Vorgaben föderaler Ordnungen für das Ausmaß und die Grenzen finanzieller Solidarität in der Europäischen Union [1 ed.] 9783428541997, 9783428141999

Inmitten der Finanzkrise herrscht in der Europäischen Union Unsicherheit über die politische und rechtliche Bewältigung

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German Pages 339 Year 2014

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Vorgaben föderaler Ordnungen für das Ausmaß und die Grenzen finanzieller Solidarität in der Europäischen Union [1 ed.]
 9783428541997, 9783428141999

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Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Band 59

Vorgaben föderaler Ordnungen für das Ausmaß und die Grenzen finanzieller Solidarität in der Europäischen Union Von

Andreas Keller

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS KELLER

Vorgaben föderaler Ordnungen für das Ausmaß und die Grenzen finanzieller Solidarität in der Europäischen Union

Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Begründet von Professor Dr. Wolfgang Blomeyer † und Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider

Band 59

Vorgaben föderaler Ordnungen für das Ausmaß und die Grenzen finanzieller Solidarität in der Europäischen Union

Von

Andreas Keller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 978-3-428-14199-9 (Print) ISBN 978-3-428-54199-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84199-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 2012 fertiggestellt und im Frühjahrstrimester 2013 als Dissertation an der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaften – angenommen. Die mündliche Prüfung erfolge am 8. Mai 2013. Besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer für seinen Rat und seine Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit. Prof. Dr. Hermann Pünder, LL.M. (Iowa), gilt mein herzlicher Dank für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz besonders danke ich auch der FAZIT-Stiftung für ihren großzügigen Zuschuss zu den Druckkosten dieser Arbeit. Für die Veröffentlichung konnte die Rechtsentwicklung in den einzelnen Ländern und die Rechtsprechung weitestgehend bis zum Sommer 2013 berücksichtigt werden. Hamburg, im September 2013

Andreas Keller

Inhaltsverzeichnis Einleitung  19 A. Die „Finanzkrise“ als Krise d ­ er Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Das Scheitern institutioneller Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Herausforderungen europäischer Finanzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Fiscal federalism als Grundlage der Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Dezentralisierungstheorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Die Rolle der Finanzverfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 II. Die Europäische Union als Föderaler Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Unionssolidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Föderale Ordnungen als Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 V. Die Länderstudien im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 VI. Ziel des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Kapitel

Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

35

A. Solidarität als Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I. Der Ursprung als obligatio plurium in solidum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Vereinnahmung und Prägung durch die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 III. Die französische Revolution als Wendepunkt für einen säkularisierten Solidarbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Die Frühsozialisten: Solidarité versus Fraternité . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Nach der Revolution: Überführung des überkommenen Begriffs Fraternité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 IV. Justitiable Solidarität: Die Lehre von den Quasi-Kontrakten . . . . . . . . . 40 B. Solidarische Implikationen der Finanzverfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Distribution  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Redistributive Finanztransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Solidarischer Beistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

8 Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel

Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen 45

A. Föderalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Wirtschaftspolitischer Zusammenhang des Bundeshaushalts und der Länderhaushalte: Das „kooperative“ Finanzgefüge des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Länderfinanzausgleich zwischen gerechter Kostenverteilung und Homogenitätsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Normative Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Ablauf des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 c) Ausgleichsberechnung im horizontalen Finanzausgleich . . . . . . . . 52 d) Bundesergänzungszuweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. Verfassungsrechtsprechung zu Haushaltsnotlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Der Fall Bremen und Saarland – BVerfGE 86, 148 . . . . . . . . . . . 55 (1) Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage . . . . . . . . . . . . . . . 56 (2) Bundesstaatliche Pflichten in extremen Haushaltsnotlagen . . . 56 (3) Maßnahmen zur Beseitigung von Haushaltsnotlagen . . . . . . . 57 b) Der Fall Berlin – BVerfGE 116, 327 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 (1) Das Spannungsverhältnis von Bundesergänzungszuweisungen und Haushaltsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (2) Der bundesstaatliche Notstand und die Subsidiarität von Sanierungshilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (3) Sanierungshilfe für Berlin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5. Exkurs: Solidarische Krisenprävention mittels Schuldenbremsen . . . . 62 6. Fazit zum deutschen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Doppelte Steuerkompetenz und Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . 67 b) Folgen des Steuerwettbewerbs: „Race to the bottom“? . . . . . . . . . 68 2. Finanzielle Ausgleichsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Grants-in-aid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 (1) Sozialstaatsbindung der Grant-Vergabe unter der General Welfare Clause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 (2) Bundesstaatliche Politiksteuerung durch bedingte Zuwendungen (conditional grants) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Redistributive Elemente der Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (1) Verteilungswirkung der grants. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (2) Verteilungswirkung des Steuersystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Der bundesstaatliche Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Inhaltsverzeichnis9 a) Keine Einstandspflicht der Bundesebene im Krisenfall . . . . . . . . . 85 b) Anleiheschulden der Bundesstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Fazit zum amerikanischen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 III. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Zentralisierung der Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Der Finanzausgleich als Motor der kantonalen Teilautonomie . . . . . . 90 a) Ressourcenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Lastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 c) Bundesfinanzhilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Korrektive der subnationalen Eigenständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Fiskalische Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Interkantonale Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5. Fazit zum Schweizer Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 IV. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Dominante Stellung des Bundesgesetzgebers im Ausgleichssystem der Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Solidarische Fiskalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Notlagentransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Haushaltspolitische Beschränkungen durch den Solidarpakt . . . . . 102 c) Wechselseitige Rücksichtnahme im Rahmen des Konsultations­ mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Fazit zum österreichischen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Steuerverteilung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Ergänzungsfinanzierung durch den Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Fazit zum belgischen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 B. Regionalistische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Föderalistische Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Die Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . 118 a) Steuerverbund und Steuerwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Das Fondswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Finanzielle Solidarität in der Regionalautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Fazit zum spanischen Regionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 II. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Föderalistische Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Die Reform von 2001 – Föderalisierung des Zentralstaats . . . . . . . . . 130 3. Dezentralisation der Finanzausstattung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Neue Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

10 Inhaltsverzeichnis b) Normative Standardausstattung im Bereich der Daseinsvorsorge . 132 4. Wechselseitige Solidarpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5. Fazit zum italienischen Regionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Das Vereinigte Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Föderalistische Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Föderalcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Die Finanzarchitektur der devolvierten Gebietskörperschaften . . . . . . 144 4. Solidarität im Devolutionsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5. Fazit zur devolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 C. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Kapitel

Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

150

A. Solidarische Einnahmenallokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Das Eigenmittelsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Rechtsnatur der Eigenmittelbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Die Eigenmittelarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Traditionelle Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Mehrwertsteuer-Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (1) Berechnungsmodalitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (2) Justiziabilität der Mehrwertsteuer-Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . 157 c) BNE-Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Beitragscharakter der BNE-Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 d) Sonstige Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Korrekturmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Korrekturmechanismus zugunsten des Vereinigten Königreichs . . . 161 b) Annexrabatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Föderale Implikationen des Eigenmittelsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5. Reformbedarf des Eigenmittelsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Anforderungen an Finanzierungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Leistungskraftorientierung des BNE-Eigenmittels . . . . . . . . . . . . . 165 (1) Redistributive Pro-Kopf-Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (2) Überproportionale Pro-Kopf-Belastung schwächerer ­Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (3) Der „Juste retour“-Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Ökonomische Obsoleszenz des VK-Korrekturmechanismus . . . . . 168 d) Fehlorientierung der VK-Korrektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 e) Belastungsdifferenzen im gesamten Eigenmittelsystem . . . . . . . . . 170 6. Eigener Reformansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis11 a) Mögliche Ausgestaltungen eines neuen Korrekturmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (1) Flexibilisierung des Globalausgleichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (2) Angepasste BNE-Eigenmittel-Anteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (3) Variante: Leichte Progression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (4) Alternative: Sachbereichsorientierte Korrektur . . . . . . . . . . . . 177 b) Überwachungsfunktion der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Solidarität durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 II. Kreditaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Verschuldungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Verschuldungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 III. EU-Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Abgabenhoheit der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Forderungen nach Steuererfindungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Demokratietheoretische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Negative Folgen einer gemeinschaftlichen Steuerkompetenz . . . . 183 d) Neue Rechtsgrundlage Art. 311 Abs. 3 S. 2 AEUV? . . . . . . . . . . . 184 e) Folge: Keine Kompetenz de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Vorschläge der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) MwSt.-Eigenmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) EU-Finanztransaktionssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 B. Redistribution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Direkte Umverteilung durch das Fondswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Finanzausgleichscharakter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 b) Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Strukturfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Thematische Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (1) „Konvergenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 (2) „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ . . . . . . 195 (3) „Europäische interterritoriale Zusammenarbeit“ . . . . . . . . . . . 195 b) Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Mittelzuteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (1) Verteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (2) Programmansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (3) Anteilsberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (4) Obergrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (5) Berücksichtigung besonderer Bedürfnisfaktoren . . . . . . . . . . . . 199 d) Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die ­Landwirtschaft – Abteilung Ausrichtung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 e) Europäischer Fonds für die regionale Entwicklung . . . . . . . . . . . . 201

12 Inhaltsverzeichnis f) Europäischer Sozialfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Kohäsionsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Zielbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Konditionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 c) Empfängerkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Effektivität des Fondswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 II. Indirekte Umverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Rückflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Gemeinsame Agrarpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 C. Beistand in Notfalllagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 I. Art. 122 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Naturkatastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) „Außergewöhnliche Ereignisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 c) Betroffensein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Beistandsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Obligatorische Auflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Der sog. Rettungsschirm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) EFSM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) EFSF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) ESM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 (1) Ausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 (2) Finanzhilfeleistung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (a) Arten der Finanzhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (b) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (c) Auflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (3) Verhältnis zu EFSM und EFSF  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 II. Zahlungsbilanzhilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Zahlungsbilanzschwierigkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Beihilfemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands . . . . . . . . . . . . 229 4. Notfallmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 III. Strukturfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. Der Solidaritätsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 V. Grenzen finanzieller Beihilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Die unvollendete WWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Grundkonfiguration der WWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Die Moral-hazard-Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 c) Leistungsbilanzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Funktion der Art. 123–125 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Inhaltsverzeichnis13 3. Verletzung von Art. 123, 124 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4. Das „Bailout-Verbot“ nach Art. 125 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Verbot der Haftungsübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Verhältnis zu Art. 122 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 c) Ingerenzerwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (1) Widerstand gegen die WWU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 (2) Aufnahme in die WWU  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (3) Ökonomische Folgen der EU-Osterweiterung . . . . . . . . . . . . . . 244 d) Beurteilung des Handlungsspielraums unter Art. 125 AEUV . . . . 246 (1) Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (2) ESM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (3) Unerheblichkeit der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 (4) Anforderungen des Art. 125 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 (5) Schuldentilgungspakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 D. „Economic Governance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. „Six-Pack“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Haushaltspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Makroökonomische Ungleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 3. Durchsetzungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Sanktionen im Rahmen des Defizitverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b) Sanktionen bei makroökonomischen Ungleichgewichten . . . . . . . . 259 4. Unsichere Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 II. Der neue Fiskalpakt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1. Schuldenbremse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Schuldenstandskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3. Umkehrung der qualifizierten Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 III. Europäisches Semester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 IV. Euro-Plus-Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 V. Konsolidierungsfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Kapitel

Strukturvergleich föderaler Finanzverfassungen mit der Finanzverfassung der Europäischen Union 267

A. Der Referenzrahmen der föderalen und quasiföderalen Ordnungen  . . . 267 I. Strukturprinzipien föderaler Finanzsolidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Konvergente Leistungsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Grundversorgung und Grundausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a) Rolle der Zentralebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 b) Homogenitätskorridor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. „Bundestreue“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 II. Mechanismen der Finanzausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

14 Inhaltsverzeichnis 1. Bedarfsorientierte Verteilungsschlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 2. Leistungskraft als Ausgleichsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Steuerwettbewerb und Steuerverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 III. Präventive Solidarpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Verschuldung der Regionen und Defizitgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2. Konsolidierungsanstrengungen zugunsten des Bundesbudgets . . . . . . 278 IV. Notlagentransfers und Beistandsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Der deutsche Sonderweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Anderweitige Behelfsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 B. Der solidarische Finanzrahmen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . 283 I. Prinzipien der gemeinschaftlichen Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Leistungskraftorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3. Subsidiarität der Struktur- und Kohäsionsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4. Angleichung und Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 II. Europäischer Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Finanzausgleichscharakter des Eigenmittelsystems . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Redistributive Kohäsionspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) (Um-)Verteilungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 b) Gebundene versus ungebundene Finanztransfers . . . . . . . . . . . . . . 290 III. Föderalistische Beistandsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Bedingt normative Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Offenheit föderaler Beistandsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3. Einschränkungen europäischer Notstandssolidarität . . . . . . . . . . . . . . . 295 4. Europäische Krisenbewältigungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Schlussfolgerungen  298 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Anteilige Pro-Kopf-Belastung BNE-Eigenmittel. . . . . . . . . . . . . . 166 Abbildung 2: Pro-Kopf-Anteil Eigenmittel-Beiträge der MS mit überdurchschnittlichen BNE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Abbildung 3: Pro-Kopf-Anteil Eigenmittel-Beiträge der MS mit unterdurchschnittlichen BNE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Tabelle 1:

Berechnung der BNE-Anteile (eigener Reformvorschlag) . . . . . . 174

Tabelle 2:

Reformentwurf „leichte Progression“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Tabelle 3:

Anteilige Pro-Kopf-Belastung BNE-Eigenmittel. . . . . . . . . . . . . . 302

Tabelle 4:

Pro-Kopf-Anteil Eigenmittel-Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Tabelle 5:

Reformmodell BNE-Eigenmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Tabelle 6:

Reformentwurf „leichte Progression“ vollständig . . . . . . . . . . . . . 306

Abkürzungsverzeichnis ACIR

Advisory Commission on intergovernmental Relations

a. E.

am Ende

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Am J. Int’l L.

American Journal of International Law

Ariz. L. Rev.

Arizona Law Review

AS

Amtliche Sammlung des Bundesrechts der Schweiz

BBl.

Bundesblatt (Schweizer Amtsblatt)

Belg. FSG

Belgisches Sondergesetz vom 16. Januar 1989 bezüglich der Finanzierung der Gemeinschaften und Regionen (Belgisches Finanz-Sondergesetz) – Loi spéciale de 16 janvier 1989 por­ tant refinancement des communautés et extension des compéten­ ces fiscales des région, M.B. vom 03.08.2001, S. 26646

BOE

Boletín Oficial de Estado (Spanisches Amtsblatt)

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 1. Januar 2011)

B-VG

Österreichisches Bundesverfassungsgesetz

Cal. L. Rev.

California Law Review

CB

Constitution Belge, Die koordinierte Verfassung Belgiens vom 17. Februar 1994, zuletzt geändert am 22. Dezember 2008

CE

Constitución Española, Spanische Verfassung vom 31. Oktober 1978, erstmals veröffentlicht im Boletín Oficial de Estado Nr. 311.1 vom 29. Dezember 1978

Clrgh. Rev.

Clearinghouse Review

CMLR

Common Market Law Review

Const. Comm.

Constitutional Commentary

Const. Rev.

Constitutional Review

Corn. Int’l L.J.

Cornell International Law Journal

CRI

La Costituzione della Repubblica Italiana, italienische Verfassung vom 22.12.1947, erstmals veröffentlicht in der Gazzetta Uffiziale Nr. 298 vom 27.12.1947, neue Fassung durch Verfassungsgesetz 3 / 2001, Gazzetta Uffiziale Nr. 248 vom 24.10. 2001

EGKSV

Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951

Abkürzungsverzeichnis17 Emory L.J.

Emory Law Journal

Eur. Pub. L.

European Public Law

FA Finanzarchiv FAG

Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz)

Finanz-VG

Österreichisches Finanzverfassungsgesetz

FS Festschrift Hans. GBl.

Hanseatische Geschichtsblätter

Hastings Const. L.Q. Hastings Constitutional Law Quarterly HdBdSR

Handbuch des Staatsrechts

HdWW

Handbuch der Wirtschaftswissenschaften

HMSO

Her Majesty’s Stationery Office, Amtsblatt des Vereinigten Königreichs

HWdbSW

Handwörterbuch der Sozialwissenschaften

itVerfG

Corte Costituzionale – italienisches Verfassungsgericht

JBl

Juristische Blätter

J. I. B. L. R.

Journal of International Banking Law and Regulation

J. Legis.

Journal of Legislation

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart – Neue Folge

L. & Con. Pr.

Law & Contemporary Problems

Loy. L. A. L. Rev. Loyola of Los Angeles Law Review MaßstG

Gesetz über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (Maßstäbegesetz)

M.B.

Le Moniteur belge (Belgisches Gesetzesblatt)

NFA I

Schweizer Bundesrat, Botschaft zur Neugestaltung des Finanz­ ausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 14. November 2001, BBl. 2001, S. 2291 (2369).

NFA II

Schweizer Bundesrat, Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über den Finanz- und Lastenausgleich und zur Festlegung des Ressourcen- und Lastenausgleichs zwischen Bund und Kantonen für die Beitragsperiode 2012–2015 vom 24.11. 2010, BBl. 2010, S. 8615

Ö-BGBl.

Österreichisches Bundesgesetzblatt

Ö-FAG

Österreichisches Finanzausgleichsgesetz

ÖJZ

Österreichische Juristenzeitung

Pub. Cont. L. J.

Public Contract Law Journal

18 Abkürzungsverzeichnis SFG

Gesetz zur Fortführung des Solidarpaktes, zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Abwicklung des Fonds „Deutsche Einheit“ (Solidarpaktfortführungsgesetz)

StabiRatG

Gesetz zur Errichtung eines Stabilitätsrates und zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Stabilitätsratsgesetz)

Stan. J. Int’l L.

Stanford Journal of International Law

Touro Int’l L. Rev. Touro International Law Review U.C. Davis L. Rev. University of California, Davis Law Review Urb. Law.

The Urban Lawyer

US-Const. Comm. Congressional Research Service, The Constitution of the ­United States of America – Analyses and Interpretation, U.S. Government Printing Office, Washington 2004–2008, offizielle Kommentierung der US-amerikanischen Verfassung VfSlg.

Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes Österreichs, Neue Folge (1921–1933, 1946 ff.)

VGH

Österreichischer Verfassungsgerichtshof

VVdStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechts­ lehrer

W. Eur. Pol.

West European Politics

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZBl

Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht

ZEuS

Zeitschrift für europarechtliche Studien

ZfZ

Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern

Einleitung „L’Europe se fera par la monnaie ou ne se fera pas.“ 

(Jacques Rueff)

A. Die „Finanzkrise“ als Krise d ­ er Europäischen Union Die gegenwärtige und nunmehr seit 2007 anhaltende wirtschaftliche Lage als „globale Rezession“1 zu beschreiben, wird den Entwicklungen gerecht, welche die im Ursprung regionale Krise des US-amerikanischen Hypothekenmarktes genommen hat.2 Die gemeinhin als „Finanzkrise“ wahrgenommene Bedrohung der gesamten Wirtschaft der industrialisierten Länder hat zwar hauptsächlich im Banken- und Finanzsektor gleichsam öffentlichkeitswirksame wie konzertierte Aktionen staatlicher Akteure nach sich gezogen.3 Allerdings sind die Krisenwirkungen selbst für weite Teile der mittelständischen Wirtschaft in Form von Kreditklemmen4 spürbar geworden und haben bisweilen ganze Staaten an den Abgrund der Überschuldung geführt. Vor allem Länder mit fragilen Haushaltsplänen, deren Balance von optimalem Wirtschaftswachstum abhängt, sind durch das Ausbleiben eines solchen Wachstums in Bedrängnis geraten. Auch innerhalb der Europäischen Union hat die Finanzkrise verheerende Spuren hinterlassen. Notorisch ist der Fall Griechenlands, das seit dem Jahr 2008 und auch nach zahlreichen Finanzspritzen mit einer Verschuldungsquote von 157,7 % des jährlichen Brutto­ 1  IWF, World Economic Outlook, April 2008, abrufbar unter: http://www.imf.org /  external / pubs / ft / weo / 2008 / 01 / index.htm. 2  Die Ursachen der Finanzkrise sind weitestgehend erforscht. Streit besteht nach wie vor in der Frage des Zusammenwirkens der verschiedenen Faktoren und Katalysatoren, vgl. die Darstellung bei Merrouche / Nier, IMF Working Paper 10 / 265, S. 4 (m. w. Nachw.). 3  Die Einrichtung des Financial Stability Board und die Etablierung der G-20 als international zuständiges Forum für wirtschaftliche Fragen sind nur zwei Beispiele, vgl. Erklärung der G-8-Staaten zum Gipfel in Pittsburgh, abrufbar unter: http://www. pittsburghsummit.gov / mediacenter / 129639.htm. 4  Vgl. „Führt die Häusermarktkrise zur Kreditklemme?“, in F.A.Z. vom 21. Februar 2007; „Euro-Zone steuert auf Kreditklemme zu“, in: Handelsblatt vom 30. Dezember 2008.

20 Einleitung

inlandsprodukts in 2011 nahe am Staatsbankrott agiert.5 Auch in anderen Mitgliedstaaten allerdings sind bedenkliche Schuldenstände erreicht worden. Italien (120,1 %), Portugal (107,8 %) und Belgien (98 %) sind nur einige der akuten Fälle.6 Trotz der Fokussierung der öffentlichen Meinung auf die hohen Schuldenstände der Mitgliedstaaten bedarf die vorliegende Untersuchung eines weiter greifenden Blicks. Das Problem drohender Überschuldung wird bereits vielseitig wissenschaftlich unter dem thematischen Schwerpunkt der Staateninsolvenz7 und des vom IWF vorgeschlagenen Restrukturierungsmechanismus8 beleuchtet. Die Krise der Union ist dagegen vor allem eine Krise wirtschaftlicher Diskrepanz. Die in der Union nach den verschiedenen Erweiterungsrunden – zehn neue Mitglieder im Jahr 2004 und zwei neue im Jahr 2007, zuletzt ist 2013 auch Kroatien beigetreten – allmählich gewachsenen oder verfestigten Wirtschaftskraftunterschiede werden in der Krisenterminologie nur unzureichend wiedergegeben. Angesichts des grundsätzlich stabilen Kurses des Euro im Verhältnis zum USDollar konnte zunächst von einer „Euro-Krise“ nicht die Rede sein.9 Tatsächlich handelt es sich im Grunde um eine „Europäische Wirtschaftskrise“, bei der strukturelle Entwicklungsunterschiede und teilweise horrende Leistungsbilanzunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle spielen.10 I. Das Scheitern institutioneller Lösungen Vor der Finanz- und Wirtschaftskrise schien das Instrumentarium zumindest in der Eurozone für dauerhafte Stabilität zu sorgen. Das Defizitverfah5  Nach dem Regierungsantritt der neugewählten Papandreou-Administration hatten griechische Stellen am 21. Oktober 2009 an Eurostat korrigierte Daten für das Verfahren bei einem übermäßigem Defizit (VÜD, nach Art. 126 AEUV i. V. m. dem Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit) geschickt, die Angaben über das öffentliche Defizit und den Schuldenstand im Zeitraum 2005– 2008 sowie eine Prognose für 2009 enthielten. Das öffentliche Defizit Griechenlands für das Jahr 2008 wurde von 5 % des BIP auf 7,7 % des BIP erhöht. Für das Jahr 2009 erhöhte Griechenland die ursprünglichen Schätzungen von 3,7 % des BIP sogar auf 12,7 % des BIP. 6  Alle Angaben EU-Kommission, Public Finances in EMU 2012, S. 40. 7  Statt vieler Paulus, ZIP 2002, 383. 8  Krueger, A New Approach To Sovereign Debt Restructuring, IWF 2002. 9  Langfristig ist der Wechselkurs zum Dollar innerhalb einer Bandbreite von 0,90 US-Dollar und 1,50 US-Dollar stabil geblieben. 10  Vgl. Horn / Joebges / Zwiener, Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise (II), IMK Report Nr. 40, August 2009; Horn / Sturn / van  Treeck, in: Wirtschaftsdienst 2010, 22; siehe auch Empfehlungen in IWF, World Economic Outlook, Oktober 2009, Kapitel 1, S. 32 f.



A. Die „Finanzkrise“ als Krise d ­ er Europäischen Union21

ren nach Art. 126 AEUV i. V. m. dem Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit sollte eine solide Haushaltsführung in der Union absichern. Dieser Überwachungsföderalismus in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik hat mit der gegenwärtigen Krise seine Grenze erreicht. Nicht nur konnte das Defizitverfahren keine exzessive Schuldenpolitik der Eurostaaten Griechenland, Italien und Belgien verhindern.11 Auch zeigt sich, dass die Unionsorgane bisher über keine Handhabe verfügen, wenn Eruptionen an den Finanzmärkten und Verschuldungskrisen in einzelnen Mitgliedstaaten die gesamte EU bedrohen. Die Behelfsmaßnahmen der Mitglieder der Eurozone in der Griechenlandkrise zum Beispiel haben sich exklusiv darauf konzentriert, Geldmittel für die Schuldenfinanzierung zur Verfügung zu stellen. Die dabei gemachten Auflagen zur Haushaltssanierung sind lediglich Beiwerk makroökonomischer Leitvorstellungen und zeugen gerade nicht von einem kohärenten Gesamtkonzept geschweige denn einer gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik. Dafür fehlt der EU und den Gremien der Eurozone allzumal die legislative Kompetenz. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen sieht keine gemeinschaftliche Erfassung der Wirtschaftspolitik vor. So aber muss jeder Lösungsansatz in ökonomischen Krisen Stückwerk bleiben. Demgemäß drängt sich bei den gesamten Maßnahmen innerhalb der EU, sei es die Installation des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM),12 sei es die Diskussion um gemeinsame Anleihebegebung durch so genannte „Eurobonds“13, ein improvisatorischer Charakter auf. Die Maßnahmen wirken stets mit Blick auf die kurzfristige Anleihebewertung internationaler Ratingagenturen und Finanzmärkte gestaltet, statt den langfristigen Blick auf den Erhalt und die Förderung des Unionsprojekts zu werfen.14

11  Im ersten Quartal 2012 stieg der Schuldenstand Griechenlands auf 132,4 % des BIP, Italiens auf 123,3 % und Belgiens auf 101,8 %, alle Angaben Eurostat, Pressemitteilung vom 23. Juli 2012, abrufbar unter: http://epp.eurostat.ec.europa.eu / cache /  ITY_PUBLIC / 2-23072012-AP / DE / 2-23072012-AP-DE.PDF. 12  Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), T  /  ESM / de, abrufbar unter: http://www.european-council.europa.eu / media / 582866 / 02tesm2.de12.pdf. 13  Vgl. dazu Kommission, Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen, KOM(2011) 818 endgültig, S. 14 ff.; Claessens / Mody / Vallée, Paths to Eurobonds, IMF Working Paper 12 / 172. 14  So der Vorwurf des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann: „Diese Regierung hechelt den Ereignissen auf den Finanzmärkten weiterhin hinterher“, in: Rheinische Post vom 17. August 2011.

22 Einleitung

II. Herausforderungen europäischer Finanzpolitik Die Irrfahrten der Rettungsszenarien in der gegenwärtigen Krise Griechenlands haben zwei Erkenntnisse eingebracht: Zunächst steht fest, dass Krisen politisch gelöst werden, unabhängig von, mitunter sogar im Widerspruch zu geltendem Recht.15 Die Bewältigungsabläufe in der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union haben gezeigt, dass die mitgliedstaat­ lichen Akteure ihre Rolle in der Union nicht allein von den Entwicklungszyklen der Vertragsgenerierung und -regeneration in oft langwelligen Perioden abhängig machen, sondern sich als aktive Gestaltungsträger der Union verstehen und danach handeln.16 Ein rasches und entschiedenes politisches Eingreifen ist oftmals die einzige Chance im akuten Krisenfall. Wo die Europäischen Verträge Flexibilität vermissen lassen, sind daher die „Herren der Verträge“ gefragt, zu handeln. Das trifft umso mehr zu, bedenkt man die zweite Erkenntnis, dass ein wirtschaftlicher Einbruch im Europäischen Währungsraum wie auch in der gesamten Union von lediglich 3,5 % – das entspricht der anteiligen Wirtschaftsleistung Griechenlands in der Union – die übrigen Mitgliedstaaten dergestalt berührt, dass rein nationale Lösungen keinen genügenden Ausgleich schaffen können.17 Es ist kein besonderes Merkmal der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, dass allenthalben nach der Solidarität der Union gefragt wird. Einerseits suchten notleidende Mitgliedstaaten unter Berufung auf den solidarischen Charakter der Union nach finanzieller Unterstützung für ihre Sanierungsvorhaben.18 Auf der anderen Seite dient Solidarität (mit den übrigen Mitgliedstaaten) den Skeptikern als Ausgangspunkt für ihre kategorische Ablehnung solcher 15  Vgl. insofern Jeck / Roosebeke, Rechtsbruch durch Bail-out-Darlehen, cepAnalyse des Centrum für Europäische Politik vom 19. April 2010, abrufbar unter: http:// www.cep.eu / fileadmin / user_upload / Weitere_Themen / CEP_Analyse_Rechtsbruch_ durch_Bail-out.pdf. 16  Habermas, ZaöRV 2012, 1 (28) spricht hier von teilweise „innovativen Verfas­ sungsnormen, die auf der supranationalen Ebene Recht und Politik verkoppeln [und] in vielen Fällen eine konstruktiv vorausgreifende, impulsgebende Wirkung haben, in­ dem sie Lern- und Anpassungsprozesse anstoßen.“ 17  Verfolgte z. B. die Bundesrepublik rein nationale Interessen, müsste sie ihre Banken, die Kredite Griechenlands in Höhe von ca. 130 Mrd. Euro halten, stützen, indem sie analog dem Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) einen Ausgleich schaffen würde mittels Garantien und Abkauf der Schuldtitel zu einem bereinigten Buchwert. Der damit einhergehende Vertrauensverlust an den internationalen Finanzmärkten – da Deutschland das größte Land in der EU ist, trüge seine Entscheidung gegen ein Vertrauen in den griechischen Schuldendienst großes Gewicht – hätte kataklysmische Auswirkungen auf Griechenland bis hin zur möglichen Staatspleite. 18  Siehe zuletzt: „Madrid fordert mehr Solidarität von Deutschland“ in Welt vom 28. Juli 2012.



A. Die „Finanzkrise“ als Krise d ­ er Europäischen Union23

Finanzhilfen.19 Die beiden Extrempositionen eint das Verständnis von Solidarität als einer Verpflichtung zum Beistand. Sie trennt indes die Vorstellung des Beistandsempfängers. Es kann solidarisch sein, einem notleidenden Mitgliedstaat der Europäischen Union zu helfen. Ebenso könnte es als solidarisch gelten, wenn den übrigen Mitgliedstaaten, die sich an ihre Haushaltsverpflichtungen gehalten haben, kein zusätzliches Finanzopfer auferlegt wird. Die Schonung der anderen Mitgliedstaaten ließe sich zuspitzen zu einem Austritt oder Ausschluss Griechenlands aus dem Euroraum oder der Europäischen Union.20 Im Vorfeld ließe sich gar die Frage stellen, ob ein Mitgliedstaat, der offensiv Staatsbilanzen fälscht oder Bilanzposten derart umdeklariert, dass wesentlichen Berichtspflichten nicht oder nur mit fälschlichen Angaben nachgekommen wird,21 sich der Solidargemeinschaft vielleicht entzogen habe und seine Ansprüche gegen sie verliere. Letztlich kumulieren die aufkeimenden Fragen zur europäischen Finanzsolidarität auch in der Frage, „ob und inwieweit die Europäische Union als eigener Träger von Gemeinwohlverantwortung erfahren und erlebt werden kann.“22 In der Diskussion der europäischen Krise ist dabei den Politikwissenschaften und den Finanzwissenschaften bisher die Deutungshoheit überlassen worden.23 Aufgrund der komplexen finanzpolitischen Implikationen und der besonderen Tragweite der gegenwärtigen Krisenbewältigung für die zukünftige Gestalt des europäischen Unionsprojekts ist das verständlich. Allerdings bedarf die Lage auch der juristischen Hege. Dabei gilt es, den Rahmen freizulegen, den das solidarische Band der EU um die Krisenländer spannt. Hier ist das Recht gefragt, den Korridor politischer Handlungsspielräume zu definieren.24 Dabei muss die Unsicherheit der gegenwärtigen 19  So etwa der slowakische Parlamentspräsident Sulík im F.A.Z.-Interview vom 2. Oktober 2011: „Es ist eine perverse Solidarität, über die wir hier sprechen. Das ist der Weg zum Sozialismus: Am Ende werden alle gleich schlecht dran sein, auch die Slowakei.“ 20  Vgl. die entsprechenden Vorstöße von Meyer in der F.A.Z. vom 10. Februar 2010: „Ein Austritt wäre langfristig besser“; Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle, ZEI Working Paper 01 / 2010, S. 24 f. 21  Für Griechenland so festgestellt von der Kommission im Bericht zu den Statistiken Griechenlands über das öffentliche Defizit und den öffentlichen Schuldenstand, abrufbar unter: http://epp.eurostat.ec.europa.eu. 22  Böckenförde, in: Vogt / Sokol / Ociepka / Pollack / Mikolajczyk (Hrsg.), Bedingungen europäischer Solidarität, S. 17 (29). 23  Ruffert, CMLR 48 (2011), S. 1777 (1804 f.) begründet das mit der grundsätzlichen Natur der aufgeworfenen Fragen, welche nicht allein rechtlicher Natur sind, ruft die Juristen aber dennoch dazu auf, die derzeitigen Entwicklungen mit „unbequemen Wahrheiten“ zu begleiten. 24  Schorkopf, AöR 136 (2011), S. 323 (326) sieht darin die Hauptfunktion des Rechts.

24 Einleitung

Lage der Europäischen Union „die Bereitschaft der Juristen zu einem alter­ nativenreichen und geradezu experimentellen Umgang mit institutionellen Arrangements, Entscheidungszuständigkeiten und der Organisation von Ent­ scheidungsprozessen wecken“.25 Von Bedeutung ist dabei nicht nur der normative Ist-Zustand sondern gegebenenfalls auch der Abgleich mit dem europarechtlichen Ideal einer „solidarité de fait“26. Die Beschränkungen der ökonomischen Bewertung der gegenwärtigen Krise zeigen sich schon in der Versteifung auf die moral hazard-Problematik.27 Ohne normative Einordnung wird der Vermeidung von Anreizmomenten für eine exzessive Ausgabenpolitik ein sakrosankter Eigenwert als notwendige Bedingung nationalstaatlicher Souveränität beigemessen. Dabei gerät aus dem Blick, ob der Anreizgefahr nicht durch gemeinschaftliche Regelungen im Hinblick auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu begegnen sei, sondern vielmehr durch eine Revision der normativen Struktur der Union insgesamt. Bevor die Frage nach Erweiterungen der Supervisionskompetenzen der Kommission oder nach Disziplinarmaßnahmen gegen einzelne „Sünderstaaten“ gestellt wird, muss vorgelagert der Aufbau der Europäischen Union untersucht werden. Ihre Verfasstheit entweder als institutionalisierte Summe der mitgliedstaat­ lichen Partikularinteressen oder als wahrhaft supranationales Rechtssubjekt mit einem eigenständigen Auftrag und Integrationsinteresse entscheidet letztlich darüber, ob die Lösung derartiger Krisen und ihre Vermeidung in einem übergeordneten Unionsrahmen – in letzter Konsequenz in Form einer Wirtschaftsregierung mit weitreichenden Kompetenzen in Budgetfragen – bewältigt werden können, oder ob die Union nur einzelne Disziplinierungsbefugnisse hat und das Gros der makroökonomischen Entscheidungen in der zwischenstaatlichen Verständigung getroffen werden sollte.28 Die Festlegung, was letztlich solidarisch ist, lässt sich schlicht nicht treffen, ohne zuvor die Bedeutung von Solidarität als Rechtsprinzip im Allgemeinen zu erhellen. Daher sollen zunächst die Ursprünge von Solidarität untersucht werden, aus denen heraus sich das Rechtsprinzip entwickelt hat. Dabei wird weniger Wert auf eine vollständige Chronik als vielmehr Ge25  Joerges,

in: R. Wildemann, Staatswerdung Europas?, S. 225. Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, abrufbar unter: http://europa.eu /  abc / symbols / 9-may / decl_de.htm. 27  Vgl. z. B. Hentschelmann, EuR 2011, 282 (284 f.); Ryvkin, Corn. Int’l L.J. 45 (2012), S. 227; Heinemann, Verschuldungsanreize in der WWU, S. 4; Häde, EuZW 2009, 399; siehe dazu im 3. Kapitel unter C. V. 1. b). 28  Folglich würde auch die Grundentscheidung der Wirtschafts- und Währungsunion neu verhandelt, die Finanzmärkte zur Disziplinierung mitgliedschaftlicher Haushaltspolitik einzubinden (vgl. Hentschelmann, EuR 2011, 282 (310)) und vonseiten der Union lediglich Voraussetzungen zu schaffen, um eine unverstellte Marktsicht auf die Bonitätsdaten des betreffenden Mitgliedstaates zu ermöglichen. 26  Vgl.



B. Problemstellung25

wicht auf diejenigen Entwicklungsschritte gelegt, die zentrale Wegmarken des Rechtsbegriffs Solidarität repräsentieren.29

B. Problemstellung Wie soeben gezeigt wurde, hat die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise einige Verunsicherung hinsichtlich der geltenden und sich entwickelnden Struktur der Europäischen Union gebracht. Die weitere Entwicklung hängt zum einen gewiss von der klugen und umsichtigen Handhabe durch die politischen Akteure der Mitgliedstaaten ab. Owohl die EU und ihr integrativer Fortgang wesentlich vom Spiel der Politik und von Visionen ihrer maßgeblichen Akteure bestimmt waren und sind, gilt die Untersuchung jedoch nicht den mehr oder minder ephemeren Phänomenen der Unionspolitik. Vielmehr besteht die Vermutung, dass hinter dem Anschein des Einstweiligen und Improvisierten30 der aktuellen Rechtsentwicklung in der EU eine Grundstruktur besteht, welche die zukünftige Gestalt der solidarischen Bande in Europa determiniert. Für derlei Annahmen bietet sich vor allem ein Blick auf die Finanzverfassung an. In ihr als „Spiegelbild der Staatsverfassung“31 schlagen sich die zentralen konstitutionellen Entscheidungen nieder, die über den Charakter und den Bestand des Verbunds entscheiden. Ohne die konstitutionell-politischen Vision außer Acht zu lassen, wird der Fokus der Untersuchung indes auf dem Ineinandergreifen verschiedener Finanzregelungen der föderalistisch-solidarischen Systeme liegen. Im Wesentlichen stellt sich dabei die Frage, ob die gegenwärtige Finanzverfassung der EU den Anforderungen an einen stabilen Verbund gerecht wird. Der Blick auf die Finanzverfassungen ausgewählter föderaler und quasi­ föderaler Ordnungen soll dabei strukturell bedingte Anforderungen an die föderalistische Finanzverfassung der Union zutage fördern.32 Dabei wird notwendigerweise der etwaigen politischen Entwicklung vorgegriffen.

29  Für eine erschöpfende Übersicht der historischen Entwicklung der Solidarität: Volkmann, Solidarität, Kap. 2; Fiegle, Von der Solidarité zur Solidarität; Schmelter, Solidarität, Teil 1. 30  Die Krisenbeseitigungsmaßnahmen (EFSF, ESM, „Six Pack“, etc.) sind teils hastig zusammengestellt und vorläufiger Natur (siehe dazu im 3. Kapitel unter C. und D.). Unklar ist noch, wie viel davon in seiner gegenwärtigen Planungsgestalt von Dauer sein wird. 31  Koller, Der öffentliche Haushalt als Instrument der Staats- und Wirtschaftslenkung, S. 39. 32  Siehe dazu im zweiten und 3. Kapitel.

26 Einleitung

I. Fiscal federalism als Grundlage der Bewertung 1. Dezentralisierungstheorem Die vorliegende Untersuchung basiert auf wirtschaftswissenschaftlichen Annahmen, die sich unter dem Schlüsselbegriff fiscal federalism zusammenfassen lassen. Das maßgeblich von Musgrave33 und Oates34 geprägte Konzept bewertet die Effizienz der Erbringung öffentlicher Leistungen durch die verschiedenen Ebenen einer bestimmten Gebietskörperschaft. Zur Optimierung der Ressourcenallokation und -verteilung in einem Mehrebenensystem sollen die Aufgaben immer auf diejenige Ebene verteilt sein, die am besten die Präferenzen der zu ihr gehörigen Bürger ermitteln und die Leistung des spezifischen Bedarfs entsprechend anpassen kann (sog. Dezentralisierungs­ theorem).35 Die Anpassung des Outputniveaus auf der entsprechenden Entscheidungsebene – für regional unterschiedliche Nachfragen oder Bereitstellungsvoraussetzungen wäre das die regionale Ebene – würde Wohlfahrtsverluste durch eine etwaige zentrale Bereitstellung der Leistung verhindern. Im Umkehrschluss sind mitunter Aufgaben und Kompetenzen der Zentralebene zu überlassen, wenn die zentral gesteuerte Leistungserbringung am effizientesten ist.36 Darüber hinaus gibt es gewisse nationale öffentliche Güter – klassisch ist hier die Landesverteidigung; schwieriger gestaltet sich die Diskussion um den Gebietscharakter solcher öffentlicher Güter wie Bildung und Gesundheitsversorgung –37, deren Bereitstellung nur durch die Zentralebene erfolgen kann, weil sie der gesamten Bevölkerung gleichmäßig zur Verfügung gestellt werden sollen.

33  Musgrave,

The Theory of Public Finance, New York 1959. Oates, Fiscal Federalism, New York 1972; ders., in: Baimbridge /  Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 13. 35  Oates, Fiscal Federalism, S. 54. 36  Vgl. Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 14: „In the absence of monetary and exchange rate prero­ gatives and with highly open economies that cannot contain much of the expansiona­ ry impact of fiscal stimuli, provincial, state, and local governments simply have very limited means for traditional macroeconomic control of their economies. Similarly, the mobility of economic units can seriously constrain attempts to redistribute income.“ Das beste Beispiel dafür ist der Umweltschutz, eine Domäne, die nicht effizient und erschöpfend in substaatlichen Gebietskörperschaften erfüllt werden kann, da die externen spillover-Effekte, d. h. der Nutzen, der das Gebiet der kostentragenden Gebietskörperschaft übersteigt oder anderen als den in der Gebietskörperschaft abgabenverpflichteten Bürgern zugute kommt, proportional zu den eingesetzten Finanzmitteln steigen. 37  Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 14 f. 34  Grundlegend



B. Problemstellung27

2. Die Rolle der Finanzverfassung Die Finanzverfassung in einer föderalen Ordnung hat die Aufgabe, die effiziente Bereitstellung öffentlicher Güter entsprechend dem Dezentralisierungstheorem (siehe oben) abzusichern.38 Da die Mobilität zwischen subnationalen Gebietskörperschaften derselben föderalen Ordnung nahezu unbeschränkt ist, bestehen Schwierigkeiten, sich im Wettbewerb mit den anderen Gebietskörperschaften derselben Ebene autonom mit den für die Erbringung aller Aufgaben notwendigen Steuern und Abgaben zu versorgen (tax-assign­ ment problem).39 Da im Zweifel die mit der effizientesten Erfüllung einer Aufgabe betraute Ebene nicht notwendigerweise die entsprechende Finanzierung durch Abgaben zu gewährleisten in der Lage ist,40 sind mehr Steuern ohne direkten Gegenwert (non-benefit taxes) von der Zentralebene zu erheben, als sie zur effizienten Erfüllung der ihr zugedachten Aufgaben benötigt.41 Dies wiederum bedingt eine effiziente Zuteilung zusätzlicher Mittel (grants, Zuweisungen, Anteile am Steueraufkommen) an die dezentralen Gebietskörperschaften. Die Einnahmenverteilung (revenue sharing) und ein Mitteltransfer unter den Gebietskörperschaften (intergovernmental grants) sind demnach in föderalen Ordnungen entscheidend für die effiziente Erbringung öffentlicher Leistungen und damit für das Funktionieren und den stabilen Bestand der föderalen Ordnung insgesamt. Demgegenüber ist nicht entschieden, ob für diese Zwecke unbedingt redistributive, ungebundene Transfers (Finanzausgleich in Deutschland, unconditional grants in den USA) erforderlich sind oder ob gebundene Transfers (EU-Mittel aus den

38  Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 17 ff. 39  Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 6; dazu eingehend McLure jr., (Hrsg.), Tax Assignment in Federal Countries, Canberra 1983. 40  Ein Beispiel: Unterstellt, dass eine regionale Gebietskörperschaft am effizientesten die Bedürfnisse im Gesundheitssektor einschätzen kann, wäre sie doch nicht in der Lage, die gesamten Kosten dafür aus eigenen Steuern zu tragen. Bei einem entsprechenden Einkommenszuschlag oder anderen Regionalabgaben sind die Einwohner nicht gehindert, in die Peripherie der Gebietskörperschaft zu ziehen und von dort besagte Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen. Ein Wegzug der Einwohner im Fall ungünstiger Abgabenstrukturen, von Tiebout, in: J Pol. Econ. 64 (1956), S. 416 als „Abstimmung mit den Füßen“ bezeichnet (krit. dazu etwa Prokop, Finanzausgleich und europäische Integration, S. 41 f.), reduziert die Steuereinnahmen der Gebietskörperschaft und damit ihre Kapazitäten zur Auf­ gabenerfüllung. 41  Vgl. Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 20.

28 Einleitung

Struktur- und Kohäsionsfonds, matching grants in den USA) genügen, die eventuell entwicklungshemmenden spillover-Effekte auszugleichen.42 II. Die Europäische Union als Föderaler Bund Die Einordnung der EU unter die föderalen Ordnungen und die Heranziehung föderalistisch oder regionalistisch verfasster Staaten als Vergleichsobjekte kann nur greifen, wenn bereits unterstellt wird, dass die EU eine vergleichbare Zielvorstellung birgt. Andernfalls würde es es an an der erforderlichen Dauerhaftigkeit des Zusammenschlusses fehlen und sich stattdessen um ein reines Opportunitätsbündnis handeln, dessen langfristiger Bestand notwendigerweise nicht Ziel jenseits aktueller Interessen ist.43 Die Finalität der EU muss jedoch nicht bundesstaatsanalog, d. h. auf die Verdichtung zu einem europäischen Bundesstaat gerichtet sein. Vielmehr genügt auch die differenzierende Zuordnung zur Kategorie eines „Bundes“.44 Nach der Definition Carl Schmitts ist ein Bund eine auf freier Vereinbarung beruhende, dem gemeinsamen Zweck der politischen Selbsterhaltung aller Bundesmitglieder dienende, dauernde Vereinigung, durch welche der politische Gesamtstatus jedes einzelnen Bundesmitgliedes im Hinblick auf den gemeinsamen Zweck verändert wird.45 Zwar unterscheidet sich die Struktur der gemeinschaftlichen Aufgabenfelder erheblich von Bünden der Vergangenheit, die hauptsächlich dem Schutz gegen Angriffe fremder Staaten galten.46 Allerdings ist mit der gestiegenen Bedeutung ökonomischer Integration auch und gerade als Befriedungsmethode in Europa nach dem 2. Weltkrieg 42  Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integration, S. 19 f. 43  Vgl. Scharpf, in: R. Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas?, S. 415 (418). 44  Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81 ff. hält die gängige Einordung der Union als Gebilde „sui generis“ oder als „Staatenverbund“ (vgl. BVerfGE, 89, 155 (184)) für überkommen. Durch die Einordnung der Union als Bund würden föderalismus­ theoretisch neue Denkräume erschlossen, die ohne „die negative wie positive Fixie­ rung der Diskussion auf den (Bundes-)Staatsbegriff“ auskämen. Ebenso Kordt, in: FS Schätzel, S. 237 (242 ff., 253); Forsyth, in: European Commission for Democracy through law (Hrsg.), The modern concept of confederation, S. 59 ff.; für Lepsius, in: ders., Demokratie in Deutschland, 1993, S. 265 (284) geht es um die „Konsolidie­ rung eines Staatenbundes über eine ausdifferenzierte, supranational organisierte Staatsfunktion“. 45  Schmitt, Verfassungslehre, S. 366. 46  Siehe etwa Titel I Art. 2 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, nach dem der Zweck des Deutschen Bundes „die Erhaltung der äußeren und inneren Si­ cherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“ war, abgedruckt bei Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 84. Heutiges Beispiel für einen klassischen Bund ist die NATO.



B. Problemstellung29

eine neue Form der Staatenzusammenschlüsse denkbar. Schönberger nennt diese Art des Zusammenschlusses einen „Bund mit primärer Wohlfahrts­ orientierung“.47 Seine Charakteristika sind Dauerhaftigkeit48, innere Befriedung und eine Schwebelage der Souveränität, d. h. ein ungelöstes und unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen der Souveränität der Mitglieder und der Rechtssubjektivität des Bundes.49 Legt man diesen Bundesmaßstab an die Union an,50 fällt ein Vergleich mit anderen föderativen Ordnungen (in Form der föderalistischen oder der regionalistischen Staaten vor allem in Europa) leicht, da die Union nicht als inkomparables Sonderwesen gilt. Andererseits muss die Übertragung der im staatlichen Kontext entwickelten Institute die spezifisch föderative Problematik beachten, dass die EU als Bund eine Koordinationsstruktur zwischen Mitgliedstaaten und Unionsebene aufweist, die dauerhaft labil und dynamisch ist.51 Den Bundesstaat und andere föderative, in substaatlichen Gliederungseinheiten organisierte Staaten52 als Bezugsrahmen heranzuziehen setzt allerdings voraus, dass die Union eine vergleichbare Bestimmung hat, in der sich die Freiheit der Mitgliedstaaten untereinander entfalten kann. Gewissermaßen bedarf es einer Bindungsklammer, die alle Mitgliedstaaten umschließt. Man ist geneigt, diese Klammer in der von Böckenförde53 geforderten europäischen „Gemeinwohlverantwortung“ zu sehen. Jedoch bleibt eine Bestimmung dieser Gemeinwohlverantwortung wenig trennscharf angesichts divergierender Interessen und Sichtweisen der Mitgliedstaaten und des unklaren Kurses der Union nach dem gescheiterten Verfassungsvertrag54 47  Schönberger, AöR 129 (2004), 81, 101; zugleich sieht er dadurch allerdings auch neue Abgrenzungsprobleme aufkommen, vgl. S. 102. 48  Insofern ist ein Austrittsrecht, wie es der EUV nach Lissabon in Art. 50 EUV vorsieht, wesenswidrig und ein wenn auch symbolischer – angesichts der bestehenden und zu erwartenden Integrationstiefe wird er kaum je Anwendung finden – Schritt entgegen der Integration. 49  Im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der schleichenden Kompetenzannexion durch Kommission und EuGH wird dieses fragile Gleichgewicht in der Union besonders deutlich. 50  Dafür plädieren Schönberger, AöR 129 (2004), 81; Kordt, in: FS Schätzel, S.  237 (240 ff.); Lepsius, in: ders., Demokratie in Deutschland, 1993, S. 265 (267, 268 ff.); Forsyth, in: European Commission for Democracy through law (Hrsg.), The modern concept of confederation, S. 59 ff.; Kristoferitsch, Vom Staatenbund zum Bundesstaat?, S.  323 ff.; v. Bogdandy, in: Integration 1999, 95; mit den herkömmlichen Begriffen föderaler Staatenordnung auch Everling, in: FS Doehring, S. 179, 181. 51  Vgl. Schönberger, AöR 129 (2004), 81. 52  Die Politikwissenschaft spricht hier allgemein von „Mehrebenensystemen“. 53  Vgl. Böckenförde, in: Vogt / Sokol / Ociepka / Pollack / Mikolajczyk (Hrsg.), Bedingungen europäischer Solidarität, S. 17. 54  Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. C 310 vom 16. Dezember 2004, S. 1.

30 Einleitung

und dem in seiner Tragweite noch unklaren Vertrag von Lissabon55. Daher kann und wird diese Untersuchung sich nicht in Deutungen ergehen, was die Union im Innersten zusammenhält, sondern sie unterstellt ein permanentes Bestandsinteresse. Im Fokus soll ungeachtet der wechselhaften Interessenlage der Integrationsakteure vielmehr liegen, ob die EU überhaupt zum dauerhaften Zusammenhalt fähig ist, wie es den föderalistisch und regionalistisch verfassten Staaten gelingt. Besonderes Augenmerk gilt hierbei der gemeinschaftlichen Finanzverfassung. III. Unionssolidarität Die Erfahrungen des europäischen Einigungsprozesses haben gezeigt, dass eine weitgehende wirtschaftliche Verflechtung ehemaliger Nationalökonomien nicht automatisch eine soziale Einigung im Sinne einer Identifikation mit einem europäischen Gemeinwesen nach sich zieht.56 Mehr als einmal ist der Integrationsprozess durch diese asynchrone Entwicklung ins Wanken geraten.57 Infolgedessen wird den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht attestiert, dass sie noch kein ausgeprägtes ‚europäisches Bewusstsein‘ haben, das nationale Grenzen transzendiert. Ohne „eine Art Zusammengehörigkeits- bzw. Solidaritätsgefühl, das auf gemeinsamer Ge­ schichte, Kultur und Traditionen basiert“, quasi einem „gemeinschaftliche(n) Wir-Gefühl“, fehle die entscheidende einigende Komponente der Verbundenheit, aus der heraus föderative Kompetenzverteilung und Ausgleichssysteme entstehen.58 Mag diese Befürchtung durch die enorme Erweiterung ab dem Jahr 2004 noch bestärkt worden sein und als Hypothek auf dem weiteren

55  Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, ABl. C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 1. 56  Deshalb sieht Schröder, in: Müller-Graff / Schmahl / Skouris (Hrsg.), FS Scheuing, S. 690 (691) die Mitgliedstaaten als vornehmliche Adressaten solidarischer Gemeinschaftspflichten und Mittler solidarischer Bande der Unionsbürger untereinander; ebenso Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art.  222  AEUV, Rn.  9. 57  Am 2. Juni 1992 hatten die Dänen in einem Referendum den Vertrag von Maastricht abgelehnt. Erst nach weitgehenden Zugeständnissen auf dem Gipfel von Edinburgh (vgl. Protokoll (Nr. 5) über die Position Dänemarks) führte ein zweites Referendum zum Erfolg. Dem Verfassungsvertrag war im Jahr 2005 ein schlechteres Schicksal beschieden, als er durch die ablehnenden Referenden in Frankreich (29. Mai 2005) und der Niederlande (1. Juni 2005) endgültig scheiterte. 58  Friedmann, in: ders., Evaluierungsansätze zu ausgewählten Politikbereichen der EU, S. 53 (60); Martenczuk, EuR 2000, 351 (363); Schröder, in: Müller-Graff /  Schmahl / Skouris (Hrsg.), FS Scheuing, S. 690 (691); skeptisch Volkmann, Solidarität, S.  410 ff.



B. Problemstellung31

Einigungsprozess lasten,59 ist sie dennoch nicht allein maßgeblich für das Verständnis der Herkunft solidarischer Bindungen. Vielmehr soll die vorliegende Arbeit zeigen, dass auch der historisch einmalige Prozess der europäischen Einigung mit seiner Grundentscheidung der Aufgabe nationaler Binnenmärkte zugunsten des Gemeinsamen Markts Tatsachen geschaffen hat, aus denen heraus eine andere Form von Solidarität entstanden ist und entstehen musste, die über sachspezifische Konkretisierungen60 hinausgeht. Idealerweise erzeugt die interdependente Gestalt des gesamteuropäischen Wirtschaftsraums dabei solidarische Folgewirkungen,61 die von den Bürgerinnen und Bürgern mittels der Transmissionsriemen der gemeinsamen Kultur, Traditionen und Wertvorstellungen nachvollzogen und verinnerlicht werden. Im Rahmen der Ausgestaltung der europäischen Finanzverfassung ist das jedoch nur für die Umsetzung der von der tatsäch­lichen Gestalt der Union vorgegebenen Pflichten und Strukturen maßgeblich – etwa bei der Ratifizierung von Gesetzgebungsvorhaben, die dauerhafte finanzielle Rettungsmechanismen einführen –, nicht für das Bestehen dieser Anforderungen selbst. Losgelöst vom Geist der europäischen ‚Nation‘ bestehen, so die These, durch den beschrittenen Integrationspfad selbst bereits solidarische Bande.62 Zu beurteilen ist nur, ob und inwieweit diese den Anforderungen an einen stabilen Zusammenschluss föderativer Art, wie ihn die EU darstellt, genügen. IV. Föderale Ordnungen als Referenzrahmen Untersuchungen und perspektivische Einschätzung der europäischen Integration gehen meist von einer Abgrenzung von und Annäherung an föderale Staaten wie die USA und Deutschland aus. Gemeinhin wurde jedenfalls vor der Griechenlandkrise und den damit einhergehenden Erschütterungen der gemeinschaftlichen Solidarität angenommen, dass die EU – wenn überhaupt 59  Siehe zu der Frage der sich entwickelnden Solidarität in der Europäischen Union Vogt / Sokol / Ociepka / Pollack / Mikolajczyk (Hrsg.), Bedingungen europäischer Solidarität, 2009. 60  Etwa Art. 222 AEUV oder 6. Erwägungsgrund zum EUV. 61  Als Beispiel mag hier der Paradigmenwechsel in der Frage von finanziellen Hilfsleistungen für notleidende Mitgliedstaaten gelten, die durch die Einführung von Art. 136 Abs. 3 AEUV und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zementiert wurde; dazu im 3. Kapitel unter C. 62  Vgl. die Nachweise der Solidarität in den Verträgen durch Gussone, Das Solidaritätsprinzip, 2006; Lais, Das Solidaritätsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2007; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2003; insbesondere der Finanzverfassung gewidmet Lienemeyer, Die Finanzverfassung der EU, 2002.

32 Einleitung

– eher am US-amerikanischen Föderalismus orientiert sein sollte.63 Das Hauptbestreben der Union könne es demnach nicht sein, eine Einheit zu bilden, ohne Besonderheiten der Glieder aufzugeben (einheitsbildendes Fö­ deralismusmodell) sondern vielmehr eine Stärkung regionaler Vielfalt mittels der Aufgliederung des politischen Gesamtkörpers (differenzierendes Födera­ lismusmodell) zu erreichen.64 Dieser Sichtweise der föderalen Qualität soll ein umfassenderes Bild solidarischer Bindungen in föderalen Strukturen und deren Übertragung auf die EU gegenübergestellt werden. Die Begrenzung der Untersuchung auf föderal und quasiföderal65 verfasste Staaten folgt dabei der Vermutung, dass nur solchen Staaten Anhaltspunkte zu finanzieller Solidarität zu entnehmen sind, die im Nachgang auf die Union übertragbar sein könnten. Im Gegensatz zu Zentralstaaten weisen Föderalstaaten eine Struktur mit Über- und Unterordnungsverhältnissen auf, die über eine notwendig verfasste Verwaltungsarchitektur hinausgeht. Die klassische Einteilung in eine Zentralebene (Bund, federal government) und Gliedstaaten mit eigener Staatlichkeit (Bundesländer, Regionen, states) ähnelt bereits oberflächlich betrachtet der Einteilung der Europäischen Union im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten. In grobem Zuschnitt könnte man in den Mitgliedstaaten die Gliedstaaten und in der Union die Bundesebene eines Bundesstaates sehen. V. Die Länderstudien im Einzelnen Die erste Gruppe der Länderstudien bilden die klassischen Föderalstaaten USA, Deutschland und die Schweiz. Von den Mitgliedstaaten der EU sind darüber hinaus auch Österreich und Belgien offiziell föderal verfasste Staaten. Diese Länder lassen sich gemäß ihrer föderalistischen Grundstruktur in zwei Gruppen unterteilen: Die USA und die Schweiz bilden eine Gruppe von Ländern, deren föderalistische Verfassung verstärkt auf Wettbewerb und Eigenständigkeit setzt (Wettbewerbsföderalismus). Deutschland, Österreich und Belgien dagegen werden eher dem kooperativen Föderalismus zugeteilt. Es folgt eine weitere Gruppe von Staaten, die – teils erst in jüngster Vergangenheit – föderalstaatliche Reformen hin zu mehr Dezentralisierung durchgeführt haben. Spanien zählt mit seinen Comunidades Autónomas ebenso dazu wie Italien mit der differenzierten Regionalstruktur nach der Verfassungsreform von 2001. Darüber hinaus lassen sich föderalistische Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.) Europäischer Föderalismus, S. 13 (26). Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.) Europäischer Föderalismus, S. 13. 65  Hierzu zählen regionalistisch verfasste Staaten wie Italien und Spanien aber auch das Vereinigte Königreich, das erst am Anfang eines Dezentralisierungsprozesses (sog. devolution) steht; dazu sogleich. 63  Vgl. 64  Vgl.



B. Problemstellung33

Merkmale auch im Vereinigten Königreich nach der Neuordnung durch den als devolution bezeichneten Prozess nachweisen. In der Abschichtung soll der Vergleich insgesamt also Länder umfassen, die in zwei grundlegenden Dichotomien graduell unterschiedlich angeordnet sind, nämlich dem Gegensatz zwischen kooperativem und kompetitivem Föderalismus einerseits und dem Gegensatz zwischen Dezentralisierung und Unitarisierung andererseits. VI. Ziel des Vergleichs Es gilt bei der Analyse die Vermutung, dass in diesen Staaten und ihren Finanzverfassungen induktiv ein Gerüst auffindbar ist, über das sich die Finanzverfassung der Union gleichsam aufspannen lässt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Finanzordnungen werden dabei zum Maßstab europäischer Normsetzung und liefern darüber hinaus wichtige Anhaltspunkte für die Auslegung der gemeinschaftlichen Regeln. Ferner ist darzulegen, inwieweit föderalistische Dichotomien wie das Verhältnis des amerikanischen Wettbewerbsföderalismus zum deutschen Kooperationsföderalismus sich in grundlegenden Prinzipien solidarischer Finanzverfassungen niederschlagen. Keinesfalls kann dieser Vergleich föderaler Ordnungen Vollständigkeit für sich beanspruchen. Vielmehr dient die bewusste Auswahl von Staaten, die zwar eine föderalistische Tendenz teilen, den Weg dahin aber grundlegend verschieden beschritten haben, dazu, gemeinsame Strukturmerkmale zu identifizieren und systembedingte Unterschiede gegenüberzustellen, damit die EU bei der weiteren europäischen Integration aus einer „gemischten Bundesstaatstheorie“66 schöpfen und sich des Erfahrungswissens um die nachhaltige Beschaffenheit solidarischer Finanzbeziehungen in föderalen Ordnungen bedienen kann und letztlich nicht dazu verdammt ist, auf Volatilitäten der (Finanz-)Wirtschaft in den Mitgliedstaaten nur zu reagieren. Damit geht die Überzeugung einher, dass optimale Ausprägungen finanzieller Solidarität in den föderalen Ordnungen für die weitere Integration der EU instruktiv, wenn nicht sogar – sollte der Weg einer föderalen Integration gewählt werden – normativ sein können. Letztlich soll untersucht werden, ob der gegenwärtige Integrations- und Konsolidierungskurs der Union als Überwachungsinstanz des Zusammenschlusses souveräner Staaten mit getrennten Makroökonomien der richtige Weg ist oder ob es – in den Grenzen der bestehenden Konstitution der Union oder darüber hinaus – anderer Institutionen und Mechanismen bedarf, um den Bestand der Union dauerhaft zu sichern und die Schumansche so­ lidarité de fait zu verwirklichen. 66  Vgl.

Häberle, ZöR 62 (2007), 39.

34 Einleitung

C. Gang der Untersuchung Entsprechend der Problemstellung soll zunächst der Begriff der „Solidarität“ geklärt werden. Aufgrund seines vielseitigen sprachlichen Gebrauchs bedarf der Begriff einer Herleitung seiner rechtlichen Funktion insbesondere im Hinblick auf konkrete Ausformungen in der Finanzverfassung (erstes Kapitel). Der anschließende Ländervergleich (zweites Kapitel) soll dann ermitteln, inwiefern die abstrakten Voraussetzungen solidarischer Finanzbeziehungen in föderalen oder quasiföderalen Ordnungen realiter umgesetzt sind. In direkter Gegenüberstellung zur Finanzverfassung der Europäischen Union (drittes Kapitel) soll schließlich untersucht werden, inwiefern die Strukturen und Maßstäbe der nationalen Ordnungen sich in der EU-Finanzverfassung wiederfinden. In einem bewertenden Schlussteil (viertes Kapitel) soll erörtert werden, inwieweit das normative Grundgerüst einer solchermaßen verfassten EU den föderalen Bestand gewährleistet oder ob es gegebenenfalls angepasst werden muss.

1. Kapitel

Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität A. Solidarität als Rechtsprinzip Ein erster Überblick über den Sprachgebrauch vermittelt noch keine ausreichende Trennschärfe zwischen Umgangssprache und rechtlich verbind­ lichem Terminus. Im lateinischen Ursprung solidus „fest“, „gediegen“, „ganz“ klingt bereits die Konzentrationswirkung von Solidarität an, die der Bindung eigentlich verschiedener Elemente in einem sie überdachenden System entspricht. Frühe Wörterbücher der deutschen Sprache dagegen nennen den Begriff noch nicht oder bezeichnen ihn nicht genau. In Grimms Wörterbuch1 erscheint Solidarität nur als Adjektiv „solidarisch“. Dazu wird erläuternd angeführt: „Ich bin mit ihm solidarisch, was ihn betrifft, geht auch mich an; ich trete für ihn ein.“ Hier wird bereits eine Identifikation mit fremden Belangen als einigende Kraft deutlich. An anderer Stelle dagegen wird allein auf den Ursprung im römischen Recht verwiesen, indem „solidarisch“ dadurch erklärt wird, „daß jeder Einzelne für das Gesamte haftet“ und Solidarität mit der Bedeutung „solidarische Verpflichtung“ versehen wird.2 Teilweise wird solidarisch lediglich mit dem Synonym „gesamthaftend“ umschrieben.3 Die juristische Konnotation entstammt noch dem römischen Recht. Der Brockhaus4 nennt Solidarität im weitesten Sinne eine „politischsoziale Brüderlichkeit“ und identifiziert drei Dimensionen: eine beschreibende Funktion tatsächlicher Kooperation zur Abwehr von Unrecht oder Not, eine normative Vorstellung, die sich z. B. in moralisch oder religiös begründbaren Ansprüchen auf ein kooperatives Verhalten und eine entsprechende Verantwortungsgemeinschaft bezieht, und einen appellativen Charakter zur Mobilisierung von Menschen und öffentlicher Meinung. Den Sozialwissenschaften gilt Solidarität vor allem als Grundstein des Solidarismus, der das Individuum und das gesellschaftliche Ganze mittels eines dritten Faktors in eine Verbindung bringt, die beide eint und zuordnet.5 1  Grimm,

Deutsches Wörterbuch, Bd. 10.1. Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 2.2. 3  Weigand, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2. 4  Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 20, Leipzig 1998. 5  Vgl. Gundlach, Solidarismus, in: Beckerath / Brinkmann u. a. (Hrsg.), HWdbSW Bd. 9, S. 297. 2  Sanders,

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1. Kap.: Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

Dieser Faktor kann verschiedenen Deutungssystemen entspringen. „Gott“6 – theistisch oder pantheistisch –, die „Natur“ und in säkularisierten Gesellschaften die Rechtsordnung können Bindeglieder der Gemeinschaft sein. I. Der Ursprung als obligatio plurium in solidum Im römischen Recht erscheinen gemeinschaftliche Bindungen vor allem als Verbindung von Schuldner- oder Gläubigermehrheiten zu einer Rechtsgemeinschaft unter dem Oberbegriff Solidar- oder Korrealobligationen (v. lat. con‿reus, verkürzt zu correus, Mitschuldner). Damit werden Verpflichtungen bezeichnet, die eine Mehrheit von Schuldnern im Verhältnis zu einem Gläubiger treffen oder eine Mehrheit von Gläubigern berechtigen, die geschuldete Leistung gemeinschaftlich von einem Schuldner, insgesamt aber nur einmal zu fordern. Resultat dieses Instituts ist die Befreiung sämtlicher Schuldner durch die Leistung des Geschuldeten durch einen Mitverpflichteten oder das Erlöschen der Schuld durch Zahlung des Verpflichteten an einen der Mitgläubiger (sive unus solvat, omnes liberentur, sive solvatur, ab altero libe­ ratio contingat).7 Korrealobligationen hatten demgegenüber eine Besonderheit, die ihren Wert für Mehrheitsgläubiger gravierend minderte. Wurde Klage gegen einen Mitschuldner erhoben (litis contestatio), befreite das die übrigen Mitgläubiger von der Leistung.8 Da somit Zwangsvollstreckung nur gegen einen Schuldner aus der Gruppe zu erreichen war, bewirkte die gleichzeitige Verpflichtung mehrerer Schuldner auf dieselbe Leistung für den Gläubiger keine Vorteile hinsichtlich des Solvenzrisikos.9 Bei einer Schuldnermehrheit aus gemeinsamem Delikt wirkte allerdings erst die Zahlung von Schadensersatz befreiend auf die übrigen Mitdelinquenten.10 Bereits Justini­ an beseitigte diese Diskrepanz, indem er die Aufhebung des ursprünglichen Schuldverhältnisses für alle passiven Gesamtschuldverhältnisse gleichsam erst durch Begleichung der Schuld vorsah: Generaliter sancimus, quemadmo­ dum in mandatoribus statutum est, ut contestatione contra unum ex his facta alter non liberetur, ita et in fideiussoribus observari.11 Die Interpolation der älteren Rechtstexte ist allerdings nur teilweise durchgeführt worden.12 In der 6  Leroux sieht die „Christuszugehörigkeit“ als das in die Pflicht nehmende Gemeinsame; vgl. Gide / Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, Bd. 1, S. 285; Schmelter, Solidarität, S. 12. 7  Corpus iuris civilis, Digesta 45.2.3.1. 8  Vgl. schon Savigny, Pandekten, S. 174. 9  Vgl. Kaser, Das Römische Privatrecht, S. 550 f. 10  Vgl. Sohm, Institutionen, S. 481. 11  Justinian, C. 8, 40, 28; vgl. dazu auch Schwind, Römisches Recht, S. 256 ff. 12  Dadurch kommt es zu einem Nebeneinander der Begriffe; vgl. Kaser, Das Römische Privatrecht, S. 551.



A. Solidarität als Rechtsprinzip37

Rezeption des römischen Rechts ist aus der lückenhaften Anpassung eine grundsätzliche Begriffsverschiedenheit zwischen Korrealobligationen und „bloß solidarischen“ Obligationen gefolgert worden.13 Nur bei Ersterer sollte bereits die Klage eines Mitgläubigers oder die Klage gegen einen Mitschuldner leistungsbefreiend auf die anderen Mitschuldner wirken. Die Differenzierung ist mit der Zeit wieder aufgegeben worden, da letztlich kein echter Unterschied zwischen einer einzigen Verpflichtung mit mehreren „subjektiven Beziehungen“ (Korrealobligation) und mehreren Verpflichtungen besteht, denen eine einheitliche Leistung und damit eine „sachliche Einheit“ zugrunde liegt.14 II. Vereinnahmung und Prägung durch die Religion Mit der zentralen Stellung der katholischen Kirche ab dem frühen Mittelalter ging eine christlich-theologische Prägung des sozialen Zusammenlebens einher. Den widrigen und teils kriegerischen Lebensumständen, welche die Erfahrungswelt des mittelalterlichen Menschen prägten, wurde diametral der Gottesfrieden mit dem Gebot der Nächstenliebe entgegengesetzt.15 Als Gegenentwurf zur Lebenswirklichkeit forderte die christliche Nächstenliebe untereinander Rücksichtnahme und Unterstützung. Die Menge der in diesem Pflichtenkreis enthaltenen Personen wurde bestimmt durch die Zugehörigkeit zum Christentum. Alle Christen sind nach dieser Vorstellung Brüder. Demgemäß wird Nächstenliebe unter Christenmenschen zur Brüderlichkeit.16 Die christliche Nächstenliebe transzendierte bereits vorhandene germanische sippen- und verwandtschaftsrechtliche Bedeutungen der Brüderlichkeit durch das verbindende Element der göttlichen Schöpfung zu einer abstrakten „Verwandtschaft im Geiste“ und schaffte somit einen „christ­ lichen Solidarismus“,17 der lange Zeit exklusiv mit der Kirche verbunden wurde und damit ihren Hegemonialanspruch sicherte. Bei einigen katholischen Denkern geriet Solidarität dann auch zum Mittel zur Bekämpfung des voranschreitenden Individualismus. Prominente Vertreter wie Chateaubriand wandelten die christliche Heilserwartung in eine sich fortsetzende Kette der 13  Vgl. Ribbentrop, Zur Lehre von den Correal-Obligationen, S. 268; Keller, Pandekten, Bd. 1, § 244; Dernburg, Pandekten, S. 192 ff.; Kuntze, Die Obligation und die Singularsuccession des römischen und heutigen Rechtes, S. 232 f. bevorzugt „unechte Korrealobligationen“. 14  Vgl. Sohm, Institutionen, S. 482; Kaser, Das Römische Privatrecht, S. 551. 15  Winterfeld, Gottesfrieden und deutsche Staatsverfassung, in: Hans. GBl. 52, S. 8. 16  Vgl. Bader / Dilchert, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 514 f. 17  Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 1, 2. bearb. Aufl., Freiburg i. Breisgau 1914.

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1. Kap.: Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

Erbsünde, die bewirke, dass „unsere Fehler auf unsere Söhne zurückfallen, dass wir aber alle voneinander abhängig sind.“18 Zentrales Leitmotiv wird der unentrinnbare Zusammenhang aller Menschen bei Ballanche: „Ja der Mensch kann sein Schicksal nicht von dem seiner Mitmenschen abtrennen: die gesamte Menschheit ist untereinander abhängig.“19 III. Die französische Revolution als Wendepunkt für einen säkularisierten Solidarbegriff 1. Die Frühsozialisten: Solidarité versus Fraternité Im vorrevolutionären Frankreich des Absolutismus suchten die revolutionären Kräfte nach einem Imperativ gemeinschaftlicher Kooperation, ohne den der notwendige Schulterschluss der bürgerlichen Gruppen mit den ärmeren Schichten nicht möglich schien. Die Solidarität der Kirche, die in Form von „Mildtätigkeit“ und „Barmherzigkeit“ ausgeübt wurde, schien ungeeignet, da sie zunehmend als für die Armen demütigend und herablassend empfunden wurde.20 Die Sozialisten hielten die sozial-karitativen Tätigkeiten für ein Unterdrückungsmittel der Führungsschichten des Klerus und der absolutistischen Herrschaft.21 Daher bedurfte es einer separaten theoretischen Bewegung, die eine eigene Kategorie von Solidarität begründete. Als Erster löste Leroux die Solidarität aus dem kirchlichen Paradigma und der engen Bedeutung des römischen Rechts.22 Bei ihm wird Solidarität als Sorge um alle Menschen zum „ersten sozialen Prinzip“.23 In der phy­ sique sociale, der grundlegenden Naturwissenschaft der Gesellschaft nach Comte, spielten dann schon intergenerationelle Interdependenzen eine tragende Rolle. „Solidarisch sind nicht nur die Individuen und Völker einer und derselben Zeit, sondern auch die aufeinanderfolgenden Generationen wirken an demselben mit. Jede hat dabei ihren ‚bestimmten Anteil‘, und ihre Verbin­ dung in der Zeit erzeugt eine ‚noch edlere und vollkommenere Auffassung der

18  Chateaubriand, Le Génie du christianisme, Buch 1, Kapitel 6: „[I]l nous dit que nos fautes rejailliront sur nos fils, que nous sommes tous solidaires.“ 19  Ballanche, Essai sur les institutions sociales, S. 194: „L’homme enfin ne peut séparer sa destinée de celle de ses semblables; et le genre humain tout entier est solidaire.“ 20  Vgl. Schmelter, Solidarität, S. 10 f. 21  Laubier, Das soziale Denken der katholischen Kirche, S. 53. 22  Vgl. Gide / Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, Bd. 1, S. 285. 23  Ramm (Hrsg.), Der Frühsozialismus – Ausgewählte Quellentexte, Stuttgart 1956, S. 10.



A. Solidarität als Rechtsprinzip39

menschlichen Einheit‘.“24 Grundlage solidarischer Gesellschaften ist für Comte das mit der Industriellen Revolution verknüpfte Phänomen der Arbeitsteilung. Durch sie wird eine „Verbindung eines jeden mit allen“ erzeugt, die so stark ist, dass „unwillkürlich das tiefe Gefühl der sozialen Solidarität zu aller Zeit und an allen Orten zum innerlichen Erlebnis werden muss.“25 Die notwendige Interdependenz in der modernen Arbeitswelt führte Comte damit zu der Annahme, dass der Einzelne „nur über sein physisches, intel­ lektuelles, moralisches Wissen nachzudenken“ brauche, „um zu merken, was er der Gesamtheit seiner Vorgänger verdankt.“26 Diese emotionale Komponente innerer Verbundenheit des Einzelnen wird am ehesten mit „Gemeinsinn“ oder „Zusammengehörigkeit“ ausgedrückt. Dennoch verblieb der Solidarität neben der populären Revolutionslosung „Fraternité“ zunächst kaum Platz.27 2. Nach der Revolution: Überführung des überkommenen Begriffs Fraternité Auch nach dem Ende des Absolutismus blieb das soziale Gefüge von einer Abschichtung in Klassen geprägt. Formal waren die früheren Stände zwar aufgelöst oder durch Hypergamie vermischt. Eine zurückbleibende Gruppe nahm mangels Vermögen dennoch nicht am gesellschaftlichen und politischen Leben teil. Dieser „Vierte Stand“28 konnte lediglich seine Arbeitskraft bedingungslos zur Verfügung stellen. Als unterstes Glied der sozialen Hierarchie war er naturgemäß besonders von Armut und Elend betroffen und blieb auf Unterstützung angewiesen. Diese erfuhr er meist in Form karitativer Einrichtungen kirchlichen Ursprungs. Folglich traten die noch von Leroux und anderen Frühsozialisten bekämpften Formen der als Mildtätigkeit und Barmherzigkeit geübten Solidarität wieder auf.29 Das Versprechen an die Massen, sozial gerechte Lebensverhältnisse zu schaffen, wie es sich vor allem in der Losung „Fraternité“ ausgedrückt hatte, wurde im Hinblick auf die aufkommende Arbeiterklasse enttäuscht. Mit dem Verblassen des Revolutionseifers der 1848er wurde schließlich auch „Fraternité“ obsolet. Aufgrund der jedoch längst verinnerlichten Vorstellungen sozia­ ler Interdependenz sollte wieder ein Raum für den Begriff der „Solidarité“

24  Levy-Bruhl,

Die Philosophie Auguste Comtes, S. 251. Cours de philosophie positive, Bd. IV, S. 252. 26  Levy-Bruhl, Die Philosophie Auguste Comtes, S. 252. 27  Schmelter, Solidarität, S. 12, vermutet darin den Grund für die fehlenden Nachweise in den zeitgenössischen Wörterbüchern. 28  Vgl. Riehl, Bürgerliche Gesellschaft, S. 342 ff. 29  Vgl. Schmelter, Solidarität, S. 10. 25  Comte,

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1. Kap.: Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

entstehen.30 Es blieb indes schon damals zu bezweifeln, ob die beiden Begriffe überhaupt verschiedene Bedeutungen hatten.31 IV. Justitiable Solidarität: Die Lehre von den Quasi-Kontrakten Nach der Lösung aus der engen Definition des römischen Rechts und aus der Domäne der Kirche sowie nach der soziologischen Anreicherung mit intergenerationellen Elementen erfuhr die Solidarität – fasst man sie nun mit Leroux normativ als „erstes soziales Prinzip“ oder mit Comte als Fakt im Rahmen der sozialen Dynamik auf – durch den Führer der radikal-sozialistischen Partei und späteren Friedensnobelpreisträger Léon Bourgeois eine Konkretisierung vom metaphysischen Konzept hin zur juristischen Formel, die bei ihm quasi-contrat (Quasikontrakt) heißt. Darunter versteht Bourgeois in Anlehnung an Art. 1371 bis 1381 des französischen Code Civil ein Institut, mittels dessen der Mensch bereits durch seinen Eintritt in die menschliche Gesellschaft „ein Schuldverhältnis dieser, der Vorwelt und den Zeitge­ nossen gegenüber“32 eingeht. Dieses Schuldverhältnis beruhe auf einer natürlichen Solidarität, d. h. auf dem Umstand der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, etwa Familie, Nachbarschaft oder der Gesellschaft als Ganzes. Diese Assoziationen führen nach Bourgeois zu einer natürlichen Bindung ohne vorherige Willensäußerung des Einzelnen, wie sie vom zeitgenössischen französischen Recht in Form der Quasi-Kontrakte, und im Falle der Schädigung in der Form der Quasi-Delikte, anerkannt würden. Diese (rechtlichen) Bindungen existierten durch tatsächliche Interdependenz und bedürften als solche nicht der gesetzlichen Konstitution: „Dort, wo die Notwendigkeit der Dinge die Menschen in Beziehungen zu einander setzt, ohne dass ihr vorhergehender Wille die Bedingungen des abzuschließenden Vertrages vereinbaren konnte, wird das Gesetz, das diese Bedingungen fest­ stellt, nur eine Interpretierung und eine Vertretung der Übereinkunft sein, die vorher hätte stattfinden müssen, wenn die Beteiligten hätten gefragt werden können. Die Präsumtion der Zustimmung, die sie gegeben hätten, wird die einzige Grundlage des Rechtes sein. Der Quasikontrakt ist nichts anderes als das retroaktive Zugestehen eines Vertrages.“33 Schaffe die grundsätzlich ge30  Waha,

Die Nationalökonomie in Frankreich, S. 431. diesem Zusammenhang stellt Bourgeois, Solidarité, S. 1. treffend fest: „On a semblé d’abord le prendre comme une simple variante (…) de la devise républicai­ ne: fraternité.“ (Ihr (Solidarität) Gebrauch erschien zunächst wie eine bloße Variante der republikanischen Losung: Fraternité.) 32  Vgl. Waha, Die Nationalökonomie in Frankreich, S. 434. 33  Bourgeois, Solidarité, S. 132: „Là où la nécessité des choses met les hommes en rapport sans que leur volonté préalable ait pu discuter les conditions de l’arrangement 31  In



A. Solidarität als Rechtsprinzip41

rechtigkeitsneutrale (ajuste) natürliche Solidarität im Sinne von in Systemen wie Familie, Volk oder Staat bestehender natürlicher Verbundenheit und Abhängigkeit voneinander Disparitäten, müsse die Gerechtigkeit mittels des Quasi-Kontrakts einen Ausgleich schaffen. Die so angepasste Solidarität ist nicht mehr natürlich, sondern eine gewillkürte Form, die bei Bourgeois zum ethischen Prinzip und damit zur moralischen Pflicht wird: „Solidaritätstat­ sache, Solidaritätspflicht! Verwechseln wir niemals Eins mit dem Anderen, denn sie sind Gegensätze. Es war aber unumgänglich nötig, die erste festzu­ stellen, um die moralische Notwendigkeit der zweiten zu erkennen.“34. Um kommutative Gerechtigkeit zu erreichen, trägt z. B. ein Unternehmer, der aufgrund vorangegangener Arbeitsleistungen seiner Mitarbeiter zu Wohlstand gekommen ist und daher aufgrund natürlicher Solidarität (Interdependenz) besser gestellt ist, die moralische Pflicht, einen Ausgleich zu leisten. Da die Schuld selbst in den meisten Fällen nicht ziffernmäßig feststellbar sein wird, wäre die Zahlung der sozialen Schuld eines jeden an alle am ehesten durch die Verteilung der Risiken und Vorteile auf alle Mitglieder der Gesellschaft zu bewerkstelligen.35 Mit dem Prinzip des Quasi-Kontrakts der Solidarität hat Bourgois bereits das moderne Solidaritätsverständnis als ethisches Prinzip geprägt. Solidarpflichten erwachsen nicht aus der natürlichen Bevor- oder Benachteiligung36 sondern aus dem menschlichen Streben nach Gerechtigkeit innerhalb seiner natürlichen Assoziationen, eben der Gesellschaft. Seine Verankerung der Solidarität als justitiable Verpflichtung ist prägend für das moderne Verständnis von Solidarität, das in wesentlichen Prinzipien moderner Staatsverfassungen Einklang gefunden hat. Die Loslösung von eng umgrenzten Definitionen des römischen Rechts einerseits und die Entkleidung des religiös angereicherten Moralbegriffs der Solidarität andererseits entwickelt bereits den modernen Solidaritätsbegriff, der Grundlage dieser Untersuchung sein soll. Die duale Natur solidarischer Bindungen als gegebene à intervenir, la loi qui fixera entre eux ces conditions ne devra être qu’une interpré­ tation et une représentation de l’accord qui eût dû s’établir préalablement entre eux s’ils avaient pu être également et librement consultés: ce sera donc la présomption du consentement qu’auraient donné leurs volontés égales et libres qui sera le seul fondement du droit. Le quasi-contrat n’est autre chose que le contrat rétroactivement consenti.“ 34  Bourgois, Essai d’une Philosophie de la Solidarité, S. 17. 35  Bourgeois spricht von der „Mutualisierung der Risiken und Vorteile“; vgl. Waha, Die Nationalökonomie in Frankreich, S. 437. 36  Vgl. die fehl gehende Kritik des naturalistischen Fehlschlusses von Brune­tière, L’idée de solidarité, S. 63 ff.; Fiegle, Von der Solidarité zur Solidarität, S. 144 m. w. Nachw., weist zurecht darauf hin, dass Bourgois die moralische und schließlich juristische Verpflichtung aus dem den Menschen inhärenten Gefühl der Gerechtigkeit folgert; vgl. auch Bourgeois, Essai d’une Philosophie de la Solidarité, S. 13.

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1. Kap.: Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

Interdependenzen und Solidarpflichten zugleich findet sich im Normativen wieder. Als Rechtsbegriff ist die Solidarität aufgespalten in die Berechtigung zur Anteilhabe an einer gerechten Chancen- und Ressourcenverteilung (Leistungsdimension, „Alle für Einen“) und in die auch untereinander durchsetzbare Verpflichtung zum Einsatz eigener Kräfte zum Wohl der übergeordneten Gruppe (Verpflichtungsdimension, „Einer für Alle“), sei sie Volk, Land oder Weltgemeinschaft.37

B. Solidarische Implikationen der Finanzverfassung Einen besonders manifesten Ausfluss hat das Solidaritätsprinzip in der Beschaffenheit der einzelstaatlichen Finanzverfassungen oder Finanzordnungen gefunden. Als „Spiegelbild der Staatsverfassung“38 geben sie einen deutlichen Einblick in die Funktionsweise der föderalistischen Solidaritätsmechanismen als ausdrückliche Manifestationen solidarischer Grundzüge in den jeweiligen Staatsverfassungen.39 Der prägende Charakter des Zusammenspiels der verschiedenen Finanzprinzipien – vor allem Autonomie versus Gleichheit und Ausgleich – verleiht dem Bundesstaat erst sein Profil.40

37  Gussone, Das Solidaritätsprinzip, S. 47 spricht von „leistender“ und „respek­ tierender“ Solidarität. Letztere bezieht sich vor allem auf „eine gewisse Art der Ein­ stellung und die Grundbereitschaft zur Regelbefolgung und Förderung des Gemein­ wohls von den Gliedern einer Gemeinschaft“. 38  Koller, Der öffentliche Haushalt als Instrument der Staats- und Wirtschaftslenkung, S. 39; Jörg, Finanzverfassung und Föderalismus in Deutschland und der Schweiz, S.  34 f.; Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, S. 90. 39  Die geringe Verbindlichkeit, die sich aus der Begriffsverwendung allein ergibt, zeigt sich in den expliziten Nennungen von Solidarität im Wortlaut; z. B. Art. 7bis der belg. Verf. („Der Föderalstaat, die Gemeinschaften und die Regionen verfolgen bei der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung in deren sozialen, wirtschaftlichen und umweltbezogenen Aspekten unter Berücksichtigung der Solidarität zwischen den Generationen.“); Art. 2 der ital. Verfassung („Die Republik (…) fordert die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität.“); Präambel der Schweizer Bundeverfassung („im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken“); Art. 2 der span. Verfassung („Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen (…) und die Solidarität zwischen ihnen“). 40  Vgl. Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn.  22.



B. Solidarische Implikationen der Finanzverfassung 43

I. Distribution Zentrale Richtungsentscheidung der finanziellen Solidarität ist die Verteilung von Kompetenzen auf die verschiedenen Ebenen des föderalen Systems.41 Der Aufgabenverteilung folgt gemeinhin die Pflicht zur entsprechenden Ressourcenausstattung (Konnexitätsprinzip).42 Die nachrangige aufgabenadäquate Einnahmenverteilung unterliegt meist der Verantwortung der Zentralebene. Die Erhebung der Einnahmen dagegen – in Form von Steuern und anderen Abgaben – ist präjudiziert durch die Art der Abgabe. So muss die Einkommensbesteuerung größtenteils durch die Zentralebene vorgenommen werden, um Abwanderungen zu verhindern, während das Aufkommen regionaler Güter als Äquivalent für die Angebotsleistung dem jeweiligen Gliedstaat vorbehalten bleiben kann.43 Im Verbund von Gliedstaaten mit durch Topographie, historische Entwicklung oder Aufkommen natürlicher Ressourcen bedingt heterogenen wirtschaftlichen Voraussetzungen ist die aufgabenadäquate Finanzausstattung meist enorm schwierig und oft Ursache von regionalen Konflikten.44 Deshalb weisen föderale Ordnungen meist ein komplexes System an Differenzierungen in der Mittelausstattung auf, um unterschiedliche Ausgangslagen der Gliedstaaten möglichst auszugleichen.45 II. Redistributive Finanztransfers In föderalen Ordnungen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Disparitäten in der finanziellen Ausstattung der konstituierenden Glieder (Re­ gionen, Bundesländer, states) nur bis zu einem bestimmten Grad akzeptabel sind. Folge solchen Auseinanderdriftens kann letztlich wegen der in einer föderalen Ordnung vorherrschenden Mobilität der Bürger (Abwanderung) die Erosion der Steuerbasis sein, wodurch die Finanzkraftunterschiede weiter verstärkt werden. Dieser Prozess droht zumindest dann bestandsgefähr41  Vgl. Häde, Finanzausgleich, S.  1; sog. „passiver Finanzausgleich“, siehe Peffekoven, Finanzausgleich I: Wirtschaftstheoretische Grundlagen, in: HdWW, Bd. 2, S. 608 (609). 42  Vgl. etwa in Deutschland Art. 104a Abs. 1 GG; in Österreich §§ 2, 4 FinanzVG i. V. m. §§ 5 Ö-FAG (2008); dazu im 2. Kapitel. 43  Lienemeyer, Die Finanzverfassung der EU, S. 49 f. 44  Wenig überraschend folgen demnach trotz langer Historie verstärkte substaatliche Separationsbestrebungen meist auf den Fuße wirtschaftlicher Entwicklungssprünge der betroffenen Regionen; so etwa in Belgien (Flamen), Spanien (Katalo­ nien) und im Vereinigten Königreich (Schottland); dazu im 2. Kapitel. 45  Siehe z. B. die differenzierten Zuschussfaktoren bei den amerikanischen match­ ing grants (dazu im 2. Kapitel unter A. II. 2. a)) oder die Zuteilungsformeln im Vereinigten Königreich (Barnett-Formel, dazu im 2. Kapitel unter B. III. 3.).

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1. Kap.: Konstitutive Grundlagen finanzieller Solidarität

dend zu werden, wenn die substaatlichen Einheiten ihren jeweiligen Bürgern nicht mehr eine vergleichbare Grundausstattung an essentiellen Einrichtungen und Dienstleistungen – zu denken ist hier vor allem an Gesundheitsversorgung, Infrastruktur und Sicherheit – bieten können. So entsteht aus einer disparaten Finanzausstattung ein kohäsionsfeindlicher Abtrieb, der letztlich bestandsgefährdend am Gesamtverbund zerrt.46 Die Gefahr einer solchen Entwicklung zeigt sich in allen föderalen Ordnungen. Daher sehen föderale Ordnungen entsprechende Ausgleichsmechanismen vor, um einem Auseinanderklaffen der Finanzausstattungen ihrer substaatlichen Glieder entgegenzuwirken. Die Spannbreite solidarischen Ausgleichs reicht dabei von horizontalen Transfers der substaatlichen Einheiten untereinander (Deutschland) bis zu zweckgebundenen Zuweisungen der Bundesebene mit geringeren Angleichungsabsichten und -wirkungen (USA, Vereinigtes Königreich). Hinzu treten unterschiedliche Dezentralisierungsgrade, die zum Hauptteil kulturell-historisch bedingt sind. III. Solidarischer Beistand Während das Hauptaugenmerk der Finanzverfassung grundsätzlich auf der gerechten Zuteilung und Verteilung von Aufgaben und Ressourcen liegt, zeigt sich ihre Stärke bezüglich der Belastbarkeit der jeweiligen föderalen Ordnung oftmals erst im Fall extremer Notlagen einzelner Glieder. Die Unterstützung in Notlagen charakterisiert nämlich den Solidarverband.47 Gerät z. B. ein Gliedstaat eines föderalistischen Landes in eine extreme Haushaltsnotlage, kommt es zum solidarischen „Schwur“ zwischen den übrigen Gliedern. Dann stellt sich die Frage, ob und inwiefern dem notleidenden Gliedstaat geholfen werden kann. Mitunter werden schmerzhafte Opfer abverlangt und enorme Beträge aus den einzelnen Budgets der Gliedstaaten umverteilt. Hier zeigt sich nicht nur die Tragfähigkeit und Flexibilität föderaler Verteilungsmechanismen. Da Handlungsverantwortlichkeiten den Entscheidungsbefugnissen folgen, zeigt sich in diesen Fällen auch der grundsätzliche föderale Schwerpunkt im jeweiligen System. Wird primär die Zentralebene aktiviert, um in der Not zu helfen, ergibt sich daraus ein geringerer Dezentralisierungsgrad, als wenn die Zentralebene lediglich administrativ tätig würde und die Gliedstaaten die (finanzielle) Primärverantwortung trügen.

46  Vgl. 47  Für

Watts, Comparing Federal Systems, S. 108 f. die EU angenommen bei Schröder, in: FS Scheuing, S. 690 (700).

2. Kapitel

Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen A. Föderalstaaten I. Deutschland Der deutsche Bundesstaat folgt staatstheoretischen Grundlagen der föderalistischen Theorie (duplex regimen) und zeitigt zugleich autochthone Besonderheiten. Die Länder bilden dem Bund gleichgeordnete Einheiten. Gleichwohl trägt der Bund als Gesamtstaat die Föderation. Somit ist er zugleich Glied des Ganzen und dessen Garant.1 Daraus folgt ein vielschichtiges Gebilde aus Über- und Unterordnung. 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander Die Komplexität der Verflechtungen im deutschen Bundesstaat zeigt sich pars pro toto im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG) und der Ausführungskompetenzen (Art. 83 ff. GG).2 In ihrer Funktion sind die Länder grundsätzlich autonom. Allerdings ergeben sich aus den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Besonderheiten, die eine völlige Befreiung von externen Abhängigkeiten im Sinne einer idealtypischen Autarkie verhindern und eine gemeinschaftliche Koordinierung erfordern. 2. Wirtschaftspolitischer Zusammenhang des Bundeshaushalts und der Länderhaushalte: Das „kooperative“ Finanzgefüge des Grundgesetzes Auch in der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik ist die Wirtschaft eine nationale. Trotz der politischen Aufteilung in Gliedstaaten bleiben die einzelnen Haushaltswirtschaften „Ausschnitte des staatlichen ­ 1  Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 208; Kämmerer, in: Vitzthum /  Winckelmann (Hrsg.), Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas, S. 195 (210). 2  Zum Rangverhältnis der Länder vgl. Isensee, in: Isensee  /  Kirchhof (Hrsg.), HdBdSR Bd. VI, § 126, Rn. 98 ff.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Gesamthaushalts“.3 Die Interdependenz der einzelnen Bundesländer mag mitunter durch Standortwettbewerbe verdeckt sein. Dennoch geht ihre Finanzwirtschaft auf dasselbe „wirtschaftliche Substrat“ des Nationaleinkommens zurück.4 So geht das Grundgesetz in seinem X. Abschnitt auch von einer einheitlichen deutschen Finanzmasse aus.5 Die Einheitlichkeit des Einnahmentopfes wirkt zugleich auf die grundsätzlich „selbständige und unabhängige“ Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern zurück.6 Zentralstaatliches Handeln auf Gebieten, welche die Einheit der Staatsfinanzwirtschaft betreffen, ist ausdrücklich vom Grundgesetz mandatiert.7 Dabei ist der Staat in der Abkehr von liberalstaatlichen Trennungsvorstellungen – der Staat als Nachtwächter8 der freien Märkte – und der rein bedarfsorientierten staatlichen Betätigung in der Wirtschaft zum zentralen Funktionsträger im Wirtschafts- und Sozialbereich geworden.9 Eine Zersplitterung in einzelne Ländervorstellungen zur Gesamtwirtschaft wäre derlei Globalsteuerung hinderlich. Nur in föderaler Kooperation kann die Aufgabe der Konjunktursteuerung im Sinne einer Wachstumsvorsorge10 wahrgenommen werden. Dementsprechend verpflichtet Art. 109 Abs. 2 GG Bund und Länder gleichermaßen auf die Beachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die Bestimmung geht über eine isolierte Kontrolle der Haushaltswirtschaft hinaus. Sie ist als eine Verpflichtung für die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik in Bund und Ländern zu verstehen.11 Art. 109 Abs. 2 GG betraut Exekutive und Legislative in Bund und Ländern gleichermaßen mit der Pflege und Entwicklung der Gesamtwirtschaft.12 An diesem Ziel hat sich die fiskalische Planung der föderalen Entscheidungsträger zu orientieren. Es ist die normative Folge der 3  Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland, S. 16. 4  Friauf, VVDStRL 27 (1969), S. 31. 5  Friauf, VVDStRL 27 (1969), S. 79. 6  Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, S. 79. 7  Vgl. Grawert, Der Staat 7 (1968), S.  81  f.; vgl. für das Währungswesen BVerfGE 4, 60 (73); Badura, AöR 92 (1967), S. 387. 8  Vgl. den klassischen Ausdruck dieses Minimierungspostulats bei Say, Traité d’économie Politique, Bd. 2, S. 298: „Le meilleur de tous les plans de finance est de dépenser peu, et le meilleur de tous les impôts est le plus petit.“ (Der beste von allen Finanzplänen besteht darin, wenig auszugeben, und die beste aller Steuern ist die geringste.) 9  Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht AT, S. 67; Stern, Staatsrecht II, S. 1077. 10  Ipsen, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 13. 11  Badura, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Bes. VerwR, S. 2 (265 f.). 12  BVerfGE 79, 311 (331); die ökonomische Ratio des Art. 109 Abs. 2 GG folgt ganz entscheidend dem Keynes’schen Konzept der antizyklischen Konjunktursteuerung, die hauptsächlich von Keynes’ Schülern propagiert und in den makroökono-



A. Föderalstaaten47

ökonomischen Interdependenz und zwingt die Länder, die durch das Schicksal der politischen Aufteilung grundsätzlich selbständig sind, zu kooperativer Abstimmung untereinander. Stabilität der Gesamtwirtschaft ist dabei lediglich der ökonomisch gefasste Fortbestand des Bundes mittels Ordnung und Ausbalancierung der unterschiedlichen Wirtschaftskraftverhältnisse. In diesem übergeordneten Ziel verwirklicht sich das Solidarprinzip als gleichartige Verpflichtung gleichberechtigter Glieder, indem die tatsächliche Verbundenheit (Interdependenz) in eine korrespondierende Verpflichtung zu Kooperation und Rücksichtnahme erwächst. Entsprechend der grundlegenden staatsökonomischen Ausrichtung zur sozialen Marktwirtschaft13 sorgt dabei der Bund lediglich für die bedürfnisgerechte Verteilung der Ressourcen, die weitestgehend nach Marktgesetzen generiert werden.14 Konkretisiert wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Stabilitätsgesetz15, das in § 1 S. 2 den Verfassungsauftrag auf Maßnahmen konzentriert, die im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.16 Damit geht indes keine Pflicht einer antizyklischen Haushaltspolitik einher.17 Die zur Zeit der Einführung des Art. 109 Abs. 2 GG18 und des Stabilitätsgesetzes in Politik vorherrschende Präferenz für deficit spending19 sollte keine makroökonomische Universalität beansprumischen Mainstream eingeführt wurde; vgl. Samuelson / Nordhaus, Economics, S.  487 ff.; Schneider, HdWW Bd. 1, S. 494 ff. 13  Das Grundgesetz selbst legt demgegenüber keine bestimmte Wirtschaftsordnung fest, sondern schreibt für die zukünftige Gestaltung gewisse Grenzen vor, etwa aus dem Sozialstaatsprinzip; siehe dazu Di Fabio, in: Maunz  /  Dürig, Art. 2 GG [Stand: Juli 2001], Rn. 76. 14  Vgl. Larsen, Am. J. Comp. L. 47 (1999), S. 429 (467). 15  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, BGBl. I, S. 2407. 16  Mangels Kompetenz zur Inhaltsbestimmung kann der Gesetzgeber die Verfassungsbestimmung zwar nicht einfachgesetzlich interpretieren. Dennoch ist nach herrschender Auffassung der § 1 S. 2 des Stabilitätsgesetzes authentischer Ausdruck des Verständnisses des Verfassungsgesetzgebers, vgl. Hillgruber, in: v.  Mangoldt / Klein /  Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Art. 109, Rn. 72; Scheuner, in: FS Schäfer, S. 109 (114). 17  Hillgruber, in: v. Mangoldt  /  Klein  /  Starck, Bonner Grundgesetz Kommentar, Art. 109, Rn. 96. 18  Vgl. Kube, in: Maunz / Dürig, Art. 109 GG [Stand: Mai 2011], Rn. 16 f.; Stern, Staatsrecht II, S. 1075 ff. 19  Das Konzept erlebt in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise eine erstaunliche Renaissance; vgl. Möschel, ZRP 2009, 129; Keegan, J. Int’l Bus. & L. 8 (2009), S. 1 (6); vgl. die zahlreichen Maßnahmen nur des deutschen Gesetzgebers

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

chen.20 Der Verfassungsgesetzgeber zeigte sich vielmehr offen gegenüber möglichen neuen Erkenntnissen in der Volkswirtschaftslehre, die neue Instrumentarien der Wirtschaftshege und -pflege mit sich bringen, ohne den Rahmen marktwirtschaftlicher Ordnung zu sprengen.21 Im Zuge der jüngsten Föderalismusreform, die vor allem die Eindämmung öffentlicher Haushaltsdefizite im Blick hatte (sogenannte „Föderalismusreform II“), ist die Verpflichtung zur Beachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auf die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (ESWP) bezogen worden. Dadurch wird der europarechtliche Stabilitäts- und Wachstumspakt zum verfassungsrechtlichen Formalkriterium für die ordnungsgemäße Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern.22 3. Länderfinanzausgleich zwischen gerechter Kostenverteilung und Homogenitätsbestrebungen Zentrale Frage der bundesstaatlichen Ordnung ist die kompetenzielle Verteilung von Staatsaufgaben auf Bund und Gliedstaaten. Im Sinne einer „funktionellen“23 Souveränität tragen dabei die Länder und der Bund grundsätzlich die Kosten selbst, die sich aus den ihnen jeweils zugewiesenen Aufgaben ergeben.24 Diese verfassungsrechtliche Verteilung der Aufgaben und Kosten mittels Art. 104a GG bedingt eine entsprechende Verteilung des Finanzaufkommens.25 Die „funktionelle“ Souveränität insbesondere der Länder ließe sich ohne entsprechende Finanzausstattung gar nicht bewerkstelligen.26 „Erst dadurch kann die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden, können sich Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufga­ benwahrnehmung entfalten.“27 Daher war bereits in der Reichsverfassung von 1871 eine vertikale Zuweisung der Staatsfinanzen vorgesehen.28 Die horizonim Jahreswirtschaftsbericht 2009 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, S.  79 ff. 20  Anders noch die Rechtsauffassung der Bundesregierung in ihrem Gesetzesentwurf, BT-Drs. 5 / 890 S. 11. 21  Vgl. Vogel, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBdSR Bd. IV, § 87, Rn. 17. 22  Vgl. Begründung Reg-E Gesetz zu Änderung des Grundgesetzes vom 24. März 2009, BT-Drs. 16 / 12410, S. 10. 23  Vgl. Schneider, NJW 1991, 2448 (2449). 24  Vgl. BVerfGE 26, 338 (390 f.); BVerfGE 14, 221 (233 f.); BVerwGE 44, 351 (364). 25  BVerfGE 9, 305 (328 f.). 26  Vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 107 GG [Stand: 1983], Rn. 7. 27  BVerfGE 72, 330 (383). 28  Vgl. den Überblick über die Verteilungsregeln in der Reichsverfassung in BVerfGE 1, 117; dazu auch Tomuschat, in: FS Pescatore, S. 755. Die Abhängigkeit



A. Föderalstaaten49

tale Verteilung, d. h. der Ausgleich von Finanzierungsdiskrepanzen zwischen den einzelnen Bundesländern, ist dagegen allmählich entstanden. Die aktuelle Konzeption der Bundesfinanzverfassung sieht ein zweigliedriges System aus vertikaler (Bund-Länder) und horizontaler (Land-Land) Redistribution aus dem Steueraufkommen der Länder und des Bundes vor. Die horizontale Stufe unterteilt sich ebenfalls noch in die Verteilung des Steuerbetrags nach dem örtlichen Aufkommen und der ergänzenden Zuteilung von Umsatzsteueranteilen zum Ausgleich schwacher Finanzausstattungen. Der erste Entwurf von Ausgleichsmaßnahmen des Parlamentarischen Rates sah vor, dass der Bund Mittel hierfür zur Verfügung stellen sollte. Er war nach Intervention vonseiten der Alliierten,29 denen an dezentralisierter Staatsgewalt in Deutschland und an „unabhängigen Einnahmequellen“ für die Bundesländer gelegen war, aufgegeben worden.30 Stattdessen wurde der Bund lediglich in Art. 106 Abs. 3 GG a. F. ermächtigt, den Ländern für spezielle Verwaltungsaufgaben ergänzende Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu gewähren, der sich auch aus Anteilen aus dem Steueraufkommen der Länder (Einkommens- und Körperschaftssteuer) speisen sollte. Gleichzeitig sah Abs. 4 eine Umverteilung eines Teils der Steueraufkommen der Länder zugunsten steuerschwacher Länder vor. Der Bund sollte nach dem Willen der Alliierten nur als Treuhänder fungieren, der die Mittel, die er bestimmten Steuern der Länder entnommen hatte, unmittelbar wieder an die finanzschwachen Länder weitergeben sollte (Art. 106 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 GG a. F.).31 Einigkeit bestand darüber, dass die Bezeichnung „Zuschüsse“ in Abs. 3 nicht über den Charakter eines Finanzausgleichs hinwegtäuschen konnte.32 Das System wurde zunächst nur als Provisorium vereinbart. Gemäß Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG a. F. sollte eine Nachfolgeregelung durch zustimmungspflichtiges Bundesgesetz erfolgen. Mit dem Finanzverfassungsgesetz33 wurden u. a. die Steuererträge nach Steuerarten den staatlichen Ebenen zugewiesen. Der Bund erhielt die Erträge aus der Umsatzsteuer, der Beförderungssteuer und den Verbrauchsder Länder von „Matrikularbeiträgen“ des Bundes wäre in der heutigen föderativen Ordnung des Grundgesetzes dagegen undenkbar, vgl. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 109 GG [Stand: 1979], Rn. 6. 29  Memorandum vom 2. März 1949 bei Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2, S. 210, 212. 30  Vgl. Wernsmann in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.  107 GG [Stand: Dezember 2011], Rn. 3. 31  Vgl. BVerfGE 1, 117 (138 f.). 32  Vgl. Wernsmann in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.  107 GG [Stand: Dezember 2011], Rn. 5; dazu auch BVerfGE 1, 117 (135). 33  Gesetz zur Änderung der Finanzverfassung vom 23. Dezember 1955, BGBl. I, S. 817.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

steuern, soweit diese nicht den Ländern zugewiesen waren. Die Länder erhielten das Aufkommen aus Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Kraftfahrzeugsteuer, Biersteuer, sowie die Realsteuern und die Abgaben der Spielbanken. Für das Aufkommen aus Einkommen- und Körperschaftssteuer wurde ein Steuerverbund zwischen Bund und Ländern gegründet. Die Verhandlungsführer von Bund und Ländern konnten sich bei der Verteilung innerhalb des Steuerverbunds nur auf einen zeitlich befristeten Maßstab von zunächst 33 ⅓ vom Hundert der Anteile für den Bund und 66 ⅔ vom Hundert für die Länder einigen (vgl. Art. 106 Abs. 3 GG a. F.).34 Die alsbald erforderliche Anpassung der Finanzverfassung mittels des Finanz­ reformgesetzes35 band die Einkommensteuer- und die Körperschaftssteuerverteilung an feste, d. h. zeitlich unbefristete Quoten und überführte gleichzeitig die Umsatzsteuer in den Steuerverbund. Die Zuteilung der Umsatzsteueranteile bedurfte dagegen der Aushandlung. Das Deckungsquotenprinzip, wonach Bund und Länder im Rahmen ihrer laufenden Einnahmen gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben haben (Art. 106 Abs. 3 u. 4 GG) bot allenfalls einen groben Maßstab. Damit war neuer Grund für Streit geschaffen. Eine Einigung über die Quoten der Umsatzsteuerverteilung konnte in der Folge jeweils nur für zwei bis drei Jahre erzielt werden.36 Im Grundsatz war damit jedoch das Finanzausgleichssystem geschaffen, das – abgesehen von kleineren Unterbrechungen im Einigungsprozess ab dem Jahr 198937 – bis heute fortbestanden hat. Zuletzt konnte eine dauerhafte Regelung der genauen Umsatzsteuerverteilung, das Kernstück des Ausgleichs, mittels des Finanzausgleichsgesetzes (FAG)38 erreicht werden. Dadurch entstand letztlich ein flexibles einfachgesetzliches Gerüst, das den Veränderungen der Zeit – seien sie makroökonomisch, politisch oder föderalistisch bedingt – angepasst werden kann. Die gegenwärtige Konzeption des Finanzausgleichs trägt so dem Umstand teils sehr unterschiedlicher Steueraufkommen und den Disparitäten von Aufgaben (auch mit Bundesbezug) und Einnahmen der Länder durch einen komplexen Ausgleichsmecha34  Das System führte bereits im Jahr 1962 zu solchen Fehlbeträgen, dass mittels Staatsvertrag ein Sonderausgleich notwendig wurde, vgl. Stern, Staatsrecht II, S. 1134. 35  Einundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969, BGBl. I, S. 359. 36  Die genaue Quote blieb ständiger Zankapfel der föderalen Diskussionsparteien, vgl. Vogel, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBdSR Bd. IV, § 87, Rn. 9. 37  Vgl. Huber, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage, Art. 107, Rn. 4. 38  BGBl. I 1993 S. 977; mittlerweile ersetzt durch FAG (2005), BGBl. I 2001, S. 944; zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 27. Mai 2010, BGBl. I, S. 671.



A. Föderalstaaten51

nismus Rechnung. Durch den Hebel der Finanzverwaltung wird somit die finanzielle Ausstattung der einzelnen Länder den Proportionen ihrer Aufgaben gemäß angeglichen und ihnen trotz unterschiedlicher Leistungsfähigkeit ein gleichmäßiges Mindestmaß an Autonomie gewährt.39 Eine völlige Nivellierung ist dagegen nicht gewollt und wäre auch nicht im Sinne der Eigenstaatlichkeit der Länder.40 a) Normative Grundlage Grundlage des Finanzausgleichs ist Art. 107 GG i. V. m. dem Maßstäbegesetz41. Darin sind die abstrakten Maßstäbe des Verteilungssystems verfassungskonkretisierend festgelegt. Art. 107 Abs. 2 GG enthält den grundlegenden bundesstaatlichen Angleichungsauftrag, der nach dem „Grundgedanken einer bundesstaatlichen Gemeinschaft finanzautonomer Länder“ solidargemeinschaftliche Annäherung vorsieht.42 §§ 1 ff. FAG bestimmt dagegen die genauen Modalitäten und Beträge. Die Errichtung allgemeiner Maßstäbe (MaßstG) und die daraus folgende Ableitung konkreter Beträge (FAG) geht zurück auf die Forderung des BVerfG, mittels langfristiger, im Rahmen kontinuierlicher Planung fortzuschreibender Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe eine „rein interessenbestimmte Verständigung über Geldsummen“ auszuschließen.43 Die zuvor stets kurzfristig ausgehandelten Kompromisse bei der Schaffung der Ausgleichsmaßstäbe und -faktoren waren dem tragenden solidarischen Charakter des Finanzausgleichs im Bundesstaat nicht gerecht geworden.44 Die langfristige Ausrichtung des bundesstaatlichen Fi-

Jung, Maßstäbegerechtigkeit im Länderfinanzausgleich, S. 128. Maunz, in: Maunz / Dürig, Art. 107 GG [Stand: 1983], Rn. 8; BVerfGE 72, 330 (398); BVerfGE 116, 327 (380); Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs gem. Art. 107 II GG, S. 23 sähe darin einen „Angriff auf die differenzierte Struktur im Bundesstaat“, der einen „Angriff auf eine verfassungsrechtliche Fundamentalnorm“ bedeutete. 41  BGBl. I 2001, S. 2302. 42  Vgl. Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 9. 43  BVerfGE 101, 158 (217). Wie Kämmerer, JuS 2003, 215 zeigt, ist das Urteil selbst und der legislative Schluss verfassungsrechtlich bedenklich. Das vom BVerfG begründete Entwicklungsgebot des Finanzausgleichs aus abstrakt zu schaffenden Maßstäben mutet verfassungsdogmatisch kühn an. Die Implikationen des „VorRangs“ des Maßstäbegesetzes vor dem ebenfalls einfachgesetzlichen FAG bringe das BVerfG geradezu in ein „rechtslogisches Dilemma“. Da einfaches Recht nicht am Maßstab einfacher Gesetze verfassungsgerichtlich geprüft werden kann, blieben Verstöße letztlich sanktionslos. Die Alternative hieße, einfaches Gesetzesrecht zu konstitutionalisieren. 44  Vgl. schon BVerfGE 72, 330 (390). 39  Vgl. 40  Vgl.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

nanzausgleichs soll dagegen der kurzfristigen Logik des „freien Spiels der politischen Kräfte“ entzogen sein.45 b) Ablauf des Finanzausgleichs Die gesamten Steuereinnahmen des Bundes und der Länder werden in einem ersten Schritt vertikal nach dem Schlüssel des Art. 106 GG auf Bund und Länder verteilt. Bei der Umsatzsteuerverteilung im Steuerverbund gilt der vertikale Schlüssel gem. § 1 FAG. Anschließend wird der Länderanteil an den Steuereinnahmen unter den Ländern gemäß dem örtlichen Aufkommen (Art. 107 Abs. 1 GG i. V. m. dem Zerlegungsgesetz46) aufgeteilt. Den finanzschwachen Ländern werden dabei Ergänzungsanteile aus einem bis zu 25 % des Umsatzsteueranteils der Länder bestehenden Topf zugewiesen (Art. 107 Abs. 1 S. 4 GG i. V. m. § 2 FAG). Nach einem linear ansteigenden Tarif werden diese Länder spürbar an den Länderdurchschnitt herangeführt. Im dritten Schritt wird berechnet, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ein Ausgleichsbedarf unter den Ländern besteht, und dieser wird mittels Ausgleichszahlungen behoben. c) Ausgleichsberechnung im horizontalen Finanzausgleich Maßgeblich für die Ausgleichsberechtigung respektive -verpflichtung ist die Finanzkraftmesszahl. Sie bestimmt sich aus der Summe der Steuereinnahmen des einzelnen Landes abzüglich 12 % des überdurchschnittlichen Einnahmenzuwachses des betreffenden Landes (§ 7 Abs. 3 FAG) zuzüglich 64 % der Gemeindesteuereinnahmen des betreffenden Landes (§ 8 Abs. 3 FAG). Die Finanzkraftmesszahl eines einzelnen Landes wird dann ins Verhältnis zur Ausgleichsmesszahl gesetzt. Diese bestimmt sich aus der Summe des Betrags der bundesdurchschnittlichen Landessteuereinnahmen aller Länder bezogen auf das betreffende Land und des Betrags der bundesdurchschnittlichen Gemeindesteuereinnahmen aller Länder bezogen auf das betreffende Land. Um für das betreffende Land den Steuerertrag zu berechnen, den es erzielt hätte, wenn es im Bundesdurchschnitt läge, werden dabei die 45  Ob die dogmatisch fragwürdige Stufenfolge Verfassung – konkretisierende ab­ strakte Maßstäbe – kurzfristige Zuteilungsregeln tatsächlich frei von politischen und interessenbestimmten Einflüssen sein kann, bleibt zweifelhaft. Es wurde in der Literatur heftig kritisiert hinsichtlich Verfassungsauslegung, vgl. Pieroth, NJW 2000, 1086, praktischer Handhabbarkeit, vgl. Rupp, JZ 2000, 1086, und Staatstheorie bzw. -philosophie, vgl. Lindner, NJW 2000, 3757. 46  BGBl. I 1998, S. 1998; zuletzt geändert durch Art. 12 Steuerbürokratieabbaugesetz, BGBl. I 2008, S. 2850.



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gesamten Ländereinnahmen durch die Gesamteinwohnerzahl des Bundesgebiets geteilt und dann mit der Einwohnerzahl des betreffenden Landes multipliziert. Bei den Landessteuereinnahmen wird eine höhere Einwohnerwertung für die dichter besiedelten Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg zugrunde gelegt (jeweils 135 % gemäß § 9 Abs. 2 FAG). Bei den Gemeindesteuereinnahmen gilt gemäß §  9 Abs. 3 FAG eine Korrektur der Einwohnerwertung zusätzlich auch für die Flächenländer MecklenburgVorpommern (105 %), Brandenburg (103 %) und Sachsen-Anhalt (102 %). Aus der Differenz zwischen Finanzkraftmesszahl und Ausgleichsmesszahl ergibt sich der Ausgleichsbedarf jedes Landes. Mittels eines Formeltarifes aus § 10 FAG erfolgt nun die linear progressive Auffüllung der Fehlbeträge der ausgleichsberechtigten Länder aus den Beiträgen der ausgleichsverpflichteten Länder. Dabei ist die durchschnittliche Abschöpfung bei den beitragsverpflichteten Ländern auf 72,5 % ihres Überschusses im Verhältnis zur Ausgleichsmesszahl begrenzt (§ 10 Abs. 3 FAG). Damit soll einer übermäßigen Abschöpfung individueller Anstrengungen der Landeswirtschaft entgegengewirkt und eine Nivellierung der Landeseinnahmen verhindert werden. d) Bundesergänzungszuweisungen Genügt der beschriebene Ausgleichsmechanismus nicht, um leistungsschwache Länder entsprechend ihren Aufgaben auszustatten, sieht Art. 107 Abs. 2 GG i. V. m. § 11 FAG ergänzende Zuweisungen des Bundes (Bundesergänzungszuweisungen, BEZ) vor. Diese sind in der Höhe begrenzt auf 77,5 % der nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs verbliebenen Fehlbeträge zu 99,5 % der Ausgleichsmesszahl. Für den Ausgleich von teilungsbedingten Sonderlasten aus dem bestehenden starken infrastrukturellen Nachholbedarf und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft erhalten die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusätzlich bis zum Jahr 2019 Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen (§ 11 Abs. 3 FAG). Vergleichbare Sonderergänzungszuweisungen gibt es zudem für strukturelle Arbeitslosigkeit (§ 11 Abs. 3a FAG) sowie für überdurchschnittlich hohe Kosten politischer Führung (§ 11 Abs. 4 FAG).47 Genuin landespolitische Entscheidungen mit negativen Folgen für die Einnahmen des betreffenden Landes 47  Hiergegen gibt es allerdings dogmatische Einwände, wonach die Selbstorganisation eines Landes nicht als „Sonderlasten“ zu qualifizieren seien; vgl. Seiler, Steuerverteilung und Finanzausgleich im Bundesstaat, S. 8. Jedenfalls ist angesichts dessen, dass der Bund derzeit zehn von 16 Bundesländern in diesen Kosten unterstützt, der Empfängerkreis von beträchtlichem Umfang.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

sind dagegen grundsätzlich als Bestandteil der Haushaltsautonomie nicht Anknüpfungspunkt für Bundesergänzungszuweisungen.48 4. Verfassungsrechtsprechung zu Haushaltsnotlagen Trotz des komplexen Ausgleichsmechanismus sind in der Vergangenheit einige Länder in prekäre Haushaltslagen verfallen. Ungeachtet der vielfältigen Ursachen und singulären Umstände in den betreffenden Ländern führen diese Verschuldungskrisen alle zu den gleichen Fragen nach bundesstaat­ lichem Beistand und anderen Abhilfemaßnahmen. Besonders akut wird die Thematik, wenn ein Bundesland in eine extreme Haushaltsnotlage gerät. Über drei Fälle von extremen Haushaltsnotlagen musste das Bundesverfassungsgericht bisher entscheiden: die des Saarlandes und Bremens sowie die jüngste Krise Berlins. In letztgenanntem Fall sind die Ursachen vielschichtig und nur teilweise auf strukturelle Schwierigkeiten zurückzuführen. Neben den Sonderbelastungen der Wiedervereinigung – innerhalb von fünf Jahren wurde die üppige Berlinförderung abgeschafft49 – hat auch politisches Unvermögen bis hin zu Wirtschaftskriminalität50 die Verschuldung der Hauptstadt vorangetrieben. In Bremen und im Saarland dagegen gründete der langfristige Rückgang des Einnahmenniveaus auch auf industriellem Schwund. Der Niedergang der Kohleförderung schuf im Saarland eine ähnliche strukturell geringe Finanzausstattung wie die Standort- und Wettbewerbskrisen bei Werften und Stahl in Bremen. Die langfristig fragilen Länderhaushalte waren nicht mehr resilient genug, um kurzfristige außergewöhnlich Belastungen – zu denken sei hier an die Bankenkrise in Berlin oder im Saarland die Sanierung der ARBED-Saarstahl, die in den 1980er Jahren Milliarden verschlang – zu kompensieren.51 Mit der sich zuspitzenden Finanzmisere der ärmeren Bundesländer wuchsen auch die Spannungen zwischen so genannten Geber- und Nehmerländern des Finanzausgleichs. Während die einen sich möglichst arm rechnen wollten, um den Ausgleichsbeträgen zu entkommen, forderten die anderen zunehmend mehr Unterstüt48  Vgl.

BVerfGE 72, 330 (405). § 32 Berlinförderungsgesetz, BGBl. I 1990, S. 173. 50  Der Einsatz von Immobilienfonds und diversen Bilanzierungstricks der Bankgesellschaft Berlin zur Verschleierung von Kreditrisiken hatte seinerzeit neben der Absetzung von Eberhard Diepgen als Regierendem Bürgermeister auch zur strafrechtlichen Verurteilung von Klaus-Rüdiger Lewandowsky, dem Vorstandschef der Berlin Hyp, und anderen Managern wegen Untreue geführt. Das Urteil wurde mittlerweile nach Einschaltung des BVerfG und erneuter Verhandlung vor dem LG Berlin aufgehoben und alle Angeklagten wurden freigesprochen, vgl. LG Berlin, Pressemitteilung Nr. 17 / 2011 vom 14. Februar 2011. 51  Vgl. Färber, in: Konrad  /  Jochimsen (Hrsg.), Finanzkrise im Bundesstaat, S.  109 ff. 49  Vgl.



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zung für ihre desolaten Länderhaushalte ein. Ab den 1980er Jahren gerieten zudem das Saarland und Bremen in die Extremsituation der Haushaltsnotlagen und das Bundesverfassungsgericht musste zu Rate gezogen werden, um die Krisenbewältigungskapazität der bundesstaatlichen Finanzverfassung verfassungsrechtlich abzusichern. a) Der Fall Bremen und Saarland – BVerfGE 86, 148 In den verbundenen Normenkontrollverfahren 2 BvF 1 / 88, 2 BvF 2 / 88, 2 BvF 1 / 89 und 2 BvF 1 / 9052 stritten vier Antragssteller über die Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Finanzverfassung des Grundgesetzes. Bremen und das Saarland verfolgten im Wesentlichen, allerdings mit unterschiedlicher Begründung, zwei gleiche Anliegen: die Heraufstufung der Einwohnerwertung für kleine Bundesländer und Stadtstaaten (§ 9 Abs. 2 FAG a. F.) sowie die Aufstockung der Bundesergänzungszuweisungen53 aufgrund von extremen Haushaltsnotlagen (§ 11a Abs. 3 FAG a. F.). Der Senat der Freien Hansestadt Bremen sah sich benachteiligt, weil dem Saarland zuvor in einer vergleichbaren Haushaltssituation rund 75 Mio. DM, Bremen selbst allerdings nur 50 Mio. DM gewährt worden waren. Das Saarland wiederum rügte eine Benachteiligung aufgrund fehlender besonderer Einwohnerwertung für kleine Flächenländer. Zudem ersuchte es um einen höheren Betrag aus Bundesergänzungszuweisungen zur gegenwärtigen Haushaltsmisere. Schleswig-Holstein und das Geberland Hamburg dagegen rügten Vorschriften des Finanzausgleichs, die ihre finanzielle Leistungsstärke begründeten. Schleswig-Holstein sah die Ausgabenlage der Kommunen nicht hinreichend berücksichtigt. Darüber hinaus beanstandete Hamburg einen unzureichenden Ausgleich für die Unterhaltung des Seehafens – im System der Finanzverfassung ohnehin eine historisch bedingte und enorm ausgleichsträchtige Anomalie, die es Hamburg erlaubte, jährlich um 140 Mio. DM ärmer gerechnet zu werden (vgl. § 7 Abs. 3 FAG a. F.). Die Vielzahl dieser und anderer verfassungsrechtlicher Einwände veranlasste das BVerfG, die Verfahren zu verbinden und vollumfänglich zum Finanzausgleich Stellung zu nehmen.54 52  BVerfGE

86, 148. auf dieser dritten Stufe des Finanzausgleichs kommt die Berücksichtigung von extremen Haushaltsnotlagen in Betracht, vgl. Birk / Wernsmann, DÖV 2004, 868 (870). 54  Der inhaltlichen Fülle des Urteils kann hier nicht volle Gerechtigkeit widerfahren. Von besonderem Interesse sind die Aussagen des Gerichts zu den extremen Haushaltsnotlagen Bremens und des Saarlandes. 53  Erst

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

(1) Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage Zunächst bezog das BVerfG zu der makroökonomischen Frage Stellung, unter welchen Bedingungen eine Haushaltsnotlage anzunehmen sei. Gültige Indikatoren seien dem Gericht zufolge die Kreditfinanzierungsquoten der Länder, die das Verhältnis von Netto-Kreditaufnahme und den Einnahmen oder Ausgaben des Haushaltes ausweisen. Ebenso könne indes auch ein anderer Indikator, die Belastungsquote (oder Zins-Steuer-Quote), d. h. das Verhältnis von Steueraufkommen zu Zinszahlungen, herangezogen werden. Beide seien nämlich in der Lage, die Beeinträchtigung der haushaltspolitischen Handlungsfähigkeit durch die steigende Verschuldung abzubilden. Ohne abschließende Festlegung einer Notlagengrenze sah das Gericht sowohl in Bremen, mit einer Kreditfinanzierungsquote im Jahr 1986 von 19,3 % und einer Zins-Steuer-Quote von 26,3 %, als auch im Saarland, 14,1 % bzw. 19,8 %, als gegeben an. Jedenfalls bei einer Kreditfinanzierungsquote, die, wie im Saarland der Fall, doppelt so hoch sei wie der Durchschnitt der Bundesländer – in Bremen war es sogar das Dreifache – sei eine Notlage ohne Weiteres anzunehmen.55 Aufgrund des weiten Überschreitens des Länderdurchschnitts und aufgrund der Tatsache, dass dem mit Bundesergänzungszuweisungen, die sich im Rahmen ihrer normalen Funktion halten, nicht wirksam abgeholfen werden könne, sei die Haushaltsnotlage dieser Länder auch „extrem“.56 (2) Bundesstaatliche Pflichten in extremen Haushaltsnotlagen Die Angriffe der Beschwerdeführer bewegten das BVerfG anschließend zu einer grundlegenden Stellungnahme zu Inhalt und Funktion der finanzverfassungsrechtlichen Normen. Zu ihnen führte das Gericht aus: „Ihr Sinn und Zweck ist nicht allein, eine geordnete öffentliche Finanzwirtschaft der verschiedenen staatlichen Aufgabenträger zu ermöglichen, sondern ebenso, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden, ihre politische Autonomie sich in der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung und der Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 1 GG) entfalten (vgl. auch BVerfGE 72, 330 ) und die gemeinsame Verpflichtung auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) erfüllt werden kann. Sie sind darin zugleich Ausdruck der im Bundesstaat bestehenden Solidargemeinschaft von Bund und Ländern und des bündischen Prinzips des Einstehens füreinander, das zur bundesstaatlichen Ordnung (Art. 20 Abs. 1 GG) gehört.“57 55  BVerfGE

86, 148 (259 f.). 86, 148 (261 f.). 57  BVerfGE 86, 148 (264). 56  BVerfGE



A. Föderalstaaten57

Im Fall extremer Haushaltsnotlagen, d. h. in Situationen, in denen die Fähigkeit eines Landes, seine ihm verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben zu erledigen, gefährdet ist und das Land sich nicht aus eigener Kraft befreien kann, sah das BVerfG die notwendige Rechtsfolge der Solidargemeinschaft in der Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips zu einer Hilfeleistungspflicht des Bundes und der anderen Länder.58 Auch wenn der Bund, der aufgrund der gegebenen Kompetenzverteilung über die einschlägigen Handlungsinstrumente verfüge, primäres Handlungssubjekt sei, treffe die Verpflichtung Bund und Länder gemeinschaftlich.59 (3) Maßnahmen zur Beseitigung von Haushaltsnotlagen Richtungsweisend wirkt die Festlegung des Gerichts auf den bestehenden Maßnahmenkatalog des Grundgesetzes. Die angenommene Beistandspflicht begründe keine besonderen Kompetenzen zur Krisenbewältigung. Sie „diri­ giere“ vielmehr die „Wahrnehmung bestehender Befugnisse nach Grund und Umfang“ und intensiviere Verpflichtungen ebenso wie sie „als Interpreta­ tionsgesichtspunkt für die Auslegung von Art und Umfang bestehender Hand­ lungsmöglichkeiten“ wirke.60 Damit bleibt die Hilfeleistungspflicht im akuten Krisenfall, d. h. im Fall extremer Haushaltsnotlagen, zwar eine Konkretisierung des allgemeinen Bundesstaatsprinzips und damit ein nachweisbares Element der föderativen Ordnung. Sie selbst konkretisiere allerdings bestehende Maßnahmenkataloge nicht weiter. Dem Gesetzgeber – und schließlich dem Verfassungsgeber –61 bleibt ein Auswahlermessen bei den Maßnahmen, die von der bevorzugten Auswahl für Investitionen (Art. 91a GG) und Standortentscheidungen (Art. 91b GG) über Investitionsbeihilfen (Art. 104b GG) bis zu Bundesergänzungszuweisungen (Art. 107 Abs. 2 GG) und letztlich der Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 1 GG) reichen können.62 Der Handlungsspielraum findet jedoch seine Grenze in der Wechselwirkung solidarischer Beziehungen im Bundesstaat. Die Hilfeleistungspflicht reicht selbstverständlich nicht soweit, dass die Fähigkeit der anderen Länder und des Bundes zur Erfüllung der ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben „in Frage gestellt“ werde.63 Auch entspräche es der bundesstaatlichen Kooperationspflicht der Gliedstaaten, von einem mit 58  BVerfGE

86, 148 (265). 86, 148 (265 f.). 60  BVerfGE 86, 148 (Leitsatz 6a). 61  Die angeführten Maßnahmen betreffen keinen änderungsfesten Bestandteil der Grundordnung des Verfassungsstaates. 62  BVerfGE 86, 148 (267). 63  BVerfGE 86, 148 (270). 59  BVerfGE

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Hilfe bedachten Land auch ein striktes Sanierungsprogramm zu verlangen oder entsprechende Auflagen zu machen.64 Hinsichtlich der Beschwerde Bremens, im Zuge der eigenen Haushaltkrise im Verhältnis zum Saarland benachteiligt worden zu sein, nahm das BVerfG einen Verstoß gegen das föderale Gleichbehandlungsgebot an. Da die volkswirtschaftlichen Daten für Bremen nicht besser sondern noch deutlich schlechter als im Saarland waren (vgl. oben), seien die geringeren Bundesergänzungszuweisungen nicht haltbar. Grundsätzlich sei im Falle gleichzeitig bestehender extremer Haushaltsnotlagen in mehreren Bundesländern allen betroffenen Ländern gleichzeitig zu helfen. Also besteht insofern kein Ermessenspielraum. Lediglich wenn „auch bei Mobilisierung aller Möglichkeiten“ die verfügbaren Mittel nicht ausreichten, um „mehreren Ländern zur gleichen Zeit eine ihrem Umfang nach wirksame Stabilisierungs­ hilfe zu leisten, darf die Hilfeleistung ausnahmsweise zeitlich versetzt erfol­ gen, möglicherweise mit einer vorläufigen Überbrückungshilfe für das nach­ folgende Land, damit sich seine Haushaltsnotlage nicht weiter verschlimmert.“ Im Ergebnis müsse jedoch eine gleiche Behandlung dieser Länder stattfinden.65 b) Der Fall Berlin – BVerfGE 116, 327 Die Anwendungsgrenzen der Entscheidung zu den Haushaltskrisen in Bremen und Saarland zeigte das Bundesverfassungsgericht ausgerechnet dem notorischen Bittsteller Berlin auf. Das Land sah sich nicht zuletzt infolge der Bankenkrise (vgl. oben) Anfang des neuen Jahrtausends außer Stande, eine stabile Haushaltswirtschaft zu führen. Angesichts des Schuldenbergs von damals 47,5 Mrd. DM und nach klarer Absage an Sanierungshilfen vonseiten des Bundesministeriums der Finanzen berief sich der Berliner Senat im Jahr 2003 vor dem BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit von § 11 Abs. 6 FAG und Art. 5 § 11 Solidarpaktfortführungsgesetz (SFG),66 soweit sie keine entsprechenden Bundesergänzungszuweisungen zur Sanierung des Berliner Haushaltes vorsahen.

64  BVerfGE

86, 148 (268). 86, 148 (274). 66  BGBl. I 2001, S. 3955. 65  BVerfGE



A. Föderalstaaten59

(1) D  as Spannungsverhältnis von Bundesergänzungszuweisungen und Haushaltsautonomie Das BVerfG nahm die Forderungen Berlins zum Anlass, grundlegend zur Rolle der Bundesergänzungszuweisungen Stellung zu nehmen. Im geltenden bundesstaatlichen Finanzausgleich (Art. 107 GG) würden diese nach Zweck und Systematik einen „Fremdkörper“ darstellen.67 Im Grundsatz dienten diese nur zum Ausgleich einer Leistungsschwäche, also der mangelnden Fähigkeit eines Landes, mit den nach dem horizontalen Finanzausgleich vorhandenen Mitteln die von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen. Gründe für eine Leistungsschwäche könnten eine unterdurchschnittliche Finanzkraft nach Durchführung des horizontalen Finanzausgleichs oder Sonderbedarfe bzw. Sonderlasten sein. Diese dürften allerdings nicht „unmittelbare und voraussehbare Folge“ politischer Entscheidungen eines Landes sein: „Eigenständigkeit und politische Autonomie bringen es mit sich, dass die Länder für die haushaltspolitischen Folgen solcher Ent­ scheidungen selbst einzustehen haben.“68 Bundesergänzungszuweisungen zur Sanierung eines Not leidenden Haushalts stehen daher im Spannungsverhältnis zum Grundsatz der eigenständigen Haushaltspolitik, da sie schließlich immer auf vorangehende Kreditfinanzierung von Haushalten zurückzuführen sind. Diese kann entweder Folge autonomer Landespolitik oder einer zu geringen Finanzausstattung gewesen sein. Im ersten Fall würde ein Ausgleich für „eine nicht durch objektive Aufgaben erzwungene übermäßige Ausgabenpolitik“ gewährt, im zweiten Fall würde die institutionell gewollte Behebung struktureller Defizite des Finanzausgleichsystems mittels Anpassung des Ausgleichsmechanismus insgesamt verdeckt, aufgeschoben oder unterlassen.69 Dementsprechend könne dieses Mittel nur ultima ratio nach Erschöpfung aller anderen Hilfsmaßnahmen seien.70 Seine grundsätzliche Zulässigkeit erwachse aus Situationen, in denen die „verfassungsmäßig gebotene Handlungsfähigkeit“ eines Landes nicht anders gewährleistet werden kann.71 Bevor darauf zurückgegriffen werden könne, müsse das betroffene Land allerdings alle 67  BVerfGE

116, 327 (384). 116, 327 (384 f.). 69  Vgl. BVerfG 116, 327 (385 f.). 70  So schon BVerfGE 72, 330 (405). 71  Die Subsidiarität der Bundesergänzungszuweisungen gilt indes nur innerhalb der Maßnahmen, die dem Land zugute kommen können. Eine Neugliederung des Bundesgebiets im Sinne einer Zusammenlegung des betroffenen Landes mit einem finanzkräftigen Anrainer dagegen stellt als Behandlung des Landes wohl ein aliud dar. 68  BVerfGE

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Anstrengungen – insbesondere Veräußerungs- und Sparmöglichkeiten – unternehmen, um aus eigener Kraft die Notlage abzuwenden.72 (2) D  er bundesstaatliche Notstand und die Subsidiarität von Sanierungshilfen Die gefundene Auflösung des Konflikts zugunsten des Ausnahmecharakters der Bundesergänzungszuweisungen in Fällen extremer Haushaltsnotlagen bedingt eine Verengung auch auf der Tatbestandsseite. Demnach hat das BVerfG den Begriff der extremen Haushaltsnotlage neu ausgerichtet. Vorliegen muss eine absolut wie relativ extreme Haushaltsnotlage. Die relative Haushaltsnotlage erfordere eine vergleichende Gesamtbewertung der Finanzlage in den Bundesländern anhand von aussagekräftigen Kennzahlen, wie etwa der Kreditfinanzierungsquote oder der Zins-Steuer-Quote.73 Bei allgemein schlechter Haushaltslage in den Bundesländern sei die Vermutung begründet, „andere bundesstaatliche Finanzströme“ seien „zu aktivieren, damit das ohnehin problematische Notinstrument der Sanierungshilfen nicht zu einem Regelinstrument wird.“74 Damit wird im Ergebnis dem Gesetzgeber die Verantwortung für die grundsätzliche Ausrichtung und Korrektur der bundesstaatlichen Finanzverfassung bewusst gemacht. Statt (Bundes-)Sanierungshilfen auszugeben, sei in solchen strukturellen Schieflagen das gesamte System der bundesstaatlichen Finanzausstattung zu überarbeiten. Auch bei anzunehmender relativ extremer Haushaltsnotlage eines Bundeslands, wie etwa im Fall von Bremen und dem Saarland in BVerfGE 86 148, müsse entsprechend dem Ausnahmecharakter der Bundesergänzungszuweisungen ebenfalls absolut eine extreme Haushaltsnotlage bestehen. Erst wenn ein Land nicht mehr zur Erfüllung der verfassungsmäßig vorgegebenen Aufgaben fähig sei, bestünde ein „bundesstaatlicher Notstand“, der einen Einsatz der übrigen Länder und des Bundes auf den Plan riefe. Dafür trägt das Bundesland die Darlegungs- und Beweislast.75 Auszuschließen sei ein bundesstaatlicher Notstand dann, wenn dem Land aufgrund aktuell bestehender oder in der Vergangenheit ungenutzter Spar- und Konsolidierungskapazitäten noch Spielraum zur selbständigen Behebung der prekären Haushaltslage verbleibe.76 72  BVerfGE

116, 327 (390 f.); vgl. § 12 Abs. 4 S. 1 MaßstG. dritte taugliche Finanzkennzahl erwägt das BVerfG den Primärsaldo aus bereinigten Einnahmen (d. h. ohne Kreditaufnahme) abzüglich der bereinigten Primärausgaben (d. h. nur Ausgaben für staatliche Kernaufgaben abzüglich der Zinszahlungen), vgl. BVerfGE 116, 327 (389). 74  BVerfGE 116, 327 (404). 75  BVerfGE 116, 327 (390). 76  BVerfGE 116, 327 (405). 73  Als



A. Föderalstaaten61

(3) Sanierungshilfe für Berlin? Für das Land Berlin konnte das BVerfG nach diesen Kriterien keinen bundesstaatlichen Notstand feststellen. Es bestehe schon keine extreme Haushaltsnotlage. Zwar wies Berlin in den relevanten Jahren eine deutlich über dem Doppelten des Durchschnitts der übrigen Länder liegende Kreditfinanzierungsquote auf. Diese Grenze ist auch vom BVerfG ausdrücklich als Indikator für eine Haushaltsnotlage akzeptiert worden.77 Allerdings oszillierte die Zins-Steuer-Quote zwischen 98 % und 176 % des Länderdurchschnitts78 und begründe demnach keine übermäßige Belastung des Landeshaushalts von Berlin. Zu der fehlenden extremen Haushaltsnotlage komme hinzu, dass Berlin vor allem in den Primärausgaben – die Ausgaben für das Wohnungswesen lagen (bereinigt um Einwohnerunterschiede) um mehr als 1 Mrd. Euro höher als im Vergleichsstadtstaat Hamburg79 – aber auch in den Primäreinnahmen, etwa durch Veräußerungen und die Erhöhung des Gewerbesteuerhebesatzes80, erhebliches Konsolidierungspotential habe. So­ lange das Land seine Kapazitäten nicht genutzt habe, könne es schwerlich darlegen, dass Sanierungshilfen (des Bundes) alternativlos seien. c) Bewertung Mit den beiden Entscheidungen über Sanierungsbundesergänzungszuweisungen hat das BVerfG den verfassungsrechtlichen Auftrag der bundesstaatlichen Ordnung zu finanzieller Solidarität definiert. Es ist das Wohl und Wehe der Gemeinschaft, dem die Akteure wechselseitig verpflichtet sind. Der föderale Bund der Bundesrepublik stellt eine Schicksalsgemeinschaft der Gliedstaaten dar, die wirtschaftlich interdependent und der Einheit der Verbindung verpflichtet sind. Ausufernde Disparitäten in der Finanzausstattung werden ebenso abgefangen (Finanzausgleich) wie das wirtschaftliche Fortbestehen der Glieder insgesamt gesichert wird. Aus dem Prinzip des bündischen Einstehens füreinander erwächst eine Beistandspflicht in extremen Haushaltsnotlagen. Die restriktive Auslegung dieses Notstandstatbestandes nach den Kriterien der Berlin-Entscheidung – absolut und relativ extreme Haushaltsnotlage bzw. bundesstaatlicher Notstand – verdeutlicht zudem die Kehrseite solidarischer Beistandspflichten. Nicht nur das betrof77  BVerfGE

116, 327 (400). Zurechnung sämtlicher Sonderzuweisungen zu den relevanten Einnahmen zur so genannten Zins-Steuer-Quote 2 ergäbe sich ein niedrigerer Wert von nur 56 % des Länderdurchschnitts, vgl. BVerfGE 116, 327 (403). 79  Vgl. Tabelle in BVerfGE 116, 327 (407 f.). 80  Jenseits von 200 % können die Gemeinden die Hebesätze grundsätzlich frei festlegen, vgl. BVerfGE 125, 141. 78  Bei

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

fene Bundesland kann sich auf die Unterstützung der föderalen Glieder verlassen. Diese sind auch rückversichert, dass dem notleidenden Land zunächst eigene Anstrengungen abverlangt werden und es sich selbst solidarisch zeigt durch notwendige wenngleich auch schmerzhafte Einschnitte in der Ausgabenpolitik und durch die Aktivierung von Veräußerungskapazitäten. Die Sanierungspflicht des Landes ist eine Obliegenheit gegenüber dem Bund und steht im Synallagma zu dessen Beistandspflicht.81 Die einstimmig ergangene Entscheidung im Berlin-Urteil belegt zudem den Restriktionskonsens unter den Verfassungsrichtern angesichts zukünftig in Frage kommender Sanierungsfälle. Werden Bundesländer sich selbst überlassen, wenn es um die Behebung prekärer Haushaltslagen geht, garantiert die föderale Ordnung im Extremfall dennoch einen Rückgriff auf die Solidargemeinschaft. Durch die Möglichkeit der Neugliederung des Bundesgebietes, auf die das BVerfG explizit verweist,82 wird zudem ein Mittel bereitgestellt, einzelstaatlichen Ausgabenexzessen der Politik nicht lediglich als Ausfallbürge beiseite zu stehen, sondern notfalls die Länderautonomie zur Rettung des „Bundes“, also der Glieder der Solidargemeinschaft, zu beschneiden.83 5. Exkurs: Solidarische Krisenprävention mittels Schuldenbremsen Obwohl die Solidaritätsfrage oftmals erst in unmittelbar drohenden Krisensituationen akut wird, wenn es um handfeste Formen des Beistands geht, bleibt die Ordnung des Bundesstaates nach dem Grundgesetz dennoch nicht frei von einer prospektiv verstandenen Bundestreue. Gerade in der Krisenprävention drückt sich die Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber den Bundesgenossen aus. Insbesondere die Länder sind gehalten, ihre Haushaltsführung nicht nur an ihren Partikularinteressen auszurichten, sondern den wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang des Bundesstaates im Auge zu behalten – der Bund hat diese Perspektive naturgemäß inne – und gegebenenfalls die eigene (Ausgaben-)Politik daran auszurichten. Allerdings ist eine Pflicht zur finanzpolitischen Disziplin im Sinne einer Schonung der beistandsverpflichteten Glieder allenfalls als Pflicht gegen sich selbst, als Obligation auf die spätere Aussicht auf Beistand zu verstehen.84 Eine stärkere, womöglich gar einklagbare Verpflichtung wäre aus ordnungspolitischen 81  Vgl.

Pauly / Pagel, DÖV 2006, 1028 (1034). BVerfGE 1, 117 (134); BVerfGE 116, 327 (386 f.); BVerfGE 86, 148

82  Bereits

(196). 83  D. h. allerdings nicht, dass sozusagen als minder schwerer Eingriff umfassende Sanierungsauflagen erlassen werden dürfen; vgl. Isensee, in: FS Selmer, S. 701 f. 84  Vgl. BVerfGE 116, 327; Birk / Wernsmann, DÖV 2004, 868 (873); Pauly / Pa­ gel, DÖV 2006, 1028 (1033 f.).



A. Föderalstaaten63

Gründen zwar wünschenswert, ließe sich dennoch wohl kaum unter Mitarbeit der Länder realisieren. Mangels ihrer Steuerautonomie manifestiert sich der Beitrag der Länder zur Krisenprävention vornehmlich auf der Ausgabenseite. Um die vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten dieser Ausgabenverantwortung kreist der föderale Wettbewerb und die bundesstaatliche Individualität.85 Im Bereich der Verschuldung der Länder und des Bundes hat vor allem die so genannte Föderalismusreform II86 justiziable Änderungen in der Finanzverfassung gebracht. Zuvörderst fällt dabei die neue „Schuldenbremse“ (Art. 109 Abs. 3 i. V. m. Art. 115 Abs. 2 GG)87 ins Gewicht, durch welche die Nettoneuverschuldung des Bundes grundsätzlich auf 0,35 % des BIP88 reduziert und den Ländern ein vollständiges Kreditfinanzierungsverbot89 auferlegt wird (vgl. Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG). Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen jedoch auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden (Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG). Zum Ausgleich für auslaufende Sanierungssonderzuweisungen und um den Übergang in die schuldenfreie Haushaltsführung für die besonders schwachen Länder zu erleichtern, ist in Art. 143d Abs. 2 und 3 GG nunmehr ein jährlicher Finanzrahmen von 800 Millionen Euro bereitgestellt, der hälftig von Bund und Ländern getragen wird. Davon entfallen auf Bremen 300 Millionen Euro, auf das Saarland 260 Millionen Euro und auf Berlin, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein jeweils 80 Millionen Euro. Die Gewährung geht einher mit strikten Sanierungsauflagen (Art. 143d Abs. 2 S. 4 und 5 GG) und läuft im Jahr 2019 aus. Mit der erneuten Aufnahme konkret adressierter Transferzahlungen in Art. 143d Abs. 2 und 3 GG hat der Verfassungsgeber den Charakter des deutschen Bundesstaates als Haftungsverbund bestätigt und verdeutlicht, dass die Länder und der Bund, die jeweils hälftig für die Konsolidierungshilfen aufkommen, gemeinsam 85  Vgl. Lintner, Die verfassungsrechtlichen Grenzen des horizontalen Länderfinanzausgleichs, S. 129. 86  Für die Zielsetzung der Reform vgl. den Beschluss des Bundestages und Bundesrates zur Einsetzung der Föderalismuskommission II, BT-Drs. 16 / 3885; zur Föderalismusreform II allgemein Kemmler, DÖV 2010, 549; Scholl, DÖV 2010, 160; Hancke, DVBl. 2009, 621; Fassbender, NVwZ 2009, 737; Selmer, NVwZ 2009, 1255; Korioth, JZ 2009, 729. 87  Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Juli 2009, BGBl. I 2009, S. 2248. 88  Im tatsächlichen Haushaltsvollzug steigt die Verschuldungsgrenze auf 1,5  % des jährlichen BIP (Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG); vgl. dazu Christ, NVwZ 2009, 1333 (1336). 89  Dazu kritisch Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261) m. w. Nachw.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

die finanzielle Sicherheit der Glieder gewährleisten. Dagegen wurde wegen des unitaristischen Sogs des neuen Verschuldungsverbotes, das den Bundesländern keine strukturelle Verschuldung mehr zugesteht und sie damit der Gunst des Bundes aussetzt, mitunter dessen Verfassungsmäßigkeit in Zweifel gezogen.90 6. Fazit zum deutschen Föderalismus Im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland besitzen die Glieder positive Staatlichkeit. Allein aus ihrer Existenz heraus erwächst den Ländern ein Anspruch auf bundesstaatlichen Beistand. Damit entsteht Solidarität im deutschen Bundesstaat aus der Konstitution des Staatsgebildes und gewissermaßen aus sich selbst, da sie Folge und Bedingung des Bundesstaates ist. Wo Solidarität im Sinne einer Zusammengehörigkeit aufgrund konvergierender Ökonomien, gemeinsamer kultureller Identität oder anderer sozialer Faktoren den Bundesstaat begründet hat, hält Solidarität im Sinne der gegenseitigen Rücksichtnahme und des Beistandes selbigen zusammen. Da die Länder der Disposition des Bundes gemäß Art. 29 GG unterstehen, trägt dieser die Gesamtverantwortung für ihr Wohl.91 Finanzielle Konkretisierung findet die Bündnissolidarität im Anspruch der Länder auf eine aufgabenadäquate Finanzausstattung. Für die Leistungsfähigkeit der Länder bürgt die Solidargemeinschaft.92 Dabei bedingt Solidarität Wechselwirkungen zwischen dem Hilfsanspruch gegen die Gemeinschaft und eigenen Anstrengungen des einzelnen Gliedes, seine ihm zugewiesenen Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen.93 Die Autonomie der Länder und des Bundes findet ihre Grenze notwendigerweise im Wohl des Gesamtverbunds und kann sich in ihm erst entfalten. Mit der ausdifferenzierten Rechtsprechung des BVerfG zu Haushaltsnotlagen bietet der deutsche Föderalismus zudem die einzige Blaupause für einen etwaigen Beistandsmechanismus innerhalb der Union.94 90  Verfassungswidrigkeit des totalen Schuldenverbotes für die Länder nimmt Fassbender, NVwZ 2009, 737 (740) an; Zweifel auch bei Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261) und Hancke, DVBl. 2009, 621 (626); a. A. Kemmler, DÖV 2009, 549 (555); Lenz / Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2565 f. und Nachweise in Fußn. 29); Christ, NVwZ 2009, 1333 (1338). 91  Vgl. Isensee, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBdSR Bd. IV, § 98, Rn. 150. 92  Vgl. Isensee, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBdSR Bd. IV, § 98, Rn. 127. 93  Noch vor dem Urteil BVerfGE 116, 327 wurde im Ausland die fehlende Haftung für eigenverantwortlich getroffene politische Entscheidungen der Länder als große Schwäche der deutschen Föderalordnung gesehen; vgl. Larsen, S. Tex. L. Rev. 40 (1999), S. 737 (750). 94  Zur Bewertung von dessen Tauglichkeit siehe 3. Kapitel unter C.



A. Föderalstaaten65

II. USA Der amerikanische Föderalismus gilt weithin als Prototyp95 moderner Föderalordnungen und hat vor allem europäischen Staatswissenschaftlern als Vorlage eigener Vorstellungen gedient.96 Als Modell ist die Konstitution des amerikanischen Föderalismus beispielhaft für eine föderale Staatsgliederung, die verstärkt auf Selbständigkeit und Autonomie der subnationalen Einheiten setzt97 und in Bezug auf das Verhältnis der Gliedstaaten untereinander mit dem Begriff Wettbewerbsföderalismus beschrieben wird.98

95  Statt aller Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.) Europäischer Föderalismus, S. 13 (33). Zu den antiken Vorformen föderaler Ordnungen siehe die Übersicht bei Watts, Comparing Federal Systems, S. 2 ff. 96  Vgl. Watts, Comparing Federal Systems, S. 30. Nicht zuletzt gilt das USamerikanische System trotz der aufgegebenen Zielvorstellung von „Vereinigten Staaten von Europa“ auch für den europäischen Föderalismus als Vorbild, vgl. Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.) Europäischer Föderalismus, S. 13 (14). 97  Diese sog. Dual Sovereignty ist mit dem amerikanischen Staatsverständnis insgesamt eng verwoben. Grundlegend stellte der Supreme Court dies bereits in Texas v. White, 74 U.S. 7 Wall. 700 (725) (1868) fest: „(T)he perpetuity and indisso­ lubility of the Union by no means implies the loss of distinct and individual existence, or of the right of self-government, by the States. Under the Articles of Confederation, each State retained its sovereignty, freedom, and independence, and every power, ju­ risdiction, and right not expressly delegated to the United States. Under the Consti­ tution, though the powers of the States were much restricted, still all powers not de­ legated to the United States nor prohibited to the States, are reserved to the States respectively, or to the people. And we have already had occasion to remark at this term that‚ the people of each State compose a State, having its own government, and endowed with all the functions essential to separate and independent existence,‘ and that, ‚without the States in union, there could be no such political body as the United States.‘ Not only, therefore, can there be no loss of separate and independent autono­ my to the States through their union under the Constitution, but it may be not unre­ asonably said that the preservation of the States, and the maintenance of their govern­ ments, are as much within the design and care of the Constitution as the preservation of the Union and the maintenance of the National government. The Constitution, in all its provisions, looks to an indestructible Union composed of indestructible States.“ Inwieweit selbst höchste Träger gesamtstaatlicher Gewalt den Bundesstaaten Vorzug und Bedeutungshoheit einräumen, wird in einer Rede des Präsidenten Calvin Coolidge vom 15. Mai 1926 deutlich: „If the federal government should go out of existence, the common run of people would not detect the difference in their daily life for a considerable length of time, but if the authority of the states were struck down, disorder approaching chaos would be upon us within twentyfour hours.“ (zit. bei Sweetzer, Const. Rev. 10 (1926), S. 145). 98  Vgl. Dye, American Federalism: Competition among Governments, 1990; befürwortend für Deutschland Feld, in: Blanke  /  Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, S. 171 ff.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander In der US-amerikanischen Verfassung fehlt im Vergleich etwa zum deutschen Grundgesetz das klare Bekenntnis zum Sozialstaat und zur Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse.99 Ohne diese bundesstaatliche Finalitätsklammer gibt es keinen Ordnungsrahmen, an dem sich die Kooperation zwischen den Bundesstaaten oder die Eingriffe der Bundesebene in die Länderpolitik orientieren können. Stattdessen wird bundesstaatliche Freiheit meist negativ als Freiheit von Regelungen durch die Bundesebene verstanden.100 Die Bundesstaaten sind folgerichtig mit weitreichend abgegrenzten Kompetenzen ausgestattet, um eigene Politikvorstellungen umzusetzen. Zu den wirtschaftlichen Abgrenzungs- und damit Wettbewerbsfaktoren gehören auch Bereiche des Rechts wie das Strafrecht, das Zivilrecht und das Familienrecht, die nach dem Verständnis klassisch föderaler Staaten streng im nationalen Einheitsinteresse stehen.101 So verfügt z. B. Delaware über ein besonders flexibles Kapitalgesellschaftsrecht, weshalb ein Großteil der amerikanischen Kapitalgesellschaften ihren Sitz in diesem Bundesstaat haben. Dagegen hat sich aufgrund des besonders liberalen Ehescheidungsrechts in Nevada ein regelrechter „Scheidungstourismus“ dorthin entwickelt.102 Hinsichtlich des horizontalen Verhältnisses der Bundesstaaten untereinander gibt es jenseits von gemeinsamen Abwehrinteressen kein verbindendes Element, das eine Kooperation erfordern würde. Vielmehr stehen die Bundesstaaten als „Versuchslabore“103 regionaler Politik untereinander in direkter Konkurrenz um Unternehmensstandorte, Bewohner und finanzielle Mittel der Bundesebene (grants).

99  Gleichwohl wollen einige Autoren derartige Grundprinzipien in der Declaration of Independence identifiziert haben, vgl. Black, A New Birth of Freedom, S.  131 ff. 100  Vgl. Larsen, Am. J. Comp. L. 47 (1999), S. 429 (474). 101  Vgl. für Deutschland Art. 74 Abs. 2 Nr. 1 GG (konkurrierende Gesetzgebung, vom Bund ausgefüllt); für Österreich Art. 10 Abs. 1 Nr. 6 B-VG; für die Schweiz Art.  122 ff. BV. 102  Beispiele bei Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, S. 13 (22) m. w. Nachw. 103  Der Begriff geht auf das abweichende Votum von Justice Brandeis in New State Ice Co. v. Liebmann, 285 U.S. 262, 311 (1932) zurück: „There must be power in the States and the nation to remould, through experimentation, our economic practices and institutions to meet changing social and economic needs … It is one of the happy incidents of the federal system that a single courageous State may, if its citizens choose, serve as a laboratory; and try novel social and economic experiments without risk to the rest of the country.“; vgl. zum „Laboratory Federalism“ Oates, in: Baimbridge / Whyman (Hrsg.), Fiscal Federalism and European Economic Integra­ tion, S. 13 (24 ff.); krit. Larsen, S. Tex. L. Rev. 40 (1999), S. 737 (754 f.).



A. Föderalstaaten67

a) Doppelte Steuerkompetenz und Steuerwettbewerb Hinsichtlich der Finanzverfassung zeigt die US-Verfassung (US-Const.) nur spärliche Regelungen ohne detaillierte Kompetenzverteilung.104 Die Bundesebene stützt ihre extensive Steuerkompetenz auf eine weite Auslegung des Art. 1 Abschnitt 8 der US-Verfassung (US-Const.)105 durch den Supreme Court. Der Supreme Court sieht die Steuererhebungskompetenz der Bundesebene als „erschöpfend“ („exhaustive“)106 beschrieben und festgestellt, dass sie „jeden Bereich erfasst“ („reaches every subject“).107 Das wird mit der Proportionalität der Mittel zu den Aufgaben begründet. Da die Aufgaben der Bundesebene, namentlich die Verteidigung und die allgemeine Wohlfahrt, nahezu grenzenlos seien, bedürften sie entsprechend korrespondierender Besteuerungskompetenzen.108 Daneben haben die Bundesstaaten in zahlreichen Gebieten eine parallele Kompetenz, Steuern zu erheben. Bundessteuern genießen keinen Vorrang oder Präklusionswirkung.109 Zwei wesentliche Beschränkungen der Steuerkompetenz der Bundesstaaten sind jedoch vom Supreme Court herausgearbeitet worden. Zum einen ist es den Bundesstaaten untersagt, Steuern auf Tätigkeiten oder Personen außerhalb ihres Territoriums zu erheben (sog. Steuerexport).110 Zum anderen dürfen 104  Vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (274 f.), der darin einen Vorteil sieht, dass die Verfassung aufgrund anderer Entstehungsumstände im Jahr 1787 nur ganz grundlegende Regelungen enthält. Die Lücken würden durch die Rechtsprechung des Supreme Court und durch Gesetze gefüllt, die sich flexibel an sich ändernde Bedingungen anpassen ließen. 105  „The Congress shall have Power to lay and collect Taxes, Duties, Imposts and Excises, to pay the Debts and provide for the common Defence and general Welfare of the United States.“ Weitere Verweise auf die Bundeskompetenz in Steuersachen finden sich in Abschnitt 2, S. 3, Abschnitt 9, S. 4 und 5 von Art. 1 (Einschränkungen der Steuerbefugnis nach Proportionalität und Bevölkerungszahlen im Verhältnis der Bundesstaaten untereinander) und im 16. Verfassungszusatz (Kompetenz zur Erhebung der Einkommensteuer auf Bundesebene). 106  Brushaber v. Union Pacific R. Co., 240 U.S. 1 (1916). 107  License Tax Cases, 72 U.S. 5 Wall. 462 (1867). 108  Vgl. Story, Commentaries on the Constitution, 4. Auflage, § 934. 109  Vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (298). Dazu grundlegend Chief Justice Marshall in Gibbons v. Ogden, 22 U.S. 9 Wheat. 1 (1824) (200): „Con­ gress is authorized to lay and collect taxes, to pay the debts and provide for the com­ mon defence and general welfare of the United States. This does not interfere with the power of the States to tax for the support of their own governments, nor is the exercise of that power by the States an exercise of any portion of the power that is granted to the United States. In imposing taxes for State purposes, they are not doing what Con­ gress is empowered to do. Congress is not empowered to tax for those purposes which are within the exclusive province of the States. When, then, each government exercises the power of taxation, neither is exercising the power of the other.“ 110  Vgl. Union Refrigerator Transit Co. v. Kentucky, 199 U.S. 194, 204 (1905).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Steuern nicht erhoben werden, um Wettbewerb aus anderen Bundesstaaten fernzuhalten (Protektionismus).111 Die Steuererhebung erfolgt im Gebiet der jeweiligen Kompetenz autonom, d. h. jede Ebene des Staates treibt ihre eigenen Steuern ein und verwaltet sie. Es gibt keinen Steuerverbund, sodass keine Redistribution von Steuermitteln eintritt. Grundlegendes Erhebungsprinzip bleibt damit das örtliche Aufkommen. Allerdings interagieren die bundesstaatlichen Steuersysteme insofern mit den Bundessteuern, als die Steuerbasis der Bundessteuern in gewissem Maß um die Steueranteile der Bundesstaaten bereinigt werden kann.112 b) Folgen des Steuerwettbewerbs: „Race to the bottom“? Die kompetitive Grundausrichtung der Bundesstaaten wird meist mit dem gesamtstaatlich unerwünschten Ergebnis eines Absinkens öffentlicher Leistungsniveaus unter einen optimalen Standard in Verbindung gebracht. Dabei basiert die Theorie des sogenannten „Race to the bottom“113 auf der Annahme, dass im Wettbewerb um Unternehmensstandorte und Steuerzahler stehende Gliedstaaten zur Attraktivitätssteigerung legislative Voraussetzungen zulasten kostenintensiver Maßnahmen ohne direkten Einnahmenbezug schaffen würden. So würde etwa die Absenkung des Körperschaftssteuersatzes oder der Lohnnebenkosten einen Standort für Investoren attraktiver machen. Zugleich würde damit aber auch das öffentliche Budget beschnitten, sodass Ausgabenprogramme verringert werden müssten.114 Bleibt aber der Zuwachs an neuen Steuerquellen wie Unternehmen oder einkommensstarken Bevölkerungsschichten hinter den Kosten der Attraktivitätssteigerung (vor allem Steuersenkungen, aber auch z. B. Lockerung von Umweltschutzstandards) zurück, wirkt sich die Maßnahme negativ auf das öffent­ liche Leistungsniveau aus, was vor allem ärmere Schichten trifft.115 Den Freeman v. Hewitt, 329 U.S. 249, 252 (1946). Definition der Steuerbasis ist dadurch meist zum entscheidenden Faktor des bundesstaatlichen Steuerwettbewerbs geworden, vgl. Tannenwald, in: Kenyon /  Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S. 177 ff. 113  Zum Problem allgemein Boadway / Shah, Fiscal Federalism, S. 502 ff. 114  Bereits Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 115 f. führte die Abhängigkeit der Bundesstaaten von Bundeszuweisungen (grants) auf den Steuerwettbewerb zurück. 115  Die Meinungen zu der Problematik gehen in den Vereinigten Staaten entlang Parteilinien auseinander. Konservative (meist Republicans) begrüßen den Wettbewerb, da zum einen kulturell dem „Schröpfen“ wohlhabender Schichten ein Gegenpol gesetzt würde, wobei gleichzeitig eine zurückhaltende Ausgabenpolitik und eine unternehmerfreundliche Steuerpolitik befördert werde. Dagegen befürchten Liberale (meist Democrats) ein Austrocknen des Einnahmensystems und eine chronische Unterfinanzierung öffentlicher Dienstleistungen; vgl. zu den versch. Positionen Shan­ 111  Vgl. 112  Die



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Attraktivitätsschub werden dann die anderen Gliedstaaten zu kopieren suchen, indem sie die vorgenommenen Maßnahmen übernehmen oder noch steigern.116 So entstünde eine Abwärtsspirale, die insgesamt die Sozialstandards auf ein suboptimales Niveau absenke.117 Mitunter wird allerdings auch eine gegenteilige Anpassung beobachtet: Im Jahr 1988 erhöhte Mississippi Steuern, um in höhere Gehälter im Bildungssektor zu investieren und so den Anschluss an den direkten Konkurrenten North Carolina nicht zu verlieren.118 Hier bewirkte der Wettbewerbsdruck (die Angst vor dem brain drain von Lehrern) eine Steuererhöhung und verbesserte die Struktur öffentlicher Dienstleistungen im Bildungsbereich (sog. Catch-Up-Imperativ). Diesen Gestaltungsspielraum haben Bundesstaaten jedoch zumeist nicht, wenn ihre Steuerbasis aufgrund der Wirtschaftsinfrastruktur dauerhaft anämisch ist.119 Gerade bei wesentlichen nationalen Gemeinschaftsgütern wie Bildung können so Leistungsgefälle entstehen, die die weitere Steuerbasis erodieren lassen, weil eine qualitativ schlechtere Bildungsinfrastruktur nachweislich Einkommensdifferenzen perpetuiert und damit die Steuerbasis weiter schmälert.120

non, in: Kenyon  /  Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S.  117 f. 116  Die Anpassung liegt vor allem im Eigeninteresse der Gliedstaaten. Sind ihre Steuerbelastungen zu hoch, verlieren sie Unternehmen und einkommensstarke Bevölkerungsschichten an die anderen Gliedstaaten. Bleiben ihre Sozialleistungen auf dem höheren Niveau, ziehen sie (als sog. „welfare haven“) einkommensschwache, d. h. Sozialkosten verursachende Bevölkerungsschichten an; vgl. Musgrave, in: Kincaid (Hrsg.), Federalism, Vol. 4, S. 63 (66); McGuire, in: Kenyon / Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S. 153 ff. Gegen die Magnetwirkung ihrer Sozialleistungen hatten die Bundesstaaten weitgehend dadurch Vorsorge getroffen, dass sie eine Mindestwohndauer im Bundesstaat (minimum residency re­ quirement) von einem Jahr zur Voraussetzung von Leistungsansprüchen machten, vgl. Peterson, The Price of Federalism, S. 121 ff. Diese Praxis wurde vom Supreme Court jedoch in Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618 (1969) als Verletzung des 14. Verfassungszusatzes (Equal Protection Clause) untersagt. 117  Die Terminologie ist insofern missverständlich, als die zugehörigen makroökonomischen Modelle keinesfalls ein Absenken auf Null („bottom“) nahelegen, sondern ein Einpendeln auf einem (dennoch) zu niedrigen Niveau, vgl. Oates, in: Kincaid (Hrsg.), Federalism, Vol. 4, S. 1 (18 f.); Boadway / Shah, Fiscal Federalism, S. 504. 118  Vgl. Shannon, in: Kenyon  / Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S. 121. 119  Vgl. Shannon, in: Kenyon  / Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S. 124. 120  Vgl. Gramlich, Nat. Tax J. 46 (1993), S. 229 (233).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

2. Finanzielle Ausgleichsmechanismen Ungeachtet des grundsätzlich freien Wettbewerbs der Bundesstaaten untereinander und ihrer Steuererhebungskompetenzen sind sie finanziell nicht voll autonom, sondern bedürfen besonderer Zuwendung durch die Bundesebene. Die Steuererhebungskompetenz läuft schließlich leer, wenn faktisch kaum weiteres Erhebungspotential vorhanden ist, weil die ökonomische Infrastruktur nicht tragfähig ist. Ärmere Bundesstaaten wie Mississippi oder Alabama leiden unter dauerhafter wirtschaftlicher Schwäche und können von ihrer Steuerkompetenz kaum zusätzlichen Gebrauch machen, ohne ihre Wirtschaftsstandorte noch unattraktiver zu machen.121 Vor allem diese Bundesstaaten sind neben den Einnahmen aus eigenen Steuern auf weitere finanzielle Unterstützung angewiesen. a) Grants-in-aid Die Alimentierung der Bundesstaaten durch die Bundesebene erfolgt hauptsächlich122 durch finanzielle Zuwendungen (sog. grants oder grants-inaid).123 Zum einen dienen diese Zuwendungen als Beihilfen (sog. matching grants oder categorical grants) in einer Mischfinanzierung von öffentlichen Dienstleistungen und Projekten der Behebung von spillover-Effekten.124 121  Mitunter besteht allerdings ein Spielraum für Steuererhöhungen, wenn dadurch direkt wieder in die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts investiert wird, z. B. durch Investitionen im Bildungssektor; siehe dazu bereits oben unter 1. b). 122  Darüber hinaus bietet bereits das Steuersystem einen erheblichen Subven­ tionscharakter. Sec. 164 (a) des Internal Revenue Code (I.R.C.) legt fest, dass bestimmte Steuerbeträge, die an die Bundesstaaten abzuführen sind, bei der Zahlung von Bundessteuern abgezogen werden können. Bereits im Jahr 1978 wurden somit indirekt 13,5 Mrd. US-Dollar an die Bundesstaaten ausgekehrt, vgl. Office of Management and Budget (OMB), Special Analyses, Budget of the United States Government, Fiscal Year 1978, S. 269 f., zitiert in: Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976– 1977), S. 271 (Fußn. 7 u. 144). Diese Möglichkeit kann den Bundesstaaten auch Steuererhöhungen erleichtern, soweit diese für die Bürger teilweise mittels Abzug von den Bundessteuern kostenneutral erfolgen, vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976– 1977), S. 271 (300). Ausführlich zur Abzugsfähigkeit bestimmter Kosten und damit einhergehender Politiksteuerung Mason, Cal. L. Rev. 99 (2011), S. 975 (1021 ff.). 123  Siehe Definition bei Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 117 ff. Zu den Ursprüngen der Zuwendungen in land grants vgl. Hertel, in: Vitzthum (Hrsg.) Europäischer Föderalismus, S. 13 (28); Ca­ sino, Urb. Law. 20 (1988), S. 25 (28 ff.). Grundlegend dazu Oates, Fiscal Federalism, S.  65 ff. 124  Zum Beispiel kann durch Zuschüsse der Umstand abgemildert werden, dass ein oberhalb eines Flusswasserlaufs gelegener Bundesstaat besondere Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität unternimmt, von denen unterhalb des Wasserlaufs gelegene Bundesstaaten profitieren, ohne Ausgaben dafür zu tätigen; vgl.



A. Föderalstaaten71

Zum anderen können thematisch gebündelte Zuwendungen (sog. block grants) bestehende horizontale Ungleichgewichte aufgrund von Diskrepanzen in der Finanzausstattung abbauen helfen und minimale Leistungsstandards etablieren.125 Die Vergabe von grants erfolgt in Vertragsform.126 Die Befugnis zur Ausgabe solcher Zuschüsse (spending power) ist nach herrschender Meinung127 nicht an die Legislativkompetenzen der Bundesebene gebunden. Grundlage der grant programs ist die Annahme, dass bedürfnisnähere regionale Einheiten besser als die Zentralregierung geeignet sind, die Mittel den jeweiligen Zwecken zuzuführen. Im Zusammenhang mit der Unterstützung von notleidenden Familien (Temporary Assistance for Needy Families Program, TANF) hat der US-Kongress diesbezüglich festgestellt: „(T)he best welfare solutions come from those closest to the problems, not from the Federal government. Thus, the legislation creates a broad block grant for each ­Mashaw / Calsyn, Yale L. & Pol’y Rev. 14 (1996), S. 297 (308). In solchen Fällen sollte der Deckungsbetrag des Bundes dem angenommenen Vorteil der auswärtigen Dienstleistungsempfänger angenähert sein, vgl. Gramlich, Nat. Tax J. 46 (1993), S. 229 (230 f.). Hinsichtlich benefit spillovers befindet sich die Bundesebene allerdings längst im Bereich der Übersollerfüllung. Die bereitgestellten Mittel zur Kostenteilung übersteigen meist bei weitem den Vorteil, den sich auswärtige Bürger tatsächlich sichern. Ein Beispiel dafür ist der höchstsubventionierte Straßenbau: Im Bereich der Interstate Highways, d. h. der Fernstraßen, die durch mehrere Bundesstaaten verlaufen – ein originärer Bereich nationalen Ausgleichsbedarfs und -interesses – lagen die Kostenübernahmeanteile der Bundesebene bereits in der fiskalisch eher zurückhaltenden Reagan-Ära bei 90 %. Erhebungen des Congressional Budget Office (CBO) belegten dagegen lediglich einen Anteil von 30 % von Fahrern, die entsprechende Highwayabschnitte nutzten, aber außerhalb des jeweiligen Bundesstaates ansässig waren; vgl. Gramlich, Nat. Tax J. 46 (1993), S. 229 (303 ff.). 125  Vgl. ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 4; McGuire, in: Kenyon / Kincaid (Hrsg.), Competition among States and Local Governments, S. 153 (160). Gramlich, Nat. Tax J. 46 (1993), S. 229 (235) sieht solche Effekte auch durch matching grants gewährleistet. Ohnehin ist der Unterschied zwischen block grants und categorical grants mitunter nur ein gradueller, vgl. Mashaw / Calsyn, Yale L. & Pol’y Rev. 14 (1996), S. 297 (302); Casino, Urb. Law. 20 (1988), S. 25 (26). 126  Vgl. Barron / Dienes, Constitutional Law, 3. Auflage, S. 76; Congressional Research Service, US-Const. Comm., Art. 1 Sec. 8 Cl. 1, S. 165. Die vertragsrechtliche Deutung der Mittelvergabe entwickelte der Supreme Court bereits in United Sta­ tes v. Butler, 297 U.S. 1 (1936). In Pennhurst State Sch. & Hosp. v. Halderman, 451 U.S. 1 (1981) (1) formulierte das Gericht prägnant: „(L)egislation enacted pursuant to the spending power is much in the nature of a contract; in return for federal funds, the States agree to comply with federally imposed conditions. The legitimacy of Con­ gress’ power to legislate under the spending power thus rests on whether the State voluntarily and knowingly accepts the terms of the ‚contract‘.“ 127  Vgl. Nowak / Rotunda / Young, Constitutional Law, 3. Auflage, S. 185; Bar­ ron / Dienes, Constitutional Law, 3. Auflage, S. 73 ff.; Tribe, American Constitutional Law, 2. Auflage, S. 322; Häde, ZfZ 1994, 228 (229); Mason, Cal. L. Rev. 99 (2011), S. 975 (1033); dazu grundlegend United States v. Butler, 297 U.S. 1 (1936) (65 f.).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

State to reform welfare in ways that work best. It gives States the flexibility to design their own programs, define who will be eligible, establish what benefits and services will be available, and develop their own strategies for achieving program goals“128

Es handelt sich bei den grants keineswegs um bloße Zubrote. Das System der grants-in-aid hat sich vor allem unter dem New Federalism der ReaganAdministration zunehmend zu einer festen Komponente der bundesstaatlichen Finanzausstattung entwickelt.129 Mittlerweile machen die verschiedenen grant programs über ein Fünftel des gesamten Bundesbudgets aus – 23 verschiedene Rechtsträger legten im Steuerjahr 2010 über 1.670 Programme mit einem Volumen von mehr als 600 Mrd. US-Dollar auf.130 Das berühmteste Beispiel eines conditional grant ist das staatliche Gesundheitsprogramm für Bedürftige und einkommensschwache Gruppen namens „Medicaid“ (vgl. Abschnitt XIX des US Social Security Act).131 Obwohl im Kern von den Bundesstaaten organisiert, finanziert der Bund den Großteil der Kosten.132 Der Anteil des Bundes an den Kosten ist gesetzlich sogar auf mindestens 50 % festgelegt. Der Anteil der Bundesebene an den Kosten wird für jeden Bundesstaat einzeln anhand der Pro-Kopf-Einkommen im Verhältnis zum nationalen Durchschnittseinkommen berechnet.133 Mit einem im Verhältnis zu aufgewandten Eigenmitteln der Bundesstaaten progressiven Bundeszuschuss sollen die Staaten angehalten werden, eine möglichst weitgehende 128  Zitiert in: Administration for Children and Families, HHS, Temporary Assistance For Needy Families Program, Final Rule, Federal Register Vol. 64 No. 69 (12. April 1999), S. 17720 (17725). Paradoxerweise hat sich gerade im Bereich sozialer Dienstleistungen eine private Auftragnehmerschaft („poverty-industrial complex“) herausgebildet, die mittels kosteneffizienter nationaler Verteilungsstruktur und Strategien zur Einkommensmaximierung die bundesstaatlichen Verwaltungsstellen lukrativ ersetzt. Die Delegation hoheitlicher Aufgaben im Bereich der Sozialleistungen an nationale Subunternehmer konterkariert die Grundannahme des amerikanischen Fiskalföderalismus, dass die größere Problemnähe der Bundesstaaten zu so­ zialen Fragen diese am besten zur Lösung befähigt; vgl. zum Ganzen Hatcher, Ariz. L. Rev. 52 (2010), S. 675. 129  Das Volumen der Programme zeigt dabei ein exponentielles Wachstum, vgl. Angaben bei Cantelme, Pub. Cont. L. J. 25 (1995–1996), S. 335. 130  Siehe United States General Accountability Office, Bericht „Federal Grants: Improvements Needed in Oversight and Accountability Processes“ vom 25. Juli 2011 (GAO-11-773T), abrufbar unter: http://www.gao.gov / new.items / d11773t.pdf. 131  Siehe zur Geschichte und Entwicklung des Medicaid-Programms Huberfeld, U.C. Davis L. Rev. 42 (2008–2009), S. 413 (418 ff.). 132  Dieses Gefüge bietet immer wieder Grund für Spannungen zwischen den Föderalpartnern, siehe etwa jüngst die Entscheidung National Federation of Indepen­ dent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1 (2012). Dazu unter 2. a) (2). 133  Federal Medical Assistance Percentage – FMAP, vgl. Sec. 1905(b) des Social Security Act.



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Abdeckung der medizinischen Grundversorgung ihrer bedürftigen Einwohner zu erzielen.134 Seit den 1970er Jahren wurden in verschiedenen Konsolidierungsrunden Einzelprogramme zunehmend thematisch in Blöcken gebündelt (block grants) und mit weniger Nebenpflichten versehen.135 Damit wurde den Bundesstaaten Entscheidungskompetenz in Ausgabenangelegenheiten zurückgegeben unter Inkaufnahme divergierender Leistungsniveaus in den konsolidierten Bereichen öffentlicher Dienstleistungen.136 (1) S  ozialstaatsbindung der Grant-Vergabe unter der General Welfare Clause Unter Erwägung des Grundsatzes, dass die amerikanische Staatsverfassung keine Verpflichtung der Bundesebene auf die Schaffung und Erhaltung einheitlicher Lebensverhältnisse kennt,137 mutet die redistributive Anglei134  Vgl. Hatcher, Ariz. L. Rev. 52 (2010), S. 675 (686, 716). Das matching re­ quirement dient allgemein der disziplinierten Durchführung von Projektvorhaben, in denen die Empfängerstaaten (oder -gemeinden) dann finanziell involviert sind; vgl. Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 126. 135  Aktuell ist die Diskussion um die Umwandlung des Medicaid-Programms (derzeit ein conditional grant) in einen block grant wieder entflammt. Die Bundesstaaten plädieren für die Umstellung, die ihnen wesentlich mehr Entscheidungsspielraum geben würde. Ein entsprechender Budgetvorschlag des republikanischen Abgeordneten Paul Ryan (Wisconsin) scheiterte im Jahr 2011, vgl. N.Y. Times v. 11. Mai 2011: „Critics Fear G.O.P.’s Proposed Medicaid Changes Could Cut Coverage for the Aged“ (S. A17) und N.Y. Times v. 25. Mai 2011: „Democrats force a Medicare vote, pressuring G.O.P.“ (S. A1). Mashaw / Calsyn, Yale L. & Pol’y Rev. 14 (1996), S. 297 (323) bringen gegen eine solche Umstellung zu rein bundesstaatlichen Medicaid-Programmen mit Finanzierung durch block grants auch ein prozessuales Argument vor: Im Falle von Zuwendungsprogrammen (categorical grants) behält die Bundesebene die Verwaltungshoheit und stellt prozessuale Gewährleistungen auf. D. h. die Ansprüche werden vor Bundesgerichten durchgesetzt, da die Bundesstaaten lediglich Ausführungsorgane des Bundes sind – anders z. B. in Deutschland, wo die Länder die Gesetze des Bundes in der Regel als eigene Angelegenheit ausführen. Da der Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung für Personen mit niedrigem Einkommen Bestandteil des nationalen Interesses der Sozialfürsorge ist, erscheint die diesbezügliche Umwandlung in rein bundesstaatliche Programme ohne entsprechende Gewährleistungen durch Bundesrecht und Bundesgerichte nicht zweckmäßig. 136  Die Staaten schöpfen ihre Budgethoheit über die block grants gern voll aus und verwenden die gebündelten Mittel aus den ehemaligen categorical grants oftmals nicht entsprechend der Zielstellung der entsprechenden Programme, vgl. Lamb, Clrgh. Rev. 29 (1995–1996), S. 847 (849). Andererseits kann sich der erweiterte Entscheidungsspielraum auch förderlich für Leistungsempfänger auswirken, vgl. Wil­ liamson, J. Legis. 10 (1983), S. 277 (289 ff.). 137  Anders etwa das deutsche Grundgesetz (Art. 72 Abs. 2; Art. 106 Abs. 3 GG).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

chung von Leistungsniveaus in den Bundesstaaten zunächst als reine Kollateralfolge der vermehrten Einflussnahme durch den Bund mittels der condi­ tional grant programs an.138 Dann aber wäre die Frage der Ausgleichswirkung dem politischen Geschick einzelner Akteure in den entsprechenden Appropriation Sub-Committees vorbehalten.139 Derlei unsystematische Pragmatik ist dem amerikanischen Verfassungsleben gewiss nicht fremd. So fehlt etwa bis heute eine dogmatische Einbettung der grants durch den Supreme Court oder die Wissenschaft.140 Mit dem Überschuss an politischem Willen, das Optimum für die eigene constituency herauszuschlagen, der die politischen Akteure im Kongress auszeichnet, verwundert nicht, dass Fragen der öffentlichen Leistungspflichten angesichts divergierender ökonomischer Entwicklungen in den Bundesstaaten noch kaum grundlegend erforscht sind. Dagegen ist die Literatur und Rechtsprechung zur Frage der Befugnisse der Bundesebene als Teil eines klassischen Abgrenzungskonflikts im amerikanischen Bundesstaat schier unübersehbar. Der Supreme Court selbst hat in seiner Rechtsprechung nur die Leitplanken der Befugnisse zur Ausgabe von grant programs aufgestellt. Inwieweit etwa das Allgemeinwohl (general welfare) eine Redistributivwirkung in den grants sogar bedingen könnte, ist von der Rechtsprechung noch unbeantwortet geblieben. Das heißt indes nicht, dass der Gesetzgeber ein derartiges Handlungsmotiv gar nicht kennt. Bereits in den Maßnahmen des New Deal, insbesondere im National Industrial Recovery Act, hat der Kongress eine Störung der Lebensverhältnisse der Bürger als Handlungsgrundlage angenommen.141 Gera138  So Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 125, der die Kooperation der reicheren Bundesstaaten in Gefahr sieht, sollte eine stärkere Redistribution eine „finanzielle Verführung“ dieser Bundesstaaten zur Teilnahme an den im Bundesinteresse geförderten Vorhaben entfallen lassen. Diese Argumentation orientiert sich allerdings einseitig am unterstellten Zweck der „allseitigen Beteiligung“ an den unitaristischen Förderungszielsetzungen. Sie vernachlässigt, dass gleichmäßige Leistungsniveaus ebenfalls gewünscht sind; vgl. ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 10. Überdies steht zu bezweifeln, dass Bundesstaaten Bundeszuschüsse ausschlagen würden, wenn sie den Ausgabezweck an sich teilen und (eventuell sogar im Sinne ihrer Wettbewerbsposition zu den anderen Staaten) als vorteilhaft für die eigene wirtschaftliche Entwicklung sehen, wie es etwa bei Infrastrukturzuschüssen der Fall sein dürfte. 139  Entsprechend Peterson, The Price of Federalism, S. 146 ff. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (305): „The total volume of grants-in-aid to states is not planned on any overall basis such as state need. It is simply the sum of a large number of individual federal decisions.“ 140  Vgl. Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 158. 141  Vgl. § 1 S. 1: „A national emergency productive of widespread unemployment and disorganization of industry, which burdens interstate and foreign commerce, affects the public welfare, and undermines the standards of living of the American people, is hereby declared to exist.“ (Hervorhebung hinzugefügt).



A. Föderalstaaten75

de im Hinblick auf die naturgemäß schwache Stellung der Staaten in na­ tionalen Wirtschaftskrisen ist durchaus damit zu rechnen, dass die Bundesebene ihre Einflussmöglichkeiten weiter ausbauen wird und eine Vereinheitlichung der Finanzausstattungen mit ihren Bundesmitteln befördert. Insofern kann die starke und schleichend zunehmende Abhängigkeit der Bundesstaaten von federal money letztlich dazu führen, die Dichotomie aus (bundesweit garantierten) Mindestniveaus in der öffentlichen Daseinsvorsorge und der bundesstaatlichen Souveränität zugunsten kohäsiver Effekte in der Finanzausstattung aufzulösen.142 (2) B  undesstaatliche Politiksteuerung durch bedingte Zuwendungen (conditional grants) Das System bundesstaatlicher Zuwendungen dient seit jeher der Bundesebene zur indirekten Einflussnahme auf lokale Politik.143 Durch die Bereitstellung von Bundesmitteln in Bereichen, in denen die Bundesstaaten legislativbefugt sind, kann die Bundesregierung die Staaten regelrecht dazu „verführen“, eigene Mittel nach nationalen Vorstellungen umzuschichten.144 Die Anreizwirkung der Mittelvergabe beeinflusst damit die Priorisierung in der bundesstaatlichen Finanzplanung.145 Zudem werden oft Bedingungen an die Mittelvergabe geknüpft (sog. conditional grants).146 Vor allem im Bereich bestehender Bundesstaatskompetenzen greift diese Einflussnahme der Bundesebene die Eigenständigkeit der Bundesstaaten an. Umgekehrt können grants in Bereichen, in denen die Bundesebene eine eigene Regelungskompetenz hat, grundsätzlich die bundesstaatliche Souveränität befördern, indem sie neue Entscheidungs- und 142  Anders noch ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 9: „Inequa­ lities in program levels among the States, even when dictated by unequal fiscal re­ sources rather than free choice, tend to be treasured as a hallmark of local self-de­ termination in operation. The distinction between a unitary system in which the Na­ tional Government determines the level of public services in all parts of the land from the proceeds of nationwide taxes and the federal system in which interstate differences in program and service levels are accepted and prized—is a distinction American political thought wants very much to preserve.“ 143  Vgl. Bellia jr., Federalism, S. 209; Annaheim, Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat, S. 269; Whelan / Smith, Hastings Const. L.Q. 6 (1979), S. 751 (784). 144  Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 125. 145  Vgl. ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 56. 146  Die Bedingungen der Mittelvergabe konnten mitunter auch soweit gehen, dass die Bundesebene sich ein Aufsichtsrecht einräumen ließ; vgl. Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung, S. 151.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Gestaltungsspielräume schaffen.147 Die Bundesstaaten hatten sich früh gegen diese Einflussnahme gewehrt. Doch der Supreme Court erteilte verfassungsrechtlichen Bedenken in Massachusetts v. Mellon eine klare Absage: „The State of Massachusetts in its own behalf, in effect complains that the act in question invades the local concerns of the State, and is a usurpation of power, viz: the power of local self-government reserved to the States. Probably it would be sufficient to point out that the powers of the State are not invaded, since the statute imposes no obligation, but simply extends an option which the State is free to accept or reject.“148

Die an sich nicht in Bundeskompetenz stehenden Nebenbestimmungen zu der Mittelvergabe würden dadurch verfassungsrechtlich unbedenklich, dass sie nicht per souveränitätsfeindlichem Eingriff in die Befugnisse der Bundesstaaten durchgesetzt wurden, sondern als souveränitätsschonende vertragliche Unterwerfung der Bundesstaaten unter das grant program.149 Mit dem Verweis auf das Recht jedes Bundesstaates, solche Geldgeschenke auszuschlagen, ordnete der Supreme Court diesen Streit lange Zeit der politischen Ebene zu anstatt der konstitutionellen.150 Dabei spielte indes keine Rolle, inwieweit die Finanzlage des jeweiligen Bundesstaates derartige Entscheidungsrechte zu reiner Makulatur werden lasse.151 Trotz der weit reichenden Möglichkeit, Zuwendungen mit Bindungen und Bedingungen zu versehen, müssen derartige Nebenbestimmungen dennoch grundsätzlich im Bereich der Bundeskompetenzen bleiben. Umgehungen, etwa durch vertragliche Unterwerfung von natürlichen Personen unter Bundesgesetze, hat der Supreme Court bereits in United States v. Butler als verfassungswidrig identifiziert. Darin hatte die Bundesebene mit dem Agricultural Adjustment Act ein Programm zur Förderung der Landwirtschaft aufgelegt, das unter anderem vertraglich zugesicherte Stilllegungsprämien für Landwirte vorsah, die durch eine zusätzliche Bundessteuer finanziert werden sollten. Für die Auferlegung von Stilllegungen als Teil der Regulierung der regionalen Landwirtschaft hatte die Bundesebene nicht die Legislativkompetenz. Das Gericht befand: Häde, ZfZ 1994, S. 228 (230). of Massachusetts v. Mellon, 262 U.S. 447 (1923). 149  Vgl. Bell v. New Jersey, 461 U.S. 773 (790) (1983): „Requiring States to ­honor the obligations voluntarily assumed as a condition of federal funding before recognizing their ownership of funds simply does not intrude on their sovereignty.“ 150  Vgl. Mason, Cal. L. Rev. 99 (2011), S. 975 (1033); Commonwealth of Massa­ chusetts v. Mellon, 262 U.S. 447 (483) (1923): „[…] it is plain that that question, as it is thus presented, is political and not judicial in character, and therefore is not a matter which admits of the exercise of the judicial power.“ 151  Daher hegt Casino, Urb. Law. 20 (1988), S. 25 (40) im Hinblick auf ärmere Bundesstaaten Zweifel am Freiwilligkeitsargument des Supreme Court. 147  Vgl.

148  Commonwealth



A. Föderalstaaten77 „We are not here concerned with a conditional appropriation of money, nor with a provision that, if certain conditions are not complied with, the appropriation shall no longer be available. By the Agricultural Adjustment Act, the amount of the tax is appropriated to be expended only in payment under contracts whereby the parties bind themselves to regulation by the Federal Government. There is an obvious difference between a statute stating the conditions upon which moneys shall be expended and one effective only upon assumption of a contractual obligation to submit to a regulation which otherwise could not be enforced. […] Congress has no power to enforce its commands on the farmer to the ends sought by the Agricultural Adjustment Act. It must follow that it may not indirectly accomplish those ends by taxing and spending to purchase compliance.“152

Der scheinbare Widerspruch zwischen der Aussage, dass der Kongress Bundesmittel für Zwecke zur Verfügung stellen darf, für die er keine Legislativkompetenz hat, und der Aussage, dass er gleichzeitig diese außerkompetentiellen Bereiche nicht regeln darf, löst sich auf, wenn man bedenkt, dass das Gericht in United States v. Butler lediglich untersagt hat, durch die Zahlung von Bundesmitteln Bedingungen durchzusetzen, für deren Sachbereich die Empfängerstaaten nach dem 10. Verfassungszusatz eine eigene Regulierungskompetenz haben.153 Die Befugnisse zur Vergabe bedingter Zuwendungen dagegen wurden mittlerweile vom Supreme Court unter der Zielstellung der Förderung der allgemeinen Wohlfahrt (general welfare) noch erheblich ausgedehnt.154 In South Dakota v. Dole155 befand das Gericht eine Regelung für verfassungsgemäß, die Bundeszuweisungen zum Ausbau der Fernstraßen teilweise an die Bedingung knüpfte, dass der empfangende Bundesstaat den Bezug alkoholischer Getränke nur Bürgern ab 21 Jahren 152  United States v. Butler, 297 U.S. 1 (1936). Der feine Unterschied zwischen vertraglicher Unterwerfung unter Bundesgesetze ohne die notwendige Kompetenz und die direkte Beifügung von durch keine Bundeskompetenz gedeckten Nebenbestimmungen in Massachusetts v. Mellon bleibt dennoch fragwürdig. Verfassungsrechtlich besteht eine vergleichbare Eingriffstiefe, wenn der Mittelempfänger sich den Bundesauflagen oder einer entsprechenden Bundesregelung unterwirft. Letztlich dürfte es dem Bundesgesetzgeber angesichts der Rechtsprechung des Supreme Court leicht fallen, durch geschickte Formulierungen der Vergabeklauseln kompetenziell nicht gedeckte Nebenbestimmungen durchzusetzen, solange an ihnen nur die reine Mittelvergabe hängt. Somit ist es nicht verwunderlich, dass bis auf die jüngste Ausweitung der Krankenversicherung im Rahmen des Patient Protection and Affordable Care Act, 124 Stat. 119, dazu National Federation of Independent Businesses v. Se­ belius, 567 U.S. 1, 46 (2012), keines der Grant-Programme für verfassungswidrig erklärt worden ist, vgl. Congressional Research Service, US-Const. Comm., Art. 1 Sec. 8 Cl. 1, S. 165. 153  Vgl. Claus, Const. Comment. 18 (2001), S. 517 (556). 154  Kritisch im Sinne einer originalistischen Verfassungsauslegung Sweetzer, Const. Rev. 10 (1926), S. 145. Zur Beschränkung des Budgetrechts durch die „General Welfare“-Clause vgl. Claus, 18 Const. Comment. 18 (2001), S. 517. 155  South Dakota v. Dole, 483 U.S. 203 (1987).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

erlaubte. Da South Dakota Personen über 19 Jahren erlaubte, Bier mit höchstens 3,2 % Alkohol zu kaufen, wurden ihm 5 % der Mittel für seine Highways entzogen. Unter dem Gesichtspunkt des sicheren Reisens z­ wischen den Bundesstaaten (safe interstate travel) sah das Gericht keine Umgehung der ansonsten bundesstaatlichen Kompetenz zur Bestimmung des Mindestalters für den Bezug alkoholischer Getränke (vgl. 21. Verfassungszusatz).156 In der jüngsten Entscheidung zur Gesundheitsreform der Obama-Administration hat der Supreme Court dagegen das Freiwilligkeitserfordernis erheblich gestärkt.157 Grundlage waren zwei Änderungen der bestehenden Gesetzeslage durch den Patient Protection and Affordable Care Act158. Damit wurde einerseits eine quasi allumfassende Versicherungspflicht (indivi­ dual mandate) eingeführt. Zum anderen wurde den Bundesstaaten eine Ausweitung des Versicherungsschutzes im Rahmen der von ihnen verwalteten Programme Medicaid und Medicare auf viele zuvor nicht erfasste Personengruppen auferlegt. Wenn die Bundesstaaten diese Ausweitung nicht vornehmen würden, sollten die Bundesmittel dafür gekürzt oder gar gestrichen werden. Das Gericht befand, vor allem diese Streichung der Mittel belasse mit ihrer Kostenfolge keinen Handlungsspielraum bei den Bundesstaaten, wodurch die grundsätzlich bestehende Ablehnungsmöglichkeit lediglich theoretischer Natur wäre.159 In der Rechtsprechung des Supreme Court haben sich letztlich fünf allgemeine Voraussetzungen für die Verfassungsmäßigkeit von conditional grants herausgebildet: Der Ausgabezweck muss im Interesse des Allgemeinwohls liegen.160 Die Bedingungen müssen eindeutig sein, damit der Empfängerstaat eine informierte Entscheidung treffen kann.161 Die Bedingungen müssen dem Ausgabeinteresse der Bundesebene entsprechen.162 Die Mittel dürfen die Bundesstaaten nicht verleiten, verfassungswidrige Maßnahmen zu ergreifen,163 und die Programme dürfen keinen Zwang darstellen.164 156  In einem abweichenden Votum monierte Richterin O’Connor dagegen, dass es in der Form an einer hinreichend kohärenten Verbindung des Fernstraßenbaus und des Problems Alkohol am Steuer fehle; vgl. Dissenting Opinion im Urteil, S. 212 ff. 157  National Federation of Independent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1, (2012). 158  124 Stat. 119. 159  National Federation of Independent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1, 45 ff. (2012). 160  South Dakota v. Dole, 483 U.S. 203, 207 (1987). 161  Pennhurst State School & Hosp. v. Halderman, 451 U.S. 1, 17 (1981). 162  Steward Mach. Co. v. Collector, 301 U.S. 548, 590 (1937). 163  South Dakota v. Dole, 483 U.S. 203, 210 f. (1987). 164  Steward Mach. Co. v. Collector, 301 U.S. 548, 589 f. (1937); zuletzt bestätigt in National Federation of Independent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1 (2012).



A. Föderalstaaten79

Gerade im Hinblick auf das Kriterium der Zwangsausübung (coercion) hat der Supreme Court seine ehemals formalistische Betrachtungsweise, die nach tatsächlich zwanghaft durchsetzbaren Nebenbestimmungen zu den grants sucht, statt die Wirkung der Maßnahmen zu betrachten, nunmehr mit der jüngsten Entscheidung National Federation of Independent Businesses v. Sebelius165 erfreulicherweise aufgegeben. Die Terminologie der grant contracts lässt sich darüber hinaus ohne Weiteres an diese Voraussetzung anpassen, ohne dass gerade ärmeren Bundesstaaten gegenüber auf pater­ nalistische Vorgaben verzichtet werden müsste. Die Zwangswirkung der Nebenbestimmungen falle dem Zuwendungsgeber durch die wirtschaftliche Bedürftigkeit des Empfängerstaates quasi zu.166 Heutzutage reicht das Budgetrecht der Bundesebene ohnehin nahezu in jeden Bereich hinein, sodass selten einmal anzunehmen ist, dass ein grant wegen seiner Nebenbestimmungen als verfassungswidrig gelten sollte.167 b) Redistributive Elemente der Finanzverfassung (1) Verteilungswirkung der grants Die grant programs verfügen trotz des hauptsächlichen Fokusses auf Projekte und Sachgebiete (Bsp.: Fernstraßenbau, medizinische Versorgung Bedürftiger mittels Medicaid) auch über nicht unerhebliche Verteilungswirkung.168 Dabei spielen die Zuteilungsformeln der grants-in-aid-Programme 165  National

Federation of Independent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1 (2012). hält Claus, Const. Comment. 18 (2001), S. 517 (548) die effektive Zwangswirkung auch für graduell ansteigend mit der Bedürftigkeit des Empfängerstaats. 167  Vgl. Barron / Dienes, Constitutional Law, 3. Auflage, S. 75. Nowak / Rotunda /  Young, Constitutional Law, 3. Auflage, S. 185 nehmen das jedenfalls für einen Eingriff in die regulatorische Befugnisse (police powers) der Staaten an. Bisher wurde stets eine verfassungskonforme Auslegung bevorzugt; vgl. Congressional Research Service, US-Const. Comm., Art. 1 Sec. 8 Cl. 1, S. 165. Auch in der Entscheidung National Federation of Independent Businesses v. Sebelius, 567 U.S. 1 (2012) vermeidet der Supreme Court die vollständige Zurückweisung des Gesetzgebers und legt die Zwangswirkung als Steuer auf individuelles Verhalten aus, vgl. S. 33 ff. des Urteils. 168  Hinsichtlich der Angleichungsintensität an den nationalen Durchschnitt im Sinne eines Finanzausgleichs gehen die finanzwissenschaftlichen Meinungen auseinander. Sala-i-Martin / Sachs, in: Canzoneri  /  Grilli  /  Masson (Hrsg.), Establishing a central bank, S. 195 ff. behaupten signifikante Angleichsraten im Steuerverteilungsund Zuwendungssystem (grants); a. A. mit teilweise erheblich niedrigeren Werten für den Einfluss der grants und der Steuerverteilung von Hagen, in: Fair / de Boissieux (Hrsg.), Fiscal policy, taxation and the financial system in an increasingly integrated Europe, S.  339 ff.; Asdrubali / Sørensen / Yosha, Q. J. Econ. 111 (1996), S. 1081. 166  Insofern

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eine zentrale Rolle.169 In ihnen wird als Maßstab meist neben dem Finanzierungsbedarf in Bezug auf das konkrete Sachproblem (Bsp.: Bedarf an Krankenhausbau gemessen am gesamten Patientenaufkommen im Verhältnis zu bestehenden Kapazitäten) auch eine Formel zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Bundesstaates nach der Bevölkerungszahl und dem Durchschnittseinkommen angelegt, sodass die Bundesstaaten nach Bedürfnis und Bedürftigkeit gewichtete Geldmittelanteile erhalten.170 Die Formel enthält meist eine zweifache Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit. Zum einen wächst der Berechtigungsanteil (allotment ratio) der einzelnen Bundesstaaten antiproportional zu ihrem Pro-Kopf-Einkommen.171 ­Daher kann es sein, dass im selben grant program Delaware 15 $ pro Einwohner erhält und Mississippi 30 $. Zum anderen werden die Finanzierungsanteile der einzelnen Bundesstaaten im Rahmen eines matching requi­ rement variiert. Die Finanzierungsanteile des Bundes bei unbegrenzten Ausgabeprogrammen („open-end“ categorical grants) etwa schwanken entlang des Durchschnittseinkommens im Empfängerstaat zwischen 50 % und bis zu 80 %, d. h. für jeden Dollar, den der Empfängerstaat im jeweiligen Programm ausgibt, wird der Bund zwischen 50 und 80 Cent zuschießen.172 Grund hierfür ist, dass wohlhabende Staaten bei gleichmäßigen Finanzierungsanteilen besser gestellt sind. Wenn zum Beispiel ein Bundesfinanzierungsanteil von 50 % für einen grant zum Ausbau des Highwaynetzes besteht und die Bundesstaaten 10 Mio. $ investieren wollten, würde es einem wohlhabenderen Bundesstaat wie Massachusetts leichter fallen, die erforderlichen 5 Mio. $ aus dem eigenen Etat aufzubringen, um maximale Mittel des Bundes zu erhalten, als zum Beispiel Mississippi, dass über keine Budgetüberschüsse verfügt. Daher wird durch diese Einschränkungen der potentiell abrufbare Betrag in der Mischfinanzierung von Infrastrukturprojekten für strukturell schwache Bundesstaaten wie Mississippi stets höher ausfallen als für vermögende Bundesstaaten wie Massachusetts.173 Damit wird dem Umstand entgegengewirkt, dass bei paritätischen Mischfinanzie169  Bsp.: Das Programm zur Förderung des Gemeindewesens (Community Devel­ opment Block Grant program for Entitlement Communities) berücksichtigt in seiner Verteilungsformel unter anderem Bevölkerungsgröße, Armutsgrade und die Besiedlungsdichte (vgl. § 106 des Housing and Community Development Act of 1974, 42 U.S.C. 5306). Siehe die genaue Verteilungsformel samt Erklärung des Programms für den Krankenhausbau bei Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 123 (dort Fußn. 439). 170  Übersicht über die gängigen Verteilungsformeln bei ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 32 ff. 171  Vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (305). 172  Vgl. ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 40. 173  Vgl. Häde, ZfZ 1994, S. 228 (233). Defuns, Die Bundessubventionen als Problem des Föderalismus in den USA, S. 146.



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rungsmodellen stets wohlhabendere Bundesstaaten im Vorteil sind, da sie einfacher und intensiver auf eigene Steuermittel zugreifen können. Mit der progressiven Mischfinanzierung wird – ungeachtet der gesetzgeberischen Intention174 – zumindest teilweise der divergierenden wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesstaaten entgegengesteuert.175 Nebenbei werden auch Anreizmomente beseitigt, auf bundesstaatlicher Ebene suboptimale Versorgungsniveaus zugunsten der Förderung der Standortattraktivität zu etablieren.176 Insgesamt ist indes keine völlige Angleichung der bundesstaatlichen Finanzausstattungen gewollt. Dieser Effekt ist der eigenen politischen Leistung der jeweiligen Bundesstaaten im Wettbewerb mit den anderen Bundesstaaten vorbehalten. Vielmehr dient die Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bundesstaaten in den appropriation formulas der Chancengerechtigkeit im föderalen Wettbewerb einerseits und der unitarischen Etablierung einer nationalen Leistungsuntergrenze in essentiellen öffentlichen Bereichen andererseits.177 Redistributive Solidarität soll Kohäsion bewirken, aber zugleich Wettbewerb zulassen. (2) Verteilungswirkung des Steuersystems Die Verteilung der Lasten und Kosten nationaler Entwicklungsprogramme ist nicht auf die Mittelvergabe beschränkt. Bereits in der Finanzierung der Bundesprogramme aus Bundesmitteln steckt ein redistributiver Faktor, der durch die doppelte Besteuerung von Einkommen entsteht. Ungeachtet der steuerlichen Situation in den einzelnen Bundesstaaten setzen die Bundesein174  Zu der ursprünglichen Konzipierung der grant programs vor dem New Deal der 1930er Jahre und ihren Defiziten siehe ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 5 f. 175  Dieser „Finanzausgleich“ wird weithin nur als Nebeneffekt des eigentlichen Zwecks, eine möglichst umfassende Beteiligung der Gliedstaaten an den jeweiligen Programmen zu erreichen, gesehen; vgl. Ehringhaus, Der kooperative Föderalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 125. Trotz einer völlig unterschiedlichen Konzeption kommen die USA damit zu ähnlichen redistributiven Ansätzen wie Deutschland, obgleich diese noch zögerlich sind, vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (304, 310 f.). Heise, Bündische Solidarität oder föderaler Wettbewerb?, S. 152 kommt für die Frage der chancengerechten Finanzausstattung zu demselben Befund. Teilweise wird jedoch das horrende Einkommensgefälle zwischen einzelnen Bundesstaaten (Mississippi verfügt nur über ca. 54 % des Pro-KopfEinkommens von Connecticut, vgl. U.S. Census Bureau, 2010 American Community Survey, Abschnitt S1902 „Mean Income in the past 12 months“) angeführt, um die Sinnhaftigkeit eines umfassenderen Redistributionsmechanismus wegen Überlastungsgefahr in Zweifel zu ziehen, vgl. Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (314). 176  Vgl. Boadway / Shah, Fiscal Federalism, S. 504. 177  Vgl. ACIR, The Role of Equalization in Federal Grants, S. 47 f.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

kommensteuer und die Bundesgewerbesteuer unterschiedslos an. Entsprechend der größeren Leistungsfähigkeit der Einwohner und heimischen Unternehmen in den wohlhabenderen Bundesstaaten werden dort in absoluten Zahlen mehr Bundessteuern eingenommen. Im Steuerjahr 2009 etwa betrugen die gezahlten Steuern aus Einkommen und Gewerbe (Personal and Business Income Tax Collections) in Massachusetts 70,1 Mrd. $ und in Mississippi 9,6 Mrd. $.178 Damit zahlte Massachusetts über siebenmal so viel in die Bundeskasse ein wie Mississippi. Massachusetts (6.547.629 Einwohner) hat allerdings nur etwas mehr als doppelt so viele Einwohner wie Mississippi (2.967.297).179 Dennoch erhielt Massachusetts im gleichen Zeitraum nur einen Anteil an den Bundesmitteln (grants) von insgesamt 11,4 Mrd. $, während Mississippi 13,6 Mrd. $ erhielt.180 Das Refinanzierungsgefälle offenbart die interstaatliche Subventionswirkung, die der einheitlichen Steuererhebung der Bundesebene bei gleichzeitig diskriminatorischer Mittelvergabe zukommt. Da die Bundesstaaten in ständigem Steuerwettbewerb zueinander stehen, können sie diese Abschöpfungseffekte auch nicht durch allzu große Aufschläge auf die Einkommens- und Gewerbesteuern des Bundes abmildern. Somit zahlen die wohlhabenderen Bundesstaaten in den Vergabetopf mittelbar durch den höheren Steuertrag für die Bundesebene und die damit schrumpfende eigene Steuerbasis mehr ein, als sie daraus zur Finanzierung von bundesstaatlichen Vorhaben erhalten. Über den Umweg der Steuererhebung entsteht hier eine „Nettozahlerproblematik“, wie sie aus föderalen Ordnungen mit Direktzahlungen – etwa der BRD mit ihrem horizontalen Finanzausgleich durch direkte Ländertransfers oder der EU mit dem Beitragssystem aus Mehrwertsteueranteilen – bekannt ist. 3. Der bundesstaatliche Ausnahmezustand Trotz ausufernder Staatsverschuldung hat die rechtswissenschaftliche Forschung im Einklang mit der politischen Klasse das Problem der finanziellen Tragfähigkeit öffentlicher Haushalte in den USA lange vernachlässigt.181 Lediglich sporadisch flammt die Diskussion um die Folgen galoppierender Verschuldung wieder auf. Besonderes Interesse wird dabei stets der Bundesebene zuteil, wobei die Bundesstaaten meist vernachlässigt werden.182 Im 178  Vgl.

Angaben des Internal Revenue Service, Data Book 2009, S. 12. Census Bureau, The 2010 Census, abrufbar unter http://2010.cen

179  Anagben:

sus.gov. 180  Vgl. U.S. Census Bureau, Statistical Abstract of the United States: 2012, abrufbar unter: http://www.census.gov / compendia / statab / 2012edition.html. 181  Vgl. bereits Kritik von Dam, U. Chi. L. Rev. 44 (1976–1977), S. 271 (318). 182  Anfang 2011 versandete der Vorschlag vom Präsidentschaftskandidaten Newt Gingrich, die Bundesstaaten mit der Möglichkeit der geordneten Insolvenz analog



A. Föderalstaaten83

Zuge der globalen Finanzkrise sind jedoch auch budgetäre Problemstellen der Bundesstaaten wieder offen zutage getreten. Staaten wie Illinois und Kalifornien verfügen strukturell über schwache öffentliche Finanzen, deren Lage sich in der jüngsten Finanzkrise zugespitzt hat.183 Im Gegensatz zu der Bundesebene können die Bundesstaaten zwar nur in bescheidenem Maße Schulden aufnehmen,184 weshalb sie nicht unter erdrückenden Zinslasten zu kommunalen Insolvenzen unter Chapter 9 des U.S.C. auszustatten; vgl. N.Y. Times v. 20. Januar 2011: „A Path Is Sought for States to Escape Their Debt Burdens“ (S. A1). Wissenschaftlich wurde der Ansatz jüngst von Skeel jr., States of Bankruptcy, U. of Penn. Law School, Public Law Research Paper No. 11–30 wieder aufgegriffen. 183  Vgl. N.Y. Times v. 5. Dezember 2010: „Mounting Debts by States Stoke Fears of Crisis“ (S. A1). 184  In den meisten Staaten gilt ähnlich der deutschen Schuldenbremse (vgl. Art. 109 Abs. 3 i. V. m. Art. 115 Abs. 2 GG) ein Verbot struktureller Verschuldung oder eine relative (Höhe der Gesamteinkommen als Grenze) Schuldengrenze, vgl. COLO. CONST. Art. X, § 16 („No appropriation shall be made, nor any expenditure authorized by the general assembly, whereby the expenditure of the state, during any fiscal year, shall exceed the total tax then provided for by law and applicable for such appropriation or expenditure“); CONN. CONST. Art. III, § 18 („The amount of general budget expenditures authorized for any fiscal year shall not exceed the estimated amount of revenue for such fiscal year.“); MD. CONST. Art. III, § 52(5a); N.J. CONST. Art. VIII, § 2(2); TEX. CONST. Art. III, § 49-j („The maximum annual debt service in any fiscal year on state debt … may not exceed five percent of an amount equal to the average of the amount of general revenue fund revenues, excluding revenues constitutionally dedicated for purposes other than payment of state debt, for the three preceding fiscal years.“). Manche Staaten sehen eine absolute Schuldengrenze vor, vgl. ARIZ. CONST. Art. IX, § 5 („The State may contract debts to supply the casual deficits or failures in revenues … but the aggregate amount …, shall never exceed the sum of three hundred and fifty thousand dollars …); CAL. CONST. Art. XVI, § 1 („The Legislature shall not, in any manner create any debt or debts, liability or liabilities, which shall, singly or in the aggregate with any previous debts or liabilities, exceed the sum of three hundred thousand dollars … unless the same shall be authorized by law for some single object or work“; IOWA CONST. Art. VII, § 2 („The state may contract debts to supply casual deficits or failures in revenues, or to meet expenses not otherwise provided for, but the aggregate amount (…) shall never exceed the sum of two hundred and fifty thousand dollars“). Mitunter sind auch Volksreferenden erforderlich zur Aufnahme neuer Schulden, vgl. IDAHO CONST. Art. VIII, § 1; ME. CONST. Art. IX, § 14 (grds. Referendum erforderlich für Schuldenaufnahme über 2 Mio. $); MONT. CONST. Art. VIII, § 8 („No state debt shall be created unless authorized by a twothirds vote of the members of each house of the legislature or a majority of the electors voting thereon.“); N.Y. CONST. Art. VII, § 11; Wis. CONST. Art. VIII, §§ 6, 7 (Referendum erforderlich für die Aufnahme von Schulden jenseits von gewissen grundwertbasierten Grenzen) oder besondere Zustimmungserfordernisse der Legislativkörper werden aufgestellt (DEL. CONST. art. VIII, § 3 („No money shall be borrowed …, but pursuant to an Act of the General Assembly, passed with the concurrence of three fourths of all the members elected to each [House]“).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

leiden. Allerdings hat sich die zunehmende Verlagerung von Aufgaben und entsprechenden Kosten auf die Ebene der Bundesstaaten nicht in einer mitwachsenden Finanzausstattung niedergeschlagen.185 Hinzu kommen laufende Verpflichtungen wie Pensionszahlungen, die teils erhebliche finanzielle Lasten verursachen, die nicht mehr zu verbergen sind.186 So ist zuletzt zum Beispiel für Kalifornien die Lage so prekär geworden, dass mitunter öffentliche Ämter tageweise geschlossen werden mussten.187 Abhilfe hatte die Bundesebene im Jahr 2009 in einer voluminösen Mittelausschüttung gesucht. Mittels des American Recovery and Reinvestment Act (ARRA)188 wurden bestehende Programme um besondere Notfallmittel aufgestockt. Daneben legte die Bundesebene ein großes Konjunkturpaket auf, dessen Maßnahmen vor allem im Infrastrukturausbau Arbeitsplätze schaffen sollten. Infolge des weiten Einschätzungsspielraums, den der Supreme Court der Bundesebene bei der Vergabe von grants zugesteht, können die Krisenbeihilfen mit harten Sanierungsauflagen verbunden werden.189 Lediglich eine Bundesaufsicht würde mit der Souveränität der Bundesstaaten unvereinbar sein.190

Shaw, N.C. L. Rev. 82 (2003–2004), S. 1195 (1196). N.Y. Times v. 30. März 2010: „State Debt Woes Grow Too Big to Camouflage“ (S. A1). 187  Vgl. N.Y. Times v. 5. Februar 2009: „California Scrambles to Prepare for Furloughs“ (S. A18). Zur Entwicklung der kalifornischen Finanzkrise und ihren hauptsächlich strukturell-politischen Ursachen siehe Caragozian, Loy. L. A. L. Rev. 44 (2010–2011), S. 687; Levinson / Stern, Hastings Const. L.Q. 37 (2009–2010), S. 689. 188  Public Law 111-5 vom 17. Februar 2009, 123 Stat. 115. 189  Inwieweit derartige Auflagen lediglich der Staatsräson unterfallen oder sogar verfassungsrechtlich geboten sein könnten, kann hier nicht erschöpfend untersucht werden. Vorstellbar wäre etwa, die Sanierungsauflagen für einen finanziell unterstützten Bundesstaat im Rahmen eines Gleichbehandlungsgrundsatzes für Staaten, die ebenfalls wirtschaftlich angeschlagen sind, einzufordern. Auch ließe sich daran denken, dass die Bundesstaaten, die mittelbar (durch Aufgabe von Teilen ihrer Steuerbasis, siehe oben) mehr in das Bundesbudget einzahlen als die Empfängerstaaten der Sanierungsbeihilfen, ihrerseits von den Empfängerstaaten Solidarität in Form von budgetärer Zurückhaltung und Konsolidierung fordern könnten. Angesichts der fehlenden Sozialstaatsbindung oder Verpflichtung auf die Schaffung und Erhaltung einheitlicher Lebensverhältnisse in der US-Verfassung dürften diese Vorstellungen indes eher politisch umgesetzt werden, als verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entspringen. 190  Vgl. New York v. United States, 505 U.S. 144, 162 (1992): „While Congress has substantial powers to govern the Nation directly, including in areas of intimate concern to the States, the Constitution has never been understood to confer upon Congress the ability to require the States to govern according to Congress’ instruc­ tions.“ Dagegen nimmt Skeel jr., States of Bankruptcy, U. of Penn. Law School, 185  Vgl. 186  Vgl.



A. Föderalstaaten85

a) Keine Einstandspflicht der Bundesebene im Krisenfall Eine echte Einstandspflicht der Bundesebene oder der Bundesstaaten untereinander besteht – angesichts der auf Souveränität und Wettbewerb der Bundesstaaten ausgerichteten Finanzverfassung nicht überraschend – indes nicht. Allenfalls das allgemeine Bestandsinteresse der Vereinigten Staaten kann mitunter eine faktische Zwangswirkung zugunsten eines finanziellen Einsatzes für notleidende Bundesstaaten erzeugen, wenn systemische Risiken zutage treten, weil etwa ein Bundesstaat wie Kalifornien mit seiner enormen Wirtschaftskraft und Bedeutung für die nationale Volkswirtschaft bedroht wäre.191 Dieses Szenario ist jedoch trotz einiger historischer Zahlungsausfälle von Bundesstaaten in den USA noch nicht eingetreten. Als z. B. im Zeitraum 1837–1840 acht Bundesstaaten (Alabama, Arkansas, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi, North Carolina und South Carolina) im Zuge einer gravierenden Rezession ihre Zahlungen auf Anleihen aussetzten und größtenteils die entsprechenden (Auslands-)Schulden entweder für nichtig erklärten oder nur in geringen Anteilen ohne Zinsen wesentlich später bedienten, wurde selbstverständlich von einer souveränen Eigenhaftung der Bundesstaaten ausgegangen. Versuche, die Bundesebene – aus Billigkeit oder im Sinne eines international good will – zur Übernahme der Schulden zu bewegen, scheiterten ebenso wie rechtliche Argumente, die auf die Haftung als Kehrseite eines bestehenden Bundesvetos zur Schuldenaufnahme abstellten.192

Public Law Research Paper No. 11–30, S. 42 ff. die Verfassungsmäßigkeit von derartigen „federal oversight boards“ an. 191  Sollte dieser Fall der systemischen Ansteckung durch den Bankrott eines Bundesstaats eintreten, wäre die kooperative, d. h. gemeinschaftliche Erbringung von essentiellen öffentlichen Leistungen gefährdet. Derartige Zusammenhänge sind z. B. nach deutschem Bundesstaatsverständnis Grundlage einer konkreten Einstandspflicht der Bundesglieder und der Bundesebene, Isensee, in: FS Selmer, S. 700: „Wenn ein Land zahlungsunfähig bleiben sollte, […] tritt die gesamtstaatliche Solidargemein­ schaft, der Bund mit den übrigen Ländern, ein über den Finanzausgleich. Sie bleibt nicht untätig, weil der Ausfall eines Gliedes auf den ganzen föderalen Organismus zurückwirkt und die kompetenzteilige, gleichwohl gemeinsame Tätigkeit für das Ge­ meinwohl […] beeinträchtigt.“ 192  Vgl. Randolph, Am J. Int’l L. 25 (1931), S. 63 (78). Der einzige Zahlungsausfall eines Bundesstaates im 20. Jahrhundert, Arkansas, ereignete sich im Jahr 1933 im Zuge der Great Depression und in der Folge einer großen Überschwemmung des Mississippi. Die Anleiheschulden wurden im Konsens mit den Gläubigern restrukturiert; siehe dazu N.Y. Times v. 23. Januar 2011: „The State that Went Bust“ (S. WK3).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

b) Anleiheschulden der Bundesstaaten Für ihre Anleiheausgabe haften die Bundesstaaten grundsätzlich selbst. Im Falle eines Bundesstaates, der sich bei der Bedienung seiner Anleihegläubiger im Verzug befindet, scheint ein Eingreifen der Bundesebene (geschweige denn der übrigen Bundesstaaten) nicht unbedingt geboten. Anleihen der Bundesstaaten sind in den meisten Fällen von der Einkommensteuer des Bundes befreit.193 Aufgrund des Steuervorteils steigt die Rendite für steuerpflichtige Anleger. Daher werden sie vor allem von US-Bürgern und US-Unternehmen gehalten. Für (institutionelle) Anleger aus dem Ausland entfällt der Steuer- und damit Renditevorteil, weshalb die Anleihen der Bundesstaaten seltener im Ausland gezeichnet werden. Damit droht bei einem Zahlungsausfall eines Bundesstaates grundsätzlich keine Erhöhung der Zinsaufschläge für die Bundesanleihen. Da nur Inlandsschulden des jeweiligen Bundesstaates nicht bedient wurden, sollte die Auslandserwartung an den Schuldendienst der USA insgesamt nicht leiden. Somit sinkt die Handlungsdringlichkeit für die Bundesebene, da ihre Kreditwürdigkeit nicht erschüttert wird.194 4. Fazit zum amerikanischen Föderalismus Die amerikanische Lesart des Föderalismus ist in ihrer kompetitiven Ausrichtung keinesfalls streng dogmatisch und konsequent.195 Die Einflussnahme des Bundes durch indirekte Politiksteuerung – Besteuerung von ungewünschtem Verhalten oder auch conditional grants – schafft gemeinsame (Abwehr-)Interessen der Staaten untereinander und zwingt zu politischer Kooperation. Ein anderer Aktivator gemeinsamen Handelns ist ökonomische Interdependenz, wie sie in allen föderalen Staaten auftritt.196 Vorteil der kompetitiven Ausrichtung der fiskalen Strukturen in den Vereinigten Staaten ist die optimale Allokation von Bundesmitteln in der Hand der Gliedstaaten, Boadway / Shah, Fiscal Federalism, S. 428. Lemmen, Managing Government Default Risk in Federal States, S. 2. 195  Inwieweit der Steuerwettbewerb zudem notwendig ist, um eine optimale Steuerallokation zu erreichen, ist hauptsächlich politische Anschauung. Zwingend ist die kompetitive Ausrichtung nicht. Denkbar wäre zum Beispiel, die Steuererhebung auf Bundesebene zu konzentrieren und den Bundesstaaten die Gestaltung der Ausgabenprogramme zu überlassen, die durch unconditional grants oder block grants der Bundesebene finanziert werden; siehe bereits den Vorschlag von Oates, Fiscal Federalism, S.  150 f. 196  Die Freizügigkeit und Faktormobilität innerhalb des Bundes macht bundesstaatliche Alleingänge unwirtschaftlich, da die Effekte zumeist auch externen Empfängern zugute kommen (sog. spillover effect), vgl. Inman, States in fiscal distress, S.  19 (m. w. Nachw.). 193  Vgl. 194  Vgl.



A. Föderalstaaten87

die damit im Rahmen von allgemeinen Vorgaben der block grants eigenständig Politik betreiben können.197 So können tatsächlich im Sinne des labora­ tory federalism neue und an die lokalen Besonderheiten angepasste Politikansätze erprobt und im Erfolgsfall auf der Bundesebene adaptiert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Krankenversicherungsmodell von Massachusetts, das zum Vorbild der von der Obama-Administration angestoßenen Krankenversicherungsreform auf Bundesebene geworden ist.198 Die Bundesebene verfügt in der Gestaltungsfreiheit der grant programs – die verfassungsrechtlichen Hürden für von Bundesinteressen getragene Nebenbestimmungen oder Auflagen liegen, wie gezeigt, sehr niedrig – über ein mächtiges Zentralisierungs- und Uniformierungsinstrument.199 Im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt (general welfare) kann die Bundesebene hier steuernd tätig werden, wo die Bundesstaaten ansonsten in souveräner Divergenz eigene (Staats-)Ziele verfolgen würden. Zwar bestehen teilweise horrende Leistungsdiskrepanzen zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Jedoch zeitigt die Bundespolitik der Mittelzuweisung zumindest im Ansatz redistributive Wirkung und erreicht zumindest indirekt und allmählich eine Annäherung der ärmeren Bundesstaaten an den nationalen Durchschnitt. Das Spannungsfeld zwischen dem konstitutiven Prinzip der Souveränität der Bundesstaaten und dem Bestandsschutzinteresse des Gesamtstaates, vertreten durch die Politik der Bundesebene, mag aus historischen Gründen und autochthonem Staatsverständnis kompetenziell zugunsten der bundesstaat­ lichen Einzelinteressen aufgelöst sein. In der Finanzverfassung findet sich indes durch die Bundesebene gesteuert eine Angleichung der finanziellen Teilhabechancen an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und eine Etablierung von Minimalstandards im Bereich öffentlicher Leistungen, an deren Erreichen alle Bundesstaaten nach ihrer Steuer- und Wirtschaftskraft Anteil tragen.

197  Letztlich wird den Bundesstaaten mittels block grants ein konkreter Aufgabenbereich gegeben und gewartet, welche individuellen Lösungen zutage treten. Bei allzu grobem thematischen Zuschnitt steigt indes die Ähnlichkeit zu einem Steuerverbundsystem dahingehend, dass allgemein Mittel zur eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung verteilt werden. 198  Siehe dazu Meldung von NBC News vom 10. November 2011: „White House used Mitt Romney health-care law as blueprint for federal law“ (abrufbar unter: http://www.msnbc.msn.com / id / 44854320 / ns / politics-decision_2012 / t / white-houseused-mitt-romney-health-care-law-blueprint-federal-law / #.Tstn4GaoeNk). 199  Häde, ZfZ 1994, 228 (233) sieht dessen Anwendungsgebiet vor allem im Sozialen.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

III. Schweiz 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander Der föderalistische Staatsaufbau der Schweiz ist historisch gewachsen und geografisch bedingt.200 Er hat sich in seiner Entwicklung gegen jedwede Fremdbestimmung behaupten können.201 Die 26 Kantone202 der Schweiz besitzen eine starke teilsouveräne Stellung innerhalb des Bundesstaats, die sich vor allem in ihren legislativen und konstitutionellen Befugnissen niederschlägt.203 Darüber hinaus partizipieren die Kantone quasi als „Organe des Bundes“ entscheidend an dessen Willensbildung.204 Verfassungsänderungen bedürfen ebenso einer kantonalen Mehrheit wie Volksreferenden (vgl. Art. 140 Abs. 1 lit. a und c und Art. 142 Abs. 2–4 BV).205 Die selb200  Deshalb spricht Blankart, Öffentliche Finanzen, S. 720 vom „natürlichen Fö­ deralismus“ in der Schweiz. Böning, Helvetische Republik, S. 301 nennt die Entstehung des schweizerischen Bundesstaates einen „natürlichen Kompromiss zwischen dem alten extremen Föderalismus und dem aufgezwungenen Einheitsstaat“. 201  Siehe zur Entwicklung des Schweizer Föderalismus Schweizer / Zelger, Föderalismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz, abrufbar unter http://hls-dhs-dss.ch; Kristoferitsch, Vom Staatenbund zum Bundesstaat?, S. 99 ff. 202  Das sind Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, BaselLandschaft, Basel-Stadt, Bern, Freiburg, Genf, Glarus, Graubünden, Jura, Luzern, Neuenburg, Nidwalden, Obwalden, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, St. Gallen, Tessin, Thurgau, Uri, Waadt, Wallis, Zug und Zürich. Durch die Verfassungsreform von 1999 wurden die drei Kantone Basel (jetzt Basel-Landschaft und Basel-Stadt), Unterwalden (jetzt Nidwalden und Obwalden) und Appenzell (jetzt Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden) in „Teilkantone“ – der Name wird in der neuen Bundesverfassung (im Folgenden: BV) nicht mehr verwendet, obwohl diese Kantone de facto und de jure wie Teilkantone behandelt werden, siehe z.  B. Art. 150 II BV – gegliedert. Mitunter findet sich noch die ursprüngliche Bezeichnung „Stände“ für Kantone. Auch in Teilen des Staatsaufbaus nach der neuen Bundesverfassung wurde der Begriff aufrecht erhalten, so zum Beispiel für die zweite Kammer der Legislative, dem Ständerat, in dem jeder Kanton eine Stimme hat (Ausnahme: Halbkantone nach Art. 150 Abs. 2 BV). 203  Diese sind durch die Föderalismusreform im Jahr 1999 grundlegend umgestaltet und entflochten worden. Die Bundesebene verfügt nunmehr über sieben so genannte „integrale Aufgabenbereiche“ (Landesverteidigung, Betrieb und Unterhalt der Nationalstraßen usw.) und die Kantone über zehn integrale Aufgabenbereiche (wie Teile des Bildungswesens und Arbeitsförderung); näher dazu Wiederkehr in: St. Gal­ lener Kommentar, Art. 135 BV, Rn. 8. Daneben verbleiben zahlreiche Materien im Aufgabenverbund. Hier kann der Bund besondere Kooperationsformen wie etwa die Programmvereinbarung (vgl. Art. 46 Abs. 2 BV) einführen, die mit entsprechenden Kostenregelungen zu versehen sind, die dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz (Art. 43a Abs. 2 u. 3 BV) gerecht werden; dazu unter 4. a). 204  Häfelin / Haller / Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rn. 949. 205  Analog zu den Volksreferenden können mindestens acht Kantone gemeinsam ein Referendum verlangen (Art. 141 Abs. 1 BV). Ein derartiges „Kantonsreferen-



A. Föderalstaaten89

ständige Stellung der Kantone in ihren Bereichen der Gesetzgebung wird durch die Subsidiaritätsklausel (Art. 5a BV) untermauert. Demzufolge darf der Bund Gesetzgebungsaufgaben nur an sich ziehen, wenn das entsprechende Vorhaben die Kraft der einzelnen Kantone übersteigt oder ander­ weitig die Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung besteht (Art. 43a Abs. 1 BV).206 Im Steuersystem der Schweiz zeigt sich die Besonderheit, dass nicht die Bundesebene bevorrechtigter Urheber von Besteuerung ist, sondern die Kantone. Neben deren grundsätzlichen Steuererhebungsrechten in allen Bereichen darf der Bund nur beschränkt Steuern erheben. Dazu zählen vor allem Einkommen- und Gewerbesteuer (Art. 128 BV, mit festen Obergrenzen) und Mehrwertsteuer (Art. 130 BV) sowie diverse Verbrauchssteuern (Art. 131 f. BV). Soweit der Bund hier Regelungen getroffen hat, sind die Befugnisse der Kantone eingeschränkt. Lediglich bei der Einkommen- und Gewerbesteuer hat der Bund Rücksicht auf die Belastung durch die direkten Steuern der Kantone und Gemeinden zu nehmen (Art. 128 Abs. 2 BV). Von ihren Besteuerungsrechten machen die Kantone in erheblichem und teils sehr unterschiedlichem207 Ausmaß Gebrauch, sodass sie letztlich durch eigene Steuern und durch Anteile an Bundessteuern (Art. 128 Abs. 4, Art. 131 Abs. 3, Art. 132 Abs. 2 S. 2 BV) über 40 % der Gesamteinnahmen verfügen, wohingegen dem Bund nur ein Drittel verbleibt und die Gemeinden über den Rest verfügen.208 Die Diskrepanzen in der Finanzausstattung, die auch durch die Gegebenheiten des Steuerwettbewerbs entstehen und wachsen,209 sollen mittels des Finanzausgleichssystems (siehe unter 3.) abgemildert ­werden.

dum“ ist allerdings bisher erst einmal zustande gekommen. Wenig verwunderlich wandte es sich gegen ein Bundesgesetz, das zu Steuerausfällen der Kantone zu führen drohte. Es wurde vom Wahlvolk indes klar verworfen; Nachweise bei Häfe­ lin / Haller / Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rn. 965 f. 206  Tschannen, Staatsrecht, S. 282 sieht darin lediglich eine „staatspolitische Ma­ xime“. Selbstbindungen des Verfassungsgebers seien rechtlich bedeutungslos: „Ge­ gen Kompetenzgelüste des Bundes helfen keine juristischen Argumente; darüber ist politisch zu entscheiden.“ 207  Siehe zum Beispiel die unterschiedlichen Besteuerungsniveaus der kantonalen Einkommensteuer bei Blankart, ifo-Schnelldienst 2011, 13 (16). 208  Vgl. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, S. 384. 209  So lag im Jahr 2010 die Steuerbelastung eines Einkommens von 100.807 Franken in Neuchatel um 63 % höher als in Zug, vgl. Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), Steuerbelastung in der Schweiz – Kantonshauptorte, Kantonsziffern 2010, Neuchatel 2010.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

2. Zentralisierung der Grundversorgung Mittels Art. 43a Abs. 4 BV, der besagt, dass Leistungen der Grundversorgung allen Personen in vergleichbarer Weise offen stehen müssen, hat sich die Bundesebene ein regulatorisches Einfallstor belassen. Der Bundesrat210 versteht die Grundversorgung als „Service public“ und beschreibt sie als „eine politisch definierte Grundversorgung mit Infrastrukturgütern und Infra­ strukturdienstleistungen, welche für alle Bevölkerungsschichten und Regionen des Landes nach gleichen Grundsätzen in guter Qualität und zu angemesse­ nen Preisen zur Verfügung stehen sollen.“211 Besonders „sensible“ Grundleistungen sollen im gesamten Staatsgebiet gleichmäßig angeboten werden. Dazu zählen insbesondere die medizinische Grundversorgung, die Bereiche Post, Telekommunikation, elektronische Medien (Radio und Fernsehen), öffentlicher Verkehr, Straßen, Wasser- und Energieversorgung, Entsorgung sowie der Grundschulunterricht und die soziale Sicherung.212 Eine trennscharfe Fassung der Prinzipien der Grundversorgung wurde vom Bundesrat jüngst ausgeschlagen.213 3. Der Finanzausgleich als Motor der kantonalen Teilautonomie Das Finanzausgleichsgefüge der Schweiz ist jüngst vollständig reformiert worden. Vor der Neugestaltung im Jahr 2003 waren Kompetenz- wie Finanzausstattung von erheblichen Zentralisierungstendenzen gekennzeichnet. Die centralisation administrative führte dazu, dass Finanztransfers an die Kantone zu 75 % zweckgebunden, d. h. mit detaillierten Vorgaben und im politischen Interesse der Bundesebene erfolgten.214 Der neue Finanzausgleich dagegen besteht größtenteils aus freien Zuwendungen und teilt sich in zwei Bereiche: Ressourcenausgleich und Lastenausgleich.

210  Das ist die Schweizer Bundesregierung (Exekutive) bestehend aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern, die kollegial die Regierung und das Schweizer Staatsoberhaupt (ein solches gibt es nach der Bundesverfassung nicht) bilden; vgl. zum Schweizer Bundesrat Altermatt, Bundesrat, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Abrufbar unter http://hls-dhs-dss.ch. 211  Bericht des Bundesrates „Grundversorgung in der Infrastruktur (Service public)“ vom 23. Juni 2004, BBl. 2004, S. 4569 (4570). 212  Schweizer / Müller, in: St. Gallener Kommentar, Art. 43a BV, Rn. 22. 213  Vgl. Motion KVF-S „Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung vom 12. Mai 2005“ (05.3232) und Medienmitteilung des Bundesrates vom 17. August 2011 (abrufbar unter http://www.bfm.admin.ch / content / bj / de / home / dokumentation /  medieninformationen / 2011 / ref_2011-08-17.html). 214  Vgl. Schweizer, in: St. Gallener Kommentar, Vorb. Art. 42–135 BV, Rn. 9.



A. Föderalstaaten91

a) Ressourcenausgleich Erklärtes Ziel des Ressourcenausgleichs ist es, mittels einer ungebundenen Mittelausstattung Disparitäten in der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kantone zu verringern.215 Daraus ergibt sich auch, dass statt der Bundesebene die zahlungsstarken Kantone auf den Mehrheitsanteil an der Finanzierung des Ressourcenausgleichs festgelegt werden. Sie tragen mindestens zwei Drittel und höchstens 80 % der Kosten (vgl. Art. 135 Abs. 4 S. 2 BV).216 Der Ausgleichsbetrag für die finanzschwachen Kantone berechnet sich aus dem Abstand der Leistungsfähigkeit – im maßgeblichen Finanzausgleichsgesetz (FiLaG)217 als Ressourcenpotenzial bezeichnete ausschöpfbare Steuerbasis aus Einkommen und Vermögen der jeweiligen Kantonsein­ wohner und dort ansässigen juristischen Personen (sog. aggregierte Steuerbemessungsgrundlage, ASG) – zu einem festgelegten Bundesdurchschnitt (Art. 3 Abs. 5 FiLaG), wobei Endziel der Angleichung ist, eine Ausstattungsuntergrenze von 85 % des schweizerischen Durchschnitts pro Einwohner zu etablieren (Art. 6 Abs. 3 FiLaG). Damit soll den ressourcenschwachen Kantonen eine Mindestausstattung zugeführt werden, damit sie ihre Aufgaben selbständig erfüllen können.218 Der Betrag, den leistungsstarke Kantone 215  Vgl. Bundesrat, Botschaft zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 14. November 2001 (im Folgenden: Botschaft NFA I), BBl. 2001, S. 2291 (2369). 216  Nach den ersten Erfahrungen mit dem neuen Ausgleichssystem wird die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Belastungsobergrenze für die jeweils ausgleichspflichtigen Kantone diskutiert, um eine anreizfeindliche Überabschöpfung zu vermeiden; siehe dazu Bundesrat, Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über den Finanz- und Lastenausgleich und zur Festlegung des Ressourcen- und Lastenausgleichs zwischen Bund und Kantonen für die Beitragsperiode 2012–2015 vom 24. November 2010 (im Folgenden: Botschaft NFA III), BBl. 2010, S. 8615 (8633 ff.). Bisher lehnt eine Kantonsmehrheit derartige Belastungsobergrenzen ab. Wahrscheinlicher scheint die Einführung einer Gesamtbetragsgrenze des Finanzausgleichs. 217  Bundesgesetz Nr. 613.2 über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaG) vom 3. Oktober 2003 (Stand: 1. Januar 2008), AS 2005, S. 1481. Konkretisiert wird die Methodik und das Verfahren des Finanzausgleichs in der Verordnung Nr. 613.21 über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaV) vom 7. November 2008 (Stand: 1. Januar 2011), AS 2007, S. 5887. 218  Wiederkehr, in: St. Gallener Kommentar, Art. 135, Rn. 30 spricht von einer „verhältnismäßigen Angleichung“ im Sinne des föderalistischen Gleichheitsgebots. Es kann stets nur relative Finanzgleichheit angestrebt werden, da absolute Finanzgleichheit – und damit notwendigerweise Gleichbehandlung in der Mittelzuteilung – die autonome Erfüllung von kantonalen Aufgaben für leistungsschwache und für große Kantone unmöglich machen würde; vgl. etwa Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn. 19. Die Angleichung der finanziellen Leistungsfähigkeit der ressourcenschwachen Kantone fällt aufgrund der Mindest-

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

in den Ressourcenausgleich einzahlen müssen, errechnet sich als Pro-KopfBetrag proportional zum positiven Abstand ihres jeweiligen Ressourcenpotentials (aggregierte Steuerbemessungsgrundlage des Kantons) zum nationalen Durchschnitt der Leistungsfähigkeit, der im Ressourcenindex mit dem Basiswert 100 angegeben ist.219 Die Berechnung des Ausgleichsbedarfs zeigt die Besonderheit, dass der von den Kantonen mehrheitsanteilig getragene Ressourcenausgleich nicht berücksichtigt, inwieweit bestehende Handlungsspielräume in der kantonalen Finanzverfassung ausgeschöpft worden sind.220 Die Berechnung des Ausgleichsbedarfs erfolgt nämlich lediglich auf der Grundlage der Differenz zwischen aggregierter Steuerbemessungsgrundlage (ASG) eines Kantons – als Summe der grundsätzlich steuerbaren Einkommen und Vermögen natürlicher wie juristischer Personen – zur nationalen Durchschnitts-ASG (nationales Ressourcenpotential).221 Inwieweit das Besteuerungs- und Abgabenerhebungspotential von den Kantonen ausgeschöpft wird, in welcher Höhe sie also Steuern und Abgaben tatsächlich erheben, bleibt bei der Berechnung außer Betracht.222 ausstattung stärker aus als zwischen den ressourcenstarken Kantonen, vgl. Botschaft NFA I, S. 2464. 219  Siehe dazu Eidgenössisches Finanzdepartement, NFA-Faktenblatt 6 zum Ressourcenausgleich, abrufbar unter: http://www.efv.admin.ch / d / downloads / finanzpoli tik_grundlagen / finanzausgleich / faktenblaetter / 06-NFA_Faktenblatt_6_Ressourcen ausgleich.pdf. 220  Im deutschen Finanzausgleich etwa wird der Ausgleichsbedarf aus der Differenz der erzielten Steuereinnahmen zu den bundesdurchschnittlichen Steuereinnahmen ermittelt. Damit wirkt sich eine geringe Steuerbelastung positiv auf die Ausgleichsberechtigung aus. Dieser Fehlanreiz wird erst bei besonderen Finanzzuweisungen wegen Bedürftigkeit (sog. Sanierungsbeihilfen) berücksichtigt. Ebenso dient im belgischen Finanzausgleich (vgl. Art. 12 ff. Belg. FSG) lediglich die Differenz der Einnahmen aus der Einkommensteuer zum nationalen Durchschnitt als Grundlage für Sonderzahlungen. 221  Vgl. Eidgenössisches Finanzdepartement, Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen – NFA, abrufbar unter: http://www.efv.admin.ch / d / downloads / grundlagenpapiere_berichte / broschueren /  NFA-Broschuere_d.pdf; vgl. dazu Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn. 40. 222  Die Nichtberücksichtigung ist gewollt. Ursprünglich wurde bei der Berechnung des Ausgleichsbedarfs eines Kantons auch die örtliche Steuerbelastung einbezogen. Die Steuerbelastung als bereits ausgeschöpfte Einnahmequelle diente dabei als bedarfserhöhender Faktor, sodass der jeweilige Kanton seinen Ressourcenindex durch Steuererhöhungen direkt beeinflussen konnte. Diese Praxis hatte indes nur Erfolg, wenn sie nicht kopiert wurde. Erhöhten alle Kantone in gleichem Maß Steuern, stieg zwar die gesamte Steuerlast der Einwohner, an der Finanzkraft ausgedrückt durch den Ressourcenindex der Kantone änderte sich dann aber nichts. Um dieser Unsitte Einhalt zu gebieten und weil sich die Erkenntnis durchsetzte, dass die



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b) Lastenausgleich Der Lastenausgleich dient einem ähnlichen Zweck, indem besondere Finanzierungs- sowie Infrastrukturlasten einzelner Kantone ausgeglichen werden.223 Dies erfolgt geografisch-topografisch (vgl. Art. 7 FiLaG) bei gebirgigen, dünn besiedelten Kantonen (Bsp.: Graubünden, Tessin und Wallis) sowie soziodemografisch (vgl. Art. 8 FiLaG) in städtisch geprägten Kantonen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an in Armut lebenden oder sonst auf staatliche Leistungen angewiesenen Einwohnern. Ausstattungsgeber ist hier allein der Bund. Grundlage ist die Annahme, dass diese Kosten strukturell bedingt sind und die betroffenen Kantone übermäßig, d. h. ohne direkt korrespondierenden Alleinnutzen, beanspruchen und von diesen nur am Rande beeinflussbar sind. Ohne Rücksicht auf die finanzielle Leistungsfähigkeit – entscheidend ist allein der strukturell bedingte Sonderbedarf – dient der Lastenausgleich weniger der Homogenisierung der Leistungskraft (Ressourcenausgleich) denn der Egalisierung von Ausgangsbedingungen der Kantonalpolitik.224 Damit versucht er die unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Kantone im föderalen Wettbewerb einzuebnen. So erhielten im Jahr 2010 auch Nettozahlerkantone des Ressourcenausgleichs Zuwendungen aus dem Lastenausgleich: Der Kanton Schwyz z. B. zahlte in den Ressourcenausgleich rund 73 Mio. Franken ein und erhielt gleichzeitig rund 6 Mio. Franken aufgrund der besonderen Topografie. Selbst Zürich, mit rund 613 Mio. Franken stärkster Nettozahler des Ressourcenausgleichs im Jahr 2010 erhielt im selben Zeitraum noch rund 88 Mio. Franken im Rahmen des soziodemografischen Lastenausgleichs.225

Steuerkraft letztlich ein verzerrtes Bild der finanziellen Leistungsfähigkeit eines Kantons ergibt, wurde bei der Neugestaltung des Ressourcenausgleichs bewusst auf die Berücksichtigung der Steuerbelastung verzichtet, vgl. Fischer / Baljean / Fivaz, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 72 (2003), S. 407 ff. 223  Zu den besonderen Lasten der Berggebiete und der so genannten „Kosten der Enge“ in Agglomerationen siehe Wiederkehr, in: St. Gallener Kommentar, Art. 135, Rn. 33. 224  So auch Wiederkehr, in: St. Gallener Kommentar, Art. 135, Rn. 34. 225  Alle Angaben siehe Eidgenössisches Finanzdepartement, Bericht „Ressourcen-, Lasten- und Härteausgleich 2010“, abrufbar unter: http://www.efv.admin. ch / d / downloads / finanzpolitik_grundlagen / finanzausgleich / zahlen / 2010 / Bericht_D_ zHd_FDK.pdf.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

c) Bundesfinanzhilfen Neben den regulären Ausgleichsströmen des Finanzausgleichs ist der Bund nach Maßgabe des Subventionsgesetzes226 berechtigt, den Kantonen zweckgebundene Finanzhilfen für im Bundesinteresse übernommene Aufgaben und so genannte Abgeltungen für fremdbestimmte Aufgaben zu gewähren (vgl. Art. 3 SuG). In der Vergangenheit zeigten diese Mittel hauptsächlich autonomieschädliche Wirkungen, da sie zu Abhängigkeiten vom Tropf der Bundesmittel führten.227 Dieser Effekt verstärkte sich noch durch die gutgemeinte Praxis, das jeweilige Transfervolumen regelmäßig an die Finanzkraft des Empfängerkantons zu koppeln. Somit waren es vor allem die finanzschwachen Kantone, die sich auf derartige Mittel verließen und zunehmend der Fremdbestimmung durch die Bundesebene unterfielen.228 Nunmehr soll neben der Aufgabenentflechtung zwischen Bund und Kantonen auch eine entsprechende Verlagerung der Ausgleichsströme in die Horizontale einen solidarischen Ausgleich unter den verantwortlichen Gliedern des Bundesstaats ermöglichen.229 Die zweckgebundenen Bundesfinanzhilfen wurden zwar nicht eliminiert,230 jedoch unter den Vorbehalt gestellt, dass die geförderte Aufgabe nicht aufgrund einer sinnvollen Aufgaben- und Lastenverteilung von den Kantonen selbständig erfüllt oder gefördert werden muss (Art. 6 lit. b SuG).231 226  Bundesgesetz Nr. 616.1 über Finanzhilfen und Abgeltungen (SuG) vom 5. Oktober 1990 (Stand: 1. Januar 2008), AS 1991, S. 857. 227  Vgl.  Auer / Malinverni / Hottelier, Droit constitutionnel I, S. 421  f.; Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn. 44. 228  Dieser malade Zustand des Föderalismus war es vorwiegend, der zu einer Generalrevision der Ausgleichsbeziehungen führte, vgl. Eidgenössische Finanzverwaltung, NFA-Faktenblatt 2 „NFA im Überblick“, abrufbar unter: http://www.efv. admin.ch / d / downloads / finanzpolitik_grundlagen / finanzausgleich / faktenblaetter / 02NFA_Faktenblatt_2_berblick_d.pdf. 229  Vgl. Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn.  45. 230  2009 stellten Subventionen immerhin mehr als die Hälfte der Bundesausgaben. Mehrheitlich gingen Zahlungen dabei an die soziale Wohlfahrt (46 %) sowie an die Bereiche Verkehr (17 %), Bildung und Forschung (15 %) und Landwirtschaft (11 %); alle Angaben bei Rey, Subventionen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, abrufbar unter: http://hls-dhs-dss.ch. 231  Da der neu gestaltete Finanzausgleich insgesamt unter der Prämisse steht, Ausgleichs- und Umverteilungsgesichtspunkte strikt zu trennen, wird bei den Subventionen, die dem Ausgleich von im Bundesinteresse übernommenen Aufgaben dienen, auf jedwede Berücksichtigung der individuellen Leistungsfähigkeit eines Empfängerkantons verzichtet. Insofern ist Art. 7 lit. c SuG missverständlich formuliert. Zumutbare Eigenleistungen des Empfängers nach Maßgabe seiner wirtschaft­ lichen Leistungsfähigkeit können nur von anderen Empfängern als Kantonen (etwa Gemeinden, Unternehmen) verlangt werden; klarstellend Bundesrat, Botschaft zur



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4. Korrektive der subnationalen Eigenständigkeit a) Fiskalische Äquivalenz In Art. 43a Abs. 2 u. Abs. 3 BV wurde das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz verankert, das grundsätzlich dadurch Ausgabenverantwortung befördern und räumlich-externen Effekten (sog. spillovers) vorbeugen soll, dass der Kreis der Nutznießer einer staatlichen Aufgabe mit demjenigen der Kosten- und Entscheidungsträger in Übereinstimmung gebracht wird. Das Gemeinwesen, in dem der Nutzen einer staatlichen Leistung anfällt, trägt deren Kosten. Ebenso kann nur das Gemeinwesen, das die Kosten einer staatlichen Leistung trägt, über diese Leistung bestimmen. Damit wird gewährleistet, dass die Kantone nach eigenen Vorstellungen ihre öffentlichen Leistungen erbringen und die Ergebnisse ihrer Politikgestaltung unmittelbar erhalten können, ohne dass externe Nutznießer Vorteile abschöpfen.232 b) Interkantonale Zusammenarbeit Mit zunehmend komplexeren Aufgaben der Kantone und dem Umstand, dass einzelne Kantone ihre Aufgaben kaum mehr unabhängig vom Verhalten anderer, vor allem umliegender Kantone erledigen können, hat die interkantonale Zusammenarbeit an Bedeutung gewonnen. Konkrete Leistungspflichten entstehen nach dem Prinzip fiskalischer Äquivalenz (Art. 43a Abs. 2 und Abs. 3 BV) dann, wenn Leistungsströme von Kantonen empfangen werden, die an deren Kosten und Unterhalt nicht beteiligt sind. Insbesondere die Zentrumskantone, d. h. die Kantone, die aufgrund von Größe und Dichte Ballungszentren bilden, wie z. B. Zürich oder Luzern, leiden gegenüber ihren jeweils peripheren Kantonen unter dieser Art der Abschöpfung durch Pendler und andere freerider. Um diese überschießende Nutzeneffekte (sog. spilloverEffekte) wirkungsvoll zu bekämpfen, wurde das System der interkantonalen Zusammenarbeit von einem fakultativen Bestandteil subnationaler Kooperation zu einem verbindlichen Element der Kostentragung für öffentliche Leistungen und Güter gemacht.233 Die Bundesversammlung hat nunmehr zwei Möglichkeiten, auf Antrag einer qualifizierten Mehrheit der Kantone interkantonale Zusammenarbeit zu erzwingen. Sie kann bestehende interkantonale Ausführungsgesetzgebung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) vom 7. September 2005 (im Folgenden: Botschaft NFA II), BBl. 2005, S. 6029 (6130). 232  Kritisch hinsichtlich der rechtlichen Durchsetzbarkeit dagegen Tschannen, Staatsrecht, S. 283. 233  Die Freiwilligkeit des bestehenden Systems war der Hauptfehler der Gestaltung, vgl. Botschaft NFA I, S. 2351 f.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Verträge auf andere nutznießende Kantone ausweiten (sog. Beteiligungspflicht, Art. 15 FiLaG) oder interkantonale Verträge für allgemeinverbindlich erklären (sog. Allgemeinverbindlicherklärung, Art. 14 FiLaG). Die derart einbezogenen Kantone trifft dann eine Beteiligungspflicht, die auch die Lastentragung umfasst. Somit können in Zukunft Politik- und Kostenverantwortung bedarfsgerecht an die entsprechende Aufgabe angepasst werden.234 5. Fazit zum Schweizer Föderalismus Die unterschiedliche Konzeption des Ressourcen- und des Lastenausgleichs verdeutlicht den spezifischen föderalen Funktionszusammenhang. Die einzelnen Glieder (Bund und Kantone) sind gemeinschaftlich verantwortlich für eine kohärente Funktionswahrnehmung im Bundesstaat. Durch die Angleichung der Finanzkraft im Ressourcenausgleich über Mittel, die hauptsächlich von den Kantonen bereitgestellt werden, wird die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamtstaats homogenisiert. Wirtschaftlicher Erfolg von Teilen der Bevölkerung, z. B. im wirtschaftlich starken St. Gallen, kann durch die „verhältnismäßige Angleichung“ des Ressourcenausgleichs nicht so stattfinden, dass andere Kantone abgehängt werden. Vielmehr entsteht relative Finanzgleichheit, ohne die finanzautonome Entscheidungen ausgeschlossen wären.235 Durch die neu gestaltete interkantonale Zusammenarbeit wird die potentiell hemmende Wirkung der Abschöpfung wirtschaftlichen Erfolgs (gemessen an einem überdurchschnittlichen Ressourcenpotenzial nach Art. 3 FiLaG) von der Gewissheit flankiert, dass nach Maßgabe fiskalischer Äquivalenz (Art. 43a BV) besondere ausgabenwirksame Anstrengungen zugunsten der eigenen Kantonsbevölkerung nicht durch freerider abgeschöpft werden können. Besondere Lasten, die eine wirtschaftliche Annäherung aufgrund von gegebenen Erschwernissen außerhalb der Tragweite politischer Gestaltung behindern, wie etwa topographische Besonderheiten oder gefestigte soziodemografische Strukturen, werden von der Bundesebene aufgefangen. Dadurch sorgt die Bundesebene für einen Wettbewerb „mit gleich langen Spießen“.236 Zusammen mit der ihr obliegenden Grundversorgung (Art. 43a Abs. 4 BV) erstreckt sich folglich die Verantwortung der Bundesebene im Schweizer 234  In der Folge haben bereits einzelne Kantone selbsttätig Kooperationsverträge abgeschlossen, die insbesondere die gerechte Lastentragung vorsehen. So ist am 1. Januar 2010 mit der Vereinbarung zwischen den Kantonen Zürich, Luzern, Schwyz, Zug und Uri eine erste Vereinbarung zum interregionalen Kulturlastenausgleich in Kraft getreten; vgl. Botschaft NFA III, S. 8630. 235  Vgl. Reich, in: Thürer / Aubert / Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, § 76 Rn.  19; Prokop, Finanzausgleich und europäische Integration, S. 43. 236  Vgl. Mannhart / Staible, ZBl 2006, 21(32).



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Bundesstaat auf die Gewährleistung annähernd gleichmäßiger Ausgangs­ voraussetzungen und Vorteilssicherung237 kantonaler Politik, während im Gegenzug den Kantonen als „zentralem Lebensnerv des Föderalismus“238 die Funktion (jedenfalls mehrheitsanteilig) zukommt, schwächere Kantone und damit die gesamtwirtschaftliche Einheit zu stärken.239 IV. Österreich 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander Österreichs neun Bundesländer240 bilden einen Bundesstaat, der trotz einer gemeinsamen Staatsrechtstradition mit der BRD in seinen stark zentralistischen Tendenzen241 von dem föderalistischen Charakter Deutschlands abweicht. Das österreichische Bundesstaatsprinzip ist nicht mit einer dem deutschen Art. 79 GG vergleichbaren Beständigkeitsgewähr versehen. Die bündische Staatsverfassung könnte daher abgeschafft werden, allerdings nur mittels Volksabstimmung.242 Den österreichischen Ländern kommt grundsätzlich bundesstaatliche Autonomie zu (Art. 2 Abs. 2 Bundes-Verfassungsgesetz, B-VG). Dennoch mangelt es ihnen an wesentlichen Selbstbestimmungselementen gleichberechtigter Bundesgenossen. Neben Gerichtsträgerschaft (Art. 82 Abs. 1 B-VG) und Polizeihoheit243 fehlen den Länder auch die Entscheidungsbefugnisse auf dem Gebiet der Bildung oder des Rundfunks, beides klassische Länderdomänen in Deutschland. Im Bereich der Finanzverfassung setzt sich das immense Kompetenzdefizit244 durch die 237  Vor

allem durch die Interkantonale Zusammenarbeit, vgl. bereits unter 4. b). in: St. Gallener Kommentar, Art 135, Rn. 42. 239  Vgl. Wiederkehr, in: St. Gallener Kommentar, Art 135, Rn. 26. 240  Diese sind das Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Wien in der Doppelfunktion als Hauptstadt und Bundesland (zusätzlich zählt Wien im System der Finanzverfassung auch als Gemeinde). 241  Wesentliche Kompetenzen sind in Österreich ausschließlich dem Bundesgesetzgeber zugewiesen, vgl. Adamovic / Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3.  Auflage, S.  125 ff.; Ruppe, Finanzverfassung im Bundesstaat, S. 25 spricht daher zurecht von einer föderalistischen Grundsatzentscheidung „mit einer zentralistischen Konkretisierung“. 242  Vgl. Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, Nr. 78.2. 243  Zu weiteren bundesstaatlichen Mängeln der Länder siehe Pernthaler, Föderalismus – Bundesstaat – Europäische Union, S. 35 ff.; Schambeck, ÖJZ 1979, S. 477. 244  Bis 1985 hatte der Bund neben den über hundert wichtigen Zuständigkeiten in der Gesetzgebung auch das Recht, Kompetenzverschiebungen zu Lasten der Länder ohne Zustimmung der Länderkammer (Bundesrat) vorzunehmen (jetzt Art. 44 Abs. 2 und Art. 50 Abs. 4 B-VG), vgl. Pernthaler, Föderalismus – Bundesstaat – Europäische Union, S. 36. 238  Wiederkehr,

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

fehlende Abgabenhoheit der Länder fort. Diese und die ausschließliche Kompetenz des Bundesgesetzgebers im Bereich des Finanzausgleichs (Art. 13 B-VG i. V. m. § 3 Finanz-VG) sichern dessen fiskalpolitische Hegemonie ab. Ungeachtet dieser historisch gewachsenen Schwäche der Länder in der Finanzverfassung245 besteht für den Bund dennoch wirtschaftlich die Notwendigkeit, die Finanzpolitik mit den Ländern abzustimmen.246 Die den Ländern zugeteilte Aufgabenlast wird dabei grundsätzlich von einer entsprechenden Finanzausstattung begleitet (sog. Konnexitätsprinzip, §§ 2, 4 Finanz-VG i. V. m. §§ 5 Ö-FAG [2008]). Allerdings gibt es einige Besonderheiten, die im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland in einem unitaristischeren Bundesstaatsverständnis wurzeln. 2. Dominante Stellung des Bundesgesetzgebers im Ausgleichssystem der Finanzverfassung Anders als in Deutschland, etwa in Art. 106 GG oder in den Kompetenzregeln der Art. 72 ff. GG, sind die grundlegenden Steuerkompetenzen der Länder nicht verfassungsrechtlich abgesichert, sondern unterliegen den Planvorstellungen des einfachen Bundesgesetzgebers.247 Die Zuteilung der Erträge kann ebenfalls durch Bundesgesetz einseitig geregelt werden (§ 3 Finanz-VG). Zudem haben die Länder im Bereich der Finanzverfassung stets auf die Interessen des Bundes Rücksicht zu nehmen. Dieser Subordination fehlt die etwa in der deutschen „Bundestreue“ zum Ausdruck kommende Pflichtenmutualität als Bestandteil föderaler Souveränität der Länder.248 Das Ungleichgewicht bedeutet einen Einschnitt in die föderale Autonomie und Gleichheit der Länder,249 der allerdings durch ausgleichende Rechte der Länder abgemildert wird. So können die Länder eigene Abgaben 245  Zur Entstehungsgeschichte der österreichischen Finanzverfassung siehe Hellb­ ling, in: Weber u. a. (Hrsg.), Wirtschaft und Verfassung in Österreich, S. 49 ff.; Pernthaler, Österreichische Finanzverfassung, S. 111 ff. 246  Vgl. Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, Nr. 77.1. 247  Vgl. Dirninger, in: Dachs (Hrsg.), Der Bund und die Länder, S. 229 (232). 248  Zum Doppelcharakter der deutschen Bundestreue, vgl. BVerfGE 1, 299 (315); Herzog / Grzeszick, in: Maunz / Dürig, Art. 20 GG [Stand: 2011], Rn. 119; die österreichische „Bundestreue“ trägt dagegen wegen der einseitigen Kompetenzverteilung zugunsten des Bundes fast ausschließich Rücksichtnahmebindungen der Länder, vgl. Pernthaler, Raumordnung und Verfassung, S. 216 f.; dennoch ist es nach Bußjäger, Jbl. 2007, S. 289 (296) auch dem Bundesgesetzgeber verwehrt, Regelungen zu treffen, die „sich als sachlich nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung der Effektivität von Regelungen der gegenbeteiligten Rechtsetzungsautorität darstellen oder deren Rege­ lungsinteressen unterlaufen oder aushöhlen.“ 249  Allerdings weist die finanzwissenschaftliche Theorie bereits aus Gerechtigkeits- und Effizienzüberlegungen heraus traditionell der zentralen Ebene (Bund)



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einführen, sofern noch keine ähnlichen Bundesabgaben bestehen (sog. Abgabenerfindungsrecht, § 8 Finanz-VG).250 Auch hat der Bundesgesetzgeber bei der Zuteilungsregelung darauf zu achten, dass die Grenzen der Leistungsfähigkeit der beteiligten Gebietskörperschaften nicht überschritten werden (§ 4 Finanz-VG).251 Dennoch bleibt der Einfluss der Länder auf die Ausgestaltung der Finanzausstattung in den Kernbereichen marginal. Zwar hat der Verfassungsgerichtshof verlangt, dass die Länder im Vorfeld einer neuen Finanzausgleichsregelung konsultiert und – wenn möglich – ihre Zustimmung eingeholt wird.252 Das Fehlen eines allgemeinen Konsenses begründet indes keinen (gar verfassungsrechtlichen) Mangel des folgenden Finanzausgleichsgesetzes.253 Vollzogen wird der Finanzausgleich zweistufig. Zunächst werden abstrakt-vertikal die Anteile des Bundes, der Länder und der Gemeinden verteilt (so genannte Oberverteilung). Anschließende werden in der Unterverteilung der Länder- und der Gemeindeanteil konkret-horizontal nach einem Verteilungsschlüssel, der das örtliche Aufkommen, den Bedarf und andere Ausgleichsgesichtspunkte berücksichtigt, verteilt.254 Die konkreten Anteile des Verteilungsschlüssels werden seit dem Jahr 2008 vom Bundesinnenminister per Verordnung255 bekanntgegeben, da die erst kürzlich in Ertragsanteile ohne Zweckbindung umgewandelten Zweckzuschüsse (vormals §§ 1, 2, 4 Zweckzuschussgesetz 2001)256 jeweils auf Basis des Erfolgs des Vorjahres zu errechnen sind.257 Auch wenn der Mechanismus Maßnahmen zur Korrektur der Einkommensverteilung zu, vgl. Bös / Genser / Holz­ mann, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Band IV, S. 123 (141). 250  Doralt / Ruppe, Steuerrecht Bd. II, Rn. 357, halten das Abgabenerfindungsrecht für Makulatur, da der Bund die Steuerquellen bereits umfassend ausgeschöpft habe. 251  Sogenanntes Sachlichkeitsgebot des Finanzausgleichs, vgl. grundlegend VGH, VfSlg. 12.505 / 1990. 252  Eine derartige „Paktierung“ des Finanzausgleichs sichere dessen „Sachlichkeit“ im Sinne der Verfassungsmäßigkeit regelmäßig ab, siehe VGH, VfSlg. 12.505 /  1990; VfSlg. 15.039 / 1997; VfSlg. 16.849 / 2003. 253  VGH, VfSlg. 15.039  / 1997; VfSlg. 15.681 / 1999. Die Überführung der einfachgesetzlichen Verhandlungspflicht aus § 6 Ö-FAG (2008) in die Finanzverfassung, wie sie z. B. von Pernthaler, Raumordnung und Verfassung, S. 235 und erneut in Pernthaler, Österreichische Finanzverfassung, S. 197 gefordert wird, lehnt Ruppe, Finanzverfassung im Bundesstaat, S. 96 wegen Umgehbarkeit ab. 254  Eine dritte Stufe direkter Transferzahlungen der Bundesländer untereinander wie in Deutschland gibt es dagegen nicht. Näher zum Ablauf des Finanzausgleichs Thöni, in: Färber  /  Otter (Hrsg.), Reforms of local fiscal equalization in Europe, S.  103 (112 ff.); Bös, in: Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 717 (719 f.). 255  Sog. Schlüsselverordnung, Ö-BGBl. II Nr. 349 / 2008. 256  Ö-BGBl. Nr.  3 / 2001. 257  Vgl. Erläuterungen zur Schlüsselverordnung, abrufbar unter: http://www.bmf. gv.at / Budget / Finanzbeziehungenzu_658 / UnterlagenzumFinanz_5364 / _start.htm.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

mittels der einseitigen Änderungsbefugnis des Bundesgesetzgebers (vgl. § 3 Finanz-VG) und der letzten Festlegungsgewalt der Bundesexekutive in Person des Bundesinnenministers die Länder als reine „Verteilerorganisationen und Kostgänger des Bundes“258 erscheinen lässt, ist die Transferfinanzierung dennoch keinesfalls ins Belieben des Bundes gestellt. Formell und materiell unterliegt er den verfassungsrechtlichen Grenzen aus Art. 12 Finanz-VG.259 Während zudem früher für Österreich noch eine Lenkung der legislativen Tätigkeiten des Bundes mittels der Zielsetzung der „Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse“, wie sie für die deutschen Transfertätigkeiten bestimmend ist, bezweifelt wurde,260 bestehen nach den Verschiebungen der Abgabenmasse in den Steuerverbund261 und nach dem jüngsten Zuwachs an Partizipationsrechten der Länder (Paktierung des FAG, Konsultationsmechanismus und Zweckentbindung der Ertragsanteile) nunmehr parallele Zielsetzungen, die „Unterschiede in der Leistungsfähigkeit und dem Leistungsstan­ dard der einzelnen Verwaltungsträger zu harmonisieren“262 und ein bestimmtes Maß an einheitlichen Lebensverhältnissen herzustellen.263 Damit ist eine erste Gewähr für die angemessene Berücksichtigung zumindest der Gleichbehandlungsinteressen der Länder geschaffen. Alleingänge des Bundes zulasten der Länder finden zusätzlich ihre Grenzen in Rücksichtnahmepflichten, welche die Legislative auf Bundes- und Landesebene wechselseitig dazu anhalten, nicht gegen die jeweils andere Ebene zu handeln.264

258  Schambeck, ÖJZ 1979, S. 477 (482); manchem Bundesland mag die fehlende Steuerautonomie gerade Recht kommen, da so ein allzu anstrengender Standortwettbewerb um die unternehmensfreundlichsten Abgabenquoten vermieden werden kann, vgl. Ruppe, in: Ruppe  /  Achatz (Hrsg.), Finanzverfassung und Rechtsstaat, S. 379 (383 f.); Bußjäger, in: Jahrbuch des Föderalismus 2006, S. 380 f. Zudem wäre mit einer Steuerhoheit auch die politische Verantwortung für die Steuerbelastung von den Ländern zu tragen, vgl. Dirninger, in: Dachs (Hrsg.), Der Bund und die Länder, S. 229 (231). 259  Vgl. Ruppe, in: Ruppe / Achatz (Hrsg.), Finanzverfassung und Rechtsstaat, S. 9 (140). 260  So noch Bös, in: Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 717 (722 f.). 261  Dieser stellt mittlerweile den größten Teil der Finanzmasse Österreichs, vgl. Thöni, Joint Tax Sharing and Transfers, S. 111. 262  Pernthaler, Österreichische Finanzverfassung, S. 145, meinte das schon 1984. 263  So nunmehr Thöni, Joint Tax Sharing and Transfers, S. 103, 109; Ruppe, in: Ruppe / Achatz (Hrsg.), Finanzverfassung und Rechtsstaat, S. 379 (382); a. A. Bußjä­ ger, Jbl 2007, S. 289 (290). 264  Zutreffend Bußjäger, Jbl 2007, S. 289 (296); Novak, in: Schäffer / Berka / Stolzlechner / Werndl (Hrsg.), Staat – Verfassung – Verwaltung, S. 357 (368).



A. Föderalstaaten101

3. Solidarische Fiskalpolitik Ungeachtet der zentralistischen Bundesstaatsorganisation bleibt Österreich den föderativen Grundsätzen der Solidarität verhaftet.265 Beleg dafür ist neben dem System des Finanzausgleichs auch eine Historie von Haushaltsnotlagentransfers und eine prospektive Solidarhaftung für die wirtschaftliche Stabilität des Staates, die Haftungsanteile auf alle Einheiten des Systems verteilt. a) Notlagentransfers Soweit ersichtlich, ist Österreich bisher von Zahlungsunfähigkeiten einzelner Bundesländer verschont geblieben. Zwar ist in manchen Bundesländern die Lage mitunter prekär – vor allem Kärnten steht im Zuge weit reichender Finanzskandale um die Landesbank Hypo Alpe Adria vor gravierenden wirtschaftlichen Engpässen –266, doch hat auch die globale Finanzkrise noch keine vollständige Pleite eines Bundeslandes nach sich gezogen. Dagegen hat der Bund bereits mehrfach um finanzielle Hilfe der Bundesländer ersucht. In den Nachkriegsjahren lag die österreichische Bundeswirtschaft derart darnieder, dass mit gewisser Regelmäßigkeit Einbehaltsklauseln in die jeweiligen Finanzausgleichsnovellen aufgenommen wurden. Angesichts der vom Bund zu bestreitenden Ernährungsbeihilfen, der Besatzungskosten und des Ausfalls von Einnahmen aus dem Tabakverkauf wurde bereits im Jahr 1949 von den Ländern ein „Notopfer“ in der Höhe von 300 Mio. Schilling eingefordert.267 Den Ländern wurde dabei zugestanden, einen Teil dieses Beitrags über eine Landesumlage auf Grundsteuer und Gewerbesteuer der Gemeinden zu refinanzieren.268 Die „einmalige“ Abgabe wurde in den Folgejahren als so genanntes „Bundespräzipuum“, also als Vorzugsanteil des Bundes an den Ertragsanteilen der gemeinschaftlichen Bundesabgaben, fortgeschrieben. Im Jahr 1950269 belief sich das Bundespräzipuum auf 200 Mio. Schilling, im Jahr 1951 und im Jahr 1952 auf jeweils 400 Mio. Schilling270. Zusätzlich verlangte der Bund wegen seiner akuten WirtRuppe, Reformoptionen in der österreichischen Finanzverfassung, S. 382. „Hypo Alpe Adria: Die Chronik eines Bankskandals“, Wirtschaftsblatt vom 13. August 2010. 267  Vgl. § 1 des 117. Bundesgesetzes vom 19. Mai 1949 über die Beitragsleistung der Länder und Gemeinden zum Ausgleich des Bundeshaushalts 1949, Ö-BGBl. Nr.  117 / 1949. 268  Vgl. Dirninger, in: Dachs (Hrsg.), Der Bund und die Länder, S. 229 (254). 269  Vgl. Art. II § 14 Ö-FAG (1950), Ö-BGBl. Nr. 36 / 1950. 270  Vgl. Art. I Nr. 7 der Finanzausgleichsnovelle 1951, Ö-BGBl. Nr. 29 / 1951 und Art. I Nr. 11 der Finanzausgleichsnovelle 1952, Ö-BGBl. Nr. 18 / 1952. 265  Vgl. 266  Vgl.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

schaftslage im Jahr 1952 ein „Notopfer“ von den Ländern in Höhe von 23 v. H. der auf Grund des Nachtragsbudgets des Bundes für das Jahr 1952 den Ländern zukommenden Mehreinnahmen aus Ertragsanteilen an der Lohnsteuer, Umsatzsteuer, Weinverbrauchsabgabe, Erbschaftsteuer und Kraftfahrzeugsteuer.271 Bis zu seiner endgültigen Abschaffung im Jahr 1959 hatte der Bundesvorzugsanteil mit zuletzt 685 Mio. Schilling272 Ausmaße angenommen, die das Finanzausgleichssystem zugunsten einer allgemeinen Abzweigungs- und Bezuschussungskultur verzerrt hatte.273 Außerdem beschloss der Bundesgesetzgeber, ab dem Jahr 1959 seinerseits Unterstützungsmaßnahmen an die Länder zu zahlen. Neben der Katastrophenhilfe für Länder, auf deren Hoheitsgebiet Katastrophenschäden (Hochwasser, Lawinen, Schneedruck, Erdrutsche, Bergstürze, Orkan, Erdbeben und ähnliche Katastrophen vergleichbarer Tragweite) eingetreten waren (Art. 2 Ö-FAG [1959]), gewährte der Bund auch zur Förderung von wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten zweckgebundene Zuschüsse (Art. 2 Ö-FAG [1959]). Näherte sich der Bund in seinen Rettungsverpflichtungen dem modernen Solidaritätsgefüge der Bundesrepublik Deutschland an, beschritt er wenige Jahre später wieder den Sonderweg der Beistandsverpflichtung der Länder. Allgemeine Steuererhöhungen und Abgabenverschiebungen zugunsten des Bundes wurden erneut durch ein einseitig ausbedungenes „Notopfer“ der Länder in Höhe von 350 Mio. Schilling ergänzt.274 b) Haushaltspolitische Beschränkungen durch den Solidarpakt Zur Einhaltung bestehender europäischer Defizitgrenzen hat sich Österreich seiner föderalen Glieder bedient. Der nationale Stabilitätspakt aus dem Jahr 1999275 folgt der Einsicht, supranationale Vorgaben, die den Gesamtstaat betreffen, „entsprechend den föderalistischen Gegebenheiten“ inner271  Höchstens jedoch 44,5 Millionen Schilling, vgl. Art. I des Änderungsgesetzes zum Ö-FAG (1952), Ö-BGBl. Nr. 156 / 1952. 272  Vgl. Art. I Nr. 12 der Finanzausgleichsnovelle 1958, Ö-BGBl. Nr. 28 / 1958. 273  Vgl. Wißgott, Der Finanzausgleich im Österreich der Zweiten Republik, S.  169 f. 274  Vgl. Art. VI § 3 lit. b Budgetsanierungsgesetz von 1963, Ö-BGBl. Nr. 83 / 1963; dazu kamen gem. lit a zinslose Stundungsanteile bereits zu ermittelnder Ertragsanteile der Länder für das Jahr 1962. Den endgültigen Verzicht auf derlei Maßnahmen der Zentralgewalt möchte man föderalistischer Einsicht zuschieben. Sie sind indes größtenteils in politischen Schwächephasen der Bundesebene abgetrotzt und von wirtschaftlichen Aufschwungphasen begünstigt worden, vgl. Dirninger, in: Dachs (Hrsg.), Der Bund und die Länder, S. 229 (269 ff.). 275  101. Vereinbarung zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden betreffend die Koordination der Haushaltsführung von Bund, Ländern und Gemeinden (Österreichischer Stabilitätspakt), Ö-BGBl. Nr. 101 / 1999.



A. Föderalstaaten103

staatlich umzusetzen.276 Darin wurde ein abstrakter Stabilisierungsbeitrag der Länder und des Bundes festgeschrieben. Die ursprüngliche Fassung wurde bereits im Jahr 2001 durch eine speziellere Vereinbarung277 ersetzt, in der dem Bund ein jährliches Defizit zugestanden wurde, das für das Jahr 2001 maximal 2,05 % des BIP und für die Jahre 2002 bis einschließlich 2004 maximal 0,75 % des BIP betragen sollte. Eine Unterschreitung des ordentlichen jährlichen Stabilitätsbeitrages bis zu einem Höchstbetrag von insgesamt 0,25 % des Mittelwertes des BIP der jeweils vergangenen Jahre des Geltungszeitraums des Stabilitätspakts war zulässig, soweit dieser Höchstbetrag nicht schon in den Vorjahren ausgeschöpft und nicht ausgeglichen wurde (Art. 2 Abs. 2 Ö-Stabilitätspakt [2001]). Wurde der Beitrag unterschritten, musste er im Folgejahr als erhöhter Stabilitätsbeitrag wieder ausgeglichen werden. Im Gegenzug verpflichteten sich die Länder, für die Jahre 2001 bis einschließlich 2004 einen Stabilitätsbeitrag in Form eines durchschnittlichen Haushaltsüberschusses in Höhe von nicht unter 0,75 % des BIP, jedenfalls aber jährlich 23 Milliarden Schilling (Mindestbeitrag), zum gesamtstaatlichen Konsolidierungspfad beizutragen (Art. 3 Abs. 1 ÖStabilitätspakt [2001]). Die Anteile, welche die einzelnen Länder daran zu tragen hatten, ließen sich wie folgt beziffern: Burgenland 2,866 %, Kärnten 6,592  %, Niederösterreich 18,210  %, Oberösterreich 17,870  %, Salzburg 6,464 %, Steiermark 14,458 %, Tirol 8,462 %, Vorarlberg 4,442 % und Wien 20,636 %. Auch für die Länder bestand eine geringfügige Unterschreitungstoleranz bis zu einem Höchstbetrag, welcher sich aus dem Anteilsverhältnis des Landes an insgesamt 0,15 % des Mittelwertes des BIP der jeweils vergangenen Jahre des Geltungszeitraums des Stabilitätspaktes (2001) ergibt. Der Stabilitätspakt wurde in den Jahren 2005 und 2008 den wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst. Aktuell beträgt der Stabilitätsbeitrag des Bundes in Form eines zulässigen Höchstdefizits für das Jahr 2008 maximal 1,33 % des BIP, für das Jahr 2009 maximal 0,68 % des BIP, für das Jahr 2010 und alle weiteren Jahre der Geltung dieser Vereinbarung maximal 0,14 % des BIP (Art.  2 Abs.  1 Ö-Stabilitätspakt [2008]). Die Länder leisten einen Stabilitätsbeitrag in Form eines durchschnittlichen Haushaltsüberschusses für das Jahr 2008 in Höhe von nicht unter 0,45 % des BIP, für das Jahr 2009 in Höhe von nicht unter 0,49 % des BIP, für das Jahr 2010 und alle weiteren Jahre der Geltung dieser Vereinbarung in Höhe von nicht unter 0,52 % des BIP (Art. 3 Abs. 1 Ö-Stabilitätspakt [2008]).278

Rödler, ecolex 1999, 728 (729). Nr.  39 / 2002. 278  Zusätzlich entfällt auf die Gemeinden der Stabilitätsbeitrag, durch ein ausgeglichenes Haushaltsergebnis zum gesamtstaatlichen Konsolidierungspfad beizutragen, vgl. Art. 4 Abs. 1 Ö-Stabilitätspakt (2008). 276  Vgl.

277  Ö-BGBl.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

c) Wechselseitige Rücksichtnahme im Rahmen des Konsultationsmechanismus Erkauft hatte sich der Bund die Teilabwälzung der Stabilitätsbeiträge auf die Länder und Gemeinden mittels einer föderativen Rücksichtnahmekomponente für das zukünftige legislative Vorgehen. In der Vereinbarung über einen Konsultationsmechanismus (Kons-V)279 wurde für zukünftige Gesetzes­ vorhaben festgelegt, dass sie dem jeweiligen föderalen Gegenüber zu übermitteln, die finanziellen Auswirkungen für dieses darzustellen und um Stellungnahme zu ersuchen sei. Gesetzesentwürfe der Bundesministerien, Ge­ setzesvorschläge der Bundesregierung sowie beschlussreife Verordnungs­ entwürfe der Bundesregierung oder einzelner Bundesminister würden danach den Ämtern der Landesregierungen und der Verbindungsstelle der Bundesländer, dem Österreichischen Gemeindebund und dem Österreichischen ­Städtebund übermittelt (Art. 1 Abs. 1 Kons-V). Umgekehrt sollten Gesetzes­ entwürfe der Ämter der Landesregierungen, Gesetzesvorschläge einer Landesregierung sowie beschlussreife Verordnungsentwürfe einer Landesregierung, eines Mitgliedes einer Landesregierung oder des Landeshauptmannes in mittelbarer Bundesverwaltung dem Bund (Bundeskanzleramt), dem Österreichischen Gemeindebund und dem Österreichischen Städtebund übermittelt werden (Art. 1 Abs. 2 Kons-V). Auf Verlangen eines der Beteiligten würde sodann ein Konsultationsgremium bestehend aus dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler und dem Bundesminister für Finanzen – die jeweils durch einen Bundesminister oder Staatssekretär vertreten sein können –, drei von den Ländern einvernehmlich zu benennenden Landesregierungsmitgliedern sowie je einem Vertreter des Österreichischen Gemeindebundes und des Österreichischen Städtebundes zusammengesetzt. Bei Vorhaben eines Landes würde das Gremium aus drei Landesregierungsmitgliedern desjenigen Landes, dem das rechtsetzende Organ angehört, dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler und dem Bundesminister für Finanzen oder je einem von diesen zu entsendenden Vertreter sowie aus je einem von den Landesverbänden des Österreichischen Gemeindebundes und vom Österreichischen Städtebund zu benennenden Mitglied bestehen. Das Scheitern der Vermittlung im Konsultationsverfahren bezüglich der Kostentragung durch die Gebietskörperschaften wird durch den Ersatz der durch die Verwirklichung des Vorhabens zusätzlich verursachten finanziellen Ausgaben sanktioniert (Art. 4 Abs. 2 Kons-V). Die Ersatzpflicht trifft jene Gebietskörperschaft, der das Organ angehört, welches das Gesetz oder die Verordnung erlassen hat und ist von dieser in der darauf folgenden Finanzausgleichsperiode als bestehende Verpflichtung von ihren Ansprüchen 279  Vereinbarung zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden über e­inen Konsultationsmechanismus und einen künftigen Stabilitätspakt der Gebiets­ körperschaften, Ö-BGBl. Nr.  35 / 1999.



A. Föderalstaaten105

abzuziehen (Art. 4 Abs. 3 Kons-V). Trotz der wechselseitigen Verpflichtung stellt sich der geschaffene Mechanismus als länderseitige Stärkung föderativer Strukturen dar. Insbesondere die Sanktionsfolge verhindert die übliche Kostenabwälzung voreilig gefasster Bundesinitiativen auf die Länder, die an der Schaffung durch den schwachen Bundesrat kein entscheidendes Mitspracherecht haben. 4. Fazit zum österreichischen Föderalismus Der zentralistischen Grundausrichtung des österreichischen Föderalismus zum Trotz hat sich in jüngster Zeit vermehrt das kooperative Element entwickelt. Der Einfluss des Bundesgesetzgebers mag immer noch bestimmend sein hinsichtlich Steuerhoheit und Einnahmenverteilung. Schrankenlos ist er jedenfalls nicht mehr. Der Konsultationsmechanismus mahnt den Bundesgesetzgeber zu Rücksichtnahme auf die (fiskalischen) Länderinteressen und gibt diesen ein Verhandlungsgewicht, das zu manchem Kompromiss führen wird. Neben den kooperativen Elementen des österreichischen Föderalismus besticht aber auch dessen Handhabung supranationaler Verpflichtungen. Die Lasten, die mit einer ungewissen Entwicklung der Makroökonomie einhergehen, sind weitgehend auf die föderalen Partner verteilt. Im Österreichischen Stabilitätspakt sind nicht nur relative Verschuldungsgrenzen des Bundes festgehalten, sondern auch positive Beiträge der Länder eingefordert. Beides ist durch Sanktionen abgesichert.280 Derlei konkretisierte Beitragspflichten zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lassen ein solidarisches Grundgefüge erkennen, das die Lasten zu verteilen sucht und die Glieder zu Garanten des gesamtstaatlichen Bestandes macht. Die „österreichische ‚Bundestreue‘ materialisiert sich in fiskalpolitischer ‚Pakt‘-Treue und Solidarität der Partner.“281 V. Belgien 1. Das Verhältnis der föderalen Partner untereinander Belgien gehört nicht wie Deutschland und Österreich zu den „klassischen“ Bundesstaaten. Es hat sich erst allmählich mittels Verfassungsreformen – 280  Es handelt sich um einen Sanktionsbeitrag im Rahmen von 8 % des jeweils vereinbarten Stabilitätsbeitrages bzw. des vereinbarten Maastricht-Defizites als Fixbetrag zuzüglich 15 % der unstatthaften Über- bzw. Unterschreitung des vereinbarten Stabilitätsbeitrages, vgl. Art. 11 u. 12 Ö-Stabilitätspakt (2008). 281  Novak, in: Schäffer / Berka / Stolzlechner / Werndl (Hrsg.), Staat – Verfassung – Ver­waltung, S. 357 (368).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

beginnend 1970 bis 1993, hinsichtlich der Finanzverfassung auch bis 2001282 dauernd – föderalistisch reorganisiert.283 Dabei hat der ursprüngliche Einheitsstaat inkrementell Kompetenzregelungen zugunsten neu geschaffener föderaler Einheiten abgegeben. Diese „zentrifugale“284 Entwicklung vom Einheitsstaat zum Bundesstaat hat eine belgische Art des Föderalismus hervorgebracht, die wesentliche Unterschiede zu den Strukturen in Deutschland und Österreich aufweist. So spaltet sich etwa die belgische Föderalstruktur in zwei Dimensionen auf: die kulturell-soziale der Personenkörperschaften (Communautés) Französische Gemeinschaft, Flämische Gemeinschaft und Deutschsprachige Gemeinschaft (Art. 2 Constitution Belge – CB) auf der einen Seite und die territoriale der Gebietskörperschaften (Régions) Flandern, Wallonien und Brüssel (Art. 3 CB).285 Zwischen den Gemeinschaften und den Regionen gibt es zahlreiche Überschneidungen.286 Die Flämische Gemeinschaft erstreckt sich hauptsächlich im Norden des Landes über die flämischen Provinzen Antwerpen, Limburg, Ost-Flandern, Flämisch-Brabant und West-Flandern, während die Französischsprachige Gemeinschaft hauptsächlich auf dem Gebiet Walloniens die Provinzen Hainaut, Luxembourg, Namur, Wallonisch-Brabant und Liège umfasst.287 Das Hauptstadtgebiet 282  Das Lambermont-Abkommen (Accord du Lambermont) vom 23. Januar 2001 führte zu zwei Spezialgesetzen zur Reform der Institutionen (loi spéciale du 13 juil­ let 2001 portant transfert de diverses compétences aux régions et communautés und loi spéciale du 13 juillet 2001 portant refinancement des communautés et extension des compétences fiscales des régions, M.B. vom 3. August 2001, S. 26646. 283  Zur Genese des Föderalstaates Belgiens vgl. Pahl, Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen in der Europäischen Union, S. 157 ff.; Tilleman / Alen, in: Alen (Hrsg.), Treatise on Belgian Constitutional Law, S. 1 ff. 284  Bezeichnung des devolutionären Föderalismus in Belgien nach Alen, ZaöRV 50 (1990), 501 ff.; der Normalfall ist die „Zentralisierung“ im Wege einer integra­ tiven Entwicklung, bei der die Gliedstaaten Kompetenzen, die ihnen sui generis zukommen, an die zentralstaatliche Ebene abgeben, vgl. Feld / Schneider, in: Theurl /  Winner / Sausgruber (Hrsg.) Kompendium der österreichischen Finanzpolitik, S. 675 (677). 285  Zum Spannungsverhältnis zwischen dieser territorialen und kulturellen Partition des Bundesstaates und dem herkömmlichen Föderalismusbegriff, der ein rein territorialer ist, siehe Alen, Der Föderalstaat Belgien, S. 38 ff. 286  Siehe für eine genaue Verteilung der Gemeinschaften auf die Regionen Pee­ ters, in: Craenen (Hrsg.), The Institutions of Federal Belgium, S. 58. 287  Zwischen Flamen und Wallonen gibt es schwerwiegende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Differenzen, die historisch bedingt sind durch die ursprüngliche Herrschaft der französischsprachigen Minderheit aus Wallonien. Im 20. Jahrhundert löste sich mit dem Niedergang der Kohle- und Stahlwirtschaft in Wallonien und dem wirtschaftlichen Aufstieg der Region Flamen mit ihren Seehäfen und Zuliefererindustrien der Automobilbranche die wallonische Hegemonie zugunsten einer Dominanz Flanderns und eines damit einhergehenden flämischen Nationalismus auf; vgl. dazu Mnookin / Verbeke, L. & Con. Pr. 72 (2009), S. 151 (157 ff.).



A. Föderalstaaten107

rund um die Region Brüssel ist zweisprachig mit einem überproportionalen Anteil von Französischsprachigen. Die Deutschsprachige Gemeinschaft stellte seit dem ersten Weltkrieg eine stabile Minorität innerhalb von neun Wallonischen Provinzen rund um Verviers. Die belgische Verfassung sieht verschiedentlich Möglichkeiten vor, Kompetenzen der Regionen und Gemeinschaften untereinander zu teilen und bis hin zur völligen Konvergenz kompatibler Föderaleinheiten zu verteilen (Art. 135 ff. CB).288 Bisher hat nur die Region Flandern sich mit der Flämischen Gemeinschaft vereint, indem sie ein einheitliches Parlament und eine gemeinsame Flämische Regierung gebildet haben.289 Wegen der in anderen Regionen vorherrschenden kulturellen Heterogenität hat noch keine andere Region diesen Schritt unternommen,290 obwohl die in der Verfassung vorgesehene gegenseitige Kompetenzbeleihung (Art. 137 Abs. 1 CB) bereits verschiedentlich genutzt wurde.291 Die beiden gleichgeordneten Föderalebenen der Regionen und der Gemeinschaften sind einerseits von Verfassungs wegen originäre Träger von Gesetzeskompetenzen, sofern nicht anderweitige Zuweisungen bestehen (vgl. Art. 35 CB), bedürfen aber hinsichtlich der Ausübungsmodalitäten der gesetzlichen Ausformung ihrer Kompetenzen (Art. 35 Abs. 2 S. 1 CB), da sie ohne eigene föderale Verfassungen eine derivative Existenz aufgrund der Bundesverfassung führen.292 Die Gemeinschaften sind gem. Art. 127–130 CB zuständig für die kulturellen Angelegenheiten einschließlich des Unterrichtswesens, für die personenbezogenen Angelegenheiten und den Gebrauch 288  Mehrbelastungen der Kompetenzbeleihung werden meist mittels Sonderziehungsrechten (droits de tirage) und Zuwendungen aus dem Topf der beleihenden Körperschaft kompensiert, vgl. Uyttendaele, Précis de droit constitutionnel Belge, S. 894. 289  Vgl. Art. 1 § 1 und Art. 3 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen (loi spéciale de réformes institutionnelles), M.B. vom 15. August 1980, S. 9434. 290  Hinzu kommt wegen Besonderheiten in der Steuerhoheit, dass bei einer Vereinigung der Wallonischen Region mit der Französischen Gemeinschaft die französischsprachigen Bewohner von Brüssel von den ärmeren Wallonen alimentiert werden müssten; vgl. dazu Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat?, S. 103 (und dort ­ Fußn. 439). 291  Peeters, in: Craenen (Hrsg.), The Institutions of Federal Belgium, S. 59. 292  Der legislative Widerspruch zwischen der Einzelzuweisung von Aufgaben (Art. 134 i. V. m. Art. 39 CB) und der formulierten Auffangzuständigkeit in Art. 35 CB erklärt sich durch die Übergangsbestimmung zu Art. 35 CB. Die Vorschrift muss erst durch Sondergesetz in Vollzug gesetzt werden. Art. 35 CB bleibt als Kuriosum einer kodifizierten politischen Absichtserklärung bestehen, solange sich die flämischen Parteien nicht mit den französischsprachigen Parteien einigen können; vgl. Glaser, JöR 58 (2010), 251 (253) m. w. Nachw.; Delmartino, in: Färber / Forsyth (Hrsg.), The Regions – Factors of Integration or Disintegration in Europe?, S. 117 (133); Peeters, Eur. Pub. L. 9 (2003), S. 1 (3).

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

der Sprache.293 Die Kompetenzen der Regionen regelt gem. Art. 134 i. V. m. Art. 39 CB das Sondergesetz zur Reform der Institutionen (loi spéciale de réformes institutionnelles). Darin sind für die Territorien der Regionen ausschließliche Befugnisse zur Regelung der Wirtschaft, der Raumordnung und der Umweltpolitik samt Abfall- und Abwasserwirtschaft vorgesehen (vgl. Art. 6 des Sondergesetzes). Abgesehen davon, dass dem Parlament des Bundes (Föderales Parlament, Parlement fédéral, federale Parlement) Gestaltungsrechte über die Strukturen der Gemeinschaften und Regionen zustehen (vgl. Art. 35 CB),294 gibt es keine formale Überordnung der einzelnen Legislativakte der verschiedenen föderalen Einheiten. Ein grundsätzlicher Geltungsvorrang von Bundesrecht besteht nicht.295 Ungeachtet der abgeleiteten Stellung der Regionen und Gemeinschaften haben diese die Kompetenz zum Abschluss internationaler Verträge, soweit ihre Kompetenz in inneren Angelegenheiten reicht (in foro interno, in foro externo).296 In ihren internen Zuständigkeitsbereichen vertreten die Regionen und Gemeinschaften den belgischen Staat ausschließlich. Demnach kann eine Region wie Flandern außenwirtschaftliche Verträge abschließen (Art. 134 CB i. V. m. Art. 6 § 1 Abs. 6 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen), eine Personenkörperschaft wie die Deutsche Gemeinschaft dagegen nicht. Ihr stehen aber Kooperationsabkommen im Kultur- und Bildungsbereich zu (Art. 130 § 1 S. 1 Nr. 4 CB), wofür der Region Flandern die Innenkompetenz fehlt. Die Föderalregierung hat in beiden Sachgebieten keine parallele Abschlusskompetenz.297 Sofern Bundesinteressen von Gesetzgebungs- oder Außenvertragstätigkeiten der Regionen oder Gemeinschaften berührt sind, bestehen jedoch Zustimmungserfordernisse.298 Das komplexe Geflecht aus Kooperation und Konzertierung wurde in der föderalen Frühphase von ei293  Diese allgemeinen Kompetenzen werden durch Art. 4 u. 5 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen (Loi spéciale du 8 août 1980 de réformes institutionnel­ les) konkretisiert. 294  Vgl. Schiedsgerichtshof, Urteil Nr. 44  / 1999 vom 20. April 1999 (Auflösung von Teilgemeinden zugunsten einer effizienteren Gemeindestruktur). 295  Alen, ZaöRV 50 (1990), 501, 533; Peeters, in: Craenen (Hrsg.), The Institutions of Federal Belgium, S. 64; Alen / Tilleman / Meersschaut, in: Alen (Hrsg.), Trea­ ties on Belgian Constitutional Law, S. 127 f. weisen darauf hin, dass im belgischen Verfassungsrecht die typischen Anwendungsfälle für die Maxime „Bundesrecht bricht Landesrecht“ regelmäßig nicht vorkommen, da die Kompetenzen meist ausschließlich verteilt sind. 296  Vgl. Art. 167 § 1 CB. 297  Fassbender, JöR 53 (2005), 207 (216) m. w. Nachw. In Deutschland regelt das Lindauer Abkommen nebeneinander bestehende Vertretungskompetenzen von Bund und Ländern, vgl. Nettesheim, in: Maunz / Dürig, Art. 32 GG [Stand: März 2007], Rn. 72. 298  Siehe z. B. Art. 6 § 1 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen (loi spéciale de réformes institutionnelles).



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nem eigens für Kompetenzstreitigkeiten zuständigen Gerichtshof, dem Schiedshof (Cour d’arbitrage, Arbitragehof),299 überwacht. Dieser ist nunmehr im Verfassungsgerichtshof (Court constitutionnelle, Grondwettelijk Hof) aufgegangen. An seiner Zuständigkeit in Kompetenzstreitigkeiten hat sich nichts geändert. 2. Steuerverteilung Die belgischen Regionen und Gemeinschaften genießen seit der Verfassungsreform aus dem Jahr 1980300 Freiheiten in der Steuergesetzgebung. Zuvor waren sie ausschließlich vom Bund mittels Dotationen alimentiert worden.301 Nachdem kurzzeitig Gemeinschaften und Regionen mit Steuererhebungskompetenzen ausgestattet waren, sind es nunmehr ausschließlich die Regionen, die unterhalb der Bundesebene eigene Steuern erheben können.302 Dazu gehören nach dem lokalen Aufkommen (Art. 3 i. V. m. Art. 5 Belg. FSG) u. a. Steuern auf Glücksspiele, Wetten und Spielautomaten, Steuern auf die Eröffnung von Alkoholschankstätten, Erbschaftssteuern, Registrierungsgebühren für Immobiliengeschäfte und (seit dem St. Michaels-Abkommen)303 die Rundfunk- und Fernsehgebühren sowie die Kraftfahrzeugsteuer. Im Jahr 2009 beliefen sich diese Steuern auf rund 4,2 Mrd. Euro für die Flämische Region, 2,1 Mrd. Euro für die Wallonische Region und 1,1 Mrd. Euro für die Region Brüssel-Hauptstadt.304 Die Erträge der Mehrwertsteuer und der Einkommensteuer dagegen unterfallen einem Steuerverbund zwischen Bund und Regionen mit variablen Anteilen (Art. 6 und 7 Belg. FSG).305 Für die Einkommensteuer stehen den Regionen eigene 299  Art. 107ter der Belgischen Verfassung von 1980 i. V. m. Gesetz vom 28. Juni 1983 über die Zusammensetzung, die Zuständigkeit und die Arbeitsweise des Schiedshofes (loi du 28 juin 1983 portant l’organisation, la compétence et le fonc­ tionnement de la Cour d’arbitrage), M.B. vom 08.07.1983. 300  Loi ordinaire du 9 août 1980 de réformes institutionnelles, M.B. vom 15. August 1980, S. 9451. 301  Abschaffung durch die Reform des Jahres 1989, vgl. Alen, ZaöRV 50 (1990), 523. Einzig die Regionen hatten daneben bereits das Recht auf „eigene Nicht-Steuereinnahmen“ („recettes non fiscales propres“), vgl. Meyer, JöR 27 (1978), 1 (19 f.). 302  Vgl. Änderungen in Art. 1 des Sondergesetzes vom 16. Januar 1989 bezüglich der Finanzierung der Gemeinschaften und Regionen (Loi spéciale de 16 janvier 1989 portant refinancement des communautés et extension des compétences fiscales des région), M.B. vom 03. August 2001, S. 26646 (im Folgenden: Belg. FSG). 303  Vgl. Nachweise bei Delmartino, in: Färber  / Forsyth (Hrsg.), The Regions – Factors of Integration or Disintegration in Europe?, S. 117 (129). 304  Vgl. das Haushaltsgesetz 2009 (Loi ajustant le budget des Voies et Moyens de l’année budgétaire 2009), M.B. vom 18. Juni 2009, S. 42514. 305  Vgl. Uyttendaele, Précis de droit constitutionnel Belge, S. 1058 ff.

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Hebesätze von maximal 6,75 % des Ertrags der in jeder Region lokalisierten Einkommensteuer zu (Art. 9 § 1 Abs. 3 Belg. FSG). Diese Regelung umfasst auch die Senkung um den genannten Prozentsatz, wodurch ein gemäßigter Steuerwettbewerb zwischen den Regionen ermöglicht wird.306 Der Wettbewerb wird tatsächlich etwas abgeschwächt, da sich die Steuertatbestände teilweise auf immobile Faktoren (unbewegliches Vermögen) beziehen. Sind mobile Faktoren betroffen, die zu einer Abwanderung und damit zu einer Verschärfung des Wettbewerbs führen könnten, müssen sich die Regionen vor der Wahrnehmung der betroffenen Kompetenzen in einem Zusammenarbeitsabkommen i. S. d. Art. 4 §§ 3 u. 4 des Sondergesetzes bezüglich der Finanzierung der Gemeinschaften und Regionen i. V. m. Art. 92bis des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen abstimmen.307 Trotz der Kompetenz der Regionen, ihnen zustehende Steuern selbst einzutreiben, übernimmt ganz überwiegend der Bund diese Aufgabe und vergibt anschließend die jeweiligen Anteile an die Regionen.308 Den Gemeinschaften stehen lediglich Anteile aus der Mehrwertsteuer, der Einkommensteuer und Dotationen als Ausgleich für die den Regionen zugewiesenen Rundfunk- und Fernsehgebühren (Art. 36 i. V. m. Art. 47bis Belg. FSG) zu. Die Grenzen der Steuerhoheit der Regionen und Gemeinschaften sind zweifach durch den Bund gesteckt. Zum einen kann die Steuerhoheit der Gemeinschaften als auch der Regionen vom Bund auf bestimmten Gebieten zugunsten einer Steuer, die er selbst erheben will, mittels einfachem Gesetz ausgehebelt werden.309 Zudem besteht für die Steuererhebung durch die subnationalen Einheiten eine verfassungsimmanente Schranke in dem vom Verfassungsgericht festgestellten Gebot der Wahrung der nationalen Wirtschaftsund Währungsunion.310 Daraus folgt eine grundlegende Kompetenzbeschränkung für die Regionen auf Maßnahmen, die sich lediglich unterhalb der ­nationalen Einheit auswirken und nicht zu einer makroökonomischen Absonderung von den anderen föderalen Partnern als regionalem Sonderweg führen 306  Vor der grundlegenden Reform im Jahr 2001 war der belgische König befugt, im Sinne der wirtschaftlichen und monetären Einheit des Staates die Hebe- und Senkungssätze per Dekret festzulegen, vgl. Tilleman / Alen / Van  Haegendoren, in: Alen (Hrsg.), Treatise on Belgian Constitutional Law, S. 259. Heute übernimmt die Festlegung ein Konzertierungsausschuss bestehend aus der Föderalregierung und den Regierungen der Regionen (Art. 8 Belg. FSG). 307  Vgl. dazu Glaser, JöR 58 (2010), 251 (254). 308  Vgl. Tilleman / Alen / Van  Haegendoren, in: Alen (Hrsg.), Treatise on Belgian Constitutional Law, S. 260. 309  Zu den ausgenommenen Bereichen gehören insbesondere Abfall- und Wasserwirtschaft, vgl. Art. 2 des Gesetzes über die Ausführung von Art. 110 § 2 Abs. 2 der Verfassung, M.B. vom 24. Januar 1989, S. 1217. 310  Schiedsgerichtshof, Urteil Nr. 47  /  1988 vom 25. Februar 1988, M.B. vom 17. März 1988.



A. Föderalstaaten111

können. Daher dürfte eine Region z. B. keine Binnenzölle einführen, obwohl sie für die Wirtschaft ihres Gebiets nach nationalem Recht die notwendige Binnenkompetenz hätte.311 Grundsätzlich garantiert Art. 170 CB den föderalen Untereinheiten einen autonomen Anspruch auf eine Finanzausstattung, während der regulatorische Rahmen Sache des Bundes bleibt.312 3. Ergänzungsfinanzierung durch den Bund Sollte die komplexe Steuerallokation gem. Titel IV des Belg. FSG zu große Disparitäten hinterlassen und auch Sonderzuschüsse (Art. 35bis ff. Belg. FSG) nicht die gewünschte gerechte Finanzausstattung sichern, ist seit dem Jahr 1990 ein nationaler Mechanismus in Kraft, mittels dessen einer Region, für die der durchschnittliche Ertrag aus der Einkommensteuer pro Einwohner (Impôt des Personnes Physiques, IPP) unter dem durchschnitt­ lichen Ertrag aus der Einkommensteuer für das gesamte Königreich liegt, jährlich eine Nationale Solidaritätsbeteiligung (Intervention de solidarité nationale) zugewiesen wird.313 Bis zum Jahr 1999 war die nationale Solidaritätsbeteiligung eine horizontale Dotation, die von den allgemeinen einwohnerbasierten Steueranteilen (IPP) der Regionen abgezogen wurde. Seit dem Jahr 2000 zahlt die Föderalebene diesen Zuschuss direkt aus eigenen Mitteln, ohne die Regionen zu belasten.314 Der Basisbetrag dafür liegt bei 468 Franken (11,60 €) pro Einwohner und je Prozentpunkt, den der durchschnittliche Ertrag darunter liegt (Art. 48 § 2 Abs. 1 Belg. FSG).315 Zusätz311  Vgl. Alen, ZaöRV 50 (1990), 501, 522. Außen vor bleiben die unionsrecht­ lichen Grenzen innerhalb der Zollunion (Art. 28 AEUV). 312  Schiedsgerichtshof, Urteil Nr. 57 / 1988 vom 2. Juni 1988, M.B. v. 22.6.1988: „Ces dispositions [de l’article 170 de la Constitution] traduisent deux idées fondamen­ tales: d’abord, elles érigent en principe constitutionnel l’autonomie fiscale des Com­ munautés, des Régions, des provinces, des agglomérations, des fédérations de commu­ nes et des communes; ensuite, elles instaurent un mécanisme régulateur en attribuant au seul législateur national la compétence exclusive de déterminer les exceptions dont la nécessité est démontrée.“ (Diese Regelungen [die des Artikel 170 CB] tragen zwei grundlegende Ideen: Zunächst errichten sie das verfassungsrechtliche Prinzip der Steuerautonomie der Gemeinschaften, der Regionen, der Provinzen, der Gemeinden und der Verbände von Städten und Gemeinden; zweitens schaffen sie einen Regula­ tionsmechanismus, bei dem einzig dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz übertragen ist, Ausnahmen festzulegen, wo das Bedürfnis dazu erwiesen ist.) 313  Art. 48 § 1 Belg. FSG. 314  Vgl. Cattoir / Verdonck, in: Cattoir / De  Bruycker / Dumont / Tulkens / Witte (Hrsg.), Autonomie, solidarité et coopération, S. 307 (314). Dadurch profitiert die Föderalebene überproportional von einem erhöhten Steueraufkommen in einer Region, da dann die Zuschüsse der nationalen Solidaritätsbeteiligung sinken. 315  Siehe den Verteilungsschlüssel bei Cattoir / Verdonck, in: Cattoir  /  De Bruycker / Dumont / Tulkens / Witte (Hrsg.), Autonomie, solidarité et coopération, S.  314.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

lich sind die Gemeinschaften und Regionen befugt, Anleihen in Euro und in Fremdwährungen aufzunehmen (Art. 49 Belg. FSG), unterliegen dabei aber einer strengen Bundesaufsicht.316 Pläne zur Aufnahme neuer Anleiheschulden sind stets dem Bundesfinanzminister und ggf. dem Ministerrat, d. h. dem Bundeskabinett, zur Genehmigung vorzulegen (Art. 49 § 2 S. 2 Belg. FSG). Der König kann die Anleihekapazität einer Gemeinschaft oder Region auf eine Höchstdauer von zwei Jahren begrenzen (Art. 49 §  7 Belg. FSG). Darüber hinaus bestehen zahlreiche Rechenschaftspflichten über die öffentlichen Schuldenstände der Regionen und Gemeinschaften (Bsp.: Art. 49 § 6 u. 8 Belg. FSG). 4. Fazit zum belgischen Föderalismus Als aus Dezentralisation entstandener Bundesstaat dient Belgien dazu, durch Vergleich mit den klassischen Föderalstaaten diejenigen solidarischen Verpflichtungen, die systemimmanent sind, von solchen zu unterscheiden, die Tradition und politischem Verhandlungsgeschick entspringen. Die „zentrifugale“ Expansion föderalistischer Kompetenzen hat den Regionen nicht nur Existenz gegeben, sondern ihnen ex tunc eine föderalistische Identität verliehen, die ohne historische Kontinuitätslinien317 auskommen muss und dennoch auf parallelen Vorstellungen zu föderalistischer Kooperation und Koordination aufbaut wie in Deutschland oder Österreich. Das ungleich jüngere belgische Verständnis von Loyalität unter föderalen Partnern (loyau­ té fédérale oder federale loyauteit)318 dient ebenso wie die deutsche Bundestreue der Kompetenzgerechtigkeit zwischen den föderalen Einheiten und verhindert so ein Übergewicht des Bundes.319 Die solidarischen Verflechtungen beruhen – was aufgrund der Spannungen der im Kern bikulturellen Zusammensetzung des belgischen Bundes aus französischsprachigen Wallo316  Art. 49 § 2 Belg. FSG; vgl. Quertainmont, in: Delpérée (Hrsg.), La constitu­ tion fédérale du 5 Mai 1993, S. 291 (221). 317  Jedenfalls in politischer Hinsicht gibt es für Belgien keine föderale Tradition. Die fremdherrschaftliche territoriale Verbindung verschiedener Kultur- und Sprachgebiete in der belgischen Geschichte hat indes die föderative Einigung nahegelegt, um die Einheit des Staates in seinem ausgeprägten Regionalismus konfliktfrei zu bewahren, vgl. Tilleman / Alen, in: Alen (Hrsg.), Treatise on Belgian Constitutional Law, S. 15. 318  Zur Rolle des belgischen Königs als Integrationsfigur und gleichsam personifizierte Bundestreue siehe Senelle, JöR 36 (1987), 121 (133 f.). 319  Trotz der anderen Dogmatik hat die belgische Bundestreue ähnliche Ausprägungen wie in Deutschland: Bund und Glieder müssen ihre Kompetenzen in gegenseitiger Rücksichtnahme ausüben und dürfen sich dabei nicht gegenseitig behindern. Mitunter kann auch der Einschnitt in eigene Kompetenzen erforderlich sein, um bundestreu zu handeln; vgl. Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat?, S. 115 f.



A. Föderalstaaten113

nen und niederländischsprachigen Flamen erstaunlich ist320 – auf dem gleichen Verständnis von Interdependenz und dem gemeinsamen Bestreben nach dem Erhalt des Gesamtstaates.321 Zwar gibt es keinen klassischen Länderfinanzausgleich. Aber durch die Verteilungssteuerung z. B. im Mehrwertsteuerverbund werden strukturelle Ungleichgewichte vor allem für die chronisch unterfinanzierten Gemeinschaften ausgeglichen.322 Für die Regionen, die aufgrund ihrer weitreichenden Kompetenzen in der Wirtschaftsund Ordnungspolitik (vgl. Art. 6 § 1 des Sondergesetzes zur Reform der Institutionen) ungleich größeren finanziellen Belastungen ausgesetzt sind als die Gemeinschaften, sorgt indes die föderale Ebene mittels der Nationalen ­Solidaritätsbeteiligung (Intervention de solidarité nationale, Art. 48 § 1 Belg. FSG) für eine zusätzliche Niveauangleichung in der Finanzausstattung. Hinsichtlich der öffentlichen Schulden verfestigt sich die fiskalpolitische Autonomie der föderalen Partner zu einer unabhängigen Schuldenpolitik, die spiegelbildlich aber auch einen unabhängigen Schuldendienst mit sich führt. Der Bund steht nicht für die Schulden der Regionen und Gemeinschaften ein und diese sind untereinander ebenso wenig in Haftung genommen. Dies betrifft allerdings nur die unmittelbare Einstandspflicht. Vor allem der Bund ist der Schuldenaufnahme vorgeschaltet, indem er wesentliche Kontroll- und Eingriffsbefugnisse bei der Schuldenaufnahme der Regionen und Gemeinschaften durch Anleihen inne hat (Art. 49 § 2 Belg. FSG) und für chronische Unterfinanzierung einspringt (Nationale Solidaritätsbeteiligung). Die vom Bund einzufordernde Ausgabendisziplin323 ergänzt als präventive Solidarität den verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch der Regionen und Gemeinschaften auf eine hinreichende Finanzausstattung (Art. 170 CB). Während die Steuerallokation und -distribution mitsamt dem Verteilungskorrektiv324 der Nationalen Solidaritätsbeteiligung in zentralstaatlicher Gewalt 320  Die historischen Grabenkämpfe der beiden Volksgruppen haben nationalistisch-separatistischen Tendenzen Vorschub geleistet. So ist bei den jüngsten Wahlen 2010 die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) um den flämischen Separatisten Bart de Wever zur stärksten Kraft geworden. 321  Siehe dagegen zu den immer wieder aufflammenden flämischen Sezessionsbestrebungen, Mnookin / Verbeke, L. & Con. Pr. 72 (2009), S. 151. 322  Allerdings führt die jüngste Betonung des lokalen Aufkommens (20 % der Anteile ab dem Jahr 2011 werden nach Maßgabe der tatsächlich im Gebiet einer Gemeinschaft erhobenen Steuereinnahmen statt nach Bedürfniskriterien vergeben) dazu, dass die solidarischen Bande zwischen den Gemeinschaften verringert werden; vgl. dazu Van de Stichele / Verdonck, Les modifications de la loi spéciale de financement dans l’accord du Lambermont, S. 13. 323  Exemplarisch sei hier angeführt, dass der belgische Bundesfinanzminister die Ausgabe und die Konditionen von Anleihen der Regionen genehmigen muss (Art. 49 § 2 S. 2 Belg. FSG). 324  Verteilungswirkungen zeitigt auch die Steuer- und Abgabenallokation im Bereich der sozialen Sicherung. Im Gebiet des wirtschaftlich prosperierenden Flandern

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

liegt und so der Bund als Träger der föderalistischen Integrationsverantwortung zum Garanten der wirtschaftlichen Balance des Gesamtstaates wird, lässt die Befugnis der Regionen und Gemeinschaften zur Anleihebegebung ausreichend fiskalpolitische Spielräume, um auf konkrete Haushaltslagen und -krisen zu reagieren. Das Zusammenspiel aus bundespolitischer Fiskalaufsicht und Budgetsteuerung durch die Regionen und Gemeinschaften flexibilisiert die Finanzverfassung im Sinne eines echten kooperativen Föderalismus. Dass die vielseitigen Mechanismen und Vorkehrungen zur gegenseitigen Aufsicht und Kontrolle einen bisher ausufernden Schuldenstand Belgiens nicht vermeiden konnten, ist eher der politischen Schwäche der Bundesebene zuzuschreiben denn dem institutionellen Rahmen.325

B. Regionalistische Staaten Neben den bereits ausgeformten Föderalstaaten bestehen Ordnungen, die in unterschiedlichen Stadien eine föderalistische Tendenz ausbilden. Meist manifestiert sich diese Dezentralisierung in Autonomiebestrebungen wohlhabender Regionen (Bsp.: das Baskenland in Spanien, Venetien in Italien). Ungeachtet des Fortschritts dieser Entwicklung oder seines Ausgangs bieten diese Beispiele staatsorganisatorischer Transformation Aufschluss über die wesentlichen Bestandteile eines (wenn auch nur angestrebten) föderalen Verbunds. In ihrer Entstehung besinnen sich die „neuen“ Föderalstaaten insbesondere auf die strukturstiftenden Merkmale und die bestandswahrenden Qualitäten, derer sie zum Gelingen bedürfen. Anhand dieser Beispiele lassen sich so essentielle Bestandteile föderalistischer Finanzverfassungen erkennen.

werden durchschnittlich wesentlich mehr Beträge für die Arbeitslosenversicherung, Krankenkassenbeiträge und Sozialversicherung eingenommen als in den wirtschaftlich schwächeren Regionen Wallonien und Brüssel. Da die Erhebungs- und Verteilungskompetenz bei diesen Programmen aber national gebündelt ist, kommen die erhöhten Beträge auch den Belgiern in den anderen Regionen zugute. Damit wird Flandern aufgrund seiner durchschnittlich geringeren Arbeitslosigkeit zum Nettozahler im Bereich der sozialen Sicherung; siehe die genauen Zahlen bei Cantillon et al., W. Eur. Pol. 29 (2006), S. 1034 (1040 ff.). 325  Es bleibt abzuwarten, ob mit dem im Dezember 2011 gefundenen Regierungskompromiss und dem Amtsantritt von Elio di Rupo als Premierminister am 5. Dezember 2011 eine neue Epoche in der zentral geförderten Stabilität des belgischen Föderalismus anbricht.



B. Regionalistische Staaten115

I. Spanien 1. Föderalistische Ausprägungen Trotz einer langen regionalistischen Tradition ist die spanische Staatsorganisation in der heutigen Form erst mit der nach Ende der Franco-Diktatur am 29. Dezember 1978 in Kraft getretenen Verfassung (Constitución Espa­ ñola – CE) entstanden.326 Zuvor waren dem faschistisch-zentralistischen Staatsbild der Franco-Bewegung widerstrebende Strömungen gewaltvoll unterdrückt worden. Unter dem Eindruck der jungen parlamentarischen Demokratie erneuerten nicht nur die drei historischen Regionen Baskenland, Katalonien und Galicien ihre Autonomiebestrebungen. Auch die Regionen Aragonien, Extremadura, Valencia, Murcia, Asturien, Neukastilien / La Mancha, Altkastilien / León, die Kanarischen Inseln und die Balearen erhielten einen „vorautonomen Status“.327 Mit der Verfassung von 1978 sollte eine integrale Regionalisierung des Landes institutionalisiert werden,328 um die nationalistisch-separatistisch tendierenden Gebietskörperschaften zu befrieden und die verfassungsprogrammatische „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“ (Art. 2 CE) zu sichern.329 Praktisch wurde das Recht auf Autonomie verwirklicht, indem angrenzenden Provinzen mit gemeinsamen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie Inselterritorien und Provinzen mit historischer Regionaleinheit ermöglicht wurde, 326  Zur Verfassungsgenese siehe Bernecker, Spanien-Handbuch Geschichte und Gegenwart, S. 61 ff.; grundsätzlich ist auch höchstgerichtlich keine Klarheit darüber gewonnen, ob das vorliegende Modell der Gebietsorganisation des Staates in der spanischen Verfassung verwurzelt ist (implantarse), so das Urteil des Tribunal Constitucional vom 4. Mai 1982, Nr. 18 / 82, Fundamento jurídico (FJ) 14, Jurisprudencia Consitutional (JC) III, S. 244, oder lediglich von ihr angedeutet wird (prefigurar), so noch das Urteil des Tribunal Constitucional vom 28. Juli 1981, Nr. 32 / 81, FJ 3, JC II, S. 234; vgl. Cruz Villalón, in: López Pina (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, S. 195 (199 f.). 327  Dieser enthielt lediglich exekutive Befugnisse; vgl. Boucsein, JöR 27 (1978), 41 (42 f. u. Fußn. 5); Nohlen / Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 26. 328  Vgl. Bernecker, in: Piazolo / Weber (Hrsg.), Föderalismus: Leitbild für die Europäische Union?, S. 260. Das Baskenland erhielt im Statut von Guernica 1979, Katalonien im Statut von Sau und später auch Galicien in einem eigenen Statut weitgehende Autonomierechte zuerkannt. Für die übrigen Regionen schloss sich ein zäher Verhandlungsweg an. 329  Gleichwohl ist die „spanische Nation“ ein Produkt der Verfassung. Die „historischen“ Regionen Baskenland, Katalonien und Galicien haben eigenen Nationalcharakter samt eigenständiger Sprache und Kultur. Als plurinationaler Staat lässt Spanien dennoch eine klare Gliederung der territorialen Organisationsstruktur vermissen.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

sich als Autonome Gemeinschaft zu konstituieren.330 Die 17 neu geschaffenen Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas)331 verfügen kraft ihrer jeweiligen Autonomiestatute (Art. 147 CE) über legislative Befugnisse im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung in Art. 148 f. CE. Die Autonomie der Gebietskörperschaften geht dabei weit über bloße Selbstverwaltung (Art. 137 CE) hinaus. Sie ist eine „qualitativ der Verwal­ tungsautonomie übergeordnete Autonomie“332 unterhalb eigener Staatlichkeit. Der spanische Regionalismus hat indes (noch) nicht die Dezentralisierungsstufe eines echten Bundesstaates erreicht.333 So haben etwa die Autonomen Gebietskörperschaften keine eigenen Verfassungen, sondern verfügen über eine von der Bundesverfassung abgeleitete erweiterte Verwaltungsautonomie.334 Aufgrund der historisch und kulturell bedingt unterschiedlichen Autonomiequalität der drei Regionen Baskenland, Katalonien und Galicien im Vergleich zu den übrigen Autonomieaspiranten wurde bis heute kein einheitlicher, trennscharfer Kompetenzkatalog für alle unter dem Gesamtstaat stehenden Regionaleinheiten verabredet.335 Art. 148 Abs. 1 CE führt lediglich fakultative Kompetenzzuweisungen auf, die negativ um den Katalog 330  Art. 143 Abs. 1 CE: „En el ejercicio del derecho a la autonomía reconocido en el artículo 2 de la Constitución, las provincias limítrofes con características históricas, culturales y económicas comunes, los territorios insulares y las provincias con enti­ dad regional histórica podrán acceder a su autogobierno y constituirse en Comuni­ dades Autónomas con arreglo a lo previsto en este Título y en los respectivos Esta­ tutos.“ 331  Andalusien, Aragonien, Asturien, Balearische Inseln, Baskenland, Extremadura, Galicien, Kanarische Inseln, Kastilien-La Mancha, Kastilien-León, Katalonien, La Rioja, Madrid, Murcia, Navarra und Valencia. Daneben gibt es die beiden autonomen Städte Ceuta und Melilla. Diese beiden nordafrikanischen Exklaven haben allerdings nicht den Status und die legislativen Kompetenzen von Autonomen Gemeinschaften, vgl. Urteile des Tribunal Constitucional vom 25. Juli 2000, Nr.  201 / 2000 und 202 / 2000. 332  „Autonomía cualitativamente superior a la administrativa“; vgl. das Urteil des Tribunal Constitucional vom 14. Juli 1981, Nr. 25 / 81, FJ 3, JC II, S. 132; Urteil des Tribunal Constitucional vom 2. Februar 1981, Nr. 4 / 81, FJ 3; JC I, S. 44. 333  Vgl. Albertí, in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 129; Nohlen / Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 9 (und Fußn. 1); Wiedmann, ZaöRV 57 (1997), 403; gleichwohl gibt es zahlreiche Überschneidungen; vgl. Pielow, Autonomía Local in Spanien und Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, S. 75 (und Nachweise in Fußn. 215). 334  Stern, Staatsrecht I, S. 668 spricht in solchen Fällen von „hochpotenzierte(n) Selbstverwaltungskörperschaften“, denen die Essentialia der Staatlichkeit fehlen. 335  Vgl. Pérez Royo, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 103 (107 ff.).



B. Regionalistische Staaten117

der nicht nach Art. 149 CE dem Gesamtstaat zugewiesenen Kompetenzen ergänzt wird.336 Eine Autonome Gebietskörperschaft, die sich nach dem vereinfachten Verfahren des Art. 143 CE337 konstituiert hat, kann sich jedoch fünf Jahre nach Schaffung ihres Autonomiestatuts, das den Kompetenzrahmen der Verfassung konkretisiert, in den Grenzen von Art. 149 CE selbst Kompetenzen aneignen und in die Stellung eines „schwachen Bundeslandes“ hineinwachsen.338 Diese Möglichkeiten haben zu einer durch politische und wirtschaftliche Umstände vorgegebenen heterogenen Entwicklung der Autonomen Gemeinschaften geführt. Trotz jüngster Angleichungsprozesse339 bleibt Spanien somit nach seiner Staatsorganisation ein „asymmetrischer Bundesstaat“340 ohne einheitliche und klare Zuständigkeitssystematik.341 Nicht zuletzt deshalb bleibt es bei einer subsidiären Zuständigkeit des Staates, dessen Recht in Bereichen, die von den Autonomiestatuten der Autonomen Gebietskörperschaften nicht übernommen wurden, ohnehin Geltungsvorrang genießt (Subsidiaritätsklausel in Art. 149 Abs. 3 S. 2 u. 3 CE).342 336  Das komplexe System der Einzelzuweisungen setzt sich in den Verwaltungszuständigkeiten im Vollzug der staatlichen Gesetze fort, vgl. Pielow, JöR 43 (1995), 511 (518). 337  Art. 151 CE sieht zusätzlich einen beschleunigten Autonomieprozess mit höheren demokratischen Legitimationshürden vor, der in die politische Autonomie samt Regierung und Parlament führt. Siehe zu den unterschiedlichen Autonomieprozessen Nohlen / Hildenbrand, in: Nohlen  /  González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 28 f.; Pérez Royo, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 104 f. 338  Häberle, in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 75 (85); González Encinar, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 228. 339  Ley Orgánica 9 / 1992 de 23 de diciembre, de Transferencia de Competencias a Comunidades Autónomas que accedieron a la Autonomía por la Vía del Artículo 143 de la Constitución, BOE Nr. 308 vom 24. Dezember 1992, S. 43863; vgl. dazu Aja Fernández / González Beilfuss, in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 209 (215). 340  González Encinar, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 217 ff.; Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 7. 341  Bernecker, Spanien-Handbuch, S. 156. Das folgt aus der „Offenheit“ der Verfassung hinsichtlich der zukünftigen Territorialstruktur, vgl. Pérez Royo, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 106. 342  Vgl. Balaguer Callejón, in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S.  49 ff.; Pérez Royo, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 109.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

2. Die Finanzverfassung der Autonomen Gemeinschaften Die Finanzverfassung der Autonomen Gebietskörperschaften bezweckt primär einen Ausgleich zwischen der grundsätzlichen Gebietsautonomie, der Angleichung des Lebensstandards und der Solidarität der am Gesamtstaat beteiligten Gebietskörperschaften, ohne eine Nivellierung der ökonomischen Bedingungen zu bezwecken.343 Demzufolge ist die Finanzautonomie der Autonomen Gemeinschaften in Art. 156 CE so formuliert, dass sie nur für die Entwicklung und Ausübung der gemeinschaftlichen Zuständigkeiten gemäß den Grundsätzen der Koordinierung mit der staatlichen Finanzverwaltung und der Solidarität aller Spanier gilt. Art. 138 Abs. 1 CE verpflichtet zudem den Gesamtstaat zur Herstellung eines angemessenen und gerechten wirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Teilen des Staatsgebiets. Im Sinne einer kompensierenden Angleichung (Art. 9 Abs. 2 CE) hat die Bundesebene den zusätzlich dem Autonomieanspruch der Re­ gionen entgegen stehenden Entwicklungsauftrag, auf Konvergenz in der Teilhabe aller Staatsbürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben hinzuwirken. Daraus ergeben sich Leitprinzipien der ökonomische Stabilität (Art. 40 CE) und Entwicklungsgebote in Bezug auf die regionale Wirtschaft (Art. 131 Abs. 1 CE), welche die Kompetenz der Autonomen Gemeinschaften zügeln. In der Steuerpolitik ist die Autonomie dabei am wenigsten vorangeschritten. Zwar besitzen die Autonomen Regionen in Bezug auf Steuern, die ihnen originär zustehen oder mittlerweile abgetreten sind, einige gesetzgeberische Kompetenzen (vgl. Art. 26 und 46 Ley 22 / 2009)344. Grundsätzlich bleibt jedoch die Bundeslegislative in Steuerfragen bestimmend.345 Die Autonomen Gemeinschaften handeln hinsichtlich der einzutreibenden Steuern grundsätzlich im Rahmen einer Art Bundesauftragsverwaltung (Art. 156 Abs. 2 CE).346 Hauptsächlich leben sie von abgetretenen Steueranteilen und Zuteilungen, die ohne wirksames Mitspracherecht im Bundesparlament López Pina, in: ders. (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, S. 223 (225). 22  /  2009, de 18 de diciembre, por la que se regula el sistema de financiación de las Comunidades Autónomas de régimen común y Ciudades con Estatuto de Autonomía y se modifican determinadas normas tributarias, BOE Nr. 305 vom 19. Dezember 2009, S. 20375. 345  Nur sie „überlässt“ Steuern (vgl. Art. 157 Abs 1 lit. a CE) oder „gewährt“ Zuschüsse (vgl. Art. 158 Abs. 1 CE). 346  Allerdings verfügen die Regionen bei den abgetretenen Steuern über die Kompetenz, Abweichungen hinsichtlich der Steuersätze oder anderer regulatorischer Aspekte vorzunehmen, vgl. Wiedmann, ZaöRV 57 (1997), 387, obwohl sie davon nicht immer Gebrauch machen, vgl. Toboso / Scorsone, in: Regional & Federal Studies 2010, 167 u. 172. 343  Vgl. 344  Ley



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(Cortes Generales) beschlossen werden.347 Einzig das Baskenland und Navarra haben bisher den Status völliger Steuerautonomie erreicht.348 Dort werden alle dem Staat zukommenden Abgaben und Steuern von der jeweiligen regionalen Steuerbehörde in Eigenverantwortung und nach autonomem Recht eingetrieben und dem Gesamtstaat anschließend Anteile daraus zur Finanzierung seiner Verpflichtungen überlassen.349 a) Steuerverbund und Steuerwettbewerb Die Finanzausstattung der autonomen Gebietskörperschaften ruht auf drei Pfeilern: ein Steuerverbund, eigene Regionalsteuern sowie Steueraufschläge. Die Grundfinanzierung wurde ursprünglich aus Anteilen an staatlichen Einnahmen (Porcentaje de Participación en los Ingresos del Estado – PPI) gesichert.350). Im Sinne des Gebots kompensierender Angleichung (Art. 9 Abs. 2 CE) wurde für jede Autonome Gemeinschaft ein individueller PPIProzentsatz ermittelt, der zwischen den beteiligten staatlichen Ebenen ausgehandelt wurde.351 Mittlerweile wurden die PPI-Anteile abgeschafft und in Anteile an einem Suffizienzfonds (Fondo de Suficiencia Global) umgewandelt.352 Daneben sind eigene Steuern353 und andere Eigenmittel354 vorgeseAnero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S. 27. sogenannten Foralsystem (régimen foral) der beiden Gemeinschaften vgl. Bosch / Durán, in: dies. (Hrsg.), Fiscal Federalism and Political Decentralization, S. 3 (7); Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 139 f. 349  Ähnliche Bestrebungen von Katalonien sind im Jahr 2005 durch das Zugeständnis erhöhter Steueranteile abgewendet worden; vgl. Bernecker, Spanien-Handbuch, S. 164 f.; erst mit zunehmenden finanziellen Nöten hat Katalonien jüngst die volle Übertragung der Steuerautonomie verlangt, vgl. F.A.Z. vom 27. Juli 2012, Seite 6: „Katalonien will volle Steuerhoheit“. 350  Art. 157 Abs. 1 lit. a CE in Verbindung mit Art. 13 des Gesetzes über die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften a. F. (Ley Orgánica 8 / 1980, de 22 de septiembre, de Financiación de las Comunidades Autónomas (LOFCA), BOE Nr. 236 vom 1. November 1980, S. 21796). 351  Vgl. Anero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S. 85. 352  Art. 2 Ley Orgánica 7 / 2001, de 27 de diciembre, de modificación de la Ley Orgánica 8  /  1980, de 22 de septiembre, de Financiación de las Comunidades Autónomas (LOFCA), BOE Nr. 313 vom 31. Dezember 2001, S. 24961. 353  Art. 157 Abs. 1 lit. b CE in Verbindung mit Art. 9 LOFCA. 354  Staatssteuerzuschläge nach Art. 157 Abs. 1 lit. a, Kreditgeschäfte nach lit. e i. V. m. Art. 14 LOFCA; hauptsächlich betrifft das kurzfristige Deckungsgeschäfte für liquiditätsschwache Phasen mit max. 1 Jahr Laufzeit (Abs. 1) und Investitionskredite, die der Höhe nach auf 25 % der Einnahmen der jeweiligen Autonomen Gemeinschaft beschränkt sind (Abs. 2). Der Bund hat letztlich Entscheidungskompetenz (Abs. 3 S. 1). 347  Vgl.

348  Zum

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hen. Aufgrund der hohen Regelungsdichte und der Prärogative des Bundes in der Steuergesetzgebung bleibt für eigene Steuern der Regionen im Regelfall jedoch kein nennenswerter Spielraum.355 Dagegen entsteht zunehmend Gestaltungsfreiheit bei den abgetretenen Steuern und den festgelegten Re­ gionalanteilen an zentralstaatlichen Steuern. Für 50 % der regionalen Anteile an der Einkommensteuer (Impuesto sobre la Renta de las Personas Físicas, IRPF) darf jede Region eine eigene Steuersatzstruktur beschließen und sogar Aufschläge verlangen (vgl. Art. 26 und 46 Ley 22 / 2009).356 Bisher hat jedoch keine Region von diesem Recht Gebrauch gemacht.357 Daneben besteht einige Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Steuerbasis (Abzugsfähigkeit, Berechnungsmethoden).358 Hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten der Autonomen Gemeinschaften in den Modalitäten an sie abgetretener Steuern übertrifft das spanische System damit teilweise typische Entscheidungsräume föderaler Staaten.359 b) Das Fondswesen Als Ergänzung sowie zum Ausgleich wirtschaftlicher Ungleichgewichte zwischen den Gebietskörperschaften bestehen zudem unter Verwaltung der Bundeslegislative (Cortes Generales) drei Strukturfonds.360 Den größten Anteil an der Finanzausstattung hat der allgemeine Suffizienzfonds (Fondo de Suficiencia Global). Der Suffizienzfonds ist der wichtigste Einnahmenposten aus Nichtsteuern. Er ersetzt die großteils am Verhandlungstisch er355  Vgl. López Pina, in: ders. (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, S. 226. Die Einnahmen der Autonomen Gemeinschaften aus eigenen Steuern beliefen sich im Jahr 2006 gerade einmal auf 0,83 % der gesamten regionalen Steuereinnahmen, vgl. Toboso / Scorsone, in: Regional & Federal Studies 2010, 161. 356  Ähnliche Befugnisse bestehen auch bei den vollständig abgetretenen Abgaben. Hierzu gehören u. a. Erbschaftssteuer, Schenkungssteuer und Glücksspielsteuer. 357  Vgl. Toboso / Scorsone, in: Regional & Federal Studies 2010, 162. Mitunter erscheint die Delegation politischer Verantwortung für das Erheben von Steuern auf die Bundesebene – in etwa vergleichbar den Lamentos deutscher Regierungen hinsichtlich einer normativen Gängelung durch die Europäische Union – regionalpolitisch opportun, um Wählergunst unter abstraktem Hinweis auf „gebundene Hände“ zu bewahren, vgl. Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 133. 358  Vgl. eine Übersicht über die normativen Befugnisse der Regionen in Steuersachen bei Toboso / Scorsone, in: Regional & Federal Studies 2010, 163 f. 359  Weder die Schweizer Kantone noch die deutschen Bundesländer weisen ähnliche Befugnisse auf. 360  Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von ergänzenden Fonds, mittels derer der Gesamtstaat eine adäquate Finanzausstattung flächendeckend einzuführen sucht. Zur Übersicht über das aktuelle Fondswesen Anero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S.  98 ff.



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rungenen Gemeinschaftsanteile an den gesamtstaatlichen Einnahmen (PPI) durch eine bedarfsorientierte Finanzausstattung (vgl. Art. 2 des Organgesetzes 7 / 2001). Auf ihn entfallen etwa ein Drittel der Gesamteinnahmen der Autonomen Gemeinschaften.361 Seine Ausstattung wird für jede Autonome Gemeinschaft individuell bestimmt und der Entwicklung der staatlichen Einnahmen und etwaigen Bedarfsänderungen bei den Autonomen Regionen angepasst (vgl. Art. 13 Abs. 4 LOFCA i. V. m. Art. 10 Ley 22 / 2009).362 Die aus ihm fließenden Beträge setzen sich aus der Differenz aus im Basisjahr festgestelltem Finanzbedarf einer Gemeinschaft (Art. 7 ff. Ley 22 / 2009) und den ihr zustehenden Steueranteilen zuzüglich der Einnahmen aus dem Garantiefonds (siehe unten) zusammen (Art. 10 Ley 22 / 2009).363 Der Garantiefonds (Fondo de Garantía de Servicios Públicos Fundamen­ tales) entspringt dem staatlichen Gebot zur Minimalausstattung im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge (Art. 15 LOFCA). Dazu gehören das Erziehungs-, das Gesundheits- und das Sozialwesen.364 Im Finanzabkommen von 2001365 hat der Staat sich dementsprechend verpflichtet, bei einer sig361  Vgl. Ruiz-Huerta Carbonell / Herrero Alcalde, in: Bosch / Durán (Hrsg.), Fiscal Federalism and Political Decentralization, S. 147. 362  Zuständig für die Revision der Anteile am Fonds ist gem. Art. 13 Abs. 3 LOFCA die gemischte Kommission für Transferleistungen (Comisión Mixta de Trans­ ferencias). 363  Den Basiswert bildet die Summe aller Finanzanteile an abgetretenen und geteilten Steuern zuzüglich etwaiger Fondszahlungen (vgl. Art. 7 ff. Ley 22  /  2009). Dieser wird in jedem Jahr mit der Änderungsrate der Steuereinnahmen der Region zum Basisjahr multipliziert (Art. 20 Abs. 1 Ley 22 / 2009). Ein Zuwachs an Steuereinnahmen senkt automatisch den Bedarfsanteil ab. 364  Zur Angleichung der Kompetenzen in den verschiedenen Regionen wurde zuletzt das Gesundheitswesen einheitlich auf die Autonomen Gemeinschaften übertragen. Damit geht eine entsprechende Finanzausstattung über den allgemeinen Fonds (Fondo General) in seiner Abteilung zur Finanzierung des Gesundheitswesens (Financiación de los servicios de asistencia sanitaria) einher. Das Fondsgewirr wird noch dichter, berücksichtigt man den Kohäsions- und Mobilitätsfonds für das Gesundheitswesen (Fondo de Cohesión y Desplazados en la Sanidad) zur Kompensa­tion von interterritorialen spillover-Effekten; vgl. dazu Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 35 ff. Mit der letzten Gesetzesnovelle aus dem Jahr 2009 kamen noch ein Fonds zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Autonomen Gemeinschaften (Fondo de Competitividad) und ein Kooperationsfonds (Fondo de Cooperación) zur Homogenisierung der wirtschaft­ lichen Entwicklung hinzu. 365  Acuerdo 2 / 2001, de 27 de julio, por el que se aprueba el Sistema de Financiación de las Comunidades Autónomas de Régimen Común; veröffentlicht als Ley 21 / 2001 de 27 de diciembre, por la que se regulan las medidas fiscales y administrativas del nuevo sistema de financiación de las Comunidades Autónomas de régimen común y Ciudades con Estatuto de Autonomía, BOE Nr. 313 vom 31. Dezember 2001, S. 50838.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

nifikanten Abweichung der Ausstattung einer Autonomen Gemeinschaft vom gesamtstaatlichen Durchschnitt der betroffenen Gemeinschaft Beihilfen aus dem Garantiefonds zukommen zu lassen. Der Ausgleichsfonds (Fondo de Compensación Interterritorial)366 soll dagegen mit seinen vom Bund zu stellenden Mitteln367 Entwicklungsinvestitionen der Autonomen Gemeinschaften und gegebenenfalls der Provinzen fördern (Art. 158 Abs. 2 CE in Verbindung mit dem Gesetz über den Interterritorialen Ausgleichsfonds368) und somit nachholend regionale Ungleichgewichte aufheben.369 Der Verteilungsschlüssel orientiert sich an der Bevölkerungszahl, der Abwanderungsquote370, der Arbeitslosigkeitsrate, der Fläche und am Einkommen pro Einwohner der begünstigten Gebietskörperschaft, das umgekehrt proportional berücksichtigt wird (Art. 16 Abs. 4 LOFCA). Mittlerweile wurde der Ausgleichsfonds bedarfsgerechter aufgespalten in einen Fondo de Compensación Interterritorial (FCI) im eigent­ lichen Sinne, aus dem Mittel für die Gesamtausgaben der ärmeren Gemeinschaften stammen und einen Fondo Complementario, aus dem die Neuinvestitionen der Autonomen Gemeinschaften finanziert werden (vgl. Art. 6 Ley  22 / 2001)371. Darüber hinaus wurde jüngst ein spezieller Fonds zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Autonomen Gemeinschaften (Fondo de Competitivi­ 366  Außer Madrid und den Baleareninseln sind bisher alle Autonomen Gemeinschaften auf diesen Fonds angewiesen, vgl. Balaguer Callejón, JöR 57 (2009), 601 (628). 367  Presupuestos Generales del Estado, Art. 16 Abs. 1 LOFCA. 368  Ley 29 / 1990, de 26 de diciembre, del Fondo de Compensación Interterritorial, BOE Nr. 310 vom 27. Dezember 1990, S. 38525. 369  Vgl. Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 21. Direktes Vorbild ist Art. 104 a Abs. 4 GG a. F. (jetzt Art. 104 b Abs. 1 Nr. 2 GG), der Finanzhilfen des Bundes an die Länder u. a. „zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet“ vorsieht; vgl. Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 145. 370  Vor allem die Abwanderungsquote führte teilweise zu einer Fehlallokation der Mittel. Die ursprünglich den ärmsten Regionen zugute kommende Abwanderungsquote als wesentlicher Berechnungsfaktor hat in den Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre ihre Untauglichkeit erwiesen. Es kam infolge fehlender wirtschaftlicher Perspektiven zu einer massiven Rückwanderung von den wohlhabenden Gemeinschaften Baskenland und Katalonien in die ärmeren Regionen wie Extremadura und Andalusien. In der Folge profitierten die wohlhabenden Regionen überproportional von den Mitteln des Ausgleichsfonds, während die ohnehin wirtschaftlich schwachen Gemeinschaften den zusätzlichen Migrationsanstieg ohne zusätzliche Finanzausstattung bewältigen mussten; vgl. Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 168 f. 371  Ley 22 / 2001, de 27 de diciembre, reguladora de los Fondos de Compensación Interterritorial, BOE Nr. 313, S. 50419.



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dad) geschaffen, um die Gleichheit und Effizienz bei der Finanzierung der Bedürfnisse der Bürger zu sichern und zur Verringerung von Unterschieden in der Finanzausstattung bei gleichzeitiger Förderung der Autonomie und Abmilderung des Steuerwettbewerbs beizutragen (Art.  23 Abs.  1 Ley 22 / 2009). Schließlich rundet ein Kooperationsfonds (Fondo de Cooperación, Art. 24 Ley 22 / 2009) zur Homogenisierung der wirtschaftlichen Entwicklung das Gefüge ab. 3. Finanzielle Solidarität in der Regionalautonomie Ausfluss des Solidaritätsprinzips in Art. 2 CE ist eine allgemeine und gegenseitige Pflicht der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften.372 Fiskalpolitisch schlägt sie sich konkret in einem vertikalen Ausgleichsstrom (Fondo de Compensación Interterritorial) nieder, der in Spanien nicht – etwa wie in Deutschland oder der Schweiz – um ein horizontales Element (Länderfinanzausgleich, Ressourcenausgleich) ergänzt ist,373 das die Autonomen Gemeinschaften auf konkrete Beiträge verpflichten würde.374 Ob die Einführung eines solchen Verteilungsmechanismus ratsam wäre, um den ökonomischen Diskrepanzen und dem schleichenden Separatismus Einhalt zu gebieten, kann dahingestellt 372  Vgl. Leitsatz 9 des Urteils des Tribunal Constitucional vom 4. Mai 1982, Nr. 18 / 82, Jurisprudencia Consitutional (JC) III, S. 244: „El deber de colaboración dimanante del general deber de auxilio recíproco entre autoridades estatales y autonómicas, deber que no es menester justificar en preceptos concretos, se encuen­ tra implícito en la propia esencia de la forma de organización territorial del Estado que se implanta en la Constitución.“ (Die von der generellen Pflicht zur gegenseitigen Hilfe zwischen staatlichen und regionalen Hoheitsträgern ausgehende Kooperationspflicht muss nicht in konkreten Vorschriften nachgewiesen werden; sie ist implizit im Wesen der Form der territorialen Organisation zu finden, die in der Verfassung verankert ist.). 373  Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 148 f.; Bernecker, in: Piazolo / Weber (Hrsg.), Föderalismus: Leitbild für die Europäische Union?, S. 267; Anero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S. 86. 374  Der Suffizienzfonds zeitigt auch horizontale Verteilungseffekte, da die Steuerbasis aller Gemeinschaften im Verhältnis zum Finanzbedarf der einzelnen Gemeinschaften steht. Damit werden auf Umwegen „Nettozahler“ geschaffen. Das Verteilungssystem hat einen mittelbaren Nachteil für finanzstarke Gemeinschaften. Da der Ausgleichsfonds (Fondo de Compensación Interterritorial) mehr als ein Fünftel der Einnahmen der Gemeinschaften ausmacht, von ihm aber lediglich finanzschwache Gemeinschaften, d. h. solche mit geringem Steueraufkommen profitieren, kehrt sich die Finanzausstattung mitunter um. Anero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S. 86 spricht hier von einem „versteckten Länderfinanzausgleich im engeren Sinne“.

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bleiben.375 Mittels des vertikalen Ausgleichsmechanismus in der Einnahmenallokation der Autonomen Regionen bewerkstelligt die Bundesebene ohnehin Konvergenz in der wirtschaftlichen Entwicklung, die nicht etwa hinter den Verteilungseffekten horizontaler Ausgleichssysteme wie dem deutschen Länderfinanzausgleich im engeren Sinne zurückbleibt.376 Mittels des vom Bund verwalteten „Einnahmenpooling“ zwischen den Autonomen Gemeinschaften leistet jede Gebietskörperschaft indirekt einen Subsistenzbeitrag für alle Regionen. Obwohl die konkreten Verteilungsanteile stets Ergebnis politischer Verhandlungen und Kompromisse sind, kann die Verwirklichung des Solidaritätsgebots es dennoch dringend erfordern, dass wirtschaftlich besser gestellte Autonome Gemeinschaften sogar Einschnitte auf der Einnahmenseite zugunsten solcher Regionen hinnehmen, die ihre zugewiesenen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können.377 Primär bleibt jedoch die Bundesebene Garant der konnexen Finanzausstattung und der gleichmäßigen Entwicklung. Aus ihren Mitteln fließen gegebenenfalls die notwendigen zusätzlichen Finanzmittel für leistungsschwache Gebietskörperschaften.378 Im Bereich der Daseinsvorsorge (servicios públicos funda­ mentales) gewährleistet sie eine Minimalausstattung der Autonomen Gemeinschaften (Art. 15 LOFCA)379 mit dem Ziel der Einheitlichkeit der Le375  Kritisch López Pina, in: ders. (Hrsg.), Spanisches Verfassungsrecht, S. 226; befürwortend Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S.  39 f. 376  Vgl. zum konvergenten Wirtschaftswachstum der Autonomen Regionen Tre­ mosa i Balcells, in: Bosch / Durán (Hrsg.), La financiación de las comunidades autónomas: políticas tributarias y solidaridad interterritorial, S. 263 ff.; Bernecker, Spa­ nien-Handbuch, S. 160. 377  Diese Solidaritätsbeteiligung findet ihrerseits eine Grenze in der Autonomie der solidarverpflichteten Gebietskörperschaften, die ihrerseits leistungsfähig bleiben müssen; vgl. Anero Ordóñez, Finanzausgleich und Dezentralisierung, S. 78. Die Autonome Gemeinschaft Madrid hat im Jahr 2004 138 % des durchschnittlichen Steueraufkommens einer Gemeinschaft erwirtschaftet, aber durch den nachteiligen Verteilungsschlüssel lediglich 87 % der durchschnittlichen Finanzausstattung erhalten, vgl. Bosch / Durán, in: dies. (Hrsg.), Fiscal Federalism and Political Decentralization, S. 20 f.; vgl. zum negativen Abgabensaldo der wirtschaftlich starken Regionen Sevil­ la, in: Bosch  /  Durán (Hrsg.), La financiación de las comunidades autónomas, S.  253 f.; Espasa, in: Bosch / Durán (Hrsg.), La financiación de las comunidades autónomas, S. 245 f. Eine solche Inversion der wirtschaftlichen Potenz von Gebietskörperschaften überspannt das föderalistische Verständnis von solidarischer Fiskalpolitik bei weitem. Zu den jüngsten Reformforderungen der Autonomen Gemeinschaften siehe Bosch / Durán, in: dies. (Hrsg.), Fiscal Federalism and Political Decentraliza­ tion, S. 3 (20 ff.). 378  Vgl. die Regelungen zum Fondo de Compensación Interterritorial in Art. 13 LOFCA. 379  Zu den Aufgaben der zentralen Staatsgewalt gehört auch die Bestimmung des allgemein gültigen Mindeststandards im Bereich der grundlegenden Dienstleistungen



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bensverhältnisse.380 Des Weiteren trägt sie neben der Einkommensverteilung nach dem LOFCA subsidiär Verantwortung für die Finanzausstattung der Autonomen Gemeinschaften, die zur Erfüllung ihrer originären oder übertragenen Aufgaben weiterer Zuschüsse bedürfen.381 Damit erhält die finanzielle Solidarität eine doppelte Stoßrichtung. Im Rahmen des vertikalen Einnahmentransfers führt sie zu regionalpolitischer Ungleichbehandlung zugunsten einer interregionalen Umverteilung und im Sinne der allgemeinen Staatszielbestimmung der Gleichheit der Lebensverhältnisse (z. B. in Art. 1 Abs. 1, Art. 131 Abs. 1, Art. 138 Abs. 1 oder Art. 139 Abs. 1 CE) garantiert sie ein Mindestniveau an öffentlicher Daseinsvorsorge gleichermaßen für alle Personen im Staatsgebiet.382 Im Hinblick auf das Staatsdefizit zeigt sich weiterhin der disziplinarische Charakter finanzieller Solidarität darin, dass die Regionen zwar grundsätzlich zur Aufnahme von Krediten zur Finanzierung ihrer Ausgaben berechtigt sind, diese aber an Stabilitätskriterien gebunden sind. Jenseits von Minimalschwellen (Kreditlaufzeit unter einem Jahr) dürfen Schulden nur aufgenommen werden, wenn die finanziellen Mittel vollständig Investitionen zufließen und der jährliche Schuldendienst nicht mehr als 25 % der jähr­ lichen Einnahmen der betreffenden Region ausmacht (vgl. Art. 14 Abs. 2 LOFCA). Zur Begebung von Anleihen oder zur Aufnahme von ausländischem Kapital bedürfen die Regionen stets der Genehmigung des Bundsfinanzministeriums (vgl. Art. 14 Abs. 3 LOFCA).

(servicios públicos fundamentales), vgl. Sevilla, in: Bosch / Durán (Hrsg.), La financiación de las comunidades autónomas: políticas tributarias y solidaridad interterritorial, S. 261. 380  Vgl. die im Rahmen der jüngsten Finanzreform 2009 formulierte Zielstellung des Garantiefonds: „Garantía de igual financiación de los Servicios Públicos Funda­ mentales para todos los ciudadanos, independientemente de la Comunidad Autónoma donde residan.“ (Garantie der gleichmäßigen Finanzierung der Grundbedürfnisse für alle Bürger, unabhängig von der Autonomen Gemeinschaft, in der sie leben); vgl. Abkommen 6 / 2009 vom 15 Juli 2009 zur Reform des Finanzierungssystems der Autonomen Gemeinschaften, S. 3. Dagegen wurde in der jüngsten Neufassung des Suffizienzfonds (Fondo de Suficiencia Global) auf eine noch in der vorherigen Stufe (vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. c Ley 21 / 2001) vorgesehene Minimalausstattung der Autonomen Gemeinschaften verzichtet. 381  Vor allem Staatszuschüsse zum Gesundheits- und Sozialwesen; vgl. Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 31. 382  Vgl. Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 151 f.

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4. Fazit zum spanischen Regionalismus Trotz seiner desintegrativen Fliehkräfte an der Peripherie verfügt Spanien über ein im Kern „quasi-föderal“ oder „funktional-föderal“383 organisiertes Staatswesen.384 Das staatsorganisatorische Gleichgewicht wird indes durch die im Grundsatz heterogene Entwicklung der Autonomen Gebietskörperschaften beeinträchtigt, sodass die rechtliche und administrative „Klammer“ des Bundes erforderlich ist.385 Das schlägt sich allen Autonomiebestrebungen zum Trotz vor allem in der Finanzverfassung nieder, in der wesentliche Verteilungsentscheidungen vom Bund getroffen und von den Gebietskörperschaften nur zu verwalten sind. Ungeachtet möglicherweise erst in Zukunft tragender föderalistischer Finalitäten der spanischen Staatsverfassung386 zeigt bereits der gegenwärtige Zustand der regionalistischen Gebietsorganisation eine solidarische Verknüpfung der Autonomen Gemeinschaften untereinander und mit dem Staat, die irreversibel ist und eine integrative Qualität erlangt hat, die mit klassischen Föderalstaaten vergleichbar ist.387 Der vorgelagerte einnahmenallokative Solidarbeitrag der Autonomen Gemeinschaften im Interesse einer konvergenten ökonomischen Entwicklung strukturschwacher Regionen hin zum Landesdurchschnitt hat bisher allen Forderungen nach Autonomie zum Trotz Bestand gehabt und erweist sich somit 383  Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 4. 384  Zur Artverwandtschaft insbesondere des spanischen Regionalismus zum Föderalismus als Element der „Verfassung des Pluralismus“ unter Betonung, dass es sich nicht lediglich um eine Vorform des Föderalismus handele, vgl. Häberle, in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 75 (76, 119). 385  Vgl. Pielow, Autonomía Local in Spanien und Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, S. 77. Bereits die Verfassung von 1978 zeitigte eine intensive Berücksichtigung der Erfordernisse regionaler Entwicklung hin zur Einebnung der Wirtschaftsgefälle (vgl. Art. 40, Art. 131 Abs. 1, Art. 138 Abs. 1 oder Art. 158 CE), wie sie in den Verfassungen Europas selten erreicht wurde; vgl. Nohlen / Hildenbrand, in: Nohlen / González Encinar (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, S. 13 (und Fußn. 5). Jiménez Blanco, in: Eisenmann / Rill (Hrsg.), Das Europa der Zukunft: Subsidiarität, Föderalismus, Regionalismus, S. 63 sieht darin einen bewusst vom Verfassungsgeber gesetzten Gegenpol zu den Selbstregierungsbestrebungen vorwiegend der Regionen mit dem höchsten wirtschaftlichen Niveau. 386  Vgl. Cruz Villalón, JöR 37 (1988), 87 (111 f.). 387  Vgl. Häberle, JöR 51 (2003), 587 (594); ders., in: Kramer (Hrsg.), Die Entwicklung des Staates der Autonomien in Spanien und der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 76; Anero Ordóñez, Reformprozess und Zukunft des spanischen Finanzausgleichssystems, S. 4; Cruz Villalón, JöR 37 (1988), S. 111; Pielow, Autonomía Local in Spanien und Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, S. 75; Trujillo Fernandez, in: Randelzhofer (Hrsg.), Deutsch-Spanisches Verfassungsrechts-Kolloquium, S. 115.



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gleichsam als Integrationsparameter wie Indikator der integrativen Stabilität des föderalistischen Autonomiestaats.388 II. Italien 1. Föderalistische Ausprägungen Italien ist aus den nationalstaatlichen Unabhängigkeits- und Befreiungskriegen 1861 als Zentralstaat hervorgegangen, obwohl aufgrund historischer Gebietszersplitterungen eine starke föderalistische Bewegung existierte.389 Die mit dem Ende des 2. Weltkriegs und dem Zusammenbruch des faschistischen Staates erforderlich gewordene Neuausrichtung in der Verfassungsgebenden Versammlung (Assamblea Constituente) brachte indes eine nur teilweise Dezentralisierung mittels eines abgestuften Regionalsystems.390 Symptomatisch sprach Art. 114 der italienischen Verfassung a. F. (La Costi­ 388  Es wird sich zeigen, ob dieses Stabilitätsgerüst auch vor den Auswirkungen der gegenwärtigen Krise Bestand haben wird. Im Zuge des wirtschaftlichen Einbruchs vor allem der spanischen Bauwirtschaft sind etwa die Arbeitslosenstatistiken explodiert. Gegenwärtigt beträgt die Arbeitslosenquote 27,2 %, unter Jugendlichen gar besorgniserregenede 57 %, vgl. IMF Country Report No. 13 / 205 vom 15. Juli 2013. Damit mehren sich sozialer Unfriede und Besitzwahrungsinteressen der wohlhabenderen Regionen. Es ist nicht verwunderlich, dass dissoziative Kräfte vor diesem Hintergrund besonderen Zulauf erhalten. So würde derzeit eine Mehrheit von 55,6 % der Katalanen eine Abspaltung von Spanien befürworten, vgl. La Vanguardía vom 20.06.2013: „El 56 % de los catalanes votaría ‚sí‘ en un referéndum independentista, según el CEO“. Eine entsprechende Autonomieerklärung der katalanischen Regierung ist vorerst vom Tribunal Constitucional außer Kraft gesetzt worden (vgl. Presseerklärung des Tribunal Constitucional vom 11. Juli 2013, abrufbar unter: http:// www.tribunalconstitucional.es / Documents / 2013-01389ATC / NOTAINFORMATIVA NUMERO402013.pdf); das entsprechende Hauptsacheverfahren ist noch anhängig. 389  Zur italienischen Unabhängigkeitsbewegung unter Giuseppe Garibaldi siehe Chiellino, Italien, Bd. 1, S. 22 ff.; zur Verfassungsgenese siehe Onida, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, S. 241 ff. Die Entscheidung für einen – wenngleich regionalisierten – Zentralstaat erfolgte auch aus Sorge, das fragile Gerüst, das sich aus einem abstrakten Nationalgefühl speiste, würde zerfallen, wenn nicht eine zentrale Stelle für Vereinheitlichung der regional höchst unterschiedlichen wirtschaftlichen und rechtlichen Lebensbedingungen sorgen würde; vgl. Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 167. 390  Die Dezentralisierung erfolgte zum einen als direkte Reaktion auf die hauptsächlich zentralistische Organisation des Mussolini-Regimes, zum anderen aber auch als Korrektur der Defizite präfaschistischer Regierungszeiten im zentralisierten Italien, vgl. Spagna Musso, Diritto Costituzionale, S. 402; Onida, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, S. 247. Zuvor hatte sich das Volk in einer Volksabstimmung am 2. Juni 1946 mit knapper Mehrheit für die Staatsform der Republik gegenüber der Monarchie ausgesprochen; vgl. Istituto Poligrafico dello Stato (Hrsg.), Der italienische Staat und seine Verfassungsordnung, S. 13.

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tuzione della Repubblica Italiana – CRI) von den Regionen, Provinzen und Gemeinden lediglich als Untergliederungen des Staates. Von den insgesamt 20 Regionen391 sind demnach 15 als Regionen mit Normalstatut (regioni a statuto ordinario) und gemäß Art. 116 Abs. 1 CRI fünf Regionen (Sizilien, Sardinien, Friaul-Julisch Venetien, Trentino-Südtirol392 und das Aostatal) als Autonome Regionen mit Sonderstatut (regioni a statuto speciale) verfasst.393 Allerdings erhielten nur die Sonderregionen eine von der Verfassung abgesicherte und in den Sonderstatuten konkretisierte Ausformung ihrer Organisationsstruktur. Bis zum 1. April 1972 wurden die Normalregionen faktisch überhaupt nicht zum Leben erweckt. Zwar sah eine Übergangsbestimmung zu Art. 8 Abs. 1 CRI a. F. vor, dass binnen eines Jahres Wahlen zu den Regionalparlamenten stattzufinden hätten. Angesichts erster Erfahrungen mit den Sonderregionen gerade hinsichtlich ihres überbordenden Finanzierungsaufwands waren die politischen Akteure jedoch allzu willig, über die Fristen hinwegzusehen.394 Der letztlich in Gang gesetzte Reformprozess mündete in Wahlen zu Regionalparlamenten, die mit der Ausarbeitung der durch Art. 123 Abs. 1 CRI a. F. zwingend vorgeschriebenen Regionalstatute betraut wurden.395 Die Sonderstellung der fünf Regionen mit Sonderstatut äußert sich staatsorganisatorisch in einer durch den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Leale collaborazione) und durch das Spezialitätsprinzip396 abgesicherten Gleichstellung mit der gesamtstaatlichen Ebene. Auch über die Verhandlung der konstitutiven Statute hinaus schlägt sich diese Äquivalenz in der Gestaltung der Beziehungen nieder. So werden z. B. in der Frage der Abtretung 391  Das sind die Regionen Lombardei, Kampanien, Latium, Sizilien, Venetien, Piemont, Emilia-Romagna, Apulien, Toskana, Kalabrien, Sardinien, Ligurien, Marken, Abruzzen, Friaul-Julisch Venetien, Trentino-Südtirol, Umbrien, Basilikata, Molise, Aostatal. Die Raumordnung folgt dabei keinem besonderen Konzept sondern schlicht dem gegebenen Einteilungsschema, das die neue Verfassung vorfand; vgl. Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 170. 392  Die Region Trentino-Südtirol (Trentino-Alto Adige) wird ihrerseits aus den Autonomen Provinzen Trient und Bozen gebildet (vgl. Art. 116 Abs. 2 CRI). 393  Ähnlich wie in Spanien erfolgte die Bevorzugung der fünf Regionen aus der Sorge vor separatistischen Bestrebungen heraus und somit im Interesse der nationalen Einheit, vgl. von Beyme, Das politische System Italiens, S. 66; Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 341 f.; Onida, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, S. 243. Zu den legislativen Grundlagen der fünf Autonomieregionen siehe Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 8. 394  Erst Verschiebungen in der Zusammensetzung der politischen Führung setzte dem Zögern im Jahr 1967 ein Ende; vgl. Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 172. 395  Zu den engen Grenzen, welche die Verfassung der Ausgestaltung der Normalstatute ließ, vgl. Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 177 ff. 396  Dazu Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 341.



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weiterer Kompetenzen und damit Kosten an die autonomen Regionen weitreichende Konsultationen und mitunter auch Einvernehmen erforderlich sein.397 Allen Regionen – gleich ob mit Normalstatut oder Sonderstatut – gemeinsam ist eine derivative Statutsautonomie.398 Sie wurden in Art. 117 CRI a. F. nur vereinzelt mit Legislativkompetenzen ausgestattet. Darunter fielen unter anderem die Verwaltungsordnung innerhalb der Regionalstruktur, die örtliche Stadt- und Landpolizei, Messen und Märkte, Gesundheitswie Krankenfürsorge, Fremdenverkehr und Gastgewerbe (vgl. Art. 117 CRI a. F.).399 Parallel wurden sie für die betroffenen Sachgebiete zu Trägern der Verwaltungsfunktion gemacht (vgl. Art. 118 CRI a. F.). Die Regionen mit Sonderstatuten wurden darüber hinaus ermächtigt, eigene Ausführungs- und Umsetzungsgesetze zu Gesetzen in ansonsten dem Staat obliegenden Sachmaterien zu erlassen. Für die Region Aostatal betraf das zum Beispiel die Handelspolitik sowie Bestimmungen über regionale und kommunale Finanzen, die öffentliche Wasserversorgung, Sozialversicherung und die Krankenhausversorgung (vgl. Art. 3 des Sonderstatuts für das Aostatal400). Dennoch blieben selbst in den Autonomieregionen die Zugeständnisse an Legislativkompetenzen meist nur symbolischer Art, da der Bund über den Hebel eines mitunter diffusen „nationalen Interesses“ (l’interesse nazionale, vgl. Art. 117 Abs. 1 CRI a. F.) Zuständigkeiten an sich zu reißen pflegte.401 397  Vgl. itVerfG Urteil Nr. 232 / 1991, zitiert bei Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 344 (dort Fußn. 12): „Dieses Prinzip [Grundsatz des loyalen Zusammenwirkens] beeinflußt die gesamten Vorschriften und Verfahren zur Regelung der Beziehungen zwischen regionalen und staatlichen Kompetenzen und reicht von der Erfüllung gegenseitiger Informationspflichten über die Anhörung bzw. Stellungnahme bis zur Verwirklichung eines Handelns im Einvernehmen.“ 398  Die konstitutiven Sonderstatute der fünf Autonomen Regionen bedürfen aufgrund ihrer erweiterten Kompetenzkataloge der Verabschiedung durch das Bundesparlament in Rom (vgl. Art. 116 Abs. 1 CRI). Das ist daher verständlich, weil jede Kompetenzenumeration zugunsten der Regionen einen Eingriff in die gesamtstaat­ lichen Befugnisse bedeutet; vgl. D’Atena, JöR 51 (2003), 551. Die Normalstatute der 15 anderen Regionen werden zwar durch regionale Hoheitsträger erlassen und ggf. von der dortigen Bevölkerung abgesegnet. Dennoch bedürfen auch sie der Genehmigung durch ein Bundesgesetz (vgl. Art. 123 Abs. 3 CRI). 399  Die fragmentarische Übertragung von legislativen Kompetenzen bezog sich hauptsächlich auf Materien, die dem vorindustriellen, vorwiegend landwirtschaft­ lichen Gesellschaftsmodell entnommen waren und war von Anfang an überholt; vgl. D’Atena, JöR 51 (2003), 534 f.; Dogliani / Pinelli, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, § 5 Rn. 134. 400  Statuto speciale per la Valle d’Aosta, Verfassungsgesetz vom 26. Februar 1948, Gazzetta Uffiziale Nr. 59 vom 10. März 1948. 401  Vgl. Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 15. Dieses Einfallstor wurde mit der Neufassung von Art. 117 CRI geschlossen. Jüngst ist eine Öffnung im Rahmen einer erneuten Verfassungsnovelle diskutiert worden, vgl. Palermo / Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 397.

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2. Die Reform von 2001 – Föderalisierung des Zentralstaats Nach bereits im Jahr 1997 in Kommissionen ausgearbeiteten Föderali­ sierungskonzepten402 wurden im Zeitraum 1999–2001 gravierende Ände­ rungen der Regionalstruktur vorgenommen, die Italien einem föderalistischen Staatsaufbau näher gebracht haben, als der offizielle Verfassungstext erkennen lässt.403 Um eine möglichst organische Reform hin zu einer symmetrischen Kompetenzverteilung zu realisieren, wurden die Regionen im erneuerten System der Gesetzgebungskompetenzen zur allgemeinen Legislativebene aufgewertet.404 Sie haben für alle Sachgebiete, die nicht ausschließlich der staatlichen Gesetzgebung vorbehalten sind, eigene Gesetzgebungsbefugnis (vgl. Art. 117 Abs. 4 CRI).405 Zu den reservierten Materien gehören typische Domänen des Gesamtstaats wie unter anderem Einwanderung (Art. 117 Abs. 2 lit. b CRI), Militär und Verteidigungspolitik (lit. d), Währungswesen (lit. e) und Zivil- und Strafgesetzgebung (lit. l). Daneben wurde kein System konkurrierender Befugnisse geschaffen, um die Verfassung mit Klarheit und einer endgültigen Regelung zu versehen, die sich den Einflussmöglichkeiten späterer Handlungssubjekte entziehen würde.406 Auch wurde die Verwaltungsfunktion von den Legislativbefugnissen hinsichtlich gleicher Gebiete dissoziiert. In der Regel sind nun die Gemeinden Verwaltungsträger, die nach der neuen Ordnung eine allgemeine Verwaltungsbefugnis innehaben (vgl. Art. 118 Abs. 1 CRI). Eingriffsbefugnisse des Gesamt402  Siehe den De Mita  / Iotti-Entwurf von 1994 und den D’Alema-Entwurf von 1997 der Gemeinsamen Kommission (Commissione parlamentare per le riforme co­ stituzionali), Camera die Deputati Dok-Nr. 3597 und 3931. Zu den Reformentwürfen auch Bergner, Der italienische Regionalismus, S. 62 ff.; Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 17 ff. 403  So lautet das Grundprinzip des Staatsaufbaus in Art. 5 1. Hs. CRI immer noch: „La Repubblica, una e indivisibile, riconosce e promuove le autonomie locali.“ (Die eine, unteilbare Republik anerkennt und fördert die örtlichen Selbstverwaltungen.) Dagegen bekennt sich der neue Art. 114 CRI bereits zu einer Gleichordnung der Regionen mit dem Staat („La Repubblica è costituita dai Comuni, dalle Province, dalle Città metropolitane, dalle Regioni e dallo Stato.“ – Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status, Regionen und Staat bilden die Republik) statt dem früheren „La Repubblica si riparte in Regioni, Province e Comuni.“ – Die Republik untergliedert sich in Regionen, Provinzen und Gemeinden (Unterstreichungen hinzugefügt). Siehe dazu Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 31. 404  Vgl. D’Atena, JöR 51 (2003), 538. 405  Aufgrund historischer Besonderheiten verfügte die Region Sizilien bereits seit Verabschiedung ihres Sonderstatuts über die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz in einigen Sachbereichen unter Wahrung der Verfassungsgesetze des Staates; vgl. dazu Istituto Poligrafico dello Stato (Hrsg.), Der italienische Staat und seine Verfassungsordnung, S. 122. 406  Vgl. D’Atena, JöR 51 (2003), 540.



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staates bestehen hier nur zugunsten der Einheit der Rechtsordnung, sofern die Eingriffe die Prinzipien der Subsidiarität (sussidarietà), der Differenzierung (differenziazione) und der Angemessenheit (adeguatezza) beachten (vgl. Art. 118 Abs. 1 CRI).407 Dabei ist die Zentralebene aber stets im Sinne bundestreuen Verhaltens (leale collaborazione) verpflichtet, die betroffenen Regionen anzuhören und weitestgehend miteinzubeziehen.408 Eine wesent­ liche Verschiebung im staatsorganisatorischen Aufbau bewirkte die Abschaffung der Staatsaufsicht (Art. 125 Abs. 1 CRI a. F.), mittels derer die Bundesebene sämtliche Legislativ- und Administrativakte der Regionen unter Genehmigungsvorbehalt gestellt hatte.409 Abgelöst wurde die Kassationsbefugnis des Bundes, die funktionell durch einen Regierungskommissar für jede Region wahrgenommen wurde,410 von einer abstrakten Normenkontrolle (Art. 127 Abs. 1 CRI), die bei interregionalen Zuständigkeitskonflikten auch Regionen offen steht (Art. 127 Abs. 2 CRI). Unvollendet ist die Regionalreform insoweit geblieben, als der Senat nicht zu einer zweiten Kammer mit echten Befugnissen zur Repräsentanz der Regionen ausgebaut wurde. Daher fehlt es in Italien weiterhin an der für einen „Mehrebenenkonstitutionalismus“ unverzichtbaren Verbindung und Kooperation von Staat und Autonomien.411 407  Das entspricht der zuletzt in Urteil 181 / 2006 geäußerten ständigen Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts (Corte Costituzionale – itVerfG); vgl. Palermo / Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 334 f. 408  Vgl. zum Prinzip der „treuen Zusammenarbeit“ Gamper, Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit, S.  284 (m. w. Nachw.). 409  Hinsichtlich der Regionalstatute wurde differenziert. Die Normalstatute bedürfen nun nicht mehr der Genehmigung durch den Bund (Art. 123 Abs. 2 S. 2 CRI). Für die Sonderstatute hat sich indes nichts daran geändert, dass sie mit Verfassungsgesetz genehmigt werden müssen (vgl. Art. 116 Abs. 1 CRI), was angesichts der in den Kompetenzregeln der Sonderstatuten bestimmten Eingriffe in gesamtstaatliche Gesetzegebungsbefugnisse nachvollziehbar ist. 410  Vgl. Istituto Poligrafico dello Stato (Hrsg.), Der italienische Staat und seine Verfassungsordnung, S. 123 u. 131 ff.; Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 191 f.; Sciascia, JöR 8 (1959), 166. Palermo / Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 391 sehen darin gleichzeitig den Wegfall eines Koordinierungsinstruments. 411  Dogliani / Pinelli, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, § 5 Rn. 138. Trotz der neuen Freiheiten kann (noch) nicht von einem bundesstaatlichen Aufbau gesprochen werden. Da die Statutskompetenz der Regionen mit Normalstatut lediglich die Organisation der Region nicht aber die Regelung der Rechte und Pflichten der Bürger in Bezug auf die Region beinhaltet, entspricht sie letztlich keiner echten Verfassungsautonomie; vgl. hierzu D’Atena, JöR 51 (2003), 550. Gamper, Die Regionen mit Gesetzgebungshoheit, S. 304 ff. will für die materielle Verfassungsautonomie ausreichen lassen, dass die Statute „typische“ regionalverfassungsrechtliche Inhalte haben und vom Bundesverfassungsgeber genügend Gestaltungsspielräume gelassen werden für individuelle Regelungen. Die nach der Reform von 2001 erneuerten Regionalstatute haben inzwischen größtenteils konstitutionelle Anklänge be-

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

3. Dezentralisation der Finanzausstattung a) Neue Befugnisse Die regionale Finanzverfassung wurde im neu gefassten Art. 119 CRI vollständig verändert. Zunächst wurde die grundlegende Finanzautonomie, die zuvor nur im Rahmen bundesgesetzlicher Ausgestaltung existierte,412 in den Rang einer unbedingten Verfassungsgarantie gestellt. Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status und Regionen wurden zudem in ihrem Anspruch auf eine ausreichende Finanzausstattung (vgl. Art. 119 Abs. 4 CRI) in Form von eigenen Steuern und Einnahmen sowie Anteilen an den Staatssteuern nach dem lokalen Aufkommen (vgl. Art. 119 Abs. 2 CRI) gleichgestellt. Die Ausgabenautonomie wurde zusätzlich dahingehend erweitert, dass die subnationalen Gebietskörperschaften autorisiert wurden, zur Finanzierung ihrer Investitionsausgaben Schulden aufzunehmen (vgl. Art. 119 Abs. 6 CRI).413 Dabei ist indes jedwede Garantie des Staates für von ihnen aufgenommene Schulden ausgeschlossen.414 b) Normative Standardausstattung im Bereich der Daseinsvorsorge Mit den institutionellen Garantien für die Regionen und anderen Gebietskörperschaften wurde auch ein System der regionalen Solidarität verfassungsrechtlich verankert, das zum einen aus einem Ausgleichsfonds ohne Zweckbindung für Gebiete mit geringerer Steuerkraft pro Einwohner besteht (vgl. Art. 119 Abs. 3 CRI). Zum anderen besteht es aus zusätzlichen zweckgebundenen Mitteln, die der Staat zugunsten bestimmter Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status und Regionen bereit stellt, um die wirtschaftliche Entwicklung, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Sokommen. Ausdruck dieses Paradigmenwechsels sind die nunmehr in allen Regionalstatuten teils in Präambeln teils in Grundsatzartikeln verbürgte Bindung an die Menschenwürde (vgl. z. B. Art. 2 Abs. 4 Regionalstatut Abruzzen) und die vereinzelt kodifizierten Bürgerrechte (z. B. Petitionsfreiheit in Art. 14 und 16 Regionalstatut Apulien) sowie Staatszielbestimmungen im Bereich Soziales, Familie, Gesundheit und Umweltschutz; vgl. Nachweise bei Häberle, JöR 58 (2008), 451. 412  Vgl. Art. 119 Abs. 1 1. Hs. CRI a. F.: „Le Regioni hanno autonomia finanziaria nelle forme e nei limiti stabiliti da leggi della Repubblica.“ (Die Regionen haben finanzielle Autonomie in den durch die Gesetze der Republik festgelegten Formen und Grenzen.). 413  Die Verschuldung darf eine Höchsgrenze von 25 % der Eigeneinnahmen nicht überschreiten, vgl. Fraenkel, Eine kritische Analyse des neuen italienischen Steuerföderalismus, S. 24. 414  Art. 119 Abs. 6 S. 2 CRI: È esclusa ogni garanzia dello Stato sui prestiti dag­ li stessi contratti.



B. Regionalistische Staaten133

lidarität zu fördern, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zu beseitigen, die effektive Ausübung der Personenrechte zu fördern oder andere Zwecke zu erfüllen, die nicht jenen der ordentlichen Ausübung ihrer Befugnisse entsprechen (vgl. Art. 119 Abs. 5 CRI).415 Die Konkretisierung dieser Verfassungsaufträge der gesamtstaatlichen Ebene, eine Angleichung der Finanzkraft zu bewirken und damit wirtschaftliche Ungleichgewichte zu beheben, erfolgte allerdings erst im Jahr 2009 durch das Ausführungsgesetz 42 / 2009.416 Besondere Bedeutung und Brisanz erlangte dabei die Angleichung der Finanzausstattung der Regionen mit Normalstatut und der Regionen mit Sonderstatut. Letztere hatten ihre üppigeren Finanzmittel stets mit dem Überschuss an Regelungskompetenzen und Ausgabenverantwortung legitimiert. Nach der kompetenziellen Beförderung der 15 Regionen mit Normalstatut ließ sich diese Argumentation nicht mehr aufrecht erhalten. Die Angleichung von unten soll nunmehr mittels eines noch auszugestaltenden Konvergenzpakts (vgl. Art. 18 Ausführungsgesetz 42 / 2009) realisiert werden. Grundlage der Finanzausstattung der Regionen werden zukünftig Anteile aus einem Mehrwertsteuer- und Einkommensteuerverbund sein. Grundsätzlich fließen nach einer Übereinkunft zwischen der Regierung und den Regionen417 9 / 10 der in einer Region erwirtschafteten Steuereinnahmen in den regionalen Haushalt.418 Die

415  Bereits im alten Finanzsystem gab es solche Ausgleichsmechanismen; vgl. Mühlbacher, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 228 ff.; Fraenkel, Eine kritische Analyse des neuen italienischen Steuerföderalismus, S. 20 (dort Fußn. 54). Selbst der ursprüngliche Verteilungsschlüssel für den Steuerfonds, in den nach Art. 8 ­Regionalfinanzgesetz (Legge 16 Maio 1970, n. 281 Provvedimenti finanziari per l’attuazione delle regioni a statuto ordinario, Gazzetta Uffiziale Nr. 127 vom 22. Mai 1970) 15 % der Mineralölsteuer, 15 % der Tabaksteuer sowie 75 % der Alkoholsteuer, der Biersteuer, der Zuckersteuer und der Flüssiggassteuer flossen, war bereits bewusst als Mittel zum Finanzausgleich konzipiert; vgl. Tomuschat, Die Verwaltung 6 (1973), 190. 416  Legge 5 Maggio 2009, n. 42, Delega al Governo in materia di federalismo fiscale, in attuazione dell’articulo 119 della Costituzione, Gazzetta Uffiziale Nr. 103 vom 6.5.2009. Die lange Umsetzungsverzögerung erklärt sich aus der politischen Gesamtsituation, die erst durch einen Rechtsruck bei den jüngsten Regionalwahlen im März 2010 wieder ernsthaften föderalistischen Auftrieb erhalten hat, vgl. Al­ ber / Zwilling / Valdesalici, in: Jahrbuch des Föderalismus 2010, S. 245. 417  Mailänder Abkommen, Legge 23 dicembre, n. 191 Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2010), Gazzetta Uffiziale Nr. 302 vom 30. Dezember 2009. 418  Vgl. die Änderungen des entsprechenden Steuerdekrets Nr. 670 / 1972 durch das Gesetz 191 / 2009. Inwieweit die pauschale Abgeltung von Steuerkompetenzen auch für zukünftige Abgabenerfindungen der Regierung gilt, bedarf noch der Ausdifferenzierung durch die Gerichte. In diesem Sinne hat bereits die Region Trentino-Südtirol Klage gegen eine Steuerdekret der Regierung Monti eingelegt, das neue Abgaben zum Abbau der Staatsverschuldung vorsah, vgl. Pressemitteilung der Landesregierung

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Ausführungsdekrete zum Gesetz 42 / 2009 richten dazu einen gemäßigten Steuerwettbewerb ein.419 Dabei sollen sogenannte Standardkosten und -bedürfnisse (costi e fabbi­ sogni standard) vollständig mittels der vertikalen Finanzmittelverteilung aus den Kassen des staatlichen Gesetzgebers gedeckt werden. Die Kalkulationsmethode für die Standardkosten pro Einwohner, die sich aus dem Finanz-, Human- und Infrastrukturbedarf berechnen, ist im Gesetz noch offen gelassen worden.420 Das Modell eines Finanzausgleichs im Sinne von Art. 119 Abs. 3 CRI sieht dann vor, dass die Differenz zwischen dem, was die Regionen aus eigener Kraft finanzieren können und den festgelegten Standardkosten mittels einbehaltener Anteile aus dem Mehrwertsteuer- und Einkommensteuerverbund ausgeglichen wird (vgl. Art. 9 Gesetz 42 / 2009).421 Diese Ausgleichszahlungen werden über einen speziellen Ausgleichsfonds (Fondo perequisato) getätigt, der besondere Belastungsfaktoren wie Bevölkerungszahl und Steuerkapazität berücksichtigt.422 Ziel der Zahlungen soll eine Konvergenz in der Kostenstruktur hin zum Niveau der Standardkosten sein.423 Damit wird nicht nur ein einheitlicher nationaler Standard anvisiert – eben jene „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“, wie sie in Bundesstaaten wie Österreich und Deutschland ökonomisches Staatsziel ist – sondern zugleich Ausgabenverantwortung festgeschrieben. Außer den Standardkosten als normativer Maßstab für die Kosten öffentlicher Dienstleistungen gibt

Bozen-Südtirol vom 21. Mai 2012, abrufbar unter: http://www.provinz.bz.it / land / lan desregierung / 1838.asp?aktuelles_action=4&aktuelles_article_id=394562. 419  Für die Einkommensteuer gelten folgende Staffelabweichungen: für das Jahr 2012 und 2013 jeweils 0,5 Prozentpunkte, für 2014 1,1 Prozentpunkte und für 2015 2,1 Prozentpunkte; siehe Art. 6 Decreto Legislativo 6 Maggio 2011, n. 68, Gazzetta Uffiziale Nr. 109 vom 12. Mai 2011. 420  Siehe jetzt aber Art. 27 Abs. 5 Ausführungsdekret 68 / 2011, wonach drei Referenzregionen festgelegt werden. Diese Festlegung trägt Bedeutung für die zukünftige Gestalt der regionalen Finanzausstattung. Orientiert man sich an den Richtwerten einer wirtschaftlich starken Region, erhält man eine völlig andere Ausrichtung, als wenn man die schwächeren Regionen oder einen Mittelwert zugrunde legt; vgl. dazu Morrone, in Federalismo Fiscale 2008, Nr. 2, S. 1 ff. 421  Noch ist unklar, ob dabei ebenso wie vor der Verfassungsnovelle im einfachgesetzlichen Finanzausgleich (vgl. Gesetz Nr. 133 / 1999, Gazzetta Uffiziale Nr. 113 vom 17. Mai 1999 und Ausführungsdekret Nr. 56 / 2000, Gazzetta Uffiziale Nr. 62 vom 15. März 2000) eine Nivellierung vermieden werden soll; bejahend Fraenkel, Eine kritische Analyse des neuen italienischen Steuerföderalismus, S. 18 f. Unter dem alten System sollte die Finanzkraft der finanzschwachen Regionen auf nicht mehr als 90 % der durchschnittlichen regionalen Finanzkraft angehoben werden, vgl. Mühlbacher, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 230 (u. Fußn. 18). 422  Art.  15 Abs.  7 Ausführungsdekret 68 / 2011. 423  Art.  15 Abs.  5  Ausführungsdekret 68 / 2011.



B. Regionalistische Staaten135

es keine finanzielle Unterstützung durch den Bund.424 Die Regionen müssen sich in der Haushaltsplanung daran orientieren und können nicht im freien Spiel ihrer politischen Kräfte walten und darauf vertrauen, dass die Finanzausstattung dem Bedarf folgen würde.425 Jenseits „wesentlicher Leistungsstandards“ (livelli essenziali delle prestazioni) wie Gesundheits- und Sozialwesen sowie dem Bildungswesen (vgl. Art. 9 Ausführungsgesetz 42 / 2009) werden Dienstleistungen somit, statt unter volle Kostendeckung durch den Gesamtstaat gestellt zu werden, in die Budgetverantwortung der Regionen überführt (vgl. Art. 21 Abs. 1 lit. e Ausführungsgesetz 42 / 2009).426 Für die Koordinierung und Abstimmung der Regionen untereinander sowie der Regionen mit dem Bund werden eine Vielzahl von teils provisorischen Kommissionen und Ausschüssen installiert, die zu den per gesetzesvertretenden Dekreten (decreti legislativi)427 festzulegenden Maßstäben Stellungnahmen abgeben (Commissione bicamerale per l’attuazione del federalismo fiscale, vgl. Art. 3 Ausführungsgesetz 42 / 2009) oder über die Suffizienz der Finanzausstattung wachen sollen (Conferenza permanente per il coordinamento della finanza pubblica, vgl. Art.  5 Ausführungsgesetz 42 / 2009).428

424  Lediglich

für Härtefälle greift dann Art. 119 Abs. 5 CRI. Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 73. Im früheren System gab es die finanzpolitische Unsitte, den altuellen Bedarf einfach aus den vorangegangenen Kosten fortzuschreiben mittels so genannter „historischer Kosten“; vgl. dazu Scuoto, Perspectives on Federalism 2010, S. 67 (75). 426  Art. 21 Abs. 1 lit. e Ausführungsgesetz 42 / 2009 sieht bis zur endgültigen Regelung in einem gesetzesvertretenden Dekret übergangsweise vor, dass pauschal 80 % der tatsächlich getätigten Ausgaben der Erfüllung „wesentlicher Aufgaben“ zugemessen werden: „Il fabbisogno delle funzioni di comuni e province è finanziato considerando l’80 per cento delle spese come fondamentali ed il 20 per cento di esse come non fondamentali.“ (Der Bedarf für die Wahrnehmung der Aufgaben der Re­ gionen und Gemeinden wird [vom Staat] finanziert, wobei 80 % der Ausgaben als wesentlich und 20 % als nicht wesentlich eingestuft werden.) Für den Rest bleibt die Region verantwortlich; vgl. dazu Fraenkel-Haeberle, DÖV 2009, 905. Die Maßnahme ist gleichermaßen Motivation zu sparsamem Haushalten wie Ansporn eines gemäßigten Steuerwettberwerbs unter den Regionen im Sinne eines kompetitiven Föderalismus. 427  Diese gesetzesvertretenden Dekrete werden von der Regierung erlassen. Damit ist die demokratische Teilhabe oder gar die Mitsprache der Regionen beim neuralgischen Punkt jedes Ausgleichssystems, der genauen Anteilsberechnung, ausgeschaltet. Es verbleibt lediglich eine indirekte Einflussnahme der Regionen über die bikamerale Kommission (Commissione bicamerale per l’attuazione del federalismo fiscale, vgl. Art.  3 Ausführungsgesetz 42 / 2009). 428  Einen Überblick über die zahlreichen Institutionen und ihre Aufgaben bieten Alber / Zwilling / Valdesalici, in: Jahrbuch des Föderalismus 2010, S. 250. 425  Vgl.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

4. Wechselseitige Solidarpflichten Das Verfassungsgericht hat mehrfach die solidarische Verpflichtung der Regionen betont, zum Abbau der Staatsverschuldung beizutragen. So bestätigte das itVerfG im Urteil 145 / 2008 entgegen den verfassungsrechtlichen Bedenken der Region Sizilien die Regelungen des Finanzgesetzes 2007, die der Region z. B. geringere Einnahmen aus Steuern auf Petroleumprodukte 1 Nr.  833 Gesetz (accise sui prodotti petroliferi) zuteilten (vgl. Art.  296 / 2007)429. Dem Bundesgesetzgeber wird ein weiter Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Auswahl der Sanierungsmaßnahmen und deren anteiliger Partizipation durch die verschiedenen Regionen zugestanden.430 Im finanziellen Interesse des Bundes und aller Regionen zählte das itVerfG auch den Transfer von legislativen oder administrativen Aufgaben ohne entsprechende Ausstattung mit Finanzmitteln zu den zulässigen Maßnahmen, solange mit dieser Einkommen-Ausgaben-Variation (variazione del rapporto entrate-spese) ihrerseits kein schwerwiegendes Ungleichgewicht im Budget der betroffenen Region (uno grave squilibrio finanziario a carico del bilancio regionale) einher ginge.431 Auch die jüngsten Entscheidungen 115 / 2010 und 116 / 2010 bestätigen anhand von Allokationsfragen der den Regionen zustehenden Steuern, dass die Regionen mit Sonderstatut an der Deckung der öffentlichen Ausgaben beteiligt werden. Abgesehen jedoch vom Infrastrukturausgleich (Art. 22 Gesetz 42 / 2009) und der Koordinierung der Finanzen (Art. 27 Gesetz 42 / 2009) können die Regionen mit Sonderstatut aufgrund ihrer nach wie vor herausgehobenen Stellung im Staatsaufbau ihre Finanzbeziehungen weiterhin bilateral mit dem Staat aushandeln und sind daher vor einseitiger Belastung gefeit.432 Es bleibt noch abzuwarten, inwiefern die Autonomieregionen die vor allem im Süden gelegenen wirtschaftlich schwächeren Regionen unterstützen werden. Angedacht ist vor 429  Gazzetta

Uffiziale Nr. 8 vom 11. Januar 2007. Fakten, Punkt 5.3 des Urteils 145 / 2008: „… non è irragionevole che il legislatore richieda […] una maggiore partecipazione in nome delle fondamentali esigenze di solidarietà nazionale.“ (Es ist nicht unangemessen, dass der Gesetzgeber im Interesse der wesentlichen Anforderungen an die nationale Solidarität eine stärkere Beteiligung erfordert.). Diese Rechtsprechungslinie wurde in den jüngsten Entscheidungen 115 / 2010 und 116 / 2010 ausdrücklich bestätigt. Siehe dazu Alber / Zwil­ ling / Valdesalici, in: Jahrbuch des Föderalismus 2010, S. 253 f. 431  Vgl. rechtliche Würdigung, Punkt 4.3 des Urteils 145  / 2008; siehe auch itVerfG Urteil 29 / 2004; 138 / 1999; 222 / 1984. 432  Vgl. Palermo / Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S.  332  f.; Al­ ber / Zwilling / Valdesalici, in: Jahrbuch des Föderalismus 2010, S. 254 f. Die Normalstatutregionen müssen dagegen alle zusammen mit der Regierung in der Staat-Re­ gionen-Konferenz (conferenza stato-regioni) verhandeln, vgl. Gesetz 400 / 1988 und gesetzesvertretendes Dekret 418 / 1989. 430  Vgl.



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allem eine besondere Beteiligung am Aufkommen des Ausgleichsfonds für ärmere Regionen (Art. 119 Abs. 3 CRI i. V. m. Art. 9 Gesetz 42 / 2009)433 und Einschnitte in der Einnahmenzuteilung aus den Steueranteilen des Staates für überdurchschnittlich wohlhabende Autonomieregionen.434 Spiegelbildlich verlangt die neue Finanzarchitektur von allen Regionen Haushaltsdisziplin nach den Parametern des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. g Gesetz 42 / 2009) und befördert individuelle Verantwortlichkeiten etwa im Rahmen der Investitionsverschuldung (vgl. Art. 119 Abs. 6 CRI).435 5. Fazit zum italienischen Regionalismus Das italienische Staatsmodell ist seit der Verfassungsänderung von 2001 ebenso stark von einer klaren föderalistischen Entwicklung geprägt wie es durch politische Querelen und Animositäten an der konkreten Umsetzung gehindert wird. Einerseits bestehen weiterhin Asymmetrien in der Kompetenzverteilung – und damit einhergehend in der Finanzausstattung – zwischen den Normalregionen und den autonomen Regionen.436 Die existenten Attraktivitätsunterschiede haben bereits massiv zu Spannungen zwischen den Regionen geführt.437 Andererseits mangelt es noch am politischen Wil433  Bisher nehmen die Regionen mit Sonderstatus nicht am regionalen Ausgleichssystem teil, vgl. Fraenkel, Eine kritische Analyse des neuen italienischen Steuerföderalismus, S. 24. 434  Siehe zum politischen Tauziehen der Sonderregionen mit dem Staat in diesem Punkt: Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S.  74 f. 435  Della Cananea, ZaöRV 65 (2005), 119 fordert zudem eine Zwangsverwaltung des Bundes für überschuldete Regionen, um die Zuteilung von Finanzmitteln mit Haftung für deren Verwaltung zu flankieren. 436  Wegen der individuellen Gestaltungsspielräume gibt es auch wesentliche Unterschiede zwischen den Regionen mit Sonderstatut untereinander; vgl. Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 342. Die Asymmetrien werden nach ständiger Rechtsprechung des itVerfG (vgl. z.  B. Urteile 20  /  1956, 22  /  1961, 151  /  1972, 180 / 1980, 237 / 1983, 212 / 1984, 160 / 1985, 213 / 1998) durch das verfassungsrecht­ liche Prinzip der Spezialität (principio di specialità) perpetuiert, das eine besondere, differenzierte Behandlung der autonomen Regionen gebietet. Als Strukturprinzip der Verfassung ist eine Änderung dieses Differenzierungsfaktors nur schwer möglich; vgl. Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 343 (u. Fußn. 10). 437  Das hat sich auch auf die Kommunalverfassung ausgewirkt. Art. 132 CRI: „Si può, con legge costituzionale, sentiti i Consigli regionali, disporre la fusione di Regi­ oni esistenti o la creazione di nuove Regioni con un minimo di un milione di abitan­ ti, quando ne facciano richiesta tanti Consigli comunali che rappresentino almeno un terzo delle popolazioni interessate, e la proposta sia approvata con referendum dalla maggioranza delle popolazioni stesse.“ (Durch Verfassungsgesetz können bestehende Regionen zusammengeschlossen werden oder neue Regionen mit mindestens einer

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

len der Zentralebene, jenseits von reiner Interessenkonkordanz zwischen den beteiligten Regionalmächten ein übergeordnetes System vorzugeben, dessen sich die Verfassungspraxis bedienen kann, um die föderalistische Bewegung in normative Bahnen zu lenken. Vorerst bleibt vieles Stückwerk. Dennoch haben die bisher unternommenen Schritte eine föderative Ordnung bestätigt, in der konkrete Solidarbeiträge von den Regionen erbracht werden, um eine Angleichung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen untereinander zu erreichen. Besonders auffällig ist auch die Inpflichtnahme re­ gionaler Autonomieentitäten für die wirtschaftliche Gesamtsituation des Staates.438 Die Konzessionen der Regionen mit Sonderstatut hinsichtlich der weiteren Kompetenzübernahme ohne entsprechende Kostendeckung durch den Bund sind nur ein Schritt in diese Richtung.439 Im Sinne der nationalen Solidarität haben mitunter alle Regionen auf Geheiß des Bundes Einschnitte in ihrer Finanzausstattung zu tragen.440

Million Einwohner geschaffen werden, wenn eine Mehrheit der Gemeinderäte, die mindestens ein Drittel der betroffenen Bevölkerung repräsentiert, es verlangt und nach Anhörung der Regionalräte mindestens ein Drittel der Bevölkerung selbst es per Referendum beschließt.) Die Exekutive in Form der Regionalräte hat lediglich ein Anhörungsrecht ohne tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit; vgl. Bergner, Der italienische Regionalismus, S. 45. Mehrere Grenzgemeinden von Regionen mit Normalstatut haben in letzter Zeit versucht, von der Umgliederung Gebrauch zu machen. Im Urteil 66 / 2007 hat das itVerfG bestimmt, dass dafür nicht einmal die Beteiligung der „aufnehmenden“ Region erforderlich sei; a. A. Zwilling, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 353 (u. Fußn. 42), die allerdings verkennt, dass nicht die Zustimmung der Region sondern des Bundesgesetzgebers erforderlich ist (vgl. Art. 133 Abs. 1 CRI). Nach geltender Verfassungslage beschränkt sich die Beteiligung der aufnehmenden Region lediglich auf eine Anhörung (Art. 132 Abs. 2 CRI); siehe itVerfG Urteil 66 / 2007 (Punkt 4): „La recente modifica costituzionale del se­ condo comma dell’art. 132 Cost […] ha ulteriormente chiarito che il soggetto inter­ essato in questa fase del tutto […] procedimento è la sola collettività locale appar­ tenente al Comune interessato dalla proposta di distacco-aggregazione.“ (Die jüngste Änderung von Art. 132 Abs. 2 CRI hat weiter klargestellt, dass die einzige Stelle, die in diesen Verfahrensschritt einbezogen ist, die Gemeinde ist, die von der vorgeschlagenen Ablösung-Angliederung betroffen ist.) Siehe zum Problem Palermo /  Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 337 f. 438  Vgl. Art. 27 Gesetz 42  /  2009. Ursprünglich angedacht war sogar, dass die ­Autonomen Regionen an der Zinslast des Staates beteiligt werden; vgl. Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 74. 439  Ob das überhaupt der richtige Schritt ist angesichts der damit erweiterten Kompetenzasymmetrien, bleibt zu bezweifeln. So auch Palermo / Woelk, in: Jahrbuch des Föderalismus 2007, S. 339. 440  Bisher stehen allerdings die Sonderregionen teilweise auf dem Standpunkt, dass sie sich nicht am Ausgleichsfonds zu beteiligen haben. Vgl. Peterlini, Föderalistische Entwicklung und Verfassungsreform in Italien, S. 75 f.



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III. Das Vereinigte Königreich 1. Föderalistische Ausprägungen Das Vereinigte Königreich, bestehend aus England, Wales, Schottland und Nordirland,441 stellt im Grunde einen zentralisierten Einheitsstaat dar.442 Dieser hat sich jedoch in den 1990er Jahren einer Dezentralisierung unterzogen, die als devolution bezeichnet wird und die mit noch offenem Ausgang erste Anstöße zu mehr regionaler Verantwortung und Kompetenz gegeben hat.443 Die devolution hat zwei Dimensionen. Auf der einen Seite wird das staatsorganisatorische Verhältnis der historischen Nationen Schottland, Wales und (als Teil des ehemals zum Vereinigten Königreich gehörigen Irlands) Nordirland zum britischen Staat restrukturiert.444 Zum anderen wird in England selbst unter dem gleichen Themenpunkt (zumindest bisher) eine reine Verwaltungsneugliederung unternommen.445 441  Zum Vereinigten Königreich gehören weiterhin diverse abhängige Überseegebiete. Suzeräne Verknüpfungen bestehen auch zur Isle of Man und den Kanalinseln. Diese Gebiete fallen aufgrund ihrer Besonderheiten nicht in die Kategorie „Region“ oder gar „Bundesland“ und werden daher bei den Erörterungen der devolution, dem Delegations- und Regionalisierungsprozess des Vereinigten Königreichs, zumeist ausgespart. 442  Vgl. zur heterogenen Entstehungsgeschichte des Vereinigten Königreichs aus diesen vier Nationen der Schotten, Waliser, Engländer und Iren, Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 3 ff.; Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 322. Die nationalen Traditionen und Selbstverwaltungsambitionen sind indes nie erloschen, sondern blieben als latente Unabhängigkeitsbestrebungen bestehen. Derzeit plant das schottische Parlament am 18. September 2014 ein Referendum zur Abstimmung über Unabhängigkeitsverhandlungen. Die Bevölkerung hat sich in der Vergangenheit allerdings mehrheitlich für mehr delegierte Kompetenzen statt voller Souveränität ausgesprochen, vgl. „Scotland: Independence Referendum not moving forward in January“, The Telegraph vom 20. Januar 2011. 443  In anderen klassischen Einheitsstaaten wie Frankreich haben sich zuletzt ähnliche Dezentraliserungstendenzen gezeigt; vgl. Zimmermann-Steinhart, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 363 ff. Das Vereinigte Königreich sticht aus diesen Ländern deswegen hervor, weil es über „Regionen“ verfügt, die ein eigenes Nationalgefühl und in unterschiedlicher Intensität auch einen Souveränitätsanspruch haben. Zur Abgrenzung der Entwicklung in Frankreich, vgl. Mey, Regionalismus in Großbritannien, S. 320. Der Devolutionsprozess im Vereinigten Königreich ist daher besser geeignet, Rückschlüsse auf die Grundparameter föderaler Ordnungen zu ziehen als die bloßen Verwaltungseinheiten der französischen Départements. 444  Die maßgeblichen Gesetze sind der Scotland Act 1998, HMSO 1998 Kapitel 46, der Government of Wales Act 1998, HMSO 1998, Kapitel 38 und der Northern Ireland Act 1998, HMSO 1998, Kapitel 47; (gemeinsam bezeichnet als Devolutionsgesetze). 445  Zum einen wurden Regionalentwicklungsagenturen und Regionalkammern gegründet, deren Zusammenwirken und Funktion noch nicht abschließend geklärt ist, vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 334. Für den Groß-

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Streng genommen handelt es sich bei der devolution lediglich um eine Delegation von staatlicher Macht.446 Sie beinhaltet die Bildung einer subordinierten Volksvertretung (Quasi-Länderparlament),447 erfordert im Gegensatz zu echter Länderbildung allerdings keine Verfassung der Unterebenen.448 Aufgrund des britischen Verfassungsprinzips der „Sovereignty of Parliament“449 können unterhalb des Westminster-Parlaments450 im Staat schlicht keine anderen Machtzentren verfassungsmäßig verankert werden.451 Auf die gebildeten Länderkammern werden stattdessen in unterschiedlicher Intensität Gesetzgebungskompetenzen samt administrativen Annexkompetenzen delegiert. Der Vorläufer der Devolution-Verwaltungsreform war die Teilautonomie für Irland unter der Irish Home Rule.452 Mittels dieser Institution sollten die raum London ist zudem eine zweite kommunale Struktur (Greater London Council) vorgesehen, die lediglich administrative Befugnisse hat, vgl. Pahl, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 287. Diese Änderungen betreffen hauptsächlich Fragen kommunaler Selbstverwaltung. 446  Vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 321. Im Bericht der Royal Commission on the Constitution unter Vorsitz von Lord Kilbrandon (sog. Kilbrandon-Bericht, Command 5460, HMSO 1973, S. 165) wird Devolution beschrieben als „… delegation of central government without the relinquishment of ­sovereignty.“ 447  In Schottland gibt es das Parliament (vgl. Art. 1 Abs. 1 Scotland Act 1998), in Wales und Nordirland jeweils eine Assembly (vgl. Art. 1 Abs. 1 Government of Wales Act 1998 und Art. 4 Abs. 5 Northern Ireland Act 1998). 448  Vgl. Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 3. 449  „Parliament“ meint in diesem Zusammenhang die Krone, das House of Lords und das House of Commons, zusammen bezeichnet als „King in Parliament“; vgl. zur „Sovereignty of Parliament“, Bradley / Ewing, Constitutional and administrative law, S.  51 ff.; Dicey, The Law of the Constitution, 9. Auflage, S. 39 ff. 450  So benannt nach dem Sitz des britischen Parlaments im Westminster Palast in London. 451  Das unterliefe das aus dem Souveränitätsprinzip folgende Verbot der Bindung späterer Parlamente. Daher ist der gesamte Devolutionsprozess lediglich einfach­ gesetzlich eingeführt und könnte theoretisch von späteren, devolutionsfeindlichen Parlamentsmehrheiten wieder beseitigt werden; vgl. Fichtner, Als Verbundstaat im Staatenverbund, S. 97. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 327 und Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 292 sehen allerdings eine Abschaffungshürde in den vor Bildung der Regionalparlamente mittels Referenden eingeholten souveränen Volkswillens. Pahl, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 283, hält es lediglich für ein politisches Hindernis. Verfassungsdogmatisch birgt die Suprematie des britischen Parlamentes zugleich aber auch ein besonderes Stabilitätsmoment für die erreichte Devolutionsstufe, da die durch das Parlament verabschiedeten Devolutionsgesetze als Rechtsakte mit höchstem normativen Rang alle staatliche Gewalt im Vereinigten Königreich binden, vgl. von Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 486. 452  Vgl. zur „Home Rule“ Johnson, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, S. 316 ff.



B. Regionalistische Staaten141

schwierigen politischen Differenzen mit dem irischen Widerstand beigelegt werden,453 indem Irland eine legislative Vertretung zugestanden wurde, die in inneren Angelegenheiten Gesetzgebungskompetenzen hatte.454 Die Maßnahme folgte keinem Konsens über eine moderne dezentralisierte Staats­ verwaltung, sondern zollte dem politischen und mitunter gewalttätigen Widerstand der irischen Bevölkerung Tribut.455 Nach dem Rückzug Großbritanniens aus Irland wurde auch im weiterhin zu Großbritannien gehörenden Nordirland ein Regionalparlament installiert und die weitergehende Devolutionsbewegung kam vorerst zum Erliegen.456 Erst unter der Labour-Regierung ab dem Jahr 1997 wurde auf die anwachsenden nationalistischen Tendenzen vor allem in Schottland und Wales reagiert, indem ein umfangreiches Reformpaket verabschiedet wurde. Vor allem aus den unterschied­ lichen Ausgangsbedingungen und Traditionen der Regionen wurde ein asymmetrischer Ansatz gewählt, der verschiedene Kompetenzniveaus hervorgebracht hat.457 So verfügt Schottland über eine primäre Gesetzgebungskompetenz, die in den zugeteilten Bereichen – vor allem Gesundheit, Bildung und Soziales, aber auch Justiz und Inneres – ausschließlich ist.458 Dagegen hatte Wales zunächst nur innerhalb der Rahmengesetzgebung durch das Westminster-Parlament Befugnisse zum Erlass von Ausführungsgesetzen (vgl. Art. 21 Government of Wales Act 1998 – sog. sekundäre Gesetzgebungskompetenz).459 Erst mit dem neuen Government of Wales 453  Der nie erschöpfte Separationswillen der irischen Bevölkerung gipfelte schließlich im Jahr 1921 im Anglo-Irischen Vertrag (Text abgedruckt in National Archives of Ireland [Hrsg.], Documents on Irish Foreign Policy Volume I, 1919– 1922), der die Teilsouveränität irischer Gebiete im Rahmen von dominions gewährte und den ersten Schritt zur förmlichen Unabhängigkeit des irischen Staates bildete. 454  Der Begriff „Parlament“ wurde bewusst vermieden, um die Souveränität des Westminster-Parlaments nicht zu gefährden; vgl. Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 20. 455  Sir William Harcourt, damals britischer Innenminister, schrieb dazu: „We all know [it] to be the case, that we hold Ireland by force and by force alone […]. We have never governed and we never shall govern Ireland by the good will of its ­people.“, zitiert in: Gardiner, The Life of Sir William Harcourt, Band I, S. 497. 456  Vgl. Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 166. 457  Die heterogene Motivlage hat zu einer unkoordinierten devolution geführt, die bisher nur durch persönliche Kontakte und (bis zum konservativen Politikwechsel bei den Unterhauswahlen im Jahr 2010) politische Kontinuität der Labour-Mehrheiten in sämtlichen Regionalparlamenten vor größeren Konflikten bewahrt wurde; vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 500 f. 458  Das schottische Parlament ist für alle Sachmaterien zuständig, die nicht gem. Art. 28, 29 Abs. 2 lit. b, Art. 30 Abs. 1 i. V. m. Schedule 5 Scotland Act 1998 den Institutionen des Vereinigten Königreichs vorbehalten sind. Dazu hat Schottland ­parallele Verwaltungskompetenzen (vgl. Art. 53 ff. des Scotland Act 1998). 459  Dazu Pahl, in: Jahrbuch des Föderalismus 2001, S. 284 f.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

Act 2006460 sollte eine variable461 Legislativkompetenz zum Erlass von primären Gesetzen eingeführt werden (vgl. Art. 94  ff. und Schedule 5 Government of Wales Act 2006).462 Nordirland verfügt über ähnlich weitgehende Kompetenzen wie Schottland (Art. 5, 6 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Schedule 2 und 3 Northern Ireland Act 1998). Ausgespart wurden wegen der ungeklärten Sicherheitslage in Nordirland zunächst Zivil- und Strafrecht, Polizei und Justiz. In England hat die devolution dagegen nie den Bereich bloßer Verwaltungsgliederung überschritten. Daher wurde auch keine regionale Gesetzgebungsvertretung eingerichtet.463 2. Föderalcharakter Der gesamte Devolutionsprozess ist begleitet von – je nach politischer Gesinnung – Hoffnung auf oder Angst vor einer Föderalisierung des ehemals gefestigten britischen Einheitsstaats. Symptom der nicht immer klaren Trennung zwischen beiden Konzepten ist die uneinheitliche Terminologie, nach der devolution sowohl Dezentralisierung im Sinne der Übertragung und mithin Abgabe von eigenen legislativen Befugnissen bedeuten kann als auch bloße verwaltungsentlastende Dekonzentration.464 Der wesentliche 460  HMSO

2006, Kapitel 32. Westminster-Parlament kann jederzeit die in Schedule 5 zum Government of Wales Act 2006 aufgeführten devolvierten Kompetenzfelder abändern und tut das auch. Die aktuelle Fassung von Schedule 5 ist zu finden unter: http://www.assembly wales.org / bus-home / buslegislation / legislation_fields.htm. 462  Im Gesetz selbst ist ein Referendum vorgesehen, das den Walisern die Entscheidung über die erweiterte devolution überlässt. Das Referendum wurde am 3. März 2011 durchgeführt. Bei einer insgesamt sehr niedrigen Beteiligung von nur 35,4 % der Wähler stimmte die Mehrheit mit 63,5 % für eine Erweiterung der devo­ lution in Wales, siehe BBC News vom 4. März 2001, abrufbar unter: http://www. bbc.co.uk / news / uk-wales-politics-12648649. 463  Regionale englische Angelegenheiten werden immer noch ausschließlich vom Westminster-Parlament verhandelt. Das hat zu der schwierigen Frage geführt, ob schottische oder nordirische Abgeordnete im Unterhaus stimmberechtigt seien, wenn Angelegenheiten verhandelt würden, die allein England (oder Wales, solange es noch nicht voll devolvierte Legislativkompetenzen hatte) beträfen und für Schottland oder Nordirland bereits devolviert wären (z. B. Fragen der Bildungspolitik, die nicht in Art. 28, 29 Abs. 2 lit. b, Art. 30 Abs. 1 i. V. m. Schedule 5 Scotland Act 1998 aufgeführt sind). Dieses nach dem ersten Aufkommen in einer die Region West Lothian betreffenden Angelegenheit „West Lothian Question“ genannte Problem wird mitunter mittels der Verfahrenspraxis der Stimmenthaltung der betreffenden Abgeordneten gehandhabt. Zur endgültigen Klärung der Frage ist in der Koalitionsvereinbarung der konservativen Regierung von 2010 die Einrichtung einer Kommission vorgesehen. 464  Vgl. zur verschiedenen Verwendung von devolution, Malanczuk, Region und unitarische Struktur in Großbritannien, S. 104 ff. 461  Das



B. Regionalistische Staaten143

Unterschied zu regionalistischen oder föderalistischen Staaten besteht im devolvierten Vereinigten Königreich darin, dass die subnationalen Gebietskörperschaften keinen Anteil an der staatlichen Souveränität haben.465 Weder originär noch derivativ kommt ihnen bisher substaatliche Verfassungsautonomie zu.466 Eine Änderung ihrer organisatorischen Struktur oder der Ausführungsmodalitäten ihrer Legislativbefugnisse – z. B. die Größe des Regionalparlaments, das Wahlverfahren oder Geschäftsordnungen der Re­ gionalparlamente – kann nicht von ihnen durchgeführt werden, sondern ist nur durch Änderung der Devolutionsgesetze zu erreichen.467 Eine – gar verfassungsrechtliche – Bestandsgarantie gibt es für die derzeitige Devolutionsstufe nicht.468 Die übertragenen Gesetzgebungskompetenzen selbst stehen unter dem Vorbehalt abweichender Regelungen durch das Westminster-Parlament. Mögen auch politische Opportunität oder demokratische Hürden eine Rücknahme devolvierter Kompetenzen oder eine völlige Abschaffung der Regionalstruktur unrealistisch erscheinen lassen, steht die bestehende verfassungsrechtliche Befugnis dazu der Annahme einer (föderalistischen) Gleichstellung der Ebenen hinsichtlich Funktion und Kompetenz im Staat entgegen.469 Die asymmetrische Kompetenzverteilung wird auch nicht wie in föderalen Staaten oder solchen mit einer föderalistischen Regionalstruktur von einer umfassenden Vorstellung eines allgemeinen Leistungsstandards im Sinne „einheitlicher Lebensverhältnisse“ umschlossen.470 Ohne diese bundesstaatliche „Klammer“ fehlt indes ein koordinativer Ordnungsrahmen, welcher der zentrifugalen Entwicklung der einzelnen Staatsteile entgegenzuwirken vermag.

465  Vgl. Deacon / Sandry, Devolution in the United Kingdom, S. 200 f. Siehe dagegen in Deutschland Art. 30 GG, der primär den Bundesländern die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuweist. 466  Siehe dagegen die einzelnen Länderverfassungen der deutschen Bundesländer. 467  Vgl. Hopkins, Devolution in context, S. 169. 468  Vgl. Hopkins, Devolution in context, S. 181. 469  Zu den formalen Hindernissen einer Föderalisierung Großbritanniens siehe Deacon / Sandry, Devolution in the United Kingdom, S. 202. 470  Vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2005, S. 503. Das gesamte Devolutionsverfahren folgt keinem einheitlichen Konzept eines general scheme sondern pragmatischen Erfahrungswerten, die von Lord Chancellor Lord Irvine, einer zentralen Figur der Devolutionsgesetzgebung, als „what matters is what works“ zusammegefasst wurden; zitiert nach Rawlings, in: Riedel (Hrsg.), Aufgabenverteilung und Finanzregimes im Verhältnis zwischen dem Zentralstaat und seinen Untereinheiten, S. 66.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

3. Die Finanzarchitektur der devolvierten Gebietskörperschaften Im Zuge der asymmetrischen devolution hat auch jede Region ihre eigenen Finanzmittel zugebilligt bekommen. Schottland verfügt im Wesentlichen über drei Einnahmequellen. Den größten Anteil am Budget stellen wie in den anderen Regionen Blockzuweisungen von Mitteln durch das Westminster-Parlament.471 Ihr Umfang wurde mittels der in den 1970er Jahren erstellten Barnett-Formel472 anhand des unterstellten damaligen Bedarfs festgelegt.473 Daneben dürfen Auf- und Abschläge von 3 % vom britischen Einkommensteuersatz eingeführt werden (vgl. Art. 73 Abs. 1 lit. b Scotland Act 1998).474 Aus der Kompetenz für die Funktionen der schottischen Gemeinden resultiert eine versteckte dritte Einnahmenquelle. Die in den Block­ zuweisungen enthaltenen Anteile für die kommunalen Verwaltungsträger können nach der devolvierten Kompetenz vom schottischen Parlament abgeändert und so der eigene Einnahmenanteil gesteigert werden.475 Entsprechend der geringeren Qualität übertragener Kompetenzen von Wales ist auch dessen Einkommensrahmen enger gesteckt. Neben den Blockzuweisungen sind individuelle Hebesätze unzulässig. Wegen einer ungünstigeren Formel für die Zuweisungen als die schottische muss Wales daher in größerem Maßstab auf die versteckten Einnahmen der Kommunen zugreifen.476 Die Finanzausstattung des Devolutivparlaments von Nordirland wird wegen der besonderen Bedeutung des Friedensprozesses in der Region volldazu von Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 375 f. nach dem damaligen Staatssekretär im Finanzministerium, dem späteren Lord Joel Barnett. 473  Vgl. zur Barnett-Formel ausführlich: House of Commons Research Paper 01 / 108, abrufbar unter: http://www.parliament.uk / documents / commons / lib / research /  rp2007 / rp07-091.pdf. Während die Formel im Laufe der Zeit angepasst wurde, blieb der Bedarf auf dem Stand der 1970er Jahre. Da Schottland damals wirtschaftlich schwächer war als heute, wird dieser Maßstab zunehmend als ungerecht empfunden, vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2002, S. 347 f.; Jeffery, in: Jahrbuch des Föderalismus 2008, S. 444 ff. Aufgrund systemfremder Ausgleichszahlungen und einer unterlassenen Formelanpassung sind die aktuellen Bedarfsverhältnisse völlig unklar und es wird davon ausgegangen, dass die Staatsausgaben in Schottland, Wales und Nordirland deutlich über dem Landesdurchschnitt liegen, vgl. von Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 378 ff. 474  Obwohl in Schottland der Ruf nach Fiskalautonomie am lautesten hallt, wurde insbesondere diese Möglichkeit bisher noch nicht genutzt, vgl. Jeffery, in: Jahrbuch des Föderalismus 2008, S. 451; Fichtner, Als Verbundstaat im Staatenverbund, S. 137. 475  Bogdanor, Devolution in the United Kingdom, S. 239 f. 476  Vgl. Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 331 f. 471  Vgl.

472  Benannt



B. Regionalistische Staaten145

ständig von der britischen Zentralgewalt übernommen.477 Den devolvierten Gebieten fehlen insgesamt nennenswerte Möglichkeiten zur Steuererhebung. Dadurch ist ihre Stellung im „Verbundstaat“478 schwach und nicht an fiskalische Verantwortlichkeiten gebunden.479 4. Solidarität im Devolutionsstaat Aufgrund der schwachen verfassungsrechtlichen Stellung der devolvierten Gebietskörperschaften und ihrer noch jungen Existenz als subnationale Gesetzgeber haben Schottland, Wales und Nordirland bisher noch kein föderalistisches Profil gebildet, aus dem heraus sie untereinander kooperativ oder kompetitiv handeln würden.480 Wesentliche Verteilungskämpfe erschöpfen sich in bilateralen Verhandlungen mit der Zentralebene. Daher bleibt allein dem Westminster-Parlament die Steuerung und Aufsicht über die gesamtstaatliche Einheit und das wirtschaftliche Gleichgewicht vorbehalten. Die Struktur der Finanzausstattung spiegelt den Wunsch des britischen Staates nach Homogenisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse in den Regionen wider. Die Blockzuweisungen stellen dafür ein Lenkungsinstrument dar. Anhand der festgelegten Bedarfsanteile in den verschiedenen Sektoren (Bsp.: Daseinsvorsorge, Bildung, etc.) kann ein gesamtstaatliches Leistungsniveau angeregt werden. Dem Verteilungsschlüssel der Blockzuweisungen Jeffery / Palmer, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, S. 333. Fichtner, Als Verbundstaat im Staatenverbund. 479  Alexander, Under Starters Orders: Facing Competition in 1997, S. 7, abgedruckt in Heald / Geaughan / Robb, in: Regional & Federal Studies 1998, S. 27, warnte bereits vor der Devolutionsgesetzgebung vor Instabilität: „When the [Scottish] Parliament is created Britain will have established a quasi-federal system. In any federal system there are three principal levels of government – national, state and local. If Scotland chose a Parliament with no taxation powers it would create the unstable nonsense in which the ‚top‘ and ‚bottom‘ levels of government had fiscal powers and the middle one … had not.“ 480  Das erscheint paradox angesichts der teils jahrhundertealten Tradition nationaler Selbstbestimmung und nationalistischer Grundstimmungen vor allem in Schottland. Ähnlich wie in Spanien steht aber das Nationalgefühl einer kulturell homogenen Gruppe wie der Waliser oder Schotten durchaus im Einklang mit der Einbettung in eine übergeordnete Staatsstruktur. Ausdruck dessen sind die negativen Umfragewerte in den Devolutionsregionen zur Frage der von der Scottish National Party (SNP) und Plaid Cymru (Wales) immer wieder propagierten Unabhängigkeitsbestrebungen, vgl. „Scottish independence support at record low“ in The Telegraph vom 1. März 2010. Zuletzt sanken die Zustimmungszahlen zur Unabhängigkeit Schottlands trotz eines anvisierten Referendums auf 31 %, vgl. die Umfrage im Auftrag der Zeitung The Times vom 9. Mai 2013, abrufbar unter: http://www.ipsos-mori.com /  researchpublications / researcharchive / 3172 / Support-for-Scotland-remaining-part-ofthe-UK-increases.aspx. 477  Vgl. 478  Vgl.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

liegt zudem bereits das Gebot der solidarischen Unterstützung wirtschaftlich schwächerer Regionen zugrunde. Die ursprüngliche und in der Folge lediglich leicht modifizierte Barnett-Formel ging bereits von höheren Pro-KopfAusgaben für die (damals) strukturschwachen Regionen Schottland und Wales aus.481 Damit betreibt die Zentralebene ökonomische Harmonisierung durch eine vom örtlichen Aufkommen abweichende Einnahmenallokation.482 Im Gegenzug sollen die Mechanismen der Barnett-Formel, so sie denn streng angewendet und nicht durch politisch bedingte zusätzliche Finanzströme unterminiert wird,483 Konvergenz in den Pro-Kopf-Ausgaben der einzelnen Regionen nach Maßstab Englands realisieren.484 Weitere Einflussmöglichkeiten behält die zentrale Staatsgewalt dadurch, dass der Verteilungsmaßstab der Blockzuweisungen anhand der BarnettFormel eine proportionale Anpassung zukünftiger Budgetveränderungen vorsieht. Sollte das Westminster-Parlament z. B. für England eine Kürzung der Ausgaben für das Gesundheitswesen beschließen und den gleichen Betrag im Verteidigungshaushalt aufstocken, würde sich diese Umschichtung auf den britischen Gesamthaushalt kostenneutral auswirken. Wegen der devolvierten Kompetenz im Gesundheitswesen würde sich die Verringerung des diesbezüglichen Budgetanteils jedoch unmittelbar degressiv auf die Blockzuweisungen für Schottland und Wales auswirken, wohingegen die Zuschläge im Verteidigungshaushalt mangels devolvierter Kompetenz nicht als Einkommensanteil an die Regionen weitergegeben werden könnten.485

481  Eine Studie des Finanzministeriums ermittelte im Jahr 1979, dass Schottland einen um 16 % höheren Pro-Kopf-Bedarf als England habe. Für Wales (9 %) und Nordirland (31  %) waren die Bedarfswerte ebenfalls erhöht; vgl. Angeben in ­Edmonds, The Barnett Formula, House of Commons Research Paper 01 / 108, S. 16. 482  Vgl. Heald, Financing Devolution within the United Kingdom, S. 95. Ficht­ ner, Als Verbundstaat im Staatenverbund, S. 139 spricht von einem „vorweggenom­ menen Finanzausgleich“. 483  Immer wieder gelang es regionalen Entscheidungsträgern, bei der Zentralebene Extrazahlungen, etwa für die Schuldentilgung, herauszuhandeln; vgl. Midwinter, in: Regional & Federal Studies 2004, S. 501. 484  Ein Bericht des House of Lords zur Barnett-Formel aus dem Jahr 2002, zitiert nach Midwinter, in: Regional & Federal Studies 2004, S. 500, geht von der allmählichen Konvergenz der Pro-Kopf-Ausgaben aus „as a mathematical inevitability, not a decision about policy“. Kritisch zu dieser Finalität der Barnett-Formel Midwinter, in: Regional & Federal Studies 2004, S. 501 ff., der davon ausgeht, dass lediglich im Fall von Nordirland tatsächlich Konvergenz angenommen werden könne, wohingegen Wales eine divergente Tendenz aufweise und Schottland relativ stabil bleibe. 485  Vgl. Beispiel von Hazell und Cornes, abgedruckt in: Craig, Administrative Law, 4. Auflage, S. 210.



B. Regionalistische Staaten147

5. Fazit zur devolution Die föderale Besinnung des Vereinigten Königreichs steht erst noch am Anfang. Ihr Ausgang ist noch offen und kann sogar zu einem Zerfall in Natio­ nalstaaten führen. Die Barnett-Formel ist wegen ihrer mangelnden Bedarfs­ orientierung und der zentralstaatlichen Budgetsteuerung zum Stolperstein der föderativen Entwicklung Großbritanniens geworden. Solidarischer Zusammenhalt erodiert aber, wo dysfunktionale Mechanismen eine Überausstattung kreieren, wie sie für Schottland, Wales und Nordirland zumindest vermutet wird.486 Gerade aufgrund ihrer – wenn auch auf die Beträge der Blockzuweisungen beschränkten – Haushaltsautonomie in Ausgabenfragen bedürfen die Regionen einer disziplinierenden Gesamtwohlverpflichtung, die exzessive Ausgabenpolitiken verhindert. Andererseits zeigt die proportionale Anpassung von gesamtstaatlichen Budgetverschiebungen eine Gängelung durch die Bundesebene, die regionale Gestaltungsinitiativen zu ersticken vermag. Erst mit der Ausweitung von Eigenverantwortung und der entsprechenden Finanzautonomie wächst aber das Bewusstsein für die eigene Länderqualität.487 Solange dieses Nationalbewusstsein nicht in Separatismus umschlägt,488 ver486  Vgl. von Andreae, Devolution und Bundesstaat, S. 379. Der ehemalige Premier­ minister John Major schreibt in seiner Autobiographie, zitiert nach Edmonds, The Barnett Formula, House of Commons Research Paper 01 / 108, S. 13: „Feeling was especially bitter among Members of Parliament with constituencies in English Re­ gions (such as the South West, the North East and many parts of London) which had social problems every bit as serious as Scotland’s, but which lost out badly in the annual public spending rounds, and lacked the economic clout exercised by the government agency Scottish Enterprise.“ Allerdings wird bei dem Vergleich der devolvierten Gebiete mit den englischen Provinzen oft übersehen, dass sie keine vergleichbaren devolvierten Strukturen haben. Darüber hinaus gibt es besondere historische Umstände, die unterschiedliche Finanzstrukturen beförderten, vgl. Stellungnahme des Finanzministers in der Anhörung des Treasury Committee vom 23. Oktober 2002, para. 78, zitiert nach Midwinter, in: Regional & Federal Studies 2004, S. 510: „(T)he allocation mechanisms for Scotland, Wales and Northern Ireland re­ flect a whole lot of historical factors. They also reflect the fact that they have devol­ ved administrations. The fact is that, in England, the structure is such that individual services have their allocations of expenditure determined by individual formulae, and I think that, as far as the present state of play is concerned, that is a reasonable way to do it. It reflects the historical relationship between London and the regions.“ 487  Die Erhebungen von Bond / Rosie, in: Regional & Federal Studies 2010, S. 88 ff. weisen auf ein bereits verfestigtes Nationalbewusstsein in Schottland und Wales hin, wobei die Werte für Nordirland aufgrund der Verbindung zu Irland noch etwas darunter liegen. 488  Paterson, in: Regional & Federal Studies 2002, S. 21 ff. zeigt bereits, dass die allseits grassierenden Ängste vor einem Zerfall der Union unbegründet sind. Die Abspaltung von Schottland und Wales ist derzeit nicht mehrheitsfähig in den jeweiligen Bevölkerungsteilen, vgl. Trench, in: Hazell (Hrsg.) Constitutional future revisited, S. 40.

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2. Kap.: Finanzsolidarität in föderalistischen Systemen

mag es eine bewusste Union zu befördern,489 in der sich die Regionen nicht nur als Gegenstück zur Westminster-Ebene verstehen und bilateral denken, sondern als Verbund von regionalen Gebietskörperschaften über die Summe ihrer Teile hinaus blicken und derart auch im Gesamtverbund gestalterisch mitwirken.

C. Zwischenergebnis Die Feststellung von Gemeinsamkeiten der untersuchten Staaten hinsichtlich ihres föderalen Verständnisses solidarischer Beziehungen und Bindungen darf nicht verschleiern, dass es sich letztlich um keinen homogenisierten Entwicklungsprozess föderaler Strukturen handelt. Vieles, was gemein ist, entstand aus verschiedenen Motiven und historischen wie kulturellen Gegebenheiten, die unvergleichbare Besonderheiten aufweisen. Die kulturelle Trennung innerhalb des belgischen Staats zwischen Flamen und Wallonen etwa steht in keinem Verhältnis zur Abgrenzung von amerikanischen Bundesstaaten untereinander, obwohl auch dort mitunter kulturelle Subeinheiten bestehen. Zu denken sei hier etwa an die Gruppe der Südstaaten, die historisch gewachsen und auch mental verankert ist. Die verglichenen Staaten entziehen sich einer einheitlichen Kategorisierung und bedürfen einer differenzierten Betrachtung. Bleibt der Überblick auch fragmentarisch, verweben sich dennoch gewisse Schlüsselprinzipien zu einem Gesamtbild, das im Sinne der Häberleschen „gemischten Bundesstaatstheorie“490 Aufschluss über Minimalausprägungen solidarischer Bindungen in föderalen Strukturen bietet. Dazu gehört im Hinblick auf die Finanzverfassung als „Spiegelbild der Staatsverfassung“ die Schaffung eines Homogenitätskorridors mit bedarfs­ orientierten Untergrenzen und überlastungspräventiven Obergrenzen. Dabei ist nicht entscheidend, ob die homogene Ausstattung sich aus einem zentral verwalteten Mitteltopf speist oder horizontal fließt. Letztlich ist nur erheblich, dass alle Gebietskörperschaften sich in ihrer Entwicklungstendenz auf einen einheitlichen Bereich zu bewegen, ohne eine Nivellierung der Finanzausstattungen zu erreichen. Dieser Homogenitätskorridor ist zugleich normative Voraussetzung des Bestands föderaler Strukturen wie auch die Folge solidarischer Interdependenz. Er transzendiert kulturelle Divergenzen in 489  Die Daten von Bond / Rosie, in: Regional & Federal Studies 2010, S. 90 zeigen, dass vor allem Waliser, Engländer und Nordiren sich mit dem britischen Staat identifizieren. 38 % der Engländer sehen sich auch als Briten, für Wales (32 %) und Nordirland (39 %) liegen die Zahlen in einem vergleichbaren Bereich. Allein Schottland (14 %) zeigt eine nahezu exklusive Nationalidentität. 490  Siehe dazu Häberle, ZöR 62 (2007), 39.



C. Zwischenergebnis149

seiner Entscheidung über Wohl und Wehe des Systems.491 Wesentliche Bestandteile einer derart intraföderal solidarischen Finanzausstattung sind die Bedarfsgerechtigkeit bei der Anteilsbemessung, das Nivellierungsverbot und eine Minimalausstattung im Bereich sensibler öffentlicher Dienstleistungen („Service public“).492 Auf Seiten der Einnahmenallokation kommt ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Steuerpolitik hinzu. Entweder wird konkret ein Bereich steuerlicher Hoheit der Gliedstaaten festgelegt oder sie werden mit der flexiblen Befugnis ausgestattet, Hebesätze anzusetzen. Sind die Gliedstaaten in einer föderalen Ordnung derart ausgestattet, bedarf es grundsätzlich keiner Eingriffe der Bundesebene mehr in die einzelnen Haushalte. Verschuldungsregeln sind solidarisch nur geboten, wenn andere Gebietskörperschaften oder die Zentralebene im Notfall einstehen müssen. Jenseits der Kraft des Faktischen im Falle der Bedrohung der Gesamtwirtschaft durch den Ausfall eines interdependenten Gliedes – hier ist von der Realisierung eines echten systemischen Risikos zu sprechen – kann die Verantwortung für die Fiskalpolitik getrost den einzelnen Gebietskörperschaften überlassen bleiben. Eine trennscharfe Anleihepolitik wie etwa bei den amerikanischen state bonds vermag Abwertungsrisiken bei wirtschaft­ lichem Verfall zu minimieren.493 Das deutsche Institut der „extremen Haushaltsnotlage“ folgt eher der historisch bedingten und gewachsenen Tendenz engerer Verflechtung von Aufgabenverantwortung und Kompetenzen. Da die deutschen Bundesländer (jedenfalls vor der Föderalismusreform I und II) in vielen Bereichen kostenwirksam Bundesgesetze (und damit gleichsam Bundesaufgaben, also im gesamtstaatlichen Interesse stehende Aufgaben) ausführen, erscheint die geteilte Lastentragung aller Glieder die unausweichliche Folge des verflochtenen Bundesstaats.

491  So überrascht es wenig, dass die flämischen Separationsbestrebungen, ebenso wie die schottischen und die katalanischen erst neuen Auftrieb erhalten haben, als sich die ökonomischen Rahmenbedingungen zugunsten dieser Gebiete entwickelten. Nicht anders verhält es sich im schwelenden Streit um den deutschen Finanzausgleich, indem vor allem Bayern, selbst bis zum Jahr 1994 Empfänger von Transferzahlungen, besonders stark auf eine Abschwächung der Abschöpfung drängt und zuletzt sogar eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erwägt; vgl. „Karlsruhe soll ein weiteres Mal über Länderfinanzausgleich entscheiden“, F.A.Z. vom 18. Juli 2012, S.  1 f. 492  Vgl. der spanische Fondo de Garantía de Servicios Públicos Fundamentales (Art. 15 LOFCA); das italienische System der Standardkosten (costi e fabbisogni standard, Art.  18 des Ausführungsgesetzes 42 / 2009). 493  Siehe Boadway / Shah, Fiscal Federalism, S. 428; Lemmen, Managing Government Default Risk in Federal States, S. 2.

3. Kapitel

Struktur einer Europäischen Finanzverfassung Die Europäische Union verfügt über einen von den Mitgliedstaaten unabhängigen Haushalt, der sich hauptsächlich aus eigenen Mitteln speist (vgl. Art. 311 Abs. 2 AEUV, dazu unter A). Einerseits greift er mittels seiner gesamteuropäischen Ausrichtung weiter als nationale Haushalte. Andererseits ist sein subsidiärer1 Anwendungsbereich eng auf die entsprechenden, von den Mitgliedstaaten verliehenen Kompetenzen beschränkt. So enthält der EU-Haushalt etwa keine Posten für Gesundheit oder Bildung. Seine Ausrichtung dient der Finanzierung spezieller Bereiche mit einem hohen „europäischen Mehrwert“.2 Die Haushaltsmittel werden neben der Verwendung für unionsinterne Verwaltung und andere genuine Unionskosten (Mieten, protokollarische Tätigkeiten, etc.) zu einem erheblichen Teil wieder an die Mitgliedstaaten ausgekehrt, um dem in der Präambel des AEUV niedergelegten Unionsziel zu entsprechen, die Volkswirtschaften „zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern.“ Zu diesem Zweck besteht ein elaboriertes Fondswesen, mittels dessen Verteilungsmechanismen regionale Angleichung und die Harmonisierung ökonomischer Leistungsniveaus der Mitgliedstaaten angestrebt wird (unter B.). Akute Belastungsproben einer funktionierenden Finanzverfassung stellen Notfalllagen wie etwa die Haushalts- und Verschuldungskrisen vereinzelter Mitgliedstaaten dar (dazu unter C.). Letztlich wurden auch in Reaktion auf die jüngsten Härtetests die fiskalischen Regeln der Union geändert (dazu unter D.).

A. Solidarische Einnahmenallokation Der Einnahmenseite kommt bereits eine immense, mitunter vorentscheidende Bedeutung für die Beschaffenheit finanzieller Solidarität unter den Gliedern des europäischen Föderalverbunds zu. Die Ausstattung des BudEuropäische Kommission, Finanzverfassung, S. 273. Mitteilung der Kommission „Ein Haushalt für ‚Europe 2020‘ “, KOM ­(2011) 500 endg., S. 9 f. 1  Vgl. 2  Vgl.



A. Solidarische Einnahmenallokation151

gets entscheidet letztlich über die autonome Handlungsfähigkeit einer Körperschaft.3 Im Bundesstaat werden mit der Zuteilung und Verteilung von Einnahmen die Weichen für die eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung durch die Gliedstaaten gestellt. An den Parametern der Verteilungsschlüssel im föderalen Steuerverbund oder am Grad der Trennung von regionalem Aufkommen und Zuteilung von Steuereinnahmen lässt sich ablesen, wie weit der „Gemeinschaftsgedanke“ im Sinne eines Einstehens der Mitglieder eines föderalen Bundes füreinander gediehen ist. In Übertragung auf die Union ist zu beachten, dass die Mitglieder der EU notwendigerweise ein graduell stärker an nationale Grenzen gebundenes Verständnis davon haben, wem das Steueraufkommen zusteht. Die noch vorherrschende Auffassung mitgliedstaatlicher Souveränität4 verhindert das völlige Aufgehen in einer gemeinschaftlichen Ökonomie, in der die einzelstaatlichen Volkswirtschaftlichen lediglich „Substrat“ des Gesamten wären. Dadurch ergeben sich Abstände zwischen Systemen föderaler Einkommensverteilung und der Mittelallokation in der Union. Es gibt etwa keine zentral von der EU gesteuerte Verteilung der Einnahmen auf die Mitgliedstaaten, die der bundesstaatlichen Steuerverteilung (vertikaler Finanzausgleich in Deutschland, Oberverteilung in Österreich oder der Fondo de Suficiencia Global in Spanien) entspräche. I. Das Eigenmittelsystem Wie teilweise bereits unter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begonnen, setzte die Europäische Gemeinschaft (damals noch als EWG) zur Finanzierung ihrer Aufgaben anfangs hauptsächlich auf Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten (Art. 200 EWGV und Art. 172 EAGV).5 Die Beitragsschlüssel waren flexibel anpassbar. Eine Vertragsänderung war nicht erforderlich. Es bedurfte lediglich eines einstimmigen Ratsbeschlusses (Art. 200 Abs. 3 EWGV und Art. 172 Abs. 3 EAGV) und der Ratifizierung durch die jeweiligen nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten. Bereits im Ursprung war jedoch vorgesehen, dass die Gemeinschaft ihre Finanzierung 3  Waldhoff, in: Calliess  / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 310 AEUV, Rn. 8 bezeichnet demnach das Haushaltsrecht auch als „Kampfplatz für institutionelle Entwicklungen“ und sieht hier eine „Parallele zu mitgliedstaatlichen Entwicklungen im konstitutionellen Zeitalter des 19. Jh.“. 4  Siehe dagegen zu der moderneren Auffassung von Souveränität als Gemeineigentum der consocatii als Mitglieder des Gemeinwesens, Annett, in: Regional & Federal Studies 2010, S. 107 (118 f.). 5  Die Ermächtigungsgrundlage für die ab dem Jahr 1978 gezahlten Finanzbeiträge in der EGKS wurde in Art. 49 S. 2 EGKSV gesehen, wonach die Hohe Behörde ermächtigt war, unentgeltliche Zuwendungen entgegenzunehmen.

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

auf so genannte Eigenmittel6 umstellen sollte, sobald ihr die entsprechenden Kompetenzen zur Verfügung stünden.7 Mit dem Eigenmittelbeschluss 70 / 243 / EGKS, EG, Euratom vom 21. April 19708 wurde zur schrittweisen Ersetzung der Finanzbeiträge ein genuines Einnahmensystem geschaffen, das nicht mehr auf die jährliche Bereitstellung der Finanzmittel durch die Mitgliedstaaten angewiesen war.9 Mit der Einführung des Eigenmittelsystems wurde festgelegt, dass der Gemeinschaftshaushalt unbeschadet der „sonstigen Einnahmen“10 vollständig aus Eigenmitteln zu decken sei (Art. 269 Abs. 1 EGV, jetzt Art. 311 Abs. 2 AEUV). Das System wurde im Laufe der Zeit mehrmals angepasst.11 Derzeit gilt der Eigenmittelbeschluss 6  Der Unterschied zwischen den Begriffen „eigene Mittel“ (Art.  201 Abs. 1 EWGV) und „Eigenmittel“ (Art. 201 Abs. 1 EGV, i. d. F. des Maastricht-Vertrags) ist rein sprachlicher Art und hat keine Auswirkungen auf die Auslegung. In der englischen und der französischen Sprachfassung besteht jeweils Kontinuität in der Begriffswahl („own resources“ bzw. „ressources propres“). 7  Vgl. Art. 201 Abs. 1 EWGV: „Die Kommission prüft, unter welchen Bedingungen die in Artikel 200 vorgesehenen Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel, insbesondere durch Einnahmen aus dem Gemeinsamen Zolltarif nach dessen endgültiger Einführung, ersetzt werden können.“ 8  ABl. L 94 vom 28. Oktober 1970, S. 19 (im Folgenden: EMB 1970). 9  Die derart gewonnene Finanzautonomie der Union wird allerdings von der mitunter mangelhaften Zahlungsmoral einiger Mitgliedstaaten konterkariert. Mehrmals musste der EuGH Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Zahlungsverpflichtung anhalten, vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen C-105 / 02 (Kommission / Deutschland), Slg. 2006, I-9659; C-377 / 03 (Kommission / Belgien), Slg. 2006, I-9733; C-378 / 03 (Kommission / Belgien), Slg. 2006, I-9805; C-275 / 04 (Kom­ mission gegen Belgien), Slg. 2006, I-9883; C-546 / 03 (Kommission / Spanien), Slg. 2006, I-29; C-392 / 02 (Kommission / Dänemark), Slg. 2005, I-4713. 10  Der Verweis auf „sonstige Einnahmen“ bedeutet, dass die bei der Tätigkeit der Union anfallenden Einnahmen, die nicht Eigenmittel sind, in den Haushalt zu dessen Ausgleich eingestellt werden dürfen (Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art.  311 AEUV, Rn.  12; Bieber, in: von der Groeben  /  Schwarze, EUV / EGV, Art. 269 EGV, Rn. 36). Dazu zählen insbesondere Verwaltungseinnahmen der Union, wie etwa die Einkünfte aus Verkäufen und Vermietungen, Vergütungen für sonstige Leistungen der Union, Kapitalerträge, Verzugszinsen, Geldbußen und Zwangsgelder, sowie Zuwendungen Dritter in Form von Stiftungen, Subventionen, Schenkungen und Vermächtnissen (vgl. Art. 4 Abs. 2 der VO Nr. 1605 / 2002 („Haushaltsordnung“, HO), zuletzt geändert durch VO (EU, Euratom) Nr. 1081 / 2010 des EP und des Rates vom 24. November 2010, ABl. L 311 vom 26. November 2010, S. 9); vgl. dazu Bieber, in: von der Groeben / Schwarze, EUV / EGV, Art. 269 EGV, Rn. 37. Weiterhin gehören zu den „sonstigen Einnahmen“ die Steuern auf Gehälter, Löhne und andere Bezüge der eigenen Bediensteten der Union (VO 260 / 68 / EWG vom 29. Februar 1968, ABl. L. 56 vom 4. März 1968, S. 8); siehe dazu Frenz / Distelrath, DStZ 2010, 246 (247); Europäische Kommission, Finanzverfassung, S.  272 f. 11  Überblick über die Entwicklungsstufen bei Lienemeyer, Die Finanzverfassung der EU, S. 179 ff.; Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 45 ff.



A. Solidarische Einnahmenallokation153

2007 / 436 / EG, Euratom vom 7. Juni 200712. Darin werden die verschiedenen Eigenmittel abschließend aufgeführt.13 1. Rechtsnatur der Eigenmittelbeschlüsse Unklar war in der Vergangenheit, welche Rechtsnatur die Eigenmittelbeschlüsse haben. Zur Unsicherheit trug bereits die uneinheitliche Terminologie der Eigenmittelbeschlüsse bei. Während es in der deutschen Fassung „Beschluss“ heißt, sprechen die französische und die englische Fassung von „décision“ bzw. „decision“. Diese sind allerdings nicht zu verwechseln mit Entscheidungen nach Art. 288 AEUV, da sie erst nach entsprechender Ratifizierung Verbindlichkeit erlangen. Teilweise wurde vertreten, dass es sich bei den Eigenmittelbeschlüssen wegen des Ratifizierungserfordernisses um gemeinschaftliches Primärrecht handelt.14 Andere hielten das Verfahren zur Annahme der Eigenmittelbeschlüsse des Rates sogar für ein besonderes Vertragsänderungsverfahren.15 Ein solcher Eigenmittelbeschluss modifiziert allerdings nicht den Wortlaut der Verträge. Daher kommt höchstens eine Vertragsänderung im erweiterten Sinne in Form der Konkretisierung der unbestimmten Einnahmenvorschriften des Vertrags in Betracht.16 Um Primärrecht wiederum kann es sich schon begrifflich nicht handeln, da sich die Eigenmittelbeschlüsse aus der Ermächtigung des Unionsprimärrechts (Art. 311 AEUV [ex-Art. 269 EGV]) ergeben.17 Sekundärrecht stellen sie ebenfalls nicht dar, da sie ohne die jeweilige Mitwirkung der Mitgliedstaaten keine Normgeltung beanspruchen können.18 Durch die Aufnahme der Unionsbefugnis, in den Eigenmittelbeschlüssen bestehende Eigenmittel abzuändern oder neue einzuführen,19 ist 12  ABl.

L 163 vom 23. Juni 2007, S. 17 (im Folgenden: EMB 2007). Abs. 2 des Beschlusses eröffnet jedoch die Möglichkeit weiterer Eigenmittel in der Form von Einnahmen aus sonstigen, gemäß dem EG-Vertrag oder dem Euratom-Vertrag im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben, sofern das Verfahren nach Artikel 269 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 311 Abs. 3 AEUV) durchgeführt worden ist. 14  So noch Niedobitek, in Streinz (Hrsg.), EUV / AEUV, Art. 311 AEUV, Rn. 18; Bieber, in: von der Groeben / Thiesing / Ehlermann, EWGV, Art. 201, Rn. 12. 15  Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 146; Bieber, in: von der Groeben / Thiesing / Ehlermann, EWGV, Art.  201, Rn.  11; Magiera, in: Grabitz / Hilf, EUV / EGV, Art. 269 EGV [Stand: Juni 2006], Rn. 9. 16  Vgl. Häde, Finanzausgleich, S. 429. 17  Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 145; Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 365 spricht von der „Erfüllung eines primärrechtlichen Auftrags“, die ihm „folglich im Rang unterlegen“ sei. 18  Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 145. 19  Art. 311 Abs. 3 S. 1 AEUV. 13  Art. 2

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

nunmehr klargestellt, dass es sich bei den Eigenmittelbeschlüssen nicht um Primärrecht handelt. Die Ermächtigung wäre schlicht überflüssig für den Fall, dass die Beschlüsse selbst bereits Primärrecht darstellen.20 Daher wurde vorgeschlagen, die Beschlüsse dogmatisch unterhalb des Primärrechts aber oberhalb des Sekundärrechts einzuordnen21 oder sie im Rang de facto dem Primärrecht gleichzustellen.22 Praktische Unterschiede dürften sich aus den verschiedenen Lösungsansätzen kaum ergeben. In beiden Fällen handelt es sich um umsetzungsbedürftige Rechtsakte des Rates mit direkter Rechtsverbindlichkeit. Mit dem Vertrag von Lissabon ist nunmehr die Pflicht zur Anhörung des Europäischen Parlaments hinzugekommen (Art. 311 Abs. 3 AEUV). Gegen die Eigenmittelbeschlüsse ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV statthaft.23 2. Die Eigenmittelarten a) Traditionelle Eigenmittel Zölle und Agrarabgaben gehören zu den klassischen Eigenmitteln, die bereits im ersten Eigenmittelbeschluss vom 21. April 1970 vorgesehen waren (Art. 2 EMB 1970). Ursprünglich bestanden Unterschiede in der Handhabung und Festlegung der beiden Kategorien, da mit den Abgaben auf Agrarimporte aus Drittländern wesentlich mehr Gemeinschaftspolitik betrieben wurde.24 Die Unterschiede wurden allerdings mit der Inkorporation der in den multilateralen WTO-Verhandlungen der Uruguay-Runde geschlossenen 20  Wilms,

EuR 2007, 709. Finanzausgleich, S. 430; Rossi, in: Vedder  /  Heintschel von Heinegg, EUV / AEUV, Art.  311 AEUV, Rn.  9; Bergfeld, Lenkungsabgaben im Europäischen Finanzrecht, S. 131 ff.; vgl. Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (826) zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen; kritisch zu dieser Kreation eines „Rechtsakts sui generis“ Fug­ mann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 146. 22  Europäische Kommission, Finanzverfassung, S. 140. Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 311 AEUV, Rn. 5 geht von einem „atypischen Beschluss mit der Wirkung primären Unionsrechts“ aus. 23  Vgl. bereits Häde, Finanzausgleich, S. 431 (u. Fn. 73). 24  Art. 2 Abs. 1 lit. a EMB 1970 spricht von „Abschöpfungen“, die „im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik“ im „Warenverkehr mit Nichtmitgliedstaaten“ eingeführt werden. Die sog. „Agrarabschöpfungen“ umfassten sämtliche Lenkungsabgaben, etwa auch eine 1980 durch die VO 375 / 80 / EWG, ABl. L 40 vom 16. Februar 1980, S. 41 eingeführte Abgabe auf die Ausfuhr von Zucker in Nichtmitgliedstaaten. Die sachpolitische Zielrichtung der Abgaben war bei entsprechender Kompetenz der Gemeinschaft unwesentlich, vgl. Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 46. Der Beschluss selbst vermittelte dagegen keine Befugnisse zur Einführung weiterer Agrarabgaben, vgl. Häde, Finanzausgleich, S. 439. 21  Häde,



A. Solidarische Einnahmenallokation155

Übereinkommen in das Gemeinschaftsrecht abgeschafft.25 Zu den nunmehr einheitlichen Zolleinnahmen kommen Abgaben hinzu, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind (Art. 2 Abs. 1 lit. a EMB 2007).26 Für die Erhebung und Abführung der traditionellen Eigenmittel durften die Mitgliedstaaten ursprünglich 10 % einbehalten (Art. 3 Abs. 1 UAbs. 5 EMB 1970). Mit dem Eigenmittelbeschluss 2000 / 597 / EG, Euratom vom 29. September 200027 wurde der Einbehalt für Erhebungskosten auf 25 % erhöht (Art. 2 Abs. 3 EMB 2000), was vor allem den Mitgliedstaaten mit einem hohen Aufkommen an Warenverkehr mit Nichtmitgliedstaaten zugute kam.28 b) Mehrwertsteuer-Eigenmittel (1) Berechnungsmodalitäten Mit dem Mehrwertsteuer-Eigenmittel wurde auf Gemeinschaftsebene ein Steuerverbund etabliert, in welchem Anteile der in den einzelnen Mitgliedstaaten erhobenen und eingenommen Mehrwertsteuer der Union zugewiesen werden. Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. b EMB 2007 wird ein einheitlicher Satz auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage (MwSt.Bemessungsgrundlage) angewendet.29 Die Berechnung der einheitlichen MwSt.-Bemessungsgrundlage erfolgt entsprechend den Bestimmungen der Richtlinie 2006 / 112 / EWG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem30. Dazu erläutert die Kommission in 25  Vgl.

6. Erwägungsgrund EMB 2007. komplexe System der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker wurde auf der Grundlage der Art. 42 und 43 EWGV durch die VO 1785 / 81 / EWG, ABl. L 177 vom 1. Juli 1981, S. 4 eingeführt. Siehe dazu Dünnweber, ZfZ 1994, 199; Thoroe, FA 1984, 350. 27  ABl. L 253 vom 7. Oktober 2000, S. 42 (im Folgenden: EMB 2000). 28  Das betrifft etwa die Niederlande mit ihrem Seehafen Rotterdam, der mit einem Gesamtumschlag im Jahr 2011 von 434,6 Mio. Tonnen der größte Umschlagplatz der Union ist. Ronnecker, Budgetkompetenzen in der EU, S. 96 (dort Fn. 154) hält die Erhebungspauschale für einen verdeckten Beitragsrabatt. 29  Wegen der fehlenden Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze im Gemeinschaftsgebiet konnte nicht einfach auf die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zurückgegriffen werden, vgl. Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 64. Heute ist die Harmonisierung partiell zwar wesentlich vorangeschritten (siehe dazu Richtlinie 2006 / 112 / EG, ABl. L 347 vom 11. Dezember 2006, S. 1). Allerdings fehlt immer noch Kongruenz in der Anwendung der unterschiedlichen Steuersätze auf verschiedene Waren und Dienstleistungen. 30  Geändert durch Richtlinie 2010 / 88 / EU, ABl. L 326 vom 10. Dezember 2010, S. 1) (im Folgenden: MwSt.-RL). 26  Das

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

ihrem Leitfaden zur Finanzverfassung31: „Die einheitliche MwSt.-Bemes­ sungsgrundlage wird für den jeweiligen Mitgliedstaat nach der sogenannten ‚Einnahmenmethode‘ bestimmt. Dabei wird der Gesamtbetrag der jährlichen Nettoeinnahmen des Mitgliedstaats durch den gewogenen mittleren MwSt.Satz dividiert, d. h. einen geschätzten mittleren Satz für die verschiedenen Arten von steuerbaren Gegenständen und Dienstleistungen, um so ein Zwi­ schenergebnis für die MwSt.-Bemessungsgrundlage zu ermitteln. Dieses Zwi­ schenergebnis wird sodann mithilfe negativer oder positiver Ausgleichsbeträge angepasst, um zu einer einheitlichen MwSt.-Bemessungsgrundlage (…) zu gelangen.“ Weil diese Eigenmittelart allerdings zu einer überproportionalen Belastung schwächerer und konsumtiv ausgerichteter Nationalökonomien führte – die MwSt.-Bemessungsgrundlage ist umso höher, je niedriger das Investitionsvolumen ist und je stärker negativ die Import-  /  Export-Bilanz ist –32, wurde eine Obergrenze für die Abschöpfung festgelegt. Mit dem EMB 1988 (Art. 2 Abs. 1 lit. c) wurde die MwSt.-Bemessungsgrundlage nur noch zu 55 % herangezogen. Mittlerweile wurde dieser Satz auf 50 % herabgesetzt (Art. 2 Abs. 1 lit. c EMB 2007). Auf die derart bereinigte MwSt.-Bemessungsgrundlage wird sodann der einheitliche Satz von 0,3 % nach Art. 2 Abs. 4 EMB 2007 angewendet. Allerdings sind für einige Mitgliedstaaten reduzierte Sätze vorgesehen. Im Zeitraum des aktuellen Finanzrahmens 2007–2013 gelten für Österreich 0,225 %, für Deutschland 0,15 % und für die Niederlande und Schweden jeweils 0,1 % (Art. 2 Abs. 4 Abs. 2 EMB 2007). Diese Nachlässe sind Folge gescheiterter Reformversuche der großen „Nettozahler“33 Deutschland, Niederlande, Schweden und Österreich. Ursprünglich war eine institutionelle Anpassung des sogenannten „Korrekturmechanismus“ gewollt, der im Jahr 1984 auf dem EU-Gipfel von Fontainebleau zugunsten des Vereinigten Königreichs eingeräumt wurde (vgl. Art. 4 EMB 2007)34. Allerdings stellte sich die Verhandlungsmacht der vier Mitgliedstaaten als zu gering heraus, um über bloße Einzelfallzugeständnisse hinausgehende Veränderungen herbeizuführen.35

31  Europäische Kommission, Finanzverfassung, S.  264. Siehe zur Berechnung auch Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 65 ff. 32  Vgl.  Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 73; Strasser, Die Finanzen Europas, S. 313; Messal / Klein, BB-Beilage 1993, S. 1 (2); Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 311 AEUV, Rn. 10 spricht davon, dass in wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten „ein höherer Teil ihres BSP verkonsumiert wird“; ebenso ­Wieland, JZ 2004, 774 (775). 33  Zum Begriff unter 3. 34  Sog. „VK-Korrekturmechanismus“ oder „Britenrabatt“, vgl. dazu unter 3. a). 35  Lindner, Conflict and Change in EU budgetary politics, S. 195 f.



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(2) Justiziabilität der Mehrwertsteuer-Eigenmittel Es handelt sich beim gemeinschaftlichen Mehrwertsteuersystem nur um einen partikularen Steuerverbund, da die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer nicht verbunden und horizontal verteilt werden.36 Auch bleibt die Mehrwertsteuer eine nationale Steuer.37 Allerdings gebietet hier mitunter die gemeinschaftliche Solidarität, dass in die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Da „jede Verringerung der Mehrwertsteuermittel durch eine Verringerung der Ausgaben oder eine Erhöhung der auf dem BNE beru­ henden Eigenmittel ausgeglichen werden muss, was das Gesamtgleichgewicht des zur Deckung der Ausgaben der Gemeinschaft bestimmten Systems der Eigenmittel beeinträchtigen kann“, behält sich der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren vor, das mitgliedstaatliche Mehrwertsteuerregime zu ändern.38 So wurde etwa entschieden, dass ein Mitgliedstaat, der es entgegen den Erfordernissen der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie39 unterlässt, eine bestimmte Art von Umsätzen der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, dadurch auch seine Pflicht verletzt, der Kommission diejenigen Beträge als Mehrwertsteuermittel zur Verfügung zu stellen, welche der auf die genannten Umsätze zu erhebenden Steuer entsprechen.40 Auch ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten sowie die Beachtung der Verpflichtun36  Häde, Finanzausgleich, S. 445 sieht die MwSt.-Eigenmittel daher auch als den ursprünglichen Finanzbeiträgen angenähert an; ebenso Wigger, in: FS Reiß, S. 516; Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 226 betont, dass die Einordnung des MwSt.-Eigenmittel als Verbundsystem oder Finanzbeitrag „für die Gemeinschaft hin­ sichtlich der Ergiebigkeit der Einnahme oder der Beherrschung des Einzugs ihres Anteils rein theoretischer Natur“ ist. 37  Allerdings steuert die EU indirekt die nationale Steuerpolitik auf Grundlage des Art. 113 AEUV mittels der MwSt.-RL. Darin werden sowohl die Bemessungsgrundlage als auch Tatbestände bis hin zu Steuersatzgrenzen (Normalsatz mindestens 15 %, ermäßigte Steuersätze mindestens 5 %, vgl. Art. 96 ff. der Richtlinie) festgelegt. Gem. Art. 401 der Richtlinie ist den Mitgliedstaaten zudem untersagt, eine umsatzsteuergleiche Abgabe einzuführen (vgl. EuGH, Rs. C-156  /  08, Slg. 2008, I-165 und Rs. C-200 / 90, Slg. 1992, I-2217 zur Vorgängervorschrift Art. 33 Abs. 1 der 6. MwSt.-Richtlinie). Damit sind die Mitgliedstaaten in der Gestaltung ihrer Mehrwertsteuerpolitik nicht mehr wesentlich frei, vgl. Lienemeyer, Die Finanzverfassung der EU, S. 147 f., siehe zum partiellen Charakter der Harmonisierung der Mehrwertsteuern Wigger, in: FS Reiß, S. 516 ff. 38  EuGH, Rs. C-539 / 09 (Kommission / Deutschland), Rn. 76. 39  Siehe bereits Fn. 29 u. 30. 40  So entschieden für die mehrwertsteuerfreie Autobahnmaut in Frankreich, Rs.  C-276 / 97 (Kommission / Frankreich), Slg. 2000, I-6251, Irland, Rs. C-358  /  97 (Kommission / Irland), Slg. 2000, I-6301 und im Vereinigten Königreich, Rs. C-359 / 97 (Kommission / Vereinigtes Königreich), Slg. 2000, I-6355.

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

gen sicherzustellen, denen die Steuerpflichtigen unterliegen. Insoweit verfügen die Mitgliedstaaten gleichwohl insbesondere hinsichtlich der Art des Einsatzes der ihnen zu Gebote stehenden Mittel über einen gewissen Spielraum, der u. a. durch die Verpflichtung begrenzt wird, eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Gemeinschaft zu garantieren.41 c) BNE-Eigenmittel Wegen zunehmender Unzulänglichkeit der traditionellen Eigenmittel bei der Vollendung des Binnenmarktes und der Unzumutbarkeit einer Erhöhung des gemeinschaftlichen Mehrwertsteueranteils wurde ersichtlich, dass der Einnahmenbedarf nur durch eine neue Eigenmittelart zu befriedigen ist. Durch Art. 2 Abs. 1 lit. d des Eigenmittelbeschlusses 88 / 376 / EWG, Euratom des Rates vom 24. Juni 198842 wurde daher ein Eigenmittel eingeführt, das sich nach dem Bruttonationaleinkommen43 – früher Bruttosozialprodukt – der Mitgliedstaaten bemisst. Anhand des BNE-Eigenmittels wird die Planungsdifferenz aus veranschlagten Ausgaben einerseits und Einnahmen aus den übrigen Eigenmitteln sowie sonstigen Einnahmen der EU andererseits überwunden. Folglich kann der BNE-Eigenmittelsatz schwanken, er ist aber für alle Mitgliedstaaten einheitlich.44 Er wird lediglich durch die allgemeine Eigenmittelobergrenz von 1,24 % des jährlichen BNE aller Mitgliedstaaten (Art. 3 Abs. 1 EMB 2007) begrenzt. (1) Bedeutungswandel Ursprünglich war die „zusätzliche Einnahme“ gedacht, um die Finanzierung des „Ausgabenhaushalts“45 der Gemeinschaft trotz schwankender Niveaus in den übrigen Eigenmitteln zu gewährleisten und das EigenmittelC-132 / 06 (Kommission / Italien), Slg. 2008, I-5457, Rn. 39. L 185 vom 15. Juli 1988, S. 24 (im Folgenden: EMB 1988). 43  Berechnet nach dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen von 1995 (ESVG 95), vgl. 3. Erwägungsgrund des EMB 2007. 44  Auch hier gilt im Finanzrahmen 2007–2013 wieder eine politische Ausnahme für einzelne Mitgliedstaaten. Gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 EMB 2007 werden der jährliche BNE-Beitrag der Niederlande um brutto 605 Mio. Euro und der jährliche BNE-Beitrag Schwedens um brutto 150 Mio. Euro gekürzt (zu Preisen von 2004). Finanziert werden diese „Rabatte“ von den übrigen Mitgliedstaaten, einschließlich der begünstigten, vgl. Europäische Kommission, Finanzverfassung, S. 267. 45  Im Haushaltsverfahren der Europäischen Union geht die Veranschlagung der Ausgaben nach Politikbereichen der Berechnung der erforderlichen Einnahmen voraus, vgl. Europäische Kommission, Finanzverfassung, S. 273. 41  Rs. 

42  ABl.



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system so abzurunden (Restfinanzierungsfunktion).46 Mittlerweile hat sich das BNE-Eigenmittel allerdings zur Haupteinnahmequelle der Union ausgeweitet. Im Haushalt 2012 macht das BNE-Eigenmittel 73,5 % (absolut: 93,72 Mrd. Euro) der gesamten Einnahmen aus Eigenmitteln aus.47 Diese Verschiebung war im EMB 1988 bewusst angelegt, um das Eigenmittelsystem stärker an der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu orientieren und so die wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten zu entlasten.48 (2) Beitragscharakter der BNE-Eigenmittel Mit dem Wandel von der Restfinanzierung hin zum Hauptfinanzierungsbestandteil in der Eigenmittelstruktur hat die Entwicklung des BNE-Eigenmittels auch einen Rückschritt in der Finanzautonomie der Union mit sich gebracht. Der Union fehlt ein direkter Zugriff, da die Mittel durch die Mitgliedstaaten erhoben und abgeführt werden. Mangels vollständiger Harmonisierung der Bemessungsgrundlage verbleibt diesen dabei ein großer Gestaltungsspielraum.49 Daher werden die BNE-Eigenmittel als „Finanzbeiträge auf der Grundlage des Bruttosozialprodukts“50 oder „multilateral ausgehandelte Mitgliedsbeiträge“51 verstanden. Diese Bewertung trifft wegen der Ausgabenorientierung des EU-Haushalts mithin das gesamte Eigenmittelsystem: „Abgaben, die direkt und zur Gänze von den Ausgaben determiniert werden, sind als Beiträge zu klassifizieren.“52 Mit der Rückkehr zu 46  Vgl. Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 100. González Rodríguez, in: Boletín Asturiano sobre la Unión europea Jg. 1998, Heft 76, S. 8 (10) hat daher das BNEEigenmittel als „Schlüssel, der das System abschließt“ („Este recurso es la clave que cierra el sistema de los ingresos.“) bezeichnet. 47  Angaben siehe Kommission, Entwurf des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2012, (KOM(2011) 300 endgültig), Teil A, S. 2. 48  Die bis dahin vorherrschende Stellung der MwSt.-Eigenmittel wurde aufgrund des „regressiven“ Charakters der Mehrwertsteuer – je reicher ein Mitgliedstaat, desto geringer ist das Volumen der umsatzsteuerpflichtigen Güter und Dienstleistungen im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt – zurückgefahren. Krit. dazu und zur These von der Regressivität der MwSt.-Eigenmittel Messal / Klein, BB-Beilage 1993, 11. 49  Sie können entscheiden, wie sie die Mittel aufbringen, ob durch Steuererhöhungen, Kredit oder Ausgabensenkung, Friedmann, in: ders., Evaluierungsansätze zu ausgewählten Politikbereichen der EU, S. 7 (22 f.). Siehe zum Problem der unterschiedlichen Anwendung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in den einzelnen Mitgliedstaaten bereits Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 181 ff. 50  Häde, Finanzausgleich, S. 446. 51  Wigger, in: FS Reiß, S. 516. 52  Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 153. A. A. Lienemeyer, Die Finanzverfassung der EU, S. 241: „Für die Abgrenzung zu den Beiträgen kann es nur auf den Übertragungsanspruch ankommen. Die BSP-EM werden aber durch den EMB als konkreter Anspruch auf Übertragung der Mittel an den Haushalt der Gemeinschaft

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

de facto Finanzbeiträgen wird zwar eine leistungsgerechte Beitragsbemessung zur Finanzierung des europäischen Unionsprojekts befördert, allerdings auf Kosten der Finanzautonomie der Union, die damit als gleichberechtigtes Glied in der föderalen Finanzverfassung der Union ausscheidet.53 Bei alledem ist indes zu beachten, dass jede neue Eigenmittelart und jede Expansion der Einnahmen der EU zugleich eine Verringerung der Einnahmenpotentiale der Mitgliedstaaten zur Folge hat, die anderweitig kompensiert werden muss.54 Insofern wird deutlich, dass die EU und die Mitgliedstaaten letztlich auf dieselbe Finanzquelle, nämlich die Leistungsfähigkeit aller Unionsbürger, zugreifen. Dass die Mitgliedstaaten dennoch bereit gewesen waren und es nach wie vor sind, erhebliche eigenständige fiskalische Einnahmen abzutreten, auch wenn diese weiterhin durch nationale Verwaltungen erhoben werden, zeugt von einem mitgliedstaatlichen Konsens, die EU mit einer gewissen finanziellen Autonomie auszustatten, die jedenfalls über das Niveau internationaler Organisationen hinausgeht.55 d) Sonstige Abgaben Art. 2 Abs. 2 EMB 2007 nennt als eine weitere Eigenmittelkategorie die „sonstigen Abgaben“. Hierunter fallen Einnahmen aus sonstigen, gemäß dem AEU-Vertrag im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben. Dabei ist das Verfahren nach Art. 269 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 311 Abs. 2 AEUV) einzuhalten, d. h. es bedarf eines Ratsbeschlusses, der von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Damit ist klargestellt, dass es sich nicht um eine gesonderte Ermächtigung zur Einführung von Eigenmittelkategorien handelt.56 Denn das Verfahren aus Art. 311 Abs. 2 AEUV selbst bringt erst die Rechtsgrundlage in Form der Eigenmittelbeschlüsse hervor. bestimmt. Für einen Anspruch auf Überweisung bedarf es keiner weiteren Entschei­ dung der Mitgliedstaaten mehr.“ 53  Vgl. Häde, Finanzausgleich, S.  488; Niedobitek, in: Streinz, EUV  /  AEUV, Art. 311 AEUV, Rn. 11. 54  Vgl. Rossi, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts [Stand: Oktober 2010], A. III., Rn. 113. 55  Rossi, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts [Stand: Oktober 2010], A. III., Rn. 17. 56  Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art.  311  AEUV, Rn.  12; Bieber, in: von der Groeben / Schwarze, EUV / EGV, Art. 269 EGV, Rn. 36. A. A. Magiera, in: Grabitz / Hilf, EUV / EGV, Art. 269 EGV [Stand: Juni 2006], Rn. 19, der hier einen Ansatzpunkt für „der Gemeinschaft endgültig zufließende Einnahmen, insbesondere aus Steuern und sonstigen auch den Einzelnen auferlegten Abgaben“ sieht, um „die Bestimmung mangels ertragreicher Einnahmen nicht weitgehend leerlaufen und damit ihr Ziel, die Finanzautonomie zu stärken, verfehlen“ zu lassen.



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3. Korrekturmechanismen Das Eigenmittelsystem der Union war stets Auslöser für Spannungen im Einigungsprozess. Bereits früh zeigte sich, wie sehr die Mitgliedstaaten (noch) nationalen Interessen verhaftet waren. Am deutlichsten trat dies in der Finanzierungsdebatte der Union unter dem Punkt der Beitragsgerechtigkeit hervor. Statt einen „europäischen Mehrwert“ der Mitgliedschaft zu berücksichtigen, wurden die Beitragszahlungen im Eigenmittelsystem mit den direkten und indirekten Rückflüssen saldiert. Negative „Nettosalden“57 verleiteten die entsprechenden Mitgliedstaaten dazu, entweder auf eine Erhöhung der Rückflüsse aus den Töpfen der EU hinzuwirken oder eine Reduzierung der eigenen Haushaltslast durch die Eigenmittelanteile zu ­fordern. a) Korrekturmechanismus zugunsten des Vereinigten Königreichs Der Höhepunkt dieser „juste retour“-Mentalität58 wurde auf dem EUGipfel von Fontainebleau 1984 erreicht, als den beharrlichen Forderungen vonseiten des Vereinigten Königreichs nach einer Beitragsreduzierung entsprochen wurde. Hintergrund dieses Zugeständnisses war, dass die EUMittel zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich dem Agrarsektor der Mitgliedstaaten zugute kamen. Da das Vereinigte Königreich bereits über eine größtenteils industrialisierte Wirtschaft verfügte, profitierte es nicht im gleichen Maß von den gemeinschaftlichen Agrarausgaben wie etwa Frankreich und Italien. Auf der anderen Seite verfügte das Vereinigte Königreich aber über eine besonders breite MwSt.-Bemessungsgrundlage und leistete damit einen großen Beitrag zum EU-Finanzierungssystem, das damals mehrheitlich aus dem MwSt.-Eigenmittel bestand.59 Bereits vor dem Jahr 1984 hatte das Vereinigte Königreich jährlich ad-hoc-Ausgleichszahlungen erhalten.60 Auf dem EU-Gipfel von Fontainebleau wurde die Sonderstellung als so genannter Korrekturmechanismus institutionalisiert. Es wurde festgelegt, dass „jeder Mitgliedstaat, der gemessen an seinem relativen Wohl­ stand eine zu große Haushaltslast trägt, zu gegebener Zeit in den Genuss 57  Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 150 (dort Fn. 1) merkt zu Recht an, dass der Begriff „Nettosaldo“ tautologisch ist, da es sich bei „Salden“ bereits um Nettorechnungen handelt. 58  Kritisch zur Saldierung von Kosten und Nutzen der EU-Mitgliedschaft Gus­ sone, Das Solidaritätsprinzip in der EU, S. 197; ausführlich zur Problematik Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 150 ff. 59  Vgl. KOM(2011) 510 endg., S. 7. 60  Dazu Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 112 ff.

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einer Korrekturmaßnahme gelangen kann“.61 De facto kam bisher nur das Vereinigte Königreich in den Genuss dieser Reduktion (daher im Folgenden: VK-Korrekturmechanismus). Gem. Art. 3 Abs. 3 EMB 1985 erhielt das Vereinigte Königreich 66 % des „Nettosaldos“ als der Differenz aus seinem MwSt.-Eigenmittelanteil und seinem Anteil an Rückflüssen aus dem EUHaushalt erstattet.62 In den jeweiligen Änderungen der EMB-Beschlüsse wurde der Korrekturmechanismus übernommen und lediglich derart an das neue BNE-Eigenmittel angepasst, dass Änderungen in der Struktur des Eigenmittelsystems für das Vereinigte Königreich neutral bleiben.63 b) Annexrabatte Die Sonderstellung des Vereinigten Königreichs in der Einnahmenallokation zog weitere Bevorzugungen für einige andere Mitgliedstaaten nach sich. Denn finanziert wurde der sog. „Britenrabatt“ zwar im Grundsatz von den übrigen Mitgliedstaaten im Verhältnis ihrer MwSt.-Eigenmittel (Berechnung in Art. 5 Abs. 1 lit. a EMB 2007).64 Der Anteil der Bundesrepublik Deutschlands, der Niederlande, Österreichs und Schwedens an der Finanzierung dieser Korrektur wurde allerdings auf ein Viertel der sich normalerweise aus dieser Berechnung ergebenden Anteile begrenzt (Art. 5 Abs. 1 lit. b EMB 2007). Weiterhin erhielten gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 EMB 2007 die Niederlande und Schweden eine jährliche Reduktion ihrer Beiträge in Form von pauschalen Kürzungen ihrer BNE-Eigenmittelanteile um brutto 605 Mio. Euro bzw. 150 Mio. Euro,65 die von den übrigen Mit­ gliedstaaten, einschließlich der begünstigten, finanziert wird. Diese Nachlässe waren die Folge politischer Einigungskompromisse, mit denen sich die jeweils stärksten Verhandlungspartner Sonderregelungen ausbedungen haben und sich somit ihre Zustimmung zum europäischen Projekt haben bezahlen lassen.

61  Präambel zum Eigenmittelbeschluss vom 7. Mai 1985, ABl. L 126 vom 14. Mai 1985, S. 15 (im Folgenden: EMB 1985). 62  Es handelt sich freilich nur um einen fiktiven Saldo, da in die Berechnung der Haushaltslasten die nicht mehr den Mitgliedstaaten zurechenbaren traditionellen Eigenmittel nicht eingehen; dazu Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 117. 63  Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 110 f. 64  Zur Berechnung siehe Europäische Kommission, Finanzverfassung, S. 268 ff. 65  Aufgrund der Festschreibung dieser Beträge auf Preiswerte von 2004 ergibt sich daraus für die Niederlande ein höherer Bruttoabzug von rund 678,8 Mio. Euro und für Schweden 168,3 Mio. Euro. An deren Finanzierung sind beide Mitgliedstaaten beteiligt, vgl. EU Haushaltsplan 2012 (2012 / 70 / EU, Euratom), S. 15.



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4. Föderale Implikationen des Eigenmittelsystems Die Einführung von eigenen Mitteln der Gemeinschaft hat das Paradigma der europäischen Integration nachhaltig verändert. So geht etwa Fugmann soweit, die „Herstellung einer föderalen oder präföderalen Beziehung zwi­ schen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten anstelle eines vom Völker­ recht regierten Rechtsverhältnisses“ zum Rechtsgrund für die Einführung der Eigenmittel zu erklären.66 Dagegen meint Messal, dass die Einführung von eigenen Mitteln der Gemeinschaft lediglich „auf eine alleinige, partielle oder akzessorische Ertrags- und Gestaltungskompetenz bei den Finanzmitteln zur Haushaltsfinanzierung, auf die Zuweisung eines politischen Handlungs­ raums durch die Mitgliedstaaten, auf einen eigenverantwortlichen Entschei­ dungsbereich der Europäischen Gemeinschaft“ abzielte, also gerade keine tiefgreifende Umwälzung der Gemeinschaftsstruktur bewirkt.67 Tatsächlich führt die Umstellung auf Eigenmittel in Umkehrung von Ursache und Wirkung der Fugmannschen Annahme zu einer grundlegenden Finanzautonomie der Union, die der föderal-solidarischen Verstrickung der Mitgliedstaaten untereinander förderlich ist und einer möglichen Integration vorgreift. Die subsidiäre68 Finanzierung des EU-Haushalts anhand von Leistungskapazitäten (BNE-Eigenmittel) nimmt die Mitgliedstaaten in solidarische Haftung für die Finanzierung des Unionsprojekts.69 Die Mittelabführungen durch die Mitgliedstaaten gestalten sich weitgehend linear zu ihrer jeweiligen durch das Bruttonationaleinkommen ausgedrückten Wirtschaftskraft. Damit ist ein solidarischer Leistungskraftgedanke in die Einnahmenseite der gemeinschaftlichen Finanzverfassung eingeführt, wenngleich dieser auch nicht immer konsequent angewendet wird.70 Aus föderalistischer Perspektive steht das Eigenmittelsystem in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen Leistungsgerechtigkeit auf der einen und gemeinschaftlicher Finanzautonomie auf der anderen Seite.71 Letztere kommt in den traditionellen Eigenmitteln der Agrarabschöpfungen 66  Fugmann, Der Gesamthaushalt der EG, S. 154; krit. dazu Häde, Finanzausgleich, S. 434, der darauf hinweist, dass auch andere internationale Organisationen sich teilweise durch eigene Mittel finanzieren, ohne in die Nähe eines Bundesstaats zu rücken. 67  Messal, Das Eigenmittelsystem, S. 38. 68  Die BNE-Eigenmittelanteile werden nach Abzug der übrigen Eigenmittel von den budgetierten Ausgaben ermittelt, vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. c EMB 2007. 69  Vgl. Tomuschat, in: FS Pescatore, S. 743; Magiera, in: Grabitz / Hilf, EUV / EGV, Art. 269 EGV [Stand: Juni 2006], Rn. 32; Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der EU, S. 197. 70  Siehe dazu unter A. I. 5 b). 71  Vgl. Waldhoff, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art.  311 AEUV, Rn.  14.

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und Zolleinnahmen zum Tragen, die nicht mehr direkt den Mitgliedstaaten zugerechnet werden können (sog. Rotterdam-Effekt).72 Um eine übermäßige Belastung der wirtschaftlich starken Mitgliedstaaten zu vermeiden, wurden dagegen beim Mehrwertsteuer-Eigenmittel, das an der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ansetzt, Obergrenzen eingeführt.73 Um die Belastung der Mitgliedstaaten insgesamt vorhersehbar und niedrig zu halten, wurde zudem eine allgemeine Obergrenze für die Eigenmittel der Union eingeführt. Damit wird die Beschränkung nationaler Haushalte emuliert, die ihrerseits nur auf eine beschränkte Steuerbasis zurückgreifen können. Da die Union bisher keine eigenen Steuern gegenüber den Mitgliedstaaten erhebt, ist sie an die Knappheit der fiskalpolitischen Ressourcen nicht gebunden.74 Die generelle Obergrenze für die Einnahmenseite des Unionshaushalts liegt derzeit bei 1,24  % des jährlichen Bruttonationaleinkommens (BNE) aller Mitgliedstaaten (Art. 3 Abs. 1 EMB 2007). In wirtschaftlich starken Zeiten kann das durchaus zu einer Entlastung mitgliedstaatlicher Haushalte führen. Wenn etwa die Nettoimporte in das Gebiet der EU steigen, erhöht sich der Anteil der traditionellen Eigenmittel am Gesamthaushalt der Union. Dadurch verringert sich der Ausgleichsbedarf, der durch BNEEigenmittel gedeckt wird. 5. Reformbedarf des Eigenmittelsystems a) Anforderungen an Finanzierungsgerechtigkeit Die Forderung nach einem gerechten Finanzierungsmaß wird nicht lediglich vonseiten der Mitgliedstaaten gestellt. Sie ist auch im Unionsprimärrecht verankert. Im Protokoll über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt75, das als Bestandteil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu dessen Auslegung herangezogen werden 72  Magiera, in: GS Grabitz, S. 420 f. Der Rotterdam-Effekt bezeichnet den Umstand, dass viele Mitgliedstaaten wesentliche Teile ihrer Containereinfuhren über die großen Seehäfen in anderen Ländern (Bsp.: Rotterdam, Antwerpen) abwickeln. Dadurch fallen der Ort der Zollerhebung mit dem Bestimmungsland, d. h. dem Land, in dem die Waren verbraucht oder weiterverarbeitet werden und die Konsumenten höhere Preise zahlen, auseinander. Dadurch kann die Zolleinnahme im integrierten Markt der Gemeinschaft nicht mehr ohne Weiteres dem einnehmenden Land zugerechnet werden; vgl. Busch, Die Zukunft der EU-Finanzierung, S. 7 (u. Fn. 7). 73  Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. b) EMB 2007. 74  Vgl. Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 364 f. Die Grenzenlosigkeit des potentiellen Zugriffs des Unionshaushalts auf mitgliedstaatliche Ressourcen zeigt sich auch im BNE-Eigenmittel, dessen subsidiäre Ergänzungsfunktion grundsätzlich unbeschränkt ist. 75  Protokoll Nr. 28 zum AEUV, ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 310.



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kann, ist festgehalten, dass „dem relativen Wohlstand der Mitgliedstaaten im Rahmen des Systems der eigenen Mittel stärker Rechnung zu tragen“ sei. Dieser Gedanke wurde bereits bei der Absenkung des regressiven MwSt.Eigenmittels berücksichtigt. So heißt es im achten Erwägungsgrund des Eigenmittelbeschlusses von 199476, dass „der Beitragskapazität der einzelnen Mitgliedstaaten im System der Eigenmittel Rechnung zu tragen und für die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten die regressiven Elemente im derzeitigen System der Eigenmittel zu korrigieren“ seien. b) Leistungskraftorientierung des BNE-Eigenmittels Solidarität im gemeinschaftlichen Einnahmensystem verlangt ebenso wie in den föderalstaatlichen Zusammenhängen nach einer Orientierung der Beitragspflicht an der Leistungskraft.77 Auf den ersten Blick scheint diesem Erfordernis Genüge getan mit der Hinwendung zu BNE-abhängigen Finanzierungsanteilen durch das BNE-Eigenmittel. Im geltenden System zahlen die Mitgliedstaaten mit den höchsten Bruttonationaleinkommen sowohl absolut als auch relativ die größten Beträge im BNE-Eigenmittelsystem. Allerdings trügt der Schein, wenn man die Leistungskraft an der Bevölkerungszahl orientiert und auf diese Weise Verzerrungen der absolut sehr hohen Beitragsdifferenzen beseitigt.78 Die Pro-Kopf-Orientierung ermöglicht eine bessere Vergleichbarkeit der Beiträge und liefert einen Anhaltspunkt für die reelle Belastungsverteilung nach Leistungskraft der Mitgliedstaaten.79 Einen Überblick über die Pro-Kopf-Belastung der Mitgliedstaaten durch das BNE-Eigenmittel bietet Abbildung 1.

76  Beschluss des Rates vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: EMB 1994), ABl. L 293 vom 12. November 1994, S. 9. 77  Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 383; Franzmeyer / Seidel, Überstaatlicher Finanzausgleich und europäische Integration, S. 176; Hatje, EuR 2005, 148 (153). Siehe hierzu etwa die jüngere Debatte über die Abschaffung der Sonderförderung der „neuen“ Bundesländer (Solidarpakt) in Deutschland, vgl. Süddeutsche vom 20. März 2012: „Ruhrgebiet will Osten Solidarität aufkündigen“. 78  Auf der Ausgabenseite (Art. 174  ff. AEUV) wird die Pro-Kopf-Orientierung bei der Bemessung der Wirtschaftskraft ohne Weiteres vorgenommen (vgl. z. B. Art. 5 Abs. 1 VO 1083 / 2006, ABl. L 210 vom 31. Juli 2006, S. 25). 79  Entsprechende Vorschläge hatte Mitte der 1990er Jahre bereits der damalige Präsident des Europäischen Rechnungshofes Friedmann vorgebracht, insbesondere um die finanzielle Belastung der Bundesrepublik Deutschland zu senken, konnte jedoch damit nicht durchdringen.

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14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0%

BNE (BIP) pro Kopf (prozentual) BNE-Eigenmittelanteil (pro Kopf) prozentual BNE-EM (pro Kopf) prozentual, korrigiert um Reduzierungen zugunsten von Schweden und der Niederlande gem. Art. 2 Abs. 5 EMB 2007 Quelle: EU-Haushalt 2012 und eigene Berechnungen

Abbildung 1: Anteilige Pro-Kopf-Belastung BNE-Eigenmittel80

(1) Redistributive Pro-Kopf-Belastung Aus Abbildung 1 wird ersichtlich, dass die Pro-Kopf-Belastung mit BNEEigenmitteln in etwa mit dem Verhältnis des Pro-Kopf-BIP(-BNE) des jeweiligen Mitgliedstaats korrespondiert. Ausnahmen hiervon bilden Irland und Luxemburg, die beide ein sehr hohes Pro-Kopf-BNE aufweisen. Allerdings ergeben sich auch einige arithmetische Ausschläge, die nicht in der Wirtschaftskraft des jeweiligen Mitgliedstaates begründet sind und durch die Rabatte für die Niederlande und Schweden gemäß Art. 2 Abs. 5 EMB 2007 noch verstärkt werden. Deutschland, das den größten Anteil am BNE-Eigenmittel trägt (20,77 %)81 – dieser Anteil entspricht genau dem Anteil des deutschen BNE am Gesamt-BNE in der EU –, wird einwohner80  Siehe hierzu die detaillierte Tabelle 3 im Anhang. Zum Zeitpunkt der Berechnungen war Kroatien noch nicht Mitglied der EU und konnte somit nicht berücksichtigt werden. 81  Angaben siehe Kommission, Entwurf des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2012, (KOM(2011) 300 endgültig), Teil A, S. 2.



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bereinigt nur mit 5,05 % der gesamten BNE-Eigenmittel belastet (Pro-KopfBNE-Eigenmittelanteil). Diese Belastung übersteigt Deutschlands Anteil am Pro-Kopf-BNE (Pro-Kopf-BNE-Anteil) der Mitgliedstaaten um ca. 6 %, stellt also eine relative Überbelastung im BNE-Eigenmittelsystem dar. Das Gleiche trifft auf andere Mitgliedstaaten mit einem überdurchschnittlichen ProKopf-Nationaleinkommen (Pro-Kopf-BNE) zu. Belgien (107 %)82, Dänemark (106 %), Frankreich (107 %), Italien (102 %), Finnland (110 %), Schwe­ den (109 %) und das Vereinigte Königreich (105 %)83 sind im Verhältnis ihrer Pro-Kopf-BNE-Eigenmittelanteile zu ihren Pro-Kopf-BNE-Anteilen (relativer Belastungsquotient des BNE-Eigenmittels) überbelastet. Insofern ist man geneigt, eine Leistungkraftorientierung und damit einen leichten Redistributiveffekt anzunehmen, da die wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten pro Kopf stärker in Anspruch genommen werden, als es ihrer im BNE ausgedrückten Wirtschaftskraft entspricht.84 (2) Ü  berproportionale Pro-Kopf-Belastung schwächerer Mitgliedstaaten Auch Mitgliedstaaten, deren Pro-Kopf-BNE zu den geringeren in der Union gehören, werden teilweise proportional überbelastet. Diese Effekte bestanden schon vor den Rabatten für Schweden und die Niederlande gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 EMB 2007, wurden durch diese Maßnahmen indes noch verstärkt. Eklatant sind hier Zypern (relativer Belastungsquotient von 104 % vor den Rabatten, 106 % nach Rabatten), Litauen (108 %, 109 %), Ungarn (109 %, 110 %), Polen (108 %, 110 %), Rumänien (109 %, 111 %) und die Slowakei (108 %, 109 %). Gerade bei diesen wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten fällt allerdings die Mehrbelastung pro Kopf schwerer ins Gewicht. 82  Relativer Belastungsquotient aus dem Verhältnis Pro-Kopf-BNE-Eigenmittelanteil (prozentual) zu Pro-Kopf-BNE-Anteil (prozentual); alle Werte gerundet. 83  Allerdings noch ohne Berücksichtigung der VK-Korrektur. 84  Insofern Häde, Der Finanzausgleich in der Europäischen Union, S. 5 meint, dass es sich schon aufgrund der linearen Verteilung der Anteile (siehe auch den Vorschlag progressiver Einnahmenallokation von Emmerling, Von der Strukturpolitik zum europäischen Finanzausgleich?, S. 5) nicht um einen Bestandteil eines Finanzausgleichs zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten handelt, da alle Mitgliedstaaten gleichmäßig zur Finanzierung der Aufgaben und Ausgaben beitragen, geht er fehl. Die wohlhabenderen Mitgliedstaaten partizipieren auch in größeren sowohl relativen (vgl. Anteilsschlüssel des BNE-Eigenmittels) als auch absoluten Anteilen an den Eigenmitteln (vgl. Tabelle 3 und 4 im EU Haushaltsplan 2012 (2012  /  70  /  EU, Euratom). Daher meint wohl auch Tomuschat, in: FS Pescatore, S. 746, dass die BNE-Eigenmittel „in geradezu idealer Weise dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit Rechnung tragen“.

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(3) Der „Juste retour“-Gedanke Durch die politisch motivierten Verschiebungen in den BNE-Eigenmittelanteilen der Mitgliedstaaten ist die Stabilität der Integration insgesamt gefährdet. Das föderalistische Stabilitätsnormativ der Abschöpfung (Einnahmenallokation) nach Leistungskraft und der Zuteilung (Ausgaben) nach Bedürfnis wird durch die „Nettozahler“-Diskussion der beitragsstarken Mitgliedstaaten ebenso verzerrt, wie die allokativen Aspekte des EU-Haushalts mit den distributiven vermengt werden.85 Die bloße Bilanzierung von Zahlungsströmen in der „Nettozahler“-Debatte erfolgt aber im juristisch luftleeren Raum. Eine derart buchhalterische Argumentation ignoriert Wertungen und Vorgaben des Unionsrechts wie etwa den Kohäsionsauftrag (Art. 174 AEUV).86 Ebenso vernachlässigt werden ausgleichende Zahlungsströme durch die gemeinschaftlichen Ausgaben. Die Frage von distributiver Gerechtigkeit wird in föderalen Ordnungen schließlich auch getrennt von jener der Allokationsgerechtigkeit formuliert. Die Leistungskrafterwägungen zu Zahlungsverpflichtungen innerhalb von Finanzausgleichssystemen sind zumeist getrennt von etwaigen Bedürfniskriterien in der Mittelzuteilung angesetzt.87 Daher entspricht eine Argumentation, welche die Einnahmen von den Ausgaben getrennt bewertet, den in föderalen Ordnungen gängigen Beurteilungsmaßstäben. Ebenso gut könnte für die Einnahmenseite (Eigenmittelsystem) eine Überlastungsargumentation der Mitgliedstaaten mit kleineren BNE (BIP) pro Kopf folgen. c) Ökonomische Obsoleszenz des VK-Korrekturmechanismus Der Unionshaushalt hat sich seit der Einführung des VK-Korrekturmechanismus vor allem in den Anteilen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) deutlich verändert. Der Anteil der GAP am Haushalt ist von 69 % (1984) auf 44 % (2011) abgesunken. Zeitgleich hat auch die Bedeutung der MwSt.-Eigenmittel deutlich abgenommen. War das MwSt.-Eigenmittel im Jahr 1984 mit 57 % des Haushalts noch Schwerpunkt der Mittelausstattung, betrug der Anteil im Jahr 2011 nur noch 11 %. Zugleich hat das Vereinigte Königreich wirtschaftlich bedeutend zugelegt, sodass es von einem unterdurchschnittlichen BNE 85  Ebenso Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S.  382 f. 86  Vgl. Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 379. 87  Vgl. Art. 104 GG i. V. m. FAG; Art. 135 Abs. 3 S. 2 BV i. V. m. FiLaG (Finanzierung des Ressourcenausgleichs durch wohlhabendere Kantone); matching require­ ment der amerikanischen grant programs; Abzugsfaktor der Entwicklung der Steuereinnahmen in Art. 20 Abs. 1 Ley 22 / 2009.



A. Solidarische Einnahmenallokation169

(93 % der EU-10) im Jahr 1984 zu einem überdurchschnittlichen BNE (111 % der EU-27) im Jahr 2011 angewachsen ist.88 Der Korrekturmechanismus hat dazu geführt, dass das Vereinigte Königreich trotz seines relativ hohen Wohlstands gemessen am prozentualen Anteil seines Beitrages am BNE-Eigenmittel den niedrigsten Nettobeitrag zum EU-Haushalt leistet.89 Die Kommission hat demzufolge zwar generell anerkannt, dass es zu übermäßigen Haushaltsbelastungen der Mitgliedstaaten kommen und somit allgemein ein Korrekturmechanismus gerechtfertigt sein kann. Allerdings sei der bisherige VK-Korrekturmechanismus angesichts der Entwicklung des Haushalts und des Wohlstands im Vereinigten Königreich übermäßig und daher reformbedürftig.90 Für den Finanzrahmen 2014–2020 schlägt die Kommission daher vor, den komplexen Korrekturmechanismus durch Pauschalabzüge zu ersetzen. Das betrifft auch die Annexrabatte einiger Mitgliedstaaten. Nach Art. 4 Abs. 2 des Entwurfs des Eigenmittelbeschlusses 2014 (EMB-Entwurf 2014) der Kommission soll Deutschland insgesamt 2,5 Mrd. Euro, die Niederlande 1,05 Mrd. Euro, Schweden 350 Mio. Euro und das Vereinigte Königreich 3,6 Mrd. Euro Bruttoermäßigung erhalten. Die Kosten der in Art. 4 genannten Korrekturen sind von allen Mitgliedstaaten im Verhältnis zu ihrem jeweiligen Anteil am BNE-Eigenmittel zu tragen (Art. 5 EMB-Entwurf 2014). Damit würde die VK-Korrektur zwar etwas beschränkt werden. Jedoch würden die anderen rabattberechtigten Mitgliedstaaten nun ebenfalls in künstliche Sonderstellungen im Eigenmittelsystem gehoben. d) Fehlorientierung der VK-Korrektur Die Belastung mitgliedstaatlicher Haushalte durch die Beitragsfinanzierung mit dem VK-Korrekturmechanismus verstößt gleich auf zweifache Weise gegen das solidarische Grundprinzip der Leistungskraftorientierung. Einerseits entspricht die Reduktion des britischen Nettobeitrags, wie oben gezeigt, nicht dessen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die absolute Fest88  Alle Angaben siehe KOM(2011) 510 endg., S. 7. Zu beachten ist hier der statistische Effekt, den die Erweiterung der EU ab 2005 bewirkt hat. Mit der Aufnahme von zehn (2005) und noch einmal zwei (2007) Mitgliedstaaten mit unterdurchschnittlicher Wirtschaftsleistung ist der Durchschnitt insgesamt abgesunken. Auf die EU-10 Mitgliedstaaten bezogen war das bereinigte BNE (BIP) des Vereinigten Königreichs im Jahr 2010 im Zuge der Krise und des Einbrechens des Finanzsektors, der im Vereinigten Königreich traditionell große Anteile im BNE (BIP) hat, unterdurchschnittlich (83 %), nachdem es in den Jahren vor der Finanzkrise leicht über dem Durchschnitt gelegen hatte (100–102 % in den Jahren 2005–2007) und auch die BNE (BIP) von Deutschland, Frankreich und Italien übertroffen hatte; alle Angaben: eigene Berechnungen anhand von Eurostat-Angaben. 89  SEK(2011) 876 endgültig, S. 49. 90  KOM(2011) 510 endg., S. 7.

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

legung, dass jedweder „Nettosaldo“ des Vereinigten Königreichs pauschal um 66 % zu hoch sei, ist an keinem relativen Wirtschaftskraftkriterium oder gar an einer sachbereichsorientierten Benachteiligung ausgerichtet.91 Andererseits belastet die Finanzierung dieser Ausnahme die Haushalte der anderen Mitgliedstaaten insgesamt über Gebühr – das umso mehr, als sich hierbei einige Mitgliedstaaten eigene Ausnahmetatbestände geschaffen haben und die Last der übrigen noch weiter erhöhen. e) Belastungsdifferenzen im gesamten Eigenmittelsystem Die für das BNE-Eigenmittel festgestellten Allokationsdiskrepanzen setzen sich in den übrigen Eigenmittelarten fort. Die Gesamtbelastung der Mitgliedstaaten zeigt eine zutiefst unsolidarische Verteilung der Belastungen. Am sichtbarsten wird dies durch zwei Indikatoren. Die absolute Belastungsquote als Verhältnis des jeweiligen Pro-Kopf-Anteils eines Mitgliedstaates am BNE-Eigenmittel zum Pro-Kopf-BNE des Mitgliedsstaates gibt Auskunft darüber, wie viel ein Mitgliedstaat von seiner Wirtschaftskraft absolut für die Finanzierung des EU-Haushalts ausgibt. Daneben zeigt der relative Belastungsquotient als Verhältnis des jeweiligen prozentualen Pro-Kopf-BNE-Eigenmittelanteils zum prozentualen Pro-Kopf-BNE-Anteil des jeweiligen Mitgliedstaates dessen Belastung im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten an. Abbildungen 2 und 3 zeigen die Veränderungen des relativen Belastungsquotienten durch die verschiedenen Rabattsysteme auf. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen zum Teil extreme Belastungsunterschiede in der Gesamtverteilung des Eigenmittelsystems. Die relative Belastung, gemessen am relativen Belastungsquotienten, übersteigt für einige Mitgliedstaaten, deren BNE unterdurchschnittlich ist, ihren Pro-Kopf-BNE-Anteil mitunter extrem. Bulgarien, Slowenien (jeweils 110 %)92, Malta (108 %), Estland, Zypern, Litauen, Rumänien (jeweils 112 %) und vor allem Ungarn (114 %) und Polen (115 %) tragen wesentlich mehr zur Finanzierung des Haushalts bei, als es ihren jeweiligen BNE-Anteilen entspricht. Auch absolut (Belastungsquote) tragen diese Mitgliedstaaten eine überproportionale Last. Während die durchschnittliche Belastungsquote bei 0,92 % liegt, beträgt sie für die genannten Länder durchweg über 0,98 %. Besonders hoch ist die absolute Belastung für Ungarn (1,01 % des Pro-Kopf-BNE) und ­Polen (1,03 %). Dagegen finden sich vergleichbare Überbelastungen nur bei wenigen Mitgliedstaaten mit einem überdurchschnittlichen Pro-Kopf-BNE wie etwa Belgien (111 % relativ, 0,98 % absolut), Frankreich (112 %, 0,99 %) und Finnland (114 %, 1,01 %). 91  Messal, 92  Alle

Das Eigenmittelsystem, S. 123. Werte gerundet; vgl. auch Tabelle 4 im Anhang.



A. Solidarische Einnahmenallokation171 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0%

BNE (BIP) pro Kopf EM-Anteil pro Kopf EM-Anteil pro Kopf, inklusive Abzüge für Schweden und Niederlande gem. Art. 2 Abs. 5 EMB 2007 EM-Anteil pro Kopf, inklusive VK-Korrektur gemäß Art. 4 EMB 2007 EM-Anteil pro Kopf nach dem EMB-Entwurf 2014

Quelle: EU-Haushalt 2012 und eigene Berechnungen

Abbildung 2: Pro-Kopf-Anteil Eigenmittel-Beiträge* der MS mit überdurchschnittlichen BNE * ohne traditionelle Eigenmittel, da diese den Mitgliedstaaten nicht mehr unmittelbar zuzurechnen sind 5%

4%

3%

2%

1%

0%

Quelle: EU-Haushalt 2012 und eigene Berechnungen

Abbildung 3: Pro-Kopf-Anteil Eigenmittel-Beiträge der MS mit unterdurchschnittlichen BNE93 93  Siehe

zu Abbildung 2 und 3 die detaillierte Tabelle 4 im Anhang.

172

3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

Gravierend sind überdies die Auswirkungen der verschiedenen Rabatte und der VK-Korrektur auf die Beitragsstruktur. Deutschland (97 % relativ, 0,86 % absolut), Irland (86 %, 0,76 %), Luxemburg (87 %, 0,77 %), die Niederlande (81 %, 0,72 %), Schweden (97 %, 0,86 %) und vor allem das Vereinigte Königreich (78 %, 0,69 %) werden im geltenden System pro Kopf erheblich unterbelastet. Daran ändert auch die von der Kommission für den nächsten Eigenmittelbeschluss geplante Reform nichts. Durch die Abschaffung des MwSt.-Eigenmittels und die Einführung einer EU-Steuer94 wird zwar für alle Mitgliedstaaten der BNE-Eigenmittelanteil sinken. Allerdings verbessert sich teilweise nochmals die Belastungsstruktur für die ohnehin bevorzugten Mitgliedstaaten Deutschland, Irland, Luxemburg und das Vereinigte Königreich.95 Dadurch wird die inhärent ungerechte Pro-Kopf-Belastungsverteilung im Eigenmittelsystem perpetuiert. 6. Eigener Reformansatz Privilegien und Pfründe Einzelner verringern die Akzeptanz des Verteilungsmechanismus und schmälern damit dessen normative Kraft.96 Um solidarische Bande nicht erodieren zu lassen, sollten der sog. „Britenrabatt“ und die anderen Beitragsrabatte zu Ungunsten anderer Mitgliedstaaten dringend abgeschafft werden. Da die nunmehr historisch zu nennenden Ausnahmen im Bewusstsein gerade auch der Profiteure fest verankert sind, sollte das Rabattsystem in seiner heutigen Form schrittweise, etwa durch Auslaufen, beseitigt werden.97 94  2 % auf einheitliche MwSt.-Bemessungsgrundlage und Finanztransaktionssteuer; siehe dazu unter III. 95  Die Belastungsquote (EU-Durchschnitt: 0,79 %) variiert bei den vorgenannten Mitgliedstaaten dann bei 0,61–0,74 % und der relative Belastungsquotient zwischen 80–96 %; siehe fünfter Balken in Abbildung 2 und 3, sowie letzte Spalte der Tabelle 4 im Anhang. 96  Vgl. Häde, Finanzausgleich, S. 487 f.; Bieber, in: Bieber / Epiney / Haag (Hrsg.), Die Europäische Union, § 5 Rn. 14; a.  A. Gussone, Das Solidaritätsprinzip in der EU, S. 196, der meint, dass das Solidaritätsprinzip in der Beitragsrabatte weder für noch gegen die Rabatte spreche; Hieronymi, Solidarität als Rechtsprinzip, S. 106 sieht die Rabatte gar als solidarisch geboten an; ebenso zumindest für den grundsätzlichen Ausgleichsgedanken Tomuschat, in: FS Pescatore, S. 749: „Wenn mehr als die Hälfte der Ausgaben der Gemeinschaft über die Abteilung Garantie des Agrar­ fonds geleistet werden, so muss dem Staat, der diese Mittel nur in geringerem Maße in Anspruch nimmt, ein gerechter Ausgleich jedenfalls dann gewährt werden, wenn sein Bruttosozialprodukt hinter dem Gemeinschaftsdurchschnitt zurückbleibt.“ 97  So auch Punkt 11 der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 29. März 2007 zur Zukunft der Eigenmittel der Europäischen Union (2006 / 2205(INI)), ABl. C 27E vom 31. Januar 2008, S. 214.



A. Solidarische Einnahmenallokation173

a) Mögliche Ausgestaltungen eines neuen Korrekturmechanismus (1) Flexibilisierung des Globalausgleichs Um auch den hinter den vielschichtigen Rabattsystemen stehenden legitimen Überlastungsbefürchtungen Einhalt zu gebieten, könnte das Rabattsystem vereinheitlicht und als eine allgemeine Beitragsobergrenze etabliert werden. Entsprechende Pläne hatte bereits im Jahr 2004 das damalige Kommissionsmitglied Schreyer vorgelegt.98 In der Tat verlangt das FontainebleauPrinzip der Beitragsermäßigung in Fällen übermäßiger Haushaltslasten keine ständige Anwendung.99 Ein allgemeiner Korrekturmechanismus bei einer im Einzelfall übermäßigen Haushaltslast eines Mitgliedsstaates kann vielmehr auch als flexibles Instrument zur solidarischen Verteilung der Finanzierungslasten der EU genutzt werden. Die von der Kommission angestoßenen Reformbestrebungen zur allgemeinen Anwendbarkeit des Korrekturmechanismus nach noch zu spezifizierenden Kriterien gehen in diese Richtung. (2) Angepasste BNE-Eigenmittel-Anteile Eine andere Möglichkeit, das Eigenmittelsystem solidarischer zu gestalten, setzt am BNE-Eigenmittel-Verteilungsschlüssel an. Ausgehend von der absoluten Belastungsquote wird ein primärer Grenzbetrag festgelegt. Dieser wird 0,8  % des Pro-Kopf-Verhältnisses aus BNE-Eigenmittelanteil und BNE-Anteil des jeweiligen Mitgliedstaates betragen. Der Wert entspricht in etwa der Belastungsquote, die der Reformvorschlag der Kommission für den EMB 2014 zur Folge hätte.100 Der Basisschlüssel für die Verteilung der BNE-Eigenmittelanteile unter den Mitgliedstaaten entspricht dem Pro-KopfBNE-Anteil des jeweiligen Mitgliedstaates am Pro-Kopf-Gesamt-BNE der Union. Für Deutschland käme damit z. B. ein Beitragssatz von 4,74 % am BNE-Eigenmittel zustande. Der im Haushaltsverfahren festgestellte Finanzbedarf, der durch das BNE-Eigenmittel zu decken ist, wird im ersten Schritt auf die festgelegten BNE-Eigenmittelanteile angewandt und bei 0,8 % Belastungsquote (Grenzbetrag) gekappt. Der verbleibende Differenzbetrag wird auf diejenigen Mitgliedstaaten umgelegt, die ihre Belastungsquote mit ihrem Grundanteil am BNE-Eigenmittel noch nicht ausgeschöpft haben. Auf sie entfällt der 98  Sog. „Schreyer-Bericht“, KOM(2004)0505 / endg. / 2 vom 14. Juli 2004; ablehnend wegen der „gemeinschaftsfeindlichen“ Zementierung des Prinzips der „gerechten Gegenleistung“: Entschließung des Europäischen Parlaments (2006 / 2205(INI)), ABl. C 27E vom 31. Januar 2008, S. 214 (Punkt 19). 99  Kommission in SEK(2011) 876 endgültig, S. 51. 100  Siehe Tabelle 5 im Anhang.

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

Differenzbetrag im jeweiligen Verhältnis ihrer Belastungsspielräume zueinander. Für Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Leistungskraft würde die Berechnung folgendermaßen erfolgen:101 Tabelle 1 Berechnung der BNE-Anteile (eigener Reformvorschlag)102 Deutschland

Rumänien

BNE-Eigenmittelanteil (absolut), entspricht Pro-Kopf-BNE-Anteil

  4.444.638.963 €

850.788.976 €

Obergrenze 0,8 % des BNE

19.828.223.040 €

995.846.080 €

Spielraum

15.383.584.077 €

145.057.104 €

Anteil am Differenzbetrag entspricht BNE-Anteil insgesamt Belastungsquote relativer Belastungsquotient

29,98 %

0,28 %

14.136.386.170 €

133.296.846 €

18.581.025.133 €

984.085.822 €

0,75 %

0,79 %

94,93 %

100,11 %

Quelle: Eigene Berechnungen

Mit dieser Methode würde die mitgliedstaatliche Belastung im BNE-Eigenmittelsystem weitgehend harmonisiert. Die BNE-Eigenmittelanteile würden durchschnittlich den BNE-Anteilen der Mitgliedstaaten untereinander voll entsprechen, mit geringer Varianz im Bereich von 95–101 %. Daneben würde ebenso die absolute Belastung gesenkt. Die Mitgliedstaaten würden durchschnittlich 0,79 % ihres Pro-Kopf-BNE für die Pro-Kopf-BNE-Eigenmittel aufwenden, mit einer Varianz im Bereich von 0,75–0,8 %. Auch dem Vergleich mit dem Reformvorschlag der Kommission im EMB 2014 hält das hier vorgeschlagene Modell durchaus stand. Die durchschnittliche Belastungsquote von 0,92 % mit den erheblichen Ausschlägen im Bereich 0,69– 1,01 % nach dem Kommissionsentwurf wird nicht annähernd erreicht. Zwar würden die wirtschaftlich stärksten Mitgliedstaaten Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich auch im vorgeschlagenen System absolut und relativ pro Kopf leicht bevorzugt.103 Diese Abweichung 101  Zugrunde gelegt ist ein zu deckender BNE-Eigenmittelbedarf von 93.718.806.385 €, Angabe aus dem EU-Haushaltsentwurf 2012. 102  Vgl. alle Werte Tabelle 5 im Anhang. 103  Diese Berechnungen gehen von der Lage des EU-Haushalts 2012 aus. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise können sich noch teils erhebliche Verschiebungen in der Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedstaaten ergeben. Vor allem



A. Solidarische Einnahmenallokation175

wird aber vollständig von den absoluten Beträgen dieser Mitgliedstaaten kompensiert.104 Damit gewährleistet die Annäherung der Pro-Kopf-BNE-Eigenmittelanteile nach dem vorgeschlagenen Modus eine solidarische Belastung der Mitgliedstaaten im Eigenmittelsystem, die im gegenwärtigen System und auch im von der Kommission geplanten EMB 2014 nicht erreicht wird.105 Die Orientierung an der reellen Pro-Kopf-Leistungskraft der Mitgliedstaaten gewährleistet eine bessere Annäherung des sozialen und wirtschaftlichen Lebensstandards, während ein relativer und absoluter Leistungsabstand zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedstaaten erhalten bleibt.106 Zuletzt würde die Zielgröße der Pro-Kopf-Belastung auch maßgeblich dazu beitragen, dem EU-Bürger die Kosten der Union transparenter zu machen. Er könnte nicht nur den eigenen Beitrag leicht ermitteln, sondern diesen auch mit dem Beitrag anderer EU-Bürger aus den weiteren Mitgliedstaaten vergleichen. Somit wäre ein identifikationsstiftender Beitrag zur Transparenz und Versachlichung der nicht enden wollenden Debatte über Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union geleistet. (3) Variante: Leichte Progression Während das vorgestellte System den Charme hat, dass es im bestehenden Eigenmittelsystem umsetzbar ist, da lediglich der Berechnungsmodus geändert wird, verzichtet es auf einen progressiven Faktor, der die Umverteilung durch die höhere Beanspruchung leistungsstarker Mitgliedstaaten gewährleisten würde. Ungeachtet der politischen Durchsetzbarkeit ließe sich jedoch ebenfalls ein Modell einführen, das eine leichte Progression vorsieht. Zugrunde gelegt würde hierbei eine Mindestbelastung von 0,7 % des ProKopf-BNE. Eine Obergrenze sei wiederum bei 0,8 % des Pro-Kopf-BNE festgelegt. Wenn der Mittelbedarf nicht durch die Anteile der MitgliedstaaSpanien und Italien droht eine weitere Verschlechterung ihrer finanziellen Situation, sodass ihr Gewicht im BNE-Eigenmittellsystem sich noch erheblich verschieben kann. Gegebenenfalls wird das System dann anzupassen sein. 104  Siehe hierzu Tabelle 4 im Anhang. Das vorgeschlagene System würde trotz der annähernd vollständigen Harmonisierung der Belastungsquoten für einige Mitgliedstaaten einen erheblichen Beitragsanstieg bedeuten. Irland, Luxemburg, die Niederlande und das Vereinigte Königreich müssten zwischen 1 / 5 und 1 / 4 mehr für ihren BNEEigenmittelbeitrag aufwenden als nach dem Reformvorschlag der Kommission im EMB 2014. Allerdings hatten diese Länder ohnehin eine unsolidarisch niedrige Belastungsquote. Überdies wird diesen Mitgliedstaaten der geplante Wegfall des MwSt.Eigenmittelanteils entgegenkommen, sodass sie letztlich insgesamt entlastet wären. 105  Siehe dazu Abbildungen 2 und 3. 106  Ohler, Die fiskalische Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 379 folgert dieses Abstandsgebot aus dem allgemeinen Solidaritätsgedanken der Gemeinschaft.

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3. Kap.: Struktur einer Europäischen Finanzverfassung

ten nach der Mindestbelastung gedeckt werden kann, wird der Differenzbetrag von den Mitgliedstaaten aufgefüllt, die ein überdurchschnittliches ProKopf-BNE aufweisen und zwar bis zur Höhe der Obergrenze (0,8  %). Sollte der Bedarf dadurch noch immer nicht gedeckt sein, etwa weil die EU in ihrem Haushaltsplan die Struktur- und Kohäsionsfonds enorm aufstockt, wird der wiederum verbleibende Differenzbetrag unter allen Mitgliedstaaten nach dem prozentualen Anteil ihrer Wirtschaftskraft, ausgedrückt in BNE, am Gesamt-BNE der EU-27 aufgeteilt.107 Bei einem geringen Mittelbedarf, d. h. wenn der Spielraum, den die 0,8 %-Grenze gewährt, von den überdurchschnittlich wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten nicht ausgeschöpft wird, wird zunächst ein fiktiver Ausgleichsbetrag gebildet, der den gesamten Spielraum der überdurchschnittlich wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten berücksichtigt. Dann wird der so entstandene Überschuss als virtueller Rückfluss auf alle Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftsleistung zurückgezahlt. Dadurch wird nicht nur der Anteil der Mehrbelastung dieser Mitgliedstaaten oberhalb der Untergrenze (0,7 %) und innerhalb des Spielraums (