem 1. und 6. Mai 1919 vorgingen. Standrechtliche Erschießungen von Rotarmisten und wilde Morde führten zu hunderten Toten. Aus Augenzeugenperspektive vgl. hierzu Kapfer/Reichert 1988, 182–193.

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Felix Boenheim Kahns Zuschreibung, revolutionäre Führer der Rätebewegung in München seien Psychopathen, mag vor diesem Hintergrund erklärbar sein – und traf unter Fachkollegen auf breite Zustimmung.74 Doch provozierte sie ebenfalls – und wenigstens ein Beitrag dokumentiert dies – Kritik. Der Arzt und Revolutionär Felix Boenheim (1890–1960) setzte sich für das Ansehen der gescholtenen Räterevolutionäre ein. Boenheim, Berliner Kaufmannssohn und Neffe des Sozialdemokraten Hugo Haase (1863–1919), stand der USPD nahe und beteiligte sich im Februar 1919 selbst an einem spartakistischen Aufstand in Nürnberg. Für die Münchener Räterepublik war er danach als Kulturbeauftragter tätig und erarbeitete zusammen mit dem Anarchisten Gustav Landauer (1870–1919) ein Kulturprogramm.75 Nicht allein der bereits erwähnte Beitrag Eugen Kahns, sondern auch vergleichbare Artikel von Helenefriederike Stelzner (1861–1937)76 und dem Erlanger Psychiater Gustav Kolb (1870–1938), die unmittelbar nach der Niederschlagung der Räterepublik erschienen, veranlassten Boenheim, eine Replik zu verfassen.77 Unter dem Pseudonym Fidelis platzierte er seine Antwort in der expressionistischen Zeitschrift Das Forum.78 Darin stellte er aus seiner Perspektive zunächst einige Falschdarstellungen richtig: Der Oberkommandierende der Roten Armee in München, Rudolf Egelhofer (1896–1919), sei bei seiner Gefangennahme nicht „auf der Flucht erschossen“, sondern brutal erschlagen worden. Der attestierten „mäßigen Intelligenz“ stellte Boenheim Egelhofers „Klugheit“ entgegen. Der Beitrag lässt sich als Versuch lesen, die persönliche Integrität der Revolutionäre, namentlich auch Kurt Eisners (1867–1919) und Ernst Tollers, gegen die Delegitimierung seitens der Psychiatrie zu verteidigen. Darüber hinaus griff Boenheim Kahn in ironischer Weise in seiner Gutachterrolle an:

74 Zur Bereitschaft, die Revolutionäre zu pathologisieren, mag nicht zuletzt beigetragen haben, dass der erste Außenminister der Räterepublik, der Journalist Franz Lipp (geb. 1855), durch skurriles Handeln auffiel, sich als psychisch krank erwies und in eine Anstalt eingewiesen wurde. Vgl. Karl 2008, 189, Zorn 1986, 208 f. 75 Vgl. Ruprecht 1992, außerdem Fidelis (i. e. Felix Boenheim) 1919/20b. 76 Helenefriederike Stelzner zählte zu den ersten Absolventinnen eines Medizinstudiums in Deutschland. 1903/04 arbeitete sie als Volontärärztin an der Psychiatrischen Klinik der Charité Berlin. 1905 war sie Schulärztin in Charlottenburg. Sie befasste sich intensiv mit Fragen der Jugendfürsorge und dem Umgang mit „abnormalen Kindern“. Vgl. die Dokumentation Ärztinnen im Kaiserreich: Stelzner, Helenefriederike https://geschichte.charite.de/aeik/ beziehungsweise https://geschichte.charite. de/aeik/liste.php (Stand 15.7.2017). 77 Stelzner 1919, Kolb 1919. 78 Fidelis (i. e. Felix Boenheim) 1919/20a. Vgl. auch Ruprecht 1992, 98.

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Herr Kahn ist ein exakter, gewissenhafter Wissenschaftler und deshalb vergisst er nicht ‚einen alten Schizophrenen‘ zu erwähnen, der mehrere Tage der roten Armee angehörte und somit die ethische Inferiorität der Armee beweist. Allen Revolutionsführern gemein ist im allgemeinen der ‚intellektuelle Tiefstand, primitive, ungehemmte Affektivität, blinde Triebhaftigkeit‘. [...] Psychiatrisch diese Männer werten kann wohl nur die Leichtfertigkeit eines ganz von bürgerlichen Vorstellungen abhängigen ‚Forschers‘. An ihrem Grabe mögen die leertönenden Worte des Pseudowissenschaftlers schweigen, der sich selbst als Schützer der Gesellschaft bezeichnet und der Prototyp des Arztes ist, wie er nicht sein soll.79

Seine Kritik spitzte er weiter zu, indem er, und dies zeichnet Boenheim als aufmerksamen Leser der Fachliteratur aus, seinen Artikel mit einer Bezugnahme auf eine psychiatriekritische Debatte aus dem Jahr 1918 einleitete. In kurzer Folge waren in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie drei Artikel erschienen, die zu Heinrich Manns (1871–1950) Die Armen (1917) Stellung genommen hatten. Mann hatte in seinem Buch einen – letztlich korrupten – Medizinalrat beschrieben, der sich mit seiner psychiatrischen Expertise den machtpolitischen Interessen eines Fabrikbesitzers andient, auf dessen Wunsch einen Arbeiter für krank erklärt und in ein Irrenhaus einweist. Die Bereitschaft, sich von den Herrschenden instrumentalisieren zu lassen, verbindet sich dabei mit der Missachtung des Arbeiters beziehungsweise des sozialen Status der Arbeiterschicht insgesamt.80 Diese bei Mann vorgebrachte Kritik an der Psychiatrie sah Boenheim in Kahns Artikel bestätigt: Als Heinrich Mann vor einigen Jahren in seinem Roman ‚Die Armen‘ ein unerfreuliches Bild von den Psychiatern zeichnete, beklagten sich nicht wenige in den Fachzeitschriften über seine lieblose Darstellung. Es verletzte sie; sie waren in ihrer Eitelkeit gekränkt, dass die Führer der Modernen (Heinrich Mann ist ja nur einer von vielen) in den Psychiatern, den ‚Seelenärzten‘, nur willige Werkzeuge der herrschenden Gesellschaftsordnung sehen. Im letzten Heft der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie [...] schreibt ein Herr Dr. Eugen Kahn aus Kräpelins (sic!) psychiatrischer Klinik in München über Psychopathen als revolutionäre Führer, als ob er den Haß gegen die Psychiater als berechtigt erweisen wollte.81

Trotz dieser Kritik pathologisierte allerdings auch Boenheim:

79 Fidelis (i. e. Felix Boenheim) 1919/20a, 189. 80 Haymann 1918, Mayer 1919, Eskuchen 1919. Ausführlich zu dieser Debatte vgl. Schmiedebach 2006. 81 Fidelis (i. e. Felix Boenheim) 1919/20a, 187.

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Auch ich glaube, dass Ernst Toller ein Psychopath ist. Aber was will denn das besagen? Herr Kahn, als Fachmann, könnte doch wissen, dass man endlich auch in psychiatrischen Kreisen so weit ist, einzusehen, dass das Wort ‚Psychopath‘ nicht ein Werturteil ist. Der Meister der Neurologie, der jüngst verstorbene Berliner Oppenheim, hat zweifellos recht, wenn er betont, dass hohe geistige Begabung und normale Entwicklung der ethischen Eigenschaften mit psychopathischer Grundlage wohl vereinbar sind. Ja, es gibt sogar eine Höherwertigkeit, die ihre Wurzel in der Psychopathie hat. Solche psychopathischen Personen können Gipfel der kulturellen und geistigen Entwicklung darstellen. Ich erinnere an Kleist oder Schopenhauer.82

Zwei Aspekte sind an diesem Beitrag bemerkenswert: Zum einen wies auch Boenheim – wie Kronfeld – bei aller Kritik an der Vorgehensweise der Autoren die Diagnose „Psychopath“ nicht grundsätzlich zurück. Zum anderen stellte er einen politischen Zusammenhang zu einer Psychiatriekritik her, die sich mit der sozialen Frage befasste und die Rechtlosigkeit von AnstaltspatientInnen und fachärztliche Willkür beklagte. Beides weist auf eine durch den Expressionismus geprägte Gedankenwelt hin, die eine alternative Deutung der Geisteskrankheit allgemein – und damit auch des „Psychopathen“ – vornahm. Die Figur des Wahnsinnigen bildete im Expressionismus den schärfsten Gegensatz zur „Normalität des verhassten Bürgers“. Der Wahnsinn diente als „Gegenbild zu bürgerlichen Tugenden wie Selbstdisziplin, Arbeitsfreude, Ordnung, soziale Anpassungsfähigkeit, Pflichtbewusstsein, Affektkontrolle“.83 Die Identifikation mit Wahnsinnigen – wie mit Außenseitern allgemein – und die Umwertung des Wahnsinns, der mit Kreativität, Triebunmittelbarkeit, Phantasie, Menschlichkeit, aber auch mit den Erfahrungen von Gespaltenheit, Leiden und Entfremdung verbunden wurde, gehörten zu den wichtigen Provokations- und Stilmitteln expressionistischer Sozialund Gesellschaftskritik. In seiner 1910 erschienenen und vielbeachteten Erzählung Die Ermordung einer Butterblume ließ Alfred Döblin (1878–1957) beispielsweise einen disziplinierten bürgerlichen Spaziergänger nach einem plötzlichen Anfall von Wahnsinn Gefühle von Reue, Schuld und Mitgefühl zeigen.84 Auch Heinrich Manns Roman Die Armen ist hier einzuordnen. Der im bürgerlichen Zwangssystem der Anstalt untergebrachte, von einem autoritätshörigen Arzt bewachte und für irre erklärte Arbeiter versinnbildlicht entsprechend dieser Lesart die Unterdrückung der Individualität gesellschaftlich Unangepasster und sozial Diffamierter.85 Thomas Anz interpretiert den Expressionismus in diesem Sinne als „Gegenbewegung zu jener Tradition administrativer Ausgrenzung der Unvernunft, die Michel Foucault in seiner 82 83 84 85

Ebenda, 188. Vgl. Anz 2002, 83. Döblin 1913. Vgl. Anz 2002, 83. Vgl. Schmiedebach 2006.

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Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [...] und nach ihm ähnlich der Psychiater und Historiker Klaus Dörner in einer Sozial- und Wissenschaftsgeschichte der Psychiatrie mit dem bezeichnenden Titel Bürger und Irre [...] beschrieben hat“.86 Die expressionistische Auseinandersetzung mit Geisteskrankheit erschöpfte sich nicht in der instrumentellen Anwendung einer Wahnsinnsrhetorik. Im Kontext des Diskurses um ‚Genie und Wahnsinn‘ schienen verehrte Persönlichkeiten wie Friedrich Nietzsche (1844– 1900) die empirische Bestätigung zu erbringen, dass normensprengender Wahnsinn befreiend wirken und neues Denken befördern, wenn nicht gar hervorbringen konnte.87 Der Publizist und spätere Verleger Wieland Herzfelde (1896–1988) forderte dementsprechend bereits 1914 in seinem Aufsatz Die Ethik des Geisteskranken die gesellschaftliche Anerkennung des Verhaltens von Geisteskranken als individuell zulässige und wertvolle Lebensweise eigenständiger Persönlichkeiten.88 Vor diesem Hintergrund erhalten die Bemerkungen Boenheims und Kronfelds zum Thema psychopathischer Revolutionäre eine neue Dimension. Ein wesentliches Anliegen bestand darin, die professionelle psychiatrische Sicht zu verändern und zu erweitern, ohne die Psychiatrie als medizinische Disziplin deshalb gänzlich infrage zu stellen. Explizit warben Psychiater um Verständnis für ihr Fach, so beispielsweise Ernst Jolowicz (1882–1958) mit seinem Aufsatz Expressionismus und Psychiatrie.89 Psychiater wie Kronfeld arbeiteten sich demnach fachintern an Begriff und Wertung des „Psychopathen“ ab und diskutierten die Grenzen der eigenen Disziplin, nicht zuletzt, um eine stärker dem einzelnen Menschen zugewandte Psychiatrie zu praktizieren und einen Wandel des Selbstverständnisses der Psychiatrie aus sich selbst heraus anzustoßen. Sie plädierten für eine Öffnung gegenüber neuen Verfahren der Therapie und suchten neue Formen des 86 Anz 2002, 83 f. 87 Vgl. Ebenda, 85 f. 88 Vgl. Herzfelde 1914. Herzfelde in einem Schreiben vom 21.12.1913 an den Verleger des Aufsatzes: „Ich weiß, daß das Thema, wie ich es auffasse, weder mit Wissenschaft noch mit Kunst unmittelbar etwas zu tun hat. Ich möchte es sozial nennen, denn es handelt von den Lebensverhältnissen eines Teiles der Menschheit. Es ist meiner Ansicht nach nicht nur wichtig, wie diese sind, sondern auch, wie sie gewertet werden. [...] Es wäre ein Fortschritt unserer Kultur, wenn wir uns den Wahnsinn weniger schrecklich und mehr unfassbar vorzustellen lernten. Es wäre außer einer Verfeinerung unserer Ethik eine Erleichterung des sozialen Gewissens. Man käme sich nicht mehr halb gebrandmarkt vor, wenn in der Familie ein Geisteskranker ist, man würde nicht mehr so viele Menschen Nietzsche geringschätzen hören, weil er geisteskrank war, man würde nicht mehr das Betreten eines Irrenhauses scheuen, man würde Kinder geisteskranker Eltern nicht mehr belügen oder zu beschämen brauchen, wir hätten wieder ein Stück der Welt entdeckt, wenn wir die Angst vor ihm verlieren würden. Dies ist das Wesentlichste, was ich zum Wert der Arbeit sagen könnte.“ (Hervorhebungen im Original) Zitiert nach Anz/Stark 1986, 186. Vgl. auch Anz 2002, 87. 89 Vgl. Jolowicz 1920. Ernst Jolowicz war Psychiater; er emigrierte nach 1933 in die USA. https://archive. org/details/ernstjolowicz (Stand 15.5.215).

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Umgangs mit PatientInnen. Alfred Döblin, der als Psychiater auch psychoanalytisch arbeitete, „demokratisierte“ beispielsweise bewusst seine Praxis, indem er Zeichen ärztlicher Distinktion vermied, sich mit seinen PatientInnen an einen Tisch setzte, mit ihnen auf Augenhöhe sprach und sich um Verständlichkeit (Deutsch statt Lateinisch) bemühte.90 Auch der engagierte anarchistische Revolutionär und zeitweilige Mitarbeiter Kraepelins in München, Otto Gross (1877–1920), der gleichzeitig zu den schillerndsten Persönlichkeiten unter den frühen Vertretern der Psychoanalyse zählte, maß der Psychoanalyse große Bedeutung für die Entstehung des ‚neuen‘ Menschen bei. Revolution beschrieb für Gross nicht allein ein aktuelles Phänomen, sondern einen Prozess der Selbstbefreiung, der, als Bewegung vieler gedacht, zu fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen beitragen sollte. Eine solche affirmative Bewertung des Revolutionären teilte Gross mit anderen Anhängern der Psychoanalyse. Sie prägte konkrete Erwartungen an das revolutionäre Geschehen nach dem Ersten Weltkrieg. In besonderer Weise ausformuliert, lässt sich dies bei dem Wiener Arzt und Psychoanalytiker Paul Federn (1871–1950) wiederfinden, der 1919 die Schrift Zur Psychologie der Revolution: Die Vaterlose Gesellschaft verfasste.91 An die Stelle der Unterordnung unter einen Herrscher sollte hier die gleichberechtigte Teilhabe an einer bruderschaftlichen Gemeinschaft treten. Die Selbstorganisation der revolutionären Räte 1919 bewertete Federn diesbezüglich ausdrücklich als eine ermutigende Entwicklung. Die neue Staatsordnung der Republik sollte die gegenseitige Anerkennung von Bruder und Bruder als gleichgestellte Individuen gewährleisten. Sie stellte damit eine erstrebenswerte Staats- und Gesellschaftsordnung dar, die keinen autoritären „Vater“, also keinen herrschenden und Orientierung gebenden „Führer“ mehr benötigte. Daher sprach Federn von einer „vaterlosen Gesellschaft“. Gleichwohl spielten einzelne „hervorragende Männer“ weiterhin eine große Rolle. Charakteristisch für die Republik aber sei, so Federn, dass sich die Bedürfnisse nach einer Vatergestalt nicht auf „denselben gemeinsamen Vater andauernd vereinigen“. Anders als Kraepelin, Oppenheim oder Bonhoeffer (1868–1948) gingen Gross und Federn mithin davon aus, dass die kaiserzeitliche Ordnung zu Unfreiheit, Leid und Deformation des Einzelnen geführt habe. Demnach war nicht die ‚Volksseele‘ durch äußere Faktoren wie Krieg und Hunger geschwächt und die Revolution ein daraus resultierender Anfall von Krankheit, den es zu überstehen galt. Vielmehr führte in dieser Deutung der Zusammenbruch der autoritären Ordnung infolge von Krieg und Hunger – und entsprechend die psychische Struktur des Einzelnen – die immanente Schwäche der spezifischen Ordnungsstruktur vor Augen. Zu ihrer Überwindung schien die Revolution nicht nur kulturhistorische Notwendigkeit, sondern auch wünschenswerte Entwicklung und Chance auf eine bessere Zukunft. Während der 90 Vgl. Fuechtner 2011, 25. 91 Federn 1919.

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Psychiater Hugo Marx die Streiks der Arbeiter als Ausdruck von „Schwachsinn“ deutete, als „wirklichkeitsfremd[e]“ „Arbeits- oder besser Nichtarbeitspolitik und -Taktik der Massen“, die verkannten, „dass ein asiatischer Sozialismus die komplizierte deutsche Wirtschaftsmaschine mit Gewissheit zerstören muss“, bestand Federn darauf, dass sich die „zerstörenden Tendenzen“ der Streiks „nicht mit Gewissenlosigkeit des Einzelnen und nicht mit bolschewistischem Einfluß“ erklären ließen.92 Aufgrund seiner psychoanalytischen Deutungen konnte er vielmehr feststellen, dass die Ursachen in einer „Massenseele“ lagen, die, weil ihr die autoritäre Führung und der äußere Zwang des Staates durch Militär und Polizei plötzlich abhandengekommen waren, ihr „seelisches Gleichgewicht“, ihren „inneren Halt“ verloren, gleichzeitig aber ihre „knechtische Denkart“ noch nicht überwunden hatte.93

Schluss Die gegenläufig argumentierenden gesellschaftspolitischen Deutungen von Psychiatern und Psychoanalytikern, fanden entlang der Begriffe Volks- und Massenseele, Persönlichkeit (Führerpersönlichkeit) und Individuum statt.94 Der grundlegende Unterschied zwischen psychiatrischen und psychoanalytischen Erklärungen der Revolution (und die eigentliche Provokation seitens der Psychoanalyse) lässt sich tatsächlich an den unterschiedlichen Bewertungen von Gesundheit festmachen. Federn ging mit Bezugnahme auf Sigmund Freuds (1856-1939) Traumlehre davon aus, dass auch in einer gesunden Seele „uralte Denkformen“ unbewusst schlummerten, die bei „Wilden“ wie in den Phantasien von Neurotikern gleichermaßen zutage treten könnten. Diese Denkformen verwiesen auf „Vorgänge in der Urgeschichte der Menschheit“, die „in Sitten, Religion und Kunst ihren Ausdruck fanden und [...] dauerndes, erbliches Eigentum der Massenseele wurden. Diese in der Stammesgeschichte erworbenen Charaktere und seelischen Bildungen sind dem normalen Kulturmenschen völlig unbewußt“.95 92 Vgl. Ebenda, 5 und Marx 1919. 93 Federn 1919, 6. 94 Als gemeinsamer Nenner der Ansätze und Krisenszenarien aller genannten Autoren lässt sich eine Erwartung an die Politik festhalten – die, wie Thomas Mergel schreibt, die meisten Deutschen über die politische Lager hinweg verband – „Gemeinschaft herzustellen“, für „Harmonie“ zu sorgen und die bestehende gesellschaftliche „Uneinigkeit“ zu überwinden. Dazu sollte die Person eines Führers beitragen, der verschiedene Merkmale erfüllte: Er sollte ein Mann sein, der, aus kleinen Verhältnissen stammend, militärische Eigenschaften mitbrachte, sich in schwierigen Situationen bewährt hatte und günstige Gelegenheiten zu ergreifen wusste. Er sollte über Parteigrenzen hinaus Massen bewegen können, risikofreudig unverhoffte und überraschende Initiativen ergreifen und schließlich über eindrückliche körperliche Merkmale verfügen. Mergel 2005, 97 f. und 110. 95 Vgl. Federn 1919, 19 f.

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Die seelische Gesundheit der gesamten Gesellschaft wurde damit nicht nur in Bezug auf die Ausnahmesituation Revolution, sondern auf die historische Entwicklung von ‚Normalität‘ konsequent relativiert. Der Begriff der Masse wandelte sich beim Sozialdemokraten Federn zu dem einer Schicksalsgemeinschaft gleichartig deformierter beziehungsweise psychisch strukturierter Individuen. Federns Schrift lieferte damit einen Gegenentwurf zu dem unter Psychiatern – aber auch bei Freud in seiner wenig später veröffentlichten Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) – beibehaltenen populären Bild einer leicht lenkbaren, unkritischen Masse, von der sich das kulturell wertvolle Individuum abheben konnte.96 Damit ergibt sich insgesamt ein widersprüchliches und vielschichtiges Bild der Wahrnehmung von Umbruch und Revolution. Insbesondere in Berlin hatten sich engagierte Psychiater zusammengefunden, die als überfällig empfundene gesellschaftspolitische Veränderungen auch für ihre Disziplin, die Psychiatrie, einforderten. Der Verachtung, mit der Revolutionäre pathologisiert wurden, steht eine ebenso pathologisierende Bewunderung gegenüber. Die Forderung, der Psychiatrie staatspolitisch zu größerem Einfluss zu verhelfen, traf auf den sozialkritischen Anspruch, gewissermaßen ‚von unten‘, ausgehend von einer größeren Wertschätzung der psychisch Kranken und mithilfe wirksamer und stärker an individuelle Bedürfnisse angepasster Methoden der Therapie, der Psychiatrie in der neuen Gesellschaftsordnung Aufgaben und Akzeptanz zu sichern. Bezogen auf den Ausgangspunkt unserer Darstellung ließe sich zuspitzen, dass nicht die Revolutionäre zu pathologisieren, sondern Geisteskranke zu ‚normalisieren‘ wären. Das darin liegende Potenzial einer Entgrenzung, sogar einer Auflösung der Psychiatrie als medizinischer Disziplin stellte für die Vertreter einer traditionellen Psychiatrie eine Gefahr dar, der sie ihrerseits mit einer Zuschreibung neuer und bedeutender Aufgaben vor dem Hintergrund vermeintlicher Erfordernisse in schwerer Zeit zu begegnen suchten.

Literatur Allers, Rudolf: Zur Frage nach einer Psychopathologie der Weltanschauungen. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 100 (1925), 323–331. Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 2002. Anz, Thomas und Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Mit Einleitungen und Kommentaren. Stuttgart 1982. Ash, Mitchell G.: Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 11–46.

96 Vgl. Ebenda. 20. Sigmund Freud beschrieb das Verhältnis von Masse und Führer zwei Jahre später weniger optimistisch. Er betonte – mit ausführlicher Bezugnahme auf Le Bons Schrift über die Psychologie der Massen – die Abhängigkeit der Masse von einem Führer. Freud 1921, vgl. auch Shaked 1994, 99.

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Gabriele Dietze

Queering Jewish Self-Hate. Affektstörung und Maskulinität in wilhelminischen Kulturkriegen

Geistiger Haß. Dieses Affekts teilhaftig zu sein, genau wie der geistigen Liebe, habe ich nie geleugnet. Kurt Hiller

Vorrede Hass ist ein starker Affekt. Er setzt Energie frei, verleiht Flügel. Besonders, wenn er lange zurückgehalten und unterdrückt wurde und dann erleichtert losgelassen werden kann. Und Hass verbindet, denn er richtet sich auf etwas, auf jemanden. Ein Hass-Sender erhofft, dass die ausgesandte Energie beim Hass-Empfänger den maximalen Schaden anrichtet, dass sein/ ihr Hass einschlägt wie ein Projektil. Anlässlich der Eulenburg-Prozesse, die auf einer Denunziation Maximilian Hardens (1861–1927) der angeblichen Homosexualität der kaiserlichen Entourage beruhten, grenzte sich Karl Kraus (1874–1936) von seinem früheren Freund scharf ab und schrieb in Maximilian Harden. Eine Erledigung: Ich trage einen Haß unter dem Herzen und warte fiebernd auf die Gelegenheit, ihn auszutragen. Es gibt Gelegenheiten, die zu klein, und solche, die zu groß sind. Die da ist zu groß. Sie ist größer als der Haß und ich empfange, wo ich niederkommen sollte. Der Fall Harden-Moltke verstellt mir die Aussicht auf den Fall Harden. Nicht Wanzen zu töten, aber den Glauben an die Nützlichkeit der Wanzen zu vertilgen ist meine Sache.1

Theodor Lessing (1872–1933) führte in seinem berühmten Buch Der Jüdische Selbsthaß Karl Kraus als „leuchtendes Beispiel“2 für seine Analyse an. Kraus, ein getaufter Jude, war bekannt dafür, jüdische Kollegen mit beleidigendem Bezug auf ihr Judentum anzugreifen. Maximilian Harden, wie Kraus ein zum Christentum konvertierter Jude, warf er vor, dass sich in seiner Attacke auf Eulenburg „forensischer Pöbelsinn und journalistischer Geschäftsgeist in

1 2

Kraus 1907, 1. Lessing 1930, 43.

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der Eintracht einer päderastischen Orgie verewigt haben“.3 Für das zeitgenössische Publikum war die Rede vom journalistischen Geschäftsgeist – man denke an Kraus’ Dauerattacken auf die jüdische Presse und ihre finanziellen Interessen – als Anspielung aus dem Repertoire des Antisemitismus dekodierbar. Ganz unkodiert schöpfte Kraus aus demselben Fundus, wenn er an anderer Stelle Heinrich Heine (1797–1856) angriff, hier mit einem interessanten Bezug zu jüdischer und christlicher Männlichkeit: „Den deutschen Mann geniert es gar nicht, die in Sentimentalität erweichte Empfindung Heine’scher Liebeslyrik beim Juden zu kaufen.“4 Bei Theodor Lessing, der den Begriff ‚Jüdischer Selbst-Hass‘ zwar nicht erfunden5, aber mit einer Studie gleichen Titels popularisiert hat, hörte sich eine ‚selbst‘-hassende Tirade auf einen jüdischen Literaturkritiker etwa so an: Aus jedem Lublinski wackelte ein neuer Lublinski heraus, und zuletzt wackelten viele tausend Samuelchen auf mich los wie eine Armee winzig kleiner Synagogen oder wie ein Riesenaufgebot von beweinenswerten Mißgebürtchen, die nicht sehen, nicht riechen und nicht hören können und wohl eigentlich ein talmudisches Büchlein hätten werden sollen, daß ihre Väterchen im klugen Köpfchen am Schabbes gar gerne gezeugt hätten.6

Der Furor befremdet. Zwar wurde die spitze Feder der Polemik im Feuilleton der Jahrhundertwende auch von nicht-jüdischen Autoren gepflegt, aber diese Art von Invektiven hat einen besonderen Goût. Die Befremdung bezüglich Lessings Tirade hat zwei Quellen. Die erste besteht in dem uneingestandenen Imperativ, dass man von diskriminierten Menschen Solidarität mit den ‚eigenen Leuten‘ erwartet. Und die zweite Quelle des Befremdens speist sich daraus, dass die Rhetorik des Hasses sich aus dem Arsenal der Feinde des Judentums bediente, das heißt, dass sie Figuren des Antisemitismus verwendete. Das Begriffskompositum ‚Jüdischer Selbst-Hass‘ ist eine umstrittene Kategorie, und ihr Gebrauch wird von Kritikern auch als ‚antisemitisch‘ bezeichnet.7 In eine andere Richtung dachte der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1890–1947) in seinem kanonisch gewordenen Text Self-Hatred Among Jews. Er erkannte die Kategorie als nützlich an, fragte sich jedoch, ob es sich nicht um eine Psychopathologie handele, die man besser den Psychiatern überlassen sol3 4 5 6 7

Kraus 1907, 1. Kraus 1906, 3. Zu Kraus’ lebenslanger Heine-Polemik vgl. Goltschnigg/Steinecke 2006. Das Kompositum „Selbsthassen“ wurde zum ersten Mal vom Wiener Feuilletonisten Anton Kuh (1890–1941) ins Spiel gebracht. Kuh o. J. [1921]. Dokumentiert in Lessing 1910c, 26. Zuerst erschienen als: Samuel zieht Bilanz oder der kleine Profete. Eine Satire. Die Schaubühne, Nr. 3, 1910, 65–73. Janik 1987. Für die zusammenfassende Diskussion der umstrittenen Kategorie siehe Gilman 1986 und Reitter 2009.

Queering Jewish Self-Hate

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le.8 Er kam aber dann zu der Auffassung, dass man hier ein sozialpsychologisches Phänomen vor sich habe, das sich im modernen Judentum einem umfassenden antisemitischen Stigma verdanke, das assimilationswilligen Mitgliedern der diskriminierten Gruppe keinen Einlass in die dominante Gruppe gewähre. Die Aus- und Aufstiegswilligen hätten zwar Normen und Wertvorstellungen der ‚höheren‘ Gruppe bereits angenommen, müssten aber trotzdem frustriert auf der Grenze (barrier) zwischen beiden Gruppen verharren. Sie blickten deshalb mit Zorn auf stigmatisierte Verhaltensweisen und soziale Praktiken der Ursprungsgruppe, wobei sie diese für ihren Ausschluss verantwortlich machten. Lewin nannte das daraus entstehende Affektmuster „negativer Chauvinismus“.9 Nach Lewin spielt sich ,Selbst‘-Hass in folgenden Feldern ab: „The self-hatred of a Jew may be directed against the Jew as a group, against a particular fraction of the Jews, against his own family, or against himself. It may be directed against Jewish institutions, Jewish mannerisms, Jewish language or Jewish ideas.“10 Um mit Fontane zu sprechen, hatte Lewin damit ein „weites Feld“ aufgemacht. Einerseits streifte er die psychiatrische Dimension und fragte sich, ob jüdischer ‚Selbst‘-Hass eine Affektstörung, eine psychische Krankheit sei. Wenn er aber von ‚Selbst‘-Hass als ‚normalem‘, psychosozial veranlasstem Verhaltensmuster sprach, unterschied er nicht, ob der Affekt autoaggressiv oder fremdgerichtet sei. Er unterstellte, dass, wer den anderen Juden angreife, quasi naturwüchsig auch feindlich gegenüber sich selbst handele. Insofern wird im Folgenden zu fragen sein, ob die Kategorie ‚Selbst‘-Hass eine angemessene Bezeichnung für eine bestimmte polemische Publizistik jüdischer Autoren der Zeit war. War das ‚Selbst‘ im Kompositum ‚Selbst-Hass‘ sinnvoll? Weiter wird zu fragen sein, was jüdischer ‚Selbst‘-Hass mit Geschlecht zu tun hatte. War er eine Ermannungsstrategie, die sich an der Entmannung eines ‚rassisch‘ devaluierten Gegners stärkte? Oder waren die im Folgenden zu betrachtenden ‚Selbst‘-Hasstiraden gegen andere jüdische Autoren Lieder von ‚Kastraten‘ (eine häufig verwendete Beleidigung)? Es handelt sich zudem bei den untersuchten Autoren ausnahmslos um männliche Protagonisten. Das sei hier vorausgeschickt, um Nachfragen über etwaiges Unterschlagen weiblicher Kulturleistungen zuvorzukommen.11 Als (auch) Genderforscherin nehme ich die monogeschlechtliche Beschaffenheit des Untersuchungsfeldes zum Anlass, jüdische und nicht-jüdische Maskulinität, ihre Konkurrenzen und Konflikte und be-

8 9 10 11

Lewin 1941, 229. Ebenda, 225. Ebenda, 219. Es ließen sich in den hier behandelten Konstellationen nur zwei weibliche Akteurinnen ausmachen, die Ausnahmefigur der Dichterin Else Lasker-Schüler – siehe dazu Dietze 2012 – und Alexandra Ramm (1883–1963), die Ehefrau des Herausgebers der Zeitschrift Die Aktion, die in der Fehde um Kurt Hiller ein redaktionelles Statement zu seinen Gunsten verfasst hatte. Ramm 1912.

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stimmte Muster von Hegemonialität, Marginalität und ‚Protest‘ zu betrachten.12 Insofern ist zu fragen, welche Funktion die obligatorische Feminisierung des Gegners hatte und an welchen Gelenkstellen sich Sexualisierung und Rassisierung intersektional beeinflussten. Zur Erörterung der oben entwickelten Fragen werde ich mich im Folgenden mit zwei literarischen Fehden um 1910 beschäftigen. Zum einen mit den sogenannten Kondor-Kriegen. Über eine von Kurt Hiller (1885–1972) herausgegebene Anthologie expressionistischer Gedichte, die den Namen Der Kondor trug, war ein Sturm der Kritik hereingebrochen. Neben schrill antisemitischen Tönen stand dabei ein Schlagabtausch zwischen den beiden jüdischen Autoren Hiller und Albert Ehrenstein (1886–1950) im Mittelpunkt. Diese Diskussion wird mit Überlegungen zur Massivität und ‚Normalität‘ eines modernen deutschen Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg in Beziehung gesetzt und an einigen Manifesten jüdischer Autoren verfolgt, die Strategien aus der dilemmatischen Lage heraus suchten. Die zweite Fehde betrifft einen Literaturkrieg, den, wie bereits erwähnt, Theodor Lessing gegen den Kritiker Samuel Lublinski (1868–1910) entfacht hatte, und in den Thomas Mann (1875–1955) verteidigend eingetreten war. Dieser Teil wird von einer Erörterung der Geschichte und Brauchbarkeit der Kategorie ‚Jüdischer Selbst-Hass‘ unterlegt. Die Untersuchung beider Literaturkriege wird je von einem Kommentar begleitet, der die Debatten mit zeitgenössischem psychiatrischen Wissen und psychiatriehistorischem Material ergänzt, das in spezifischer Beziehung zu angeblichen ‚Verrücktheiten‘ der Literaturkrieger steht. Im Ausblick der Untersuchung wird sodann der Versuch unternommen, die Befunde zu ‚queren‘, das heißt, sie im Rahmen von Ansätzen aus der Queer Theory zu diskutieren. Dieser Zugang ist nicht nur davon motiviert, dass im Material eine auffällige, meist negative Bezüglichkeit zu Homosexualität eine Rolle spielt, sondern auch davon, dass die Phänomene sich in einem Spannungsfeld von Hetero- und ‚Race‘-Normativität und Normativitätskritik abspielten.

12 Siehe Borutta/Verheyen 2010a, Bourdieu 1974, Brunotte/Herrn 2008, Connell 2000, L’Homme 2008 zu allgemeinen Fragen von Männlichkeit. Zu jüdischer Männlichkeit siehe Boyarin 1997 und Lefkovitz 2002.

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Literaturkrieg I – Die Kondor-Kriege Der junge Dichter hat nur eine Mission: ruhestörenden Lärm zu verursachen. Die Hochspannung seiner Seele schwungvoll in die Menschheit zu schleudern – unbekümmert um das Schwanken und Krachen vermorschter Gebeine.13 Rudolf Kurtz

Nach einem Streit mit der Zeitschrift Die Aktion 1911 fragte Kurt Hiller bei Herwarth Walden (1878–1941), Chefredakteur des Sturm, an, ob er „einen frischen fröhlichen Krieg, mit schärfsten völkerrechtlich erlaubten Mitteln“ in dessen Zeitschrift eröffnen dürfe. Das Motiv sei „nun schon nicht mehr die Rache, auch nicht das Geld, sondern der Krieg! (Üben muß ich, trainieren; denn vielleicht steht mir in 5 Jahren bevor – Gott geb’s – Kriege à la Kraus zu führen)“.14 Krawall, so verrät dieses Zitat, scheint nicht als unangenehme Störung, sondern als legitimes und selbst gewähltes Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung gewählt worden zu sein. 1912 hatte Kurt Hiller, wie erwähnt, unter dem Titel Der Kondor die historisch erste Anthologie expressionistischer Lyrik herausgegeben. BeiträgerInnen waren außer Else Lasker-Schüler (1869–1945) auch die damals noch wenig bekannten Lyriker Georg Heym (1887–1912), René Schickele (1883–1940), Franz Werfel (1890–1945), Max Brod (1884–1968), Ludwig Rubiner (1881–1920) und Ernst Blass (1890–1939). Die, in seinen Worten, „rigorose Sammlung radikaler Strophen“ plante, „ein Manifest zu sein […]. Eine Dichtersezession“.15 Die zeitgenössische Lyrik, zum Beispiel die des Ästhetizismus und des George-Kreises wurde als „böseste[s] Gestümper“ und „jodelbar gemachte Popularsternkunde“16 abgetan und dagegen dem Glauben Ausdruck gegeben, „daß auf diesen Blättern die wertvollsten Verse stehen, die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden“.17 Die aggressive und ostentativ unbescheidene Ankündigung zündete. Es hagelte Verrisse von links und rechts, darunter auch von heute noch bekannten Autoren wie Erich Mühsam (1878–1934) und Karl Kraus. Diese wurden nicht vornehm ertragen, sondern in der Regel sofort mit Gegenbeschimpfungen erwidert.18 Von Anfang an war ein antisemitischer Grundton vorhanden, der implizit auf die jüdische Herkunft des Herausgebers und eines Großteils der 13 Kurtz 1960, 34. 14 Brief an Herwarth Walden 11.10.1911. Zitiert nach Laube 2011, 265. 15 Hiller 1912, 7. Neben den benannten waren weitere Autoren vertreten: Arthur Drey, Samuel Friedländer, Herbert Grossberger, Ferdinand Hardekopf, Arthur Kronfeld und Paul Zech. 16 Ebenda. 17 Ebenda, 9 (Hervorhebung GD). Hiller ergänzte, dass er seine ebenfalls anthologisierten Verse nicht ‚zum Besten seit Rilke‘ rechnen würde. 18 Die epische Feuilletonauseinandersetzung ist dokumentiert in Stark 1996.

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BeiträgerInnen Bezug nahm: „Der Kondor ist ein durch und durch ungesundes, undeutsches Buch“,19 wobei der damals diskursiv bestimmende Gegensatz Deutsche versus Juden mitklang.20 Auch Rezensent Fritz Hellermann setzte unüberlesbar Judentum mit Finanzspekulation gleich: Hinter dem Kondor „hohnlächelt trotz aller Dekadenz und blasierter Müdigkeit die blanke Rechenkunst, die den Erfolg der Spekulation auf Unsicherheit und Modesklaverei der lieben Zeitgenossen überschlägt“. Auch hier wurde mit ‚krank versus gesund‘ operiert. Der Rezensent hoffte, „daß die ‚Kondorigen‘ an dem gesunden Kern unseres Zeitempfindens scheitern und in ihren absinthfarbenen Sumpf zurücksinken mögen“.21 Ein Fritz Hammer sprach im Oktober im Deutschen Literaturblatt von „rasseloser Dichterei“22 und, weil das noch nicht genug zu sein schien, schrieb im selben Blatt der deutschnationale Naturalist Michael Georg Conrad (1846–1927) zwei Monate später: „Die Kondoristen wissen und ersehnen nichts von Rasse und Deutschtum, […].“23 Im Zeitalter eines salonfähigen Antisemitismus als „kulturellem Code“24, worauf weiter unten noch zurückzukommen sein wird, überrascht diese Konzentration von rassistischen Beleidigungen nicht. Für heutige Augen wirkt befremdend, dass grober rhetorischer Antisemitismus auch ‚unter Juden‘ als Werkzeug der Kritik eingesetzt wurde. Ein drastisches Beispiel hierfür bietet unter dem Titel Anmerkungen eine Kondor-Kritik des Wiener Lyrikers Albert Ehrenstein im Sturm. Er begann seine Kriegshandlung mit folgenden Worten: Eine neue Sorte von Schmierern wirtschaftet ab. Ich könnte diese polnische Wirtschaft ruhig weiter ignorieren. Aber warum soll man sich nicht gelegentlich über Apfelmus – imbezilles Apfelmus – äußern? Wenn jemand, beispielsweise eine alte Jüdin, in ihrem Hausierhandel mit irgendwelchen alten Hosen so erfolgreich war, daß sie einen Literaturagenten und Meinungs19 Anonym: Der Kondor. Eine Dichter-Sezession. Kölnische Zeitung, Erste Morgen-Ausgabe, 12.8.1912. Zitiert nach Stark 1996, 47–53, hier 53. 20 Von heute aus betrachtet, würde man von Juden und Nicht-Juden oder von Juden und Christen sprechen, weil die Gegenüberstellung Deutsche und Juden schon das Nicht-Deutsch-Sein der Juden unterstellt und damit der Gruppe eine prekäre Staatsbürgerschaft verleiht (obwohl sie nach der Preußischen Judenemanzipation 1812 vollgültige Staatsbürger waren). Im Fortgang des Textes wird trotzdem von ‚Deutschen‘ und ‚Juden‘ gesprochen, weil beide Konfliktparteien in dieser Gegenüberstellung dachten und sie auch so benannten. 21 Dr. Fritz Hellermann: Radikale Strophen. Der Kondor. – Eine Dichtersezession. Hamburger Fremdenblatt Nr. 217, 15.9.1912. Zitiert nach Stark 1996, 65–70, hier 70. 22 Fritz Hammer: Der Kondor. Deutsches Literaturblatt 2/10 (1912/13) 1.10.1912, 10. Zitiert nach Stark 1996, 80. 23 M[ichael] G[eorg] C[onrad]: Der Kondor. Deutsches Literaturblatt 2/12 (1912), 1.12.1912, 9. Zitiert nach Stark 1996, 93 f., hier 94. 24 Volkov 2002.

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händler unterhalten kann, so gibt das diesem reaktionären Demokratin und Carabantier nicht das Recht, sich an Männern zu reiben, die nicht geatzt werden.25

Der schwer zu entschlüsselnde aber trotzdem öffentlich stark diskutierte Text ist symptomatisch für die Eingeweihtheit und Intimität der Debatten. Sander Gilman spricht deshalb auch von ‚Selbst‘-Hass als einer „secret language of the Jews“.26 Einiges der Ehrenstein’schen Anwürfe kann hier dekodiert werden, anderes nicht. Mit „polnischer Wirtschaft“ wird sicherlich auf das Ostjudentum und Galizien hingewiesen und damit das Ressentiment akkulturierter Westjuden gegenüber den eingewanderten ostjüdischen Flüchtlingen angesprochen. Das „imbezille Apfelmus“ kann wohl als origineller Wortgestaltungswille durchgehen. Mit der Jüdin, die mit alten Hosen handelt, ist zweifellos Hillers Mutter gemeint, die Witwe eines Textilhändlers war.27 Es wird ihr hier unterstellt, dass sie vermögend sei und ihren Sohn finanziere. Was ein Carabantier ist, konnte ich nicht ergründen, es sei denn es wäre eine Verarbeitung der französischen carabe (ein Laufkäfer). In gewisser Weise bleibt auch am letzten Satz einiges dunkel, zum Beispiel das Verb „atzen“ konnte auch im Jiddisch-Deutschen Wörterbuch nicht rekonstruiert werden, es sei denn, der Autor hätte mit „atzen“ die Fütterung von Raubtiervogelküken durch ihre Eltern gemeint. Bei den Männern, an denen sich gerieben wird, handelt es sich jedoch sicher um eine Anspielung auf Hillers Homosexualität, die derselbe übrigens – im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen – nicht verbarg, sondern durch die Teilnahme an Magnus Hirschfelds (1868–1935) Kampagne für die Abschaffung des Paragraphen 175 öffentlich gemacht hatte.28 Weiter unten im Text schrieb Ehrenstein die homosexuelle Insinuation in den auf Hiller gemünzten Sätzen fort, wobei der Autor sich selbst als Objekt der Begierde inszenierte: „Ein Hund, der mir zutraulich-zudringlich nachlief, ließ erst ab, als ich ihm in wohlwollendster Weise auf den rudimentären Schwanz trat.“29 25 Ehrenstein 1912a, 206. 26 Gilman 1986. 27 Die ‚Hosengeschichte‘ ist wahrscheinlich ein Echo des berühmten antisemitischen Manifest Unsere Aussichten (1879) des Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896), in dem er warnte: „[…] über unsere Ostgrenze dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen Polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.“ Treitschke 1879, 572 f. (Hervorhebung GD). Über Treitschkes Text entspann sich der berühmte Berliner Antisemitismusstreit, in den, wenn auch wenige, nicht-jüdische Intellektuelle wie Theodor Mommsen (1817–1903) zugunsten der angegriffenen jüdischen Minderheit eingriffen. Vgl. Boehlich 1965. 28 Posthum (auf seinen eigenen Wunsch) hat Kurt Hiller später seine erotische Autobiographie Eros veröffentlichen lassen, die er seiner geistigen Autobiographie Logos gegenübergestellt sehen wollte. Hiller 1973. 29 Ehrenstein 1912a, 206.

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Der dermaßen verkürzte Schwanz – hier könnte auch eine Anspielung auf die jüdische Praxis der Beschneidung verborgen sein30 – machte den Angegriffenen dann zum „Kritikastraten“. Ehrensteins Rezension des Kondor, die sich in weiten Passagen neben dem offensiven Antisemitismus auch sonst buchstäblich ‚unter der Gürtellinie‘ aufhielt, zeitigte Solidaritätserklärungen von dreizehn Dichtern und Kritikern für Kurt Hiller, darunter Robert Musil (1880–1942), die ihrem „Widerwillen“ gegen „so häßliche, schlecht geformte und gar nicht dokumentierte Beleidigungen“ Ausdruck gaben.31 Natürlich antwortete Ehrenstein und erklärte damit zumindest die „alten Hosen“. Denn er sei zuvor von Hiller angegriffen worden, der vor Publikum in seinem literarischen Kabarett GNU ungefähr über ihn gesagt habe, bei ihm handele es sich um einen „dahergelaufenen Österreicher“, der „kotige, zum Himmel stinkende Feuilletons schreibe, statt mit alten Hosen zu hausieren“.32 Die „alte Jüdin“ müsse keineswegs Hillers Mutter, sondern könne auch seine „Urgroßstieftante“ sein, ihm ginge es nur darum, dass jemand eine finanziell gesicherte Position nutze, ihm zu schaden. Der Nestor der Berliner Literaturkritik, der ältere Alfred Kerr (1867–1948), versuchte mit seiner ­Replik Grenzen der Polemik der ‚hysterischen‘ Steigerungslogik der Beschimpfungen Einhalt zu gebieten: „Es scheint aus literarischen Ursachen hier wie dort ein unverhältnismäßiger Haß entstanden zu sein.“33 In den hier referierten Literaturkriegen ging es immer darum, dass säkulare (oft getaufte) Protagonisten jüdischer Herkunft des gehobenen Feuilletons sich gegenseitig den ‚Inneren Juden‘ vorwarfen, der trotz aller Assimilationsanstrengungen immer wieder durchscheine. Mit der Entlarvung sei bewiesen, dass die Position des Angegriffenen irgendwie unsauber, ungesund oder von uneingestandenen finanziellen Motiven geleitet sei. Alle hier verhandelten Dichotomien stammten aus dem Alltagsrepertoire des Antisemitismus. Die Hass-Energie und Affektstärke solcher Debatten wurde von der Abwehr antisemitischer Anwürfe aus der ‚deutschen‘ Gesellschaft befeuert. Der Aufschrei der rechten Kritik gegen die Anthologie Der Kondor war ganz stark von dem Satz motiviert, es handele sich um die besten Verse, „die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden“. Als Schlag ins Gesicht des völkischen Bewusstseins musste es dann erscheinen, dass in der Anthologie mit Georg Heym nur ein einzi30 Für Diskussionen um die kulturelle Praxis der Beschneidung im antisemitischen Repertoire siehe Geller 2008 und Gilman 1994. 31 Ernst Blass u. a.: Erklärung. Die Aktion 2/49 (1912), 4.12.1912, 1546 f. Zitiert nach Stark 1996, 94 f., hier 94. 32 Ehrenstein 1912b, 230. 33 Kerr 1912/13, 219. Der Psychoanalytiker Ernst Simmel stellte 1944 eine Beziehung zwischen Antisemitismus und ‚pathologischem Hass‘ her. Antisemitismus nannte er eine „psychopathologische Persönlichkeitsstörung“. Simmel 1993, 60 (Hervorhebung GD). Interessanterweise setzte er antisemitischen Hass mit der Abwehr „latenter homosexueller Strömungen“ in Bezug.

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ger nicht-jüdischen Autor vertreten, aber der Anspruch formuliert worden war, die deutsche kulturelle Avantgarde darzustellen.

Antisemitismus im Kaiserreich An dieser Stelle ist ein kurzer – notwendigerweise sehr kursorischer – Rückgriff auf die Geschichte des Antisemitismus im Kaiserreich vonnöten, um die behauptete Hass-Konstellation zu unterfüttern. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass die Kategorie „Antisemitismus“ erst 1879 von Wilhelm Marr (1819–1904), selbst Sohn eines getauften Juden und Begründer der Antisemiten-Liga, in Umlauf gebracht worden war. Im Unterschied zur religiösen und alltagspraktischen Judenfeindlichkeit vor der Reichsgründung entwickelte der sogenannte „moderne Antisemitismus“34 zwei Besonderheiten: Erstens konstituierte er sich als politischer Verband oder Partei35 und etablierte zweitens mit den Theorien von Arthur de Gobineau (1816–1882) und Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) einen (pseudo-) naturwissenschaftlich argumentierenden biologischen Rassebegriff.36 Antisemitismus wurde zu einem Modus akzeptierten politischen Handelns und zu einem Modus kodifizierten ‚Wissens‘. Damit bekam er eine andere Form von Legitimität als der alte religiöse Antijudaismus oder das plebejische Ressentiment.37 Als ‚wissenschaftlich‘ durchgesetzte Wahrheit spielte Antisemitismus „eine wichtige Rolle im Denken des nationalgesinnten Bürgertums und wurde im gesellschaftlichen Leben zur Norm“.38 Der Prozess der Normalisierung des Antisemitismus bedeutete allerdings nicht, dass darin nicht ein stark affektiver Kern eingeschlossen war.39 Wie alle Rassismen hatte auch der 34 Berding 1988, siehe auch Rürup 2004. 35 Die antisemitischen Parteien waren parlamentarisch recht wirkungslos, konnten 1893 2,5 Prozent und 1907 2 Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Für keine ihrer Gesetzesvorlagen zur Rücknahme der Judenemanzipation konnten sie die nötigen Mehrheiten gewinnen. 36 Berding 1988, 140–144. 37 Der wissenschaftliche Rassismus, der für die ‚Minderwertigkeit‘ der Juden in der Menschheitsentwicklung und ihre ‚Degeneration‘ argumentierte, verband sich im Wilhelminischen Kaiserreich mit völkischem Nationalismus, der die Überlegenheit germanischer ‚Rassen‘ hervorhob. Kombiniert kam es zu einem ‚Schädlichkeitsdiskurs‘, der in Aussagen wie der des völkischen Antisemiten Paul de Lagarde (1827–1891) in seinem Buch Juden und Indogermanen (1887) gipfelte: „Es gehört ein Herz von der Härte der Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten.“ Zitiert nach Berding 1988, 148. 38 Berding 1988, 161 (Hervorhebung GD). 39 Für ein Plädoyer, Emotion und Affekt sowohl als historische wie auch als psychodynamische Größe stärker in die Antisemitismusforschung einzubeziehen siehe Jensen/Schüler-Springorum 2014.

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historisch konkrete Antisemitismus im Kaiserreich sowohl eine angstabwehrende wie auch eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov spricht von „Antisemitismus als kulturellem Code“. Von 1871 bis 1914 sei er ein „Zeichen der Zugehörigkeit“, eine Art von konstitutivem Außen gewesen, das eingesetzt (oder benötigt) wurde, um das seit 1871 vereinigte Deutsche Reich über die Konstruktion eines fremden ‚Anderen‘ zusammenzuschweißen.40 Der Psychoanalytiker Ernst Simmel (1882–1947) brachte das mentale Setting der Jahrhundertwende dementsprechend auf den Punkt: „Der DurchschnittsAntisemit […] haßt die Juden, und es tut ihm gut zu wissen, daß viele seiner Freunde das Gefühl teilen.“41 Hieraus wird auch verständlich, warum diese Art von Hass nicht über eine Assimilation ins Deutschtum aus der Welt zu schaffen war. Er war die Bedingung für eine Selbstkonstruktion42 der nun vereinigten ‚Deutschen‘ nach der Reichsgründung. Die von diesem Affekt Getroffenen allerdings versuchten, das stigmatisierende Judentum auf den anderen, als ‚verfehlt‘ assimiliert angesehenen Kollegen zu übertragen, um sich damit des eigenen Judentums zu entledigen. Wie in der Vorrede anhand von Kurt Lewins ,Selbst‘-Hass-Paradigma entwickelt wurde, musste dieser „negative Chauvinismus“ allerdings scheitern.

Expressionistische Gefühlsstürme und Psychiatrie Die hier diskutierten Konflikte waren nicht nur Gegenstand politischer und feuilletonistischer Aufregungen, sondern die beteiligten Autoren – und auch der Frühexpressionismus als Avantgardeformation im Allgemeinen – gerieten ins Visier der zeitgenössischen Psychiatrie.43 Als Kultur vorsätzlicher Erregung fehle es ihnen an einem entscheidenden Kriterium psychischer Gesundheit, nämlich der „Besonnenheit“.44 Die Dichter gehörten auf die Seite der „Choleriker“, wie die EmotionshistorikerInnen Borutta und Verheyen das Affektmuster wilhelminischer Maskulinität zwischen Gefühlskälte (Vulkaniertum) und Ausbrüchen von Aggression (Choleriker) beschreiben.45 Nimmt man das Ideal der Besonnenheit zur Grundlage, dann sind psychische Störungen Krankheitssymptome, die das idealtypische seelische Gleichgewicht aus der Balance bringen. Störungen bestehen oft in einem Zuviel oder Zuwenig an ‚Affekten‘. Der große Systematisierer psychischer Krankheiten Emil Kraepelin (1856–1926) erklärte zyklisches Irresein, also manische Depression, als aufsteigende und abfallende ‚affektive Störung‘. 40 41 42 43 44 45

Volkov 1985, 237. Simmel 1993, 61 (Hervorhebung GD). Dietze 2009. Zu Expressionismus und Psychiatrie siehe Anz 1977. Griesinger 1845, 36. Borutta/Verheyen 2010b,13–16.

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Eine ‚aufsteigende affektive Störung‘ im Sinne Kraepelins könnte bei Albert Ehrenstein diagnostiziert worden sein.46 1906 erlitt er nach einer Zurückweisung seines Mentors Arthur Schnitzler (1862–1931) einen ‚Nervenzusammenbruch‘.47 Sein Biograph Laugwitz spricht von einem „gewaltsam psychotischen Behauptungsversuch“48, in dem neben Schnitzler auch eine Liebeskrise und hysterische Angst vor der Syphilis eine Rolle gespielt haben sollen. Außerdem war Ehrenstein 1911 wegen ‚neurotischer Beschwerden‘ bei Alfred Adler (1870–1937) in der Psychoanalyse. Wenn man sich aber mit der gequälten Jugendzeit Ehrensteins auseinandersetzt – er war kleinbürgerlicher Herkunft, hatte unter einer ablehnenden Mutter und antisemitischen Anfeindungen ohne den Schutz elterlichen Wohlstandes zu leiden – ließen sich diese pubertären Irritationen aber auch aus einem unglücklichen Umfeld erklären. Kurt Hillers psychiatrische Krise war ebenfalls mit seiner persönlichen Situation als Jude verbunden, wenngleich er selbst sein Judentum fast nicht thematisierte. Er war im November 1908 nach München gefahren, um dort sein ‚Einjähriges‘ abzuleisten, weil es nur noch in Bayern für einen Juden möglich war, Reserveoffizier zu werden. In Preußen war das untersagt. Obwohl er optimistisch aufgebrochen war, die zu erwartende körperliche Ertüchtigung vor Augen, entwickelte sich das Militär für ihn zu einem Desaster. Der grobe Kasernenton, eine unbehandelte Handverletzung und für ihn ekelerregende hygienische Zustände in den Aborten verleiteten ihn zu einer Panikflucht in die Schweiz. Nach dem Gesetz hätte er sich nur ‚unerlaubten Entfernens von der Truppe‘ schuldig gemacht, weil er noch nicht vereidigt war. Trotzdem waren militärgerichtliche Konsequenzen zu erwarten. Mit dem Blick auf diese 46 Albert Ehrenstein kam früh mit der Psychiatrie in Berührung. Schon in einer Schulkrise suchten seine Eltern Zuflucht zu seelenärztlichem Rat. Der berühmte Wiener Psychiater Wagner-Jauregg soll ihm ein Attest wegen ‚Schlafsucht‘ ausgestellt haben, um seine schlechten Schulleistungen zu erklären. Vgl. Laugwitz 1987, 74. 47 Die Schüler-Episode ist nur schwach belegt, allerdings gibt es eine Notiz Ehrensteins: „Wagner/Jagner v. Jauregg will mir extra ein Irrenhaus bauen.“ (Notizbücher 1904–1911. XIX/5; zitiert nach Ehrenstein 1989, 20, Anm. 1). Zum Verhältnis zu Schnitzler: „Sie sind der erste, Herr Doktor, der sich wirklich mit mir beschäftigt“, zitierte Schnitzler Ehrenstein in einem Tagebucheintrag vom 20. Dezember 1905, und merkte im nächsten Satz skeptisch an: „Es ist gut, daß einem nicht viele solche jungen Leute ins Haus gelaufen kommen. (‚Werft’s ihn hinaus, er zerbracht mir das Herz.‘)“. (Schnitzler 1991, 173) Nach anfänglichem Lob hatte Schnitzler auch ein paar kritische Anmerkungen gemacht. In Tagebucheinträgen vom Januar 1906 vermerkte er, er habe Ehrenstein gesagt, seine letzte Novelle sei „unreif“. Sechs Tage später tauchte letzterer „verstört und blass“ bei Schnitzler auf und halluzinierte, er sei in allen Zeitungen. Als Schnitzler ihn nach Hause schicken will, antwortete er: „Zu Hause erschießen sich alle Leute.“ Am gleichen Tag wurde er desorientiert in Neustift aufgefunden. Schnitzler riet den besorgten Eltern des damals Neunzehnjährigen zu „Aerzten Anstalt“ und ging wieder. (Ebenda,177 ff.) Von Ehrenstein ist ein Tagebucheintrag erhalten: „Wurde bei Sch. verrückt, damit er bei uns verkehre.“ (Notizbücher 1904–1911. XIX/8; zitiert nach Laugwitz 1987, 79) 48 Laugwitz 1987, 79.

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düsteren Aussichten, suchte er in Zürich psychiatrische Hilfe, um die Flucht als von einem psychischen Ausnahmezustand motiviert darzustellen. Auf Empfehlung seines Freundes und Psychiaters Arthur Kronfeld (1886–1941), der später auch zum Kondor beitragen sollte, wurde Kurt Hiller in die Züricher Klinik Burghölzli aufgenommen, die damals von Eugen Bleuler (1857–1939) geleitet wurde und in der Carl Gustav Jung (1875–1961) arbeitete. Aus dem Anamnesebogen der Aufnahme geht hervor, dass Hiller erbliche Ursachen für seine „Neuropsychopathie“ geltend gemacht und erklärt hatte, dass seine Wutanfälle „bei geringsten Anlässen, im privaten Bereich und auch im Umgang mit Kommilitonen, sowie Beleidigungen mehrfach durch Ehrengerichte beurteilt werden mußten“.49 Ein solches Ehrengericht seiner Studentenverbindung habe auch in der Nacht stattgefunden, bevor Hiller nach München aufgebrochen sei.50 Die Ärzte beobachteten, dass „die Art des Ausdrucks seiner Ideen […] eine ganz unnatürliche, gekünstelte, unzusammenhängende [ist] wie man sie etwa unter dem Namen der Dekadenzen versteht“. Der Patient zeige eine „überstarke Emotivität“ und es falle eine „gewisse Labilität der Gefühle“ auf. Hiller wurde zeittypisch der Gruppe des ‚Entartungsirreseins‘ zugeordnet:51 Dem Patienten ist dadurch logisches Denken unmöglich, bei Gefühlsregungen verlieren sie vollständig das Gleichgewicht und müssen blindlings handeln, ohne die Verstandesgründe, die dagegen sprechen, berücksichtigen zu können. In solchen Situationen sind sie schwer in ihren ganzen psychischen Funktionen gestört […]. Ihr Defekt treibt sie von einem Konflikt zum andern und läßt sie in eine krankhafte Erregung kommen, wie sie bei Dr. Hiller vor der Desertion bestand. […] Unserer Meinung nach ist also Herr Hiller durch seine angeborene psychische Störung unfähig zum Militärdienst.52

Betrachtet man die psychiatrische Diagnose Hillers, so gibt sie – nimmt man die Behauptung der unbeeinflussbaren Zwanghaftigkeit seiner „überstarken Emotivität“ weg – sein ‚normales‘ streitbares Temperament wider. Natürlich muss man in Rechnung stellen, dass es sich um eine Gefälligkeitsdiagnose handelte, die ihm eine Verurteilung durch die Militärgerichtsbarkeit ersparen sollte. Aber viele der ‚Aufregungen‘, die Hiller zur ursprünglichen Panikreaktion veranlassten, haben damit zu tun, dass für Juden, konvertiert oder nicht, die drei großen Sozialisationsagenturen des Kaiserreichs – Schule, Universität und Militär – mit Friktionen und 49 So die Aussage seiner Biographin Brigitte Laube, die Einsicht in die Krankenakte vom 16.12.1908 nehmen konnte. Laube 2011, 117, Anm. 95. 50 Ebenda, 118. 51 Ebenda. Zur systematischen Verbindung von Degenerationstheorie, Psychiatrie und Auswirkungen auf psychiatrische ‚Rassen‘-Theorien siehe Roelcke 2003. 52 Laube 2011,118 (Hervorhebung GD).

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systematischen Ausschlüssen belastet waren, die zu einer Störung der Affekte führen konnten. Die studentische Verbindung, aus der Hiller nach seiner Desertion ausgetreten war, um sie nicht mit seiner ‚Schande‘ zu belasten, weigerte sich trotz der ärztlichen Bescheinigung psychischer Unzurechnungsfähigkeit, den ‚Vaterlandsverräter‘ wieder aufzunehmen.53 Die beiden Beispiele emotionaler Krisen von ‚Kondorkriegern‘ zeigen somit, dass die psychische Abweichung auch Bestandteil der sozialen Pathologie ‚Antisemitismus‘ war.

Literaturkriege II – Theodor Lessing versus Samuel Lublinski versus Thomas Mann Damals gab es Zionisten, Assimilanten und zwischen beiden den geistigen Kalendertypus: Den Selbsthasser. Anton Kuh

Der jüdische Arzt, Philosoph und Essayist Theodor Lessing hatte 1910 für die Zeitschrift Die Schaubühne eine „Satire“ – man kann auch Schmährede sagen – auf den ebenfalls jüdischen Literaturkritiker Samuel Lublinski verfasst. Dieser hatte in zwei Studien – Bilanz der Moderne (1904) und Ausgang der Moderne (1909)54 – die Literatur seiner Zeit einem strengen Haltbarkeitsurteil unterzogen. Lessing erschien dies als eine „espritjüdische“55 Anmaßung, die überdies von einem „Männlein“ stamme, das eine Figur wie ein „fettiges Synagöglein“ habe und das „mauschelte mit den Beinchen […], wodurch es Würde markierte und den Stolz des ganz großen Literaten“.56 Das Wort „mauscheln“ kam in „stumpfsinnigen Wiederholungen“57, wie Thomas Mann in seinem Gegenangriff auf Lessing vermerkte, mehrmals vor. Im deutschen Alltagsgebrauch wurde „Mauschel“ zunächst für eine angebliche ‚jiddische Verhunzung‘ deutscher Sprache verwendet und migrierte dann zum Pars pro Toto für einen karikaturartig verzerrten jüdischen Persönlichkeitstypus.58 Schon 1894 hatte Theodor Herzl 53 Zu den Kämpfen um die Wiederaufnahme in die Verbindung siehe Sheppard 1980, Bd. 1, 3 f., zu Struktur und Innenleben seiner Verbindung, der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, und ihren ‚Ehrengerichten‘ und Duellpraktiken siehe Fetheringill 2012 sowie Voigts 2008. 54 Siehe Nachdruck der Ausgaben Lublinski 1974 und 1976. 55 Vgl. den Wiederabdruck der Polemik in Theodor Lessings eigener Dokumentation des Literaturkrieges. Lessing 1910c, 21. 56 Ebenda, 17 f. 57 Mann 1910b, 30. 58 Gilman 1981, 141. Siehe auch den Streit darüber, ob Kraus in aufklärerischer oder antisemitischer Manier ‚gemauschelt‘ habe. Schäfer 2014, 130–133.

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(1860–1904), die Vater- und Gründerfigur des politischen Zionismus, eine verächtliche Typologie von „Mauschel“ entworfen: Mauschel […] ist die Verzerrung menschlichen Charakters, etwas unsagbar Niedriges und Widerwärtiges. Wo der Jude Schmerz und Stolz empfindet, hat Mauschel nur elende Angst oder höhnisches Grinsen im Gesicht. In den harten Zeiten richtet sich der Jude auf, Mauschel dagegen verkrümmt sich noch schmählicher […]. Mauschel ist in der Armut ein erbärmlicher Schnorrer, im Reichtum ein noch erbärmlicherer Protz […]. Von Mauschel werden selbst Kunst und Wissenschaft um des gemeinen Vorteils betrieben.59

Es lässt sich nicht rekonstruieren, ob Lessing Herzls Tirade kannte. Was ihn aber gewiss mit Herzl verband, war die Überzeugung, dass es an der Zeit sei, den Juden vom „Mauschel“ zu befreien und den Vorwurf des jüdischen Antisemitismus nicht mehr zu scheuen: Wir sollten uns abgewöhnen, als Juden verletzt zusammenzuzucken, wenn irgendwer ein objektiv hartes, verdammendes Urteil über Jüdisches fällt und in falschem Solidaritätsgefühl zu glauben, daß unsere Art verunglimpft werde, wenn irgendwo auf dem weiten Erdenrund einem jüdischen Menschen Makel anhaftet. Diese jüdische Reizbarkeit ist ein Stück sozialer Neurasthenie, eine Pathologik der Volksseele.60

Lessings Angriff auf Lublinski hatte keine spezifische oder persönliche Vorgeschichte. Zunächst hielt er selbst den Text auch für eine „harmlose Satire“ von „fröhlicher Bosheit“61, denn Siegfried Jacobsohn (1881–1926), der Herausgeber der Schaubühne, der das Manuskript zum Druck annahm, hatte noch ganz emphatisch mit: „Tausend Dank!“ quittiert „für den wahrhaft himmlischen Lublinski. Ich übertreibe nicht im Geringsten, wenn ich sage, dass in dieser Satire ein Heinrich Heinischer Zug steckt“.62 Theodor Lessing kannte Lublinski flüchtig aus einem Treffen im Münchner Café Luitpold, um das der umtriebige Literaturkritiker einige Jahre zuvor gebeten hatte, damit er die literarische Szene und deren Geschmack erkunden konnte. Lessing beschrieb in seiner Schmähschrift Lublinski als prätentiös seine literarische Beurteilungskompetenz zur Schau stellend und machte sich darüber lustig, dass er sich von seiner Schwester begleiten ließ, die „den klei-

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Herzl 1897. Lessing 1910a, 78 (Hervorhebung GD). Lessing 1910d, 73. Brief von Jacobsohn an Lessing vom 30. Dezember 1909. Zitiert nach Kotowski 1998, 200.

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nen Samuel betreute und fütterte und an hohen Feiertagen wohl auch einmal wusch“.63 Hier haben wir eine Anspielung auf den angeblichen foetor judaicus.64 In Lublinskis beide Bücher habe Lessing nur hineingeblättert, trotzdem hätte ihn die „ahnungslose Klugdummheit dieses Stils“65 in der Nacht in Alpträume versetzt. Zum Skandal wurde die Schmähschrift, weil 33 deutsche Dichter und Kritiker (Juden und Nicht-Juden unter ihnen Paul Ernst, Theodor Heuss, Samuel Friedländer und Stefan Zweig) anlässlich der Lessing’schen Polemik „ihr Bedauern darüber aus[drückten], daß es kein Ehrengericht für Journalisten gibt“.66 Die ‚Moralkeule‘, wie man heute sagen würde, traf Lessing schwer, und er hat in unzähligen Gegenerklärungen und Pasquillen versucht, sich zur Wehr zu setzen.67 Worum es eigentlich ging, ist schwerer zu beantworten. Zweifellos haben wir es hier mit einem ,negativen Chauvinismus‘ im Sinne Kurt Lewins zu tun. Die diskriminierende Wortwahl, die sich auf mosaische Religionspraxis bezog, lässt auf ein Ressentiment gegen die neue Sichtbarkeit von chassidischen Ostjuden schließen, die vor zaristischen Pogromen ins Deutsche Reich geflohen waren und die ihre Frömmigkeit schon über die Kleidung veröffentlichten. Gegen eine solche These spricht zweierlei: Erstens schilderte Lessing in einer Reportage über eine Reise nach Galizien überaus respektvoll das Nebeneinander sozialen Gefühlslebens und der gelebten Frömmigkeit des Chassidismus, in dem sich die ‚Größe der ostjüdischen Kultur und Moral‘ offenbare.68 Zweitens war Lublinski ein assimilierter, sich säkular gebender Literaturkritiker, der sich selbst sicherlich als weit weg vom Ghettojudentum des Ostens imaginierte. Lessings Ressentiment gegen Lublinski richtete sich also nicht gegen ostentativ jüdischen Habitus, sondern im Gegenteil gegen die Unsichtbarkeit oder, sagen wir besser, gegen die Verschleierung desselben. Lessings ‚antisemitischer‘ Sprachduktus könnte sich somit gegen eine von ihm empfundene unehrliche Tünche oder Über-Assimilation wenden und wäre als Versuch zu werten, dieselbe als wichtigtuerische Anmaßung von Parvenüs ohne eigene Kreativität zu denunzieren. Todd Endelman, einer der neueren Theoretiker des ,Jüdischen SelbstHasses‘, unterstützt mit seiner Definition eine solche Vermutung: „Self-hating Jews were converts, secessionists, and radical assmilationists who, not content with disaffiliation from 63 64 65 66 67 68

Lessing 1910c, 20. Gilman 1986, 176. Lessing 1910c, 25. Die Erklärung ist abgedruckt in Lessing 1910b, 54. Davon musste er das meiste im Selbstverlag drucken, weil er keine öffentlichen Foren mehr fand. Paraphrasiert nach Marwedel 1987, 130. Marwedel bezieht sich auf: Theodor Lessing: Eindrücke aus Galizien. Allgemeine Zeitung des Judentums (1909), Nr. 49–53, 49. Der Kommentar Marwedels ist einer der wenigen Sekundärkommentare, der die Lublinski-Affäre mit deutlicher Parteinahme für Lessing interpretiert. Sonst überwiegen bei Weitem die Verdammungen Lessings.

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the community, felt compelled to articulate how far they had travelled from their origins by echoing antisemitic views, by proclaiming their distaste whom they wished to dissociate themselves.“69 In gewisser Weise bleibt offen, ob Lessing Lublinski als zu jüdisch oder als zu nicht-jüdisch kritisierte. Je nach Interpretation gäbe es zwei einander ausschließende Motive: In der ersten Erklärungsebene würde Lessing sich selbst mit der ‚antisemitischen‘ Tirade performativ als jenseits des Judentums positionieren. Er würde eine Art von Mimikry des völkischen Antisemitismus liefern, die sozusagen in sein seelisches Make-up übergegangen ist. Moritz de Jonge, ein ebenfalls ‚selbst‘-hassender Kollege, der später wieder ins Judentum und insbesondere in den Zionismus zurückfand, berichtete in der Rückschau: „Deutsch wollte ich sein, deutsch fühlen und arbeiten. Mein Herz ging in Sprüngen, wenn ich deutsches Militär sah, wenn ich deutsche Militärmusik vernahm“.70 Lessing jedenfalls okzidentalisierte sich, wenn er Lublinski als Ostjuden orientalisierte. Mit der Denunziation Lublinskis als schlecht assimilierter Jude bot er sich gleichzeitig der Referenzgruppe ‚nicht-jüdische Deutsche‘ als Grenzpolizei an, die das Jüdische unter der Assimilationstünche zu entdecken wusste.71 Die Tiraden lassen sich als Angriff auf Lublinskis Leugnung seines Judentums und seinen Versuch, als deutscher Literaturpapst sein Judentum zum Verschwinden zu bringen, lesen, oder, wie die Queer-Jewish-Studies-Theoretikerin Lori Lefkovitz solche Bewegungen beschreibt, als „passing into privilege“.72 Lessing hat immer wieder betont, dass er weder verbergen noch sich schämen würde, Jude zu sein. Er wollte aber als Jude und deutscher Intellektueller anerkannt werden. Daniel und Jonathan Boyarin jedenfalls sehen beide Gesten als übliche Verhaltensstile jüdischer Männer in der europäischen Diaspora: „It is as offensive when all evil in Jews is referred to as their being ,like goyim‘ as when some Christians or Otto Weininger refer to evil in gentiles a having a Jewish character. It cannot be denied that this ,racist‘ mood overtakes Jewish culture more than occasionally.“73 Mit dem Pranger der 33 Ehrengerichtsforderer war es allerdings noch nicht genug. Mit Thomas Mann fand sich ein weiterer prominenter Kombattant, der im antisemitischen Ton69 Endelman 1999, 333. 70 Jonge 1903, 23, 71 Diese Struktur erinnert an das spätmoderne Konzept „Homonationalism“ von Jasbir Puar. Die Queer-Theoretikerin hat Mitglieder einer vorher diskriminierten Gruppe – US-amerikanische Homosexuelle – dabei beobachtet, wie sie sich den politischen Habitus der dominanten Gruppe aneignen und zum Beispiel eine starke Anti-Immigrationspolitik unterstützen, weil sie sich angeblich von ‚homophoben‘ Jugendlichen aus ‚rückständigen‘ ‚Kulturen‘ bedroht sehen. Puar 2007. Für Ähnliches im deutschen Kontext vgl. Haritaworn 2011. 72 Lefkovitz 2002, 98. 73 Boyarin/Boyarin 2002, 92.

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fall Lessings keine Kulturkritik, sondern einen unfairen Angriff las. Lessing war lange Zeit ein Freund der Familie und besonders von Manns Schwester gewesen. Auch Thomas Mann griff eher zum großen Pinsel, wenn er Lessing als „benachteiligte[n] Zwerg“74 bezeichnete: „Herr Lublinski ist kein schöner Mann, und er ist Jude. Aber ich kenne auch Herrn Lessing (wer kann schon für seine Bekanntschaften) und ich sage nur so viel, wer einen Lichtalben oder das Urbild arischer Männlichkeit in ihm zu sehen angäbe, der würde der S c h w ä r m e r e i geziehen werden müssen.“75 Während Thomas Mann sich damit implizit auf seine eigene ‚arische Männlichkeit‘ berief, bestritt Lessing prinzipiell Manns Männlichkeit, oder genauer noch: den Besitz von ‚heterosexueller‘ Männlichkeit. Er sprach von Katja, Thomas Manns Ehefrau, als „sein Mann“76, von Mann selbst als „zärtig Herrchen“ und fragte sich, ob er „wohl […] hermaphroditisch“ sei.77 Die bizarre jüdisch-arische, straight-gay Männlichkeitskonkurrenz gipfelt in einer Duellforderung Theodor Lessings, die Mann – aus der Sicht Lessings – aus fehlendem Mannesmut verweigerte. Thomas Mann hingegen bestritt Lessing die Satisfaktionsfähigkeit mit den knappen Worten: „Ich brauche nicht zu versichern, daß ich mich mit Herrn Lessing nicht schlage.“78 Hier kam als dritte Männlichkeitsdimension neben ‚Rasse‘ und Sexualität die Kategorie Klasse ins Spiel: Der Großbürger schlägt sich nicht mit dem Emporkömmling, der, wie Thomas Mann pedantisch aufführte, nur mit Mühe und Not (und der Protektion der Familie Mann) ein Auskommen hatte. Durchkreuzt wurde diese Inanspruchnahme von Status jedoch durch die Kategorie Bildung. Theodor Lessing war immerhin ein habilitierter Philosoph, wenngleich nur als unbezahlter Privatdozent tätig, der versuchte, sich mit einem Schulabbrecher zu schlagen – Lessing ließ nicht unerwähnt, dass Mann wegen Mathematikschwäche das Gymnasium in der Sekunda hatte verlassen müssen. Auch das wäre allerdings gegen den Comment der Satisfaktionsfähigkeit gewesen, denn das bürgerliche Recht auf ein ‚Ehrenhandel‘-Duell bekam man durch akademische Initiation und die Position des Reserve74 Mann 1910b, 32. 75 Ebenda, 31 f. Der Text erschien zuerst in Das literarische Echo 11, 1.3.1910. Ein Hinweis auf Auseinandersetzungen um die ‚Häßlichkeit‘ von Juden und eine daraus entstehende Beziehungsproblematik zwischen Juden und Deutsche[n], so der Titel einer Studie des jüdischen Feuilletonisten Anton Kuh, findet sich in folgender Bemerkung: „Was macht den Durchschnittsjuden auf den ersten Blick zur tragischen, und wenn ihm der Reichtum beweglicher Gesten, Vernunfttricks und Pfiffigkeiten nicht darüber hülfe, zur tragikomischen Figur? Rund heraus gesagt: Daß er nicht schön ist. Es wäre dumm, das nicht einzugestehn. Der Karikaturenstift und das Straßenauge sehen zu bestimmt.“ Kuh o. J. [1921], 11 (Hervorhebung GD). 76 Lessing 1910b, 13. 77 Ebenda, 3 und 8. 78 Mann 1910a, 46. Manns Antwort auf Lessing erschien zuerst in Das literarische Echo, 1.4.1910.

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offiziers, die man durch das Einjährige, die privilegierte kürzere Dienstzeit der Gymnasiasten, erwarb. Insofern wäre Mann gar nicht satisfaktionsfähig gewesen. In den weitgehend arischen Verbindungen allerdings galten Juden als nicht satisfaktionsfähig, insofern müsste Lessing als Forderer das Recht zum Fordern abgesprochen werden.79

Jüdischer ‚Selbst‘-Hass – Soziokulturelle Hintergründe Die in den 1880er-Jahren geborenen jungen jüdischen Literaten, von denen hier die Rede ist, fanden schwierige soziale und familiäre Verhältnisse vor. Sie wuchsen in einer Atmosphäre auf, in der deutlich gezeigtes Ressentiment ‚normal‘ war. Da in zu Vermögen gekommenen jüdischen Familien großer Wert auf höhere Bildung gelegt wurde, konnten Schul- und Universitätsbesuch zu traumatischen Erfahrungen werden. Die Lehrer verhielten sich gleichgültig gegenüber antisemitischen Anfeindungen der Mitschüler. Ehrenstein und Lessing berichteten von rassistischer Gewalt in ihren Schülertagen, Ehrenstein zum Beispiel wurde mit Steinen beworfen.80 Die Universitäten waren in den 1890er-Jahren zu Hochburgen von studentischem Antisemitismus, insbesondere auf Seiten von Verbindungs- und Corpsstudenten geworden.81 Die oft assimilierten Väter hatten sich enttäuscht vom Niedergang des politischen Liberalismus und dem Aufstieg antisemitischer nationalkonservativer und völkischer Parteien82 in ihre durchaus erfolgreichen Geschäfte zurückgezogen. Der Wissenschaftshistoriker Hans Dieter Hellige entdeckte bei einer biographisch vergleichenden Studie jüdischer Literaten aus dem Wilhelminischen und dem Habsburger Kaiserreich verblüffende Gemeinsamkeiten. Neben vielen heute nicht mehr geläufigen Autoren untersuchte er unter anderem die Biographien von Carl Sternheim, Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmansthal, Alfred Kerr, Rudolf Borchardt, Georg Simmel, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Stefan Zweig, Karl Kraus, Max Brod und Arnold Zweig. Sie alle hätten verhasst autoritäre Väter aus dem vermögenden Banken-, Fabrikanten- und Handels-

79 Zu den Feinheiten zeitgenössischer bürgerlicher Mimikry von adeligen Duellsitten siehe Frevert 1991. 80 „Auf der Straße wird mir oft Samerl gesagt u. Steine geworfen […] ich verhalte mich ruhig u. finde es interessant, wenigstens Zeuge eines Rassenkampfs zu sein, da unser kurzes Leben es uns nicht verstattet, Zeuge geologischer Umwälzungen zu werden.“ Kolleghefte XIX/5, ca. April bis September 1905. Zitiert nach Laugwitz 1987, 49 (Hervorhebung GD). 81 Siehe Kampe 1988. Notorisch für seinen Antisemitismus war der mächtige Verein Deutscher Studenten, der sich gegen das „fremde Geschlecht, das unser deutsches Vaterland in eine große Börse verwandelt“ zur Wehr setzen wollte, so eine Passage der Rede Erich von Schramms bei der Vereinsgründung am 9.12.1888. Zitiert nach Hammerstein 1995, 116. 82 Zur politischen Positionierung des jüdischen Bürgertums und seines Wahlverhaltens siehe Toury 1966.

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wesen gehabt, die als Juden für die sogenannte Große Depression seit 1873 – die noch bis in die 1890er-Jahre spürbar war – verantwortlich gemacht wurden.83 Umgeben vom kulturellen Code des, insbesondere finanzkritischen, deutschen Antisemitismus hatten sie sich geweigert, in die auch von ihnen verachteten profitträchtigen Gewerbe einzutreten. Für viele Söhne sei es dabei zu einer „antikapitalistischen Aufladung des ödipalen Konflikts“ gekommen.84 Hellige hat damit historisch genau justiert einen der Bausteine beschrieben, aus denen sich das, was ‚Selbst‘-Hass genannt wird, konstruierte. Stellvertretend für viele ähnliche Aussagen sei hier Franz Werfel genannt. In seiner Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig, schrieb er: „Die patria potestas, die Autorität, ist eine Unnatur, das verderbliche Prinzip an sich. Sie ist der Ursprung aller Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Haßlaster und Verdammnisse, gleich wie das Sohntum der Ursprung aller hemmenden Sklaveninstinkte ist, das scheußliche Aas, das in den Grundstein aller historischen Staatenbildungen eingemauert wurde.“85

Werfel wollte auch die Religion (Gottvater), die Könige (Väter der Bürger) und die Unternehmer (Väter der Arbeiter) stürzen. Sein antiödipaler, romantisch antikapitalistischer ‚Antisemitismus‘ tendierte zweifellos auf die Seite des Sozialismus, wohin später auch Kurt Hiller, der mit Werfel zusammenarbeitete, mit seinem ‚Aktivismus‘ tendierte. Erich Mühsam schrieb im Rückblick: „Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.“86 Zumindest zwei weitere Verhaltensvarianten waren unter der Generation der um 1880 geborenen Söhne in ähnlicher Stärke im Umlauf. Eine davon war die „Anlehnung an die Kapitalismusfeindschaft des konservativen Junkertums verknüpft mit einer ‚Germanomanie‘“87, wie sie in ihrer Reinform von Maximilian Harden verkörpert wurde. Die andere Variante war der Zionismus, den von den oben diskutierten ‚Kriegern‘ Albert Ehrenstein und zwischenzeitlich auch 83 Zum ökonomisch begründeten Antisemitismus in historischer Perspektive siehe Penslar 2001. 84 Hellige 1979, 508. 85 Werfel 1922, 101. Franz Werfel teilte übrigens das aggressive Ressentiment mit seinem Vater. Ein irritierter Freund Werfels berichtete von einer Schimpfkanonade des Vaters, als er preisend von seinem Sohn gesprochen habe: „[…] ja, das ist mein Pech! Daran geht eben meine Handschuhfabrik zugrunde, für die ich Franz bestimmt hatte. Wenn er es vorzieht, in der Welt herumzureisen und zu dichten, statt in meinen Unternehmen zu arbeiten und auszubauen, was ich geschaffen habe, muß ich eben mein Leben abschreiben. […] Mich hat der einzige Sohn enttäuscht.“ (Zitiert nach Trebitsch 1951, 47 f.) 86 Mühsam (1949) 2003, 12. 87 Hellige 1979, 480. In einer Studie über Antisemitismus als Zivilisationskrankheit spricht Marie-Luise Wünsche von einem wissenschaftlichen Mythos, der in der Annahme „von der Weitergabe archaischer seelischer Strukturen an die jeweils folgende Generation“ bestünde. Dabei sei der „Ödipuskomplex Schaltstelle zwischen der Phylogenese und der Ontogenese“. (Wünsche 2003, 177)

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Theodor Lessing wählten. Der Zionismus machte, wie an den Ausführungen zu Theodor Herzl und dem „Mauschel“ zu ersehen war, nun keineswegs Schluss mit dem innerjüdischen Antisemitismus, sondern verstärkte ihn aus propagandistischen Gründen. Dem „Mauschel“ ohne Selbstachtung und Virilität wurde der männlich kernige „Muskeljude“ gegenübergestellt.88

Psychiatrie und Judentum Der Terminus ‚Jüdischer Selbst-Hass‘ war von zwei Seiten an den Wahnsinnsdiskurs der Zeit angeschlossen. Es gibt den einen Erklärungsstrang, dass es sich um eine Pathologie,89 eine ‚depressive‘ Affektstörung handelte, die möglicherweise soziogenetische (Frantz Fanon) oder sozialpsychologische (Kurt Lewin) Hintergründe hatte, aber im betroffenen Individuum psychisch krankmachenden Schaden verursachte. Demnach wären die Diskriminierten dermaßen zermürbt und gehirngewaschen von der ständigen erniedrigenden Anrufung, dass sie die äußere Devaluierung ihrer Gemeinschaft im Laufe der Zeit als eigenes Urteil annehmen und sozusagen ‚verrückt‘ mit fremder Stimme sprechen würden. So sahen es jedenfalls, wie oben erwähnt, die Eltern des jüdischen Antisemiten Moritz de Jonge, die den Sohn ob seiner ,Selbst‘-Hasstiraden in die Psychiatrie einweisen wollten. Ein zweiter Erklärungsstrang für ‚Jüdischen Selbst-Hass‘ ist eine sogenannte Psychosis Judaica, einer angeblich verstärkten Neigung von Juden zu psychischen Krankheiten.90 Nach Sander Gilman markierte der Pariser Psychiater und Hysterie-Forscher Jean-Martin Charcot (1825–1893) den Anfang dieser Denkform, der eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit von Geistesstörungen bei Juden zu beobachten glaubte.91 Wie Richard von Krafft-Ebing (1840– 1902)92 und Emil Kraepelin93 interpretierte Charcot eine angenommene konstitutionelle Neigung der Juden zum Wahnsinn innerhalb des zeittypischen Diskurses der ‚Degeneration‘, wobei die Neigung der Gemeinschaft zur Abgeschlossenheit Inzucht nach sich ziehe und damit der ‚Entartung‘ Vorschub leiste. Diese Pathologisierung des Judentums,94 die auch in

88 Der Begriff „Muskeljude“ stammt von Max Nordau, der ihn auf dem 2. Zionistischen Kongress 1898 gegen den „Talmudjuden“ und den „Nervenjuden“ gestellt und dazu aufgerufen hatte, das Turnen unter jüdischen Jugendorganisationen zu befördern. 89 Findlay 2005. 90 Zuletzt Adams 2014. 91 Gilman 1984, 153. Gilman nimmt Bezug auf: Jean-Martin Charcot: Leçons du Mardi a la Salpêtrière. Progrès Medical 2 (1889) 11 f.Vgl. Kohn u. a. 1999, 246. 92 Krafft-Ebing 1888, 157. 93 Kraepelin 1909, 157. 94 Gilman 1984, Hödl 1997.

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Vorstellungen vom ‚nervösen Juden‘95 ihren Ausdruck fand, spielte sich innerhalb einer allgemeinen „Biologisierung des Sozialen“96 oder Pathologisierung des ‚Anderen‘ ab, in der auch die Einführung des oben bereits erwähnten naturwissenschaftlichen ‚Rasse‘-Begriffs ihren Platz hatte. Bei einer Durchsicht psychiatrischer Fachzeitschriften fand Volker Roelcke im Register der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie von 1882–1893 lediglich einen Eintrag für „Rasse“, und der beschäftigte sich mit amerikanischen Schwarzen. Im nächsten Registerband 1894–1903 dagegen tauchen ganze Felder wie „Rassenpsychopathologie“ auf.97 Interessanterweise wurde die ‚Rassen‘-Psychopathologisierung des Judentums vom Genie-undWahnsinns-Theoretiker Cesare Lombroso (1835–1909), selbst jüdischer Abstammung, bestritten, der sonst nicht zu den Gegnern der Degenerationstheorie zählte.98 Lombroso zweifelte zwar nicht an der größeren Häufigkeit von Wahnsinn in der jüdischen Bevölkerung, machte für diese Besonderheit aber Deformationen und Faktoren verantwortlich, die der anhaltenden Diskriminierung geschuldet waren. Im Laufe der Zeit gesellten sich noch andere Kritiken von jüdischen Psychiatern zum Chor der Skeptiker.99 Von heute aus gesehen, kann dieser Medikalisierungsdiskurs des späten 19. Jahrhunderts einer angeblichen Psychosis Judaica oder die Konstruktion eines ‚nervösen Juden‘ als apotropäischer Zauber gegen Emanzipation und Assimilation der Juden gesehen werden, womit sie als ‚krank‘ und damit unterlegen marginalisiert werden konnten.100

Queering Self-Hate Der Hass ist also immer und überall ein Aufstand unseres Herzens und Gemütes gegen eine Verletzung des ordo amoris, ob es sich nun um eine leise Hassregung unseres individuellen Herzens handelt, oder ob in gewaltigen Revolutionen der Hass als Massenerscheinung über die Erde geht und sich auf die herrschenden Schichten richtet. Max Scheler 1916

Möglicherweise kommt man der Schärfe und auch Hässlichkeit der jüdischen anti-jüdischen Ausfälle etwas näher, wenn man sie nicht als jähe Frontwechsel oder opportunistische Anbie95 96 97 98 99

Kaiser/Wünsche/Schaffrath 2003. Roelcke 2003, 34 f. Ebenda, 30f. Cesare Lombroso: L’Antisemitismo et la Szience modern. Turin 1894, 83. Zitiert bei Gilman 1984, 154. Zum Beispiel machte der jüdische Psychiater und Zionist Rafael Becker innerjüdische Assimilation und Säkularisierung für eine höhere jüdische Wahnsinnsrate als diejenige ihrer ‚arischen‘ Mitbürger verantwortlich Becker 1918. Entlastende Argumente siehe auch bei Sichel 1918. 100 Gilman 1984, 157 f.

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derung an den deutschen Antisemitismus liest, sondern als gelebtes Paradoxon zweier starker, aber einander ausschließender Affekte, die in diesem Reibungsverhältnis ein Störfeld produzierten. Über Karl Kraus, der für seine wütenden Attacken gegenüber jüdischen Autoren wie Heinrich Heine, Maximilian Harden und Alfred Kerr und die ‚Jüdische Presse‘ im Allgemeinen notorisch war, schreibt der amerikanische Germanist Paul Reitter: „[W]e have to recognize that he was somehow able to play, at once, two apparently mutually exclusive parts: the part of anti-Semite and the part of anti-anti-Semite”.101 Hier kommen wir zu einem Punkt, an dem eine Perspektivverschiebung zu einer ‚queren‘ Betrachtungsweise sinnvoll erscheint, zumal sich in den letzten beiden Dekaden ein kleiner Korpus von Queer Jewish Studies herausgebildet hat.102 In dem hier kartierten Feld würde sich damit eine systematische Aufmerksamkeit auf die Koexistenz ungelöster Widersprüche, auf die Hierarchisierungsfunktion binärer Oppositionen und auf Prozesse von Normalisierung im Allgemeinen und Normativierung von Sexualität im Besonderen richten. Für das Folgende sind zwei Denkinterventionen der Queer Theorie von Belang. Die erste besteht darin, zu versuchen, binäres Denken und die darin eingeschlossenen Hierarchisierungen und Naturalisierungen von gesellschaftskonstituierenden Oppositionsbildungen zu untergraben. Für jüdische Intellektuelle waren besonders die Binaritäten Kultur – Zivilisation, gesund – krank und Gemüt – Geist problematisch. Auf dem ersten Pol der Gegenüberstellung erscheint die Norm, auf dem zweiten die Abweichung oder das unerwünschte ‚Undeutsche‘. Zum Beispiel finden sich bei Theodor Lessing dehierarchisierende Begradigungen: „Jeder Mensch ist ein Schnittpunkt einander ausschließender Kreise. Der Lebendigste wäre der, welcher an allen Kreisen Teil hat, wie alle an ihm.“103 Queering bedeutet in diesem Zusammenhang also, sich der antisemitischen Unterscheidungs-(id est Diskriminierungs-) Maschine zu entziehen und zu versuchen, diskriminierende Fremdanrufung und Selbstwert in einem Tableau von Unentscheidbarkeit auszubalancieren. 104 Die zweite mögliche Intervention von Queer Theory in das Untersuchungsfeld liegt auf der Ebene von Normativitätskritik. Aus dieser Perspektive käme der moderne ‚Selbst‘-Hass dadurch zustande, dass Antisemitismus normativ wurde. Daniel und Jonathan Boyarin, die wilden Denker einer Jewish Queer Theory, argumentieren, dass der Zionismus und die Erfindung der Heterosexualität eng zusammenhängen. Andere Queer-Theoretikerinnen weisen auf die Gleichzeitigkeit der ‚Erfindung‘ von wissenschaftlichem Rassismus und der Kategorie

101 102 103 104

Reitter 1999, 243. Boyarin 2003, Hoffman 2009. Zitiert nach Marwedel 1987, 43. Engel 2002.

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der Homosexualität hin.105 Das Ermannungsprogramm des Zionismus sei sozusagen die Heterosexualisierung des jüdischen Mannes, der zuvor als Diskriminierter im antisemitischen Phantasma feminisiert worden sei.106 Feminisierung gilt als Einfall für Homosexualitätsverdacht. Insofern ist Homosexualitätsabwehr ein wichtiges Schlachtfeld, die an-assimilierte Männlichkeit zu beweisen. Auch hier gilt, dass die Denunziation der Homosexualität anderer Leute als das sicherste Mittel empfunden wurde, diesen Verdacht abzuweisen. Heterosexualität war ja erst mit der Normierung und Pathologisierung des Homosexuellen als Person, wie sie in Deutschland 1907–1909 in den Eulenburgprozessen im öffentlichen Bewusstsein etabliert wurde, eine sinnvolle Beschreibung für nicht-homosexuelle Menschen geworden. Interessant an diesem Zusammenhang ist, dass ausgerechnet der getaufte Jude Maximilian Harden mit seiner Denunziation vermuteter Homosexualität der kaiserlichen Entourage diesen Diskurswechsel beförderte.107 Harden wiederum war bekennender ‚Antisemit‘108 und zudem eine ausgesprochen ‚queere‘ Erscheinung. Franz Kafka (1883–1924) berichtete von einer Lesung Hardens: „Fußspitzentanz, um sich größer zu machen […]. Gespannte Hose, selbst in der Leistengegend. Ein wie bei einer Puppe aufgenagelter Frack […] wahrscheinlich geschnürt.“109 Theodor Lessing, der sich mit Anspielungen auf Thomas Manns Homophilie ständig selbst überbot, hat sich sein Leben lang mit der leidenschaftlichen Jugendfreundschaft zu Ludwig Klages (1872–1956) abgekämpft,110 die letzterer mit antisemitischen Untertönen aufkündigte, und Albert Ehrenstein, der Hiller unterstellt hatte, dass dieser ihn erotisch bedrängt habe, geriet in eine psychotische Krise, weil er seine – nur von seiner Seite als bedeutend interpretierte und erotisch aufgeladene – Beziehung mit Arthur Schnitzler bedroht sah. Die Instabilität des assimilierten Status scheint in den hier diskutierten Fällen auch mit einer Instabilität des Begehrensmusters in Verbindung zu stehen. Man könnte auch sagen, dass das eine das andere destabilisiert. Der Zug zur sexuellen Denunziation, die bei allen hier entwickelten ‚Fällen‘ zu beobachten war, kann damit als

105 Somerville 2000. 106 Boyarin 1997. 107 Domeier 2012. Zur ‚Queerness‘ von Kaiser Wilhelm in seinem Beraterkreis und darüber hinaus siehe Dietze 2011. 108 In einem Interviewband, den Hermann Bahr in der Nacharbeit des von Treitschke angezettelten Berliner Antisemitismus-Streites zusammengestellt hatte, sagte Harden: „Weil ich gegen den Zwischenhändlergeist, gegen Börsenpöbel und gegen den fauligen Egoismus der Bourgeoisie bin! Kann ich dafür, daß man da gleich Antisemit heißt?“ Bahr 1894, 51. 109 Kafka 1983, 190, zitiert nach Neumann/Neumann 2003, 25. 110 Kotowski 2000. Siehe auch Lessings Beschreibung in seiner Autobiographie Einmal und nie wieder. Lessing 1935.

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Versuch gelten, wenigstens einen Faktor des prekären Selbst auf den ‚Anderen‘ zu projizieren. Die ‚Affektstörung‘ ‚Selbst‘-Hass, wie sie in den beschriebenen Literaturkriegen zu beobachten war, scheint also in bestimmten Positionen eine Affektumleitung gewesen zu sein: verschobene Kämpfe, um ‚deutscher‘ Männlichkeit, die als Norm und damit heterosexuell gedacht war, über Abwehr und Transfer von Homosexualitätsverdacht näherzukommen, oder im Sinne des Lewin’schen ‚negativen Chauvinismus‘ als Umleitung des Wunsches, zur dominanten Gruppe zu gehören, in den Hass auf die marginalisierte Gruppe. Und doch liegt im ,Selbst‘-Hass-Paradigma ein performativer Selbstwiderspruch oder, wie oben entwickelt wurde, eine queere Koexistenz von Widersprüchen und Paradoxien. Die als ‚Konformitätsexzess‘ bezeichenbare Haltung etwa von Lessing, Ehrenstein und de Jonge zeigt, dass am herrschenden Common Sense etwas nicht mehr funktionierte, sonst würde sich das Befremden nicht erklären, das ihnen entgegenschlug. Ihr ‚Selbst‘-Hass avant la lettre – die Begriffe wurden erst 1921 (Kuh) geprägt und 1933 (von Lessing selbst) popularisiert – machte sie auch im ‚progressivem‘ Umfeld zu Ruhestörern.111 Denn es weht immer der Pulvergeruch der Revolution in einen Diskurs, wenn an irgendeiner Stelle der ungleiche Vertrag zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten allzu sichtbar wird. Die deutsche Revolution brauchte dann zwar noch einen großen Krieg mit vorher nie dagewesenem industriellem Gemetzel, bevor sie Wirklichkeit wurde, aber sie folgte demselben auf dem Fuß. Ein Dichter aus der Kondor-Anthologie, der politische Aktivist und Expressionist Ludwig Rubiner, trieb dann 1917 die hier beobachtete Störungskonstellation ins Revolutionär-Politische: „Wir leben erst aus unseren Katastrophen. Störer ist ein privater Ehrentitel, Zerstörer ein religiöser Begriff, untrennbar heute von Schöpfer. Und darum ist es gut, dass die Literatur in die Politik sprengt.“112

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Sabine Fastert

Das kreative Potenzial der Störung. Mandalas und die abstrakte Kunst um 1900

Vorstellungen einer inneren Verbindung von psychischer Störung und Kreativität reichen bis weit in die antike Welt zurück. In der platonischen Enthusiasmuslehre ergreift Dichter und Musiker ein höchst produktiver göttlicher Wahnsinn, der seit der Renaissance auch auf die bildenden Künstlerinnen und Künstler übertragen wurde.1 Erst im Anschluss an Arthur Schopenhauer (1788–1860) setzte schließlich eine zunehmende Pathologisierung der Kunstschaffenden ein, die sie um 1900 zum Gegenstand eines virulenten medizinischen Diskurses werden ließen. Das Verhältnis von Hirnkonstellation, Geisteskrankheit und künstlerischer Moderne wurde zum populären Untersuchungsfeld vieler Nervenärzte und psychopathologische Kulturkritik zu einem gesellschaftspolitischen Instrument ersten Ranges. Dabei geriet konsequenterweise allmählich auch die PatientInnenkunst in den Blick, mit allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, die ein gänzlich neues Untersuchungsfeld mit sich bringt. Es war eine Frage nach der verwendeten Perspektivierung und Sprache, denn ein visuelles Erlebnis sollte nun eingeordnet und nach psychiatrischen Kategorien klassifiziert werden. In einer gerichtsmedizinischen Studie über die Verrücktheit findet sich 1872 der erste Hinweis auf die zeichnerische Betätigung von Kranken.2 Der Verfasser, der Pariser Gerichtsmediziner Auguste Ambroise Tardieu (1818–1879), war zwar ausschließlich an der diagnostischen Bedeutung der Handschrift interessiert, bemerkte aber doch fasziniert: Trotzdem bisher nur die Schriften von Verrückten Beachtung gefunden haben, scheue ich mich nicht zu erwähnen, dass man oft ein wirkliches Interesse hätte, die Zeichnungen und Malereien der Geisteskranken zu untersuchen. Selbst wenn man sich in Gedanken oder durch freies Gehenlassen der Phantasie die unmöglichsten Dinge zurechtlegen würde, so könnte man doch niemals die Art von Wahnwelt erreichen, die durch die Hand eines Verrückten auf dem Papier entsteht. Das sind wirklich Schöpfungen, die uns schwindlig werden lassen wie durch einen Alpdruck.3

1 2 3

Vgl. Krieger 2007, 35–56. Das generische Maskulinum schließt im Folgenden männliche wie weibliche Vertreter ein. Zitiert nach Bader 1972, 102. Vgl. Rothe 1967, 17–42.

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Hier zeigt sich deutlich die Faszination, aber eben auch die gleichzeitige Unsicherheit gegenüber den Werken der PatientInnen. Tardieu konstatierte vor allem den verstörenden Eindruck. Die Psychiater betraten damit ein neues Feld, das der visuellen Kultur. Zum einen konnten sie ein Stück weit ihre Alltags- und Kunsterfahrung einbringen, aber die PatientInnenkunst folgte offensichtlich ihren eigenen Regeln. Zum anderen war das Erkenntnisinter­ esse der Psychiater kein vorrangig ästhetisches, sondern ein klinisches. Deshalb bedurfte es der Aneignung und kritischen Reflexion neuer, kulturwissenschaftlicher Techniken durch die Psychiatrie, um Ordnung wenigstens auf analytischer Ebene wiederherstellen zu können. Bereits vier Jahre später versuchte Paul Max Simon (1837–1889), Psychiater in den Anstalten von Bron und Blois, den Zusammenhang zwischen Krankheitsstruktur und bildnerischer Darstellung genauer zu fassen. Dafür klassifizierte er unterschiedliche Typen: Unordnung und Konfusion in den Linien des „Chronisch-Manischen“, saubere Ordnung und logische Klarheit bei „Größenwahn“, das Missverhältnis zwischen Zeichnung und Verlangen des Zeichners bei „allgemeiner Paralyse“.4 Der Turiner Psychiater und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso (1835–1909) beschrieb schließlich 1880 als pathologische Züge die gleichzeitige Vorliebe für das Symbolische und Nebensächliche, die Verschlingung von Schriften, die Tendenz zum fast geometrischen Ornament bei „Monomanen“ sowie die chaotische Unordnung bei „völlig Wahnsinnigen“.5 Das Spannungsverhältnis von Störung und Ordnung bestimmt demnach nicht nur den Produktionsprozess, sondern auch das fertige Produkt. Von besonderer Bedeutung für die deutschsprachige psychiatrische Literatur wurde die 1906 publizierte Studie des Koblenzer Psychiaters Fritz Mohr (1874–1957), in der für eine Verbesserung der psychiatrischen Diagnostik verschiedene Zeichentests vorschlagen wurden.6 Diese reichten vom Nachzeichnen vorgegebener Figuren über das Zeichnen aus dem Kopf bis hin zum Vervollständigen angefangener, aber noch unfertiger Zeichnungen. Bei seinen eigenen Versuchen beschränkte Mohr sich aus rein praktischen Erwägungen auf das Nachzeichnen nach Vorlage, das eine ganze Reihe von Kranken unterschiedlichster Krankheitsbildern unter möglichst gleichen Bedingungen unternahm. Bei der Diagnose Dementia praecox machten die PatientInnenzeichnungen für ihn den Eindruck eines zerfahrenen, von verschiedenen, ungeordneten Bewegungsantrieben unterbrochenen, in keiner Weise produktiven Zustandes. Hingegen bemerkte Mohr bei der Paralyse eine völlige Auflösung des Sinnes für Proportionen, eine Ataxie der Linienführung, eine Unklarheit der Auffassung sowie einen Merkfähigkeitsdefekt. Insgesamt bestätigte er im Experiment eine Spezifizität der Art zu zeichnen bei den großen Krankheitsgruppen, wie sie Simon rein intuitiv aus den Spontanzeichnungen entwickelt hat4 5 6

Simon 1876, 358–390. Lombroso 1880. Mohr 1906.

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te. Mohr sah sein Testverfahren als Vorstudie für die ungleich schwierigere Bearbeitung von Spontanzeichnungen, die sich mit ausgewählten Beispielen anschloss. Damit schuf er eine neue Grundlage für alle späteren Arbeiten, selbst der bedeutende Münchner Psychiater Emil Kraepelin (1856–1926) brachte 1909 in der achten Auflage seines Lehrbuches eine ausgreifende Würdigung der PatientInnenkunst.7 Doch Hans Prinzhorn (1886–1933), der bekannte Heidelberger Psychiater und Kunsthistoriker, bemerkte in seiner Kritik 1919 mit Recht, dass „diese ganze Betrachtungsweise beherrscht ist von der Grundvorstellung, es handle sich beim Zeichnen ausschließlich um die richtige Reproduktion eines Gegenstandes auf einem Blatt Papier, um einen rational erschöpfend fassbaren Vorgang“.8 Einen ganz anderen Zugang wählte Paul Meunier (1873–1957), Psychiater in der Anstalt von Villejuif, in seinem Buch L‘Art chez les fous, das er 1907 bezeichnenderweise unter dem Pseudonym Marcel Réja erscheinen ließ.9 Unter diesem Namen hatte Meunier bereits seit jungen Jahren Gedichte wie auch Tanz- und Theaterkritiken veröffentlicht. Klinische Gesichtspunkte traten folglich in den Hintergrund, stattdessen praktizierte Réja erstmals eine konsequent ästhetische Herangehensweise. Dabei kam er zu erstaunlichen Ergebnissen und lieferte gewissermaßen das Gegenmodell zu Mohrs fast zeitgleicher Studie, denn für Réja gab es grundsätzlich keinen spezifischen Stil der PatientInnenkünstler als Beispielfälle psychiatrischer Krankheiten. Einen Gegensatz sah er eher zwischen Kreativen – seien sie nun verrückt oder auch nicht – und künstlerisch unproduktiven Durchschnittsmenschen. Bestenfalls erfolgte bei Verrücktheit nach Réjas Ansicht eine Intensivierung der Vorgänge, die sich analog bei allen Kunstschaffenden abspielen würde: „Jedenfalls ist es offensichtlich, dass der Wahnsinn in bestimmten Fällen die Entstehung künstlerischen Schaffens begünstigt. Die psychischen Bedingungen, die in diesen beiden Zuständen vorherrschen, sind durchaus gleichen Ursprungs, wobei der Verrückte in übersteigerter Form zeigt, was wir bei dem Künstler nur als unaufdringliche Andeutung sehen.“10

Réja unterschied dabei drei grundlegende Ausdrucksformen: erstens die Zeichnungen intellektuell Schwacher, die ungestaltete Anfänge liefern und sich durch fortschreitende Inkohärenz bei geistigem Verfall auszeichnen würden; zweitens die Werke, in denen der unbändige und übersteigerte Gebrauch von Symbolen als Ergebnis krankhafter Einflüsse hervortrete – hier fände sich ein archaischer Stil, der mitunter ein großes Talent offenbare; drittens und 7 8 9 10

Vgl. Ankele 2012. Prinzhorn 1919, 316 f. Vgl. Réja 1901. Réja (1907) 1997, 18. Vgl. Hulak 1990.

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letztens eine ornamentale Kunst, die ganz aus dem Dekorieren lebe, ohne eine bestimmte Idee oder Emotion ausdrücken zu wollen. Gerade die einfachen Formen der Symmetrie, der Wiederholung und des Geometrisierens gäben den PatientenkünstlerInnen offensichtlich Halt und folgten für Réja ihrer ganz eigenen Logik: „Man begreift hier den Gestaltungsdrang in seiner ursprünglichen Form, eine Arbeit, die durch sich selbst zu genügen sucht.“11 Alle PatientenkünstlerInnen stilisierten ihre Werke auf ganz individuelle Weise. Auch Carl Gustav Jung (1875–1961), Schweizer Psychiater und Mitbegründer der analytischen Psychologie, sah seine PatientInnen im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung in Zuständen von gestörtem inneren Gleichgewicht und Desorientiertheit spontan geometrische Figuren malen. Er entdeckte sogar eine geometrische Grundstruktur, die immer wieder auftauchen würde, das sogenannte Mandala. Störung und Ordnung stünden dabei in besonderem Maße in einem produktiven Widerstreit, denn der Aufbau eines Mandalas (Sanskrit für „Kreis“) unterliegt strengen geometrischen Regeln.12 Es handelt sich hier um ein kreisrundes geometrisches Schaubild, das stets auf einen Mittelpunkt hin orientiert ist und im Hinduismus und Buddhismus religiöse Bedeutung besitzt. Aufgrund seiner formalen Struktur konnte es für Jung in chaotischen Verfassungen das Gefühl der sinnvollen Strukturiertheit und Ganzheit hervorrufen: In der Regel nämlich tritt das Mandala in Zuständen psychischer Dissoziation oder Desorientierung auf, so zum Beispiel bei Kindern zwischen acht und elf Jahren, deren Eltern in Scheidung begriffen sind, oder bei Erwachsenen, welche infolge ihrer Neurose und deren Behandlung mit der Gegensatzproblematik der menschlichen Natur konfrontiert und demgemäß desorientiert sind, oder bei Schizophrenen, deren Weltbild infolge des Einbruchs unverständlicher Inhalte des Unbewussten in Unordnung geraten sind.13

Hier traf eine vorgegebene strenge geometrische Grundstruktur auf eine (auch) formale Störung, an der die schwierige Beziehung von Kreativität und Störung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie im Brennpunkt diskutiert werden kann. Moderne war dabei Rationalisierung und Chaos zugleich, wobei Psychiater wie Jung modern sein wollten, ohne einen vermeintlichen Urgrund von Ordnung zu verlieren. Kreativität und Störung waren dabei unauflöslich miteinander verbunden. Das Mandala erweist sich meines Erachtens in diesem Zusammenhang als Kippfigur, die zu spontanen Gestalt- beziehungsweise Wahrnehmungswechseln führen kann. Es hängt von der Perspektive der Rezipientin / des Rezipienten ab, ob das Mandala 11 Réja (1907) 1997, 33. 12 Jung 1977, Frontispiz. Vgl. Kleeberg 2015. 13 Jung 1977, 115.

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eher als Ausdruck von Störung oder Entstörung verstanden wird. Im Folgenden wird die äußere Form des Mandalas mit seiner spezifischen formalen Ambivalenz erstmals im zeitgenössischen Kreativitätsdiskurs verortet und nach dem Selbstverständnis des blickenden Psychiaters beziehungsweise Psychologen gefragt.

Mandala: Die Störfigur Carl Gustav Jungs Viele Mandalas, die in der Analyse entstehen, entstammen nicht Träumen, sondern der sogenannten aktiven Imagination. Im Gegensatz zur klassischen Traumdeutung soll diese Therapieform auf die Welt des Unbewussten aktiv Einfluss nehmen, um sie im positiven Sinne umzugestalten. In der Entspannungsphase wird die Analysandin in einen Zustand versetzt, in dem sie sich kurz vor dem Einschlafen befindet, das heißt das Bewusstsein ist noch ansprechbar, aber das Unbewusste ist mit seinem Bilderfluss bereits an der Oberfläche und ein Dialog möglich. Beim Malen eines Mandalas, ob nun angeleitet oder nicht, erlebt man sich nach Jung als Ganzheit und als Individuum, Unbewusstes vermenge sich mit Bewusstem, es trete ein Zustand der Gesundung ein. Jung sprach von einem „Selbstheilungsversuch der Natur“,14 der nicht aus einer bewussten Überlegung heraus funktioniere: „Dabei wird, wie die vergleichende Untersuchung zeigt, ein fundamentales Schema, ein sogenannter Archetypus, benützt, welcher sozusagen überall vorkommt und seine individuelle Existenz keineswegs nur der Tradition verdankt, ebenso wenig, wie die Instinkte einer derartigen Vermittlung bedürfen.“15 Deshalb betonte er immer wieder mit Nachdruck die in erster Linie spontane Entstehung der Mandalas und zog sie zu weitreichenden Interpretationen heran. Beispielsweise publizierte Jung in späteren Jahren ein Mandala, das von einer jüngeren Patientin gezeichnet und von ihm als „neurotisch gestört“16 klassifiziert worden war (Abb. 1). Im Zentrum steht ein fünfzackiger Stern, gerahmt von ornamental gestalteten Kreisen. Doch wirkt das Zentrum seltsam verdoppelt, denn hinter dem blauen Stern bricht links im schwarzen Feld Feuer aus, während rechts eine von unregelmäßigen Blutgefäßen durchzogene Sonne erscheint. Auch der rahmende Kreis erfährt an dieser Stelle eine Unterbrechung und setzt sich verjüngt fort. Unterhalb und damit außerhalb des Mandalas finden sich noch weitere Wellenlinien. Folglich scheint die geometrische Struktur des Mandalas tatsächlich formal aufgelockert oder – je nach Betrachtungsweise – empfindlich gestört. Jung sah in diesem Beispiel eine Verschiebung des Persönlichkeitszentrums in Richtung der wärmeren Region von Herz und Gefühl, denn dem kalten Blau des Sterns sei die gelbrote Sonne entgegensetzt. 14 Ebenda. Vgl. Wegener-Stratmann 1990. 15 Jung 1977, 116. 16 Ebenda, 105 f., Bild 42.

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Abb. 1: Nach C. G. Jung das neurotisch gestörte Mandala einer Patientin.

Abb. 2: Nach C. G. Jung das gestörte Mandala einer schizoid veranlagten Patientin.

Durch die Einbeziehung der Intuition könne sich deshalb bei der Patientin zukünftig eine ahnungsweise, irrationale Ganzheitserfassung entwickeln, so Jung in der Erklärung weiter. Auch das Mandala einer jüngeren, wohl schizoid veranlagten Patientinn (Abb. 2) wies nach Jung ein deutlich pathologisches Moment durch die Spaltungserscheinungen im Zentrum auf: „Die scharfen, stechenden Formen der Bruchlinien deuten böse, verwundene, destruktive Impulse an, welche die versuchte Synthese der Persönlichkeit verhindern könnten.“17 In der Tat entsprach die Gestaltung des Zentrums nicht dem vertrauten Schema, doch verschärfte Jungs deutende Lesart den Störfaktor immens und zeigte die Macht der Sprache in diesem Zusammenhang. Deshalb ist für die „aktive Imagination“ die Anwesenheit eines erfahrenen Therapeuten bzw. einer erfahrenen Therapeutin wesentlich, der über die gesehenen Bilder unterrichtet wird und zuweilen Hilfestellung geben kann, mit seinem Einsatz aber durchaus manipulativ wirksam wird. Laut Jung wies das gerade erwähnte Mandala zum Beispiel bereits Wege der inneren Beruhigung auf: „Es scheint aber, als ob die regelmäßige Struktur des umgebenden Bildes die gefährlichen Spaltungserscheinungen im Inneren zu bannen vermöchten. Dies war im weiteren Verlauf der Behandlung und späteren Entwicklung der Patientin auch der Fall.“18 Für Jung eignete sich diese Therapieform besonders für die 17 Ebenda, 105, Bild 41. 18 Ebenda. Vgl. Kast 1995.

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Behandlung von neurotischen Angstzuständen und Depressionen. Er nannte sie die „antizipierte Psychose“,19 denn dadurch könnten auch bislang nur latente Psychosen zum Ausbruch und damit zur Heilung gebracht werden. Das Mandala drückt demnach nicht nur Ordnung aus, es bewirkt auch Ordnung: „Man sieht in solchen Fällen deutlich, wie die strenge Ordnung eines derartigen Kreisbildes die Unordnung und Verwirrung des psychischen Zustandes kompensiert, und zwar dadurch, dass ein Mittelpunkt, auf den alles hin geordnet ist, oder eine konzentrische Anordnung des ungeordnet Vielfachen, des Entgegengesetzten und Unvereinbaren konstruiert wird.“20 Im Visuellen zeigt sich jedoch ein dem Mandala zugrunde liegendes Paradox. Die vermeintlich spontane Entstehung kontrastiert mit dem strengen Eindruck eines geometrischen Schemas, das zwar in den Details variabel bleibt, aber dennoch mit Zirkel und Lineal nach einem übergeordneten Muster vollzogen wird. Damit nimmt das Mandala im Entstehungs- wie Wahrnehmungsprozess jeweils gegenläufige formale Entwicklungen in sich auf. Erst im Akt der gerichteten Wahrnehmung, mit dem entsprechenden gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, wurde der große Zusammenhang in Hinblick auf Störung oder Entstörung definiert. Der Psychiater wurde zum Kulturwissenschaftler und analysierte ästhetische Phänomene, ohne allerdings die zugrunde liegenden formalen Kriterien näher zu hinterfragen. Hier funktioniert ein kultisches Mandala im Übrigen anders, denn es gilt als ausdrücklicher Ausgangspunkt für eine bestimmte Visualisierung, die in der Meditation realisiert werden soll. Jungs Arbeit am und mit dem Mandala zeichnete sich letztlich durch ein exponiertes In­ einander von Gegensätzen und Widersprüchen aus: Assoziation und Gestaltung, Spontaneität und Akkuratesse, Analyse und Therapie stehen in einer produktiven Spannung, aber auch Moderne und Mystik, Psychoanalyse und Parapsychologie, wie noch zu zeigen sein wird. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Mandala reichte zudem bei Jung biographisch weit zurück. Bereits im Rahmen der parapsychologischen Experimente für seine medizinische Doktorarbeit diktierte die medial begabte Kusine Helene Preiswerk (1881–1911) Jung das Mandala-Schema als vermeintliche Offenbarung der Geister in die Feder. Jung verdeutlichte zwar zu Beginn der Dissertation sogleich, wie er die beobachteten okkulten Phänomene auffasste, nämlich als „Fall von Somnabulismus bei einer Belasteten“ und damit als Fall aus dem „großen Gebiete der psychopathischen Minderwertigkeit“.21 Dennoch stand die 1902 abgeschlossene Doktorarbeit am Anfang einer lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Feld des Okkulten, und Jung blieb keineswegs ein neutraler Beobachter. Schließlich waren die 19 Jung 1968, 309. 20 Jung 1977, 115. 21 Jung 1966, 19. 1929 bezeichnete er das Diagramm im Rückblick als „Mandala einer Somnabulen“. Jung 1978, 31. Vgl. Jeromson 2007. Für den Hinweis danke ich Chantal Marazia.

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„belasteten“ Vorfahren und Verwandten bekanntlich seine eigenen. Zwischen 1894 und 1900 trieb Jung seine Kusine zu regelmäßiger spiritistischer Produktion an, außerdem besuchte er in den Jahren zwischen 1895 und 1897 die wöchentlichen Séancen eines ‚Tischrücker-Kreises‘. Auf Kusine Helene nahm Jung 1896 sogar aktiv Einfluss, indem er ihr das damals viel gelesene Buch Die Seherin von Prevorst des Weinsberger Arztes und Schriftstellers Justinus Kerner (1786–1862) aus dem Jahr 1829 zum 15. Geburtstag schenkte.22 Mit der Distanz des klinischen Blicks notierte er in der Dissertation dann den Anpassungsprozess im Verhalten des Mediums, der durch diese Lektüre ausgelöst wurde. Helene kopierte in der Folge nicht nur die Verhaltensmuster der vermeintlichen Seherin Friederike Hauffe (1801–1829), sondern adaptierte auch die Vorstellung ihrer berühmten Lebens- und Sonnenkreise. Unter dem selbst gewählten Namen Ivenes konzipierte Jungs Kusine im März 1900 ein kosmisches System konzentrischer Kreise, das von zwei gegensätzlichen Kräften, Magnesor und Connesor, im Gleichgewicht gehalten wurde. Im Zentrum befand sich die „Urkraft“, die von Helene als „Ursache der Schöpfung“ und „geistige Kraft“ beschrieben wurde.23 Die Namensliste der beteiligten Kräfte beziehungsweise Mächte verfasste das Medium dabei selbst, das Kreisschema verfertigte Jung nach ihren Angaben. Am Ende der Dissertation spekulierte Jung über mögliche Quellen für Helenes elaboriertes Diagramm und referierte kurz die Bezüge zur okkulten und gnostischen Literatur, an anderer Stelle erinnerte er 1899 an die „dunklen, tiefsinnigen Bilder“24 des Görlitzer Mystikers Jakob Böhme (1575–1624). Jung sah in dem vorliegenden Kreisschema allerdings eine weit über die intellektuellen Fähigkeiten Helenes hinausgehende geistige Leistung, die er damals nur durch das Phänomen der Kryptomnesie zu erklären wusste. Darunter verstand er im Anschluss an seinen Mentor, den Genfer Psychologen und Parapsychologen Théodore Flournoy (1854–1921), ein „Bewusstwerden eines Gedächtnisbildes, welches aber nicht primär als solches bekannt wird“,25 das also als spontan entstandene Vorstellung erscheint und als unbewusste Mehrleistung einen automatischen Prozess darstellt. Angesichts der aktiven Mithilfe Jungs beim Hervorrufen des kosmischen Kreisschemas ist die Frage der Spontanität wohl mit einem deutlichen Fragezeichen zu versehen, doch hierin war Jung ganz Kind seiner Zeit: Als Visualisierungen des Psychischen schufen mediumistische Materialisationen, Telepathie, Transzendentalphotographie und andere parapsychologische Phänomene im ausgehenden 19. Jahrhundert einen diffusen, aber faszinierenden Schwellenraum zwischen Wissenschaft, Technik und Religion.26 Jung ging im Folgenden

22 23 24 25 26

Vgl. Gruber 2000. Vgl. Zumstein-Preiswerk 1975. Jung 1997, 145. Vgl. Treitel 2004. Jung 1966, 90. Vgl. Loers 1995, Pytlik 2005, Bonet Correa 2012.

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zum Selbstversuch über und zeichnete schließlich am 16. Januar 1916 sein erstes Mandala in die sogenannten Schwarzen Bücher. Daraus entstand später das „Mandala eines modernen Menschen“, das die Gegensätze des Mikrokosmos innerhalb der makrokosmischen Welt und ihrer Gegensätze darstellt (Abb. 3). Zwischen Juni und Oktober 1917 erfüllte Jung seine Militärpflicht als Kommandant eines Internierungslagers für englische Kriegsgefangene im Château d’Oex. Dort folgte eine intensive Beschäftigung mit dem Mandala, deren Ergebnis eine Serie von 27 Bleistiftzeichnungen im Armeenotizbuch war. „Meine ManAbb. 3: C. G. Jung, Mandala eines modernen dalabilder waren Kryptogramme über den ZuMenschen.. stand meines Selbst, die mir täglich zugestellt wurden“,27 erklärte Jung im Rückblick. Während des Krieges sah er sich selbst, wie so viele andere auch, im Zustand des inneren Chaos und befürchtete lange eine im Entstehen begriffene ernsthafte Erkrankung. „Die Psychose wächst noch“, so Jung, „geht weiter und weiter.“28 Doch das Malen von Mandalas löse nach eigenem Bekunden psychische Spannungen, wobei er besonders die Bedeutung der strengen Form betonte: „Erst als ich die Mandalas zu malen anfing, sah ich, dass alles, alle Wege, die ich ging, und alle Schritte, die ich tat, wieder zu einem Punkte zurückführten, nämlich zur Mitte. Es wurde mir immer deutlicher: das Mandala ist das Zentrum. Es ist der Ausdruck für alle Wege.“29 Anfang der 1920er-Jahre suchte Jung schließlich nach einem Ort für die Pflege seiner eigenen Selbstwerdung, formal angeregt vom Mandala-Grundschema und bezeichnenderweise außerhalb jedweden städtischen Lebens. Bereits 1909 nahm ihm das Gigantische und die Hektik der Millionenstadt New York den Atem: „Wir haben hier Dinge gesehen, die zur größten Bewunderung hinreißen, und Dinge, die zum tiefsten Nachdenken über soziale Entwicklung auffordern. Wir sind, was die technische Kultur anbelangt, meilenweit hinter Amerika zurück. Aber all das kostet entsetzlich viel und trägt schon den Keim des Endes in sich.“30 Chinatown fand er „dreckig 27 28 29 30

Vgl. Shamdasani 2009, 208. Ebenda. Vgl. Roth 2009. Jung 2009, 199 f. Vgl. Jaffé 1962, 368, auch Bair 2005, Wehr 1985.

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und unheimlich“.31 Schließlich resümierte Jung seiner Frau gegenüber: „Mir gefällt es nicht enorm, es ist nur höchst interessant.“32 Zur Ruhe kam er damals erst abseits des Großstadtund Gesellschaftstrubels in der urtümlichen Landschaft in Keene Valley in den Adirondack Mountains, wo der Gastgeber James J. Putnam (1846–1918), Neurologe aus Harvard, ein naturnahes Camp sein eigen nannte. An einem Tag weilte man in der Weltabgeschiedenheit, am anderen in Albany, einer turbulenten Großstadt im Staat New York – hier sah Jung ein „Ideal der Lebensmöglichkeit“33 verwirklicht, das er als vorbildlich empfand. Bei einer Berlinreise im Frühjahr 1911 stieg er denn auch mitten im Herzen der pulsierenden Großstadt ab, im Central-Hotel am Central-Bahnhof in der Friedrichstraße.34 Sehnsucht nach Ruhe im Zustande der Unruhe, so beschrieb er einmal das Seelenproblem des modernen Menschen: „Wir leben unleugbar in einer Epoche von Rastlosigkeit, Nervosität, Verwirrung und weltanschaulicher Desorientiertheit größten Ausmaßes.“35 Inspiriert von der afrikanischen Lebensweise, die Jung während einer Tunesienreise 1920 kennenlernte, kaufte er schließlich 1922 ein einsam gelegenes Grundstück in Bollingen am Zürichsee. Dort war geplant, sich mit eigenen Händen einen einfachen Bau ohne Strom und fließend Wasser zu errichten, „eine Wohnstätte, welche den Urgefühlen des Menschen entspricht. Sie sollte das Gefühl des Geborgenseins vermitteln – nicht nur im physischen, sondern auch im psychischen Sinne“.36 Im ursprünglichen Bollinger Turm von 1923 ergab die Architektur durch die Kreisform des Grundrisses ein vollständiges, einfaches Mandala. Daran erfolgten bis 1956 noch verschiedene Anbauten, die aber ins Kreisprinzip des Turms nicht eingriffen. Jung zog sich in den folgenden Jahrzehnten gerne für mehrere Tage oder Wochen ins weltabgeschiedene Leben nach Bollingen zurück, während die Familie in Küsnacht blieb. „In Bollingen“, erklärte Jung, „umgibt mich Stille.“37 Immer ging es um eine Heimkehr ins Elementare, die ihm in der modernen Stadt nur schwer möglich schien: „Der Turm wurde für mich ein Ort der Reifung – ein Mutterschoß, oder eine mütterliche Gestalt, in der ich wieder sein konnte, wie ich bin, war und sein werde.“38 In engem Zusammenhang mit diesem Bau standen auch seine weiteren Reisen zu den Völkern alter, das heißt naturnaher Kulturen. Durch die konsequente Abkehr von der Unruhe und Kurzatmigkeit der intellektuell-technischen Welt geriet der Bollinger Turm zum Ausdruck 31 32 33 34 35 36 37 38

Vgl. Jaffé 1977, 51. Ebenda, 52. Vgl. Jaffé 1962, 368. Brief von Carl Gustav Jung an Sigmund Freud, Berlin 31.3.1911. Zitiert nach McGuire/Sauerländer 1974, 455. Jung 1984, 266. Vgl. Jung 1974, 91–113. Vgl. Jaffé 1962, 229. Ebenda, 230. Ebenda, 229.

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der Ganzwerdung seines Erbauers. Jung war aber gerade kein Welt- oder Moderne-Flüchtling und Eskapist, sondern suchte statt einer Negation der Moderne sie zu bannen. Das Mandala galt ihm dabei grundsätzlich als Archetypus der Ganzheit, das eines der besten Beispiele für die universelle Wirksamkeit eines Archetypus überhaupt darstelle. Hieran schließen sich nun wichtige, die äußere Form des Mandalas betreffende Fragen an: Warum griff Jung auf eine abstrakte Form zurück, und welche Rolle spielte dabei das maßgebliche Phänomen der ornamentalen Zentriertheit? Und daran anschließend: Wie verhielt sich die einflussreiche Störfigur Mandala eigentlich rein formal zu den Werken der Künstlerpatienten sowie der zeitgenössischen Abstraktion?

Mandala und Patientenkunst im Kontext der Zeit In den 1920er-Jahren arbeitete Jung an einem tieferen Verständnis des Erlebten. Während kultische Mandalas stets einen besonderen Stil und eine begrenzte Anzahl typischer Motive zum Inhalt hätten, könnten sich individuelle Mandalas aus einer unbeschränkten Fülle von Motiven und symbolischen Anspielungen bedienen. Künstliche Wiederholung oder absichtliche Imitation funktionierten bei letzteren gerade nicht, deren zentrales Merkmal die spontane Entstehung bliebe. Erst 1929 äußerte sich Jung öffentlich über seine Forschungen zum Mandala: „Ich habe mindestens dreizehn Jahre lang die Resultate dieser Methode verheimlicht, um keine Suggestion entstehen zu lassen, denn ich wollte mich vergewissern, dass diese Dinge – insbesondere die Mandalas – wirklich spontan entstehen und nicht etwa durch meine eigene Phantasie den Patienten suggeriert werden.“39Aus dieser bekundeten Vorsicht heraus entstand der Eindruck, vermutlich auch nicht ganz unbeabsichtigt, diese Entwicklung hätte bei Jung voraussetzungslos und isoliert begonnen. Dies war jedoch nicht der Fall, was auch in Bezug auf das Verhältnis von Störung und Entstörung bei Jung wesentlich wurde. Für sein Verständnis des Mandalas ist es essenziell, dass das Schema dem Zeichnenden wirklich unbekannt ist und erst im Dialog mit dem (gestörten) Unbewussten spontan ans Licht kommt. Doch lässt bereits die auffällige Konstruiertheit seiner Mandalas hellhörig werden. Es wurde zudem schon in der Zeit selbst eine Synthese der oben genannten Spannungen anvisiert, was sich in der Rezeption des Mandalas um 1900 deutlich zeigte. Bereits im Jahr 1888 publizierte der amerikanische Psychiater William Noyes (1857–1915) im American Journal of Psychology den Fall „G“, den er fast fünf Jahre im Bloomingdale Asylum betreut hatte und der in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert war.40 Zum einen war „G“ ein in Paris ausgebildeter Künstler und arbeitete vor seiner Erkrankung als erfolgreicher Illustrator in New York. 39 Jung 1977, 74. 40 Noyes 1888/1889.

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Zum anderen malte und zeichnete er, nachdem er die Diagnose „manisch-depressive Psychose“ erhalten hatte, von Noyes unterstützt, in der Klinik weiter. Unter anderem entstand eine Serie von zwölf detailreichen Mandalas, deren religiöse und mythologische Symbolik in der Publikation ausführlich erläutert wurde. Grundlage waren von „G“ verfasste umfangreiche Texte und Tabellen. Begleitet wurden die Erläuterungen Noyes’ von einer ganzseitigen Abbildung mit zwei besonders aufwändigen Mandalas, die in der Tat außergewöhnlich schmuckreich sind. Die Abbildungen in der Publikation erfolgten zwar nur in Grautönen, aber im Text wurde auf die delikate Färbung der Zeichnungen eingegangen. Die prächtigen Mandalas von „G“ zeichneten sich wie die späteren Jungs durch ein reiches Spiel kleinteiliger Formen aus, vor allem mit dem Gegensatz von spitzem und rundem Formvokabular wurde intensiv gearbeitet. Darin unterschieden sie sich deutlich von dem graphisch recht einfachen Kreisschema der Kusine Helene, das Jung nach den Angaben des Mediums zeichnete und das erst durch die Beschriftungen eine komplexe inhaltliche Aufladung erfuhr. „G“ arbeitete hingegen sauber und detailliert, verlor sich unter Verwendung von Lineal und Zirkel fast in der anspruchsvollen ornamentalen Vielfalt, vermutlich ein Nachklang seiner Illustratorentätigkeit. Schrift spielte bei „G“ allerdings zur inhaltlichen Vertiefung gleichfalls eine wichtige Rolle. Ähnlich wie Jung später begriff auch Noyes diese künstlerischen Aktivitäten von „G“ in seiner Abhandlung nicht als pathologisch, sondern als „healthy manifestation“.41 Ob Jung davon Kenntnis hatte, bleibt freilich unklar. Auffallend ist aber die Beschriftung seines ersten Mandalas, wo er rückseitig auf Englisch notierte: „This is the first mandala I constructed in the year 1916, wholly unconscious of what is meant.“42 Das ließe auf einen englischsprachigen Adressaten schließen, vielleicht aus dem Umfeld des Internierungslagers.43 In direktem Zusammenhang standen jedoch die Werke des wohl bekanntesten Schweizer Künstlerpatienten, der auch geographisch ganz in der Nähe Jungs wirkte: Adolf Wölfli (1864–1930), seit 1895 in der Irrenanstalt Waldau bei Bern.44 Jung erwähnte zwar nirgends in seinen Schriften, Wölflis Zeichnungen zu kennen, geschweige denn zu besitzen. Doch genau das ist nachweislich der Fall gewesen: Drei frühe Bleistiftzeichnungen aus den Jahren 1904 („Schwefel=Beerg“), 1905 („Mediziinische Fakultät“) und 1906 („Riisen=Glocke Grampo Lina“) befanden sich wohl verwahrt in seinem Nachlass.45 Man weiß zwar nicht, wie und wann Jung in Besitz dieser Zeichnungen gekommen ist, doch der behandelnde Waldauer Psychiater Walter Morgenthaler (1882–1965) berichtete 1921 von der enormen Großzügigkeit

41 42 43 44 45

Mac Gregor 1989, 144. Zitiert nach Shamdasani 2009, 208. Der amerikanische Kollege Noyes war bereits 1915 verstorben. Vgl. Adolf-Wölfli-Stiftung 1996. Baumann 1996, 212.

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Abb. 4: Adolf Wölfli, Riisen=Glocke Grampo Lina, 1906, Adolf-Wölfli-Stiftung Bern.

Wölflis: „Hunderte von Blättern hat er nach allen Seiten hin, an Wärter, Besucher, zufällig Vorbeigehende usw. verschenkt. Es finden sich solche Blätter in den verschiedensten Teilen der Schweiz und sogar im Auslande.“46 Das Werk entstand zwar in der Abgeschiedenheit der psychiatrischen Heilanstalt Waldau, doch war es von Wölfli von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt. Bereits in den 1910er-Jahren begann er damit, die steigende Nachfrage mit sogenannten Einblattzeichnungen zu befriedigen. Ab 1914 waren die Arbeiten auf Anfrage im Klinikmuseum zu sehen, ab 1916 entstanden gar kleine Sammlungen Wölflis außerhalb der Klinik. 1918 sah sich Morgenthaler schließlich gezwungen, eine Art Ausfuhrverbot zu erlassen, damit die Blätter nicht in alle Winde verflogen. Allein in den zwei Jahren von 1919 bis 1921 hat Wölfli dennoch etwa 400 Zeichnungen an Ärzte, Besucher und Angestellte verkauft oder verschenkt. Daher wurde wohl auch Jung schon zu einem recht frühen Zeitpunkt Eigentümer der Zeichnungen, zumal Morgenthaler in seiner Monographie schon 1921 die enge Verbindung zu Jungs Lehren herstellte: „Aber er [Wölfli] ging noch über seine eigene Kindheit hinaus; er stieg, um mit Jung zu reden, hinunter vom Persönlichen ins Überpersönliche oder absolute Unbewusste; er kam zurück auf das ‚ursprüngliche Fühldenken‘, die ‚urtümlichen Bilder‘, ‚die ältesten und allgemeinsten und tiefsten Gedanken der Menschheit überhaupt‘.“47 Vermutlich war es Morgenthaler selbst, der bis Ende 1919 an der Waldauer Klinik arbeitete, der die Blätter als Geschenk überreichte.48 In der Tat sind die ausgewählten Arbeiten in Zusammenhang mit Jungs Studien zum Mandala ausgesprochen bemerkenswert, 46 Morgenthaler 1921, 17. 47 Ebenda, 68. Vgl. Adolf-Wölfli-Stiftung 1987. 48 Spoerri 1996, 64.

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vor allem die „Riisen=Glocke Grampo Lina“ aus dem Jahr 1906 (Abb. 4). Sie steht aber stellvertretend für eine ganze Reihe von Wölflis Werken mit mandalaähnlichen Motiven, in denen er eine einheitliche geometrische Ordnung visualisierte: Es ist das auf der einen Seite triebhaft Maßlose, etwas Titanisches, das alle Grenzen von Raum und Zeit überschreiten möchte, das immer wieder das Ganze zu erfassen sucht, das alles maximal betont, eine Steigerung und Übersteigerung im Symbolischen, ein Drang nach absoluter Freiheit, der alle natürlichen Formen gewaltsam verstümmelt und zerschlägt, eine innere Unruhe und Leidenschaftlichkeit bis zur Angst, die alles in ein einziges Blatt hineinstopfen, alles in einem einzigen Begriff ausdrücken möchte, etwas Mystisches und Dämonisches. Und auf der anderen Seite kommt auch im Formalen und gerade hier am schönsten, die andere Seite zum Ausdruck, der Gegentrieb, das Normative, Gesetzmäßige, eine äußere Ruhe und Objektivität, die bis zur kühlen Selbstverständlichkeit oder gar Gleichgültigkeit gehen kann, eine regelnde Ordnung bis zur Gleichmäßigkeit, ja bis zur Formalisierung und Erstarrung.49

Im Frühwerk aus den Jahren 1904–1906 findet sich die alles beherrschende Mandalaform in der „Riisen=Glocke Grampo Lina“ mit am stärksten ausgeprägt. Bei aller Formenvielfalt und Formenpracht ordnen sich hier alle strukturellen Elemente der Zeichnung letztlich der konzentrischen Komposition vom Kreismittelpunkt bis zum äußeren Rand unter. Wölfli arbeitete dabei, wie Jung und seine Patienten auch, ohne Vorzeichnungen und ohne Korrekturen. Morgenthaler berichtete 1921 zudem, dass sein Künstlerpatient über einen längeren Zeitraum hinweg nur ruhig sei, wenn er genügend Material zum Zeichnen habe und ungestört arbeiten könne: „Die Art seines Schaffens macht durchaus den Eindruck des Müssens, des von innen heraus Notwendigen und außerdem des Gesetzmäßigen, des Nichtanderskönnens.“50 Jung, Noyes und Wölfli waren aber nicht die Einzigen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Mandala beschäftigen. Dieser Sachverhalt ist von großer Bedeutung, um die Mandala-Faszination in Psychologie und Psychiatrie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtig deuten zu können. Es war eben kein alleiniges Phänomen der PatientInnenkunst und des psychiatrischen Blickes, also kein rein pathologisches Phänomen, sondern auch ein Phänomen in der Kunstwelt. In diesem Zusammenhang gilt es, besonders das jüngst erst in seiner ganzen Breite wiederentdeckte Schaffen der schwedischen Malerin Hilma af Klint (1862–1944) genauer zu betrachten.51 Ähnlich wie der russische Pionier der abstrakten Kunst Wassily Kandinsky (1866–1944) (und noch vor ihm) oder die deutschen VertreterInnen der 49 Morgenthaler 1921, 77. Vgl. Fierz 1976. 50 Morgenthaler 1921, 14. 51 Vgl. Müller-Westermann/Widoff 2013.

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Abb. 5: Hilma af Klint, Die Evolution, Nr. 15, Gruppe VI, Serie WUS/Der Siebenstern, 1908, Stiftelsen-Hilma af Klint-Verk.

Abstraktion Rudolf Bauer (1889–1953) und Hilla von Rebay (1890–1967) in der KandinskyNachfolge fand Hilma af Klint mit okkultem und theosophischem Wissen den Weg in die Gegenstandslosigkeit. Doch im Gegensatz zu den populären Arbeiten Kandinskys hielt sie stets an einer strengen Bildordnung fest. Gerade unter ihren frühen Arbeiten weisen viele mandalaähnliche Strukturen auf. Zwischen 1906 und 1915 entstand Hilma af Klints zentrales Werk Die Gemälde zum Tempel, ein Zyklus aus 193 überwiegend abstrakten Werken in unterschiedlichen Serien. Gemalt wurden sie im Auftrag der sogenannten Wesenheit Amaliel, und die Künstlerin beschrieb einmal, wie sie die Bilder als Medium fertigte: „Die Bilder wurden direkt durch mich gemalt, ohne vorausgehende Zeichnung und mit großer Kraft. Ich hatte keine Ahnung, was die Bilder darstellen sollten, und dennoch arbeitete ich schnell und sicher, ohne einen Pinselstrich zu verändern.“52 Die auf diese Weise entstehenden Bilder erzählen von Entwicklungen und Prozessen, von der Genese der Welt und der Materie aus dem Geist. Nach ihrer Auffassung hat der Fall aus der ursprünglichen Einheit in die Materie Dualität zur Folge, die wiederum die Entwicklung vorantreibt. In der Werkgruppe Die Evolution von 1908 (Abb. 5) ging es um dieses Prinzip der Polarität, das in verschiedenen Formen auftritt, wie zum Beispiel Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, männlich und weiblich. Polarität wurde bei Hilma af Klint ein allem Leben zugrunde liegendes Prinzip, das untrennbar mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Einheit verknüpft ist. Diese Überlegungen führten schließlich zu einer Hinwendung zur Theosophie und Anthroposophie. In dem mandalaartigen Bild Evolution Nr. 15 erkannte der österreichische Philosoph und Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner (1861–1925), damals noch 52 Zitiert nach Müller-Westermann 2013, 38.

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Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, bei einem Besuch im Stockholmer Atelier 1908 Hilma af Klints geistiges Selbstbildnis.53 In diesem Mandala ist bezeichnenderweise die Trennung in Gegensätze vorübergehend aufgehoben. Der Buchstabe „w“ an den äußeren Rändern steht für die Materie und rahmt die im Zentrum befindliche Schnecke, die im Uhrzeigersinn aufgerollt ist. Für Hilma af Klint wies eine derartige Spirale auf die Gefühlskraft, die als weibliches Prinzip galt und hier alles eint. Dagegen wurde die sich gegen den Uhrzeigersinn drehende Spirale als männliches Prinzip erkannt und der Gedankenkraft zugeordnet. Damit scheint der Aspekt der Ganzheit, der Jung am Mandala faszinierte, auch bei Hilma af Klint eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Sie wurde in vielen ihrer abstrakten Arbeiten visualisiert. Bei Jung war die zuweilen vorhandene Bewegungsrichtung des Kreises gleichfalls von Bedeutung, allerdings inhaltlich etwas anders gelagert als bei Hilma af Klint. Die rechtsläufige Rotation interpretierte er als Bewusstwerdung eines aus dem Unbewussten aufsteigenden Inhaltes, die linksläufige hingegen als Tendenz zum Unbewussten. Hier scheint die Problematik der Lesbarkeit dieser abstrakten Bilder nochmals deutlich auf. Unübersehbar ist aber ihr gemeinsamer geistiger Hintergrund mit dem Herkommen aus der okkult-esoterischen Tradition. Im Gegensatz zum mitteilungsfreudigen Wölfli schwieg Jung nach eigenem Bekunden lange über seine Forschungen und unterließ es, auch später publizierte eigene Mandalas namentlich kenntlich zu machen. Hilma af Klint untersagte ebenso jegliche Ausstellung ihrer abstrakten Werke zu Lebzeiten, doch besuchte sie seit 1920 regelmäßig das Goetheanum in Dornach. Zwar war das persönliche Verhältnis zwischen Steiner und Jung schwierig, dennoch blieb Jung nicht uninformiert. So war sein Vetter Ernst Fiechter (1875–1948), der Architekt des Küsnachter Hauses, Anthroposoph und persönlicher Schüler Steiners. Trotz der vielen Übereinstimmungen, die in späteren Jahren auch zu einer Annäherung von Anthroposophen und Jung-Schülern führen sollte, betonte Steiner gerne die problematischen „Halbwahrheiten“ der Jung’schen analytischen Psychologie. Jung hielt sich seinerseits Steiner gegenüber sehr zurück. Beide bezogen sich jedoch auf den alten Mythos vom androgynen Menschen, wie er in vielen Schöpfungsmythen zu finden ist, zum Beispiel in der persischen oder griechischen Mythologie. Im anthroposophischen Menschenbild ist das Ich als Wesensmitte weder männlich noch weiblich, für Jung kam es hingegen auf dem Individuationsweg zu einer beide Pole vereinigenden Ganzheit des Menschen. Von je ihrem Standpunkt aus haben Steiner und Jung auch die spirituelle West-Ost-Problematik gesehen und versucht, sie für den westlichen Menschen zu beantworten. Beide erkannten einerseits das Ergänzungsbedürfnis der vom Intellekt beherrschten Mentalität des Abendlandes, das sich letztlich als Erbe der Romantik erwies. Morgenland und Abendland 53 Vgl. Müller-Westermann/Widoff 2013, Kat.-Nr. 81 sowie Zander/Müller-Westermann 2013.

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machten für sie je eine Hälfte des einen geistigen Universums aus, aber beide Standpunkte wurden für sich genommen als zu einseitig angesehen: „Der eine unterschätzt die Welt der Bewusstheit, der andere die Welt des Einen Geistes.“54 Andererseits betonten Jung wie Steiner ihre feste Verwurzelung in der abendländisch-christlich geprägten Tradition, die es für sie unmöglich mache, jene bewunderten Ausformungen des östlichen Geistes ohne Weiteres zu übernehmen. Gegensatzdenken und Einheitsstreben prägten beide Theorien demnach maßgeblich. So war sich Jung auf seinen Reisen, sei es in Afrika, Mexiko oder Indien, immer der drohenden Gefahr einer inneren Identifikation bewusst, durch die sich der Europäer haltlos an der „archaischen Psyche“ verlieren könne. Bewusstes und Unbewusstes, Schweiz und Indien, New York und Adirondack Mountains hieß für Jung schließlich das Ergebnis. Steiner stellte 1917 ebenso fest: „Jung sieht ganz recht, wenn er sagt, dass der Mensch der Gegenwart […] ganz besonders nötig hat, auf solche Dinge [das Unbewusste] aufmerksam zu sein.“55 Bei allem Interesse Steiners für die Arbeiten Hilma af Klints darf nicht verschwiegen werden, dass er die Abstraktion eigentlich ablehnte und die Auflösung des Gegenständlichen grundsätzlich kritisierte.56 Die Begegnung mit Steiner führte bei Hilma af Klint zu einer vierjährigen Arbeitsunterbrechung, schließlich verfolgte sie aber ihren Weg konsequent weiter. Nichtsdestotrotz wurde Steiner ein wichtiger Inspirator für abstrakte KünstlerInnen wie Kandinsky, doch auf rein formaler Ebene scheint die Nähe Hilma af Klints zu Jung deutlich größer zu sein. Derartige kunsthistorische Bezüge sind zugleich für eine kritische Verortung von Jungs Vorstellungen unerlässlich, auch wenn es sich für ihn um eine vermeintlich nicht weiter zu hinterfragende anthropologische Konstante handelte.

Wilhelm Worringer und die Gestaltpsychologie Einen wichtigen Hinweis auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Mandala-Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts lieferte Morgenthaler selbst in seinem Band zu Wölfli. Bei der Lektüre des Buches Formprobleme der Gotik (1911) des Bonner Kunsthistorikers Wilhelm Worringer (1881–1965) fand er im Kapitel Der primitive Mensch erstaunlich viele Parallelen, ja „muten einem viele Stellen an, wie wenn Worringer unsern Kranken als Vorbild vor sich gehabt hätte“.57 In der Fußnote folgte ein umfangreiches Zitat aus besagtem Kapitel, das sich mit der psychischen Situation des Kunstschaffenden beschäftigte:

54 55 56 57

Jung 1963, 531. Vgl. Wehr 1990. Steiner 1966, 153. Vgl. Kries 2010. Vgl. Brüderlin 2010. Morgenthaler 1921, 79.

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Der primitive Mensch schafft sich in freier seelischer Tätigkeit Symbole des Notwendigen in geometrischen und stereometrischen Gebilden. Vom Leben verwirrt und geängstigt, sucht er das Leblose, weil aus ihm die Unruhe des Werdens eliminiert und eine dauernde Festigkeit geschaffen ist. […] Er geht den weiteren geometrischen Möglichkeiten der Linie nach, schafft Dreiecke, Quadrate, Kreise, reiht Gleichheiten aneinander, entdeckt den Gewinn der Regelmäßigkeit, kurz, schafft eine primitive Ornamentik, die ihm nicht bloße Schmuckfreude und Spiel, sondern eine Tafel symbolischer Notwendigkeitswerte und deshalb Beschwichtigung starker seelischer Notzustände ist.58

Nicht nur Morgenthaler konnte seinen prominenten Künstlerpatienten hier wiederfinden, ähnlich ging es auch den VertreterInnen der jungen Moderne, wie Wassily Kandinsky oder Paul Klee (1879–1940). Sie sahen sich auf ihrem Weg in die Abstraktion bestätigt. Bereits in der 1907 erscheinenden, sogleich Aufsehen erregenden Dissertation Abstraktion und Einfühlung formulierte Worringer den Gedanken, dass psychische Gegebenheiten grundlegend für die spezifischen Entwicklungsformen von Kunst sind. Dabei meinte „Einfühlung“ als die historisch spätere Form den „ästhetischen Genuss als objektivierten Selbstgenuss“, die historisch frühere Abstraktion dagegen „ästhetischen Genuss als Abwehr von Angst“.59 Worringer glaubte, bestimmte psychische Dispositionen erkennen zu können, doch war es letztlich nur die eigene Disposition, die er hineinprojizierte.60 Damit traf er aber den Nerv der Zeitgenossen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als apokalyptische Visionen, wie sie auch Jung erlebte, an der Tagesordnung waren. Kunst als Therapie, diese Vorstellung war für KünstlerInnen wie für PsychiaterInnen gleichermaßen attraktiv. Und sie lieferte zugleich eine ernsthafte Legitimation der gerade im Entstehen begriffenen abstrakten Kunst, deren Sinnhaftigkeit noch bis weit in die 1920er-Jahre hinein (und darüber hinaus) umstritten blieb. Jungs Interesse für das Mandala als Stör- und zugleich Ordnungsfigur ist aus diesem Zusammenhang nicht wegzudenken. Die strenge Struktur des Mandalas entsprach dabei in geradezu idealer Weise den Forschungsergebnissen der seinerzeit noch jungen Richtung der „Gestaltpsychologie“. Als ihre Begründer und Hauptexponenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten Max Wertheimer (1880–1943), Wolfgang Köhler (1887–1967) und Kurt Koffka (1886–1941), die ihrerseits auf den Beobachtungen des Wiener Philosophen Christian von Ehrenfels (1859–1932) aus dem Jahr 1890 aufbauten.61 Die „Gestaltpsychologie“ widmete sich der Frage, wie der Mensch „Figuren“, „Ganzheiten“, „Felder“ und „Sinneinheiten“ wahrnimmt. Dieses Neue, 58 59 60 61

Ebenda. Vgl. Worringer 1911, 16. Worringer 1907. Vgl. Büttner 2003, 88. Vgl. Fitzek/Salber 1996.

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das einem Wahrnehmungsganzen gegenüber seinen Teilen zukomme, nannte Ehrenfels „Gestaltqualitäten“.62 Als Beispiel beschrieb er 1890 eine Melodie, deren Töne durch ganz andere Töne ersetzt werden könnten, doch wenn nur die Anordnungsbeziehung zwischen den Tönen erhalten bliebe, sei es dennoch dieselbe Melodie. Ein „Gestaltgesetz“ charakterisiert die Art des Zusammenschlusses von erlebten Teilen zu einer erlebten Ganzheit, oft neben einer Gruppe von einzelnen Gegebenheiten. Dabei erfolgt der Zusammenschluss derart, dass die entstehenden Ganzheiten in irgendeiner Weise gestaltlich ausgezeichnet sind. Das Ziel sind möglichst einheitliche, geschlossene, symmetrische und gleichartige Ganzgebilde, von den Gestaltpsychologen auch „gute Gestalt“ genannt. Hier bietet das Mandala eine Vielzahl von harmonischen Möglichkeiten innerhalb der vorgegebenen konzentrischen Struktur. Das unterscheidet es im Übrigen vom prinzipiell endlosen Rapport des klassischen Ornaments, bei dem ein Ausschnitt beliebig gewählt werden kann (und muss).63 Gerade für KünstlerInnen auf dem Weg in die Abstraktion boten derartige „Gestaltgesetze“ eine Vielzahl von Anregungen. Für Jung wie für Hilma af Klint wurde dabei die Vorstellung von der spontanen und selbsttätigen Erzeugung des Mandalas wichtig, in ihr fand sich die besondere Qualität begründet. Darin lag zugleich die grundsätzliche Differenz zum „Formdeuteverfahren“ des Rorschachtests mit speziell aufbereiteten Tintenklecksmustern begründet, der nur eine Reaktion auf eine bereits vorhandene bildnerische Form darstellte. 64 Bereits Ehrenfels sonderte gezielt die offene von der geschlossenen Schönheit. Geschlossen ist nach seiner Meinung „die Gestalt, welche in sich zur vollen Einheit gelangt ist“,65 während jene offen ist, die noch etwas verlangt, dass sie nicht enthält. Zwar sind die Grenzen zwischen beiden fließend, doch für Ehrenfels bestand kein Zweifel daran, dass die meisten Kunstwerke eine geschlossene Schönheit aufweisen: Einerseits enthielten sie Ähnlichkeiten von Teilen im Ganzen, andererseits seien sie immer von anderen Gegenständen abgesetzt. Auch Morgenthaler betonte immer wieder Wölflis „Sinn für bestimmte Verhältnisse“, wie zum Beispiel des Verhältnisses des Ganzen zu seinen Teilen, der Einheit zur Vielheit, der Gleichheit zur Verschiedenheit. Darin sah er die besondere gestalterische Qualität des Werkes begründet, das in seinen Augen eine absolute Sonderstellung einnahm: „Es sind also die besonderen Beziehungen zu Raum und Zeit, ferner die Art, wie er sich zum Ganzen und seinen Teilen, zur Einheit und Verschiedenheit, zu den Zahlen usw. verhält, oder allgemeiner: es sind bestimmte ordnende, regelnde Funktionen, durch die sich Wölfli nicht

62 63 64 65

Von Ehrenfels 1890. Vgl. Brüderlin 2001. Vgl. Rorschach 1921, Burstein/Loucks 1989. Zitiert nach Haller 1986, 181.

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nur von den meisten andern Kranken, sondern wohl auch von den gewöhnlichen Gesunden unterscheidet.“66

Damit scheint eine neue Qualität innerhalb des skizzierten Störungsfeldes auf. Nach der Ansicht Morgenthalers war es weniger das Störmoment an sich oder gar das Zusammenspiel von Störung und Ordnung, das die Arbeiten Wölflis ausmachte, als vielmehr ihr außergewöhnlicher Drang zur gestalterischen Ordnung. Analog zu den Überlegungen von Worringer und Ehrenfels betonte er gerade nicht die pathologische Dimension, sondern die anthropologische Verankerung des Ordnungsstrebens und die damit verbundene kreative Potenz.

Geometrie versus Expressionismus Im Jahr 1922 erschien das umfangreiche Buch Bildnerei der Geisteskranken von Hans Prinzhorn, das auf seine Zeit als Assistent von Karl Wilmanns (1873–1945) an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg zurückging.67 Seine Aufgabe umfasste dort die wissenschaftliche Betreuung einer Sammlung von Bildwerken Psychiatrieerfahrener, die von Emil Kraepelin angelegt worden war. Prinzhorn schrieb in diesem Band allerdings weniger aus der Perspektive des Psychiaters, als vielmehr aus der eines dem Expressionismus nahestehenden Kunsthistorikers. Deshalb stellte das Buch einen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit den kreativen Quellen des Menschen dar und erreichte – nicht zuletzt dank der großzügigen Bebilderung – sogleich ein breites Publikum. Vielleicht lag hier auch der eigentliche Grund, warum Jung die Forschungen zum Mandala noch lange diskret behandelte. Nach Prinzhorn sind die seelischen Inhalte beim Gesunden zwar andere als beim Kranken, doch hinsichtlich des „Gestaltungsdrangs“ und „Ausdrucksbedürfnisses“ sah er keinen Unterschied, ganz im Gegenteil. Prinzhorn deutete die Gestaltungen seiner schizophrenen PatientInnen als Ausdruck und Verarbeitung seelischer Prozesse, die paradigmatisch für den Verlauf menschlichkreativen Handelns im Allgemeinen stehen. Ähnlich wie Réja interessierten ihn weniger diagnostische als vielmehr ästhetische Gesichtspunkte, was unter anderem auf seine Doppelqualifikation als Arzt und Kunsthistoriker zurückging. Anhand der PatientenInnenwerke entwickelte Prinzhorn eine eigene Ausdruckstheorie der Gestaltung, die ihn als Expressionisten auswies. Von Worringer übernahm er die berühmte Unterscheidung von Abstraktion und Einfühlung, die auch seinem Schema der Gestaltungstendenzen zugrunde lag. Aber fast noch wichtiger erscheint dessen Lesart der nordischen Gotik, wie sie sich in der 1911 erschienenen Arbeit Formprobleme der Gotik findet. Der phantastische Gestaltungsdrang des nordischen 66 Morgenthaler 1921, 82. 67 Vgl. Röske 1995.

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Menschen entsprach für Worringer einer „ungesunden Phantasietätigkeit“, einmal ist dort gar von „logischem Wahnsinn“ die Rede.68 Die Disharmonie der Produktion übertrug sich schließlich auf die Rezeption, schon 1908 tauchte in dem Kontext das Wort „unheimlich“ auf. Prinzhorn inspirierte diese regelrechte Dämonisierung künstlerischer Äußerungen und er übertrug sie Anfang der 1920er-Jahre voller Pathos auf die PatientInnenkunst. Obwohl der Wahnsinn des Ersten Weltkriegs längst mit Dada einen radikalen Abgesang auf die Kunst zur Folge hatte, verstand Prinzhorn die unio mystica in traditioneller Weise als höchstes Ziel des Kunstschaffens. In der Bildnerei Psychiatrieerfahrener sah er sie mustergültig eingelöst. Franz Karl Bühler (1864–1940), seit Abb. 6: Franz Karl Bühler: Der Würgengel (ver1900 in der Heil- und Pflegeanstalt Emschollen). mendingen, wurde für Prinzhorn der Inbegriff des ‚schizophrenen Künstlers‘ (Abb. 6). Seine Werke entsprachen für Prinzhorn dem Ideal der „Urform der Gestaltung“, wohl wissend, dass Bühler vor seiner Erkrankung ein international ausgezeichneter Kunstschmied war und mitnichten nur als „künstlerisch vorgebildet“69 gelten konnte, wie er im Buch lapidar beschrieben wurde. 1920 besuchte Prinzhorn Bühler in Emmendingen und brachte ein umfangreiches Œuvre von rund 250 Blättern an die Heidelberger Psychiatrische Klinik für den Aufbau eines „Museums für pathologische Kunst“. Prinzhorn pries bei Bühler künstlerische Qualitätsmerkmale wie Pathos, Monumentalität, eine „atemberaubende Dynamik“ der Strichführung sowie jenes „Unheimlichkeitserlebnis“, das sich aus dem „schicksalsmäßigen Erleben“ der Schizophrenie ergebe und das man in Worringers Gotikdeutung vorgebildet sehen konnte.70 Bühler erhielt deshalb einen herausragenden Platz in Prinzhorns Buch. Der heute verschollene Würgengel 68 Ebenda, 122 ff. 69 Prinzhorn 1922, 311. 70 Ebenda. Vgl. Jagfeld 2003, 88–94.

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diente als aufwändiges Frontispiz der Publikation, und die Erläuterung der Werke Bühlers markierte den Höhepunkt der Argumentation. „Schließlich der Würgengel, in dem alles gipfelt“, so Prinzhorn, „was an wertvollen steigernden Impulsen in der schizophrenen Seelenverfassung gefunden wurde.“71 Hier zeigte sich Prinzhorns Herkommen aus der expressionistischen Ausdruckswelt, die von einem freien Umgang mit Form und Farbe geprägt war. Dynamische Pinselführung und ein gesteigertes Kolorit, zentrale formale Errungenschaften des Expressionismus, waren hingegen Jungs Mandalas fremd. Die geometrische strenge Form des Mandalas stellte geradezu einen Gegenentwurf zu Prinzhorns zentralem Würgengel dar, der vorerst die Diskussionen prägen sollte. So spielte das Mandala in Prinzhorns Buch auch keine Rolle. Unter der Rubrik „Ordnungstendenz“ beschäftigte er sich zwar mit geometrisierenden Zeichnungen und den zugrunde liegenden Prinzipien der Reihung, der Symmetrie und dem regelmäßigen Wechsel.72 Doch werde laut Prinzhorn daraus nur sehr selten „jene freie lebendige Ordnung, die wir als Gestalt gewordenen Rhythmus bezeichnen“. 73 Dementsprechend befasste er sich nach eigenem Bekunden überhaupt nicht mit der zeitgenössischen Gestalttheorie im Sinne eines Köhler oder Koffka.74 Diese unterschiedlichen ästhetischen Modelle und ihre Ursachen reflektierte Prinzhorn an anderer Stelle ausführlich: „Es ist ein persönliches Moment erforderlich, das wohl auf ein instinktmäßiges Verständnis für die Vorgänge des bildnerischen Gestaltens zurückgeht, sei es, dass der Beobachter selbst über eine Begabung in diese Richtung verfügt, oder dass er etwa als ausgesprochen visueller Typus besonders ansprechbar für Nuancen bildnerischer Produktionen ist.“75 Jung war sich dieser bei Prinzhorn angesprochenen Problematik durchaus bewusst, wenngleich seine Schlussfolgerungen auch etwas anders gelagert waren. In der 1922 veröffentlichten Abhandlung Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk bemerkte er gleich zu Beginn einschränkend: „Nur der Teil der Kunst, welcher im Prozess der künstlerischen Gestaltung besteht, kann Gegenstand der Psychologie sein, nicht aber jener, der das eigentliche Wesen der Kunst ausmacht.“76 Letzterer kann nach Jung nur Gegenstand einer ästhetisch-künstlerischen Betrachtungsweise sein, die er nach eigener Aussage aber nicht anstrebe. Hier unternahm er also aus methodischen Gründen eine Differenzierung, die genau genommen nicht einzuhalten ist. Es gibt keinen neutralen Blick. Bei der Entstehung eines Kunstwerkes unterschied Jung im Anschluss an Friedrich Schillers (1759–1805) berühmte Unterteilung ins Sentimentalische und Naive zwei Möglichkeiten: Die 71 72 73 74 75 76

Prinzhorn 1922, 287. Ebenda, 30–33. Ebenda, 298. Ebenda, 356. Prinzhorn 1919, 318. Jung 1971, 75.

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introvertierte Einstellung ist nach seiner Meinung bestimmt durch die Behauptung des Subjektes (des Künstlers) und seiner bewussten Absichten und Zwecke gegenüber den Anforderungen des Objektes (des Kunstwerkes), die extravertierte hingegen durch eine Unterordnung des Subjektes unter die Ansprüche des Objektes. Dabei hatte ein „echtes Kunstwerk“ für Jung den besonderen Sinn darin, dass es sich aus den „Beengungen und Sackgassen des Persönlichen“ 77 befreien kann. Er entwickelte die Vorstellung vom Schöpferischen als „autonomer Komplex“, der als „abgetrennte Teilseele ein selbstständiges, der Hierarchie des Bewusstseins entzogenes psychisches Leben führt“ 78: Das Werk bringt seine Form mit; was er [der Künstler, die Künstlerin] dazu tun möchte, wird abgelehnt, was er nicht annehmen will, wird ihm aufgezwungen. Während sein Bewusstsein fassungslos und leer vor dem Phänomen steht, wird er überschüttet mit einer Flut von Gedanken und Bildern, die seine Absicht nie geschaffen hat und sein Wille niemals habe hervorbringen wollen. Selbst widerwillig, muss er doch anerkennen, dass in all dem sein Selbst aus ihm spricht, dass seine innerste Natur sich selbst offenbart und laut verkündet, was er seiner Zunge nie anvertraut habe. Er kann nur gehorchen und dem anscheinend fremden Impulse folgen, fühlend, dass sein Werk größer ist als er und darum eine Gewalt über ihn hat, der er nichts vorschreiben kann. Er ist nicht identisch mit dem Prozess der schöpferischen Gestaltung; er ist sich dessen bewusst, dass er unterhalb seines Werkes steht oder zum mindesten daneben, gleichsam wie eine zweite Person, die in den Bannkreis eines fremden Willen geraten ist.79

Jung bezeichnete diese Macht des Schöpferischen als eine „Naturkraft“,80 die ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen alles mit sich reiße. Die Quelle des „autonomen Komplexes“ sah er nicht im persönlichen Unbewussten des Künstlers, sondern wie bei den Mandalas in der Sphäre des kollektiven Unbewussten und den daraus entstammenden „archetypischen“ Vorstellungen. „Das ist das Geheimnis der Kunstwirkung“, so Jung weiter, „der schöpferische Prozess, soweit wir ihn überhaupt zu verfolgen vermögen, besteht in einer unbewussten Belebung des Archetypus und in einer Entwicklung und Ausgestaltung desselben bis zum vollendeten Werk.“81 Damit nahm Jung für sich in Anspruch, zwar nicht über das „eigentliche Wesen der Kunst“82 sprechen zu können, aber durchaus über den schöpferischen Prozess selbst und seine psychischen Implikationen. Dass diese Trennung rein akademisch ist und auch die 77 78 79 80 81 82

Ebenda, 82. Ebenda, 86. Ebenda, 84. Ebenda, 86. Ebenda, 95. Ebenda, 75.

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Kategorien für die Analyse des schöpferischen Prozesses nicht einfach da sind, überging er dabei. Die vorliegende Analyse der Mandala-Rezeption verdeutlicht bereits, wie zeitbezogen auch die Konjunkturen von sogenannten anthropologischen Konstanten sein können. Die zeitgleichen, aber konträren Positionen von Jung und Prinzhorn deuten bereits eine argumentatorische Vielfalt an. Außerdem knüpfte Jung an gewissen Stellen in diesem Text dennoch an die alten Vorurteile gegenüber der Künstlerin und der Pathologisierung normabweichender Verhaltensweisen an. So vertrat er die Vorstellung von einer „regressiven Entwicklung der bewussten Funktionen des Künstlers“, das meint ein „Heruntersteigen derselben auf ihre infantilen und archaischen Vorstufen, also etwas wie eine Degeneration“. 83 Hier sah er die unbewussten Energien vorstoßen, aus denen dann der autonome Komplex erwachse: Das Triebhafte dränge sich vor das Ethische, das Naiv-Infantile vor das Überlegte und Erwachsene, die Unangepasstheit vor die Anpassung. Notwendigerweise müsse sich folglich das Leben einer Künstlerin konfliktreich gestalten und daher der Psychologie beziehungsweise Psychiatrie besonders reichen Stoff darbieten. Damit war die Grundsituation eine ähnliche psychische Anspannung und innere Störung wie bei den Mandala-MalernInnen in Jungs Therapien. Aber Jung stellte auch fest: „Es ist wohl einleuchtend, dass der Künstler aus seiner Kunst erklärt werden muss und nicht aus den Unzulänglichkeiten seiner Natur und aus seinen persönlichen Konflikten, welche bloß bedauerliche Folgeerscheinungen der Tatsache darstellen, dass er ein Künstler ist, das heißt ein Mensch, dem eine größere Last als dem gewöhnlich Sterblichen aufgebürdet wurde.“84

Nach Jung ist die Kunst ihrem Wesen nach eben keine Wissenschaft, und die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach keine Kunst. Beide Geistesgebiete haben deshalb für ihn ein Reservat, das nur ihnen eigentümlich sei und sich nur aus sich selbst erklären lasse. In der Praxis kam es jedoch auch bei Jung zu heiklen Verschiebungen und Grenzauflösungen zwischen den beiden analytisch getrennten Bereichen. So löste sein Artikel über Picasso anlässlich einer Ausstellung im Kunsthaus Zürich 1932 in der Neuen Zürcher Zeitung Missverständnisse und zahlreiche erboste Repliken aus, die vor allem auf eine Bemerkung über Schizophrenie zurückzuführen sind. Jung unterschied in dem besagten Artikel zwei Gruppen von PatientInnen: die neurotischen, die Bilder synthetischen Charakters von einheitlicher Gefühlsstimmung lieferten, und die schizophrenen, die Gefühlswidersprüche oder gar Gefühllosigkeit verraten würden. In die letztere Gruppe ordnete er 1932 zunächst auch Picasso ein, relativierte allerdings später im Text: „Ich bezeichne Picasso sowenig wie Joyce als psychotisch, sondern rechne sie bloß 83 Ebenda, 91. 84 Ebenda, 117 f.

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zu jener umfangreichen Menschengruppe, deren Habitus es ist, nicht mit einer gewöhnlichen Psychoneurose auf eine tiefgehende Störung zu reagieren, sondern mit einem schizoiden Symptomenkomplex.“85 Angesichts einer zunehmend aggressiveren Pathologisierung der Moderne in den 1930er-Jahren blieb der Resonanzboden einer derartigen Aussage dennoch problematisch, da KritikerInnen wie VerfechterInnen der Moderne die notwendige Sensibilität für eine derartige Differenzierung in der aufgeheizten Debatte nahezu zwangsläufig abgehen musste.

Verlust der Mitte: Chaos und Ordnung in der Moderne Während die Auffassung Prinzhorns Anfang der 1920er-Jahre offensichtlich besser mit dem vorherrschenden Zeitgeist zusammenging, stand Jungs zentraler, aus ästhetischen Überlegungen hervorgegangener Vorstellung der „Mitte“ die eigentliche Erfolgsgeschichte noch bevor. Kein Begriff war nach 1945 derart populär und umstritten wie der der „Mitte“. In der berühmt-berüchtigten Streitschrift Verlust der Mitte machte der österreichische Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896–1984) ihn 1948 öffentlichkeitswirksam zum Instrument seiner konservativ bis reaktionären Kulturkritik.86 Er entwarf ein wüstes Panorama des Niedergangs, der Auflösung und Chaotisierung in der Moderne, ablesbar an der Kunst: „Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes, die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis.“87 Mehr als bedenklich ist die Vorgeschichte des Buches. Bereits 1930 übertrug Sedlmayr sein politisches Wunschbild bereitwilligst vom ersten, dem Heiligen Römischen Reich auf das faschistische ‚Dritte Reich‘. Der Verlust der Mitte, bis Kriegsende etwa zu zwei Dritteln vollendet, weist denn auch eine NS-Schicht auf, die Sedlmayr zwar nach 1945 tilgte, die aber anhand von Vorträgen aus den 1930er-Jahren rekonstruiert werden kann. Anders als 1948 sah er bezeichnenderweise noch 1944 in der Gegenwart „zur Mitte zurückstrebende Kräfte“,88 wobei er vor allem an die Groß­ entwürfe von Hitlers Hofarchitekten Albert Speer (1905–1981) dachte. Nach 1945 sollte er einzig die Hoffnung, die er in das terroristische Regime gesetzt hatte, leugnen, ansonsten blieb seine Sehnsucht nach geschlossenen, aber nach seiner Ansicht von der Moderne bedrohten Strukturen dieselbe. Was bislang gerne übersehen wird: Auch KünstlerInnen wollten nach 1945 unter dem Begriff der „Mitte“ die Gestalt und seelische Substanz des hochkulturellen und hochreligiösen Menschen retten, aber dabei im Gegensatz zu Sedlmayr zugleich die 85 86 87 88

Ebenda, 153. Vgl. Schneider 2005. Vgl. Körner 2003. Sedlmayr 1948, 170. Zitiert nach Aurenhammer 2003, 170.

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Errungenschaften der Moderne bewahren. Während beispielsweise ein Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Rudolf Schlichter (1890–1955), ganz aus der katholischen Tradition heraus argumentierte, konnten der Expressionist Karl Hofer (1878–1955) oder die Abstrakten Willi Baumeister (1889–1955) und Theodor Werner (1886–1969) mit einer sie beerbenden „zweiten Religiosität“ (Oswald Spengler) in Verbindung gebracht werden.89 Der seit Friedrich Nietzsche (1844–1900) bekannte Auftrag an die Künste, einen Abglanz der mythischen Welt zu retten und als Gegenbild in die Moderne zu transferieren beziehungsweise zu integrieren, wurde wieder populär und von den KünstlerInnen selbst als wichtige Aufgabe verstanden. Das Nachkriegsverlangen nach mythischer Einbindung sowie das Beschwören einer uranfänglichen, verlorenen Heimat wurden zum Maß und Modell einer Bildungselite, um den neuerlichen gesellschaftlichen Modernisierungsschub zu verarbeiten. Auf dem berühmten Darmstädter Gespräch zum Menschenbild unserer Zeit verlegte Baumeister 1950 im direkten Anschluss an Jung die „Mitte“ gerade in den autonomen Menschen hinein und konstatierte: „Es gibt keinen ‚Verlust der Mitte‘. Diese Mitte ist unverlierbar.“90 Kunst als Therapeutikum in verstörenden Zeiten, diese psychologisierende Lesart Worringers aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war also nicht nur in der Zwischenkriegszeit bei Jung, sondern auch in der Nachkriegszeit hochaktuell. Hier wie dort sollte die Kunst selbst nicht teilhaben an der großen Zerstörung wie beispielsweise Dada, sondern vielmehr ein visuelles Angebot der Entstörung bieten. Diese Überlegungen dienten nicht nur der Legitimation der Abstraktion vor und nach 1945, sondern begründeten auch das verstärkte Interesse an PatientInnenkunst. Gerade in den Arbeiten gestörter Seelen meinte man, tiefer liegende (und heilende) Ausdrucksbewegungen wiederentdecken zu können. Das Mandala Jungs lag dabei als Kippfigur sowohl im Herstellungs- wie im Wahrnehmungsprozess genau auf der Grenze zwischen Störung und Entstörung: Als visueller Ausdruck einer Störung diente es sowohl im psychischen wie im formalen Sinne zugleich der Entstörung. Die Störfigur war damit zugleich eine Ordnungsfigur. Es bleibt letztlich eine Frage der Perspektive, welcher Aspekt stärker gewichtet erscheint. Damit rückt erneut der Betrachtende mitsamt seiner Maßstäbe in den Blick. Jung ging von einer praktikablen Scheidung des ästhetisch-künstlerischen Blicks von der vermeintlich objektiven Perspektive des Psychiaters aus. Doch die Rekonstruktion der Mandala-Begeisterung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt deutlich, dass auch der Blick des Psychologen beziehungsweise Psychiaters im historischen Kontext zu verorten ist und der Aneignung zeitgenössischer kunstwissenschaftlicher Ansätze viel verdankte.

89 Vgl. Fastert 2012. 90 Baumeister 1950, 147.

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Sophia Könemann und Armin Schäfer

Das Fabulieren im psychiatrischen Diskurs

Fabulieren Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm die Psychiatrie das Fabulieren als eine spezifische Patientenäußerung in den Blick. Sie erkannte in ihm eine pathologische Aktivität. Auf den Ebenen der Äußerungen, der Organisation von Texten und deren Bezugnahmen auf die Wirklichkeit wurde ein Ensemble pathologischer Phänomene identifiziert, das diagnostisch verwertet und an die Person der Patientin oder des Patienten zurückgebunden wurde. Die Diagnose, die im Fabulieren ein Symptom ermittelte, trat sowohl zum klinischen Blick auf den Körper und das Verhalten des Patienten als auch zu den Beschreibungen von Störungen der Sprache, der Sinneswahrnehmungen und des Affekts hinzu.1 Die Psychiatrie begriff das Fabulieren als eine Rede beziehungsweise als eine Textproduktion, die zwar den linguistischen Regeln der Sprache folgen und Syntax und Semantik weitgehend intakt lassen würde, aber in Hinblick auf die Verkettung der Elemente respektive deren epischer Integration gestört sei: Sie erkannte in den fabulierenden Äußerungen zum Beispiel Symptome der Paranoia, Psychopathie, Persönlichkeitsstörung oder des Querulantenwahns.2 Im Folgenden sollen Texte fabulierender Patienten3 der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ausprägungen eines fälschenden Erzählens gelesen und das Augenmerk auf drei Textstrategien gelegt werden. Zwar erlaubt eine Differenzierung zwischen mündlichem Fabulieren und fabulatorischem Schreiben keine Unterscheidung zwischen dem Phänomen des Fabulierens und dessen medialen Formen, aber sie kann dennoch Aufschluss geben über eine Logik, die im Fabulieren steckt. Die ausgewählten Beispiele erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und implizieren ebenso wenig eine Typologie. Erstens soll eine Operationslogik des Archivs – die Möglichkeit der Rekursion – untersucht werden, die sich als ungesteuerte Rekursion in Texten fabulierender Patienten

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Berrios 1996. Vgl. Kraepelin 1899, 133 und 1886/1887, 832 f., Delbrück 1891, Wulffen 1923. Wir beziehen uns ausschließlich auf Akten männlicher Patienten und verwenden daher in diesem Zusammenhang das Maskulinum.

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Sophia Könemann und Armin Schäfer

fortsetzt. Zweitens werden Verwendungsweisen der „Shifter“4 und insbesondere des Personalpronomens „ich“ diskutiert. Die Erzählinstanz tritt in wechselnden Identitäten auf und reizt zu widersprüchlichen Zuschreibungen an. Drittens wird die Funktion von Lücken in Erzähltexten untersucht, die in der Psychiatrie im Rahmen von Intelligenztests eingesetzt wurden. In den Fabulationen von Patienten kehrte die Lücke wieder und übernahm dort die Funktion einer Leerstelle, die zum Scharnier für eine Neuverknüpfung von Textelementen wurde. In den textuellen Operationen der Rekursion, des Gebrauchs der Shifter, der Lockerung der Motivik und der Platzierung von Leerstellen ist eine enge Verschränkung des psychiatrischen Aufschreibesystems mit narrativen Strategien des Fabulierens zu erkennen. Sie sind Elemente eines Fabulierens, das nicht auf eine organische Einheit der Texte zielt. Vielmehr tragen sie maßgeblich zur Erzeugung einer fälschenden Erzählung bei, auch wenn sie weiterhin auf außertextuelle Elemente referieren und insgesamt auf die Wirklichkeit bezogen sind. Sie nehmen ständigen Anstoß an der Wirklichkeit, die etwa als Familie, als soziale oder politische Situation, als historische Überlieferung oder als die Situation des Patienten in der Psychiatrie auftaucht. Das Fabulieren schöpft die unterschiedlichen Anlässe für Äußerungen vielfach aus der außertextuellen Wirklichkeit und thematisiert die Medien, Formate und Situationen der Textproduktion.

Fälschendes Erzählen Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat eine Typologie von Beschreibungen aufgestellt. Er schlägt vor, zwischen einer „organischen“ und einer „kristallinen“ Form zu unterscheiden.5 Die organische Beschreibung setze voraus, dass ihr Objekt von der Beschreibung unabhängig ist. Diese Voraussetzung impliziert nicht, dass sie tatsächlich von ihrem Objekt unabhängig ist. Vielmehr ist es gleichgültig, ob das Objekt jenseits der Beschreibung existiert. Die Definition der organischen Beschreibung klammert also die Unterscheidung zwischen bloß imaginierten und realen Objekten oder Sachverhalten ein. Die Beschreibung kann dennoch von der Wirklichkeit unterschieden, mit ihr verglichen, die referenzielle Bezugnahme überprüft und entschieden werden, ob wahrheitsgetreu beschrieben wurde oder nicht. Die Vorteile dieser Entkoppelung von Beschreibung und referenzieller Bezugnahme liegen auf der Hand: Die Beschreibungen können zu einem späteren Zeitpunkt von Dritten überprüft werden. Insofern müssen aus der Form erste Kriterien gewonnen werden, um zutreffende Beschreibungen von unzutreffenden abzugrenzen. Solche Kriterien sind zum Beispiel die Ko4 5

Vgl. Jakobson 1971. Deleuze 1999, 168 f.

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härenz und Konsistenz der Aussagen, die eine gültige, wahrheitsgetreue Beschreibung auszeichnen. Insbesondere müssen einzelne Aussagen und die Gesamtheit der Beschreibung in ein angemessenes Verhältnis gerückt werden. Diese Forderung nach innerer Konsistenz und Kohärenz fasst Deleuze im Adjektiv „organisch“ zusammen. Die bloße Korrespondenz von einzelnen, punktuellen Aussagen mit Objekten und Sachverhalten in der Welt bietet nämlich noch kein brauchbares Kriterium für eine Beurteilung. Vielmehr liefert die spezifische Verknüpfung zwischen den Bestandteilen, welche die Beschreibung konstituiert, einen ersten Anhaltspunkt. Während an der Übereinstimmung von beschriebenem Objekt beziehungsweise Sachverhalt und Wirklichkeit der Realitätsgehalt festgemacht wird, sichert deren Form, dass eine Beschreibung überhaupt als wahrheitsgetreu oder falsch beurteilt werden kann. Die organische Beschreibung will mithin vergessen machen, dass sie überhaupt eine Beschreibung ist und dass sie das Objekt, das sie beschreibt, mitkonstituiert. Die organische Beschreibung findet in der „organischen Erzählhandlung“6 ihre Fortsetzung. So wie der Organismus eine in sich geschlossene, systemische Einheit bildet, die eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber seiner Umwelt besitzt, so hat in der organischen Erzählung die Art und Weise, wie die Elemente der Diegese zu einer Einheit verschmelzen, das Primat gegenüber dem referenziellen Wirklichkeitsbezug inne. Die organische Erzählung muss mit ihren eigenen Mitteln und Verfahren sichern, dass die diegetische Welt als wahrheitsgetreu erscheint. Gegenüber einer spontanen Theorie des Realismus in der Literatur, welche die diegetische Welt an ihrem Referenten misst, bietet die Definition der organischen Erzählung den Vorzug, dass weder die Überprüfung des Realitätsgehalts (was findet sich in der außertextuellen Wirklichkeit wieder) noch das Ausmaß der Imagination (was ist in der diegetischen Welt erfunden) ausschlaggebend sind, sondern die diegetische Welt nur als Ganze mit der Wirklichkeit verglichen werden kann. Allerdings sind hierfür die logischen Kategorien der Identität und des Widerspruchs nicht geeignet. Die Inkompossibilität von diegetischer Welt und Wirklichkeit ist eben nicht durch logische Kategorien hinreichend zu erläutern. Jedenfalls ist der Fiktionscharakter einer möglichen Welt nicht schon dadurch zu fassen, dass die diegetische Welt punktuell im Widerspruch zur Wirklichkeit stünde. Eine Darstellung gewinnt nicht schon an Plausibilität, weil sie sich der Imagination enthält oder nichts erfindet. Ziel der organischen Erzählung ist eine Fiktion, die sich selbst vergessen macht, als ob die diegetische Welt unabhängig vom Akt ihrer Hervorbringung sei und in der außerliterarischen Wirklichkeit existiere. Der organischen Beschreibung stellt Deleuze den Begriff der kristallinen Beschreibung gegenüber: Diese setzt sich selbst an die Stelle des Objekts oder erschafft ihr Objekt. Sie präsentiert eine Abfolge von Beschreibungen, die einander infrage stellen oder gar revidieren. 6

Ebenda, 170.

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Das Adjektiv „kristallin“ hält den Effekt solcher Beschreibungen fest, die einander variieren und eine Serie bilden: Man kann in einem Kristallglas mehrere Facetten eines Objekts sehen, ohne angeben zu können, wie es tatsächlich aussieht. Die Bilder im Kristallglas lassen anders als das Spiegelbild, keinen eindeutigen Rückschluss zu auf das Objekt selbst, da sie nur partielle und vervielfachte Ansichten bieten. Die kristalline Beschreibung ist eine Formation, die zu keinem Abschluss kommt, immer neue Facetten erschafft und zu Korrekturen und Revisionen zwingt.

Rekursionen Im 19. Jahrhundert setzte sich in den psychiatrischen Kliniken die patientenbezogene Dokumentation durch. Das Aufschreibeverfahren der Ärzte wurde aus der Registratur der Klinik ausgegliedert.7 Die Dokumentation wurde nunmehr in Form einer Krankenakte erstellt und zu einem Element des Aufschreibesystems der Psychiatrie. Die Akte besaß die offene Struktur eines Hefts, eines Albums oder einer Blattsammlung: Zwischen den Deckeln konnten Schriftstücke (und Objekte) jeglicher Art versammelt werden. Eine Titelseite verzeichnete die wesentlichen Angaben zur Person, die Daten von Aufnahme und Entlassung und gegebenenfalls die Diagnose. Die Akten selbst waren heterogene und unübersichtliche Dossiers: Sammlungsort von Äußerungen und Materialien jeglicher Art, die durch ihren „Bezug zum Patienten“ vereinigt wurden.8 Solch eine Krankenakte wurde zur „Schnittstelle zwischen medizinischem Wissen und individueller Erkrankung eines Menschen“.9 Seit dem 19. Jahrhundert gab es verschiedene Versuche zur Rationalisierung, Normierung und Standardisierung der Aktenführung, die unter anderem durch Vordrucke auf eine Vereinfachung zielten.10 Insbesondere sollten die Angaben der Patientinnen und Patienten exakt aufgenommen und sämtliche Äußerungen, die als charakteristisch für die Eigenart des Falles galten, wortgetreu niedergeschrieben werden. Auf Grundlage solcher Akten konnten schließlich Fall- und Krankengeschichten erstellt werden. In der Psychiatrie hat die Einrichtung eines Archivs einen grundlegenden Wandel angestoßen. Das Archiv schuf nicht nur neue Erkenntnisbedingungen, sondern prägte auch den klinischen Alltag. Die Möglichkeit der Rekursion eröffnete neue Möglichkeiten für die Anamnese, für die Auswertung von Krankengeschichten oder für die Erstellung von Gutachten.

7 8 9 10

Vgl. Ledebur 2011, 108. Hess 2008, 45. Ebenda, 44. Zur Diskussion über den Einsatz von Formularen in psychiatrischen Erhebungsverfahren siehe Sahli 1894, Anhang. Vgl. ferner Ledebur 2011.

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In den Krankenakten selbst finden sich zahllose Spuren von Rekursionen, die nicht zuletzt anhand von farbigen Unterstreichungen, Markierungen und Kommentaren innerhalb der Akten nachverfolgt werden können. In der psychiatrischen Publikationskultur wiederum kann die Rekursion etwa anhand der Zitationen von Patientenäußerungen verfolgt werden. Das Archiv sichert durch die Möglichkeit der Rekursion, dass die Psychiatrie überhaupt wissenschaftliche Aussagen treffen kann. Und es reizte scheinbar regellose Äußerungen der Patienten an, die dann als Fabulation galten. Das Archiv war also nicht allein ein Aufbewahrungsort für Texte fabulierender Patienten, sondern ein Faktor, der sowohl in die Konstitut­ ion des Fabulierens als einem Merkmal des Wahnsinns hineinwirkte als auch das Fabulieren selbst anleitete. So stand das Fabulieren im Zusammenhang mit dem Aufkommen differenzierter psychiatrischer Aufschreibeverfahren und Schreibanlässe. Solch ein Schreibanlass, der sowohl an den einzelnen Patienten als auch an größere Patientengruppen herangetragen wurde, waren Testreihen. Die Tests erforderten eine wiederholte Rekursion auf das Archiv. Ohne Archiv war es nicht möglich, standardisierte Tests zu erstellen und durchzuführen. Denn erst der serielle Vergleich erlaubte es, einen Standard zu setzen und so den Krankheitsverlauf einzelner Patienten zu charakterisieren und zu bewerten. Die Archivoperation der Rekursion zielte nicht allein auf eine Individuation der Testergebnisse, sondern auf einen permanenten Abgleich einer großen Anzahl von Testergebnissen. Hierzu wurden Reihen von Akten hervorgeholt, um, wie Theodor Ziehen (1862–1950) programmatisch formulierte, „lückenlos den Aufbau unserer intellektuellen Prozesse wiederzugeben“.11 Die in den Krankenakten aufbewahrten Testergebnisse dienten dann sowohl zur Diagnose als auch zur Forschung, indem sie eine überindividuelle Beschreibung von Denkprozessen und Gesetzen der Assoziation ermöglichten. Während die Rekursion auf das Archiv für die Ärzte eine elementare, alltägliche Operation war, die unentwegt in Klinik und Forschung ausgeübt wurde, wurde den Patienten der Einblick in die eigene Akte in der Regel verwehrt. Allerdings war ein Kennzeichen der Machtverhältnisse in der Psychiatrie, dass sie fortlaufend Störungen und Interventionen provozierten. Wie Patienten ins Machtgefüge der Psychiatrie eingriffen, vermag die Akte des Patienten H. zu veranschaulichen, der 1908 in die Charité aufgenommen wurde, nachdem er bereits mehrere andere psychiatrische Kliniken durchlaufen hatte.12 H. wurde neben einer psychopathischen Persönlichkeit ein querulatorischer Charakter diagnostiziert. Er machte bei der Anamneseerhebung widersprüchliche Angaben über seine Lebensgeschichte: „In ein und derselben Unterredung sagte H., er sei in Eitorf geboren und er sei in Hohenstein geboren, auf den Widerspruch aufmerksam gemacht,

11 Ziehen 1911, 4. 12 HPAC, 1908/14-M.

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sagte er, wie immer, es habe doch in den Papieren gestanden.“13 Der Patient erklärte mit Verweis auf Papiere und Visitenkarten, die er besaß, dass er der „Graf Dernburg“ sei, da eine reiche Gräfin ihn adoptiert habe. So wie die Ärzte ihre Diagnosen mittels archivierter Aufzeichnungen, auf die sie rekurrierten, belegten, stützte H. seine lebensgeschichtlichen Angaben ebenfalls durch den Verweis auf Dokumente. Er folgte der Logik einer Institution, die die Glaubwürdigkeit von Aussagen formal auf deren Vorgängigkeit stützte. Der Kern der psychiatrischen Aktenführung ist wie in jeder Verwaltung der Vorgang. Keine Akte entsteht ex nihilo, sondern knüpft explizit oder implizit an Aufzeichnungen an, die vorher bereits innerhalb der eigenen oder außerhalb in anderen Institutionen erfolgt sind. Der Patient hatte diese Logik gut begriffen und setzte sie spielerisch ein. Einerseits verwies er auf immer neue Dokumente, die in anderen Archiven ihre Beglaubigung finden sollten. Andererseits griff er in die Aufzeichnungen ein, die innerhalb der Charité erstellt wurden, und versuchte in Briefen an seine Psychiater, sich mit ihnen über die Dokumente in seiner Akte zu verständigen. Nicht zuletzt wurde vonseiten des Patienten die Archivierung von Briefen in den Akten gesteuert. Um zu gewährleisten, dass ein Brief, mit dem H. hoffte, seine geistige Gesundheit belegen zu können, auch tatsächlich in seiner Akte aufbewahrt wurde, schrieb der Patient ihn gleich doppelt: „[W]eil ich wußte daß die Abschrift nicht in meinen Akten war schrieb ich ihn in der Charité noch einmal. Ich wollte damit bezwecken, daß die Ärzte wenn sie den Brief lesen sich sagen mußten: Da der solch schönen Brief schreiben kann, der ist gesund, und richtig ich habe auch bei allen die den Brief lasen Staunen hervorgerufen.“14 Die Interventionen des Patienten bewirkten jedoch nicht das Ende seiner Internierung, sondern hielten in erster Linie das psychiatrische Aufschreibesystem in Gang. Die Schwierigkeit der klinischen Beobachtung und Beurteilung lag darin, die zutreffenden Angaben des Patienten über seine Lebensgeschichte von dem, was die Psychiater als Lügen und „Renommierereien“ bezeichneten, zu unterscheiden. Die sich widersprechenden biographischen Angaben, die von den Ärzten als „Erzeugnisse der Phantasie, die unkontrolliert hervorgebracht werden“, gedeutet wurden, führten nicht nur dazu, dass die Akte des Patienten, der – wie erwähnt – schon in verschiedenen anderen psychiatrischen Einrichtungen war, auf mehr als 400 Seiten anwuchs, sondern auch zu wiederholten und widersprüchlichen Begutachtungen. Mehrere Aufnahmen in psychiatrische Kliniken brachten immer neue Befragungen zur Anamnese, eine Vielzahl biographischer Texte des Patienten sowie intensive Auswertungen und Kommentierungen der bisherigen Aktenlage durch die jeweiligen Psychiater mit sich. Mit dem Anschwellen der Akte wurde es zunehmend schwierig, die Lebens- und die Krankengeschichte des Patienten – der zeitweilig als Simulant, aber auch unter wechselnden Diagnosen als geisteskrank angesehen wurde – in ihrem Verlauf zu rekonstruieren. Die mangelnde Ko13 Ebenda. 14 Ebenda.

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härenz in den biographischen Angaben des Patienten führte zu einer nicht abschließbaren Produktion von Erzählungen, die den Psychiatern als Symptom galten. Die Akte des 1901 zur Beobachtung und Begutachtung aufgenommenen Patienten S., dem die Diagnose Manie15 gestellt wurde, veranschaulicht, dass das Fabulieren der Patienten – im Gegensatz zur systematischen Rekursion der Psychiater auf die Akten – eine ungeordnete und beliebige Form der Rekursion darstellt. Die Akte von S. beinhaltet einen gesonderten Umschlag mit gut 150 Seiten Aufzeichnungen des Patienten. Sie umfassen Zeichnungen und schriftliche Äußerungen, mit denen das Papier aus verschiedenen Richtungen gefüllt ist. S. schrieb auf alten Aktenbögen, die offensichtlich für andere Patienten angelegt worden waren, denn auf dem Kopf der Seiten finden sich unter der Überschrift „Kranken-Journal“ verschiedene Namen, die nicht die des schreibenden Patienten sind, sowie deren Aktennummern. Der Patient benutzte für seine Aufzeichnungen also keine leeren Seiten, sondern setzte an den Eintragungen der Kranken-Journale an, um sie in eigener Beschriftung der Blätter fortzusetzen. Den Kopf des Formulars versah er häufig mit Durchstreichungen, teilweise auch mit Fragezeichen, sodass der vorhandene Eintrag von Grunddaten anderer Patienten für ihn einen Bezugspunkt seines Schreibens und Kritzelns bildete. Offenbar ging S. von dem ihm zum Schreiben zur Verfügung stehenden Material aus, um die eigenen Aufzeichnungen, die sehr eilig notiert und fahrig wirken, in Gang zu bringen. Stellenweise schrieb er in Spiegelschrift, ein Phänomen, das möglicherweise auch durch die auf die Rückseite der KrankenJournale durchschimmernden Eintragungen zu erklären ist, die – anders als die Schrift von S. – deutlich in dunkler Tinte vorgenommen und somit spiegelverkehrt auf der Rückseite zu erkennen sind. Neben den Namen finden sich Teile von Gedichten und Liedtexten. So zitierte er Die Wacht am Rhein und setzte dabei auf etlichen Seiten immer wieder neu an, indem er einzelne Zeilen, Phrasen und Wörter wiederholte. Der psychiatrische Gutachter führte die sprachliche Produktivität des Patienten auf dessen „Gehörshalluzinationen“ zurück.16 Und tatsächlich folgte S. mit den patriotischen Liedern und populären Gedichten Stimmen, die er, zum Beispiel in den Straßen der Stadt, gehört haben wird. In der Akte sind mehrere Äußerungen von S. protokolliert, in denen er seine Produktion fremden Einflüssen zuschrieb und sich als Epigone charakterisierte: „Ich bin vielleicht ein Schüler von Faust“, „[m]ir hat eine Stimme gesagt“, „[i]ch bin ein Schüler von Goethe u. Schiller“. Auf die Verwendung der Spiegelschrift angesprochen, antwortete er: „‚aus Langeweile‘, das sei ihm von Gott eingegeben“. Er arrangierte dieses Material in nicht linearer, immer wieder neu ansetzender und das zuvor Geschriebene überschreibender Weise. 15 HPAC, 1901/82-M. 16 Ebenda. „Es schien so, als ob er einen Teil seiner sonderbaren Ideen aus Gehörshalluzinationen herbeizog.“

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Das über S. erstellte Gutachten vermerkte über die Notizen des Patienten: „[S]o zeichnete er und schrieb beständig. Seine Schriftstücke zeigten bereits ein Durcheinander von gereimten und prosaischen Sätzen, in denen kein Zusammenhang zu finden war.“ Das „Durcheinander“ bestand in beliebigen und ungeordneten Rekursionen. Der Patient griff Vorgaben des Formulars und der Akte auf und setzte so fabulierend die Funktionslogik des Archivs fort. Das Sprunghafte und scheinbar Unzusammenhängende der Texte lässt sich nicht nur als ein Symptom begreifen, sondern ist auch auf ein Schreibverfahren zurückzuführen, das nahezu alles, was beim Schreibprozess gegenwärtig war, fortlaufend einbezog und als Anstoß für weitere Textproduktionen aufnahm. Während die Fabulation in eine fortgesetzte Rekursion hineinglitt, stellte sie eine Verbindung von Schreibanlässen, eine Verknüpfung von Spuren des Klinikalltags und der psychiatrischen Bürokratie mit Stimmen der Großstadt als patrio­ tische Lieder und populäre Dichtung her. Insofern kann in den fabulierenden Texten also nicht allein eine gestörte Assoziation erkannt werden, sondern auch eine Funktionslogik des Archivs, die verunglückt. Die fabulierenden Patienten führten unablässig diejenige Operation aus, welche die Psychiatrie selbst ausführte: Da jedoch die Psychiatrie die Rekursion nicht eigens reflektierte und selbstverständlich voraussetzte, dass sie in geordneter und systematischer Weise vollzogen wurde, scheint eine ungeordnete Bezugnahme die fabulierenden Texte der Patienten hervorgebracht zu haben.

Ich-Sagen und Shifter-Funktion Die Erzähltheorie hat Mittelbarkeit als das allgemeine Kennzeichen der Erzählung ausgemacht. Während die ältere Forschung noch stillschweigend voraussetzte, dass in einer literarischen Erzählung Mittelbarkeit in einer Instanz – dem Erzähler – fasslich werde, haben neuere Arbeiten sie als Abfolge von sprachlichen Anordnungen begriffen, die zuallererst die Instanz eines Erzählers, literarische Figuren und deren Subjektivität hervorbringt. Sie interessieren sich dafür, wie sprachliche Anordnungen sowohl den Erzähler als auch literarische Figuren entstehen lassen und durch sprachliche Mittel den Effekt einer Subjektivität herstellen. Die Literaturwissenschaft zielt nicht zuletzt auf eine Analyse der Beziehungen zwischen sprachlichen Äußerungen und ihrer Produktionsinstanz. Solche Beziehungen werden in der Erzähltheorie zumeist als „Stimme“ bezeichnet. Der Begriff, der von Gérard Genette geprägt wurde, hat den Nachteil, dass er unspezifisch ist gegenüber Textsorten und Gattungen, aber ausgerechnet in der Narratologie sein Anwendungsgebiet hat.17 Tatsächlich liegt darin aber ein Vorzug: Der Begriff ist gegenüber Form- und Gattungsbegriffen indifferent und kann

17 Vgl. Blödorn/Langer/Scheffel 2006.

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mit kultur- und medienwissenschaftlichen Bestimmungen der Literatur verknüpft werden.18 Der narratologische Begriff „Stimme“ wurde von der grammatischen Beschreibung der verbalen Handlung abgeleitet, „sofern diese in ihren Beziehungen zum Subjekt betrachtet wird“.19 Genettes Begriff ist so beschaffen, dass er eine Möglichkeitsbedingung aufzeigt, unter der die Produktionsinstanz von sprachlichen Äußerungen – ungeachtet dessen, ob eine Erzählung vorliegt oder nicht – als Subjektivität erscheint. Hierbei spielt das Personalpronomen der ersten Person Singular eine entscheidende Rolle, weil es lose Verbindungen zwischen Sprache und Diskurs schafft und sprachliche Anordnungen regiert, die eine Subjektivität hinstellen. Émile Benveniste hat eine Theorie der Personalpronomina in der Rede entwickelt, in der er diese Pronomina sowohl als Teil der Sprache als auch Teil der „instances du discours“ begreift.20 Unter „instances du discours“ versteht er die „diskreten und jedesmal einzelnen Handlungen, durch welche das Sprachsystem von einem Sprecher als Sprachverwendung aktualisiert wird“.21 Benveniste unterscheidet zwischen der Instanz, die das Pronomen verwendet, und der Äußerung. Wenn nun in einer Diskursinstanz das Personalpronomen „ich“ vorkommt, dann regelt es die Funktionsweise aller deiktischen Ausdrücke, indem das Pronomen seinen „Personen-Indikator“22 auf diese überträgt. Deiktisch sind Ausdrücke wie „dieser“, „jetzt“ oder „hier“. Sie verweisen einerseits auf die Person, die sie gebraucht. Andererseits müssen sie als koextensiv und gleichzeitig mit der Diskursinstanz, die „ich“ enthält, aufgefasst werden. Wer den deiktischen Ausdruck „dieser“ gebraucht, kann den Ausdruck immer nur an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt verwenden. Umgekehrt gilt: Solange die deiktischen Ausdrücke nicht in den „instances de discours“ erscheinen, sind sie ohne Referent und insofern keine vollständigen Zeichen. Deshalb bedürfen sie ihrer Aktua­ lisierung im Sprechen und gewinnen ihre volle Bedeutung in ihrem jeweiligen Gebrauch. Benveniste gibt zwei Erklärungen für die Subjektivität in der Sprache. Die erste Erklärung begreift Subjektivität als den sprachlichen Ausdruck einer konkreten Person. Er kann zeigen, dass die Pronomen diejenigen Elemente der Sprache sind, die einem Sprecher erlauben, das „Gefühl“ auszudrücken, das er „von seiner nicht weiter zu zerlegenden Subjektivität besitzt“.23 Hierfür sind die Pronomina geeignet, weil sie „leere“, das heißt nichtreferenzielle Zeichen sind, die „voll“ werden, sobald ein Sprecher sie in seine Rede aufnimmt. Pronomina gewinnen ihre Bedeutung nicht nur durch das, was sie bedeuten, sondern in einem Ge18 19 20 21 22 23

Siehe Weigel 2006, Kittler/Macho/Weigel 2002, Menke 2000. Genette 1998, 151. Benveniste (1966) 2002 und 1977a. Benveniste 1977a, 280. Ebenda, 282. Ebenda, 283.

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brauchszusammenhang, und zwar je in der Situation ihrer Verwendung. „Jedes ich“, schreibt Benveniste, „besitzt seine eigene Referenz und entspricht jedesmal einem einzigen Wesen, das sich als solches hinstellt.“24 Die zweite Erklärung, die Benveniste gibt, begreift Subjektivität als einen Effekt, der sich beim Gebrauch des Pronomens einstellt. „Grundlage der Subjektivität“25 in der Sprache ist dann nicht das Gefühl, das der Sprecher von sich selbst besitzt und in der Sprache ausdrückt, sondern die Sprache selbst: Die bloße Verwendung des Personalpronomens durch einen Sprecher produziert bereits einen Subjektivitätseffekt.26 Das Pronomen der ersten Person Singular ist also diejenige Instanz, durch die sich eine Subjektivität ausspricht: Wer „ich“ sagt, markiert nicht an einzelnen Momenten, dass er sich die Rede als subjektive angeeignet habe, sondern er markiert die gesamte ergehende Rede als seine Rede. Und das Pronomen ist zugleich die Instanz, die den Effekt einer Subjektivität hervorbringt: Sobald es auftaucht, können Äußerungen einer Subjektivität zugeschrieben werden. Die Verwendung der Personalpronomina durch einen Sprecher produziert bereits eine Subjektivität: „Die Einführung der ‚Subjektivität‘ in die Sprache schafft in der Sprache und, wie wir meinen, auch außerhalb der Sprache, die Kategorie der Person.“27 Der, wie Benveniste sagt, „systematische Charakter“28 der Sprache bewirkt, dass sich die einmal signalisierte Aneignung beziehungsweise die einmal erfolgte Zuschreibung formal auf das Sprachgefüge, das heißt auf alle hierfür empfänglichen Elemente überträgt. Während die erste Erklärung davon ausgeht, dass sich sprachliche Äußerungen stets auf ein konkretes Individuum beziehen, lässt die zweite Erklärung offen, wer spricht, und begreift das Pronomen „ich“ als bloße Möglichkeitsbedingung von Subjektivität. Die Erklärungen, die Benveniste gibt, erhellen, warum die Produktionsinstanz von Aussagen, insofern das Pronomen der ersten Person Singular gebraucht wird, zwangsläufig den Effekt einer Subjektivität hervorbringt. Und sie klären darüber auf, dass dieser Effekt nicht allein durch den Personenindikator, sondern durch das gesamte Gefüge der Sprache erzeugt wird. Hieraus hat die Diskursanalyse gefolgert, dass das Subjekt ein Platz ist, von dem aus gesprochen wird, es aber weder substanziell noch funktional mit dem Sender, Autor oder Urheber einer Rede identisch sein muss. Vielmehr ist das Subjekt, wie Michel Foucault definiert, „ein determinierter und leerer Platz, der wirklich von verschiedenen Individuen ausgefüllt werden kann“.29 Was sprachliche Äußerungen also zu Aussagen macht, ist, dass in ihnen die Position des Subjekts bestimmt werden kann, nicht aber, dass „es eines Tages jemand gab, der

24 Ebenda, 280 f (Hervorhebung im Original). 25 Benveniste 1977b, 290. 26 Ebenda, 293. 27 Ebenda. 28 Benveniste 1977a, 284. 29 Foucault 1992, 138 f.

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sie vorbrachte oder irgendwo ihre provisorische Spur niederlegte“.30 Foucault unterscheidet zwischen Äußerungen und Aussagen: „Eine Aussage unterscheidet sich unter anderem von einer beliebigen Folge von sprachlichen Elementen durch die Tatsache, daß sie mit einem Subjekt eine bestimmte Beziehung unterhält.“31 Das Subjekt einer Aussage lässt sich weder „auf jene grammatischen Elemente in der ersten Person reduzieren“ noch fällt es mit deren Urheber zusammen: „Keine Zeichen, so weiß man, ohne daß jemand sie von sich gibt, auf jeden Fall ohne etwas wie ein sendendes Element.“32 Obwohl das Vorhandensein von Zeichen eine Produktionsinstanz, einen Urheber, Sender oder „Autor“ erfordert, ist diese Instanz „nicht mit dem Subjekt der Aussage identisch; und das Produktionsverhältnis, das er [der Autor] mit der Formulierung unterhält, ist nicht deckungsgleich mit dem Verhältnis, das das äußernde Subjekt und das, was es äußert, verbindet“.33 Äußerungen sind nicht mit Aussagen gleich zu setzen, die ihrerseits nicht auf sprachliche Äußerungen und die Form des Satzes beschränkt sind, sondern zum Beispiel auch Bilder und Diagramme umfassen können. Was einer Äußerung den Status einer Aussage verleiht, erschließt sich weniger aus linguistischen und philosophischen Definitionen der Aussage, sondern hängt unter anderem von institutionellen, sozialen und politischen Voraussetzungen ab: Jede Äußerung ergeht in einem Machtgefüge. Während die traditionelle Bestimmung des Subjekts einer Aussage auf eine grammatikalische oder empirische Bestimmung des Sprechers zielt, geht die Diskursanalyse davon aus, dass Aussagen eine Subjektposition implizieren, die wie ein Stellplatz mit variablen Sprechern besetzt werden kann. Mit der Unterscheidung von Subjektposition und empirischen Personen gerät nicht zuletzt ein Gefüge von Regeln in den Blick, das die Einheiten von Autor und Werk sichert, Äußerungsinstanzen den Status eines Autors und Äußerungsmengen den Status eines Werks verleiht. Foucault hat daraus die Konsequenz gezogen, die Untersuchung der Pronomina von der Bezugnahme auf den konkreten Sprecher abzulösen und stattdessen die Subjektposition unter der Bedingung „was liegt daran wer spricht“34 zu bestimmen und nach den Bedingungen und Regeln zu fragen, die ihre Hervorbringung ermöglichen. Das Erzählen – und einzig das Erzählen – erlaubt es, die Subjektivität einer dritten Person so hinzustellen, als ob sie eine erste Person sei.35 Im Erzählen wird diese dritte Person Singular, die nicht eigentlich zu den Personalpronomina gehört, in der Regel durch eine erste 30 Ebenda, 139. 31 Ebenda, 134. 32 Ebenda. 33 Ebenda. 34 Vgl. Foucault 2001b, 1007, Beckett 2000, 144: „Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt, was liegt daran wer spricht.“ 35 Siehe Hamburger 1980, 79 f. Vgl. auch Genette 1998, 137 u. ö.

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Person hingestellt, die diese dritte Person aussagt, aber von ihr sachlich und logisch unterschieden ist: „Sie [die dritte Person] existiert und kennzeichnet sich […] durch Opposition zur Ich-Person des Sprechers, der, indem er sie aussagt, sie als ‚Nicht-Person‘ festlegt. Dies ist ihr Statut. Die Form er … erhält ihren Wert aufgrund der Tatsache, daß sie notwendigerweise zu einem Diskurs gehört, der von einem ‚ich‘ ausgesagt wird.“36 Mit anderen Worten: Die dritte Person ist immer nur der Gegenstand einer Rede der ersten Person. Die Literatur vermag die Subjektivität einer dritten Person hinzustellen, indem sie sich, wie Benveniste formuliert, „in Opposition“ zu ihr begibt und die unterbestimmte Person zur Subjektivität ausformt. Die Verwendung des Personalpronomens der dritten Person Singular zeigt weder an, dass die ausgesagte Person nicht am Ereignis der Rede teilnimmt, noch dass die dritte Person ausschließlich als Gegenstand des Gesagten zu betrachten ist. Vielmehr wird die dritte Person von einem komplexen Gefüge konstituiert, in dem sich der Sprecher, das Gesagte und der Gegenstand des Gesagten aufeinander beziehen. Die Psychiater nutzten die literarische Strategie der heterodiegetischen Erzählung, um ihren Patienten mittels des Pronomens der dritten Person ein Erleben oder Gedanken zuzuschreiben. Die Äußerungen der Patienten wurden mit Inquit-Formeln wie „gibt an“ oder „berichtet“, aber auch im Konjunktiv oder in nicht eigens gekennzeichneter direkter Rede wiedergegeben. Und auch Formulierungen, die einen direkten Zugang zum Erleben des Patienten suggerieren, wie zum Beispiel „er denkt“, kommen vor.37 Die psychiatrischen Texte stellten eine Subjektivität hin, als ob diese den Erzählverfahren, die sie konstituierten, vorgängig sei und scheinbar unabhängig existiere. Hingegen drückten Patienten zumeist in der ersten Person Singular ihre Subjektivität aus: Die von ihnen verfassten Ego-Dokumente gingen in eine fälschende Erzählung über. Der russischsprachige Patient G., der 1908 in die Berliner Charité eingeliefert und als manischer Fabulant diagnostiziert wurde, sprach ununterbrochen.38 Obwohl G. auch Deutsch sprach und verstand, waren die Psychiater auf die Übersetzungsleistung eines Freundes, der G. eingeliefert hatte, angewiesen. Der Freund berichtete vom Vorleben des Patienten und stellte G.s beständige Wandlung vehement vertretener Überzeugungen, Zielsetzungen und Identitäten dar. Das Erleben des Wahns war so zunächst im indirekten Bericht eines Miterlebenden in der Akte präsent. Als „eigene Beobachtung“ der Psychiater setzte sich die Aufzeichnung des Fabulierens von G. protokollarisch in der Akte fort. Auf diese Weise wurden seine Rede und der Wechsel seiner Identität zwischen „Satan“ und dem Gründer eines „Clubs der Egoisten“ in mehrfach vermittelter Form dargestellt. Übersetzung und Transfer der Pati36 Benveniste 1977b, 296 (Hervorhebung und Auslassung im Original). 37 HPAC, 1908/14-M. 38 HPAC, 1908/5536-M.

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entenäußerungen innerhalb der Akte lassen die sprachlichen Verfahren hervortreten, die ein Ich als einen „Shifter“ zwischen diversen Zuschreibungen, Identitäten und Positionierungen hervorbrachten. Das „Ich“ ist so in einem nicht unerheblichen Teil der Akte in der dritten Person Singular als „er“ präsent. Unter der Überschrift „Beginn der jetzigen Erkrankung“ wurde in der Akte festgehalten: „[A]uffallend unruhig. Sprach viel und leicht, widersprach sich. Konnte den Faden seines Gesprächs nicht bis zu Ende führen: ging leicht von seinem Thema ab.“39 Die körperliche Unruhe und permanente Aktivität des manischen Patienten war verbunden mit einer nicht abreißenden Rede. Wie konnte diese sprachliche Produktivität beschrieben werden, wenn sie sich nicht in der Motorik von Artikulationsorganen erschöpfte? Aus der psychiatrischen Charakterisierung geht hervor, dass es den Äußerungen G.s an Kohärenz fehlte, er Angefangenes nicht zu Ende führte sowie häufig die Themen wechselte. Und dennoch gibt es rhetorisch ein verbindendes Element beziehungsweise einen ständigen Bezugspunkt der Erzählungen. Im Zentrum der Äußerungen des Patienten stand die Auseinandersetzung mit einem Ich, das sowohl ausgestellt als auch permanent infrage gestellt wurde. Die Idee, einen „Club der Egoisten“ zu gründen, sowie der Einsatz für die „Individuumsbefreiung“ und die mehrfach vorgetragene Schopenhauer-Paraphrase „das Individuum und sein Wille, das ist alles“, exponierten eine Ich-Position, die in den protokollierten Äußerungen ebenso variabel wie widersprüchlich eingenommen wurde. So erscheint besonders die Vorstellung, dass sich selbst als solche bezeichnende ‚Egoisten‘ ein Kollektiv bilden würden, dessen Gründungsstatut die jeweilige Selbstbezüglichkeit ist, als paradox. Trotz der rhetorisch hervorgehobenen Ich-Position widersprach die Rede einer konstanten personalen Identität. G. behauptete „Satan“ beziehungsweise „Satans Kind“, eine Figur aus Stanislaw Przybyszewskis Roman „Satans Kinder“40, zu sein und wollte nicht mehr bei seinem Namen genannt werden. Er identifizierte sich selbst mit dem Arzt und diesen wiederum mit Gott. Der ständige Wechsel seiner Überzeugungen und Tätigkeiten stand ebenfalls im Gegensatz zur Emphase seiner Ich-Position. Weder anhand der wechselnden Identitätszuschreibungen noch durch die nacheinander vehement vertretenen Überzeugungen („physische Theorie“, „Sozialismus“, „Anarchismus“, „Egoismus“)41 wurde so etwas wie eine personale Kontinuität erkennbar. Rhetorisch wurde so die Instanz eines erlebenden Ich hervorgehoben, die jedoch in paradoxer Weise der Struktur der Erzählung als permanentem Wechsel und Abschweifung einer überdies nur durch mehrfache Vermittlung als Bericht und Übersetzung des Freundes sowie als Protokoll des Arztes greifbare Erzählerstimme präsent war. Der scheinbare Widerspruch, ständig auf ein Ich zu 39 Ebenda. 40 Przybyszewski 1897. 41 HPAC, 1908/5536-M.

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rekurrieren, ohne damit in irgendeiner Weise konstante Eigenschaften zu verbinden, kulminierte in der Bemerkung des Psychiaters: „Er liebte viel von seinem ‚Ich‘ zu reden“ in Verbindung mit der Aussage: „Status nervosus: Alle Untersuchungen, bei denen es auf subjektive Angaben des P. ankommt, sind ergebnislos, da P. beleidigt die Antwort verweigert.“ An dieser Stelle wird die unterschiedliche Referenz auf die Subjektivität des Patienten durch diesen selbst und den Psychiater erkennbar. Während G. das Pronomen „ich“ als leere Shifter-Position verwendete, die innerhalb sprachlicher Äußerungen Zuschreibungen an eine Subjektivität vornimmt, bezog sich der Psychiater auf die mit der ersten Person Singular bezeichnete Position als außerhalb der Sprache bestehende Subjektivität, der sich Empfindungen, Persönlichkeitsmerkmale und damit Diagnosen zuschreiben lassen. Der Patient fabulierte, indem er das Pronomen zum zentralen Referenzpunkt seiner Äußerungen machte, an dem er sich widersprechende Identitäten, Einstellungen und Charakteristika sprachlich zur Überschneidung brachte. Diese Verknüpfungen fanden auf sprachlicher Ebene statt und die Frage, ob es ein diesen Zuschreibungen entsprechendes Individuum außerhalb der sprachlichen Äußerung gibt oder überhaupt geben kann, blieb beim Fabulieren ausgespart; ebenso wie die Frage nach der Autorschaft des Sprechers und der Referenz des Geäußerten auf eine empirische Person. Das „Ich“ der Äußerung war damit eine „Subjektposition“, die von einer sprachlichen Operation hervorgebracht wurde und von der Form der Rede gefordert war. Der Gebrauch des Pronomens war ein „sprachliches Gefüge“42, ohne dass dieses einen psychischen Zustand oder einen Charakter repräsentierte. Das Fabulieren des Patienten wurde zu einem fälschenden Erzählen im Sinne Deleuzes, der anhand von Friedrich Nietzsches Zarathustra und Hermann Melvilles The Confidence Man „Ketten von Fälschern“ beschreibt: „Die Erzählhandlung wird nichts anderes zum Inhalt haben als die Zurschaustellung dieser Fälscher, ihr Gleiten vom einen zum anderen, die Verwandlungen der einen in den anderen.“43 Fabulieren, das mit dem Pronomen auf sich ausschließende und ständig wechselnde Figuren referiert, erlaubt keine Aussagen über ein Subjekt. Es ist ein Erzählen als permanentes Fälschen, das ohne dieses Fälschen nicht stattfinden könnte. Es macht die Operationen der Subjektivierung anders als die Rede der Psychiater nicht vergessen, sondern hebt die Referenz auf ein Ich als sprachliches Geschehen der Fälschung hervor.

Lücken und Leerstellen Theodor Ziehen stellte eine Theorie auf, der zufolge psychische Krankheiten mit gestörten Assoziationen einhergehen. Er konstruierte eine Analogie zwischen dem Aufbau einer Erzäh42 Vgl. Schäfer 2010. 43 Deleuze 1999, 178.

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lung und dem Ablauf des Denkprozesses. Die Kernthese seiner Erzähltheorie besagt: Die Einheit einer Erzählung werde durch eine sogenannte „Leitvorstellung“, eine „Hauptklammervorstellung“ oder ein „Leitmotiv“ gewährleistet.44 Erzählungen gewinnen ihre Einheit mittels einer Hierarchisierung innerhalb der Vorstellungs- und Ideenassoziation. Ziehen beobachtete an seinen Patienten Symptome der Dissoziation und Inkohärenz, die sich vor allem in deren sprachlichen Äußerungen als neue, unerwartete Formen der Verknüpfung ausdrückten. Der innere Zusammenhang der aufeinander folgenden Vorstellungen lockert sich. Die Vorstellungen folgen aufeinander aufgrund einer ganz zufälligen Klangähnlichkeit der sie bezeichnenden Worte. Namentlich Reime und Assonanzen bestimmen so den Vorstellungsablauf. Nimmt die Ideenflucht noch weiter zu, so werden Zwischenvorstellungen fortwährend übersprungen. Die Kranken kommen vom Hundersten ins Tausendste. Der verbindende Faden lässt sich oft kaum mehr auffinden. Dominantvorstellungen bleiben ganz aus. Schließlich werden die Vorstellungen ohne Satzverbindung aneinander gereiht: Es kommt nicht mehr zu Urteilsassoziationen. In rasender Eile folgen einzelne diskrete Vorstellungen aufeinander, bald ohne jegliche erkennbare Beziehung untereinander, bald aufgrund zufälliger Wortähnlichkeit.45

Was Ziehen als Effekt fehlender Leit- oder Dominantvorstellung beschrieb, war die Befähigung der Rede, von jedem Element ausgehend neue Wege einzuschlagen und die in den einzelnen Worten liegenden Möglichkeiten der Neuverknüpfung nicht zugunsten einer einzigen „Zielrichtung“ auszusetzen. Aufschlussreich ist die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenassoziation: Während als Hauptassoziation diejenige Verbindung von Vorstellungen galt, die sich dem Verfolgen einer Zielrichtung unterordnen ließ, war die Nebenassoziation die scheinbare Nebensächlichkeit, der ablenkende Umstand oder die zufällig eintretende Verknüpfung, die weder dem Fortführen eines Themas dient noch ein Glied in der Kette einer Argumentation darstellt. Ziehen erforschte die Assoziationen der Patienten, indem er sie Lückentexte ausfüllen ließ. Der Lückentext wurde kurz nach der Jahrhundertwende in der Charité vermehrt als Testverfahren zur Messung unterschiedlicher Dimensionen der Intelligenz verwendet. Ziehen setzte hierfür einen Textabschnitt aus Jonathan Swifts Gullivers Reisen46 ein, der sich bereits anderweitig in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen bewährt hatte.47 Neben zwei weiteren Texten, unter anderem einem ebenfalls als Lückentext bearbeiteten Auszug aus einer Biogra44 45 46 47

Ziehen 1911, 54. Ziehen 1908, 89. Swift 2006. Ebbinghaus 1897, 415 f.

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phie August Neidhardt von Gneisenaus,48 wurde dieser Text in der Charité nun zum Standard. Die im Text fehlenden Silben und Wörter sollten von den Patienten sinngemäß ergänzt werden. Wie Ziehen in seiner Schrift Methoden der Intelligenzprüfung von 1911 erläuterte, dienten derartige Tests der Prüfung auf „Kombinationsdefekte“.49 Er verstand unter Kombinationsfähigkeit eine Form der Ideenassoziation. Hierbei ging es nicht um die Reproduktion einer vorgegebenen Abfolge von Ideen, sondern um das Herstellen eines Textzusammenhangs durch das Ausfüllen der Lücken. Ausschlaggebend für die Kombinationsfähigkeit sei, so Ziehen, die Bildung von „Dominant- oder Leitvorstellungen (Klammervorstellungen)“. Diese Leitvorstellungen, welche die anderen Vorstellungen miteinander verknüpften, könnten zum Beispiel aus einem „‚Thema‘, ‚Leitmotiv‘“ oder in der „‚Pointe‘“ bestehen. Vorstellungen hätten demnach eine ungleiche „Trag- oder Wirkungsweite“, sodass bestimmte Vorstellungen eine Zielrichtung beziehungsweise einen Zusammenhang für die Verbindung der übrigen Vorstellungen vorgeben würden.50 Fabulieren ist ein Erzählen, dessen Zusammenhang nicht auf einer Abstufung oder einer Hierarchie von Vorstellungen beruht. Vielmehr können von jedem einzelnen Element neue Verknüpfungen aufgebaut werden, ohne dass deren Kohärenz bereits in einer übergeordneten Leitvorstellung gegeben wäre. Das Fabulieren stellt eine nicht hierarchisierte, sich flexibel und spontan verknüpfende Form her, bei der jedes Glied die Möglichkeit zur Modifikation der Erzählrichtung bietet. Dem Einsatz von Lückentexten in experimenteller Psychologie und Psychiatrie lagen Annahmen über die prinzipielle Ergänzungsbedürftigkeit von Texten zugrunde: „Jede, auch die einfachste Erzählung enthält Lücken, deren Ausfüllung dem Lesenden bzw. Hörenden überlassen wird. Zwischen den einzelnen Sätzen muß immer ein gewisser Zusammenhang ergänzt werden. Eine Erzählung, die dem Leser in dieser Beziehung gar nichts zumuten würde, wäre unendlich langweilig und existiert auch kaum.“51

Kein Text sage alles über einen geschilderten Sachverhalt, sondern stets müsse der Leser etwas davon ergänzen, um den einen Zusammenhang herstellenden Gedanken zu erfassen. Diese Eigenschaft von Texten fordere heraus, was der Psychologe Hermann Ebbinghaus (1850– 1909) als „intellektuelle geistige Tüchtigkeit“ bezeichnete: die „Erarbeitung eines irgendwie 48 Der Text findet sich als handschriftlich vervielfältigte Vorlage Der Major von Gneisenau in etlichen Akten der Charité kurz nach 1900; er war einer Biografie Gneisenaus entnommen. Pertz/Delbrueck 1864, 184. 49 Ziehen 1911, 54. Vgl. auch Weck 1905. 50 Ziehen 1911, 54 (Hervorhebung im Original). 51 Ebenda, 53.

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Wert und Bedeutung habenden Ganzen, vermöge wechselseitiger Verknüpfung, Korrektur und Ergänzung der durch zahlreiche verschiedene Eindrücke nahegelegten Assoziationen“.52 Das auch als „Kombinationsmethode“ bezeichnete Testverfahren des Lückentexts zielte also bereits auf die Konstitution des Textsinns durch Ergänzung der fehlenden Elemente. Die Aufgabe, Lückentexte auszufüllen, setzte voraus, dass Texte eine sinnvolle Einheit bilden, die im Falle intakter Kombinationsfähigkeit vonseiten der Patienten durch Erfassen des Gesamtzusammenhangs eines Textes wiederhergestellt werden konnte. Entsprechende Beispiele ausgefüllter Lückentexte in den Akten zeigen nicht nur, dass solch ein Textzusammenhang in den Testbögen der Patienten regelmäßig nicht hergestellt wurde, sondern demonstrieren auch, dass Lücken innerhalb von Texten weitere Funktionen hatten, als auf fehlende Elemente eines angenommenen Sinnzusammenhangs hinzudeuten. Die konstitutive Ergänzungsbedürftigkeit von Texten durch die Kombinationsfähigkeit der Lesenden ist in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts ausdifferenziert worden und prägt sich in Ansätzen wie Roman Ingardens Konzept der „Unbestimmtheitsstellen“ und besonders Wolfgang Isers Theorie der „Leerstelle“ aus.53 Die Theorie der Leerstelle wurde zu einem Schlüsselbegriff der Wirkungsästhetik literarischer Texte und bezeichnet die grundlegende Deutungsoffenheit von Texten im Zuge jeder Lektüre. Die Leerstellen des Textes ermöglichen und erfordern die Beteiligung von Vorstellungen und der „Kompositionstätigkeit“ der Lesenden und tragen damit zur Sinnkonstitution eines Textes während der Lektüre bei. Leerstellen werden daher nicht als ein Defizit verstanden, sondern als notwendiger Bestandteil literarischer Texte.54 Insbesondere fiktionale Texte sind durch Leerstellen gekennzeichnet, da in ihnen, anders als in der alltäglichen Sprachverwendung, die „Anschließbarkeit“ zur kommunikativen Situation und die pragmatische Einbettung unterbrochen ist. Die „ausgesparte Anschließbarkeit“ fordert die Vorstellungstätigkeit der Lesenden heraus, die die Verbindungen zwischen den einzelnen Textsegmenten erst herstellt. Iser geht davon aus, dass die Verbindungen einzelner Textsegmente wie beispielsweise verschiedener Perspektiven speziell im literarischen Text nicht vollständig gegeben sind. Ebenso können in einem Text verschie52 Ebbinghaus 1897, 413 f. 53 Vgl. Ingarden 1968, 303, Iser 1994, Spree 2007, 388 f. 54 Durch die Annahme eines Einbezugs der Lesenden in die Sinnkonstitution von Texten durch Leerstellen fand der Ansatz zudem Verbreitung in der produktionsorientierten Didaktik, die – vergleichbar dem in der Psychiatrie verwendeten Format – Lückentexte zur Aktivierung von Schülerinnen und Schülern beim Verständnis und dem Fortführen von Texten einsetzte. Offenbar wird der Lückentext heute in erster Linie als didaktisches Mittel wahrgenommen. Der Eintrag im Historischen Wörterbuch der Rhetorik sieht von der Einführung durch Ebbinghaus im späten 19. Jahrhundert und dem Einsatz in der Psychiatrie ab, erwähnt seine Verwendung in der Reformpädagogik und fasst ihn ansonsten als ein Phänomen der 1980er- und 1990er-Jahre. Vgl. Häcker 2011.

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dene Schemata „kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder segmentierend“ angelegt sein und so die Erwartung einer „good continuation“55, die einzelne dieser Schemata wecken, unterbrechen. Erst durch ihre wechselseitigen Bezüge im „Vorstellungsakt des Lesers“ gewinnen „die Segmente […] ihre Bestimmung durch ihre Beziehung aufeinander, und nicht durch ihre Teilhabe an einem bestimmten tertium comparationis“.56 Es wird also nicht wie bei Ziehen eine die Abfolge der Vorstellungen dirigierende „Leitvorstellung“ vorausgesetzt, sondern angenommen, dass es zwischen den verschiedenen Textsegmenten zu Brüchen kommt, die die Vorstellungstätigkeit der Lesenden herausfordern, Beziehungen innerhalb des Textes erst herzustellen. Die Leerstellen fungieren insofern als „Gelenke des Textes“ oder „gedachte [...] Scharniere“.57 Sie sind die offenen Bruchstellen der Texte, an denen Ordnungsschemata infrage stehen und die Möglichkeit und Notwendigkeit besteht, Bezüge, die vom Text nicht vorgegeben sind, herzustellen. Im psychologischen Testverfahren wurden die Lücken durch typographische Auslassung erzeugt und durch Unterstriche markiert. Die erwartete Ergänzung war auf einzelne Silben, Worte und kurze Phrasen reduziert, sodass die Möglichkeiten zur Ergänzung des Fehlenden zum erwarteten Ganzen als begrenzt erschienen. Der erzählerische Zusammenhang blieb am dargebotenen Text laut Ziehen so deutlich ablesbar, dass eine Unbestimmtheit – die für Ingarden und Iser die konstitutive Deutungsoffenheit des literarischen Kunstwerks ausmacht – auf eine vorhersehbare und kalkulierbare Ergänzungsmöglichkeit beschränkt wurde. In der psychiatrischen Theorie ist, auch wenn sie Lücken in Texten für konstitutiv hält, die Möglichkeit zur Einheitsbildung der Erzählung in hohem Maße vorhersehbar. Die Erwartung eines sinnvoll durch die Imagination der Lesenden zu vervollständigenden Ganzen wurde jedoch durch die Erzählungen der fabulierenden Patienten, die gerade in den Lücken ansetzten, durchkreuzt. Die von Patienten ausgefüllten Lückentexte in den Akten der Charité erfüllen in vielen Fällen nicht die Forderung, einen vorhersehbaren Textzusammenhang mit Einsetzungen in die Lücken zu ergänzen. Neben nicht ausgefüllten Lücken weisen die Testbögen auch etliche Fortsetzungen, Umschreibungen und Überschreibungen der Vorlage mit neuen Textsegmenten auf. Der Patient N., dem 1907 in der Charité Paranoia diagnostiziert wurde, beschränkte sich keineswegs darauf, die Lücken mit fehlenden Worten oder Silben auszufüllen, sondern fasste den Test als Schreibanlass für weitere Textproduktionen auf. Zwischen den Zeilen schrieb er eine Geschichte seiner Aufnahme in die Charité.58 In seiner Akte finden sich sechs 55 56 57 58

Iser 1994, 288. Iser übernimmt den Begriff von Gurwitsch 1964, 122 f. Iser 1994, 304. Ebenda, 284. HPAC 1907/727-M.

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jeweils unterschiedlich ausgefüllte Versionen des Lückentextes, die er in Randbemerkungen als „objective Ausfüllung in wissenschaftlicher geistlicher Form“ beziehungsweise „subjective Ausfüllung“ und „Im Auftrage & Befehl des Kaisers“ betitelt hat. In zwei Versionen überschrieb er die Geschichte von Gulliver und siedelte diese in Berlin an. Zwischen den Zeilen schrieb er eine Geschichte der Internierung: „Ich befand mich in einer Räuberhöhle, nachträglich königliche Charité genannt, wo ich auf Kaiserl. Befehl, weil ich ein Edel-Mensch war, zurück durch den Wahnsinnstod gebracht, das heißt gerichtet werden sollte.“59 Der Patient H. mit der Diagnose „Pseudologia phantastica“ und „querulatorischer Charakter“ verfasste 1908, wenige Tage nachdem er den Lückentext bearbeitet hatte, ein Gedicht, das er dem Arzt widmete. H.s Gedicht Der sterbende Fremdenlegionär60 beschrieb einen Söldner, der – vom Kampf verletzt – sterbend in der Sonne liegt und den seine Wunden zudem hindern, sich zu bewegen. Das Motiv der Bewegungsunfähigkeit im fremden Land verknüpfte also Abenteuergeschichte, Testverfahren, Gedicht und Biographie des Patienten. Sowohl das Gedicht als auch die an Gullivers Reisen anschließende Erzählung verbanden den Lückentext mit anamnestischen Angaben beziehungsweise mit Fragmenten der Biographie der Patienten. Auch als Wahnideen bezeichnete Vorstellungen von einer geheimen Beeinflussung des Denkens durch den deutschen Kaiser und die Berliner Polizei mittels Bestrahlung und elektrischer Apparate konnten in die Fortführung des Lückentextes einfließen.61 Die Patienten versahen so den Lückentext mit neuen Textsegmenten, die nicht geeignet waren, den Sinn der Vorlage zu vervollständigen. Sie stellten stattdessen, ausgehend von der Szene der Ankunft Gullivers im Königreich Liliput, Bezüge zu anderen Erzählungen her. Ihre Textsegmente nahmen nur auf den ersten Blick ihren Ausgang von den markierten Lücken; sie schlossen vielmehr bei genauerer Betrachtung an den Leerstellen – als ‚Scharniere‘ – an, an denen Swifts Roman besonders reich ist. Die Leerstellen im vorgegebenen Lückentext, die nicht zu Testzwecken markiert waren, bestanden in der textlichen Inkongruenz eines bis dahin Reise und Schiffbruch als realistische Erzählung präsentierenden Textes mit den phantastisch-parodistischen Erzählsegmenten einer Welt, in der ein Volk zwergenhafter Menschen einen in der Relation plötzlich zum Riesen gewordenen Gulliver festbindet. Aus dieser Inkongruenz resultieren Fragen, die weit über die bereits vom ausschnitthaften Text aufgeworfenen hinausgehen, nämlich wer Gulliver ist, warum er nach tiefem Schlaf bewegungsunfähig erwacht, wer ihn an den Boden gebunden hat und in welchem fremden Land er überhaupt gelandet ist, nachdem er Schiffbruch erlitten hat. Indem die zu testenden Patienten ihre Aufmerksamkeit auf Lücken und Leerstellen des Textes legten, wurden sie zu 59 Ebenda. 60 HPAC 1908/14-M. 61 HPAC 1907/727-M.

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Fortschreibungen der Erzählung herausgefordert. Ihre Vorstellungstätigkeit überschritt dabei sowohl die geforderte Ergänzung einzelner Wörter und Silben als auch die von Iser im Akt des Lesens erwartete „Kompositionstätigkeit“. Sie verbanden nicht nur gegebene Segmente innerhalb eines Textes, sondern dehnten das „Netz von Beziehbarkeiten“, das die Leerstellen eröffneten, auf eigene Erlebnisse, literarische Produktion und Wahnideen aus. Der Lückentext führte den Patienten einen Moment des Erwachens vor, an dem in Swifts Roman die bis dahin realistische Erzählung in eine phantastische Welt übergeht. Die Schwelle zwischen Schlaf und Wachen ist als Erzählmotiv geradezu prädestiniert, einen Ausgangspunkt für das Fabulieren zu bilden. Und so wurde das Fabulieren der Patienten in diesem Test nicht allein durch Lücken und Leerstellen angeregt, sondern war auch in der Erzählsituation des vorgelegten Textes angelegt. An dem Punkt, an dem Swift dem Erwachen Gullivers die abenteuerliche Geschichte von seinem Aufenthalt im Land der winzigen Menschen folgen lässt, setzten die Psychiatriepatienten mit eigenen Erzählungen an, die in fremde Länder entführten oder Verschwörungstheorien insinuierten, die im Berliner Raum verortet wurden. Das fabulierende Schreiben der Patienten ging nicht nur von Lücken und Leerstellen in vorhandenen Texten aus, sondern auch ihre eigene Textproduktion war von Leerstellen angetrieben. Es finden sich in ihren Texten sowohl markierte Lücken, die formales Kennzeichen der Textgestaltung sind, als auch Leerstellen, die sich infolge von Inkongruenzen der Erzählsegmente untereinander ergeben. Die Leerstellen im Text, ob als Lücken markiert oder nicht, waren Anstöße des Fabulierens. Ausgehend von diesen Stellen entstand beim Fabulieren jedoch kein Textganzes und vollzog sich auch kein sinnkonstitutives Textverstehen. Vielmehr wurden Lücken und Leerstellen vorhandener Texte zu Scharnieren nicht vorhergesehener Kombinationen und Verbindungspunkte zu anderen Erzählungen. Der Patient N. versah beim Ausfüllen des Formulars die eingetragenen Sätze, die er auf dem eng beschriebenen Rand fortsetzte, mit Einsetzungen in Klammern, in die wiederum Zusätze eingefügt wurden. Seine in der Psychiatrie geschriebenen Neuen Lieder und deren Kommentar verfuhren ebenfalls nach dem Prinzip der Einsetzung. Er arbeitete mit Einschüben in den geschriebenen Text, die das Geschriebene gedrängt und kaum mehr leserlich erscheinen lassen. Die Einsetzungen operierten statt mit Auslassungen oder Lücken mit geschweiften Klammern, die wiederum die Funktion hatten, Verknüpfungspunkte und Scharniere zu markieren. Das Schreiben des Patienten verlief nicht linear. In ständigen Relektüren des bereits Geschriebenen erschloss er die Leerstellen, an denen der Text Raum für Abschweifungen und Zusätze ließ, um ihn in immer neue Richtungen fortzuführen.

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Abb. 1: HPAC, 1907/727-M

Nach langer (mir von Kaiser Wilhelm dem II. (durch (gänzlich unschädliche) electrische Stromverbindung) aufgezwungenen & von mir freiwillig in bestem Glauben) Wand erung in dem fremden Lande (Preussen) fühlte ich mich (Bauer & Bauer Staatsbürger) so schwach, daß ich der (sog. Müdigkeits-) Ohn macht (die einem Schlafe mehr gleich war als eine wirkliche Ohnmacht) Bis der Tode Geist er (d.h. schlaftrunkener Geist) mattet s ich ich (in Gedanken) ins (Bett im Königl. Schlösschen anden (unter) den Linden vis-à-vis von der Universität Berlin)Gras nieder (lies) und sch … bald ein (bald singend bald sprechend einschlief bis ich) fester als je mals in meinem Leben (sanft träumte von Liebe & Glück, von Freiheit und Versuchung).62 62 Ebenda. Einfügungen sind hier jeweils durch Klammern gekennzeichnet, Lücken in der Vorlage

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An dieser Stelle kam wiederum das Verfahren der Rekursion zum Tragen. Das Ausfüllen vorgegebener Lücken mit Sätzen, die wiederum Lücken aufwiesen, ist ein Musterbeispiel ihrer formalen Definition: Die Rekursion wiederholt eine Struktur, die ein Teil ihrer selbst ist. Rekursiv ist aber auch ein Schreiben, das einen ständigen Bezug auf das zuvor Geschriebene herstellt und dieses stetig umarbeitet. Die Lektüre des Textes in seiner bisherigen Gestalt fand Leerstellen, die das Fortführen in neue Richtungen anstießen. Die Funktion, in vorgegebene oder aufgefundene Lücken etwas einzusetzen, fand kein Ende, sofern das Eingesetzte wiederum eine Lücke aufwies: Diese infinite Rekursion wurde einzig begrenzt durch den Raum, den das Papier zum Schreiben bot. Arzt und Patient verfolgten also zwei gegenläufige Strategien der Rekursion. Die Lektüre der Ego-Dokumente durch den Arzt ist in der Akte anhand roter Unterstreichungen im Patiententext zu verfolgen: Er hob insbesondere jene Wörter hervor, die so etwas wie eine Poetik des Einschubs und der universalen Konnektivität dokumentierten. Der Patient generierte Ketten von Komposita wie zum Beispiel „Märchenfantasienchöre“, „Versöhnungsharmoniengeleut“, „Dichterutopienträume“ und „Himmels-Rosenblüten-Sonnen-Sternen-FarbenHarmonien-Bruder-Sphären-Duft“. Der Psychiater erkannte in solchen Wortbildungen, sofern sie mit anderen Charakteristika auftraten, ein Symptom.63 Was für ihn eine bloße Äußerung war, markierte für den Patienten den Ausgangspunkt seines Schreibens: Der Patient rekurrierte fortlaufend sowohl auf sein eigenes Schreiben als auch auf die psychiatrischen Schreibanlässe. In den psychiatrischen Akten und Publikationen wurden die Inhalte der Erzählungen, die den Patienten bei den Tests vorgelegt wurden, beziehungsweise die Inhalte der Patientenäußerungen nicht thematisiert. So spielte etwa das Motiv der Bewegungsunfähigkeit im fremden Land, das Swifts Roman mit Gedicht und Autobiographie des Patienten verknüpfte, gerade keine Rolle. Weder zur Herkunft des Lückentextes aus Swifts Roman noch über die offensichtlichen Verknüpfungen mit biographischen Angaben und Wahnideen der Patienten finden sich von psychiatrischer Seite Informationen. Ziehen erwähnte lediglich, dass er den Text von Ebbinghaus übernommen habe, ging aber nicht weiter auf ihn ein.64 Dass die im durch Unterstreichung. Am Rand setzte der Patient die Erzählung fort: „Als ich erw achte, war der Tag längst … gebrochen; [Rand:] Ich befand mich in einer Räuberhöhle, nachträglich königliche Charité genannt, wo ich auf Kaiserl. Befehl, weil ich ein Edel-Mensch war, zurück durch den Wahnsinnstod gebracht, d. h. gerichtet werden sollte. Ich sah ohne zu phantasieren einige Kerle auf mich zukommen mit Messern wollten mich umbringen erstechen, doch teils meine herzliche Bitte, teils mein fürchterliches Angstgeschrei hielt sie ab, mich umzubringen, trotzdem sie vom Kaiser dafür belohnt.“ 63 Ziehen 1908, 340. 64 Ziehen 1911, 49.

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Lückentext präsentierte Situation Gullivers, der sich überraschend gefesselt in einem fremden Land wiederfindet, für die Erzählungen von Psychiatrieinsassen anschlussfähig war, scheint den Psychiatern vollständig entgangen zu sein. Während die Psychiater auf formale Merkmale der Patientenäußerungen rekurrierten und sie in Beziehung zu Testergebnissen anderer Patienten setzten, rekurrierten die Patienten auf die Inhalte der dargebotenen Erzählungen und die seitens der Klinik gebotenen Schreibanlässe. Das fortgesetzte Fabulieren speiste sich aus den Inhalten des Archivs, denen die Psychiater keinerlei Relevanz beimaßen, und es fand seinen Antrieb in den Schreibformaten des psychiatrischen Tests.

Narrative Unordnung Die narrative Inkohärenz ist ein Kennzeichen des Fabulierens. Die Erzählungen der Patienten waren sprunghaft und ermangelten einer Synthese.65 In der Akte des Patienten P. der Charité aus dem Jahr 1899 wurde die Inkohärenz zum Bestandteil der auf dem Deckel vermerkten Diagnose. Neben „Dementia hebephrenica, paranoide Form“ wurde in Klammern notiert: „erhebliche Incohärenz“.66 Was zeichnete eine Erzählung aus, die zwar als inkohärent gewertet, aber dennoch im Zusammenhang vorgetragen wurde und zu deren Spezifika es geradezu gehörte, nicht abzureißen, sondern ständig fortgesetzt zu werden? Das Fehlen eines Zusammenhangs der Erzählung war auch ein Überschuss von Leerstellen innerhalb der narrativen Ordnung. Wenn der Arzt die „Ideenassociation“ als „sehr locker“ charakterisierte, von „sinnlose[m] Aneinanderreien ohne sichtbaren Zusammenhang“ sprach, „[f ]üchtige Zusammensetzungen, scheinbar auf winzigen Ähnlichkeiten beruhend“, beobachtete und „Subjekt, Prädikat, Objekt etc. oft in gar keiner Beziehung oder nur in höchst loser“67 sah, wies er auf Leerstellen hin, die sich in seiner Lektüre von Patiententexten auftaten. Die in der Charakterisierung der Patientenrede genannten Mechanismen der sprachlichen Verknüpfung anhand des Wortklangs oder aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen galten trotz syntaktischer Regelhaftigkeit als nicht hinreichend für einen sinnvollen oder auch nur zusammenhängenden Text. Die Vorstellungstätigkeit im Rezeptionsvorgang wurde von einem solchen Text überfordert und führte damit auf ein Gebiet wahnhafter Verknüpfung. Die Leerstelle, die sich von keiner sinnvollen Vorstellung mehr schließen ließ, wurde zum dominierenden Moment des Textes. Ich bin nachts herum gelaufen nackt in der Friedrichstr., Ihr habt mich ausgezogen, dann habt ihr mich besoffen gemacht in der Kneipe, dann hat Julius Geld gewechselt, […] Mir sind mei65 Ziehen 1908, 90 f. 66 HPAC 1905/1899-M. 67 Ebenda.

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ne Zähne […] auf amerikanische Art und Weise durch die Knieschreibe durchgezogen worden. Ich bin auf dem Kloster Chorin gewachsen und bin im Bett von Erna Lindenfeld als ein halbes Pferd geboren. Bin darauf übergesprungen auf ein Schachbrett von Rosie Gold und habe dort als ein Polter Bauer weiter gespielt, Regina geschützt, ein Auge gezogen, den Bauch geklopft links, recht gesprungen nach 84, rübergezogen nach 95 mit Leimtüte mit Wein.68

Jedoch sind in der zitierten Textpassage einige Ordnungsmuster zu erkennen, die hinsichtlich der vermeintlich regellosen Patientenrede zumindest kurzfristige Orientierung bieten. Der erste Absatz beginnt mit der sukzessiven Schilderung eines nächtlichen Geschehens, dessen zeitlicher Ablauf und kausaler Zusammenhang durch die Konnektoren ‚dann‘ und ‚weil‘ markiert ist. Diese flüchtige Ordnung von Temporalität und Kausalität geht bereits einen Satz später verloren und wird durch die groteske Beschreibung eines körperlichen Vorgangs abgelöst, indem in einem zwar anschaulichen, aber anatomisch unmöglichen Körperbild die Zähne durch die Kniescheibe gezogen werden. Die erwartete Fortsetzung der Handlung bleibt ebenso aus wie ein Einfügen der Körperbeschreibung in die Erzählhandlung. Der Patiententext skizziert eine Herkunftsgeschichte mit der Angabe „auf dem Kloster Chorin“ als Geburtsort, wobei bereits die Auskunft, „als ein halbes Pferd“ geboren zu sein, irritiert. Wenn schließlich das Pferd zur Schachfigur umgedeutet wird, deren genau bezeichnete Züge auf dem Schachbrett verfolgt werden, und die mithin in einen neuen Erzählzusammenhang überführt wird, entsteht wiederum eine klaffende Leerstelle. Wenn auch kurzfristig und auf sofortige Umdeutung angelegt, sind die Elemente der Erzählung jeweils Teil eines Horizonts, der eigene Ordnungsleistungen mit sich führt. Jedenfalls impliziert das Schachspiel ein Regelwerk und eine Figurenordnung, die für kurze Zeit den Fortlauf der Erzählung bestimmen können, wenn – wie in der oben zitierten Äußerung – die Züge des soeben zur Schachfigur gewordenen Pferdes auf dem Schachbrett sowie sein Verhältnis zu anderen Schachfiguren beschrieben werden. Eine Ordnung, die mit der in den vorausgehenden Sätzen angedeuteten Lokalisation an einem bestimmten Ort (Kloster Chorin) außerhalb des Spiels mit einer namentlich benannten Person nur durch die Bezeichnung „Pferd“ verbunden ist. Anschlüsse, die vom Text zunächst ausgespart sind, werden im Lesen hergestellt, wenn einzelne Textsegmente in ein Verhältnis von ‚Thema und Horizont‘ treten. Ein Element des Textes, das zuvor Thema gewesen ist, also im Fokus des Lektürevorgangs stand, wird für die anschließenden Textsegmente zum Horizont. Indem sie selber zum Thema werden, erhalten sie ihren Sinn im Horizont der vorangegangenen Textelemente. Die Lektüre bewegt sich so in einem permanent herzustellenden Bezugsverhältnis, in dem „das eine Segment zum Thema, 68 Ebenda.

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das andere als fallengelassene thematische Relevanz zur Leerstelle wird, die als Horizont den Leserblickpunkt in der Zuwendung zum thematisch gewordenen Segment konditioniert“.69 In Anknüpfung an die Terminologie Isers soll diese Inkongruenz als Leerstelle zwischen zwei Segmenten der Erzählung bezeichnet werden. Es fällt jedoch schwer, die Leerstelle im Patiententext rezeptionsästhetisch als Ansatzpunkt für die Kompositionstätigkeit der Lesenden zu verstehen, die mit ihrer Imagination diese Leerstelle füllen und im Akt des Lesens einen Textsinn entstehen lassen. Im Unterschied zur Funktion der Leerstelle in der Rezeptionsästhetik muss damit die Leerstelle, die sich im Text des fabulierenden Patienten auftut, als ‚klaffende Leerstelle‘ beschrieben werden. Klaffend ist sie deshalb, weil sie die mit der Leerstelle verbundenen Qualitäten von Offenheit in Bezug auf mögliche Anschlüsse und Verknüpfungen, Deutung und damit die Unbestimmtheit hypostasiert. Das Schließen der Leerstelle durch eine sinnkonstitutive Lektüre ist nicht möglich; stattdessen sind die Merkmale der Inkongruenz und der Anschlussfähigkeit in einem Maße ausgeprägt, das die Offenheit des Textes an dieser Leerstelle wie eine Wunde hervortreten lässt. Das Fabulieren nimmt hier Formen der Groteske an, die sich nicht auf die Deformation und Öffnung von Körpern beschränkt, sondern auch die Textstruktur selbst mit tiefen Wunden versieht.70

Das Fabulieren im psychiatrischen Diskurs Der psychiatrische Diskurs erteilte dem Patienten nicht das Wort, sondern benutzte seine Äußerungen als Material, um Aussagen über den Wahnsinn zu treffen. Diese Diskursregel, die Foucault aufgedeckt hat, galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.71 Der Wahnsinn war lange Zeit ein „abwesendes Werk“.72 Auch wenn der Wahnsinnige sprach, gewannen seine Äußerungen nicht den Status von Aussagen. Die Unterscheidung zwischen Äußerungen und psychiatrischen Aussagen implizierte, dass zwischen ihnen eine Schwelle lag, welche die Reden und Texte der Patienten nicht von sich aus überschreiten konnten. In der Psychiatrie war die Subjektposition, welche die Aussage machte, auf der Seite des Arztes, der den Patienten in einen Fall und dessen Äußerungen in Aussagen verwandelte. Die Psychiater erklärten, dass die Rede des fabulierenden Patienten sich als Ganzes von dem allgemeinen kulturellen Referenzsystem ablöse und mit der Wirklichkeit breche. Die misslingende Bezugnahme auf die Wirklichkeit wurde nicht so sehr an den Wahninhalten selbst, sondern vor allem an den Äußerungsmodi festgemacht: Insofern der Patient sein Re69 70 71 72

Iser 1994, 313. Vgl. Bachtin 1987, 357 ff. Vgl. Foucault 1973. Foucault 2001a.

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den und Schreiben nicht auf eine spezifische, strukturierte Weise organisierte, stiegen seine Äußerungen in den Rang eines Symptoms auf. Patienten, die fabulierten, stellten für die Psychiatrie um 1900 eine besondere Herausforderung dar. Sie wurden mit „krankhafte[n] Lügner[n] und Schwindler[n]“ verglichen, „welche so wenig im Stande sind, die Erfindungen ihrer geschäftigen Einbildungskraft zu unterdrücken, dass sie zu jedem zuverlässigen Berichte über ihre Vergangenheit unfähig werden“.73 Insbesondere stand das Fabulieren der Erfassung anamnestischer Angaben im Wege und bot eine Überfülle sprachlichen Materials, das zwar aufgezeichnet, aber kaum als eindeutiges Symptom einer spezifischen Krankheit gedeutet oder verstanden werden konnte: Die Akten der fabulierenden Patienten schwollen immer weiter an, ohne dass sich das Bild und der Verlauf der Erkrankung damit genauer fassen ließen. Im Fabulieren wurde schließlich ein Mechanismus entziffert, der keineswegs beliebig ablief, sondern einer gewissen Gesetzmäßigkeit folgte, die man mithilfe der Assoziationspsychologie und der Entwicklungspsychologie zu beschreiben versuchte.74 Die naturwissenschaftliche Psychiatrie verlor nach und nach ihr Interesse am Fabulieren. Sie versuchte – erfolglos –, die Fabulation von stärker strukturierten Erzählweisen abzugrenzen. Der Begriff der Fabulation diente schließlich nur mehr als Grundlage für den um 1900 gebildeten, psychiatrischen Begriff der Konfabulation, der bis heute die Auffüllung von Gedächtnislücken durch falsch erinnerte oder erfundene Begebenheiten bezeichnet.75 Die Psychiatrie vermochte die mit dem Fabulieren implizierten Phänomene und Probleme weder zu lösen noch in ihrer Dynamik zu beschreiben. So blieb unklar, welche psychischen Störungen im Fabulieren überhaupt ihren Ausdruck fanden, wie im Fabulieren die Bezugnahme auf das kulturelle Referenzsystem zu begreifen war und wie die Psychiatrie mit dem Fabulieren interferierte. Der Verdacht, den die Psychiater gegen das Fabulieren richteten, korrespondierte mit einer allgemeinen Geringschätzung, die dem Fabulieren entgegenschlug: Es sei ein assoziatives Erzählen, das sich von Prinzipien der chronologischen Ordnung, Kausalität und Kohärenz absetze; es erschöpfe sich im Kontrafaktischen und gebe allenfalls Aufschluss über das Imaginäre. Die Äußerungen seien insgesamt, als Ganzes, vom allgemeinen kulturellen Referenzsystem abgelöst und würden eine gelockerte Assoziation dokumentieren. Die narratologische Analyse des Fabulierens lenkt hingegen das Augenmerk auf die Strukturen der Variation und Wiederholung, der Serialisierung und Reihenbildung. Die Diegesen sind durch eine unabgeschlossene Serialität, einen „offene[n] Weltentwurf“ und nicht zuletzt

73 Kraepelin 1899. 74 Ebbinghaus (1885) 1992, Ziehen 1894, Rorschach 1921, Döblin (1905) 2006. 75 Zur Abgrenzung von Fabulation und Konfabulationen siehe Korsakow 1891, Pick 1905, Bumke 1928, Döblin (1905) 2006.

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durch eine „Koppelung heterogener Elemente“ gekennzeichnet.76 Während die Psychiatrie aus diesen Merkmalen insbesondere auf Gedächtnisstörungen oder kognitive Störungen schloss, kann die Literaturwissenschaft an diesen Strukturen ein Ensemble von rhetorischen Techniken, Erzählverfahren und literarischen Strategien ausmachen, die zuallererst eine Fortsetzung des Redens und Schreibens sicherstellen. Das Fabulieren tendiert zur Unabschließbarkeit. Allerdings sind seine Merkmale mit einer Analyse, die am Bewusstsein des Erzählers und der literarischen Figuren orientiert ist, nicht hinreichend zu fassen. Die personale Einheit der Äußerungsinstanz – wer spricht? – ist nur ein Anhaltspunkt, der zu ergänzen ist durch den Blick auf Medien und Formate, die eben keine neutralen Behältnisse wahnhafter Fabulationen waren. Vielmehr gilt, dass das psychiatrische Aufschreibesystem ‚mitfabulierte‘ und Sprechsituationen und Schreibszenen77 auf die Äußerungen der Patienten zurückwirkten.

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Kurzbiographien der AutorInnen

Die Autorinnen und Autoren haben in den letzten drei bzw. sechs Jahren gemeinsam in der DFG geförderten Forschungsgruppe „Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene einer urbanen Moderne, 1870–1930“ geforscht und gearbeitet. Thomas Beddies ist Professor für Geschichte der Medizin an der Charité Berlin und leitete das Teilprojekt zur „Revolution als „psychopathologische Fundgrube“. Sven Bergmann ist Kulturanthropologe und arbeitete im Zentralprojekt der Forschungsgruppe zur topografischen Perspektive des Wahnsinns in Berlin 1870-1930. Zurzeit forscht er am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen über die Problematisierung von Plastikmüll im Meer. Beate Binder ist Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitete im Teilprojekt „Affektive Männlichkeit und Gesellschaftskritik“ zum Verhältnis von Raum, Geschlecht und Sexualität sowie zur Schnittfläche von Großstadtwahrnehmung, Stadtforschung und künstlerischen Repräsentationen der Stadt. Cornelius Borck leitet das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und hat gemeinsam mit Armin Schäfer das Teilprojekt „Dokumente des Wahns: Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie“ geleitet. Gabriele Dietze ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Geschlechterstudien. Sie arbeitete im Projekt „Affektive Männlichkeit und Gesellschaftskritik“. Mit dem Projekt „Sexueller Exzeptionalismus“ war sie in der Europäischen Ethnologie der Humboldt Universität angesiedelt. Dorothea Dornhof ist Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Institut der HumboldtUniversität zu Berlin und forschte zu Orten des Okkulten (1. Förderphase) sowie zuletzt zu Schauplätzen der Spekulation (2. Förderphase). Sabine Fastert ist Privatdozentin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Künstlertum als paradigmatisches Schwellenphänomen“ an der Technischen Universität Berlin.

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Anne Gnausch ist Historikerin und promoviert zu Selbsttötungen in der Weimarer Republik. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité Berlin im Teilprojekt „Urbane Störungen in psychiatrischer Behandlung“. Judith Hahn ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité. Im Teilprojekt „Revolution als „psychopathologische Fundgrube“ untersuchte sie Psychopathologisierungen in politischen Kontexten. Volker Hess lehrt und forscht an der Charité Berlin zur Geschichte des Wahnsinns, medizinischen Praktiken und kulturellen Techniken. Er war von 2009–2016 Sprecher der Forschergruppe und leitete das Teilprojekt „Urbane Störungen in psychiatrischer Behandlung“. Johannes Kassar war seit Mitte September 2013 Mitarbeiter im Teilprojekt „Urbane Störungen in psychiatrischer Behandlung“. Seit März 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im ERC-Forschungsprojekt „Ways of writing. How Physicians know, 1550-1950“ am Institut für Geschichte der Medizin. Er promoviert mit einer Arbeit zum Epileptischen Dämmerzustand“ im Bereich der „Historischen Epistemologie” der Psychiatrie. Sophia Könemann promovierte im PhD-Netzwerk „Das Wissen der Literatur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin. Sonja Mählmann ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Dokumente des Wahns. Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie“. Armin Schäfer ist Professor für Neugermanistik an der Ruhr-Universität Bochum und hat gemeinsam mit Cornelius Bork das Teilprojekt Fabulieren und Querulieren in Literatur und Psychiatrie“ geleitet. Heinz-Peter Schmiedebach beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit der Geschichte der Psychiatrie. Bis zum September 2017 war er Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Von 2015 bis 2017 wirkte er zudem als Stiftungsgastprofessor für „Medical Humanities“ an der Charité Berlin. Er war von 2009– 2016 stellvertretender Sprecher der Forschergruppe

Abbildungsnachweis

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und leitete das Teilprojekt „Rausch – Sucht – Wahnsinn. Drogen-Wahn in Hamburg (1900– 1930)“. Stefan Wulf ist promovierter Historiker und hat die Teilprojekte „Wahn auf See und in den Kolonien“ (1. Förderphase) sowie „Rausch – Sucht – Wahnsinn“ (2. Förderphase) am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bearbeitet.

Abbildungsnachweis

Dornhof Abb. 1– 4: Archiv der Berliner Börse Gnausch/Hess Abb. 1: eigene Abbildung Abb. 2: Olpe, Martin: Selbstmord und Seelsorge, Halle an der Saale, 1913, 64 Wulf/Schmiedebach Abb. 1: Historische Ansichtskarte St. Pauli-Landungsbrücken. Verlag Hans Andres, Hamburg (Privates Archiv Dr. Stefan Wulf, Berlin) Abb. 2: Jürgens, Ludwig: Sankt Pauli. Bilder aus einer fröhlichen Welt. Hamburg (Köhler) 1930, 32–33 Abb. 3: Stadtteilplan, eigene Abbildung Mählmann/Bork Abb. 1: HPUL, Akte C.F., 1. Aufnahme 22.7.1899, 2. Aufnahme 7.11.1908, 3. Aufnahme 8.11.1911 Fastert Abb. 1: Jung, Carl Gustav: Mandala. Bilder aus dem Unbewussten. Olten 1977, 42 Abb. 2: Jung, Carl Gustav: Mandala. Bilder aus dem Unbewussten. Olten 1977, 41 Abb. 3: Shamdasani, Sonu: Liber Novus. Das „Rote Buch“ von C.G. Jung. In: Carl Gustav Jung: Das Rote Buch. Liber novus. Düsseldorf 2009, 364 Abb. 4: Adolf-Wölfli-Stiftung (Hg.): Adolf Wölfli. Zeichnungen 1904–1906. Stuttgart 1987, 33 Abb. 5: Müller-Westermann, Iris und Jo Widoff (Hg.): Hilma af Klint. Eine Pionierin der Abstraktion. Stockholm 2013, 81 Abb. 6: Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Berlin 1922, Frontispiz Könemann/Schäfer Abb. 1: HPAC, 1907/727-M

Siglenverzeichnis

ADE CA BArch GStA PK HKbA Hamburg

HPAC HPUL LAB StAHH UAHUB UAHUB, CD

Archiv für Diakonie und Entwicklung, Centralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche Bundesarchiv Berlin Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Historisches Krankenblatt-Archiv des Hamburger Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum HamburgEppendorf: Patientenakten der Irrenanstalt, später Staatskrankenanstalt Friedrichsberg Historisches Psychiatriearchiv der Charité Historisches Archiv der Klinik für Psychiatrie, Universität zu Lübeck Landesarchiv Berlin Staatsarchiv Hamburg Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Akten der Charité-Direktion 1725–1945