Geographien der Grenzen: Räume – Ordnungen – Verflechtungen [1. Aufl.] 9783658309497, 9783658309503

Der Sammelband diskutiert den Zusammenhang von Räumen, Ordnungen und Verflechtungen. Die Autor*innen aus den Raum-, Sozi

406 103 8MB

German Pages XIV, 411 [414] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Front Matter ....Pages 1-1
Entwicklungslinien der Border Studies und Zugänge zu Geographien der Grenzen (Florian Weber, Christian Wille, Beate Caesar, Julian Hollstegge)....Pages 3-22
Front Matter ....Pages 23-23
Räumliche Identifikationen und Identifizierungen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux (Christian Wille)....Pages 25-53
Zur Rolle von Strukturen und Kontingenz – das Beispiel des grenzüberschreitenden Pendelns im Alpenraum (Anna Heugel, Tobias Chilla)....Pages 55-72
Energy Borderlands – eine Analyse medialer Aushandlungsprozesse um das Kernkraftwerk Cattenom in der Großregion SaarLorLux (Juli Biemann, Florian Weber)....Pages 73-94
Planungskulturelle Vielfalt in Grenzräumen – Theoretische und methodische Ansätze zur grenzüberschreitenden Raumplanung (Beate Caesar, Estelle Evrard)....Pages 95-116
Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung im Spannungsfeld unterschiedlicher Dimensionen von Distanz – das Beispiel der Großregion (H. Peter Dörrenbächer)....Pages 117-142
Front Matter ....Pages 143-143
Zur Konstitution multipler Borderlands im Zuge der Frankreichstrategie des Saarlandes (Nora Crossey, Florian Weber)....Pages 145-166
Re-Figuration von Grenzen und Ordnungen im sozialen Raum. Konzeptualisierung eines Analysemodells partizipativer Governance in EU-Grenzregionen (Peter Ulrich)....Pages 167-190
Grenzgeographien der COVID-19-Pandemie (Florian Weber, Christian Wille)....Pages 191-223
(Un-)Ordnungen der Kontrolle. Politische Auseinandersetzungen um das Asylsystem der Europäischen Union nach der Krise des Grenzregimes 2015 (David Niebauer)....Pages 225-245
Front Matter ....Pages 247-247
Mehr-als-menschliche Grenzen: Die Neuverhandlung des europäischen Grenzregimes im Kontext der Afrikanischen Schweinepest (Larissa Fleischmann)....Pages 249-267
In Beton gegossene Grenzen: Wie Mauern als Instrumente der Macht die Realität des Raums verändern (Marc Engelhardt)....Pages 269-286
Counter-Mapping Corporeal Borderlands: Border Imaginaries in the Americas (Astrid M. Fellner)....Pages 287-300
Sehnsuchtsräume und Beheimatungsstrategien jamaikanischer Frauen in Montreal (Lisa Katharina Johnson)....Pages 301-315
Front Matter ....Pages 317-317
Migration and Urbanity in Rural Areas. Developments in the German-Luxembourg Border Region (Elisabeth Boesen, Gregor Schnuer, Christian Wille)....Pages 319-342
The city’s internal boundaries in the light of socio-territorial realities (Jean-Marc Stébé, Hervé Marchal)....Pages 343-355
Hybrid Urban Borderlands. (Albert Roßmeier)....Pages 357-389
Postmoderne Siedlungsentwicklungen in Baton Rouge, Louisiana: Stadtlandhybridität und Raumpastiches zwischen Begrenzungen und Entgrenzungen (Olaf Kühne, Corinna Jenal, Lara Koegst)....Pages 391-411
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Geographien der Grenzen: Räume – Ordnungen – Verflechtungen [1. Aufl.]
 9783658309497, 9783658309503

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Räume – Grenzen – Hybriditäten

Florian Weber · Christian Wille Beate Caesar · Julian Hollstegge Hrsg.

Geographien der Grenzen

Räume – Ordnungen – Verflechtungen

Räume – Grenzen – Hybriditäten Reihe herausgegeben von Astrid M. Fellner, Anglistik, Amerikanistik & Anglophone Kulturen, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland Olaf Kühne, Forschungsbereich Geographie, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland Florian Weber, Fachrichtung Geographie | Europastudien, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland

Im Kontext des Aufbrechens von Eindeutigkeiten durch kulturelle und soziale Hybridisierungen, durch die partielle Verschmelzung und Neuordnung von lokal, regional, national und global verlieren Grenzen wie auch räumliche Bezüge an Klarheit und Verbindlichkeit. Supranationalstaatlich einzuordnende Migrationsströme wirken bis in lokale Räume. Die Metropolisierung der Welt folgt globalen Mustern und manifestiert sich zugleich lokal sehr unterschiedlich. Und auch Kulturalität, Diversität und Gender entziehen sich einer einfach verortbaren Betrachtungsebene. Übergreifend gehen mit unterschiedlich gearteten Umbrüchen vielfältige und differenzierte In- und Exklusionsprozesse einher. Neue Grenzen werden gezogen, in Frage gestellt und verändert – physisch, kulturell, sozial, politisch, mental etc. –, wobei gleichzeitig ehemals eindeutig scheinende Unterscheidungsmuster unscharf werden. Es entstehen Felder eines in-betweens und sowohl-als-auchs, in dem Hybridisierungen stattfinden. Diese Uneindeutigkeiten lösen mitunter Angst aus und führen wiederum zu einem Gefühl der Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Mit der Reihe „Räume – Grenzen – Hybriditäten“ im Verlag Springer VS wird ein inter- und transdisziplinäres Forum geboten, das sich an Soziologie, Kultur- und Literaturwissenschaften, Geographie, Border Studies und weitere inhaltlich tangierte Disziplinen richtet. Ziel ist es, komplexe Veränderungsprozesse in aktueller ebenso wie in historischer Perspektive zu fokussieren sowie Grenzziehungen und gleichzeitig Hybridisierungen zu konzeptionalisieren. Die übergreifende Klammer bildet ein konstruktivistischer Zugang, mit dem die ,Gemachtheit‘ und Wandelbarkeit von Räumen, Grenzen, Kulturen betont und analysiert wird.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16329

Florian Weber · Christian Wille · Beate Caesar · Julian Hollstegge (Hrsg.)

Geographien der Grenzen Räume – Ordnungen – Verflechtungen

Hrsg. Florian Weber Fachrichtung Geographie Universität des Saarlandes Saarbrücken, Deutschland

Beate Caesar FB Raum- und Umweltplanung Technische Universität Kaiserslautern Kaiserslautern, Deutschland

Christian Wille Faculty of Humanities, Social and Educational Sciences, Department of Geography and Spatial Planning Université du Luxembourg Esch-Sur-Alzette, Luxemburg Julian Hollstegge Politische Geographie Universität Bayreuth Bayreuth, Deutschland

ISSN 2662-1932 ISSN 2662-1940  (electronic) Räume – Grenzen – Hybriditäten ISBN 978-3-658-30949-7 ISBN 978-3-658-30950-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einführung Entwicklungslinien der Border Studies und Zugänge zu Geographien der Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Florian Weber, Christian Wille, Beate Caesar und Julian Hollstegge 1 Einleitung: Grenz(ziehung)en. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2 Entwicklungslinien der Border Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3 Geographien der Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4 Perspektiven dieses Sammelbandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Grenzregionale Beziehungen und Räume Räumliche Identifikationen und Identifizierungen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Christian Wille 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Zur Analyse räumlicher Identitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3 Institutionelle Identifikationen (QA). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4 Alltagskulturelle Identifikationen (QB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 5 Alltagskulturelle Identifizierungen (QC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

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6 Identifizierungen mit institutionellen Kategorien (QD) . . . . . . . . . . . . 41 7 Grenzen und räumliche Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Zur Rolle von Strukturen und Kontingenz – das Beispiel des grenzüberschreitenden Pendelns im Alpenraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Anna Heugel und Tobias Chilla 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2 Konzeptionelle Anknüpfungspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1 Die relationale Perspektive: Die Grenze als Diskurs, Prozess und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.2 Die angewandte Perspektive: die Grenze als strukturelles Element und als Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.3 Ziel des Beitrags. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3 Das Beispiel Grenzpendeln im Alpenraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.1 Fokus und Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2 Strukturelle Erklärungsansätze des Grenzpendelns. . . . . . . . . . . . . . 63 4 Diskussion der Vereinbarkeit von strukturellen und relationalen Ansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Energy Borderlands – eine Analyse medialer Aushandlungsprozesse um das Kernkraftwerk Cattenom in der Großregion SaarLorLux. . . . . . 73 Juli Biemann und Florian Weber 1 Einleitung: Konflikte um Kernkraft im grenzregionalen Kontext. . . . 74 2 Poststrukturalistisch-diskurstheoretische Perspektive und methodischer Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.1 Die Diskurstheorie in Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.2 Methodik: Vergleich regionaler Tageszeitungen mittels einer Analyse narrativer Muster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3 Das Kernkraftwerk Cattenom und die Konstitution unterschiedlicher Energy Borderlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.1 Positionen in der medialen Berichterstattung zu Cattenom. . . . . . . . 80

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3.2 Républicain Lorrain: Cattenom als positiver regionaler Wirtschaftsfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3 Luxemburger Wort: Cattenom als Staatsbedrohung. . . . . . . . . . . . . . 84 3.4 Saarbrücker Zeitung: die deutsche Energiewende als Muster für Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4 Vergleich der medialen Berichterstattung, Fazit und Ausblick: Divergierende Energy Borderlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Planungskulturelle Vielfalt in Grenzräumen – Theoretische und methodische Ansätze zur grenzüberschreitenden Raumplanung . . . . . . . 95 Beate Caesar und Estelle Evrard 1 Einleitung: Grenzüberschreitende Raumplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2 Theoretische Ansätze zu grenzüberschreitender Raumplanung und Planungskulturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.1 Grenzüberschreitende Raumplanung aus organisationstheoretischer Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.2 Raumplanung aus planungskultureller Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3 Überlegungen und Methoden zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung aus planungskultureller und organisationstheoretischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.1 Hypothesen zur grenzüberschreitenden Raumplanung. . . . . . . . . . . 105 3.2 Planspiele als Methode zur Erforschung von Planungskulturen und Herausforderungen grenzüberschreitender Raumplanung . . . . . 108 4 Schlussbetrachtungen und Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung im Spannungsfeld unterschiedlicher Dimensionen von Distanz – das Beispiel der Großregion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 H.Peter Dörrenbächer 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2 Die Großregion: Von grenzüberschreitender Arbeitsmarktregion zu einer Arbeits- und Berufsausbildungsregion?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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3 Die Bedeutung des Zusammenspiels ökonomischer sowie demographischer, geographischer und institutionell-kultureller Distanz für grenzüberschreitende Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4 Ökonomische und demographische, geographische und institutionell-kulturelle Distanz als Potenziale und Hemmnisse für grenzüberschreitender Berufsausbildung in der Großregion. . . . . . . . 122 4.1 Ökonomische und demographische Disparitäten. . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.2 Sprachbarrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.3 Unterschiedliche Berufs(aus)bildungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5 Maßnahmen zur Überwindung institutionell-kultureller Distanzen in der Berufsausbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.1 Harmonisierung nationaler Systeme beruflicher Bildung auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.2 Die Entwicklung von interregionalen Rahmenvereinbarungen zur beruflichen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6 Rahmenvereinbarungen und unterschiedliche Formen grenzüberschreitender Berufs(aus)bildung in der Großregion . . . . . . 129 6.1 Saarländisch-lothringische Rahmenvereinbarung von 2014 . . . . . . . 130 6.2 Die Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6.3 Weitere interregionale Vereinbarungen und Maßnahmen der beruflichen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7 Fazit: Regionen-Bildung durch Maßnahmen zur Reduzierung und Überbrückung institutionell-kultureller Distanz im Bereich der Berufsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Governance und (Un-)Ordnungen der Grenzen Zur Konstitution multipler Borderlands im Zuge der Frankreichstrategie des Saarlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Nora Crossey und Florian Weber 1 Einleitung: die Frankreichstrategie des Saarlandes im grenzregionalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2 Theoretischer Hintergrund und methodische Annäherung. . . . . . . . . 149

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2.1 Theoretischer Hintergrund: Grenzen – Grenzziehungen – Borderlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2.2 Methodische Annäherung: Inhaltsanalytisches Vorgehen . . . . . . . . . 150 3 Zur Konstitution unterschiedlicher Borderlands im Zuge der Frankreichstrategie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.1 Räumliche Bezugnahmen in der Frankreichstrategie. . . . . . . . . . . . . 152 3.2 Das Saarland, das département Moselle und Lothringen als eine zusammengewachsene Grenzregion?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.3 Luxemburg und die Großregion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.4 Grenzziehungen in der aktuellen ‚feuille de route III‘. . . . . . . . . . . . 158 4 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Re-Figuration von Grenzen und Ordnungen im sozialen Raum. Konzeptualisierung eines Analysemodells partizipativer Governance in EU-Grenzregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Peter Ulrich 1 Einleitung: Grenzregionen in der EU – von der Peripherie ins Zentrum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2 Re-Figuration räumlicher, sozialer und institutioneller Grenzen und Ordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3 Sozioräumliche Governance in EU-Grenzregionen. . . . . . . . . . . . . . . . 171 4 Das Nachwirken der Grenze und kollaborative Formen grenzüberschreitender Planungspolitik – Herleitung eines theoriegestützten Analysemodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.1 Schritt 1: theoretische Modelle und Kategorisierungen von Grenze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.2 Schritt 2: Herleitung eines Analysekonzeptes. . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.3 Schritt 3: Beleuchtung von Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.4 Schritt 4: Erstellung eines Konzeptes der partizipativen Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.5 Schritt 5: Ableitung eines Analysemodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4.6 Schritt 6: Definition und Illustration des Analysemodells. . . . . . . . . 181

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5 Anwendungsbeispiel: Die Euroregion Pro Europa Viadrina . . . . . . . . 183 6 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Grenzgeographien der COVID-19-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Florian Weber und Christian Wille 1 Neue Grenz(ziehung)en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2 (Ver-)Ordnungen und Grenzziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 3 Territoriale Ordnungen und Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4 Grenzgeographien: weiterführende Themen- und Fragestellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (Un-)Ordnungen der Kontrolle. Politische Auseinandersetzungen um das Asylsystem der Europäischen Union nach der Krise des Grenzregimes 2015. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 David Niebauer 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2 Das (inner-)europäische Migrations- und Grenzregime. . . . . . . . . . . . 228 3 Politische Auseinandersetzungen um das EU-Asylsystem nach dem ,Sommer der Migration‘ 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3.1 ‚Europa der Vaterländer‘: Strategien der Renationalisierung. . . . . . . 232 3.2 ‚Zurück zu Schengen’: Konzepte einer weiterführenden Europäisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.3 ,Koalitionen der Willigen’: Ansätze einer differenzierten EU-Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4 Verwobenheiten konkurrierender Ansätze der Migrations- und Grenzkontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

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Grenz(re)produktionen und Verflechtungen Mehr-als-menschliche Grenzen: Die Neuverhandlung des europäischen Grenzregimes im Kontext der Afrikanischen Schweinepest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Larissa Fleischmann 1 Einleitung: Tiere und Viren als unerwünschte „Grenzgänger“. . . . . . 250 2 Mehr-als-menschliche Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3 Die Afrikanische Schweinepest im umkämpften Spannungsfeld des europäischen Grenzregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 4 Die (post)kolonialen Dimensionen mehr-als-menschlicher Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5 Resümee: Mehr-als-menschliche Geographien der Grenzen. . . . . . . . 262 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 In Beton gegossene Grenzen: Wie Mauern als Instrumente der Macht die Realität des Raums verändern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Marc Engelhardt 1 Zeitalter der Mauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2 Mauern als Architektonik der Macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.1 Das Panopticon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.2 Panoptische Mauern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3 Phänomenologie der Mauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3.1 Leibhaftige Mauern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 3.2 Symbolhafte Mauern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4 Mauern und räumliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5 Mauern und die Realität des Raums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Counter-Mapping Corporeal Borderlands: Border Imaginaries in the Americas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Astrid M. Fellner

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1 Introduction: Corporeal Hemispheric Entanglements in American Borderlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2 Laying Bare Border Imaginaries Through Acts of Bordertexturing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3 Texturing the Borders of the Body: The Spectrality of Absence . . . . . 295 4 Conclusion: A Counter-Geography of Borders. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 References . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Sehnsuchtsräume und Beheimatungsstrategien jamaikanischer Frauen in Montreal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Lisa Katharina Johnson 1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2 Unterwegssein als Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3 Heimat ist eine Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4 Impulsgeber für die Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5 Kontakt-halten als soziokulturelle Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 6 Strategische Rückkehr und Reibungspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 7 Poröse Grenzen: Jenseits des Transnationalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Grenz(de)stabilisierungen und Stadt-Land-Hybride Migration and Urbanity in Rural Areas. Developments in the German-Luxembourg Border Region. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Elisabeth Boesen, Gregor Schnuer und Christian Wille 1 Introduction. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2 Urbanity and Rurality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2.1 Habitual Urbanity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2.2 Networks of Rurality. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 3 Residential Migrants in German Border Villages. . . . . . . . . . . . . . . . . 329 3.1 Three Ideal-Types of Habitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 3.2 Habitus and Residential Capital. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

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4 Conclusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 References . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 The city’s internal boundaries in the light of socio-territorial realities. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Jean-Marc Stébé und Hervé Marchal 1 Introduction. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 2 The city today: a setting for imposed, voluntary and mental boundaries. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 3 Remapping the contemporary city . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 4 The fragmentation and complexity of peri-urban space. . . . . . . . . . . . 348 5 A new invisible territory within a fragmented peri-urban space. . . . . 351 6 Conclusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 References . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Hybrid Urban Borderlands.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Albert Roßmeier 1 Einführung: Die hybriden Grenzen von Downtown San Diego. . . . . . 358 2 Theoretisch-konzeptioneller Hintergrund und multimethodisches Vorgehen der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 2.1 Von Stadtlandhybriden und Urfsurbs zu hybrid urban borderlands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 2.2 Neopragmatische Triangulation und methodische Bausteine der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3 Downtown-Erweiterung in San Diego: Uneindeutige Grenzziehungen und die Neuverhandlung des Randes. . . . . . . . . . . . . 366 3.1 San Diegos innerer Suburbiumsring: von attraktiven Streetcar Suburbs zu veralteten Nachbarschaften und ihrem aktuellen ‘urban comeback’. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 3.2 Variable Konstruktionen, Widersprüchlichkeiten und Hybriditäten: San Diegos hybrid urban borderlands am Rande des Zentrums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 4 Fazit: hybrid urban borderlands in San Diego und anderswo. . . . . . . . . 382 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

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Postmoderne Siedlungsentwicklungen in Baton Rouge, Louisiana: Stadtlandhybridität und Raumpastiches zwischen Begrenzungen und Entgrenzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Olaf Kühne, Corinna Jenal und Lara Koegst 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 2 Konzeptionelle Überlegungen zu aktuellen Stadtentwicklungen. . . . . 393 3 Vom Roten Pfahl am Ufer des Mississippi bis zur Krise der Ölindustrie – Aspekte der Entwicklung von Baton Rouge. . . . . . . . . . 396 4 Das postmoderne Raumpastiche Baton Rouge heute, von klaren Grenzen und hybridisierten Räumen . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 5 Fazit – das postmoderne Raumpastiche Baton Rouge zwischen Begrenzung und Entgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Einführung

Entwicklungslinien der Border Studies und Zugänge zu Geographien der Grenzen Florian Weber, Christian Wille, Beate Caesar und Julian Hollstegge Zusammenfassung

Die Border Studies haben seit den 1990er Jahren einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen, der die Beschäftigung mit Grenz(ziehung)en als unhinterfragte Gegebenheiten relativiert hat. Die Neuorientierung stützt sich auf konstruktivistische Zugänge und fragt nach den Prozessen der Einsetzung, Relativierung, Verschiebung oder Überwindung von Grenzen. Diesem Verständnis von Grenzen als politische, soziale, kulturelle, mentale Produktionen folgt dieser Sammelband und diskutiert den Zusammenhang von Räumen, Ordnungen und Verflechtungen. Die Herausgeber*innen führen in diesem Beitrag grundlegend in das Themenfeld ein und geben einen Überblick über die Beiträge des Bandes. Die Autor*innen aus den Raum-, Sozial- und Kulturwissenschaften wählen unterschiedliche Zugänge zu Grenzen und

F. Weber (*)  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Wille  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] B. Caesar  Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Hollstegge  Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_1

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a­nalysieren ihre (Re-)Produktionsprozesse als ‚Geographien der Grenzen‘. Dabei rücken sie auch andere als nationalstaatliche Grenzen in den Blick, wie zum Beispiel stadtlandhybride Differenzierungen. So wird in diesem Band aus verschiedenen theoretischen und thematischen Blickwinkeln der Frage nachgegangen, wie und welche ‚Geographien der Grenzen‘ sich im Zusammenspiel von unterschiedlichen Destabilisierungen und (Re-)Stabilisierungen von Grenzen (re)konstruieren lassen.

1 Einleitung: Grenz(ziehung)en Ein kleines Winzerdorf an der Mosel im Großherzogtum Luxemburg in Grenzlage zu Deutschland und Frankreich hat seit dem Jahr 1985 internationale Berühmtheit erlangt: Schengen. Auf einem Ausflugsschiff wurde auf der Höhe ebendieser Gemeinde gegenüber der saarländischen Kommune Perl das ‚Schengener Abkommen‘ durch Vertreter von fünf Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft – Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg – unterzeichnet, das den Weg für ein Ende der permanenten Personenkontrollen an den Binnengrenzen der heutigen Europäischen Union ebnete (vgl. dazu bspw. auch Miggelbrink 2013; Wille 2015b, S. IX; Zaiotti 2011). Mit dem Inkrafttreten des Abkommens im Jahr 1995 ist es nahezu ‚normal‘ geworden, nationalstaatliche Grenzen in Europa zu passieren, ohne den Personalausweis oder gar Reisepass vorzeigen zu müssen. Dieses Prinzip verweist auf eine Relativierung nationalstaatlicher Ordnungen, die über Grenzsicherungen aufrecht erhalten werden, und folgt dem Zeitgeist der 1990er Jahre nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ passend zur damaligen Auseinandersetzungen um eine borderless world bzw. deterritorialization (Ohmae 1999 [1990]; siehe bspw. auch Paasi 2019). Die jüngsten Entwicklungen der letzten Jahre zeigen allerdings eindrücklich, dass Grenzen keineswegs bedeutungslos geworden sind: sie befinden sich fortwährend in einer dynamischen Aushandlung (Paasi 2003) und sind geradezu wieder verstärkt relevant und spürbar geworden. Die Gründe für diese Beobachtung liegen zum Beispiel im Terrorismus der 2000er Jahre mit seinen Sicherheitsnarrativen und der Technisierung von Grenzregimen (Amoore 2006) ebenso wie in den Migrationsbewegungen der 2010er Jahre, die neben der Verfestigung, Verlagerung und Externalisierung europäischer Außengrenzen zunehmend auch die (selektive und temporäre) Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Binnenraum der Europäischen Union

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nach sich gezogen haben. Zudem können eine aufkommende Euroskepsis und verschiedentliche Renationalisierungsprozesse, verbunden mit populistischen Strömungen, die z. B. im Brexit gipfelten, ein Wiedererstarken von Grenzen verdeutlichen (u.v. Coman 2019; Heintel, Musil und Weixlbaumer 2018a, b; Johnson et al. 2011; Wilson und Donnan 2012). Und schließlich hat zuletzt die ­COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 gezeigt, wie rapide und einschneidend Grenzen reaktiviert werden können: Im März 2020 wurden von den Infektionen besonders stark betroffene Regionen unter Quarantäne gestellt und ‚abgegrenzt‘ und nationalstaatliche Grenzen geschlossen (vgl. dazu beispielhaft Abb. 1). Geradezu paradox mutet hier an, dass 25 Jahre nach dem Abbau der Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen diese Grenzen erneut ‚abgeriegelt‘ wurden, so unter anderem auch gerade um das luxemburgische Winzerdorf Schengen herum. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen sollte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Grenz(ziehung)en niemals absolut und ohne Berücksichtigung der Möglichkeit von neuerlichen Umbrüchen erfolgen, wie auch Doris WastlWalter (2011, S. 1) argumentiert: „Over the course of history, the functions and roles of borders have continuously changed and can only be understood in their context; they are shaped by history, politics, and power as well as by cultural and social issues“. Die einführenden Erläuterungen verdeutlichen, warum wir uns in diesem Sammelband aktuellen ‚Geographien der Grenzen‘ aus verschiedenen Blickwinkeln zuwenden. Bevor herausgearbeitet wird, wie diese Terminologie verstanden und von den Autor*innen konturiert wird, erfolgt eine kurze Einführung in zentrale Entwicklungslinien der Border Studies, die eine Verortung und Perspektivierung der Buchbeiträge ermöglicht.

2 Entwicklungslinien der Border Studies Je nach disziplinärer Lesart lässt sich der Entstehungskontext der Border Studies im Laufe des 20. Jahrhunderts mit einer Fokussierung auf nationalstaatliche Grenzen und deren Implikationen ansiedeln (Hartshorne 1936; Jones 1943; Minghi 1963; Prescott 2015 [1987]). Forscher*innen konzentrierten sich in eher deskriptiven Untersuchungen, mitunter in deterministischer und essentialisierender Betrachtung (allg. u. a. Chilla et al. 2015; Newman 2011), auf territoriale, ‚ethnische‘, religiöse und/oder sprachliche Grenz(ziehung)en. Raum wurde in diesem Zusammenhang als ein real existierendes Element der physisch-materiellen Welt aufgefasst, ausgehend von der Erdoberfläche bzw. ­ von scheinbar gegebenen Raumcontainern, welche räumliche bzw. politische

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Abb. 1    Wiedereingeführte Grenzsicherungen im Zuge der COVID-19-Pandemie: Geschlossene Grenze zwischen Emmersweiler (Saarland, Deutschland) und Morsbach (Département Moselle, Frankreich) (oben) sowie durch die deutsche Bundespolizei kontrollierte Grenze zwischen Schweigen-Rechtenbach (Rheinland-Pfalz, Deutschland) und Wissembourg (Département Bas-Rhin, Frankreich) (unten). (Quelle: Aufnahmen Peter Dörrenbächer (oben) und Friedericke Weber (unten) 2020)

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Differenzierungen vorgaben. Damit vollzog sich eine Orientierung am modernen Staatensystem, das seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auf Grundlage des Westfälischen Friedens existiert (Heintel et al. 2018a, b, S. 1; Keil und Brenner 2003). Jenseits des essentialistischen Forschungsparadigmas wurde in positivistischer Tradition auch eine relationale Perspektive eingenommen, in der funktionale Analysen zum Zuge kamen, bspw. Relationierungen der Wohnund Arbeitsorte von Grenzgänger*innen, wobei gleichwohl nationalstaatliche Grenzen als vermeintliche Gegebenheiten reproduziert wurden. Im 21. Jahrhundert lassen sich die Border Studies als ein dynamisches Feld umreißen, das – insbesondere ausgehend von Europa und Nordamerika – seit den 1990er Jahren einen Entwicklungsschub erlebt (Kolossov und Scott 2013; Newman 2006a 2011; Paasi 2005). Entscheidende gesellschaftspolitische Impulse dafür leisteten der Zusammenbruch der Sowjetunion und die weitreichende Rekonfiguration Osteuropas – markante Beispiele für die historische Kontingenz von Grenzen (Paasi 2012, S. 2304) – sowie grundlegende gesellschaftliche Umbrüche, durch die sich Zugehörigkeiten veränderten und In- bzw. Exklusionsmechanismen verstärkt Bedeutung erlangten (Newman 2006b; Paasi 2003; Wastl-Walter 2011, S. 2). Die Einrichtung Europäischer Verbünde Territorialer Zusammenarbeit (EVTZ) kann als ein Symptom solcher Umbrüche gedeutet werden, stehen sie doch für die Suche nach angepassten Steuerungsmechanismen und die Institutionalisierung grenzüberschreitender Kooperation (Caesar 2017; Schneider-Sliwa 2018; Spellerberg et al. 2018; Wille 2015b). Neben ‚Grenzauflösungen‘ ist aber auch die andere ‚Seite der Medaille‘ zu berücksichtigen, nämlich neue und veränderte Grenzsicherungen und Grenzziehungen im 21. Jahrhundert durch Versicherheitlichungen, territoriales Besitzstreben und veränderte Migrationsregime. So setzt zum Beispiel US-Präsident Donald Trump auf die Umsetzung seines Wahlversprechens, das im Bau einer Mauer zwischen den USA und Mexiko und damit zwischen miteinander friedlich agierenden Staaten besteht. Weiter zeigen die Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland um die Krim eindrücklich, wie offensichtliche ‚Verunsicherheitlichung‘ stattfindet, wenn an tradierten Grenzen ‚gerüttelt‘ wird (vgl. bspw. Justenhoven 2018). Schließlich unternimmt die Europäische Union spätestens seit den frühen 2000er Jahren verstärkte Anstrengungen, um die Außengrenzen abzusichern und Migrationsbewegungen in Richtung Europa zu steuern bzw. zu unterbinden (Heintel et al. 2018a, b, S. 2–3; Scott 2012). Einen wesentlichen Impuls für die heutige Vielfalt der Border Studies hat die ‚konstruktivistische Wende‘ gegeben, durch die von einer räumlichen Fixiertheit von Grenzen abgerückt und border in die gesellschaftlichen Verhältnisse ‚eingelagert‘ und somit dynamisiert wurde: bordering, debordering und rebordering.

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Damit hat sich in den Border Studies ein „processual shift“ (Brambilla et al. 2015, S. 1) vollzogen, über den Grenz(ziehung)en als fortlaufend erneut hervorzubringende Leistungen (in becoming) und damit als wandelbar aufgefasst werden (Newman 2011; Scott 2011; van Houtum und van Naerssen 2002). Daraus folgt ein verändertes „Thinking about Borders“ bzw. ein „rethinking of the nature and role of borders“ (Rumford 2006, S. 155): Anstatt Grenzen als natürlich gegeben zu betrachten, wird auf deren Produktions- und Reproduktionsaspekte abgehoben. Eine solche Betrachtungsweise zielt demnach nicht auf Grenzen als einen ontologischen, linienförmigen und am territorialen Rand verorteten Gegenstand, sondern auf die (räumlich flottierenden) Prozesse der ­(De-) Stabilisierung von Grenzen durch Diskurse und Praktiken ab. Gleichzeitig ist damit einhergehend die räumliche und lebensweltliche Pluralisierung von zu analysierenden Grenzen zu beobachten: „the study of borders has moved from a dominant concern with formal state frontiers and ethno-cultural areas to the study of borders at diverse socio-spatial and geographical scales, ranging from the local and the municipal, to the global, regional and supra-state level“ (Kolossov und Scott 2013, Abs. 2). Auf diesen hier angesprochenen unterschiedlichen Ebenen können Grenzen über ihre vielfältigen Manifestierungen bzw. Materialisierungen sowohl stärker sichtbar als auch weniger sichtbar verlaufen, sei es in öffentlichen Räumen, Gemeinschaften, im virtuellen Raum oder transnationalen Netzwerken (Rumford 2006, S. 160). Diese Differenzierungen und Vervielfältigen von Grenzen zeigt, dass die vormals weitgehend verbreitete staatszentrierte Perspektive zu kurz greift und den Blick auf die Pluralisierung von Grenzen verstellt (Kramsch 2010). Vor dem Hintergrund dieser Orientierungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein multi- und interdisziplinäres Forschungsfeld entwickelt, in dem neben den ‚raumbezogenen‘ Disziplinen wie Geographie und Raumplanung auch Politik, Soziologie, Geschichte, Recht sowie die Kulturwissenschaften (inter)agieren (Brunet-Jailly 2005; Newman 2006a). Parallel zu dieser disziplinären Öffnung und breiten Anschlussfähigkeit erfahren die Border Studies aufgrund ihrer gewachsenen Bedeutung eine stärkere Institutionalisierung, die sich auch in Europa in der Gründung von Forschungseinrichtungen, Netzwerken, Studiengängen oder in der Verankerung in wissenschaftlichen Fachgesellschaften äußert. Beispiele dafür sind das UniGR-Center for Border Studies (seit 2014) des Universitätsverbundes ‚Universität der Großregion‘ mit seinen Partnern in Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg, die Sektion ‚Kulturwissenschaftliche Border Studies‘ (seit 2016) der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft e. V. oder der trinationale Master in Border Studies (seit 2017) an der Université de Lorraine, der

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Universität Luxemburg, der Universität des Saarlandes und der Technischen Universität Kaiserslautern.

3 Geographien der Grenzen Wird von einer vielfältigen und dispersen Verteilung von Grenz(ziehung)en in Gesellschaften ausgegangen (Rumford 2006, S. 160), so lassen sich darüber verschiedene und variable ‚Geographien von Grenzen‘ bestimmen, die Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes sind. Mit der gewählten Terminologie zielen wir darauf ab, unterschiedliche Strukturierungen, Dynamiken und Konstruktionsprozesse von Grenzen zu identifizieren, zu beschreiben und zu analysieren. Den bisherigen Ausführungen folgend nehmen innerhalb dieses Bandes nationalstaatliche Grenzen eine wichtige Rolle ein, allerdings werden deren Implikationen auf vielfältigen Maßstabsebenen bis zu Einzelnen hin betrachtet. Zudem wird dezidiert abgerückt von einer nationalstaatlichen Perspektive, wenn die Potenziale der Grenz(raum)forschung für die Betrachtung von ländlichen und urbanen Räumen genutzt werden (dazu auch Christmann und Weber 2020; Weber und Kühne 2020). ‚Geographien der Grenzen‘ lassen sich somit in unterschiedlichen Kontexten nachzeichnen, wie auch Soja (2005, S. 33) unterstreicht: „We live enmeshed in thick webs of borders and boundaries. Most are out of sight and conscious awareness, yet they all impinge in some way on our lives as integral parts of our real and imagined geographies and biographies. Some carry with them the hard and invasive powers of the state, others the manipulative magic of market forces, still others the softer limits of identity and community, desire and imagination. Borders and boundaries are life’s linear regulators, framing our thoughts and practices into territories of action that range in scale and scope from the intimate personal spaces surrounding our bodies through numerous regional worlds that enclose us in nested stages extending from the local to the global.“ Die in dem Zitat angesprochene Vielfalt erstreckt sich von physischen, administrativen und politischen über ökonomische, funktionale, soziale und kulturelle bis hin zu sprachlichen oder mentalen Grenz(ziehung)en (Breitung 2011; Gibson und Canfield 2016; Iossifova 2013, 2019; Kolossov und Scott 2013, Abs. 2). Daher werden in diesem Band sowohl materielle als auch immaterielle Grenz(ziehung)en mit ihren unterschiedlichen und variierenden Durchlässigkeiten und Bedeutungen einschließlich relevanter Machtaspekte berücksichtigt (Kolossov und Scott 2013, Abs. 12). Aus analytischer Perspektive handelt es sich dabei um die Betrachtung sowohl von Konstruktionsprozessen (bordering,

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debordering und rebordering) sich verändernder und variabler Grenz(ziehung)en als auch ihrer (alltags)relevanten Wirkungen (Balibar 1998, S. 220; Iossifova 2013, S. 2; Johnson et al. 2011; Newman 2011, S. 35; Paasi 1986; Schönwald et al. 2018; Weber 2020). Territoriale, politische, administrative Grenz(ziehung)en und ihre (­Aus-) Wirkungen bilden somit einen wichtigen Fokus innerhalb des Sammelbandes, der sich gerade für räumliche Zuschnitte interessiert. Es sind damit institutionalisierte Grenzen, die – ausgehend von einem ‚engen‘ Grenzbegriff (Redepenning 2018, S. 21) – einen analytischen Schwerpunkt bilden. Die so in den Blick geratenden Geographien der Grenzen beschränken sich aber keineswegs auf linienhaft gedachte Differenzierungen, sondern schließen Verflechtungen und Interdependenzen um und über institutionalisierte Grenzen ein. Dieser erweiterten Perspektive kann – jenseits eines vereinfachten Barriere-Denkens – mit dem Konzept der borderlands als Kontaktzonen und hybride Übergangsbereiche (Blake 2000; Brunet-Jailly 2011; Pavlakovich-Kochi et al. 2004) Rechnung getragen werden, bspw. im Hinblick auf die Konstitution grenzüberschreitender Regionen und die damit einhergehenden Institutionalisierungsprozesse (Anderson et al. 2003; Chilla et al. 2010; Pallagst et al. 2018; Schönwald 2012; Ulrich 2020a, b [online first 2019]). Die gewisse fortbestehende Fokussierung auf Staatsgrenzen innerhalb der Forschung (Kolossov und Scott 2013; O'Dowd 2010; van Houtum 2005) führt dazu, dass städtisch-ländliche Kontexte bisher noch eher unterbeleuchtet ausfallen, doch auch hier vollziehen sich variable Grenz(ziehung)en, die mit Konzepten der Border Studies produktiv ausgeleuchtet werden können: Städte lassen sich als „products of bordering processes” (Scott und Sohn 2018, S. 4) lesen, als „space included within clearly defined borders. Founding a city means, first of all, marking boundaries, separating it from what is not the city”. Das heißt, „[b]orders and bordering practices, both in their physical and symbolic dimension, define the city as a lived space, a fabric intertwining time, space, social forms and experiences“ (Lazzarini 2015, S. 177). Geographien der Grenzen lassen sich so auch in stadtlandbezogenen Kontexten (allg. in Orientierung an Paasi 2011, S. 27) thematisieren, die in vielfältigen multidimensionalen Grenzziehungen, Fragmentierungen und mitunter als hybride Übergangsbereiche zum Ausdruck kommen (Gibson und Canfield 2016; Karaman und Islam 2012; Weber 2019; Weber und Kühne 2020). Weitere Geographien der Grenzen entstehen über netzwerkartige Verflechtungen und einhergehende Grenzziehungen und damit verbundene In- und Exklusionsprozesse (van Houtum, Kramsch, Zierhofer 2005; van Houtum

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und van Naerssen 2002). In den letzten Jahrzehnten lässt sich gesellschaftspolitisch und ökonomisch ein Bedeutungsgewinn relationaler Netzwerke gegenüber territorialen Räumen beobachten (Castells 2017), wobei auch in diesem Zusammenhang Grenzen nicht vernachlässigbar sind; unter anderem bei der Frage, wer Zugang zu Netzwerken hat und wer nicht (Rumford 2006, S. 156). Die Bedeutung netzwerkartiger Geographien der Grenzen zeigt sich eindrücklich auch im Themenfeld der grenzüberschreitenden Governance, in dem formelle und informelle Netzwerke jenseits einer reinen nationalstaatlichen Governance durch unterschiedlichste Akteure geschaffen werden (Crossey 2020; Damm 2018; Fricke 2014; Priebs 2018; Špaček 2018; Ulrich und Krzymuski 2018). Schließlich sind es soziale, kulturelle, sprachliche oder mentale Grenzziehungen, die – einem ‚weiten‘ Grenzbegriff folgend – Geographien von Grenzen konstituieren (Redepenning 2018, S. 21). In dieser Perspektive werden Grenzen als „everyday phenomena, necessary for the organization of social life“ (Scott und Sohn 2018, S. 1) verstanden, womit die alltagskulturellen ­(Re-) Produktions- und Aushandlungsprozesse von Grenzen und die damit verbundenen Verräumlichungen (Kajetzke und Schroer 2015; Werlen 2008) angesprochen sind (border-making, Kolossov und Scott 2013, Abs. 28). Alltagskulturelle ­(Re-) Produktionen von Grenzen sind wirksam für Unterscheidungen, die wiederum identitätsbildend, stabilisierend und ordnend wirken können (Bös und Zimmer 2006, S. 162) und zur Regelung von sozialen Sachverhalten relevant sind (auch Newman 2003, S.  123). Allerdings folgen solche Differenzierungen nicht zwangsläufig den oftmals angenommenen Entweder-Oder-Logiken, sondern neben binären Hier/Dort- oder Vertraut/Fremd-Grenzziehungen entstehen mitunter (fluide) Ordnungskonstellationen, die die Grenze als einen Raum des Dazwischen oder als einen hybriden Übergangsbereich fassen. Alltagskulturelle (Re-)Produktions- und Aushandlungsprozesse von Grenzen, die auch mit Konzepten wie ‚Räume der Grenze‘ (Wille 2014) oder ‚vertraute Fremde‘ (Wille 2011) thematisiert werden, sind somit vielschichtig und facettenreich in ihren (ver)räumlich(t)en Manifestationen (Boesen und Schnuer 2017; Wille 2015a; Wille et al. 2016). Der Einblick in verschiedene Zugänge zu Geographien der Grenzen zeigt, dass sie sich von einer makro- bis hin zu einer mikroperspektivischen Skalierung – jeweils als temporäre Ergebnisse von sozialen Aushandlungsprozessen (Brambilla et al. 2015, S. 1) – betrachten lassen (vgl. dazu auch Heintel et al. 2018a, b, S. 5). Es kommt so zu Vervielfältigungen von Grenzen, die in den Beiträgen dieses Sammelbandes behandelt werden.

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4 Perspektiven dieses Sammelbandes Den dargelegten Zugängen zu vielschichtigen ‚Geographien der Grenzen‘ folgend gliedert sich der Sammelband in vier Themenkomplexe, die sich zum Teil überschneiden und miteinander verknüpft sind. Den Ausgangspunkt bilden Beiträge, die sich grenzregionalen Beziehungen und Räumen zuwenden. Christian Wille (2020) nähert sich der Großregion SaarLorLux und fragt nach räumlichen Identifikationen und Identifizierungen, die etwa über Raumrepräsentationen oder alltagskulturelle Praktiken bestimmt werden. Er zeigt, dass nationale Grenzen auch in einer Region mit intensiven grenzüberschreitenden Verflechtungen tendenziell als Differenzierungskriterien wirkmächtig bleiben. Allgemein kann mit dem Beispiel der so genannten Großregion die Variabilität von Geographien der Grenzen anschaulich illustriert werden, denn mit der französischen Gebietsreform (2016) ist die vormalige Region Lothringen in der Region Grand Est aufgegangen, wodurch sich für das politische Raumkonstrukt ‚Großregion‘ Veränderungen in den grenzregionalen Beziehungen ergeben haben. Anna Heugel und Tobias Chilla (2020) setzen in ihrem Beitrag angewandt-funktionale und konstruktivistisch-relationale Ansätze der Border Studies in Beziehung, um die Pendelbewegungen über nationale Grenzen hinweg im makroregionalen Alpenraum zu beleuchten. Neben der Bedeutung von Grenzkonstruktionsprozessen arbeiten sie die Relevanz von strukturellen Elementen heraus. Aus einer diskurstheoretischen Perspektive heraus beleuchten Juli Biemann und Florian Weber (2020) mediale Aushandlungsprozesse um das französische Kernkraftwerk Cattenom in der Großregion SaarLorLux und zeigen, dass nationale und regionale Diskurse in der Grenzlage aufeinandertreffen, die überlappende, aber auch einander zuwiderlaufende politisch-mediale energy borderlands konstituieren. Ebenfalls in Orientierungen an nationalen Ordnungen setzen sich Beate Caesar und Estelle Evrard (2020) mit der grenzüberschreitenden Dimension von Planungskulturen auseinander und setzen theoretische und methodische Ansätze für eine grenzüberschreitende Raumplanung in Beziehung. Auch mit einem Fokus auf die Großregion beleuchtet Peter Dörrenbächer (2020) die Entwicklung der grenzüberschreitenden Berufsausbildung und zeigt, dass die geschlossenen Vereinbarungen für eine Institutionalisierung der grenzregionalen Beziehungen zum Abbau von insbesondere institutionellen Distanzen eine Voraussetzung bilden, um die Großregion zu einer grenzüberschreitenden Bildungsregion zu entwickeln. Im sich anschließenden Kapitel werden Fragen von Governance und (Un-)Ordnungen der Grenzen diskutiert. Nora Crossey und Florian Weber

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(2020) beleuchten hier die Frankreichstrategie des Saarlandes, mit der in den kommenden Jahrzehnten ein mehrsprachiger Raum deutsch-französischer Prägung geschaffen werden soll. Entscheidend dafür ist, dass sich ein über das Saarland hinausgehender Verflechtungsraum entwickelt, der sich durch multiple borderlands von unterschiedlicher Reichweite und mit unterschiedlichen administrativen Bezugsebenen kennzeichnet. Die Frage nach einer grenzüberschreitenden Governance wird ebenfalls von Peter Ulrich (2020a) adressiert, der ein Analysemodell partizipativer Governance in EU-Grenzregionen vorlegt und beispielhaft an die Euroregion Pro Europa Viadrina anlegt. Florian Weber und Christian Wille (2020) ihrerseits betrachten in ihrem Beitrag die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie (Frühjahr 2020) als ­ (Un-) Ordnungen von Grenzen und rekonstruieren auf verschiedenen Ebenen COVID-19-Grenzgeographien. Dabei adressieren und differenzieren sie auch ­ Grenzregime, die wiederum David Niebauer (2020) in seinem Beitrag zu politischen Auseinandersetzungen um das Asylsystem der Europäischen Union nach der Krise im Jahr 2015 anleiten. Ihm gelingt es darzulegen, dass Geographien der Grenzen von den Kontrollen an den europäischen Außen- oder Binnengrenzen bis hin zu Maßnahmen wie der Umverteilung von Asylsuchenden oder sozio-ökonomische Interventionen in den Aufnahmestaaten reichen. In den nächsten vier Beiträgen reflektieren die Autor*innen ­ Grenz(re-) produktionen und Verflechtungen. Larissa Fleischmann (2020) wendet sich hier den mehr-als-menschlichen Grenzen zu, die als Effekte von Akteursnetzwerken aus Menschen, Tieren, Viren und anderen Materialitäten abgeleitet werden. Sie illustriert diesen Zugang am Beispiel des politischen Umgangs mit der Afrikanischen Schweinepest, der die Verflochtenheit von Regierungspraktiken in Europa und Afrika deutlich macht. Dabei werden auch Versuche von Grenzsicherungen thematisiert, die ebenso Marc Engelhardt (2020) in seinem Beitrag behandelt. Im Rückgriff auf Michel Foucault und Henri Lefebvre diskutiert er Mauern als Machtinstrumente und die von ihnen ausgehenden sowie sozial wirksamen Geographien der Grenzen. Sowohl Produktionen als auch Verflechtungen von Grenzen werden im Artikel von Astrid Fellner (2020) anschaulich, in dem sie ausgehend von Werken der Künstlerin Tatiana Parcero körperbezogene borderlands herausarbeitet und dabei spezifische Bordertexturen mit Gegenentwürfen zu dominierenden kulturellen Deutungsmustern in und zu den Amerikas differenziert. Um die Frage von Verortungen geht es auch bei Lisa Katharina Johnson (2020), die mit einem ethnographischen Zugang die alltagskulturellen und identitären Bezüge von jamaikanischen Frauen im kanadischen Montreal als transnationale Geographien von Grenzen untersucht.

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Im letzten Kapitel werden Grenz(de)stabilisierungen und Stadt-Land-Hybride diskutiert, womit Geographien der Grenzen explizit in städtischen und ländlichen Kontexten in den Blick kommen. Elisabeth Boesen, Gregor Schnuer und Christian Wille (2020) rekonstruieren Hybridisierungsprozesse am Beispiel der Wohnmigration in die an Luxemburg angrenzenden Regionen, die zwar eher ländlich geprägt sind, durch den Zuzug aus dem Großherzogtum nun aber mehrdimensionale Urbanisierungen erfahren – eine hybride ‚rural urbanity‘ entsteht. Eine wachsende Komplexität scheinbar eindeutiger Differenzierungen vom Urbanen ins Rurale arbeiten auch Jean-Marc Stébé und Hervé Marchal (2020) eindrücklich heraus. Mit einem Frankreich-Fokus wird die Relevanz der gleichzeitigen Berücksichtigung administrativer, alltagskultureller und mentaler Grenzziehungen zur Analyse städtisch-ländlicher Übergangsbereiche verdeutlicht. Geradezu nahtlos schließt der Artikel von Albert Roßmeier (2020) an, indem er einerseits neue Grenzziehungen und andererseits Grenzüberschreitungen, die zu Hybridisierungen führen, im kalifornischen San Diego herausarbeitet. Dabei macht er die Idee hybrider urbaner borderlands als einen innovativen Zugang zu Geographien der Grenzen fruchtbar. Die alltagskulturelle Relevanz von Grenzen im Urbanen stellen schließlich Olaf Kühne, Corinna Jenal und Lara Koegst (2020) am Beispiel von Baton Rouge in Louisiana heraus. Auch dort können zwar Durchmischungen und so Hybridisierungen beobachtet werden, gleichzeitig eine soziale Wirkmächtigkeit des Mississippi als ‚natürliche Grenze‘ und eine Unterscheidung in weiße und schwarze Bevölkerungsgruppen als soziale Grenzziehung, womit tradierte Geographien der Grenzen fortwirken. Die Gesamtschau der Beiträge zeigt, dass Geographien der Grenzen auf verschiedenen Ebenen untersucht werden können und stets aus sozialen Prozessen mit und in ihren räumlichen Bezügen abgeleitet werden. Außerdem wird deutlich, dass Geographien der Grenzen zumeist dann Gegenstand der Betrachtungen sind, wenn soziale und räumliche Diskontinuitäten (temporär) wirksam werden. Sie stehen dann für die aus veränderten Verflechtungen oder Ordnungen hervorgegangenen ‚neuen‘ sozialräumlichen Konfigurationen mit ihren Grenz(ziehung)en. Insofern erweist sich der diesen Band anleitende Begriff als ein Tool, um die Kontingenz von Grenzen, Räumen, Sozialem und ihre Zusammenhänge in den Blick zu bekommen. Die COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 hat geradezu in dramatischer Weise gezeigt, wie unvermittelt und einschneidend (vertraute) Räume, Ordnungen und Verflechtungen infrage gestellt werden können und neue Geographien der Grenzen entstehen. Die Autor*innen in diesem Band leisten einen Beitrag, um Prozesse der (Dis-)Kontinuität besser zu verstehen und dafür geeignete Zugänge zu entwickeln.

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Border Studies und Geographien der Grenzen

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Jun.-Prof. Dr. habil. Florian Weber studierte Geographie, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promovierte er zu einem Vergleich ­ ­deutsch-französischer Stadtpolitiken. Von 2012 bis 2013 war Florian Weber als Projektmanager in der Regionalentwicklung in Würzburg beschäftigt. Anschließend arbeitete er an der TU Kaiserslautern in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Universität der Großregion, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und als Akademischer Rat an der Eberhard Karls

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Universität Tübingen, wo er 2018 habilitierte. Seit dem Sommersemester 2019 forscht und lehrt er als Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Diskurs- und Landschaftsforschung, Border Studies, erneuerbaren Energien sowie Stadtpolitiken und Stadtentwicklungsprozessen im internationalen Vergleich. Dr. Christian Wille  (www.wille.lu) ist Senior Researcher an der Universität Luxemburg und leitet das grenzüberschreitende Netzwerk UniGR-Center for Border Studies. Er lehrt kulturwissenschaftliche Border Studies und arbeitet über Border Complexities. Wille ist Gründungsmitglied der interuniversitären Arbeitsgruppen Cultural Border Studies und Bordertextures sowie Mitherausgeber der Buchreihe Border Studies: Cultures, Spaces, Orders. Zuletzt hat er die Bücher „Border Experiences in Europe“ (2020, Nomos), „Spaces and Identities in Border Regions“ (2016, transcript) und „Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen“ (2015, transcript) herausgegeben. Wille hat an der Universität des Saarlandes und der Universität Luxemburg promoviert, in Luxemburg den fakultären Schwerpunktbereich Migration and Intercultural Studies koordiniert und in der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle der Großregion gearbeitet. Dr.-Ing. Beate Caesar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Raum- und Umweltplanung, Fachgebiet Internationale Planungssysteme an der Technischen Universität Kaiserslautern. Sie studierte an der Technischen Universität Kaiserslautern Raum- und Umweltplanung und absolvierte einen Master in Europäischer Raumplanung an der Blekinge Tekniska Högskola in Karlskrona (Schweden). Im Februar 2018 schloss sie ihr Promotionsvorhaben an der Technischen Universität Kaiserslautern am Fachbereich Raum- und Umweltplanung ab. Von Februar bis April 2019 forschte sie an der Universität Luxemburg im Rahmen einer Gastprofessur des UniGR-Center for Border Studies. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen grenzüberschreitende Raumplanung und Zusammenarbeit, Planungskulturen, Planspiele, Gamification, Border Studies, grenzüberschreitender Verkehr und EU-Politik. Sie ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland der ARL, im UniGR-Center for Border Studies und der Arbeitsgruppe Raumplanung. Julian Hollstegge ist Junior Fellow und Promotionskandidat an der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS), wo er im Fachbereich Politische Geographie zu internationaler Grenzmanagementpraxis, lokalen Übersetzungsprozessen und postkolonialen Formen von Souveränität in der südsudanesisch/ugandischen Grenzregion promoviert. Nach seinem Studium der Geographie (Bayreuth) und Kulturgeographie (Royal Holloway, University of London) hat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Bayreuth geforscht und unter anderem Politische Geographie, Sozialgeographie, Entwicklungsforschung und Methoden der qualitativen Sozialforschung gelehrt.

Grenzregionale Beziehungen und Räume

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux Christian Wille

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die Bedeutung von nationalen Grenzen für räumliche Identitäten in Grenzregionen analysiert. Dafür wird ein mehrdimensionales Analysemodell entwickelt und am Beispiel der Großregion SaarLorLux gefragt, wie die Einwohner*innen den Raum repräsentieren und wie sie ihre alltagskulturellen Praktiken räumlich organisieren. Außerdem werden räumliche Projektionen im politischen Diskurs aufgedeckt und rekonstruiert, inwiefern diese in Identifizierungsprozessen wirksam sind. Die Betrachtungen stützen sich auf eine Repräsentativbefragung der Einwohner*innen Luxemburgs und der an das Großherzogtum angrenzenden Gebiete in Frankreich, Belgien und Deutschland. Der Beitrag zeigt, dass nationale Grenzen in den Identifikations- und Identifizierungsvorgängen der Einwohner*innen der Großregion SaarLorLux trotz grenzüberschreitender Verflechtungen und Alltagsgeographien eine wichtige Rolle spielen, aber nicht zwangsläufig als stabile Ordnungskategorien.

C. Wille (*)  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_2

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1 Einleitung Grenzenüberschreitende Mobilitäten und Verflechtungen sind Ergebnisse und Bedingungen der sich wandelnden Bedeutung von nationalen Grenzen. Dieser Zusammenhang lässt sich anschaulich in europäischen Grenzräumen beobachten, die von grenzüberschreitenden Pendelmobilitäten und anderen funktionalen Verflechtungen gekennzeichnet sind. In der grenzüberschreitenden Region Großregion SaarLorLux (GRSLL) sind solche Austauschbeziehungen besonders ausgeprägt (Wille 2015a) und lassen sowohl auf eine trennende als auch verbindende Wirkung von nationalen Grenzen schließen.

Abb. 1   Die institutionelle Großregion SaarLorLux. Die gepunktete Linie zeichnet die Grenzen der ehemaligen französischen Region Lothringen nach. Entwurf und Kartografie: Malte Helfer

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

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Die GRSLL wird im institutionellen Diskurs zumeist projiziert als grenzüberschreitende Region ‚im Herzen Europas‘ mit elf Millionen Einwohnern, einer Ausdehnung von rd. 65.000 km2, dem größten Grenzgängeraufkommen in der EU, einer langjährigen Erfahrung in der grenzüberschreitenden Kooperation und mit identitätsstiftenden Krisenerfahrungen. Dem größten institutionellen Zuschnitt folgend zählen zur GRSLL die deutschen Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz, die französische Region Grand Est1, die belgische Region Wallonien mit der Französischen Gemeinschaft Belgiens und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens sowie der souveräne Nationalstaat Luxemburg (Abb. 1). Die Kooperationsbeziehungen zwischen diesen Gebieten sind für den Raum ein oft als konstitutiv herausgestelltes Merkmal, blicken die institutionellen Akteure doch auf ein halbes Jahrhundert grenzüberschreitender regionalpolitischer Kooperation zurück (Wille 2012, S. 119–128; Clément 2015; Evrard 2017). In diesem Zuge hat sich ein Diskurs über die GRSLL etabliert, der von Markierungen wie z. B. „gemeinsame Vergangenheit“ oder „Europa im Kleinen“ geprägt ist und auf eine grenzüberschreitende Identität der GRSLL und damit auf eine Relativierung von nationalen Grenzen abzielt. Relevant in bzw. für diesen Diskurs ist das im Jahr 2003 erschienene – und in naher Zukunft neu aufgelegte – Leitbild der regionalpolitischen Zusammenarbeit in der GRSLL, in dem prognostiziert wird, dass sich die Einwohner*innen eines Tages mit ihrer Wohnregion und dem grenzüberschreitenden Raum identifizieren: „Sie [die Menschen] fühlen sich der Großregion zugehörig und empfinden sich als Gemeinschaft. Dennoch sind sie Wallonen, Luxemburger, Lothringer, Rheinland-Pfälzer und Saarländer geblieben.“ (Gipfel der Großregion 2003, S. 1) Die hier ausgerufene Mehrfachzugehörigkeit unterstellt die nationalstaatliche Ordnung als identitätsrelevant und relativiert diese zugleich (dazu auch Crossey und Weber 2020 in diesem Band). Diese Ambivalenz soll näher untersucht werden, wobei Identitäten als Ergebnisse von sozialen Prozessen im Allgemeinen und als Resultate der ‚räumlichen Auseinandersetzung‘ im Besonderen – in denen Projektionen, Repräsentationen, Aneignungen, physisch-körperliche Erfahrungen usw. wirksam

1Im

Zuge der französischen Gebietsreform wurden zum 1. Januar 2016 die ehemaligen Regionen Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne zur Region Grand Est zusammengefasst. Vor der Gebietsreform zählte auf französischer Seite die Region Lothringen zur Großregion SaarLorLux, heute wird das Gebiet der ehemaligen Region Lothringen in die regionalpolitische großregionale Zusammenarbeit einbezogen.

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sind – verstanden werden (Reckwitz 2001; Reckinger und Wille 2011; Wille und Reckinger 2015; Wille und Hesse 2016). Diese als Doing Identity (IPSE 2011) bezeichnete Perspektive auf Identitäten wird in diesem Beitrag in die Fragen übersetzt, inwiefern eine GRSLL in ihrer territorialen Verfasstheit identifiziert wird und inwiefern die Einwohner*innen sich mit dem (grenzüberschreitenden) Raum – genauer gesagt mit den für ihn konstitutiven Projektionen und Erfahrungen – identifizieren. Für die interessierenden Prozesse der grenzüberschreitenden Identifikation und des grenzüberschreitenden Identifizierens ist weniger das territoriale Ordnungsprinzip maßgeblich denn vielmehr die empirischen Raumkonstitutionen bzw. Geographien der Grenze, die sich entlang sowie über nationale Grenzen hinweg vollziehen und nicht apriorisch administrativ ‚geordnet‘ sein müssen. Dafür wird ein Analysemodell in Form einer 4-Felder-Matrix entwickelt, das räumliche Identitäten als Doing Identiy zu untersuchen erlaubt. Dieser Heuristik folgend werden institutionelle und alltagskulturelle Identifikationen der GRSLL und Identifizierungen mit der GRSLL vorgestellt, die im Wesentlichen auf Befunden einer Repräsentativbefragung2 der Einwohner*innen Luxemburgs und der an das Großherzogtum angrenzenden Gebiete in Lothringen3, Wallonien, Rheinland-Pfalz und im Saarland beruhen (Wille et  al. 2016, S. 44–49). Abschließend wird die Frage diskutiert, welche Rolle nationale Grenzen in den untersuchten Identifikations- und Identifizierungsprozessen spielen.

2 Zur Analyse räumlicher Identitäten Die Analyse von räumlichen Identitäten bezieht sich in mehrfacher Hinsicht auf ein performatives Moment. Damit angesprochen ist der Umstand, dass weder die Kategorie ‚Raum‘ noch ‚Identität‘ als unhinterfragt gegeben, sondern jeweils als sozial hervorgebracht vorausgesetzt werden (Wille und Reckinger 2015; vgl. auch Weber et al. 2020 in diesem Band). Kajetzke und Schroer (2015, S. 11) sprechen daher „statt von dem ‚Raum‘ von der Praxis des Verräumlichens […], da Räumlichkeit erst über das Zusammenwirken von Körpern, Materialitäten und Wissensbeständen entsteht.“ Dies impliziert, dass Räume und Identitäten

2Gewichtete Stichproben: n(Saarland)  = 314; n(Rheinland-Pfalz) = 581; n(Lothringen) =  867; n(Wallonien) = 517; n(Luxemburg) = 1021. 3Da die ehemalige Region Lothringen zum Zeitpunkt der Untersuchung zur Großregion SaarLorLux zählte, wird auch im Folgenden noch von der Region Lothringen gesprochen.

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als kontingent und politisch anzunehmen sind, d. h. als empirisch offen, veränderbar und von Machtverhältnissen durchzogen. Den Machtaspekt, der z. B. in (de-)stabilisierenden Verräumlichungen zum Ausdruck kommt, führt Pott (2007, S. 28) in Bezug auf Identitäten folgendermaßen aus: „Identität ist Verhandlungssache, ein Kampf um Bedeutungen innerhalb von Diskursen, Machtoperationen, sozialen Beziehungen oder Netzen.“ Beide Zitate zeigen, dass räumliche Identitäten als Prozesse in den Blick genommen werden müssen, die in Strategien der Verräumlichung und der damit verbundenen Bedeutungskonstitution zum Ausdruck kommen. Daneben ist auf die Relationalität von Identitäten einzugehen, d. h. auf den Umstand, dass sich Identitätsformierungen stets in Beziehung zu einem anderen vollziehen (vgl. auch Fellner 2020 in diesem Band). Oder vom Akt der Demarkation her formuliert: „Every demarcation is an act of differentiation, which implies the constitution of meaning, just as every definition is based on the principle of bordering. […] The establishment of borders is […] of paramount importance for forming symbolic and social orders.“ (Doll und Gelberg 2016, S. 17) Grenzen in ihrer demarkierenden Eigenschaft sind demnach konstitutiv für (räumliche) Ordnungen bzw. Identitäten, weshalb der Begriff der Grenze für das Nachdenken über Identitäten zentral ist. Dieser darf jedoch besonders in grenzüberschreitenden Untersuchungszusammenhängen nicht auf nationale Grenzen (oder auf national kategorisierte Andere) verengt werden. Vielmehr ist ein Begriff anzulegen, der Grenzen als soziale Hervorbringungen versteht und ihnen unterschiedliche Materialisierungen bzw. Artikulationsweisen einräumt. Ein solches Verständnis ist im Konzept border experiences angelegt, wie es Wille und Nienaber (2020, S. 10) formulieren: „The concept of border experiences ties in with the idea of the border as a social (re-)production […]. Border experiences strengthen […] the role and agency of those who ‘inhabit’ the border, meaning those who are entangled in them and who with their (bodily and sensory) experiences or generation of meaning in and through everyday practices, narratives, representations or objects continuously (re-)produce them. It is an approach that focuses on ‘border(lands)residents’ and their border experience in order to better understand the modes of action and function […] in which borders are appropriated and thereby produced.“

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Border experiences bieten also geeignete Anknüpfungspunkte für die Untersuchung von räumlichen Identitäten, durch die Grenzen im Sinne von demarkierenden Alltagsgeographien eingesetzt, bestätigt, verschoben, aufgehoben – kurz: sozial verhandelt – und manifest werden. Um solche U ­ n-/Ordnungsprozesse der empirischen Analyse zugänglich zu machen, wird unterschieden zwischen diskursiv-repräsentativen Praktiken, die über Sprache und Zeichen einen bedeutungsvollen Raum hervorbringen, und p­raktisch-performativen Praktiken, die über die körperliche Auseinandersetzung mit der physischmateriellen Umwelt einen bedeutungsvollen Raum konstituieren. Diese Unterscheidung schließt an die Grundformen raumbezogener Identifikation nach Graumann (1983) an und lässt sich als Identifikation von Raum und als Identifizierung mit Raum reformulieren. Unter Identifikationsprozessen werden dabei Praktiken des Erkennens, Kategorisierens und Markierens von Räumen verstanden, denen darüber (und in Abgrenzung zu anderen Räumen) bestimmte Eigenschaften zugewiesen werden. Ihre Untersuchung gibt Aufschluss über gelebte und projizierte räumliche Repräsentationen und die darin codierten Demarkationen und Bedeutungen. Mit Identifizierungsprozessen werden Umgangsweisen mit Raum bezeichnet, genauer gesagt mit den auf ihn bezogenen Projektionen und physisch-körperlichen Erfahrungen. Sie äußern sich empirisch in handlungspraktischen Raumaneignungen oder räumlichem Zugehörigkeitsempfinden, die variabel sind und mit verschiedenen Bedeutungen versehen werden. Die beschriebenen Zugänge zu (grenzüberschreitenden) räumlichen Identitäten sollen sowohl aus institutioneller als auch alltagskultureller Perspektive untersucht werden. Dafür wird gefragt, wie die Einwohner*innen die GRSLL repräsentieren (Identifikation von) und wie sie ihre alltagskulturellen Praktiken räumlich organisieren (Identifizierung mit). Aus institutioneller Perspektive wird der Frage nachgegangen, welche räumlichen Projektionen im politischen Diskurs auszumachen sind (Identifikation von) und inwiefern diese eine Grundlage bilden für Identifizierungsprozesse der Einwohner*innen der GRSLL (Identifizierung mit). Beide Frageperspektiven, die entlang der Quadranten A bis D (siehe Tab. 1) auf Grundlage von empirischen Befunden ausgeführt werden, erlauben Aussagen über (grenzüberschreitende) Identitäten (in) der GRSLL und damit über Geographien der Grenze.

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

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Tab. 1   Felder-Matrix zur Untersuchung räumlicher Identitäten und heuristische Leitfragen am Beispiel der GRSLL Emp. Betrachtungsebenen Konzeptioneller Zugang

Institutionelle Dimension

Alltagskulturelle Dimension

QA Identifikation von Raum

Identifizierung mit Raum

QB

Welche räumlichen Eigen- Wie wird die GRSLL schaften von den Einwohnern werden von institutionellen repräsentiert? Akteuren der GRSLL projiziert? Inwiefern bilden räumliche Wie organisieren die Projektionen eine Grundlage für Einwohnern der GRSLL ihre Einwohner der GRSLL? alltagskulturellen Praktiken räumlich? QD

QC

Eigene Darstellung

3 Institutionelle Identifikationen (QA) Zur Ausleuchtung von institutionellen Identifikationen der GRSLL, d. h. von räumlichen Projektionen, werden die Ergebnisse von Sonja Kmec (2010) aufgegriffen, die den Diskurs von institutionellen Akteuren der GRSLL und den darin codierten „erzählten Raum“ (Harendt und Sprunk 2011) analysiert. Neben der Feststellung „La Grande Région est une construction politique des années 1970“4 (Kmec 2010, S. 48) arbeitet sie ‚gemeinsame großregionale Identität‘ als ein generelles Motiv des politischen Diskurses heraus, das sich wiederum in Teilmotive mit unterschiedlichen zeitlichen Referenzpunkten auffächert: Gemeinsame Vergangenheit (l’Europe avant-la-lettre): Kmec (2010) identifiziert die vergangenheitsorientierten Teilmotive der grenzüberschreitenden (Kultur-)Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, in deren Zusammenhang mit

4Eigene

Übersetzung: „Die Großregion ist eine politische Konstruktion der 1970er Jahre.“

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unhinterfragten Gemeinsamkeiten der Teilgebiete operiert wird. Exemplarisch dafür steht ein Auszug aus der Erklärung des 1. Gipfel der Großregion (1995, S. II): „Sie [die politischen Vertreter der Teilgebiete] stellen gemeinsam fest, daß sich unter den Bewohnern der europäischen Kernregion ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat, das sich in vielen grenzüberschreitenden Maßnahmen und Projekten täglich bewährt. Dieses erwächst nicht nur aus dem Willen der Gegenwart, sondern auch aus dem Erbe einer vielfältigen gemeinsamen historischen Erfahrung. Über ein Jahrtausend – bis in das einstige Zwischenreich Lotharingia – reichen die gemeinsamen kulturellen Wurzeln zurück. Während der Hochindustrialisierung formierte sich der betreffende Raum zu einem zusammenhängenden Wirtschaftsgebiet. An diese Traditionen knüpft seit einigen Jahrzehnten die Zusammenarbeit in der ‚Saar-Lor-Lux‘-Region im Zeichen der Europa-Idee an.“

Als raumkonstitutive Elemente, die in der Vergangenheit liegen, werden im politischen Diskurs v. a. die gemeinsamen ‚kulturellen Wurzeln‘, die bis ins Mittelreich Lotharingien im 10. Jh. zurückreichen, sowie die im 18. Jh. einsetzende Industrialisierung aufgerufen mit dem Ziel, den Raum in seinem gegenwärtigen geopolitischen Zuschnitt mit einer gemeinsam geteilten Geschichte auszustatten. Kmec (2010, S. 55) spricht in diesem Zusammenhang vom „recours à la Lotharingie comme antécédent médiéval des contacts économiques et échanges culturels de la fin du XXe siècle“5. Gemeinsame Gegenwart (l’Europe en miniature): In gegenwartsbezogener Hinsicht arbeitet Kmec das Teilmotiv einer grenzüberschreitenden Kultur als ein die GRSLL kennzeichnendes und die Einwohner*innen verbindendes Element heraus. Darunter subsumiert werden im untersuchten Diskurs verschiedene deklarierte Eigenschaften, die in politischen Rhetoriken („Europäisches Labor“, „interkulturelle Kompetenz“, „Brückenfunktion“ etc.) oder in morphologischen Merkmalen des Raums zum Ausdruck kommen. So führt ein luxemburgischer Abgeordneter die die GRSLL umschließenden Mittelgebirgsketten in den Blick, welche als natürliche Demarkationen eine grenzüberschreitende räumliche Einheit begründen sollen. Der Europaabgeordnete Jo Leinen erläutert, dass die GRSLL per se von wirtschaftlichen und kulturellen Austauschprozessen und einer ähnlichen Kulturlandschaft geprägt sei, die im Laufe der Geschichte allerdings künstlich getrennt bzw. unterbunden wurden. Die projizierte grenzüberschreitende Kultur wird also als ein gegebenes Merkmal der GRSLL und als

5Eigene

Übersetzung: „Rückgriff auf Lotharingien als mittelalterlicher Vorläufer der wirtschaftlichen Kontakte und kulturellen Austauschbeziehungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts.“

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

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schon immer seiend festgeschrieben: „La culture transfrontalière est en quelque sorte naturalisée et s’oppose aux déliminations politiques, imposé par l’homme“6 (Kmec 2010, S. 58). Gemeinsame Zukunft (l’Europe en harmonie): Anhand des o.g. Leitbilds der SaarLorLux-Politik arbeitet Kmec (2010, S. 58–59) ein weiteres Teilmotiv großregionaler Identität heraus, das als zukunftsorientierter Identitätsbaustein projektiert wird. Es handelt sich um die Vision eines grenzüberschreitenden Raums, der trotz und/oder aufgrund seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt als Einheit identifiziert werden soll. Damit ruft der Diskurs eine bereits auf europäischer Ebene formulierte Vision auf („Einheit in der Vielfalt“ bzw. „in Vielfalt geeint“), die auf kulturelle Diversität und Mehrsprachigkeit abhebt und an die o.g. gegenwartsbezogene Projektion der GRSLL als „Europäisches Labor“ sowie an die einleitend thematisierte Mehrfachzugehörigkeit der Einwohner*innen anschließt. Zur Verwirklichung des Teilmotivs soll v. a. das Ereignis „Luxemburg und Großregion, europäische Kulturhauptstadt 2007“ beitragen, indem es „eine[r] kreative[n] Synthese“ schafft „von Einheit in der Vielfalt auf einer neuen Ebene von Identität“ (Gipfel der Großregion 2003, S. 12). Hier und in anderen diskursiven Praktiken, die das zukunftsorientierte Teilmotiv begründen, bleiben die räumlichen Zuweisungen relativ unpräzise, worauf auch Kmec (2010, S. 59) hinweist: „Les formulations sont délibérément vagues et permettent d’y déceler une hybridation culturelle (l’émergence d’un espace nouveau) tout comme le maintien de particularités culturelles (régionales et nationales).“7 Die anhand von diskursiv-repräsentativen Praktiken herausgearbeiteten Teilmotive wurden an dieser Stelle als institutionelle Identifikationen der GRSLL thematisiert. Daran anschließend wird weiter unten gefragt, inwiefern sie für die Einwohner*innen der GRSLL für Identifizierungsprozesse relevant sind.

4 Alltagskulturelle Identifikationen (QB) Für die Untersuchung von alltagskulturellen Identifikationen der GRSLL, d. h. von räumlichen Repräsentationen und Zuschreibungen durch ihre Einwohner*innen, wird auf die Ergebnisse einer Interviewserie (N = 47; Wille et  al. 6Eigene

Übersetzung: „Die grenzüberschreitende Kultur wird in gewisser Weise naturalisiert und überwindet die vom Menschen eingesetzten politischen Grenzen.“ 7Eigene Übersetzung: „Die Formulierungen wurden absichtlich vage gehalten und lassen eine kulturelle Hybridisierung erkennen (Herausbildung eines neuen Raums), ebenso wie ein Fortbestehen kultureller (regionaler und nationaler) Besonderheiten.“

34

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2016, S. 50–52) zurückgegriffen. Darin wurde in offener Form ermittelt, was die Einwohner*innen der GRSLL unter ‚Großregion‘ verstehen. Ein Großteil der Befragten versucht zunächst den geographischen Zuschnitt der GRSLL zu bestimmen. Dabei werden besonders häufig die Länder Luxemburg, Frankreich und Deutschland, die Regionen Province de Luxembourg, Saarland und ­Rheinland-Pfalz und die Städte Trier, Saarbrücken, Arlon genannt. Angeführt wird auch der Begriff ‚SaarLorLux‘ zur Bezeichnung der „alten Großregion“, womit die industrielle Vergangenheit der Region, aber auch der – um RheinlandPfalz und Wallonien – erweiterte geopolitische Zuschnitt thematisiert werden. Daneben treffen die Befragten wenig spezifische Aussagen, wenn sie „die Städte um Luxemburg herum“, „alles im Umkreis von 100 km um Luxemburg“ oder „ein bisschen Deutschland, ein bisschen Frankreich und ein bisschen Belgien“ zur GRSLL zählen. Die Befragten repräsentieren die GRSLL demnach variabel und als eine Gruppe von Ländern, Regionen und/oder Städten, die sich weniger mit dem regionalpolitischen Kooperationsgebiet deckt denn vielmehr mit dem sogenannten Kernraum der GRSLL (Scholz 2011, S. 294; ESPON/Metroborder 2010; Schmitt-Egner 2005, S. 180–185), was mit den unten erläuterten alltagskulturellen Geographien der Befragten erklärbar ist. Außerdem geben einige Befragte an, dass sie mit ‚Großregion‘ über die mediale Berichterstattung vertraut seien. Angesprochen wird z. B. ein Radiosender, der damit wirbt in der GRSLL zu senden und der neben dem Wetterbericht und den Verkehrsnachrichten auch kulturelle Veranstaltungen aus den verschiedenen Teilgebieten bekannt gibt. Ferner werden Gratiszeitungen genannt, die in Luxemburg und an den Bahnhöfen der unmittelbar angrenzenden Ortschaften ausliegen (Lamour 2019), in denen „man immer wieder von Großregion lese“. Daneben wird ‚Großregion‘ mit der o.g. Großveranstaltung in Verbindung gebracht: Luxemburg und die GRSLL waren im Jahr 2007 Standort der Kulturhauptstadt Europas, was auch der Name des Events „Luxemburg und Großregion, Kulturhauptstadt Europas 2007“ anzeigt. Die Veranstaltung, die in der grenzüberschreitenden Medienöffentlichkeit sehr präsent war, bildet einen zentralen Referenzpunkt in der Ausrufung einer Identität der GRSLL. So ging es bspw. auch dem Veranstaltungsmarketing darum, „Luxemburg im Kontext der Großregion im Sinne eines Zuschreibungsprozesses zu markieren“ und der Region eine „(groß-)regionale Identität“ (Reddeker 2011, S. 196–197) zu verleihen. Ferner wird der Begriff ‚Großregion‘ mit der europäischen bzw. grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Zusammenhang gebracht, wobei die Gremien der politischen Kooperation nicht genannt, sondern die alltagskulturell erfahrbar werdenden Ergebnisse der Zusammenarbeit angesprochen werden:

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

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der freie Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr oder grenzüberschreitende Verkehrsprojekte. Hervorgehoben wird, „dass vieles einfacherer geworden ist“, „das Zusammenwachsen“ und „Miteinander“ sowie die „Leichtigkeit, mit der die Grenzen überschritten“ werden können. Die Befragten assoziieren ‚Großregion‘ demnach mit den Ergebnissen der institutionellen Zusammenarbeit, die im Alltag erfahrbar sind, und zeichnen eine Geographie der GRSLL mit durchlässigen nationalen Grenzen. Ein weiterer thematisierter Themenkomplex ist die Grenzgängerbeschäftigung in Luxemburg. Die Befragten im Großherzogtum betonen, dass das Land „wegen der Grenzgänger“ auf die ‚Großregion‘ angewiesen sei (aufgrund unzureichender lokaler Arbeitskräfte). Von den Befragten der anderen Teilgebiete wird die grenzüberschreitende Bedeutung Luxemburgs herausgestellt, etwa als bedeutender Arbeitgeber für Grenzgänger (Wille 2015b) oder als wirtschaftlicher „driver“, der auf die Nachbarregionen abstrahlt. Den Befragten zufolge sind also auch die grenzüberschreitenden funktionalen Verflechtungen in den Bereichen Beschäftigung und Wirtschaft konstitutiv für die GRSLL. Mit der Durchlässigkeit nationaler Grenzen verbinden die Einwohner*innen ebenfalls die Möglichkeit, „schnell in einem anderen Land zu sein“ und berichten von grenzüberschreitenden Alltagspraktiken, die im Folgenden besprochen werden.

5 Alltagskulturelle Identifizierungen (QC) Für die Untersuchung von alltagskulturellen Identifizierungen mit der GRSLL, d. h. von räumlichen Erfahrungen und Aneignungen, werden die Alltagspraktiken der Einwohner*innen in ihrer räumlichen An/Ordnung (Löw 2000) betrachtet. Dafür werden die quantitativen Ergebnisse von Wille et al. (2016) herangezogen, deren Befunde zeigen, dass drei Viertel (76 %) der Einwohner*innen der GRSLL regelmäßig Aktivitäten im benachbarten Ausland ausführen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um das Einkaufen für den täglichen Bedarf, das Erholen im Grünen/Tourismus, das Besuchen von kulturellen Veranstaltungen und das Besuchen von Freunden.8 Der Einkauf für den täglichen Bedarf wird von den Einwohner*innen der angrenzenden Länder besonders oft in Luxemburg erledigt, v. a. von den Ein-

8Hinzu

kommen die Praktiken ‚Shoppen‘ und ‚Besuchen von Familienmitgliedern‘, die in diesem Beitrag ausgespart werden (vgl. weiterführend Wille 2015c).

36

C. Wille

Tab. 2   Räumliche Verteilun der Praktik ‚Einkaufen‘ (täglicher Bedarf) nach Wohnregionen der Befragten in Prozent (Mehrfachnennungen) Wohnregionen

Angrenzendes Frankreich

Angrenzendes Deutschland

Angrenzendes Luxemburg

Angrenzendes Belgien

4

96

Saarland

12

98

8

0

Wallonien

16

10

27

69

Lothringen

71

23

23

5

Luxemburg

15

32

70

12

Rheinland-Pfalz

15

2

Wille et al. 2016

wohner*innen der frankofonen Nachbarregionen (Tab. 2). Umgekehrt wiederum kaufen die Einwohner*innen des Großherzogtums im Vergleich der Teilgebiete am häufigsten in den angrenzenden Ländern ein. Neben ökonomischen Überlegungen spielen dabei vermutlich auch soziokulturelle Aspekte eine Rolle, wenn z. B. Luxemburger*innen Deutschland zum Einkaufen präferieren und die im Großherzogtum ansässigen Ausländer*innen das französischsprachige Frankreich und Belgien bevorzugen. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung der GRSLL erledigt den Einkauf auch im benachbarten Deutschland. Besonders beliebt sind die beiden Bundesländer bei der Luxemburger Wohnbevölkerung, gefolgt von den Einwohner*innen Lothringens. Lediglich 10 % der Befragten aus Wallonien fahren auch ins angrenzende Deutschland, wo sie vermutlich überwiegend in R ­ heinland-Pfalz einkaufen (Cavet et al. 2006, S. 55). Das angrenzende Frankreich nimmt Platz drei der beliebtesten Einkaufsdestinationen ein und steht ähnlich intensiv im Schnittpunkt der Konsument*innenströme aus Wallonien und Luxemburg. Für die Einwohner*innen von Rheinland-Pfalz spielt – im Gegensatz zu den Einwohner*innen des Saarlandes – das angrenzende Frankreich eine nachrangige Rolle beim Einkaufen. Außerdem ist festzuhalten, dass die Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer in erster Linie Lebensmittel und Genusswaren im benachbarten Ausland erwerben, bei den Einwohner*innen der frankofonen Teilgebiete kommen Haushaltswaren und Textilien dazu; die Einwohner*innen Luxemburgs weisen keinen spezifischen Produktschwerpunkt auf (Wille 2015c). Die Gründe für die grenzüberschreitende Erledigung des Einkaufs ergeben sich aus Preisunterschieden zwischen den Teilgebieten der GRSLL, einer jeweils ‚anderen‘ Produktpalette verbunden mit Produktvariation und deren positivem Erleben.

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

37

Daneben sind praktische Aspekte relevant, wie z. B. die bessere Erreichbarkeit oder an den individuellen Alltag angepasste Öffnungszeiten von Einkaufsstätten in einer Nachbarregion (Wille 2015c). Die beschriebenen räumlichen Aneignungen belegen alltagskulturelle Identifizierungen der Einwohner*innen mit der GRSLL. Dies verweist auf die Erfahrung von durchlässigen nationalen Grenzen, obgleich die Befragten den Einkauf noch am häufigsten am Wohnort bzw. im Wohnland erledigen. Von diesem Befund kann aber nicht vorschnell auf eine Trennwirkung nationaler Grenzen in der GRSLL geschlossen werden, spielen für die räumliche Organisation von alltagskulturellen Praktiken doch auch andere Aspekte als Grenzen eine Rolle: z. B. Mobilitätsfähigkeit, räumliche Entfernung, Handlungsmotivation oder Sprachkompetenz. Grenzüberschreitende Alltagsgeographien lassen sich auch im Hinblick auf (touristische) Erholungspraktiken im Grünen in der GRSLL beobachten (Tab. 3). Am häufigsten werden von den Einwohner*innen das angrenzende Frankreich und Luxemburg für grenzüberschreitende touristische Ausflüge aufgesucht. Frankreich zieht besonders die Einwohner*innen aus dem Großherzogtum und aus Wallonien an, gefolgt von den Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer – wobei sich die Einwohner*innen des Saarlandes von denen aus Rheinland-Pfalz mit häufigeren Fahrten ins angrenzende Frankreich abheben. Hingegen ist das Erholungsverhalten der Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer in Luxemburg ähnlich: Jeweils rund ein Viertel der Befragten aus dem Saarland und aus Rheinland-Pfalz fahren regelmäßig nach Luxemburg zur Erholung. Eine größere Anziehungskraft übt das Großherzogtum auf die frankofonen Anrainer aus, da sowohl die Einwohner*innen Walloniens als auch

Tab. 3   Räumliche Verteilung der Praktik ‚Erholung im Grünen/Tourismus‘ nach Wohnregionen der Befragten in Prozent (Mehrfachnennungen) Wohnregionen

Angrenzendes Frankreich

Angrenzendes Deutschland

Angrenzendes Luxemburg

Angrenzendes Belgien

Rheinland-Pfalz

13

90

25

6

Saarland

28

88

28

11

Wallonien

39

16

34

62

Lothringen

64

25

33

15

Luxemburg

40

41

58

30

Wille et al. 2016

38

C. Wille

Lothringens zu jeweils rund einem Drittel das Land für Erholungspraktiken aufsuchen. Das angrenzende Deutschland ist für zwei Fünftel der Einwohner*innen Luxemburgs eine beliebte Ausflugsdestination, wobei vermutlich v.  a. ­Rheinland-Pfalz aufgesucht wird. Aus Lothringen kommt ein Viertel der Einwohner*innen und aus Wallonien kommen noch 16 % der Einwohner*innen nach Deutschland, um sich hier zu erholen. Das angrenzende Belgien schließlich rangiert – trotz seiner großen Waldflächen in Wallonien – auf dem letzten Platz der Ausflugsdestinationen. Knapp ein Drittel der Luxemburger Wohnbevölkerung sucht noch das benachbarte Belgien zur Erholung auf, mit Abstand gefolgt von den Einwohner*innen Lothringens. In den beiden deutschen Bundesländern unternehmen mit 11 % noch v. a. Personen aus dem Saarland touristische Ausflüge ins angrenzende Belgien. Für die geschilderten Erholungspraktiken ursächlich sind vermutlich der (naturnahe) Aktivtourismus in der GRSLL, der v. a. in den Gebirgsgegenden verbreitet ist, sowie die Angebote des Gesundheitstourismus, warten die Teilgebiete doch mit einer relativ hohen Kurortdichte auf. Daneben ist der Kulturtourismus in der GRSLL zu erwähnen, der vom historischen Erbe der Region profitiert. Wöltering (2010) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Industriebzw. Militärtourismus, der mit vergangenen und die Sozialgeschichte des Raums prägenden Industrien sowie mit kriegerischen Auseinandersetzungen verknüpft ist. Festzuhalten ist, dass sich die Einwohner*innen der GRSLL zwar in erster Linie an ihrem Wohnort bzw. in ihrem Wohnland erholen, dennoch sind grenzüberschreitende Erholungspraktiken durchaus verbreitet. Dabei handelt es sich vermutlich oft um naturnahe und touristische Tagesausflüge, die als grenzüberschreitende Geographien und somit als alltagskulturelle Relativierungen von nationalen Grenzen aufzufassen sind. Die französischsprachigen Teilgebiete spielen hier eine besondere Rolle, ist das angrenzende Frankreich doch v. a. bei den Einwohner*innen Walloniens und Luxemburgs eine beliebte Freizeitdestination. Das Großherzogtum wiederum wird besonders häufig von den Einwohner*innen Walloniens und Lothringens zur Erholung aufgesucht, was bei ihnen auf bevorzugte räumliche Identifizierungen mit dem Dreiländereck Lothringen-Luxemburg-Wallonien hindeutet. Diese räumliche Konfiguration wird vom angrenzenden Deutschland komplettiert, in das v. a. die Einwohner*innen Luxemburgs und Lothringens touristische Ausflüge unternehmen. Hinsichtlich des Besuchens von kulturellen Veranstaltungen in den Nachbarregionen ist festzustellen, dass diese Praktik in der GRSLL (noch) vergleichsweise schwach ausgeprägt ist (Tab. 4). Außerdem werden kulturelle

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

39

Tab. 4   Räumliche Verteilung der Praktik ‚Besuch von kulturellen Veranstaltungen‘ nach Wohnregionen der Befragten in Prozent (Mehrfachnennungen) Wohnregionen

Angrenzendes Frankreich

Angrenzendes Deutschland

Angrenzendes Luxemburg

Angrenzendes Belgien

8

80

16

Saarland

8

81

12

4

Wallonien

11

4

12

59

Lothringen

61

7

18

7

Luxemburg

20

22

60

11

Rheinland-Pfalz

4

Wille et al. 2016

Veranstaltungen noch deutlich am häufigsten am Wohnort bzw. im Wohnland der Befragten besucht. Für beide Befunde spielen neben den angebotenen Veranstaltungen und Kulturinfrastrukturen vermutlich Sprachkenntnisse und das generelle Interesse der Einwohner*innen an kulturellen Angeboten eine Rolle. An dieser Stelle die Trennwirkung nationaler Grenzen ins Feld zu führen für vergleichsweise schwache Identifizierungen mit dem grenzüberschreitenden Raum, würde daher zu kurz greifen. Die Einwohner*innen der GRSLL suchen am häufigsten Luxemburg auf, um kulturelle Veranstaltungen im benachbarten Ausland zu besuchen. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Einwohner*innen aus Lothringen und ­Rheinland-Pfalz; die Befragten in Wallonien und im Saarland folgen mit leichtem Abstand. Die starke Anziehungskraft des Großherzogtums kann auf das dortige mehrsprachige und attraktive kulturelle Angebot zurückgeführt werden. Ins angrenzende Frankreich kommen v. a. die Einwohner*innen Luxemburgs für kulturelle Veranstaltungen; mit 11 % noch die Einwohner*innen Walloniens. Aus den beiden deutschen Bundesländern fahren vergleichsweise wenige Befragte nach Frankreich, womit das kulturelle Angebot in Lothringen v. a. ein französischsprachiges Publikum anzuziehen scheint. Im angrenzenden Deutschland besucht ein gutes Fünftel der Einwohner*innen Luxemburgs kulturelle Veranstaltungen. Die Befragten der französischsprachigen Regionen hingegen nutzen das kulturelle Angebot in Deutschland kaum, was mit eventuellen Sprachbarrieren erklärbar ist. Für die Einwohner*innen Lothringens ist das kulturelle Angebot im benachbarten Belgien – wenn auch auf niedrigem Niveau – tendenziell attraktiver als das in Deutschland; für die Befragten der beiden deutschen Bundesländer ist es noch nachrangiger als das in Frankreich. Beim grenzüberschreitenden Besuchen von kulturellen Veranstaltungen zeichnet sich die zentrale Rolle Luxemburgs ab, die auf dem kulturellen Angebot,

40

C. Wille

aber ebenso auf den unterschiedlichen Sprachen, in denen Ausstellungen, Filme, Theaterstücke etc. angeboten werden, gründet. So werden gleichermaßen die Einwohner*innen aus den deutsch- und französischsprachigen Nachbarregionen erreicht und eventuelle Sprachbarrieren, auf die die Besucher*innenströme zwischen eher deutsch- bzw. eher französischsprachigen Teilgebieten hindeuten, überwunden. Luxemburg übernimmt somit in der GRSLL eine vermittelnde Rolle, die sich auch in umgekehrter Richtung äußert, nämlich in der im großregionalen Vergleich größten grenzüberschreitenden Orientierung beim Besuchen von kulturellen Veranstaltungen. Die Luxemburger Wohnbevölkerung besucht zu jeweils einem Fünftel regelmäßig kulturelle Veranstaltungen im angrenzenden Deutschland und Frankreich, womit v. a. in dieser Gruppe grenzüberschreitende räumliche Identifizierungen verbreitet sind. Schließlich zählt zu den häufigsten grenzüberschreitenden Alltagspraktiken in der GRSLL das Besuchen von Freunden in einer Nachbarregion (Tab. 5). Es ist allerdings davon auszugehen, dass angesichts sonstiger grenzüberschreitender Geographien – etwa im Kontext der o.g. Praktiken oder der Grenzgängerbeschäftigung (Wille 2012, 2015b; Wille und Roos 2018) – in der GRSLL mehr grenzüberschreitende persönliche Beziehungen bestehen als in den erhobenen Besuchspraktiken zum Ausdruck kommt. Außerdem ist zu erwähnen, dass eine Wohnlage in Grenznähe begünstigend auf grenzüberschreitende Besuchspraktiken wirkt und hier Kontakte zu Freunden bzw. Bekannten aus einer Nachbarregion verbreiteter als im Hinterland sind (Wille 2015c, S. 152). Die Einwohner*innen der GRSLL suchen am häufigsten das angrenzende Frankreich und Luxemburg auf, um Freunde im angrenzenden Ausland zu besuchen. Besonders oft fahren Personen aus Luxemburg und leicht abgeschlagen Personen aus Wallonien nach Frankreich, was auf ausgeprägte freundschaftliche Beziehungen zwischen den Einwohner*innen dieser Gebiete hindeutet. Die Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer besuchen Freunde im Tab. 5   Räumliche Verteilung der Praktik ‚Freunde besuchen‘ nach Wohnregionen der Befragten in Prozent (Mehrfachnennungen) Wohnregionen

Angrenzendes Frankreich

Angrenzendes Deutschland

Angrenzendes Luxemburg

Angrenzendes Belgien

7

95

12

3

Saarland

15

96

14

6

Wallonien

26

9

17

76

Lothringen

75

10

17

10

Luxemburg

32

31

67

25

Rheinland-Pfalz

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

41

benachbarten Frankreich vergleichsweise selten, auch wenn hier die Befragten aus dem Saarland mit mehr als doppelt so vielen Besuchen hervorstechen. Das Großherzogtum steht ähnlich intensiv im Schnittfeld von Besucher*innenströmen aus allen angrenzenden Regionen, wenngleich die Einwohner*innen der frankofonen Teilgebiete etwas häufiger Freunde in Luxemburg aufsuchen als die Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer. Umgekehrt fahren die Einwohner*innen Luxemburgs in erster Linie ins angrenzende Deutschland, um freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Das angrenzende Belgien wird vergleichsweise selten für Freundschaftsbesuche aufgesucht: Noch ein Viertel der Einwohner*innen Luxemburgs und noch 10 % der Befragten aus Lothringen pflegen dort freundschaftliche Beziehungen. Die anhand von grenzüberschreitenden Freundschaftsbesuchen rekonstruierten Geographien verweisen auf alltagskulturelle Grenzziehungen zwischen deutschsprachigen Teilgebieten einerseits und französischsprachigen Teilgebieten andererseits sowie auf die zentrale Stellung Luxemburgs für grenzüberschreitende Identifizierungen. Das Großherzogtum wird nicht nur ähnlich intensiv von Personen aller Teilgebiete aufgesucht, gleichzeitig ist das Besuchen von Freunden in den Anrainerregionen unter den Einwohner*innen Luxemburgs besonders verbreitet.

6 Identifizierungen mit institutionellen Kategorien (QD) Abschließend werden Identifizierungen mit institutionellen Kategorien in (der) GRSLL beleuchtet. Dafür wird der Frage nachgegangen, inwiefern geopolitische Raumkategorien und räumliche Projektionen in den Identifizierungen der Einwohner*innen der GRSLL mit dem grenzüberschreitenden Raum wirksam sind. Die Betrachtungen stützen sich auf Befunde von Wille et al. (2016), die das räumliche Zugehörigkeitsempfinden der Einwohner*innen sowie ihre Wahrnehmung der Teilgebiete als (nicht-)distinkte Kategorien untersucht haben. In der Studie wurden die Einwohner*innen zunächst gefragt, inwiefern sie sich unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen zugehörig fühlen, darunter auch die grenzüberschreitende Dimension der GRSLL (Tab. 6). Die Ergebnisse zeigen, dass die Zugehörigkeit zum Wohnland besonders ausgeprägt ist (85 %); auch das Zugehörigkeitsempfinden zur Wohnregion und zum Wohnort wird mit 82 % bzw. 81 % besonders deutlich. Mit der GRSLL hingegen identifiziert sich lediglich ein gutes Drittel (35 %) der Einwohner*innen des grenzüberschreitenden Raums.

42

C. Wille

Tab. 6:   Räumliche Identifizierungen nach Wohnregionen der Befragten (Zustimmung in Prozent) Wohnregionen

GRSLL

Wohnland

Wohnregion

Wohnort

Saarland

63

85

83

83

Rheinland-Pfalz

27

81

81

78

Lothringen

33

82

70

77

Wallonien

14

81

81

81

Luxemburg

44

93

85

84

Grenzraum*

31

82

81

79

GRSLL

35

85

82

81

*GRSLL ohne Luxemburg;Wille et al. 2016

Werden die Identifizierungen mit der GRSLL der Einwohner*innen des Grenzraums, d. h. der GRSLL ohne Luxemburg, mit denen des Großherzogtums verglichen, zeigt sich, dass sich die Grenzraumbewohner*innen nur zu 31 % der GRSLL zugehörig fühlen gegenüber 44 % der Einwohner*innen Luxemburgs. Auch innerhalb beider Gruppen sind Unterschiede auszumachen, da im Großherzogtum besonders Personen mit luxemburgischer Staatsbürgerschaft ein großregionales Zugehörigkeitsgefühl (50 %) angeben gegenüber nur 35 % der dort ansässigen Ausländer*innen. Ebenso bestehen Unterschiede nach Alter: 65-Jährige und darüber (67 %) in Luxemburg identifizieren sich weitaus häufiger mit der GRSLL als jüngere Menschen (25–34 Jahre und 35–44 Jahre: jeweils 31 %). Im Grenzraum geben v. a. die Einwohner*innen des Saarlandes (63 %) eine großregionale Zugehörigkeit an, weit gefolgt von Lothringen (33 %), ­Rheinland-Pfalz (27 %) und den Einwohner*innen Walloniens (14 %). Dieser Befund wird von Cavet et al. (2006, S. 25) und Scholz (2011, S. 140) gestützt, die zwar die Bekanntheit der Begriffe ‚Großregion‘ und ‚SaarLorLux‘ untersuchen, bei denen aber ebenfalls die Einwohner*innen des Saarlandes an erster Stelle rangieren und die Einwohner*innen Walloniens das Schlusslicht bilden. Die nähere Betrachtung zeigt, dass die Identifizierung mit der GRSLL besonders bei den befragten Grenzgänger*innen (47 %) im Grenzraum und bei den dort wohnenden Wohnmigrant*innen aus Luxemburg (41 %) ausgeprägt ist. Dies zeigt, dass im Alltag grenzüberschreitend mobile Einwohner*innen sich stärker als weniger mobile Einwohner*innen mit der GRSLL identifizieren. Dieses Verhältnis zwischen grenzüberschreitender Raum-Erfahrung und grenzüberschreitender Identifizierung zeichnet sich auch bei Befragten ab, die regelmäßig Alltagspraktiken in einer angrenzenden Region erledigen und dort Beziehungen zu Freunden oder Arbeitskolleg*innen pflegen.

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

43

Tab. 7   Grenzüberschreitende Identifizierungen nach Teilmotiven und Wohnregionen der Befragten (Zustimmung in Prozent) Bewohner*innen GRSLL meiner Wohnregion und die Bewohner*innen der angrenzenden Regionen …

Luxemburg Lothringen Wallonien

Rheinland- Saarland Pfalz

67

71

73

67

57

60

sprechen eine 45 ähnliche Sprache

39

38

42

58

67

haben eine gemeinsame Identität

45

37

54

48

45

47

sind wirtschaftlich stark

55

66

48

38

55

60

haben gemeinsame Politische Ziele

48

47

47

44

49

56

profitieren voneinander

66

76

58

49

70

79

haben eine Gemeinsame Geschichte

Wille et al. 2016

Die Identifizierungen mit der GRSLL werden nachfolgend mit den auf die Relativierung von nationalen Grenzen abzielenden räumlichen Identifikationen des institutionellen Diskurses (QA) in Verbindung gebracht (Tab. 7). Dies soll Aufschluss geben über die Grundlagen grenzüberschreitender Identifizierungen und über die Bedeutung von nationalen bzw. regionalen Ordnungskategorien. Dafür wurden den Einwohner*innen sozio-kulturelle (Geschichte, Sprache, Identität) und sozio-ökonomische Teilmotive (Wirtschaft, Politik, Profitieren) vorgelegt mit der Bitte einzuschätzen, inwiefern diesbezüglich jeweils Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen der Wohnregion und den angrenzenden Regionen bestehen. Die Einwohner*innen der GRSLL sehen Gemeinsamkeiten (50  % Zustimmung und darüber) zwischen der Wohnregion und den angrenzenden Regionen – die für die verbindende Wirkung von nationalen Grenzen und somit für grenzüberschreitende Räume stehen – v. a. in der Geschichte (67 %),

44

C. Wille

wirtschaftlichen Stärke (55 %) und beim wechselseitigen Profitieren (50 %). Unterschiede (bis zu 49 % Zustimmung) zwischen der Wohnregion und den angrenzenden Regionen – die als für grenzüberschreitende räumliche Identifizierungen abträgliche Demarkationen stehen – deklarieren sie hinsichtlich der Sprache (45 %), Identität (45 %) und der politischen Ziele (48 %). Hier zeigt sich, dass sich die Einwohner*innen der GRSLL eher auf Grundlage ­sozio-ökonomischer als sozio-kultureller Teilmotive mit den angrenzenden Regionen identifizieren. Diese Tendenz ist besonders in Luxemburg und im Saarland ausgeprägt, wo die Auffassung, dass die Wohnregion und die angrenzenden Regionen voneinander profitieren, jeweils mit großer Zustimmung durchschlägt. Im Weiteren werden die Bewertungen der Teilmotive nach Wohnregionen der Befragten betrachtet und Informationen darüber berücksichtigt, an welche der angrenzenden Regionen sie bei der Bewertung gedacht haben. So haben die Einwohner*innen Luxemburgs bei grenzüberschreitenden Identifizierungen in erster Linie an Lothringen (32 %) und Rheinland-Pfalz (32 %) gedacht, gefolgt vom Saarland (19 %) und Wallonien (17 %). Zu den verbindenden Elementen mit den angrenzenden Regionen zählen sie in erster Linie eine geteilte Geschichte (71 %), den Umstand, dass man voneinander profitiere (76 %) und eine wirtschaftliche Stärke (66 %). Unterschiede hinsichtlich der angrenzenden Regionen sehen die Befragten v. a. im Hinblick auf Identität (37 %) und die jeweils gesprochenen Sprachen (39 %). Dass Luxemburg und die Nachbarregionen ähnliche politische Ziele verfolgen, wird noch von 47 % der Befragten angegeben. Festzuhalten ist, dass sich die Einwohner*innen Luxemburgs v. a. auf Grundlage ­sozio-ökonomischer Teilmotive mit den angrenzenden Regionen – insbesondere mit Lothringen und Rheinland-Pfalz – identifizieren, wobei das wechselseitige Profitieren und die gemeinsame wirtschaftliche Stärke die Hauptmotive bilden. Sozio-kulturelle Teilmotive fungieren eher als Demarkationen, die Luxemburg als distinkte Raumeinheit von den angrenzenden Regionen absetzen – gleichwohl die Befragten von einer gemeinsam geteilten Geschichte ausgehen. Die Einwohner*innen Lothringens haben bei grenzüberschreitenden Identifizierungen in erster Linie an Luxemburg (71 %) gedacht, weit gefolgt vom Saarland (18 %), Wallonien (7 %) und Rheinland-Pfalz (4 %). Als mit den angrenzenden Regionen verbindend betrachten sie in v. a. eine geteilte Geschichte (73 %) und den Umstand, dass man voneinander profitiere (58 %) – vermutlich mit Blick auf die Grenzgänger*innenbeschäftigung in Luxemburg und im Saarland. Von einer gemeinsamen Identität sind die Befragten weniger überzeugt (54 %). Abgrenzungen werden vollzogen, indem sie Unterschiede zu den Nachbarregionen hinsichtlich der Sprache (38 %), politischen Ziele (47 %) und Wirtschaftsleistung (48 %) deklarieren. Festzuhalten ist, dass sich die

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

45

Befragten in Lothringen eher auf Grundlage sozio-kultureller Teilmotive mit den angrenzenden Regionen – insbesondere mit Luxemburg – identifizieren, wobei v. a. eine gemeinsame Geschichte eine Rolle spielt. Unterschiede, die Demarkationen anzeigen, sind weitgehend auf sozio-ökonomische Teilmotive zurückzuführen – mit Ausnahme des wechselseitigen Profitierens, das vermutlich auf das Bewusstsein um die Bedeutung der Grenzgänger*innen Lothringens für den luxemburgischen Arbeitsmarkt zurückgeht. Die Einwohner*innen Walloniens beziehen sich bei grenzüberschreitenden Identifizierungen in der Hauptsache auf Luxemburg (80 %), weit gefolgt von Lothringen (12 %) und den beiden deutschen Bundesländern (zusammen 8 %). Gemeinsamkeiten mit den angrenzenden Regionen sehen sie lediglich in einer geteilten Geschichte (67 %). Vielmehr überwiegt die Tendenz zur Abgrenzung, da nur selten angegeben wird, dass Wallonien und die benachbarten Regionen wirtschaftlich stark sind (38 %), dass man eine ähnliche Sprache spricht (42 %) oder dass gemeinsame politische Ziele verfolgten werden (44 %). Noch knapp die Hälfte der Befragten ist von einer gemeinsamen Identität (48 %) und vom wechselseitigen Profitieren (49 %) überzeugt. Festzuhalten ist, dass die Einwohner*innen Walloniens v. a. sozio-kulturelle Teilmotive als noch verbindende Elemente mit den Nachbarregionen – insbesondere mit Luxemburg – betrachten, wobei eine gemeinsame Geschichte zentral ist. Die Auffassung, Wallonien und die angrenzenden Regionen profitierten wechselseitig, erfährt zwar noch eine relativ hohe Zustimmung, vermutlich aber – ähnlich wie in Lothringen – aufgrund des Bewusstseins um die Bedeutung der wallonischen Grenzgänger*innen für die benachbarten Arbeitsmärkte bzw. der dortigen Beschäftigungsmöglichkeiten für die wallonische Erwerbsbevölkerung. Insgesamt nehmen die Befragten in Wallonien überwiegend Differenzmarkierungen über sozio-ökonomische Teilmotive vor. Die Einwohner*innen von Rheinland-Pfalz denken bei grenzüberschreitenden Identifizierungen zur Hälfte an das Saarland (52 %) und zwei Fünftel (39 %) an Luxemburg, mit großem Abstand gefolgt von Lothringen (7 %) und Wallonien (2 %). Als verbindend erachten sie ein wechselseitiges Profitieren (70 %), eine ähnliche Sprache (58 %), eine gemeinsame Geschichte (57 %) und eine wirtschaftliche Stärke (55 %). Die ausgeprägte Betonung von Gemeinsamkeiten kann zum Teil auf die Orientierung am Saarland, aber v. a. an Luxemburg zurückgeführt werden, wo viele Grenzgänger*innen aus Rheinland-Pfalz arbeiten sowie das dem Moselfränkischen und Deutschen ähnliche Luxemburgisch gesprochen wird. Unterschiede sehen die Befragten eher in den jeweils verfolgten politischen Zielen (49 %) und Identitäten (45 %) der eigenen und angrenzenden Regionen. Festzuhalten ist, dass sich die Befragten eher auf Grundlage sozio-ökonomischer

46

C. Wille

Teilmotive mit den Nachbarregionen – insbesondere mit dem Saarland und Luxemburg – identifizieren, obgleich eine ähnliche Sprache und gemeinsame Geschichte für grenzüberschreitende Identifizierungen eine wichtige Rolle spielen. Dies kann mit den zu nationalen Grenzen quer liegenden Sprachräumen an der deutsch-luxemburgischen Grenze (Sieburg und Weimann 2016) und mit der Orientierung der Befragten am Saarland erklärt werden, das eine ähnliche bundesrepublikanische Vergangenheit aufweist. Die Einwohner*innen des Saarlandes beziehen sich bei grenzüberschreitenden Identifizierungen knapp zur Hälfte (49 %) auf das benachbarte Rheinland-Pfalz und zu einem guten Drittel (36 %) auf Luxemburg; Lothringen (12 %) und Wallonien (3 %) bleiben nachrangig. Sie unterstreichen überwiegend Gemeinsamkeiten mit den angrenzenden Regionen, wie etwa ein wechselseitiges Profitieren (79 %), eine ähnliche Sprache (67 %), eine gemeinsame Geschichte (60 %) und eine wirtschaftliche Stärke (60 %). Auch gemeinsame politische Ziele (56 %) und eine gemeinsame Identität (47 %) zählen zu den verbindenden Elementen, jedoch weniger deutlich. Festzuhalten ist, dass sich die Befragten im Saarland eher auf Grundlage sozio-ökonomischer als sozio-kultureller Teilmotive mit den Nachbarregionen identifizieren. Dennoch sind hier – wie in ­Rheinland-Pfalz – eine gemeinsame Sprache und geteilte Geschichte zentral, was mit der ausgeprägten Orientierung am benachbarten Rheinland-Pfalz erklärbar ist.

7 Grenzen und räumliche Identitäten Ziel dieses Beitrags war die Untersuchung von räumlichen Identitäten (in) der GRSLL und die sich in diesem Zusammenhang abzeichnende Bedeutung von (nationalen) Grenzen. Es wurde mit Hilfe von empirischen Befunden beleuchtet, inwiefern eine GRSLL identifiziert wird und inwiefern die Einwohner*innen sich mit dem (grenzüberschreitenden) Raum identifizieren. Dafür wurde der Gegenstand in eine institutionelle und alltagskulturelle Dimension analytisch aufgefächert. Zur Ausleuchtung von institutionellen Identifikationen (QA) der GRSLL wurden die Ergebnisse von Kmec (2010) herangezogen, die eine ‚gemeinsame großregionale Identität‘ als generelles Motiv des politischen Diskurses herausarbeitet. Es untergliedert sich in verschiedene Teilmotive, die durchgängig auf die Konstitution einer räumlichen Identität zielen, die grenzüberschreitend angelegt ist, eine verbindende Wirkung von Grenzen unterstellt und dem Raum per se eingeschrieben sei. Festgestellt wurde, dass nationale Grenzen von institutionellen Akteuren weitgehend relativiert werden zugunsten einer dem Raum (und seinen Einwohner*innen) zugewiesenen gemeinsamen Kultur- und

Räumliche Identifikationen und Identifizierungen

47

Wirtschaftsgeschichte, einer gelebten grenzüberschreitenden Kultur und einer gemeinsamen Zukunftsvision, die auf eine „Einheit in der Vielfalt“ abhebt. Die Ergebnisse einer Interviewserie gaben Einsichten in alltagskulturelle Identifikationen (QB) der GRSLL, in denen unterschiedliche Demarkationen, Bedeutungen und Erfahrungen der Einwohner*innen zutage treten. So spiegelten die Versuche den Raum über geopolitische Kategorien zu bestimmen, das diffuse Bild eines grenzüberschreitenden Raums wider, der als Einheit von Städten, Regionen und Ländern mit variablen Abgrenzungen repräsentiert wird. Diese mentalen Geographien scheinen vom medialen Diskurs und von der im Alltag erfahrbar werdenden Personenfreizügigkeit im Kontext der Grenzgänger*innenbeschäftigung und grenzüberschreitenden Alltagspraktiken geprägt zu sein. Die alltagskulturellen Identifikationsvorgänge beruhen somit weitgehend auf der Erfahrung und Potenzialität von Grenzüberschreitungen in Verbindung mit einem kleinräumigen und variablen Territorium. Anhand von Ergebnissen über die grenzüberschreitende Erledigung von Alltagspraktiken konnten alltagskulturelle Identifizierungen (QC) mit der GRSLL bestimmt werden. Hier wurde die besondere Rolle Luxemburgs deutlich, das aufgrund von Grenzgänger*innenbeschäftigung, bestimmten Besteuerungsmodalitäten, attraktiven und mehrsprachigen Freizeit- und Kulturangeboten einerseits viele Einwohner*innen der angrenzenden Regionen anzieht. Andererseits erwiesen sich die weitgehend mehrsprachigen Einwohner*innen des Großherzogtums als ausgesprochen grenzüberschreitend orientiert bei der Ausführung von Alltagspraktiken. Die Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer erledigen Alltagspraktiken grenzüberschreitend v. a. im benachbarten Luxemburg und Frankreich, wobei unterschiedliche räumliche Schwerpunkte auszumachen sind. Die Einwohner*innen des Saarlandes suchen häufiger das angrenzende Frankreich und die Einwohner von Rheinland-Pfalz häufiger Luxemburg auf, was mit der jeweiligen geographischen Nähe und den Arbeitsmarktverflechtungen erklärbar ist. Ähnlich verhält es sich mit den Einwohner*innen der beiden französischsprachigen Regionen, die häufiger als die Einwohner*innen der deutschen Bundesländer Alltagspraktiken v. a. in Luxemburg ausführen, sich aber mit Blick auf das angrenzende Deutschland unterscheiden: Die Einwohner*innen Lothringens sind besonders mobil an der deutsch-französischen Grenze; die Einwohner*innen Walloniens fahren nur selten ins angrenzende Deutschland. Das benachbarte Frankreich wird sehr häufig für (touristische) Erholungspraktiken von den Einwohner*innen der angrenzenden Regionen aufgesucht. Belgien hingegen spielt eine vergleichsweise nachrangige Rolle bei der grenzüberschreitenden Ausführung von Alltagspraktiken.

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Die herausgearbeiteten Raumaneignungen und -konstitutionen verweisen zwar auf Identifizierungen der Einwohner*innen der GRSLL mit Räumen jenseits nationaler Grenzen. Sie sollen aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Befragten ihre Alltagspraktiken am häufigsten am Wohnort bzw. im Wohnland ausführen, was aus den o.g. Gründen nicht notwendigerweise auf eine Trennwirkung von nationalen Grenzen verweist. Ferner sollen die Alltagsgeographien nicht darüber hinwegtäuschen, dass die handlungspraktischen Identifizierungen nicht in eins gesetzt werden können mit dem Zuschnitt des institutionellen Kooperationsgebiets der GRSLL. Vielmehr spiegeln die Identifizierungen der Einwohner*innen Regionalisierungsprozesse (Werlen 1997) wider, in denen bestimmte ‚Orte‘ bei der grenzüberschreitenden Erledigung von Alltagspraktiken in Beziehung gebracht werden und darüber ‚alternative‘ Grenzziehungen bzw. Räume entstehen. Dafür exemplarisch stehen die sich verdichtenden Alltagsgeographien im Gebiet von Luxemburg und der beiden deutschen Bundesländer einerseits sowie von Luxemburg, Lothringen und Wallonien andererseits (dazu auch Boesen et al. 2020 in diesem Band). Diese Fragmentierung kann als sprachräumliche Fragmentierung gedeutet werden, entsteht hier doch eine alltagskulturelle Grenze zwischen deutsch- und französischsprachigen Teilgebieten, wobei die Einwohner*innen Luxemburgs weder der einen noch der anderen Seite dieser Demarkierung zugeschlagen werden können. Schließlich wurden mit Wille et al. (2016) Identifizierungen mit institutionellen Kategorien (QD) untersucht. Deutlich wurde hier, dass sich zwar lediglich 35 % der Befragten mit der GRSLL identifizieren – insbesondere die Einwohner*innen des Saarlandes und Luxemburgs –, womit das Zugehörigkeitsempfinden zum grenzüberschreitenden Raum hinter dem zum Wohnland, zur Wohnregion und zum Wohnort weit zurückbleibt. Allerdings identifizieren sich mit der GRSLL deutlich stärker Personen mit gesteigerter Erfahrung durchlässiger Grenzen, d. h. die im Alltag regelmäßig grenzüberschreitend mobil sind. Die vertiefende Betrachtung hat weiter gezeigt, dass Luxemburg eine zentrale Referenzkategorie für grenzüberschreitende Identifizierungen darstellt, was auf funktionale Verflechtungen und alltagskulturelle Raum-Erfahrungen zurückgeht, und dass grenzüberschreitende Identifizierungsprozesse sowohl auf sozio-ökonomischen als auch sozio-kulturellen Grundlagen gründen. Als grenzüberschreitend verbindend – und damit Grenzen relativierend – wurde von den Einwohner*innen der GRSLL durchgängig das Teilmotiv einer gemeinsam geteilten Geschichte betrachtet. Außerdem wurde weitgehend das wechselseitige Profitieren zu einer Gemeinsamkeit der Teilgebiete erklärt, ebenso wie – jedoch nicht von den Einwohner*innen Lothringens und Walloniens – die gemeinsame wirtschaftliche Stärke.

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Unterschiede zwischen den Teilgebieten, die diese als distinkte Raumeinheiten markieren, wurden mit Blick auf Identität, politische Ziele und – jedoch nicht von den Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer – Sprache gesehen. Die herausgearbeiteten Grundlagen lassen zwar kaum Verallgemeinerungen für Identifizierungen mit der GRSLL zu. Festgehalten werden kann aber, dass die Einwohner*innen der beiden deutschen Bundesländer und die der strukturschwachen französischsprachigen Teilgebiete jeweils ähnliche Identifizierungslogiken (aufgrund wirtschaftlicher und kultureller Ähnlichkeiten) aufweisen und dass die Einwohner*innen der GRSLL sich eher auf Grundlage sozio-ökonomischer Teilmotive mit den angrenzenden Regionen identifizieren. Darauf aufbauend wird weiterführend gefragt, inwiefern die räumlichen Projektionen des institutionellen Diskurses (QA) in den Identifizierungsprozessen der Einwohner*innen der GRSLL relevant werden. Hier wurde festgestellt, dass die im institutionellen Diskurs aufgerufenen Teilmotive in den grenzüberschreitenden Identifizierungsvorgängen durchaus wirksam sind. Dies zeigt sich besonders bei der dem Raum zugewiesenen gemeinsamen Geschichte (Teilmotive: Geschichte, Wirtschaft), ansatzweise bei der zugeschriebenen grenzüberschreitenden Kultur (Teilmotiv: Profitieren), jedoch kaum im Hinblick auf die GRSLL als „Einheit in der Vielfalt“ (Teilmotive: Identität, Sprache, Politik). Mit Blick auf die Bedeutung von Grenzen ist schließlich festzuhalten, dass Luxemburg für die Einwohner*innen der GRSLL eine wichtige Rolle spielt. Das zentral gelegene Großherzogtum bildet nicht nur einen zentralen Referenzpunkt bei der Identifizierung mit institutionellen Kategorien, ebenso ist es für alltagskulturelle Grenzüberschreitungen und damit für die erfahrene Durchlässigkeit von Grenzen bedeutsam. Die grenzüberschreitenden Raumerfahrungen der Einwohner*innen beziehen sich jedoch weniger auf den im institutionellen Diskurs als ‚grenzenlos‘ projizierten Kooperationsraum in seiner politischen Ausdehnung. Vielmehr finden kleinräumige, territorial variable und diffuse Identifikationen und Identifizierungen statt, die sich zwar stets grenzüberschreitend, aber auf bestimmte räumliche Ausschnitte an nationalen Grenzen in der GRSLL beziehen. Nationalen Grenzen kann daher zunächst eine verbindende Bedeutung beigemessen werden, wenngleich dies nicht für das Territorium der gesamten institutionellen GRSLL gültig ist. Dies verweist nicht nur auf eine Diskrepanz zwischen politisch projizierter und gelebter GRSLL, sondern auch auf alltagskulturelle Regionalisierungen und Grenzziehungen. Solche sozial hergestellten Geographien der Grenze können quer zu nationalen Grenzen verlaufen und/ oder Widersprüche ins sich tragen, wie die Identifizierungsgrundlagen der Einwohner*innen der GRSLL oder sprachräumliche Fragmentierungen im Zuge alltagskultureller Identifizierungen zeigen.

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Die Berücksichtigung sozial hergestellter Geographien impliziert Differenzierungen und damit Ordnungen mit trennenden Effekten. Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, dass in der GRSLL nationale Grenzen eine verbindende Bedeutung und soziale Grenzziehungen eine trennende Bedeutung besitzen. Beide Grenztypen lassen sich sowohl als Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten thematisieren, womit die Ambivalenz der Grenze aufgerufen ist. Sie lässt sich zunächst anhand des Begriffspaars territorial/sozial thematisieren, obgleich auch nationale Grenzen stets als Ergebnisse sozialer Prozesse zu verstehen sind. Die Unterscheidung ist daher eine analytische und für Untersuchungen in grenzüberschreitenden Regionen relevant, fallen hier territoriale und soziale Grenzziehungen doch nicht (zwangsläufig) zusammen. Vielmehr ist zu hinterfragen, welche Überlagerungen, Querungen und welche Zusammenhänge zwischen territorialen und sozialen Grenzziehungen bestehen. Die alltagskulturellen Identifizierungen und Identifikationen (in) der GRSLL haben gezeigt, dass die Frage nach räumlichen Identitäten – für die die Grenze in ihrer begrifflichen Ambivalenz zentral ist – dafür einen geeigneten Zugang eröffnet. Die Ambivalenz der Grenze gewinnt außerdem Kontur über das Begriffspaar trennend/verbindend, womit unterschiedliche, jedoch gleichermaßen gültige Bedeutungen von ‚Grenze‘ angesprochen sind: „Als Demarkationslinie verbürgt [die Grenze] zwar die Identität mindestens zweier Bereiche, führt das Getrennte jedoch zugleich einander zu und lässt es in wechselseitiger Abhängigkeit erscheinen“ (Kleinschmidt 2011, S. 9). Grenzen besitzen demnach eine trennende und ordnende Funktion, die sich allerdings zugleich als verbindend herausstellt. Die Festlegung der Grenze auf nur eine Funktion in Identifikationsund Identifizierungsvorgängen ist daher kaum möglich, die empirische Forschung lässt aber situative Bestimmungen zu: So wurde das verbindende Moment von nationalen Grenzen besonders im politischen Diskurs über die GRSLL und in alltagskulturellen Identifikationen stark gemacht; in alltagskulturellen Identifizierungen und Identifizierungen mit institutionellen Kategorien schlug das trennende und ordnende Moment stärker durch. Die Ambivalenz der Grenze – oder präziser: die Gleichzeitigkeit ihrer sich ausschließenden Bedeutungen – wurde besonders in alltagskulturellen Identifizierungen anschaulich, welche sich in grenzüberschreitenden Alltagspraktiken äußerten, die aber wiederum weitgehend aufgrund von Differenz (Preise, Angebot etc.) und damit aufgrund des trennenden Moments vollzogen werden. Dieses somit exemplarisch erschlossene „Paradox der Grenze“ (Knotter 2003; de Certeau 1988, S. 223) ist auch in den untersuchten räumlichen Identitäten der Einwohner*innen der GRSLL wirksam, in denen nationale Grenzen zwar zentrale Referenzen darstellen, aber zugleich relativiert werden. Insofern ist die eingangs zitierte politische Vision einer

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räumlichen Mehrfachzugehörigkeit der Einwohner durchaus ernst zu nehmen, auch wenn Identifizierungen mit der Wohnregion gegenüber Identifizierungen mit dem grenzüberschreitenden Raum (noch) deutlich überwiegen.

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Dr. Christian Wille  (www.wille.lu) ist Senior Researcher an der Universität Luxemburg und leitet das grenzüberschreitende Netzwerk UniGR-Center for Border Studies. Er lehrt kulturwissenschaftliche Border Studies und arbeitet über Border Complexities. Wille ist Gründungsmitglied der interuniversitären Arbeitsgruppen Cultural Border Studies und Bordertextures sowie Mitherausgeber der Buchreihe Border Studies: Cultures, Spaces, Orders. Zuletzt hat er die Bücher „Border Experiences in Europe“ (2020, Nomos), „Spaces and Identities in Border Regions“ (2016, transcript) und „Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen“ (2015, transcript) herausgegeben. Wille hat an der Universität des Saarlandes und der Universität Luxemburg promoviert, in Luxemburg den fakultären Schwerpunktbereich Migration and Intercultural Studies koordiniert und in der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle der Großregion gearbeitet.

Zur Rolle von Strukturen und Kontingenz – das Beispiel des grenzüberschreitenden Pendelns im Alpenraum Anna Heugel und Tobias Chilla Zusammenfassung

Die Border Studies sind aktuell geprägt von einer Parallelität konstruktivistischrelationaler Ansätze einerseits und angewandt-funktionaler Perspektiven andererseits, wobei diese Diskussionsstränge wenig verbunden sind. Anhand einer empirischen Fallstudie zeigen wir, dass raumstrukturelle Argumente eine relevante Rolle in der Erklärung von grenzüberschreitender Dynamik spielen, ohne dass dies einer relationalen und Kontingenz betonenden Sichtweise widersprechen muss. Das Fallbeispiel analysiert das Pendeln über nationale Grenzen innerhalb des makroregionalen Alpenraums. Strukturelle Argumente wie Urbanität und Gehaltsunterschiede können durchaus in Verbindung mit politischen Pfadabhängigkeiten und kontingentem Aushandeln der Grenzfunktionen interpretiert werden.

1 Einleitung In der traditionellen Perspektive haben Grenzen immer etwas Trennendes, ihre Hauptfunktion wurde als Barriere gesehen, die die ‚Ränder‘ der Nationalstaaten markierten. Dabei war eine ‚naturräumliche‘ oder gar ‚natürliche‘ Verankerung

A. Heugel (*) · T. Chilla  FAU Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Chilla E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_3

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der Grenzen an Gebirgszügen, Flüssen etc. oft mitgedacht, wobei oft starke kulturräumliche Implikationen mitschwangen (Ratzel 1892; Redepenning 2018). Mit dem conceptual turn in der Grenzraumforschung hat sich seit den 1990er Jahren eine paradigmatische Perspektive etabliert, die strukturelle Determinismen und Automatismen ablehnt. Stattdessen wird auch für Grenzräume die Bedeutung des Kontingenten, Konstruierenden und Politischen hervorgehoben (für viele siehe Newman 2003, 2011; Johnson et al. 2011; Salter 2012). Das Geschehen in Grenzräumen hängt vom Handeln einzelner Akteure ab, von den politischen Prioritäten auf institutioneller Ebene und der gesellschaftlichen Verankerung. Die Grenze wird weniger als Raum betrachtet denn als (Konstruktions-)Prozess, in dem mannigfaltige Akteure Interessen verfolgen. Dabei sind Grenzräume auch nicht unbedingt die vermeintlich vorbildlichen ‚Labore Europas‘, sondern insbesondere auch Kristallisationskerne und ‚Sichtfenster‘ von Widersprüchlichkeiten und Zielkonflikten im europäischen Einigungsprozess (Durand und Nelles 2014; für die Außengrenzen siehe Miggelbrink et al. 2017). Parallel zu den konzeptionell ausgerichteten Debatten hat sich ein angewandter Strang der Border Studies etabliert, der eng verbunden ist mit der Liberalisierung der EU-Binnengrenzen seit den 1990er Jahren im Rahmen der Schengen-Regularien. Diese zielen auf die vier Freiheiten des Integrationsprozesses, nach denen die Mobilität von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Finanzen über Grenzen hinweg gesichert wird (siehe auch bspw. Weber und Wille 2020 in diesem Band). Mit diesem Liberalisierungsprozess bekommt auch die europäische Regionalpolitik in Grenzräumen zunehmende Bedeutung, besonders prominent in den Interreg-Programmen und den damit eng verknüpften Euregios (für viele: Medeiros 2020; Harguindéguy und Bray 2009). Dieser Prozess wird begleitet von der Etablierung eines angewandten Strangs der Border Studies, der in der Nutzung von ‚territorialen Potenzialen‘ und dem Überwinden von ‚Strukturschwäche‘ wichtige Ansatzpunkte für positive Entwicklungen sieht, und dabei auch nach geeigneten Governance-Formen etc. sucht. Etwas vereinfachend gesagt, sind hier zwei tendenziell unverbundene, punktuell auch konkurrierende Sichtweisen auf Grenzen und Grenzräume entstanden – die relationale, konstruktivistisch orientierte Sicht auf der einen Seite, mit einer großen Skepsis im Hinblick auf strukturell verankerte Argumentationen; und eine explizit und intentional auf Strukturen gerichtete Perspektive im angewandt-politiknahen Bereich. Hier setzt der vorliegende Beitrag an, der auf die Relativierung dieser Gegensätzlichkeit zielt. Am Beispiel des Grenzpendelns im Alpenraum wird dies empirisch ausgeleuchtet, indem die Tragfähigkeit ‚relationaler‘ und ‚struktureller‘ Argumente reflektiert wird.

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2 Konzeptionelle Anknüpfungspunkte 2.1 Die relationale Perspektive: Die Grenze als Diskurs, Prozess und Praxis Anders als in der traditionellen Geographie werden Grenzen heute weniger als physisch-räumliches Element diskutiert, sondern primär als soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Dimension der gesellschaftlichen Dynamik (Newman 2011, S. 33). In allen Dimensionen institutionalisieren und (re-)produzieren sie häufig Unterschiede und ‚Markierungen‘ und sind damit Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Sie sind immer veränderbar und nicht ‚gegeben‘ (Paasi 1995, S. 449). Die Institutionalisierung von Grenzen spiegelt Machtverhältnisse wider, die deren Durchsetzung vorangehen und voraussetzen. Die Macht der Akteure wird dabei kritisch in den Blick genommen (Newman 2011; Paasi 1995). Dies betrifft beispielsweise die Regularien, die eine Grenze manifestieren und immer mit Ausgrenzung einhergehen, indem beispielsweise bestimmte grenzüberschreitende Dynamiken zugelassen werden, während andere nicht erlaubt sind – Grenzen werden hier als Manifestation des otherings und der Exklusion gesehen (Van Houtum und Van der Velde 2004). Aus ethischer Sicht stehen hier Migrationsfragen stark im Vordergrund (Newman 2011, S. 42), gerade auch seit Einsetzen der Flüchtlingsbewegungen ab 2015 (Löw und Weidenhaus 2017; dazu auch Niebauer 2020 in diesem Band). In jüngerer Zeit haben konzeptionelle Perspektiven mit p­ost-diskursiver Ausrichtung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Sowohl die ­ AkteurNetwork-Theory, der Assemblage-Ansatz (Salter 2013) und praxeologische Perspektiven weisen darauf hin, dass die Reflexion der Grenzen und Grenzräume auch n­ icht-diskursive Argumente beachten sollte. Die Praxis der Kontrolle und Überwachung, die materielle Ausgestaltung von Transit-Passagen und die datafication von Grenzregimen (Broeders und Dijstelboem 2015) stehen hierbei besonders im Vordergrund. Im Ergebnis ist zu betonen, dass Grenzen und Grenzräume nicht gegeben sind, sondern gemacht und reproduziert werden. Die Referenz zu strukturellen Erklärungen von ‚Grenzeffekten‘ etc. wird tendenziell mit Skepsis gesehen und es wird nach zugrunde liegenden Intentionen, Machtverhältnissen und hidden agendas solch struktureller Argumente gefragt. Interessanterweise ist die Literatur zum Grenzpendeln kaum verknüpft mit dezidiert konstruktivistischen oder relationalen Ansätzen und stellt insofern einen Gegensatz zur Migrationsdebatte dar. Wichtige Ausnahmen bestehen

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hier im Bereich der Diskussion um Identitäten im Grenzraum (Wille et al. 2014, darin insbes. Hesse 2014). Kritische Kommentare sind eher im Bereich der p­olitisch-normativen Stellungnahmen zu verzeichnen, unter anderem bei Decoville et al. (2013, S. 232), die Polarisierungstendenzen im grenzüberschreitenden Pendlerraum als einen “non egalitarian [trend of] social selection” kritisieren.

2.2 Die angewandte Perspektive: die Grenze als strukturelles Element und als Potenzial Traditionell wird die Grenzlage als Erschwernis für sozio-ökonomisches Prosperieren angesehen. Ausgehend von der Liberalisierung der Grenzen im Rahmen des EU-Integrationsprozesses wird jedoch eine Literatur-Debatte zur räumlichen Integration in Grenzräumen geführt, die insbesondere nach den räumlichen Konsequenzen und Chancen fragt, die sich aus der Verstärkung von Verflechtungen ergeben. Dabei geht – erstens – das Konvergenz-Postulat davon aus, dass sich im Gefolge von Grenzliberalisierungen die Strukturen und Prozesse immer weiter angleichen, sodass sich die Teilregionen dies- und jenseits der Grenzen jedenfalls mittel- bis langfristig nicht mehr grundsätzlich unterscheiden. Besonders plastisch zeigen dies De Boe et al. bereits (1999), indem sie das Angleichen von verschiedenen Indikatoren illustrieren und sich dabei auf Transportnetzwerke, administrative Raumzuschnitte und räumliche Entwicklungstrends generell beziehen (siehe auch Chilla und Evrard 2013). Die diesen Trends zugrundeliegenden Wirkkräfte werden in den Arbeiten in Anlehnung an ‚kommunizierende Röhren‘ aufgefasst. In jüngerer Zeit hat – zweitens – die Analyse von grenzüberschreitenden Metropolregionen zu der Debatte geführt, ob grenzüberschreitende Integration zu beid- oder einseitigen Positiv-Effekten führen (Decoville et  al. 2013; ESPON Metroborder 2010; vgl. auch Ulrich 2020 in diesem Band). Es lassen sich eine Reihe von Beispielregionen finden, in denen Metropolisierung ein dominanter Trend ist (zum Beispiel die Grenzregionen um Luxemburg, Genf, ­Wien-Bratislava, Kopenhagen-Malmö und andere mehr). Einige Publikationen heben dabei die asymmetrischen Effekte (Decoville et al. 2013) hervor, andere die Vorteile für beide Seiten (Chilla und Evrard 2013). Typischerweise profitiert eine Seite eher in Form von ökonomischer Entwicklungsdynamik und dem Zustrom von Grenzpendlern und zuwandernden Fachkräften; die andere Seite profitiert in Form von demographischen Entwicklungstrends und positiven

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Effekten in der Kaufkraftentwicklung insbesondere durch Grenzpendler (ESPON Metroborder 2010). Inwiefern diese Effekte sich gleichwertig gegenüberstehen, ist nicht zuletzt eine Frage der politischen Wertung. Darüber hinaus wird – drittens – die Gefahr eines ‚Tunneleffekts‘ gesehen. Dies bezeichnet die Gefahr, dass zwar die innerstaatlichen Metropolen von Liberalisierungseffekten profitieren, da die Transaktionskosten reduziert werden. Die Grenzregionen werden aber zu einem bedeutungsarmen Transitraum, auf den die positiven Effekte kaum ausstrahlen, sodass sie (wieder) zu einer innereuropäischen Peripherie werden. Dieser Effekt ist prinzipiell gut bekannt von großmaßstäblichen Infrastrukturprojekten wie Schnellzugverbindungen und Basistunneln, ist bislang aber selten für Grenzregionen diskutiert worden (Anderson und Wever 2003; Petrakos und Topaloglou 2006). Im Hinblick auf Grenzpendeln findet sich in der funktional orientierten Literatur eine facettenreiche Debatte, was die Ursachen des Pendelns angeht. Hervorgehoben seien hierbei zwei strukturelle Argumente: Ein wichtiger Erklärungsfaktor für Grenzpendeln wird in sozio-ökonomischen Unterschieden, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, gesehen (u. a. Decoville et al. 2013; Mathä und Wintr 2009). Dies beinhaltet push- und pull-Faktoren und damit auch die Angebots- und Nachfrageseite (Gehalt, Steuern, offene Stellen, Arbeitslosigkeit, Sozialversicherung etc.). Die Arbeitsmarktunterschiede werden oft von einem besonders ausgerichteten Immobilienmarkt auf der anderen Seite der Grenze begleitet, dessen Preisgefüge/Erreichbarkeit für Grenzpendler besonders attraktiv ist (Mathä et al. 2014). Möller et al. (2018) vergleichen die Motive des innerstaatlichen mit dem grenzüberschreitenden Pendeln in der schwedisch-norwegischen Arbeitsmarktregion: Für beide spielen Gehaltsunterschiede eine erhebliche Rolle, aber in höherem Maße für die grenzüberschreitenden Pendler. Auch die urbane bzw. metropolitane Prägung des Arbeitsmarktes wird als wichtiger Erklärungsfaktor thematisiert (Decoville et al. 2013; Sohn 2014; Topaloglou et al. 2005). Diesem Argument liegt zugrunde, dass mit zunehmender Größe und überregionalen Bedeutung des Arbeitsmarktes auch die Intensität der grenzüberschreitenden Aktivitäten zunimmt. Diese beispielhaften Argumente sind strukturell und quantitativ verankert. Allerdings sieht auch die einschlägige Literatur hier keine Determinismen, sondern Teilerklärungen, die durch weitere Argumente ergänzt werden: Dies umfasst einerseits weitere strukturelle Argumente wie die Entfernung zur Grenze (Chilla und Heugel 2019; Mathä und Wintr 2009; Möller et al. 2018; Sohn und Stambolic 2015); auch sprachliche ‚Distanzen‘ (Mathä und Wintr 2009) und verkehrliche Infrastruktur spielen hier eine Rolle (Matthiesen 2004; Medeiros 2019). Zum anderen werden persönliche Motive wie Familiensituationen (Möller

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et al. 2018), gesellschaftliche Präferenzen (Decoville und Durand 2019) und ­sozio-ökonomische Charakteristika wie Bildungsstand genannt (Buch et al. 2009; Gottholmseder und Theurl 2006).

2.3 Ziel des Beitrags Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei aufeinander aufbauende Ziele. Zum ersten wird auf empirischer Basis die Rolle von Strukturen für Grenzregionen gezeigt, und zwar am Beispiel des Grenzpendelns im Alpenraum. Dabei ist zunächst auf die Relevanz des Phänomens hinzuweisen: Der Anteil der Grenzpendler nimmt europaweit stetig zu, liegt im Alpenraum deutlich über dem europäischen Durchschnitt und wächst weiterhin (Chilla und Heugel 2018). Dabei ist zudem die räumliche Verteilung ungleich – Schwerpunkte finden sich entlang der Grenzen, und da in besonderem Maße entlang der Schweizer Grenzen, hinzu kommt eine große Bedeutung der metropolitanen Arbeitsmärkte auch für Grenzpendler (siehe Abb. 1).

Abb. 1   Der Perimeter der Makroregion Alpen (EUSALP), der Anteil von Auspendlern über nationalstaatliche Grenzen sowie die näher untersuchten Fallstudien. (Quelle: Chilla und Heugel 2018, S. 8 verändert)

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Hierauf aufbauend ist das zweite Ziel des Beitrags, die Anschlussfähigkeit der strukturellen Argumente an die jüngeren konzeptionellen Debatten zu reflektieren, oder konkreter: Es stellt sich die Frage, inwieweit die Bezugnahme auf strukturelle Argumente im Konflikt steht zu einer relationalen, konstruktivistischen Orientierung. Dabei ist offensichtlich, dass die Entscheidung zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses in einem anderen Land als dem Land, wo sich der Wohnsitz befindet, zunächst ein persönlicher und kontingenter Akt ist. Auch ist das politisch-institutionelle Grenzregime Teil des Konstruktionsprozesses der Grenze: Die Einrichtung von Doppelbesteuerungsabkommen, die Abrechnungsmodalitäten zwischen Krankenkassen oder die grenzüberschreitenden Kooperationsformate sind dabei nur Beispiele. Das tägliche Überqueren der Grenze ist hier eine Facette der Porosität von innereuropäischen Grenzen im Zuge des Integrationsprozesses (Newman 2011). Ohne also die Konstruiertheit von Grenzen in diesem Sinne verneinen zu wollen, stellt sich die Frage, inwieweit strukturelle Argumente das Grenzpendeln erklären können.

3 Das Beispiel Grenzpendeln im Alpenraum 3.1 Fokus und Methodik Unsere Argumentation basiert auf einer dezidiert angewandten Empirie, deren Ergebnisse aber sowohl im Lichte der angewandten Border Studies als auch aus relational-konstruktivistischer Perspektive diskutiert werden. Der Artikel greift zwei empirische Argumente heraus, deren Hintergrund an anderer Stelle umfassender bearbeitet wird (Chilla und Heugel 2018; 2019). Der Bezugsraum ist jeweils die Makroregion der Alpen (EUSALP, siehe Abb. 1). Die methodische Herangehensweise zielt auf die Identifikation von Zusammenhängen. Nachfolgend werden folgende Zusammenhänge reflektiert: a) Je größer die Lohndifferenzen, desto höher die Pendlerzahlen. b) Je urbaner die Siedlungsstruktur, desto höher die Pendlerintensität. Unter ersterer These werden ausgewählte Regionen verglichen, die in dem Projekt ‚Cross-border mobility in the Alpine Region‘ ausgewählt werden (Chilla und Heugel 2018). Für die Bearbeitung der zweiten These werden Daten des Alpenraumes auf Gemeindeebene analysiert. Die Daten der Grenzpendler beziehen sich jeweils auf Einpendler, die eine nationalstaatliche Grenze überqueren. Um Daten für möglichst viele der Alpenländer einzubeziehen, wird

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mit Pendlerdaten nationaler Statistikämter für das Bezugsjahr 2015 (Nationale Statistikämter 2018a, b) gearbeitet. Auf der regionalen Ebene werden in Einzelfällen Daten aus anderen Quellen ergänzt, um den Datensatz zu vervollständigen. Für beide Fälle gelten gewisse Einschränkungen in der Vergleichbarkeit der Statistiken der nationalen Statistikämter, die vor allem auf methodische Unterschiede zurückzuführen sind. Das europäische Statistikamt Eurostat stellt keine harmonisierten Pendlerdaten in aussagekräftiger räumlicher Auflösung zur Verfügung. So werden beispielsweise in Deutschland kleinräumige Pendlerdaten nur für sozialversicherungspflichtige Beschäftige erhoben und in der Schweiz werden nur ausländische Grenzpendler erfasst. Auf der regionalen Ebene wird aufgrund genannter und weiterer Einschränkungen auf ein statistisches Analyseverfahren im engeren Sinn verzichtet. Die Daten werden stattdessen graphisch in Form eines Streudiagramms aufbereitet und analysiert. Streudiagramme stellen zwei Dimensionen in einem Diagramm dar und ermöglichen Rückschlüsse auf Zusammenhänge. Für die Bearbeitung der ersten These werden Unterschiede im Lohnniveau der Ziel- und Herkunftsregion in Relation zur Grenzpendlerintensität gesetzt. Der zugrunde liegende Indikator ist der durchschnittliche Stundenverdienst in Unternehmen mit mehr als 10 Personen (Eurostat 2019a). Die Daten beziehen sich auf Bruttoverdienste und liegen auf NUTS 1-Ebene vor. Der Indikator kann dementsprechend keine kleinräumigen Lohndifferenzen abbilden, ebenso wie auch Unterschiede in verschiedenen Branchen nicht berücksichtigt werden. Bruttolöhne bilden auch unterschiedliche Belastungen durch Sozialversicherungsabgaben nicht ab. Trotzdem ist der Indikator aussagekräftig, da in den meisten Fällen sehr erhebliche Lohnniveauunterschiede festzustellen sind, die nicht nur durch die Datenqualität erklärbar sind. Auf Gemeindeebene werden nur Gemeinden analysiert, die nicht weiter als 20 km von der Grenze entfernt liegen. Dieser räumliche Fokus ergibt sich zum einen aus eigenen Analysen, die für diesen Raumzuschnitt besonders hohe Pendleranteile ergeben haben. Dies entspricht auch in etwa dem Ansatz der Europäischen Kommission, die Grenzräume als Räume mit 25 km Entfernung zur Grenze definiert (COM 2019). Die Daten werden ebenfalls graphisch dargestellt, in diesem Fall mithilfe von Boxplots, da der zweite Indikator als Kategorie vorliegt. Außerdem wird das Zusammenhangsmaß Eta berechnet. Die Siedlungsstruktur wird mit der DEGURBA-Klassifikation (Eurostat 2019b) analysiert. In dieser Klassifikation werden Gemeinden über einen Mindestschwellenwert der Bevölkerung und geographische Nachbarschaft auf Grundlage von 1 km2-Rasterzellen in die Kategorien ‚Städte‘, ‚Kleinere Städte und Vororte‘ und ‚Ländliche Gebiete‘ eingeteilt.

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3.2 Strukturelle Erklärungsansätze des Grenzpendelns 3.2.1 Lohndifferenzen Abb. 2 stellt die Indikatoren ‚Grenzpendler‘ und ‚Lohndifferenzen‘ zur Bearbeitung der ersten These gegenüber (‚Je größer die Lohndifferenzen, desto höher die Pendlerzahlen‘). Auf der y-Achse sind die absoluten Grenzpendlerzahlen für 2015 abgetragen. Die Regionen mit den höchsten Grenzpendlerintensitäten liegen durchweg an der Grenze zur Schweiz: Genf, Basel und Tessin haben die höchsten Werte, gefolgt von der Jura- und Bodensee-Region. Die x-Achse stellt die prozentualen Lohndifferenzen zwischen der Ziel- und Herkunftsregion der Pendler für 2014 dar. Bei einem Wert von 100 % entspricht das Lohnniveau der Zielregion dem der Herkunftsregion. Je weiter die Werte über 100 % liegen, desto höher ist die positive Lohndifferenz und damit implizit auch die Attraktivität des Arbeitsmarktes. Bei trilateralen Regionen werden die Lohndifferenzen anhand von zwei Punkten im Diagramm dargestellt. Die Anzahl der Grenzpendler bezieht sich aber jeweils auf die Gesamtregion, weshalb die Punkte auf der gleichen Höhe abgetragen sind. In den meisten Regionen liegt die Lohndifferenz bei über 160 % bis hin zu einem Lohnniveau, das doppelt so hoch ist wie das der Herkunftsregion.

Abb. 2   Zusammenhang von Einpendlern und Lohnniveauunterschieden für ausgewählte Regionen in der Makroregion Alpen. (Quelle: Chilla & Heugel 2019, übersetzt)

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Der einzige Wert, der unter 100 % liegt, ist der Lohnniveauunterschied zwischen Österreich und Deutschland – im Diagramm gilt dies für den Salzburger Grenzraum, wo die Zahlen ein etwas niedrigeres Lohnniveau für die österreichische als für die deutsche Seite zeigen. Die Pendlerströme gehen hier aber zum Großteil aus Deutschland in Richtung Salzburg, also dorthin, wo das Lohnniveau geringer ist. Bei der Region um Kufstein-Rosenheim ist kein klares Pendlerziel auf einer Seite der Grenze auszumachen, weshalb die Lohndifferenz hier in beide Richtungen abgetragen werden könnte. Das Diagramm stellt der Einfachheit halber aber nur die Relation Deutschland zu Österreich dar, womit die Region im Bereich leicht über 100 % liegt, die Relation könnte aber auch umgedreht werden. Wie oben bereits beschrieben können geringe Unterschiede ohnehin kaum als Argument funktionieren. In Abb. 2 zeigen sich jedoch vielfach starke Unterschiede. Im Diagramm lassen sich drei unterschiedliche Gruppen zusammenfassen: In der ersten Gruppe rechts oben befinden sich die Regionen mit den höchsten Pendlerzahlen und hohen Lohndifferenzen. Die Regionen liegen durchweg an der schweizerischen Grenze. Aufgrund nicht homogenisierter Daten fehlen in diesem Diagramm die Daten zu Liechtenstein sowie Monaco; es gibt aber etliche Indizien, dass die Lohndifferenzen zwischen Lichtenstein und Österreich mindestens so hoch wären, wie die der dargestellten Grenzregionen und Ähnliches kann auch für Monaco angenommen werden. Die zweite Gruppe im Diagramm rechts unten beinhaltet Regionen mit hohen Lohndifferenzen, aber im Vergleich deutlich geringeren Pendlerzahlen. Während bei der ersten Gruppe hohe Pendlerzahlen und hohe Lohndifferenzen zusammenkommen, zeigt die zweite Gruppe, dass hohe Lohndifferenzen nicht automatisch zu hohen Grenzpendlerzahlen führen. Die dritte Gruppe links unten im Diagramm setzt sich zusammen aus Pendlerzahlen, die auf dem Niveau der zweiten Gruppe liegen, in diesen Regionen ist die Lohndifferenz allerdings deutlich geringer. Diese Gruppe spricht wie die erste Gruppe dafür, dass hohe Grenzpendlerzahlen dort auftreten, wo hohe Lohndifferenzen vorliegen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass (sehr) hohe Grenzpendlerzahlen dort auftreten, wo hohe Lohndifferenzen vorhanden sind. Umgekehrt kann aber kein Zusammenhang zwischen einer hohen Lohndifferenz und hohen Grenzpendlerzahlen hergestellt werden, in dem Sinne, dass eine hohe Lohndifferenz automatisch zu hohen Grenzpendlerzahlen führen würde.

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3.2.2 Einfluss des Urbanisierungsgrads Abb. 3 bezieht sich nun auf die Gemeindeebene und bearbeitet die These ‚Je urbaner die Siedlungsstruktur, desto höher die Pendlerintensität‘. Hier wird der Anteil der Grenzpendler an den Beschäftigten am Zielort (2015) auf der y-Achse dem Urbanisierungsgrad nach der DEGURBA-Klassifikation (x-Achse) gegenübergestellt. Die Boxplots stellen graphisch die Verteilung der Werte innerhalb der drei Kategorien ‚Städte‘, ‚Kleinere Städte und Vororte‘ und ‚Ländliche Gebiete‘ dar. In der Box liegt die Hälfte der Werte (1. bis 3. Quartil). Die Endpunkte (‚Whisker‘) stellen Minimum bzw. Maximum oder Extremwerte dar. Die Linie innerhalb der Box markiert den Median. Die Boxplots zeigen, dass sehr hohe Grenzpendleranteile in allen Siedlungstypen vorkommen. In der Kategorie ‚Städte‘ hat Monaco mit Abstand den höchsten Anteil, in der Kategorie ‚Kleinere Städte und Vororte‘ werden diese vor allem im Tessin und Liechtenstein erreicht. Bei den ländlichen Gebieten liegen Gemeinden in den Regionen Tessin und Jura ganz vorn. Jenseits dieser Extremwerte sind die Grenzpendleranteile in Städten in der Tendenz höher als in den anderen beiden Kategorien (die Hälfte der Werte liegt über 50 %). Während sich

Abb. 3    Grenzpendleranteil (nGesamt = 2558)

und

Urbanisierungsgrad

in

EUSALP-Grenzräumen

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die Kategorie Städte also recht gut von den anderen beiden unterscheiden lässt, sind sich die Verteilungen in den Kategorien ‚Kleinere Städte und Vororte‘ und ‚Ländliche Gebiete‘ sehr ähnlich. Vermutlich führt dies auch dazu, dass statistisch lediglich ein geringer Zusammenhang zwischen den Merkmalen festgestellt werden kann1 (Cohen 1988 nach Ellis 2010: 41). Die Analysen zum Zusammenhang von Siedlungsstruktur und Pendlerintensität zeigen, dass die Intensität mit der Struktur bzw. Größe der Gemeinde zusammenhängt – dass also die Intensitäten in Städten größer sind als in kleineren Städten und ländlichen Regionen. Auch hier gilt, dass umgekehrt ein hoher Urbanisierungsgrad nicht automatisch eine hohe Pendlerintensität mit sich bringt. Im Ergebnis zeigen sich recht typische Siedlungsstrukturen in metropolitanen Pendlerräumen wie Basel oder Genf mit einer klaren Arbeitsteilung von Arbeits- und Wohnfunktionen dies- und jenseits der Grenzen (Sohn et al. 2009).

4 Diskussion der Vereinbarkeit von strukturellen und relationalen Ansätzen Die Ergebnisse zum Zusammenhang von Pendlerintensitäten und den beiden strukturellen Argumenten zeigen, dass sowohl Lohndifferenzen als auch Siedlungsstrukturen als Faktoren zu sehen sind, die Grenzpendlerintensitäten begünstigen. Hohe Grenzpendlerintensitäten treten also dort auf, wo starke Lohndifferenzen und eine urbane Struktur vorhanden sind. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass sie kein alleiniger Erklärungsfaktor sind und kein Automatismus besteht. Hohe Grenzpendlerintensitäten sind dort, wo bestimmte strukturelle Gegebenheiten vorliegen, eine wahrscheinliche aber keine notwendige Konsequenz. Wenn wir diese Erkenntnis strukturell ausdrücken: Die Grenze ist ein Element, das eine spezifische Entwicklung von Lohngefüge und Siedlungssystem ermöglicht, was wiederum starke Pendlerbewegungen wahrscheinlich macht. Erwähnenswert ist an dieser Stelle ein weiteres Argument, das in diesem Beitrag nicht getestet wird, aber bei der Analyse auffällt – namentlich die nationale Zugehörigkeit und damit indirekt auch die EU-Zugehörigkeit: Die hohen Grenzpendlerintensitäten an den Grenzen zur Schweiz sowie zu Liechtenstein und

1EUSALP gesamt: ɳ = 0,141, ɳ2 = 0,020; AT: ɳ = 0,135, ɳ2 = 0,018; CH&LI: ɳ = 0,187, ɳ2 = 0,035; DE: ɳ = 0,176, ɳ2 = 0,031.

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Monaco zeigen, dass politische, nationalstaatliche Kontexte eine Rolle spielen. In diesen Staaten ist das Lohnniveau besonders hoch und damit tendenziell auch die Lohndifferenz zu den Nachbarstaaten. In den drei Staaten ist der Finanzsektor überproportional bedeutend, wobei die selektive bzw. zögerliche Übernahme europäischer Regularien eine wichtige Rolle spielt. Hier stellt sich die Frage, ob diese strukturell orientierte Betrachtung vereinbar ist mit einer relational-konstruktivistischen Grundsicht. Die Antwort ist zweischneidig. Auf der einen Seite ist ein gewisses Spannungsverhältnis nicht ganz zu leugnen, das vor allem im Forschungsfokus liegt. Angewandt-funktionale Perspektiven fragen nicht explizit nach politischen Machtverhältnissen oder zugrunde liegenden Strategien und Intentionen, auch werden selten Fragen der räumlichen Gerechtigkeit bearbeitet. Im vorliegenden Fall war der politische Ausgangspunkt eine Studie, die Optimierungsmöglichkeiten im verkehrspolitischen Bereich herausarbeiten sollte, insbesondere im Hinblick auf nachhaltigere Mobilitätsformen (Modal Split, Mitfahrformate usw., siehe Chilla und Heugel 2018). Aber solche Fragen lassen sich durchaus an eine solche Studie anschließen. Aus dezidiert kritischer Perspektive ist insbesondere die Frage nach der Selektivität von Grenzdurchlässigkeit zu stellen (vgl. z.  B. Popescu 2015). Während das Schengen-Regime das Pendeln von Fachkräften ermöglicht, wird die migrationspolitische Selektivität von nationalen Grenzen derzeit verschärft (Arbeitserlaubnisse und Grenzkontrollen im Gefolge der internationalen Migrationszunahme, s. o., und jüngst im Zusammenhang mit der C ­ orona-Epidemie; dazu auch Weber und Wille 2020 in diesem Band). Des Weiteren kann aus kapitalismuskritischer Sicht die Ermöglichung und Unterstützung des Pendelns hinterfragt werden. Wenn der europäische Integrationsprozess – ähnlich wie die Globalisierung – insgesamt als spatial fix für Akkumulationskrisen gesehen wird (Harvey 2001), so erstreckt sich dies potenziell auch auf das ­Schengen-Regime, das in Grenzräumen neue ökonomische Optionen ermöglicht. Eine ­angewandt-funktionale Perspektive fragt hiernach nicht. Dennoch sind strukturell orientierte und relational ausgerichtete Perspektiven nicht grundsätzlich unvereinbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn strukturelle Argumente nicht abschließend oder ausschließlich verstanden werden. Vielmehr sind sie als Ausdruck von kontingentem Handeln vieler Akteure zu verstehen, was sich zu Strukturen und Pfadabhängigkeiten verdichtet. Die Kontingenz umfasst die individuellen Entscheidungen für die zumindest vorübergehende Lebensgestaltung als Grenzpendler, und eben auch die politischen Strategien, die zur Attraktivität und Durchführbarkeit des auch dauerhaften Grenzpendelns führen. Diese Argumentation ist letztlich strukturationstheoretisch verankert (vgl. Giddens

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1987). Auch wenn Paasi (2009) das Gidden’sche Verständnis von Grenzen für zu statisch hält, so baut seine Argumentation gerade auf die alltägliche Verhandlung, Reproduktion und gelegentliche Veränderung von Strukturen im Allgemeinen und nationalen Grenzen im Besonderen. Die Prozesse zur Entstehung von Strukturen und deren Prozesscharakter darf nicht ausgeblendet werden. Auch sind Strukturen nicht als handlungsleitend im determinierenden Sinne zu verstehen. Dennoch ist ein genauerer Blick auf Strukturen und strukturelle Zusammenhänge für das Verständnis von Grenzräumen zweifellos instruktiv. Insofern versteht sich dieser Beitrag als ein Plädoyer für eine Vereinbarkeit der bislang oft unverbundenen Lager der Border Studies.

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M. A. Anna Heugel ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Regionalentwicklung von Prof. Dr. Tobias Chilla am Institut für Geographie der ­Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zuvor absolvierte sie ihr Geographiestudium in Erlangen. Ihr Forschungsfokus liegt auf räumlichen Analysen. In der letzten Zeit war sie in zwei Projekte im Alpenraum eingebunden. Auf einem der beiden Projekte baut ihr Promotionsthema auf, das grenzüberschreitendes Pendeln im Alpenraum analysiert. Prof. Dr. Tobias Chilla  ist seit 2012 Inhaber der Professur für Regionalentwicklung am Institut für Geographie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine vorherigen akademischen Stationen waren Köln (Promotion), Bamberg, Luxemburg und Saarbrücken (Habilitation). Sein Forschungsfokus liegt auf europäischer Raumentwicklung und auf Fragen der angewandten Regionalentwicklung. Aktuelle Projekte liegen in den Bereichen Makroregion in den Alpen, zu grenzüberschreitenden Themen sowie regionaler Wertschöpfung.

Energy Borderlands – eine Analyse medialer Aushandlungsprozesse um das Kernkraftwerk Cattenom in der Großregion SaarLorLux Juli Biemann und Florian Weber Zusammenfassung

Das französische Kernkraftwerk Cattenom – das drittgrößte Kernkraftwerk Frankreichs – liegt im département Moselle (Teil der Region Grand Est, vormals Lothringen) nur rund neun bzw. zwölf Kilometer von der luxemburgischen bzw. deutschen (saarländischen) Grenze entfernt und steht zugleich für divergierende Energiepolitiken und Bewertungen. Denn während in Frankreich rund drei Viertel der Stromproduktion aus Kernkraft stammen, wurde in Deutschland der Ausstieg aus der Kernkraft bis zum Jahr 2022 beschlossen, verbunden mit dem Ziel eines massiven Ausbaus erneuerbarer Energien. Befeuert durch wiederkehrende Störfälle, sollte Cattenom aus luxemburgischer und saarländischer Perspektive schnellstmöglich abgeschaltet werden, es ist in Frankreich aber Teil eines ‚sicheren und sauberen‘ Energiesystems. Unterschiedliche nationale und regionale Diskurse treffen somit durch die Grenzlage aufeinander, die in diesem Beitrag mit einer Diskursanalyse der Tageszeitungen Républicain Lorrain, Luxemburger Wort und Saarbrücker Zeitung näher beleuchtet werden. Inspiriert von der Grenzraumforschung wird zwischen unterschiedlichen Energy Borderlands unterschieden: Mit lothringischem Blick stellt Cattenom einen wirtschaftlichen Motor und eine gesellschaftliche Institution der Region dar. Luxemburg hin-

J. Biemann (*) · F. Weber  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Weber E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_4

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gegen erhebt die Forderung, dass durch die Abschaltung des Kernkraftwerks die Bedrohung des gesamten Staatsgebietes unterbunden wird. Aus saarländischer Perspektive sollte Frankreich aus den Erfahrungen der deutschen Energiewende lernen, um das Kernkraftwerk abzuschalten.

1 Einleitung: Konflikte um Kernkraft im grenzregionalen Kontext In einem Pressedossier der französischen Energiegesellschaft EDF wird das Kernkraftwerk Cattenom als „im Herzen des Dreiländerecks“1 liegend präsentiert (EDF 2019, Deckblatt). Aus seiner Verortung in Lothringen, einem Teil der heutigen französischen Region Grand Est (vgl. hierzu bspw. Harster und Clev 2018), in Grenzlage zu den Nachbarländern Deutschland und Luxemburg lässt sich bereits eine Herausforderung ableiten: die geringe Distanz zu den beiden Nachbarn, die ein anderes Verhältnis zur Kernkraft haben. Während Luxemburg keine eigenen Kernkraftwerke besitzt, ist in Deutschland der schrittweise Atomausstieg bis 2022 in der geplanten Energiewende fest verankert (Bruns 2016; Hook 2018; Kühne und Weber 2018). In Grenzregionen wie der sog. ‚Großregion‘2 (vgl. auch Wille 2020), hier ‚im Kern‘ SaarLorLux (Saarland, die ehemalige und gleichzeitig weiterhin alltagsweltlich verankerte Region Lothringen und Luxemburg), treffen unterschiedliche Politiken aufeinander, die durchaus kongruent ausfallen oder wechselseitige Transfer- und Lernprozesse bedingen können (siehe dazu u. a. Pallagst et al. 2018). Grenzüberschreitende

1Französisches

Original: „au cœur du pays des Trois Frontières“. Genauer betrachtet ist ‚Trois Frontières‘ der Name eines ehemaligen Verwaltungsbezirkes, der sich allerdings auf die Lage des Bezirkes im Dreiländereck Frankreich – Deutschland – Luxemburg zurückführen lässt. 2Die ‚Großregion‘ setzt sich als politisch-räumliches Konstrukt aus den Teilregionen Saarland und ­Rheinland-Pfalz, Lothringen, dem Großherzogtum Luxemburg sowie der Wallonie, der Fédération Wallonie-Bruxelles und der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien zusammen. Im Zuge der französischen Gebietsreform ist die Region Lothringen 2016 in die neu geschaffene Region Grand Est integriert worden. Sie wirkt aber bis heute nach, da operativ weiterhin für die Großregion nur das Gebiet der ehemaligen Region Lothringens berücksichtigt wird.

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Pendler*innen-Verflechtungen, Warenströme oder Alltagsverflechtungen, um nur einige Beispiele zu nennen, führen dazu, dass Politik und Planung seit den offenen Grenzen im Zuge des Schengener Abkommens kaum mehr an nationalstaatlichen Grenzen halt machen können (Caesar und Evrard 2020 in diesem Band; Wille et al. 2014; Wille 2015). Diesem Umstand wird mit zahlreichen Initiativen bspw. im Bildungs- und Arbeitsmarktbereich bereits Rechnung getragen und eine engere Kooperation angestrebt (u. a. Dörrenbächer 2018; Wille 2016; siehe auch Dörrenbächer 2020 in diesem Band). In verschiedenen Bereichen können Perspektiven aber auch konfligieren, wie im Ausgangspunkt für diesen Artikel: Cattenom (Abb. 1) – der wichtigste Energieproduktionsstandort in der Großregion SaarLorLux – macht aus deutscher und luxemburgischer Perspektive immer wieder durch Störfälle von sich reden, woraus sich der an Frankreich adressierte Wunsch einer möglichst zeitnahen Abschaltung des Kernkraftwerks ableitet (dazu bspw. Oberlé 2016). Historisch betrachtet ergaben sich in der Großregion SaarLorLux seit über einem Jahrhundert im Energiekontext enge grenzüberschreitende Verflechtungen, was sich in der Kohleförderung dies- und jenseits sich verschiebender Grenzen manifestierte. Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts werden nun aber markante Unterschiede sichtbar: Frankreich mit seiner zentralstaatlichen Organisation hat zwar durchaus erneuerbare Energien für sich erkannt, vollzieht

Abb. 1   Das Kernkraftwerk Cattenom in der Region Grand Est. (Quelle: Aufnahme Florian Weber 2019)

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aber keine Abkehr von der Kernkraft. Über 70 % des Stroms stammt nach wie vor aus Kernkraft, die nicht nur als saubere, sondern auch als sichere Energiequelle vermarktet wird (Bruns und Deshaies 2018, S. 8). Vor dem Hintergrund der Eindrücke der Reaktorkatastrophe in Fukushima (2011) wurden in Deutschland hingegen die Risiken höher bewertet, der Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen – verbunden mit einem deutlichen Ausbau erneuerbarer Energien (Bruns 2016; Wolling und Arlt 2014). Im Saarland, wo noch zwei Drittel der Energieversorgung aus Kohlekraftwerken stammen (Bruns und Deshaies 2018, S. 6), wirkt die temporäre Bedeutung der Kohle allerdings nach. In der Großregion SaarLorLux zeigen sich so deutliche Kontraste. Die Grenzlage schafft ein spezifisches Feld variabler ‚Grenz-Geographien‘, das einer ausführlicheren Betrachtung zuzuführen ist (vgl. auch Kaijser und Meyer 2018; Oberlé 2016). Aus Perspektive der Border Studies konstituieren sich hier als ‚Zwischenbereiche‘ unterschiedliche politische, gesellschaftliche und mediale Borderlands, wobei sich entsprechende Diskurse mehr oder weniger weitreichend überschneiden, überlappen oder eben auch divergieren (in Anschluss an Anzaldúa 2012; Brunet-Jailly 2011; Pavlakovich-Kochi et al. 2004; hierzu auch Crossey und Weber 2020; auch Roßmeier 2020 in diesem Band). Aushandlungsprozesse um diese Energy Borderlands der Kernkraftnutzung rücken im Folgenden aus poststrukturalistisch-diskurstheoretischer Perspektive in den Fokus, um so machtvollen Bedeutungsverfestigungen, aber auch Hinweisen auf Brüche und Veränderungen nachzugehen (allg. dazu Glasze und Mattissek 2009b; Laclau und Mouffe 1985)3. Nach einer kurzen Einführung in den theoretischen Zugriff und das methodische Vorgehen wird danach gefragt, welche Spezifika drei regionale Tageszeitungen der Großregion SaarLorLux in Bezug auf das Kernkraftwerk Cattenom aufweisen. Auf dieser Grundlage werden die identifizierten Muster miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. So wird ein Beitrag dazu geleistet, regionale Diskurse zum Thema Kernenergie im Grenzkontext auszudifferenzieren und neben übergreifenden Diskursen gerade auch Abweichungen zu identifizieren.

3Der

vorliegende Artikel basiert auf Erhebungen im Rahmen der Masterarbeit von Juli Biemann (MA Border Studies) zu Diskursen in Grenzräumen, die von Florian Weber (Universität des Saarlandes) und Michel Deshaies (Universität Lothringen) 2019–2020 betreut wurde.

Energy Borderlands

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2 Poststrukturalistisch-diskurstheoretische Perspektive und methodischer Zugriff 2.1 Die Diskurstheorie in Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1985) entwickelten eine poststrukturalistisch ausgerichtete Diskurstheorie, die im Wandel befindliche „gesellschaftliche Strukturen und Prozesse“ sowie „Machtverhältnisse“ (Glasze und Mattissek 2009b, S. 153) in den Fokus rückt, ohne von einem unverrückbaren Fundament auszugehen. Ein „Infragestellen der Vorstellung einer geschlossenen Ganzheit“4 (Laclau 1993, S. 433) und Veränderungsprozesse als „Normalfall“ werden damit zu konstitutiven Elementen des theoretischen Zugangs. Das Vorhandensein prädiskursiver Strukturen lehnen sie ebenso ab wie die Vorstellung autonomer Subjekte. Sie sehen also nicht spezifische gesellschaftlich unumstößliche Grundstrukturen oder einzelne agierende Subjekte als ausschlaggebend für gesellschaftliche Entwicklungen an. Vielmehr gehen sie von der Prämisse aus, dass diskursive Prozesse Gesellschaften und Identitäten hervorbringen und formen und diese potenziell immer veränderlich ausfallen, d. h. die Brüchigkeit und Wandelbarkeit bzw. Kontingenz sozialer Wirklichkeiten jenseits „einer Realität“ werden zum Leitmotiv (dazu ausführlicher Glasze 2013; Jørgensen und Phillips 2002; Keller 2007; Mattissek und Reuber 2004; Weber 2018). Vor diesem Hintergrund leiten Laclau und Mouffe ihren Diskursbegriff ab, der sich in einem Spannungsfeld aus nie final abgeschlossenen Strukturen, um deren Ausprägung gerungen wird, und gleichzeitig scheinbar stabilen Verhältnissen „im Alltag“ aufspannt (Laclau 1993, S. 435). Diskurse lassen sich so als temporäre Bedeutungsfixierungen konturieren: „Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 147). Die Prozesshaftigkeit hat zur Folge, dass Diskurse nicht homogen, vollständig oder in sich geschlossen sein können (Glasze und Mattissek 2009a). Gleichzeitig zeichnen sich immer wieder Diskurse ab, die quasi fix gegeben und stabil erscheinen – die in gewisser Weise ‚sedimentieren‘ (Glasze 2013). Diese werden als hegemoniale – und damit als besonders machtvolle – gerahmt, mit denen „eine bestimmte Weltsicht naturalisiert, d. h. als natürlich gegeben“ erscheint (Glasze

4„to

put into question the notion of closed totality“

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2007, Abs. 18; vgl. auch Laclau 1999, S. 137–138). Dies gelingt dadurch, dass sich zum einen Momente eines Diskurses um einen zentralen Knotenpunkt herum in Äquivalenzketten aneinanderreihen (Glasze 2015, S. 25; Laclau 2007, S. 105; Nonhoff 2010, S. 43) und zum anderen eine Abgrenzung von einem ‚Außen‘ stattfindet, also dem, was der Diskurs nicht ist (Nonhoff 2010, S. 43; Weber 2013, S. 51, 2018, S. 25). Die Grenzziehung, ein Antagonismus, wird entscheidend, um das Innere des Diskurses zu festigen. Diskursive Positionen werden auf diese Weise gestärkt und verfestigt (Glasze und Mattissek 2009b, S. 154; Mouffe 2014, S. 119), allerdings können prinzipiell Elemente des Außen auch erstarken und so wiederum Umbrüche bewirken – ein „Ringen“ um Hegemonie findet statt (Laclau 1996, 1999; Torfing 2005, S. 15). Dislokationen, also Verschiebungen, lassen sich entsprechend nie ausschließen (Laclau 1990, S. 39). So können sich Momente/ Elemente auch an unterschiedliche Diskurse ankoppeln, was Laclau (2007) mit der Begrifflichkeit ‚flottierender Signifikanten‘ fasst, also solchen, die vorübergehend zwischen Diskursen changieren und erst einer neuen – wiederum auch nur temporären – hegemonialen Verankerung zugeführt werden. Der diskursanalytische Zugriff in Anschluss an Laclau und Mouffe ermöglicht es, auf der einen Seite machtvolle Verfestigungen spezifischer Deutungsmuster herauszuarbeiten und auf der anderen Seite auf die Suche nach Hinweisen auf Bedeutungsverschiebungen und Widersprüchlichkeiten im Zeitverlauf zu gehen. Mit der zentralen Vorstellung der Hegemonialisierung von Diskursen über antagonistische Grenzziehungen ist der Zugang prädestiniert, um für Fragestellungen im Kontext der Grenze(n) Anwendung zu finden – von unterschiedlichen Grenzen und deren Machtverhältnissen ausgehend (Weber 2020). So kann analysiert werden, welche Diskurse sich um das Kernkraftwerk im Grenzraum SaarLorLux konstituieren, im Falle der vorliegenden Analyse mediale Diskurse in regionalen Tageszeitungen, die gleichzeitig u. a. politische, wirtschaftliche etc. Stimmen umfassen.

2.2 Methodik: Vergleich regionaler Tageszeitungen mittels einer Analyse narrativer Muster Um Diskurse zum Kernkraftwerk Cattenom ausdifferenzieren zu können, werden Artikel der drei auflagenstärksten Zeitungen aus (ehem.) Lothringen, dem Großherzogtum Luxemburg und dem Saarland untersucht: der Républicain Lorrain, das Luxemburger Wort und die Saarbrücker Zeitung. Den Ausgangspunkt bildet das Jahr 2011, also das Jahr der Reaktorkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima, wobei der Zeitraum bis 2019 abgebildet wird. Aufgrund der hohen

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Anzahl an Artikeln reduziert sich die Auswahl und Analyse auf die ungeraden Jahreszahlen (siehe Tab. 1) – so bleibt die Periode lang genug, um eventuelle zeitliche Entwicklungen herauszuarbeiten und gleichzeitig das Ereignis Fukushima, das entscheidend die deutsche Energiepolitik beeinflusste, einbeziehen zu können. Den Ausgangspunkt der Analyse bildete eine Durchsicht der zusammengestellten Artikel, auf deren Grundlage für einen offenen Zugang fünf Codes für den Codierprozess mit Atlas.ti festgelegt wurden: ‚negativ gegenüber Kernkraft‘, ‚neutral gegenüber Kernkraft‘, ‚positiv gegenüber Kernkraft‘, ‚cross bordergovernance‘ und ‚Bezugnahmen zu erneuerbaren Energien‘. Diese erlaubten eine erste Einteilung relevanter Textpassagen und gaben gleichzeitig einen groben Überblick über die korpusbildenden Artikel. Auf diese Kategorisierung folgte eine Ausdifferenzierung mit einem feingliedrigen Codesystem, womit bspw. arbeitsmarktrelevante Themen in Lothringen oder das kommunale Aktionskomitee gegen Kernkraft in Luxemburg Berücksichtigung fanden, um im gesamten Korpus „Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten und von diesen Regelmäßigkeiten auf die Regeln der diskursiven Bedeutungskonstitution zu schließen“ (Glasze et al. 2009, S. 294). Daran anschließend wird methodisch auf die Analyse narrativer Muster zurückgegriffen, d. h. die Zielsetzung steht im Fokus, ähnlich gelagerte Narrationen in den Artikeln zu identifizieren, die für die Verankerung spezifischer Deutungsmuster sprechen (dazu ausführlicher bspw. auch Weber 2013, 2015). Innerhalb der sich anschließenden Ergebnisdarstellung werden die Artikel der Tageszeitungen mit durchlaufender Nummer zitiert, verbunden mit R für den Républicain Lorrain, W für das Luxemburger Wort und S für die Saarbrücker Zeitung.

Tab. 1   Zusammensetzung des betrachteten Korpus (Quelle: Eigene Zusammenstellung) Jahr

Anzahl der Artikel aus Frankreich: Républicain Lorrain

Luxemburg: Deutschland: Saar- Gesamt Luxemburger Wort brücker Zeitung

2011

36

83

60

179

2013

53

20

29

102

2015

34

16

7

57

2017

53

10

7

70

2019 (bis Ende Juni)

14

4

2

20

Gesamt

190

133

105

428

80

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3 Das Kernkraftwerk Cattenom und die Konstitution unterschiedlicher Energy Borderlands 3.1 Positionen in der medialen Berichterstattung zu Cattenom Einen ersten Eindruck der in Verbindung mit Cattenom vorherrschenden Berichtsschwerpunkte kann bereits die Betrachtung der Häufigkeiten der Kodierungen bieten (Tab. 2). Während in den Artikeln des Luxemburger Worts und der Saarbrücker Zeitung ein großer Teil der Textstellen die Möglichkeiten von grenzüberschreitender Kooperation – cross border-governance – thematisiert, überwiegen beim Républicain Lorrain deutlich neutrale Positionen zur Kernenergie. Hierunter sind auch diejenigen Passagen zusammengefasst, die zwar Zwischenfälle am Kernkraftwerk Cattenom thematisieren, dies jedoch auf neutrale Weise als Informationsvermittlung und ohne Äußerung von Kritik tun. Bei letzterer Zeitung wurden auch mehr positive als negative Standpunkte kodiert, wohingegen beim Luxemburger Wort und der Saarbrücker Zeitung negative Positionen zur Kernenergie deutlich überwiegen. Bei diesen Zeitungen sind Bezugnahmen zu erneuerbaren Energien in Relation zu Kernenergienutzung auch deutlich ausgeprägter.

Tab. 2   Häufigkeit der Codierungen innerhalb der einzelnen Zeitungen. (Quelle: Eigene Zusammenstellung) Code

Anzahl der codierten Textstellen Républicain Lorrain

Luxemburger Wort

Saarbrücker Zeitung

Bezug zu erneuerbaren Energien

8

98

76

Cross border governance

53

148

101

Negative Positionen zu Kernenergie

41

54

42

Neutrale Positionen zu Kernenergie

224

18

9

15

9

Positive Positionen zu 47 Kernenergie

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81

Die vorgenommene Quantifizierung bildet allerdings nur einen Ausgangspunkt der Analyse, da sie Verknüpfungen zwischen Momenten und Hegemonien bzw. antagonistische Außen höchstens erahnen lässt. Um die diskursive Rahmung der Berichterstattung zum Kernkraftwerk Cattenom genauer zu erfassen, werden die Zeitungsartikel nachfolgend im Hinblick auf zentrale narrative Muster untersucht.

3.2 Républicain Lorrain: Cattenom als positiver regionaler Wirtschaftsfaktor Zunächst lässt sich beobachten, dass die Anzahl der Artikel zum Kernkraftwerk Cattenom im Républicain Lorrain mit 190 deutlich höher liegt als bei den beiden anderen untersuchten Zeitungen. Dabei schwankt der Umfang von mehrseitigen Themendossiers bis hin zu Kurzmitteilungen von nur einigen Zeilen. Viele dieser kürzeren Artikel sind Pressemitteilungen der französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF (Electricité de France), die Cattenom betreibt. Bei letzteren handelt es sich insbesondere um die bereits angesprochenen Berichte ‚neutralen Tons‘, in denen Zwischen- oder Störfälle am Kernkraftwerk mit üblichen Vorgängen verkoppelt oder Abschaltungen zum Zwecke von Wartungsarbeiten als ‚normal und geplant‘ beschrieben werden, bspw.: „Cattenom: arrêt sur réacteurs. Alors que la Tranche n°4 du CNPE de Cattenom subit son check-up décennal, l’unité de production n°2 a elle aussi été mise à l’arrêt, dans la nuit de mardi à mercredi. Cette fois, il s’agit d’une opération tout à fait normale et programmée: elle est en fait directement liée aux travaux de maintenance de la T4, dont l’alimentation électrique est couplée à celle de la T2. […]“5 (R125). Eine regelmäßig wiederkehrende Narration stellt die Verknüpfung des Kernkraftwerks Cattenom mit Produktivität und Wirtschaftlichkeit dar. Dabei wird der Nutzen für die Region unter zwei unterschiedlichen Aspekten hervorgehoben. Zum einen werden die umfangreiche Stromproduktion und die Stromversorgung thematisiert: „31,2 milliards, soit le nombre de kWh produits en 2016 par la centrale nucléaire de Cattenom. Un total peu explicite pour le consommateur

5Eigene

Übersetzung: „Cattenom: Abschaltung des Reaktors. Während Block 4 des Kernkraftwerks Cattenom seine 10-Jahres-Überprüfung durchläuft, wurde auch Block 2 in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch abgeschaltet. Es handelt sich dabei um eine ganz normale und planmäßige Maßnahme: er steht nämlich in direktem Zusammenhang mit den Wartungsarbeiten an T4, dessen Stromversorgung an die von T2 gekoppelt ist. […]“.

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moyen mais qui s’éclaire immédiatement si l’on considère qu’il correspond à lui seul aux trois quarts de la consommation annuelle de l’ensemble de la région Grand Est“6 (R306). Zum anderen wird auf Arbeitsplätze und Aufträge, die in der Region gehalten oder geschaffen würden, rekurriert. Unterstützend wirken die sog. ‚décennales‘, die alle zehn Jahre durchgeführten Generalüberprüfungen des Kernkraftwerks: Da jeweils nur einer der vier Reaktorblöcke überprüft wird, fallen in den untersuchten Zeitraum mehrere Generalüberprüfungen. Unterschiedliche Sprecher*innen werden dabei herangezogen, um die positiven Auswirkungen auf die Standortumgebung darzulegen, bspw.: „Maire de 1995, Cattenomois depuis 1976, Michel Schibi confirme ‚le poids‘ du centre nucléaire de production d’électricité (CNPE) dans les finances de sa commune […]. ‚Oui, notre ville ne serait pas du tout la même sans EDF‘, ­avoue-t-il“7 (R62; zum Wirtschaftsaspekt auch bspw. R347). Es entsteht eine Äquivalenzkette aus ‚Kernkraftwerk Cattenom‘, ‚umfangreiche Stromversorgung‘ und ‚Wirtschaftsmotor für die Region‘. Im Zuge von Veranstaltungsberichten wird das Kernkraftwerk Cattenom zudem als gesellschaftliche Institution verankert. Ein Angestellter des Kernkraftwerks arbeitet im regionalen FabLab (R331). Am Tag der offenen Tür sind Besucher*innen zugelassen (R327, R335) und die Betreiberfirma EDF spendet an lokale Vereine und Initiativen (R117). Zusätzlich zu der nachträglichen Berichterstattung veröffentlicht der Républicain Lorrain auch die Ankündigungen mit Anmeldemodalitäten und Kontaktinformationen zu Veranstaltungen. Das Kernkraftwerk wird so zu einem ‚normalen‘ regionalen Industriestandort (gemacht). Positive Assoziationen zu Kernkraft erfolgen in den Zeitungsartikeln in erster Linie auf allgemeiner Ebene, weniger dezidiert an das Kernkraftwerk Cattenom gekoppelt. So wird bspw. die Kernenergie als CO2-arme Form der Energieerzeugung und Möglichkeit gerahmt, Schwankungen bei erneuerbaren Energien auszugleichen, d. h. mit der Gewährleistung der Versorgungssicherheit verbunden (R401, Zitat im Artikel des Direktors des Kernkraftwerkes). Kritik wird dagegen im Vergleich nicht allgemein auf Kernenergie bezogen, sondern größtenteils an

6Eigene

Übersetzung: „31,2 Mrd., d. h. die Anzahl der 2016 vom Kernkraftwerk Cattenom produzierten kWh. Eine Summe, die für den Durchschnittsverbraucher wenig aussagekräftig ist, die aber sofort deutlich wird, wenn man bedenkt, dass sie allein drei Viertel des Jahresverbrauchs der gesamten Region Grand Est ausmacht.“ 7Eigene Übersetzung: „Michel Schibi, Bürgermeister seit 1995, Bürger von Cattenom seit 1976, bestätigt die Bedeutung des Kernkraftwerks für die Finanzen seiner Gemeinde […]. ‚Ja, unsere Stadt wäre ohne EDF ganz und gar nicht dieselbe‘, gibt er zu.“

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Abläufen im Kernkraftwerk geübt. Dabei sticht die Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen der Angestellten besonders heraus. Die „insuffisance des résultats du site mosellan en matière de radioprotection des travailleurs“8 (R217) sei eine Nachlässigkeit der Kraftwerksleitung, die zudem nicht genügend mit dem Betriebsrat kooperiere. Diesbezüglich behandeln verschiedene Artikel Streikandrohungen oder deren Durchführung vor allem durch Angestellte von Subunternehmen (bspw. R165, R167, R305, R311). In Verbindung mit der thematisierten neutralen Berichterstattung zu Zwischenfällen tragen diese Thematiken dazu bei, die Wahrnehmung eines Unternehmens zu verankern, das sich nicht wesentlich von anderen Wirtschaftszweigen abhebt, da es mit ähnlich gelagerten Problematiken umgehen muss. Widerstände gegen Kernkraft und das Kernkraftwerk Cattenom werden im Républicain Lorrain als grenzüberschreitend charakterisiert, aber hauptsächlich den Nachbarregionen zugeschrieben: „Allemands et Luxembourgeois se sont mobilisés, massivement comme d’habitude. Les Français sont également présents. Beaucoup moins nombreux“9 (R46). Dabei wird den Protestierenden eine gewisse Sensationslust unterstellt und gleichzeitig auf den Widerspruch hingewiesen, dass die luxemburgische Regierung neben anderen Akteur*innen zwar die Abschaltung Cattenoms fordere, aber gleichzeitig Strom von dort importiere (R58, auch R210). Eine kritische Haltung wird damit tendenziell in das Außen verlagert und dort mit dem Agieren der angrenzenden Nachbarländer assoziiert. Der Kritik am Kernkraftwerk Cattenom werden die Entwicklungen in der Sicherheitsstrategie des Betreibers entgegengesetzt. Zunächst sei die Informationspolitik über Vorkommnisse innerhalb des Werkes sehr ausgeprägt (R161). Als Reaktion auf die Forderung nach stärkerer Einbeziehung durch die anderen Teilregionen der Großregion SaarLorLux werden die Informationen auch auf Deutsch übersetzt und ‚in Echtzeit‘ (R146) übermittelt. Die Öffnung der lokalen Informationskommission für die Nachbarregionen signalisiere weitere Kompromissbereitschaft von französischer Seite. Zudem würden fortlaufend Investitionen getätigt und Neuerungen eingeführt, um die Sicherheit des Werkes zu erhöhen. Auflagen, die nach der Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima (das hauptsächlich im Kontext dieser Auflagen genannt wird) von EU-Seite wie von der französischen Regierung vorgegeben wurden, seien umfassend umgesetzt

8Eigene

Übersetzung: „unzureichende Ergebnisse des an der Mosel gelegenen Standorts in Hinblick auf den Strahlenschutz der Arbeitnehmer“. 9Eigene Übersetzung: „Deutsche und Luxemburger sind aktiv, wie üblich massiv. Die Franzosen sind ebenfalls anwesend. Viel weniger zahlreich“.

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worden. In der Berichterstattung des Républicain Lorrain wird Verantwortungsbewusstsein mit dem Handeln des Kraftwerksbetreibers assoziiert. Es konstituiert sich so ein Energy Borderland, in dem Kernkraft als sichere Energiequelle eine machtvolle medial-diskursive Verankerung erfährt und die für die Nachbarregionen zur Versorgung mit beitrage, anstatt eine zu Unrecht kritisierte Gefahr darzustellen.

3.3 Luxemburger Wort: Cattenom als Staatsbedrohung „Luxemburg ist wohl der einzige Staat der Welt, der in seiner kompletten Existenz von einem Super-GAU eines einzigen Kernreaktors bedroht ist“ (W3) – diese Narration aus dem Luxemburger Wort steht beispielhaft für die Grundausrichtung und Bewertung zu Cattenom in dieser Zeitung. Zu einem zentralen und wiederkehrenden Moment wird hier der Reaktorunfall in Fukushima: Mit 44 Erwähnungen in den codierten Passagen stellt er eine häufig auftretende Referenz der luxemburgischen Artikel dar und legt durch die wiederholte Verbindung zwischen den havarierten Reaktoren in Japan und dem Kernkraftwerk Cattenom den Fokus auf die Gefahr, die dieses im Falle eines radioaktiven Unfalles für das Großherzogtum darstellt, d. h. Kernkraft und Gefahr werden hier explizit miteinander in Beziehung gesetzt. In Bezug auf einen Unfall in einem anderen französischen Kernkraftwerk wird betont: „Ein vergleichbarer Unfall hätte auch in Cattenom geschehen können“ (W132). Zusätzlich wird auch die Möglichkeit eines Terroranschlages, welchem das Kernkraftwerk „nicht zuletzt auf Grund [seines] Alters […] keines Falls standhalten“ (W87) könne, aufgegriffen und verstärkt so weiter das Bedrohungsszenario. Das Kernkraftwerk wird als „der französische Stachel im luxemburgischen Fleisch“ (W61) – ein Bibelbezug – charakterisiert; als eine Bedrohung, die seit Beginn des Baus der Reaktorblöcke nicht abgewendet werden kann: „Luxemburg hat zum Glück selbst schon vor langer Zeit entschieden, keine Kernkraftwerke auf seinem eigenen Grund zu errichten. Die Gefahr droht eher von grenznahen Atomkraftwerken wie Cattenom. Wenn hier so etwas passiert wie in Fukushima, dann sind die Folgen erheblich. In Fukushima wurde für die nächsten zwanzig Jahre eine Sperrzone von 20 km rund um das Kernkraftwerk errichtet. Dort kann niemand mehr leben. Hier wären in so einem Fall zwei Drittel Luxemburgs unbewohnbar!“ (W168, Zitat stellvertretender Vorsitzender der grünen Partei Déi Gréng). Dabei wird der Widerspruch, dass luxemburgische Unternehmen Strom aus Frankreich beziehen und somit selbst Kernenergie nutzen, wenig angesprochen und hauptsächlich vorgebracht, um Kritik an der luxemburgischen

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Regierung zu äußern und sie aufzufordern, dies zu unterbinden: „Nur wäre Luxemburgs Position glaubwürdiger, wenn es auf Stromimporte verzichten könnte“ (W97). Diese Narration bezieht sich auf eine Regierungsdelegation, die in Frankreich offiziell die Abschaltung des Kernkraftwerkes Cattenom forderte. Ein Muster in der luxemburgischen Berichterstattung ist der vermehrt und auf unterschiedlichen Ebenen geäußerte Wunsch nach Mitbestimmung – ein zentraler Moment im Diskurs – bezüglich des Kernkraftwerkes und der Versuch, die französische Energiepolitik zu beeinflussen (bspw. W84, W98, W145, W185). Vor allem direkt nach dem Reaktorunfall in Fukushima 2011, als die Zukunft der Kernenergie in der Europäischen Union grundlegend diskutiert wurde, versuchten luxemburgische Politiker*innen auf kommunaler und nationaler Ebene, auf die französische und die regionale Regierung in der Region Lothringen bzw. Grand Est einzuwirken. Ein zu diesem Zwecke gegründetes nationales Aktionskomitee gegen Kernkraft verbindet alle Parteien in dem Ziel, eine Abschaltung von Cattenom zu erwirken. Außerdem wurde 2011 aus den Gemeinderatssitzungen berichtet, in denen sich die Kommunen zu einer kommunalen Anti-Atom-Initiative zusammenschlossen und den Umstieg auf Erneuerbare ­ Energien forderten. Viele Gemeinden betonen, ihre Energieversorgung umstellen und die Mehrkosten für regenerative Energien tragen zu können, da diese im Gegensatz zu den „Kosten einer Atomkatastrophe wie in Fukushima genau zu beziffern“ (W175) seien. Auf diese Weise wird die Ablehnung von Kernkraft im Allgemeinen und des Kernkraftwerks Cattenom als Konsens dargestellt, der zudem eine einigende Wirkung auf ansonsten konkurrierende Sprecher*innen wie Parteien ausübt. Eine ‚sichere‘ Energieversorgung wird mit erneuerbaren Energien assoziiert. Kernkraft allgemein und speziell das Kernkraftwerk Cattenom rücken als ‚unsicher‘ in das Außen des Energieversorgungsdiskurses. Gestärkt wird dies durch die Opposition zur französischen Regierung und zum Betreiber des Kraftwerks, der „[o]hne etwa auf das […] festgestellte ‚Angstgefühl‘ einzugehen, […] sein ‚Loblied‘ auf die Atomenergie [anstimme und sich] gegen eine ‚unfaire Grundsatzkritik‘“ verwahre (W95). Die konkreten Möglichkeiten der Einflussnahme durch das nationale Aktionskomitee und kommunale Initiativen werden nur wenig thematisiert. In Bezug zur Europäischen Union herrscht bei luxemburgischen Sprecher*innen Einigkeit darüber, dass die Energieversorgung unter staatliche Souveränität falle und der Einfluss der EU somit kein direkter sein könne. Dennoch werden die nach dem Reaktorunglück in Fukushima verordneten Stresstests für alle europäischen Kernkraftwerke als eine Möglichkeit des Eingriffs wahrgenommen und im Vorhinein die Hoffnung artikuliert, dass diese die Schließung Cattenoms zur Folge haben könnten: „Einen solchen

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strengen Stresstest hatte Premier Juncker in seiner Erklärung zur Lage der Nation gefordert“ (W155). Auch über den Versuch einer „Umschichtung von Forschungsgeldern“ (W185) auf europäischer Ebene wird berichtet, die die Kernenergie in Europa generell schwächen könnte. Ein weiteres mögliches Aktionsfeld stellt die Großregion dar, die unter anderem eine gemeinsame Übung der Teilregionen Luxemburg, Saarland und Lothringen/Grand Est beschlossen und so eine Einbeziehung der Nachbarregionen erwirkt habe (W89). Zudem werden Bestrebungen für ein gemeinsames Energieprogramm thematisiert: „La sixième Commission présidée par Helma Kuhn-Theis, députée du Landtag de la Sarre, portait sur la Sécurité intérieure: les risques d’acte terroriste, la protection civile et les services de secours. ‚Nous sommes contraints de respecter les exigences nationales françaises en matière de nucléaire. Mais en tant qu’élus, nous devons assurer le bien-être des populations qui vivent dans cette région. Nous souhaitons mettre en place un schéma grand-régional d’aide à la sortie du nucléaire, et informer davantage la population au sujet des tests, des dispositifs de contrôle et de sécurité de Cattenom‘, a déclaré Mme ­Kuhn-Theis“10 (W140). Eine Untermauerung erfolgt über den Verweis darauf, dass bei einem Umstieg auf erneuerbare Energien „genügend Potenzial in der Großregion [vorhanden sei], um die Leistung auszugleichen, die durch die Stilllegung von Cattenom entfallen würde“ (W98). Gleichzeitig wird auf den beschränkten Einfluss rekurriert, denn die „Großregion muss zwar mit dem Kraftwerk ‚in ihrem Herzen‘ leben, […] aber über die Abschaltung oder eine Laufzeitverlängerung wird andernorts entschieden“ (W170). Generell zeigt sich in den Artikeln ein konflikthaftes Spannungsfeld: die Zusammenarbeit bei europäischen Stresstests und eine Energielösung für die Großregion SaarLorLux steht der Forderung nach einer Abschaltung der Reaktoren in Cattenom (direkt oder durch Nichtvergabe der Laufzeitverlängerung) entgegen, wobei über die Zusammenarbeit der „Kurs der französischen Atomlobby und der atomfreundlichen Regierung in Paris“ billigend

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Übersetzung: „Der sechste Ausschuss unter dem Vorsitz der Saarlandtagsabgeordneten Helma Kuhn-Theis befasste sich mit der Inneren Sicherheit: Terrorismusgefahr, Katastrophenschutz und Rettungsdienste. ‚Wir sind dazu gezwungen, die nationalen französischen Forderungen nach Nutzung der Kernkraft zu respektieren. Aber als gewählte Vertreter müssen wir das Wohlergehen der Menschen in dieser Region sicherstellen. Wir wollen ein großes regionales Programm zur Unterstützung des Atomausstiegs aufstellen und die Bevölkerung mehr über die Tests ‚die Überwachung und die Sicherheitsvorkehrungen von Cattenom informieren‘, sagte Frau Kuhn-Theis“.

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in Kauf genommen würde, „die auf EU-Ebene jegliche Versuche zu einem vorsichtigen Ausstieg aus der Nukleartechnik systematisch torpedieren würden“ (W155). Auf diese Weise entsteht ein Energy Borderland, in dem regelmäßig die grenzüberschreitende Problematik durch Cattenom thematisiert wird und die letztlich aber noch viel weiter reicht: bis Paris, wo über die französische Regierung zentralstaatlich Entscheidungen zur Kernenergienutzung gefällt werden, die regional kaum beeinflusst werden können.

3.4 Saarbrücker Zeitung: die deutsche Energiewende als Muster für Frankreich In Artikeln der Saarbrücker Zeitung wird die identitätsbildende Bedeutung der Kernkraft als „Symbol nationaler Unabhängigkeit“ (S118) und „Vorzeigeindustrie“ (S89) für Frankreich beschrieben. Demgegenüber steht die deutsche Energiewende mit dem Ausstieg aus der Kernkraft und dem Ausbau Erneuerbarer Energien. Das 2015 beschlossene französische Energiewendegesetz mit einer geplanten Reduktion der Kernenergie von 75 % auf 50 % wird als Ausgleich eines „Rückstand[es]“ (S26) bezeichnet. Dass die Abschaltung der Kernkraftwerke bis 2022 in Deutschland bereits beschlossen ist, wird in einem Zitat der damaligen saarländischen Umweltministerin Anke Rehlinger als Grundlage dafür ausgelegt, grenznahe Kernkraftwerke in Nachbarländern abzulehnen und diese Forderung auch offiziell an die französische Regierung heranzutragen: „Ich sehe keine Alternative zur Energiewende. Wir haben gesagt, wir möchten in Deutschland aus der Atomkraft aussteigen. Die Saarländerinnen und Saarländer lehnen zu Recht auch ein Atomkraftwerk im nahen Frankreich ab. lch persönlich setze mich in Paris nach Kräften für eine Abschaltung des Atomkraftwerks in Cattenom ein“ (S41). Die deutsche Energiewende wird zur Legitimationsgrundlage, um einen Alternativweg der Energieversorgung zu propagieren, bei dem Kernkraft ins diskursive Außen rückt. Hieran koppelt sich Furcht um Heimat und Lebensgrundlagen an: „‚Noch leben wir hier in einer der schönsten Weinbaugemeinden der Obermosel‘, sagte Perls Bürgermeister Bruno Schmitt. Aber seit Fukushima wisse jeder, dass die atomare Technologie nicht beherrschbar sei. Jeder Andersdenkende mache einen Fehler“ (S136). Dabei wird die Gefahr durch das Kernkraftwerk nicht grundsätzlich seinem Alter zugeschrieben, sondern bestehe „seit gut zwei Jahrzehnten“ (S134) und resultiere aus der oben genannten Unbeherrschbarkeit, die vor allem 2011 von verschiedenen Sprecher*innen in der Saarbrücker Zeitung vorgebracht wird (bspw. S67, S90, S98). Auch die Risiken der ungeklärten

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Atommüll-Endlagerung spielen in das Sicherheitsempfinden hinein. Eng verbunden mit der Forderung nach einem Atomausstieg ist die Frage der alternativen Energieversorgung, bei der fast einhellig eine Einigkeit darüber herrscht, dass einer „Rückkehr zur Steinkohle eine deutliche Absage“ (S150) erteilt werden müsse. Darüber hinaus sind die Ansichten zum Ausbau erneuerbarer Energien allerdings gespalten. Vor allem die Windenergie erfährt große Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem Kunstprojekt ‚Steine an der Grenze‘. In der Nähe dieser Skulpturen, die an der deutsch-französischen Grenze aufgestellt sind, befürchten einige die Abwertung des Gesamtkunstwerkes durch das Aufstellen von Windkraftanlagen. Dagegen wird mit den Risiken der Kernenergie argumentiert und die ästhetischen Bedenken durch den Hinweis, Cattenom wirke sich ohnehin auf das Erleben der Skulpturen aus, zu entkräften gesucht. Zudem sei es ein „‚logischer Bruch‘“ (S47, Zitat der saarländischen Umweltministerin), die Abschaltung des Kernkraftwerkes in Cattenom zu fordern und sich gleichzeitig gegen den Ausbau der Windenergie einzusetzen. Das Aufstellen von Windrädern wird als eine hinnehmbare Einschränkung im Angesicht der möglichen Konsequenzen eines atomaren Unfalls dargestellt: „Wanderer, Naturfreunde, Einheimische und Kurgäste werden sich von der kleinen Schürfwunde [Windkraftanlagen] auf dem Schimmelkopf nicht ernsthaft beeinträchtigen lassen, aber sorgenvoll auf das Karzinom in Cattenom blicken, das bösartig in unserem (Landschafts-)Körper schwärt und strahlt und sein Überleben gefährdet“ (S97). Die Opposition ‚erneuerbare Energien‘ und Kernkraft, konkret ‚Cattenom‘ ist hier besonders deutlich. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wird zudem als Zugewinn an Autarkie und Selbstständigkeit verankert: „‚mehr Windräder, mehr Fotovoltaik-Dachanlagen, mehr Biogasanlagen‘“ bedingten „,mehr dezentrale Stromversorgung durch Stadtwerke, lokale und regionale Unternehmen und Bürgergenossenschaften‘“ (S141, Zitat der Grün-Alternativen Liste Losheim). Diese Rahmung bietet einen starken Kontrast zu dem im Républicain Lorrain vorherrschenden Bild Cattenoms als gewichtigem, fast omnipräsentem Versorgungs- und Wirtschaftsfaktor in der Region. Wie in der Berichterstattung des Luxemburger Wort konstituiert sich in der Saarbrücker Zeitung ein Energy Borderland der Bedrohung durch Kernkraft. Erneuerbare Energien werden als Alternative kommuniziert, wobei gleichzeitig die mit diesen verbundenen Widerstände angeführt werden, denen allerdings im Verhältnis zu Auswirkungen von Kernkraftunfällen eigentlich die Legitimation fehle.

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4 Vergleich der medialen Berichterstattung, Fazit und Ausblick: Divergierende Energy Borderlands Was zeigt sich nun, wenn die Berichterstattung zum Kernkraftwerk Cattenom in den drei untersuchten Zeitungen resümierend gegenübergestellt wird? Mit Rückgriff auf Laclau (2007) lässt sich ,Cattenom‘ als ein flottierender Signifikant deuten, der verschiedene Meinungen und Forderungen evoziert. Wird also Cattenom in den Zeitungen thematisiert, so geschieht das mit teilweise sehr unterschiedlichen Botschaften und vermittelten Selbstverständnissen. Im Républicain Lorrain nimmt die Effizienz der Energieerzeugung durch Kernkraft eine dominante Stellung ein – ist also hegemonial verankert –, im Einklang mit den lokalen wirtschaftlichen Vorteilen (Arbeitsstellen, Kooperationen mit lokalen Unternehmen, Kaufkraft in der Region) durch das Kernkraftwerk. Die ‚Normalisierung‘ des Kernkraftwerks als gesellschaftliche Institution ist flächendeckend zu beobachten. Proteste werden als ein Phänomen der Nachbarregionen gesehen, für die nur teilweise Verständnis aufgebracht wird. Die luxemburgische Berichterstattung hingegen präsentiert die Forderungen luxemburgischer (und saarländischer) Sprecher*innen durch ihre direkte Betroffenheit durch einen atomaren Unfall als gerechtfertigt und von französischer Seite zu wenig angenommen. Mit Bezug auf Fukushima werden die Risiken der Kernenergie allgemein thematisiert und auf Cattenom übertragen. Selbst ein kleines Land, wird von Luxemburg aus die Verantwortung der Sicherheit von Territorium und Bevölkerung in größere Strukturen wie die Großregion SaarLorLux und die Europäische Union eingebettet. Auch im Saarland wird in Artikeln der Saarbrücker Zeitung das Kernkraftwerk als eine Bedrohung dargestellt, gegen die es sich einzusetzen gelte. Dabei wird die deutsche Energiewende als Vorbild präsentiert und die Möglichkeit angeführt, das erworbene Wissen in diesem Feld auch für die Großregion SaarLorLux nutzbar zu machen. Allgemein lässt sich eine ‚Diskurskoalition‘ zwischen dem Saarland und Luxemburg ableiten, die grundsätzlich von Sorgen und der Forderung nach Einfluss geprägt ist. Der ‚lothringische‘ Diskurs steht dem diametral entgegengesetzt gegenüber, bei dem das Kernkraftwerk Cattenom eine sichere Energieversorgung und regionalen Wohlstand symbolisiert. Das französische Kernkraftwerk Cattenom in Grenzlage zu Luxemburg und dem Saarland stellt damit ein markantes Beispiel für eine zunächst nationale Einrichtung der Energieversorgung dar, die aber grenzüberschreitende Wirkung entfaltet. Relevanz erlangen politische, gesellschaftliche, mentale Grenzziehungen – also variable und vielgestaltige Geographien von Grenz(ziehung)en. Die Analyse

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hat gezeigt, dass in der Großregion SaarLorLux trotz verstärkter Zusammenarbeit in unterschiedlichen Bereichen in der Frage der Kernenergie weiterhin eher nationalstaatlich gefärbte Diskurse mit (temporär) verankerten Ordnungen vorherrschen, die im Grenzraum aufeinandertreffen. Die Berichterstattung im Républicain Lorrain weicht entsprechend deutlich von der im Luxemburger Wort und der Saarbrücker Zeitung ab. Im lothringischen Narrativ als wirtschaftlicher Motor der Region und gesellschaftliche Institution lässt sich ein klares Alleinstellungsmerkmal finden. Doch auch innerhalb der luxemburgisch-deutschen ‚Koalition‘ lassen sich separate konstitutive Elemente ausmachen: in Luxemburg ergibt sich die ‚gerechte Forderung‘ nach Einfluss aus der Bedrohung des gesamten Staatsgebietes durch einen Unfall in Cattenom, im Saarland vielmehr aus den Erfahrungen aus der deutschen Energiewende, also einer Vorreiterrolle. Gewisse Überschneidungen finden sich wiederum übergreifend, wie zum Beispiel Bezüge zu erneuerbaren Energien, doch diese sind nicht zwingend mit den gleichen Schlussfolgerungen assoziiert. Es konstituieren sich in der medialen Berichterstattung diskursiv unterschiedliche Energy Borderlands, die sich teilweise überlagern, in Teilen aber auch ausschließen. Kernenergie wird zu einem grenzüberschreitenden Faktor, mit dem jeweils unterschiedlich umgegangen wird und der divergierende Bewertungen und antagonistische Grenzziehungen mit sich bringt. Es ist damit gleichzeitig ein permanentes Ringen um Hegemonie zu beobachten – im Zusammenspiel aus Kernkraft und anderen Formen der Energieerzeugung, aktuell insbesondere erneuerbare Energien. Eine vertiefende Auseinandersetzung, u. a. in Verbindung mit qualitativen Expert*innen-Interviews, erscheint hier gewinnbringend. Zudem bietet sich in einer umfassenderen Untersuchung die Betrachtung einer längeren Periode an, die vor dem Reaktorunfall in Fukushima (2011) beginnt und zudem rezente Diskussionen ab der zweiten Jahreshälfte 2019 einschließt, die im vorliegenden Artikel nicht mehr Berücksichtigung finden konnten. Mit den neuerlichen Bemühungen um Klimaschutz und CO2-Einsparungen ist in Frankreich der Bau von neuen Kernkraftwerken geplant (Wakim 2020) und auch in Deutschland wird wieder über Kernkraft als ‚klimaneutrale‘ Form der Energiegewinnung debattiert. ‚Klimaschutz‘ stellt zumindest derzeit (Jahr 2020) einen zentral verankerten diskursiven Knotenpunkt dar, der Verschiebungen bei sich anschließenden Momenten zur Folge hat(te) und zeigt, dass nie von einem unumstößlich verankerten Fundament auszugehen ist. Scheinbar stabile Ordnungen brechen damit immer wieder auf. Ein Fokus auf grenzregionale Peripherien und deren ‚Geographien der Grenzen‘ kann dies durch die Kontrastierung mitunter noch einmal spezifischer ausleuchten.

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Juli Biemann studierte Politikwissenschaft und französische Philologie an der ­Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2020 schloss sie ihr Masterstudium der Border Studies an den Universitäten Lothringen, Luxemburg, Kaiserslautern und des Saarlandes ab, wobei sie an letzterer Universität als wissenschaftliche Hilfskraft im UniGR-Center for Border Studies mitarbeitete. Mit der Spezialisierung auf raumrelevante Themen standen vor allem (kultur-)geographische und raumplanerische Fragestellungen im Vordergrund des interdisziplinären Studienprogrammes. Seit April 2020 arbeitet Juli Biemann bei dem ESF-geförderten Projekt,CoWorkNet‘, das eine Plattform für New Work und CoWorking in der Region Lüneburg aufbauen will. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Öffnung der modernen Arbeitswelt für den ländlichen Raum und den sozialen und strukturellen Chancen, die sich dadurch ergeben. Jun.-Prof. Dr. habil. Florian Weber  studierte Geographie, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promovierte er zu einem Vergleich ­ deutsch-französischer Stadtpolitiken. Von 2012 bis 2013 war Florian Weber als Projekt­ manager in der Regionalentwicklung in Würzburg beschäftigt. Anschließend arbeitete er an der TU Kaiserslautern in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Universität der Großregion, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und als Akademischer Rat an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er 2018 habilitierte. Seit dem Sommersemester 2019 forscht und lehrt er als Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Diskurs- und Landschaftsforschung, Border Studies, erneuerbaren Energien sowie Stadtpolitiken und Stadtentwicklungsprozessen im internationalen Vergleich.

Planungskulturelle Vielfalt in Grenzräumen – Theoretische und methodische Ansätze zur grenzüberschreitenden Raumplanung Beate Caesar und Estelle Evrard Zusammenfassung

Traditionell endet Raumplanung an nationalen Grenzen, da die Zuständigkeiten von Planer*innen an administrative Einheiten gebunden sind. In der Raumplanung als Disziplin geht es jedoch originär sehr stark um räumliche Kontinuität. Aktuell werden in einigen Grenzregionen wie z. B. dem deutsch-polnischen Grenzraum sowie in der Großregion SaarLorLux + grenzüberschreitende Raumplanungsstrategien entwickelt und somit Grenzen gewissermaßen überschritten. In der Forschung wird grenzüberschreitende Raumplanung zwar thematisiert, jedoch liegt der Fokus meist auf dem Vergleich der verschiedenen, an der Grenze aufeinandertreffenden formellen Planungssysteme. Theoretische und empirische Ansätze, die mehr als die formellen Eigenschaften betrachten und somit Herausforderungen, die in der grenzüberschreitenden Raumplanung auftreten, umfassend erklären könnten, fehlen weitestgehend. Der Beitrag betrachtet grenzüberschreitende Raumplanung aus organisationstheoretischer und planungskulturtheoretischer Sicht, stellt Hypothesen zu planungskulturellen Unterschieden und organisationstheoretischen Prozessen beim grenzüberschreitenden Planen an und präsentiert einen methodischen Ansatz – ein selbstentwickeltes Planspiel –, um diese zu

B. Caesar (*)  Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Evrard  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_5

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überprüfen. Damit liefert er theoretische und methodische Perspektiven zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung. Zusammenfassend legt der Beitrag nahe, dass Planungskulturen bei grenzüberschreitender Planung eine entscheidende Rolle spielen und die grenzüberschreitende Raumplanung eine Form des ‚Grenzgeographiemachens‘ ist, die unterschiedliche Planungskulturen koordiniert und somit die Geographien von Grenzen prägt.

1 Einleitung: Grenzüberschreitende Raumplanung Raumplanung bezeichnet „die Gesamtheit der Maßnahmen […], um Leitbilder eines anzustrebenden, idealen Zustandes des Raumes zu entwickeln und die Voraussetzungen für ihre Verwirklichung zu schaffen“ (Turowski 2005, S. 894). Raumplaner*innen beschäftigen sich im Auftrag der öffentlichen Hand mit sozialen Beziehungen im Raum und regulieren diese nach den jeweiligen nationalen Vorgaben. Traditionell endet Raumplanung an nationalen Grenzen, da die Zuständigkeiten von Planer*innen an administrative Einheiten gebunden sind. ‚Planungssysteme‘ beschreiben den formellen Aufbau der Raumplanung eines Landes anhand zugehöriger Ebenen, Institutionen und Instrumenten. Aufgrund der stark trennenden Wirkung nationaler Grenzen kommt es bei planerischen Entscheidungen in Grenzräumen häufig vor, dass nicht hinreichend darauf geachtet wird, welche Auswirkungen diese auf das Nachbarland/Nachbarländer haben. In der Raumplanung als Disziplin geht es jedoch originär sehr stark um räumliche Kontinuität (Kolosy 2017, S. 7). Die grenzüberschreitenden Verflechtungen in der Europäischen Union (EU) sind so vielfältig, dass der grenzüberschreitenden Raumplanung eine hohe Dringlichkeit zukommt. Die Großregion Saar-Lor-Lux + 1(dazu auch Wille 2020 in diesem Band) ist mit der höchsten Anzahl grenzüberschreitender Arbeitspendler*innen innerhalb der Europäischen Union (ca. 240.000 pro Tag in fünf Regionen – Lothringen, Luxemburg, R ­ heinland-Pfalz, Saarland, Wallonien) ein

1Die ‚Großregion‘ setzt sich als politisch-räumliches Konstrukt aus den Teilregionen Saarland und R ­ heinland-Pfalz, Lothringen, bzw. seit der französischen Gebietsreform formell der neuen Region Grand-Est, dem Großherzogtum Luxemburg sowie der Wallonie, der Fédération Wallonie-Bruxelles und der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien zusammen.

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prominentes Beispiel einer solchen Situation. Zusätzlich werden die nationalen Grenzen dieser Region täglich aus Gründen wie Bildung, Freizeit und Wohnen überschritten (zu temporären Hürden im Zuge der COVID-19-Pandemie siehe Weber und Wille 2020 in diesem Band). Daher bestehen in diesem Raum multiple funktionale Abhängigkeiten. Diese Situation stellt eine Herausforderung für Entscheidungsträger*innen dar, da sie mit asymmetrischen Verantwortlichkeiten und hochkomplexen Themen konfrontiert sind (Evrard 2017, S. 219 ff.). Grenzüberschreitende Raumplanung beschäftigt sich also mit einem neuen Raumgefüge, welches parallel zu nationalen administrativen Räumen existiert und Teilgebiete von mindestens zwei Ländern umfasst (Jacobs 2016, S. 70). Was sind die Beweggründe für grenzüberschreitende Raumplanung? Mit ihr werden gesellschaftliche transnationale Anliegen adressiert. Daher besitzt sie vielseitige Potenziale im Sinne einer effizienteren Raumentwicklung. Mit grenzüberschreitendender Raumplanung können einerseits raumplanerische Konzepte benachbarter Länder abgestimmt werden, um gegenläufige Entwicklungen zu vermeiden (Scott 2005, S. 409). Andererseits können Phänomene, welche mehr als nur das nationale Territorium betreffen, effektiver angegangen werden, wie etwa eine starke Luftverschmutzung im Grenzraum. Insbesondere Gebiete mit starken funktionalen grenzüberschreitenden Verflechtungen, grenzüberschreitenden Siedlungsflächen (z. B. Zwillingsstädte), einer natürlichen Grenze (z. B. ein Fluss), konfliktreichen Nutzungen im Grenzraum (z. B. ein Industriegebiet) oder mit gemeinsamen grenzüberschreitenden Flächennutzungen (z. B. Naturparke) zeigen Bestrebungen, ihre Raumentwicklung abzustimmen. Aktuell werden zum Beispiel im deutsch-polnischen Grenzraum sowie in der Großregion SaarLorLux  +  grenzüberschreitende Raumplanungsstrategien entwickelt.2 Die Umsetzung grenzüberschreitender Raumplanung kann verschiedene Entwicklungsstadien durchlaufen. Auf diesem Weg stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. Während sich eine Kooperation zunächst auf einen Austausch über die verschiedenen Planungssysteme im Hinblick auf Planungsebenen, Instrumente und Institutionen z. B. im Rahmen eines klar strukturierten Interreg-Projektes mit formalisierten Abläufen und Steuerungsmechanis­ men fokussieren kann, könnte langfristig angestrebt werden, eine zusätzliche Ebene zu bilden, welche die nationalen Planungssysteme ergänzt und komplexe

2Mehr

Informationen zum aktuellen Stand der Konzepte unter folgenden Links: https:// amenagement-territoire.public.lu/fr/grande-region-affaires-transfrontalieres/SDT-GR.html und https://www.kooperation-ohne-grenzen.de/de/service/aktuelles/.

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Interaktionsprozesse zwischen den verschiedenen Planungen der Grenzregionen koordiniert (siehe Bechtold et al. im Erscheinen). Obwohl sie für eine harmonische flächendeckende räumliche Entwicklung von Grenzregionen mit starken und wachsenden funktionalen Verflechtungen unerlässlich ist, wird die grenzüberschreitende Raumplanung in der Praxis durch mehrere Herausforderungen erschwert. Auf europäischer Ebene gibt es zwar unverbindliche inhaltliche Orientierungsdokumente (z. B. das Europäische Raumentwicklungskonzept, oder die Territoriale Agenda 2020), finanzielle (z. B. Interreg) sowie Beobachtungsinstrumente (z. B. ESPON), aber keine allgemein gültigen übergeordneten Regelungen und Prozessvorgaben für die Raumentwicklung. In Grenzregionen gelten also unterschiedliche nationale Vorgaben, die in der grenzüberschreitenden Raumplanung alle Beachtung finden müssen. Außerdem müssen Ziele verschiedener Fachpolitiken sowie Forderungen aus vielfältigen gesellschaftlichen und planerischen Perspektiven abgewogen werden (Jacobs 2016, S. 70 ff.; Kolosy 2017, S. 19). Aufgrund fehlender rechtlicher Verankerung können grenzüberschreitende Pläne keine rechtlich bindenden Weisungen enthalten. Sie besitzen einen rein strategischen Charakter. Deswegen wird der direkte Nutzen von informellen Planungsdokumenten ohne Umsetzungssicherheiten und der Beteiligungsaufwand in grenzüberschreitenden Raumplanungsgremien von Raumplaner*innen häufig infrage gestellt. Die Kompetenzen letzterer sind auf die formell-administrativen nationalen Grenzen beschränkt (Caesar und Pallagst 2018, S. 24).3 Im grenzüberschreitenden Kontext agieren sie als Vermittler zwischen einer hohen Anzahl verschiedener Interessengruppen und Akteuren verschiedener Verwaltungsebenen und Ländern mit ungleichen Verantwortlichkeiten (Jacobs 2016, S. 70 ff.; Kolosy 2017, S. 19). Aufgrund der oben genannten Besonderheiten sind grenzüberschreitende Raumplanungsprozesse sehr zeit- und ressourcenintensiv (Nienaber 2018, S. 175). Formelle planungssystematische Unterschiede dominieren die Beschreibung der Herausforderungen grenzüberschreitender Raumplanung in der wissenschaftlichen Literatur. Diese sind für Außenstehende am leichtesten greifbar. Wenig konkret wird bisher über die gesellschaftlichen und planerisch-inhaltlichen Besonderheiten der Länder gesprochen. Die Autorinnen des Beitrags vertreten die Auffassung, dass letztere jedoch sehr einflussreich sind und einer stärkeren

3Neue

rechtliche Instrumente der Europäischen Union, wie Europäische Verbünde der Territorialen Zusammenarbeit (EVTZ) oder der Europäische Mechanismus zur Überwindung rechtlicher Hindernisse in den Grenzregionen (ECBM) könnten in der Zukunft dazu beitragen, eine effektivere Koordination über Grenzen zu ermöglichen.

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Aufmerksamkeit bedürfen. Der Forschungsansatz dieses Beitrages basiert auf der Annahme, dass Raumplanung als sozialer Prozess auf komplexen Interaktionen beruht. Letztere sind stark durch den Kontext geprägt, in welchem sie sich entwickeln. Daher scheint es erfolgsversprechend zu sein, sich zunächst mit den umfassenden Eigenheiten und Kontexten, in welchen die nationalen Raumplanungen verankert sind, zu befassen und diese zu vergleichen. Als Analysegegenstand eignet sich das Konzept der Planungskultur, da es neben den formellen Planungssystem-Artefakten sowohl den gesellschaftlichen und als auch den planerisch-inhaltlichen Kontext von nationaler Raumplanung umfasst. Im Anschluss, können dann die Interaktionsprozesse, welche durch das Aufeinandertreffen verschiedener Raumplanungen und deren Planungskulturen im Grenzraum ausgelöst werden, mit dem Ziel, Erklärungsansätze für Herausforderungen und Besonderheiten der grenzüberschreitenden Raumplanung abzuleiten, beleuchtet werden. Der Beitrag legt nahe, dass die grenzüberschreitende Raumplanung eine Form des ‚Grenzgeographiemachens‘ ist, da sie das Ziel verfolgt, die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Planungskulturen an den nationalen Grenzen zu koordinieren und somit die Geographien von Grenzen prägt. Im folgenden Kapitel wird grenzüberschreitende Raumplanung aus organisationstheoretischer Sicht theoretisiert und das Konzept der Planungskultur als Analysegegenstand für nationale Raumplanungen vorgestellt. Diese theoretischen Überlegungen basieren auf einer Analyse ausgewählter Literaturbausteine. Das sich anschließende Kapitel präsentiert Überlegungen zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung aus planungskultureller und organisationstheoretischer Perspektive. Als Methode zur empirischen Erhebung der planungskulturellen Unterschiede und deren Effekten auf grenzüberschreitendes Planen präsentiert der Beitrag abschließend die Methode eines von der UniGR-Center for Border Studies-Arbeitsgruppe ‚Raumplanung‘4 entworfenen Planspiels. Letzteres generiert verschiedene Arten von Interaktionsgelegenheiten in einer alltagsnahen Planungssituation. Währenddessen können die Diskussionen, Vorgehensweisen und Interaktionen von den teilnehmenden Planungspraktiker*innen bzw. Studierenden beobachtet werden. Zusammen-

4Die

Arbeitsgruppe wurde im Jahr 2014 gegründet und besteht aus Wissenschaftler*innen der Universität der Großregion (UniGR) aus dem Saarland, Lüttich, Luxemburg, Lothringen und Kaiserslautern. Ziel ist es, auf experimentelle Weise die Bedeutung von grenzüberschreitender Raumplanung in der Planungspraxis zu analysieren. Die Arbeitsgruppe steht im Austausch mit Planungspraktiker*innen aus der Großregion Saar-LorLux + , um zukünftige Felder grenzüberschreitenden Handelns und Herausforderungen zu identifizieren.

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fassend legt der Beitrag nahe, dass Planungskulturen und Interaktionen bei grenzüberschreitender Planung eine entscheidende Rolle spielen und die grenzüberschreitende Raumplanung eine Form des ‚Grenzgeographiemachens‘ ist, da sie beide Aspekte koordiniert und somit die Geographien von Grenzen prägt.

2 Theoretische Ansätze zu grenzüberschreitender Raumplanung und Planungskulturen Dieses Kapitel widmet sich der theoretischen Präzisierung von grenzüberschreitender Raumplanung und Planungskulturen. Dabei liegt der Fokus auf zwei ausgewählten Literaturbausteinen mit hoher Relevanz. Zunächst wird die rezente Konzeptualisierung von grenzüberschreitender Raumplanung durch Jacobs (2016) präsentiert. Er dekodiert Raumplanung aus organisationstheoretischer Sicht, um ihre traditionell an die nationalen Strukturgrenzen gebundene soziale Logik herauszustellen. Basierend auf diesen Annahmen, leitet er eine der wenigen bisher existierenden theoretischen Konzeptualisierungen grenzüberschreitender Raumplanung ab. Seinem Beitrag wird eine hohe Bedeutung für das Verständnis und für die Entwicklung methodischer Ansätze zur empirischen Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung beigemessen. Im darauffolgenden Abschnitt wird Raumplanung aus einer kulturellen Sicht theoretisiert: Zum komplexen Konzept der Planungskulturen gibt es, anders als zu grenzüberschreitender Raumplanung, eine Vielzahl von Theorien. Die Überlegungen von Knieling und Othengrafen (2015) sind für die Autorinnen besonders wertvoll, da sie Planungskulturen nach kulturtheoretischem Vorbild systematisch in drei Untersuchungsbereiche mit expliziten und impliziten Eigenschaften ,zerlegen‘. Dabei wird auch die Kontextgebundenheit von Planung aus kultureller Sicht betont. Es wird deutlich, dass Planungskultur einen interessanten Untersuchungsgegenstand für die Analyse nationaler Planungsunterschiede darstellt, die die grenzüberschreitende Raumplanung beeinflussen. Auf Basis dieser Konzeptualisierungen werden im Anschluss Überlegungen zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung aus planungskultureller und organisationstheoretischer Perspektive angestellt.

2.1 Grenzüberschreitende Raumplanung aus organisationstheoretischer Sicht Fricke (2014, S. 64) bezeichnet grenzüberschreitende Raumplanung als eine besondere Form des strategischen Gebietsmanagements, welche auf Konsens

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basiert und durch mehrstufige grenzüberschreitende politische Verhandlungen erreicht wird. Mit seinem theoretischen Ansatz liefert Jacobs (2016) Erklärungen für die in der Einleitung beschriebenen Herausforderungen, mit denen grenzüberschreitende Raumplanung zu ,kämpfen‘ hat. Dabei zeigt er, dass beim Überschreiten von administrativen Grenzen in der Raumplanung zunächst traditionell gewachsene vertraute Strukturen und Kontexte fehlen, die erst mühevoll durch das von Fricke erwähnte strategische Gebietsmanagement aufgebaut werden müssen. Aus organisationstheoretischer Sicht kann Raumplanung als sozialer Prozess angesehen werden. Sie besteht, nach Jacobs (2016), aus komplexen kommunikativen Interaktionsprozessen, die sich gegenseitig irritieren und ergänzen. Diese Interaktionen sind notwendig, um Planungsergebnisse zu produzieren. Basierend auf den Interaktionserfahrungen entwickeln sich Strukturen, welche dann als Referenz- und Orientierungspunkte, z. B. in Form von Planungsperspektiven, Verfahrensmustern, Entscheidungsoptionen, Organisationslogiken, Instrumenten und Verantwortlichkeiten für zukünftige Planungen gelten (Jacobs 2016, S. 69 ff.). Diese grenzen sich von anderen Strukturen ab. Innerhalb dieser Strukturen – meist decken diese sich mit bestehenden räumlichen Verwaltungsgrenzen (Jacobs 2016, S. 81) – reproduziert sich die Raumplanung immer wieder selbst und verfestigt ihre Traditionen. Als sozialer Prozess wird Raumplanung von zahlreichen – nicht immer offensichtlichen – gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und rechtlichen Kontexten, in denen sie sich entwickelt, beeinflusst. An diese passt sie sich laut Booth (1986, S. 1) wie ein ‚Chamäleon‘ an (Knieling und Othengrafen 2015, S. 2144). Werden diese Annahmen zur nationalen Raumplanung nun auf die grenzüberschreitende Raumplanung übertragen, gelten besondere Voraussetzungen: Planungssysteme mindestens zweier Länder, die unabhängig voneinander bestehen und sich in ihren Regelungen unterscheiden, begegnen sich in neuen territorialen Untergliederungen. Erfahrungen und Traditionen sich selbstverstärkender Interaktionsprozesse – wie sie im nationalen Kontext existieren – fehlen bei erstmaliger Begegnung. Die Vorgehensweise, um gemeinsame Interaktionsmuster zu definieren, ist zunächst noch offen. Eine rasche Harmonisierung der verschiedenen formellen Systeme ist daher unwahrscheinlich. Die Erarbeitung und Umsetzung grenzüberschreitender Leitlinien und Projekte ist zwar möglich, aber zeit- und arbeitsintensiv (Jacobs 2016, 85). Neben den formellen Unterschieden treffen unterschiedliche planerische Perspektiven, Verfahrensmuster, Entscheidungsoptionen, Organisationslogiken und Verantwortlichkeiten aufeinander, sodass es insbesondere zu Beginn schwierig ist, gemeinsame planerische Referenz- und Orientierungspunkte zu definieren. Sozialer prozessualer Austausch und kommunikative Prozesse finden in der

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grenzüberschreitenden Raumplanung in geringerem Maße statt. Beim Austausch treffen mehrere nationale gesellschaftliche, politische und rechtliche Kontexte aufeinander, die häufig nicht explizit kommuniziert werden und implizite Elemente enthalten. Insgesamt ist es schwieriger, die grenzüberschreitende Raumplanung zu festigen (Jacobs 2016, S. 72 ff.). Diese Charakteristika zeigen, dass sich die grenzübergreifende Raumplanung in ihrer Funktionsweise anders darstellt als es in tradierten nationalen Kontexten der Fall ist. Um sich effektiv zu entwickeln, muss sie sich der Herausforderung stellen, verschiedene nationale Regelungen zu antizipieren und unterschiedliche nationale Kontexte und Strukturen zu integrieren. Dieser Aufwand erscheint dennoch lohnenswert, da ihr das Potenzial zugeschrieben wird, durch eine Ergänzung der bestehenden nationalen Systeme eine koordinierte und effektivere (grenzüberschreitende) Raumentwicklung zu fördern.

2.2 Raumplanung aus planungskultureller Sicht Vor ca. 50 Jahren fingen Wissenschaftler*innen an, sich mit dem Einfluss von Kultur in der Raumplanung zu beschäftigen. Dabei wurde der Begriff der Planungskultur geprägt. Da der Kulturbegriff selbst schon schwer zu fassen ist, verhält es sich mit dem Konzept der Planungskultur ähnlich. Jedoch verdeutlicht es, was lange Zeit in den vergleichenden Raumwissenschaften nicht beachtet wurde: Raumplanerisches Handeln wird von einer Vielzahl explizierter und impliziter, teils unterbewusster, kontextbasierter kultureller Prozesse beeinflusst. Daher unterscheiden sich Planungspraktiken weltweit, aber auch solche benachbarter Raumplanungsstrukturen, voneinander. 1967 definierte Friedmann Planungskultur als „[t]he ways, both formal and informal, that spatial planning in a given multi-national region, country or city is conceived, institutionalized, and enacted“ (Friedmann 2005, S. 184). In den 1980er Jahren erschienen erste Studien, die die Wertvorstellungen von Planer*innen aus verschiedenen nationalen Kontexten systematisch verglichen (Reimer 2017, S. 24). Im Jahr 2005 setzte Sanyal den Begriff der Planungskultur mit planerischem Ethos gleich, der sich weltweit unterscheidet. Forscher*innen ergänzten nun auch immer häufiger die traditionellen Planungssystemvergleiche, welche sich weitestgehend auf formelle Eigenschaften beschränkten, um Beschreibungen impliziterer planungskultureller Kontexte (Reimer 2017, S. 22). In ihrer Definition von Planungskulturen messen Knieling und Othengrafen (2009, S. 43) insbesondere gesellschaftlichen Einstellungen, Werten und Überzeugungen,

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Erwartungshaltungen und Regeln eine entscheidende Rolle in der Beeinflussung von Planer*innen, weiteren Akteuren und der Planungspraxis bei. In den letzten 15 Jahren wurde dem Konzept der Planungskultur in der vergleichenden Forschung, vor dem Hintergrund eines größeren Interesses an einem internationalen Austausch in der Raumplanung, eine immer stärkere Aufmerksamkeit entgegengebracht (Reimer 2017, S. 21). Dennoch bleibt Planungskultur schwer zu fassen. Meist wird sie räumlich abgegrenzt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Planungspraxis in räumlichen Einheiten aufgrund spezieller vor Ort bestehender planungskultureller Kontexte unterscheidet. Es wird von nationalen, aber auch regionalen und lokalen Planungskulturen gesprochen (vgl. Levin-Keitel und Sondermann 2014). Pallagst et al. (2019, S. 14) sprechen zusätzlich von sog. ‚topical planning cultures‘, die sich aufgrund ähnlicher Herausforderungen und Planungsaufgaben entwickeln und thematisch definieren, sich aber nicht räumlich abgrenzen. Knieling und Othengrafen (2015) haben, inspiriert durch Scheins (2004) ‚Analyseebenen der Kultur‘, das ‚culturalized planning model‘ entwickelt, mit dem sie das komplexe Konzept der Kultur in den Kontext der Raumplanung übertragen und systematisch zerlegen. Damit wird deutlich, wie vielseitig das Konzept der Planungskultur ist, sowie welche Aspekte bei einer umfassenden empirischen Analyse von Planungskulturen und deren Vergleich betrachtet werden sollten. Das Modell unterscheidet drei Untersuchungsbereiche: die Artefakte (a), den Planungskontext (b) und den gesellschaftlichen Kontext (c). Die Untersuchungsbereiche unterscheiden sich in ihrer Explizitheit bzw. der Sichtbarkeit für die Betrachter*innen. • Zur Gruppe der Artefakte (a) gehören räumliche Strukturen, Landnutzungen, die Architektur und Baustruktur sowie Planungsdokumente. Weiter gehören die grundlegenden Eigenschaften des Planungssystems, die Planungsgesetzgebung, sowie das politische System zu den Planungskultur-Artefakten. Die Artefakte sind für Außenstehende unmittelbar erkennbar (Knieling und Othengrafen 2015, S. 2137 f.). • Der Planungskontext (b) umfasst für Außenstehende weniger gut sichtbare Elemente der Planung, die jedoch von den inhärenten Akteuren erlernt, meist bewusst wahrgenommen und beim Planungshandeln teils explizit artikuliert werden. Diese Elemente können als moralische und normative Grundlage für planerische Handlungen und die Ausbildung neuer Planer*innen gesehen werden. Konkret zählen dazu zum einen die grundlegenden Aufgaben und Ziele der Raumplanung, zum anderen die Werte- und Überzeugungshaltungen der Planer*innen im Hinblick auf ihre Profession; die Interpretation von

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Vorgaben; Erfahrungen; Kompetenzen; Wissen und Planungstraditionen. Außerdem spielen die Governance-Strukturen, die bei Planungsentscheidungen und -prozessen angewandt werden, eine wichtige Rolle (Knieling und Othengrafen 2015, S. 2137 f.). Laut Schein (2004, 29) beeinflussen die kulturell geprägten Elemente dieser Ebene die Entwicklung der Artefakte stark. • Der gesellschaftliche Kontext (c) ist implizit in die Planungspraxis verwoben und ist daher weder für Außenstehende noch für Akteure der Planung leicht greifbar. Aus ihm resultieren tief-verwurzelte Planungsroutinen, die in unbewusste und für selbstverständlich gehaltene Planungshandlungen münden. Zum gesellschaftlichen Kontext zählen unter anderem Aspekte grundlegender Weltanschauungen, wie die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, staatliche Interpretationsweisen von Gerechtigkeit, sozioökonomische Modelle und die Bedeutung des Umweltschutzes. Wichtig sind auch emotionale Orientierungen, und ob eine Gesellschaft grundsätzliche Wertehaltungen teilt oder ob individualistisches Denken überwiegt (Knieling und Othengrafen 2015, S. 2136 ff.). De Vries (2015, S. 2160) ergänzt zudem die Relevanz der allgemeinen Erwartungshaltungen an Regierungen und Institutionen als Unterscheidungskriterium in der Planungskulturforschung. Die systematische ,Zerlegung‘ in drei Untersuchungsbereiche zeigt, dass Planungskultur implizite Aspekte beinhaltet, welche die Praxis und grenzüberschreitende Planung maßgeblich beeinflussen können. Diese können schlecht von Außenstehenden antizipiert werden und erschweren daher potenziell die grenzüberschreitende Raumplanung. Auf der Suche nach konkreten Herausforderungen der grenzüberschreitenden Raumplanung sollte daher insbesondere der Planungsund gesellschaftliche Kontext benachbarter Länder untersucht und verglichen werden.

3 Überlegungen und Methoden zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung aus planungskultureller und organisationstheoretischer Perspektive Die theoretischen Ansätze aus dem vorherigen Kapitel zeigen, dass Raumplanung als ein sozialer Prozess mit multiplen Interaktionen verstanden werden kann, und stark durch den Kontext geprägt ist, in dem sie sich entwickelt. Auch

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Planungskulturen sind kontextgebunden. Abgrenzungen beider Konzepte erfolgen meist entlang administrativer Grenzen. Grenzüberschreitende Raumplanung muss daher nationale Grenzen überwinden, um die nationalen Planungen im Sinne einer effizienteren Raumentwicklung zu ergänzen. Aufgrund der starken Pfadabhängigkeit nationaler Planungen wird davon ausgegangen, dass sich die Planungskulturen national unterscheiden. Diese treffen dann im Zuge der grenzüberschreitenden Raumplanung aufeinander. In diesem Kapitel werden zunächst Überlegungen zur Untersuchung grenzüberschreitender Raumplanung als einer Form des ‚Grenzgeographiemachens‘ aus planungskultureller und organisationstheoretischer Perspektive vorgestellt. Im Anschluss wird eine Methode zur empirischen Erhebung der planungskulturellen Unterschiede und deren Effekten auf grenzüberschreitendes Planen vorgestellt, die dazu dient, die Hypothesen zu überprüfen.

3.1 Hypothesen zur grenzüberschreitenden Raumplanung Durch die Kombination der Konzeptualisierungen von Raumplanung aus organisationstheoretischer (Jacobs 2016) und planungskultureller Sicht (Knieling und Othengrafen 2015) werden im Folgenden Empfehlungen für die Annäherung an planungskulturelle Unterschiede und grenzüberschreitende Raumplanung ausgesprochen und Hypothesen zu Planungskulturen – die in der grenzüberschreitenden Raumplanung aufeinandertreffen – und deren Einfluss auf das Raumplanungshandeln bei grenzüberschreitenden Interaktionsprozessen aufgestellt. Dieses Kapitel ist der Übersichtlichkeit halber nach den drei Untersuchungsbereichen der Planungskultur von Knieling und Othengrafen (2015) strukturiert. Untersuchungsbereich 1: Die Planungsartefakte Im grenzüberschreitenden Planungsraum treffen formelle Planungsartefakte bzw. Strukturen aus mehreren Ländern aufeinander, die sich unterscheiden und voneinander abgrenzen. Die Sichtbarkeit der nationalen Artefakte ist aus analytischer Sicht von Vorteil, da die länderspezifischen Unterschiede leicht zu bestimmen sind. So können sie bei grenzüberschreitenden Raumplanungsbestrebungen berücksichtigt werden. Rechtliche Vorgaben, Traditionen und Vorgehensweisen der Systeme sollten verglichen werden, sodass auf dieser Basis Strategien entwickelt werden können, um mit den Unterschieden in der Kooperation besser umzugehen. Folgende Hypothesen sollen überprüft werden:

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• Die formellen Planungsartefakte unterscheiden sich inhaltlich und in ihrer Bedeutung und spiegeln nationale Traditionen und Gesetze wider. • Kooperationserfahrungen und Traditionen sind von hoher Bedeutung bei der Entwicklung gemeinsamer grenzüberschreitender Artefakte. • Grenzüberschreitende Raumplanung grenzt sich nicht klar von den nationalen Planungssystemen ab, da sie von den formellen nationalen Strukturen abhängig ist. Untersuchungsbereich 2: Der Planungskontext Im grenzüberschreitenden Kontext treffen sich Planungskontexte mehrerer Länder, die historisch gewachsen sind. Aus einer analytischen Perspektive ist der Planungskontext verschiedener Länder schwerer für Außenstehende zu untersuchen und zu vergleichen als Planungsartefakte, da er weniger greifbar ist. Daher müssen seine Eigenschaften im Austausch mit Planungspraktiker*innen aus den jeweiligen Ländern erarbeitet werden. Durch den Vergleich der jeweiligen Planungskontexte können die beteiligten Planer*innen für die nationalen Unterschiede sensibilisiert werden, ihre interkulturellen Kompetenzen ausbauen und motiviert werden, in grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen zunächst gemeinsame Referenz- und Orientierungspunkte zu definieren, bevor konkrete Konzepte erarbeitet werden. Durch eine gemeinsame Orientierungsbasis erhöht sich die Umsetzungswahrscheinlichkeit des grenzüberschreitenden Konzeptes. Folgende Hypothesen sollten überprüft werden: • Die Ausbildung prägt die planerische Erarbeitungsweise von Artefakten maßgeblich. • Die planerischen Vorgehensweisen unterscheiden sich. • Die Erarbeitung von gemeinsamen Artefakten durch Planer*innen mit unterschiedlicher Ausbildung führt zu einem erhöhten Kommunikationsbedarf. • Planungsprinzipien, Paradigmen und Aufgabenverständnisse sind bedeutsame Orientierungspunkte in den nationalen Raumplanungen und unterscheiden sich. Planer*innen verweisen in der grenzüberschreitenden Raumplanung auf diese, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Diese Argumentationskette kann jedoch von Planer*innen anderer Länder aufgrund unterschiedlicher Verständnisse nur schwer nachvollzogen werden. • Stetige kommunikative Interaktionen zwischen Planer*innen über Planungsprinzipien, Paradigmen und Aufgabenverständnisse erleichtern die Erarbeitung eines gemeinsamen Planungskontextes. • Der gemeinsam erarbeitete Planungskontext trägt zur Verfestigung und Reproduktion der grenzüberschreitenden Raumplanung bei und vereinfacht die Erarbeitung und praktische Umsetzung von grenzüberschreitenden Artefakten.

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Untersuchungsbereich 3: Der gesellschaftliche Kontext Im Grenzraum treffen mehrere gesellschaftliche Kontexte mit nationalspezifischen wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, kulturellen und rechtlichen Merkmalen aufeinander, die die Grundlagen für die Ausgestaltung der nationalen Planungen bilden und eine hohe Pfadabhängigkeit aufweisen. Die impliziten gesellschaftlichen Kontexte sind weder für die Forschung noch für Planungspraktiker*innen leicht zu (er)fassen. Dennoch sollte unter Einbeziehung von Planungspraktiker*innen und im direkten länderspezifischen Vergleich versucht werden, grundlegende Unterschiede ,aufzuspüren‘, um in der grenzüberschreitenden Raumplanung darauf reagieren zu können und unmissverständliche Planungsziele zu definieren, die die Umsetzungswahrscheinlichkeit und Akzeptanz in der Bevölkerung erhöht. Folgende Hypothesen wurden exemplarisch formuliert, da sie potenziell eine hohe Relevanz für die Raumplanung haben: • Die Planungsroutinen unterscheiden sich und Planer*innen verspüren trotz gleicher Ausgangslage im Grenzraum nicht gleichzeitig die Notwendigkeit einzuschreiten, werden also aufgrund anderer Umstände aktiviert. • Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben unterschiedliche Stellenwerte in der Planung und führen zu unterschiedlichen Auffassungen und Handlungen trotz der gleichen Ausgangslage. • Die unterschiedlichen Interpretationsweisen von Gerechtigkeit haben Auswirkungen auf die nationalen Planungsparadigmen und Handlungen der Planer*innen im grenzüberschreitenden Kontext. • Die gesellschaftliche Relevanz der Umwelt spiegelt sich in den Planungsprinzipien und Abwägungsprozessen öffentlicher Belange wider. Der Umweltschutz wird in der grenzüberschreitenden Planung unterschiedlich stark eingefordert. Die empirische Analyse von Planungskulturen ist schwierig und ambitioniert (Reimer 2017, S. 21). Empirische Herangehensweisen und Werkzeuge, um Planungskulturen und grenzüberschreitende Raumplanung zu analysieren, fehlen bisher weitestgehend (Reimer 2017, S. 21). Artefakte sind aufgrund ihrer Sichtbarkeit leicht vergleichbar, jedoch wird deren Bedeutung für die Planungspraxis durch die Planungs- und gesellschaftlichen Kontexte stark beeinflusst. Die insbesondere für Außenstehende impliziten Unterschiede im Planungs- und gesellschaftlichen Kontext sollten im Austausch mit Planungspraktiker*innen erarbeitet werden. Diese Vorgehensweise wird auch von Knieling und Othengrafen (2015, S. 2135) empfohlen. Daher wurde von der Arbeitsgruppe ‚Raumplanung‘ des UniGR-Center for Border Studies, zu welcher die Autorinnen

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dieses Beitrags gehören, ein Planspiel erarbeitet. Dieses wird im nächsten Abschnitt zusammen vor dem Hintergrund der Ziele und Forschungsinteressen der Arbeitsgruppe erläutert.

3.2 Planspiele als Methode zur Erforschung von Planungskulturen und Herausforderungen grenzüberschreitender Raumplanung Die Arbeitsgruppe ‚Raumplanung‘ des UniGR-Center for Border Studies forscht seit 2016 zu Planungskulturen und grenzüberschreitender Raumplanung in der Großregion Saar-Lor-Lux  +  . Zusammenfassend liegen die Forschungsziele und -interessen der Arbeitsgruppe vor allem darin: 1. Raumplanung in benachbarten Ländern zunächst isoliert – und dabei insbesondere die impliziten planungskulturellen Bestandteile neben den formellen Planungsartefakten zu erfassen –, um die tieferen Hintergründe der Praktiken zu verstehen und länderspezifische Charakteristiken der Planungskulturen abzuleiten, 2. die ermittelten Planungskulturen und Raumplanungspraktiken benachbarter Länder miteinander zu vergleichen und 3. im Anschluss die Auswirkungen der erfassten planungskulturellen Unterschiede auf die grenzüberschreitende Raumplanung und deren Interaktionsprozesse zu betrachten. Zur Erfüllung der Forschungsziele und Überprüfung der im vorherigen Kapitel aufgestellten Hypothesen hat die Arbeitsgruppe ein Planspiel entwickelt. Im Folgenden werden die Gründe für diese Methodenwahl genannt und das Spielkonzept beschrieben. Planspiele sind eine etablierte Methode, um zu untersuchen, wie sich Akteure in einer vorgegebenen Ausgangslage verhalten und interagieren. Planspiele starten mit „eine[r] relativ offene[n] […] Problemsituation, die pädagogisch-didaktisch vereinfacht ist und nach einer irgendwie gearteten Lösung verlangt“ (Klippert 2002, S. 20). Sie simulieren demnach eine reale, aber abstrahierte Situation, in welcher die Teilnehmer*innen des Spiels in die Rolle von realen Akteuren schlüpfen und aufgefordert werden, zu interagieren. Parallelen zur Realität können existieren (Schmitt und Poppitz 2006, S. 20). Im Zentrum stehen die Interaktion von sozialen Gruppen und ihre Lösungsfindungswege. Ziel ist es, Strategien, Taktiken und Verhandlungen der Akteure zu beobachten, Aktionsmöglichkeiten zu testen und ‚gegnerische‘ Strategien und

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Interessen zu reflektieren. Des Weiteren werden Planspiele eingesetzt, um gegenseitiges Lernen zu fördern (Schwägele 2015, S. 50 ff.). Das Planspiel der Arbeitsgruppe handelt in einem vereinfachten grenzüberschreitenden Kontext der Großregion Saar-Lor-Lux + mit deutlichen Parallelen zur realen Situation z. B. mit einer ähnlichen demografischen und wirtschaftlichen Ausgangslage. Das Spiel wurde für Planungspraktiker*innen aus der Großregion konzipiert, die als Teilnehmer*innen in der Rolle als Raumplaner*innen ihren eigenen professionellen Hintergrund in ihren jeweiligen Arbeitsländern vertreten. Damit wird erwartet, dass die Planungspraktiker*innen während des Spiels implizite Routinen, Planungsideologien und gesellschaftliche Werte vertreten, die sie auch in ihren jeweiligen reellen Planungsaktivitäten verfolgen. Das Spiel wird von einer*m Spielleiter*in moderiert, die*der die Regeln erklärt, auf die Zeit achtet und neue Spielphasen ankündigt. Aufgabe der Teilnehmer*innen ist es, eine Öko-Region, auf einer früheren Brachfläche zu entwickeln, die sich über nationale Grenzen erstreckt. Die Spielmaterialien bestehen aus einer fiktiven Umgebungskarte mit eingezeichnetem Plangebiet, Chips mit unterschiedlichen Landnutzungen (z.  B. Freiflächen, Siedlungsflächen und Gewerbeflächen) sowie Hintergrundbeschreibungen der Ausgangslage. Die Spieler*innen werden zunächst in 4–5 nationale Teams aufgeteilt. In den Teams arbeiten Praktiker*innen aus verschiedenen Planungsebenen zusammen. Jedes Team besteht aus ca. drei Personen und repräsentiert eine der Teilregionen der Großregion. Jedes Team erhält zudem exklusiv eine Übersicht mit Planungszielen der eigenen Region. Diese sind den anderen Teams nicht bekannt, beruhen aber weitestgehend auf Zielen realer nationaler Planungsartefakte. Das Spiel ist in verschiedene Phasen unterteilt, welche unterschiedliche Interaktionsgelegenheiten vorgeben. In der ersten Phase müssen die nationalen Teams eine eigene Planungsvision für die Grenzregion entwickeln und die Nutzungen im Siedlungsgebiet entsprechend platzieren. Diese Phase modelliert daher Planungshandeln in einem rein nationalen Kontext. So können zunächst spezifische Charakteristiken der Planungskulturen der Teilregionen isoliert analysiert und im Nachgang miteinander verglichen werden. In den darauffolgenden Phasen kommen die Planungspraktiker*innen mehrfach in regen Kontakt mit ihren Kolleg*innen aus den Nachbarländern. Somit werden grenzüberschreitende Kontexte modelliert, bei denen mehrere nationale Strukturen aufeinandertreffen. In Phasen 2 und 3 erhalten die Planer*innen die Möglichkeit, sich mit jeweils einem anderen Team in bilateralen Gesprächen über deren Strategien zu verständigen, zu verhandeln und die eigenen Visionen im Nachgang anzupassen. Die Planer*innen erhalten durch die Interaktionen die Gelegenheit,

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ein verbessertes Verständnis von Planungskulturen und Raumplanung in den benachbarten Ländern zu gewinnen. Zudem kann es dazu anregen, das eigene Handeln zu vergleichen und zu hinterfragen. Somit wird ein ‚vereinfachter‘ bilateraler grenzüberschreitender Kontext als erste Stufe der Konfrontation verschiedener Planungskulturen modelliert. Es kann einerseits beobachtet werden, welche planungskulturellen Unterschiede zwischen den interagierenden Ländern bestehen und andererseits, wie sich die Planer*innen in diesem Kontext verhalten und interagieren. In Phase 4 werden die nationalen Teams zu einer Reflexion wieder in einen isolierten nationalen Kontext versetzt mit der Möglichkeit, Schlüsse aus den zwei bilateralen Austauschphasen zu ziehen und ihre eigenen Konzepte für die folgende Interaktionsphase anzupassen. Währenddessen werden die Interaktionen, Reflexionen und Infragestellungen des Planungshandelns in den nationalen Teams beobachtet. Die Reflexionsphase ist sehr wichtig und sollte nicht zu kurz ausfallen. In der fünften Spielphase kommen alle Teams in einer Regionalkonferenz zusammen mit der Aufgabe, sich auf eine gemeinsame Vision für die grenzüberschreitende Brachfläche zu einigen. Damit wird ein komplexer grenzüberschreitender Interaktionskontext modelliert. Einerseits sind generell mehr Akteure involviert als in den bilateralen Gesprächen, andererseits kommen planerische Vorstellungen eines bisher unbekannten Teams und Landes dazu, welches noch nicht bei bilateralen Gesprächen kennengelernt werden konnte. Zudem muss im Gegensatz zu den bilateralen Verhandlungen in dieser Phase eine Einigung über ein gemeinsames Planungskonzept erreicht werden. In dieser Phase, die der grenzüberschreitenden Raumplanungspraxis in der Großregion Saar-Lor-Lux + aufgrund der Komplexität am nächsten kommt, können nun sowohl planungskulturelle Unterschiede als auch die Verhaltensweisen und Interaktionsprozesse untersucht werden. Die darauffolgende sechste Phase findet wieder im nationalen Rahmen statt und bietet Gelegenheit für die Reflexion der Regionalkonferenz und des gesamten Spielverlaufs. Dies wird durch die Forscher*innen nach Bedarf mit Fragen zu bestimmten Aspekten angeleitet. Ansonsten greifen die Forscher*innen der Arbeitsgruppe nicht aktiv in Diskussionen im Spielgeschehen ein, sondern beobachten die Interaktionen der Teilnehmer*innen im Planspiel und zeichnen diese auf. Nach der Durchführung des Planspiels werden die Beobachtungen anhand eines standardisierten Analyseschemas ausgewertet, in welchem Informationen zu den drei Untersuchungsbereichen (Planungsartefakte, Planungskontext und gesellschaftlicher Kontext) abgefragt sowie das Planungshandeln, die Interaktionsprozesse und die Reflexionen der Akteure dokumentiert werden. Damit werden einerseits Erkenntnisse zu planungskulturellen Eigenschaften, insbesondere zu den weniger greifbaren Planungs- und gesellschaftlichen Kontexten, aber auch zur Umsetzung von

Planungskulturelle Vielfalt in Grenzräumen

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Planungsartefakten (regionale Planungsziele, Aufgabenstellung etc.) in der Spielpraxis und andererseits zu den Interaktionsprozessen in verschiedenen grenzüberschreitenden Kontexten gewonnen. Im Mai 2017 und September 2019 wurde das Planspiel im Rahmen eines Workshops mit Planungspraktiker*innen aus den Teilregionen der Großregion durchgeführt (Abb. 1). Erklärtes Ziel war es, sich mit Planungspraktiker*innen auf experimentelle Weise über die Bedeutung grenzüberschreitender Raumplanung in der Praxis auszutauschen. Die Kernfragen des Workshops lauteten: Welche Gemeinsamkeiten gibt es in den Raumplanungen der Nachbarländer? Welche Aspekte erschweren oder behindern grenzüberschreitende Raumplanung? Was lässt sich über die vorhandenen Planungskulturen sagen? Vor der

Abb. 1   Teilnehmer*innen des Planspiels der Arbeitsgruppe ‚Raumplanung‘ im Mai 2017, Esch-sur-Alzette (Luxemburg) (oben) und im September 2019, Otzenhausen (Deutschland) (unten)

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zweiten Durchführung des Workshops wurde das Planspiel leicht überarbeitet. Durch die Teilnahme weiterer Planungspraktiker*innen konnten weitere Daten gesammelt werden. Zusätzlich wurden mehrfach Planspiele zur grenzüberschreitenden Raumplanung mit Studierenden der Raumplanung durchgeführt um den frühzeitigen interkulturellen Austausch in der Raumplanung zu fördern und Unterschiede, die bereits in der Raumplanungsausbildung vermittelt werden, zu ermitteln.

4 Schlussbetrachtungen und Fazit Die grenzüberschreitenden Verflechtungen in der Europäischen Union (EU) sind so vielfältig (siehe dazu auch Ulrich 2020 in diesem Band), dass der grenzübergreifenden Raumplanung eine hohe Dringlichkeit zukommt. Grenzüberschreitende Raumplanung ist ein sozialer Prozess und wird von den Autorinnen als eine Form des ‚Grenzgeographiemachens‘ verstanden. Dabei koordiniert sie komplexe Interaktionsprozesse zwischen den verschiedenen formellen Planungssystemen und -kulturen der Grenzregionen und wird stark durch letztere geprägt. Sie besitzt das Potenzial, die Raumplanung benachbarter Länder zu ergänzen und zu einer effizienteren Raumentwicklung im Grenzraum beizutragen. Planungskultur eignet sich als Analysegegenstand für die Erforschung grenzüberschreitender Raumplanung, da sie neben expliziten, formellen Charakteristiken (Artefakten) auch implizite Faktoren aus dem Planungs- und gesellschaftlichen Kontext umfasst, die in der Planungspraxis eine bedeutsame Rolle spielen. Außerdem unterscheidet sie sich kontextgebunden und grenzt sich von anderen Strukturen ab. Insofern prägen Planungskulturen auch die Geographien von Grenzen. Auf Basis der organisationstheoretischen und planungskulturtheoretischen Sichtweisen von Raumplanung wurden Hypothesen zu in der grenzüberschreitenden Raumplanung aufeinandertreffen nationalen Planungskulturen und deren Einfluss auf das Raumplanungshandeln bei grenzüberschreitenden Interaktionsprozessen abgeleitet. Außerdem wurde mit dem Planspiel ein methodischer Ansatz zur Überprüfung dieser Hypothesen entwickelt. Das Planspiel ermöglicht es, die teilnehmenden Planungspraktiker*innen und ihre Interaktionen in einer abstrahierten Praxissituation zu beobachten. Daraus können Rückschlüsse zu länderspezifischen planungskulturellen Charakteristiken, deren Unterschieden und zu Interaktionsprozessen in der grenzüberschreitenden Raumplanung gezogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass die planungskulturellen Unterschiede eine entscheidende Herausforderung für die grenzüberschreitende

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Raumplanungspraxis darstellen, da den Planungspraktiker*innen ein gegenseitiges kulturelles Verständnis und gemeinsame Orientierungspunkte fehlen, welche für den weiteren Austausch wichtig sind. Diese Annahme bestätigte sich bei der zweifachen Durchführung des Planspiels. Die Planer*innen bezogen sich im Spielverlauf beispielsweise zwar mehrfach auf ähnliche Wertvorstellungen und Planungsparadigmen wie Nachhaltigkeit, die Konzepte der Gartenstadt und der zentralen Orte, jedoch wurden diese in den nationalen Planungskonzepten unterschiedlich interpretiert und umgesetzt. Dies könnte mit der unterschiedlichen Planungsausbildung zusammenhängen. Die Unstimmigkeiten erschwerten zudem nachfolgend die Erstellung eines gemeinsamen grenzüberschreitenden Konzeptes. Weiterhin deuten Erkenntnisse aus den Planspielen daraufhin, dass die Argumentationsweisen der Planungspraktiker*innen durch unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte beeinflusst wurden. Die Teilnehmer*innen gingen unterschiedlich mit den in der Großregion vorherrschenden regionalen Ungleichgewichten um. Einige setzten sich mehr für eine, in ihren Augen, gerechte Verteilung der Raumnutzungen und einen Ausgleich von Disparitäten ein, während andere ihre regionalen Ziele stark verteidigten. Dies lässt vermuten, dass in den Ländern unterschiedliche gesellschaftliche Interpretationen von Gerechtigkeit vorherrschen, welche das Aufgabenverständnis der Planer*innen beeinflusst. Auch brachten manche Teams Aspekte des Umweltschutzes stärker in ihre Argumentation ein als andere. Die bisherigen Erkenntnisse müssen im Kontext der Aufgabenstellung des Planspiels interpretiert und können nicht generalisiert und auf die ganze Großregion übertragen werden. Weitere Datenerhebungen sind notwendig, um verallgemeinern zu können. Jedoch lassen sich erste landesspezifische planungskulturelle Tendenzen erkennen. Auch ist spannend, wie die Planer*innen sich in der grenzüberschreitenden Raumplanung verhalten haben. Das Planspiel hat sich als geeignete Methode erwiesen, um einerseits Erkenntnisse zur grenzüberschreitenden Raumplanung und unterschiedlichen Planungskulturen zu gewinnen, aber andererseits auch Planungspraktiker*innen für die Planungskulturen ihrer Nachbarländer zu sensibilisieren und zum kritischen Hinterfragen des eigenen Planungshandels anzuregen. Insofern kann die Vielfalt der Planungskulturen in Grenzräumen bei ausreichenden Interaktionen auch als Chance für eine effizientere grenzüberschreitende Raumplanung gesehen werden, da gemeinsame Lernprozesse angestoßen werden können.5

5Allerdings

muss hier kritisch darauf hingewiesen werden, dass Raumplaner*innen häufig die Zeit für interkulturellen Austausch und Weiterbildungen in dieser Hinsicht fehlt und daher die Lernpotenziale begrenzt sind.

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Planungskulturelle Vielfalt in Grenzräumen

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Dr. –Ing. Beate Caesar  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Raum- und Umweltplanung, Fachgebiet Internationale Planungssysteme an der Technischen Universität Kaiserslautern. Sie studierte an der Technischen Universität Kaiserslautern Raum- und Umweltplanung und absolvierte einen Master in Europäischer Raumplanung an der Blekinge Tekniska Högskola in Karlskrona (Schweden). Im Februar 2018 schloss sie ihr Promotionsvorhaben an der Technischen Universität Kaiserslautern am Fachbereich Raum- und Umweltplanung ab. Von Februar bis April 2019 forschte sie an der Universität Luxemburg im Rahmen einer Gastprofessur vom UniGR-Center for Border Studies. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen grenzüberschreitende Raumplanung und Zusammenarbeit, Planungskulturen, Planspiele, Gamification, Border Studies, grenzüberschreitender Verkehr und EU-Politik. Sie ist Mitglied in der Landesarbeitsgemeinschaft Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland der ARL, im UniGR-Center for Border Studies und der Arbeitsgruppe ‚Raumplanung‘.

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B. Caesar und E. Evrard

Dr. Estelle Evrard  ist Forscherin in politischer Geographie an der Universität Luxemburg. Nach Abschluss ihres Masterstudiums in Europäischem Recht an der Universität Brüssel promovierte sie an der Universität Luxemburg im Fach Geographie. Als roter Faden ihrer beruflichen Laufbahn zieht sich die Frage der europäischen Integration. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Rolle lokaler territorialer Einheiten innerhalb des europäischen Integrationsprozesses sowie innerhalb der Entwicklung von Grenzregionen. Sie forscht zu den Themen Territorium/Territorialität, spatial justice und Governance.

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung im Spannungsfeld unterschiedlicher Dimensionen von Distanz – das Beispiel der Großregion H. Peter Dörrenbächer Zusammenfassung

Im Zuge der Globalisierung und Liberalisierung der Wirtschaft spielt nicht nur die internationale und interregionale Mobilität von Kapital, Waren und Dienstleistungen im Rahmen internationaler Wertschöpfungsketten, sondern auch die Mobilität von Arbeitskräften sowie von Studierenden und Auszubildenden eine immer größere Rolle. Am Beispiel der grenzüberschreitenden Berufsausbildung in der Großregion (Saarland, Lothringen, Luxemburg, ­Rheinland-Pfalz, Wallonien) beschäftigt sich der Beitrag mit der Frage, wie interregionale und grenzüberschreitende Mobilität durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Dimensionen von Distanz (Similarität und Diversität) zwischen den beteiligten Regionen bedingt wird. Ferner wird untersucht, wie diese unterschiedlichen Dimensionen der Distanz mobilitätsfördernd modifiziert werden können. Als Ergebnis kann festgestellt werden, dass die Aushandlung von Rahmenvereinbarungen zur grenzüberschreitenden Berufsbildung in der Großregion sowie die geschlossenen Vereinbarungen selbst zum Abbau insbesondere der institutionellen Distanzen zwischen den Bildungssystemen in den einzelnen Regionen beitragen. Dadurch wird die grenzüberschreitende Berufsausbildung maßgeblich gefördert und die Voraussetzung zur Entstehung einer grenzüberschreitenden Bildungsregion geschaffen.

H. P. Dörrenbächer (*)  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_6

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1 Einleitung Im Zuge der Globalisierung und Liberalisierung der Wirtschaft spielt nicht nur die internationale und interregionale Mobilität von Kapital, Waren und Dienstleistungen im Rahmen internationaler Wertschöpfungsketten, sondern auch die Mobilität von Arbeitskräften eine immer größere Rolle. So führen die Unterschiede des Angebots und der Nachfrage nach Arbeitskräften und, damit verbunden, unterschiedliche Lohnniveaus zwischen unterschiedlichen Staaten und Regionen zu großer internationaler und interregionaler Arbeitskräftemobilität. Insbesondere in benachbarten Regionen unterschiedlicher Nationalstaaten können solche Unterschiede zu starken grenzüberschreitenden Pendler*innenbeziehungen und zum Entstehen grenzüberschreitender Arbeitsmärkte und Arbeitsmarktregionen führen. Gleiches gilt für die grenzüberschreitende Berufsausbildung als eine spezielle Form der Arbeitskräftemobilität. Auch diese hat in jüngster Zeit einen starken Bedeutungsgewinn erlangt. Unter dem Gesichtspunkt des Zusammenspiels verschiedener Dimensionen von Similarität und Diversität zwischen den in Beziehung stehenden Regionen, hier als Distanzen bezeichnet, widmet sich der Beitrag am Beispiel der Großregion der Entwicklung grenzüberschreitender Berufs(aus)bildung und der Entstehung einer grenzüberschreitenden Berufs(aus)bildungsregion1. Nach einer kurzen Vorstellung des Untersuchungsraums Großregion (hierzu auch Wille 2020 in diesem Band) beschäftigt sich der Beitrag mit unterschiedlichen Formen von Distanz und deren Bedeutung für grenzüberschreitende Beziehungen im Allgemeinen und in der Großregion im Besonderen. Nachfolgend wird die Bedeutung von Rahmenvereinbarungen für die Überbrückung institutionell-kultureller Distanzen zwischen unterschiedlichen Regionen analysiert. Anschließend wird die Aushandlung und Umsetzung von Rahmenvereinbarungen zur grenzüberschreitenden beruflichen Bildung in der Großregion dargestellt und deren Bedeutung für die Herausbildung einer grenzüberschreitenden (Aus-)Bildungsregion herausgearbeitet.

1In

der Fachliteratur wird unter den allgemeinen Begriff der Berufsbildung oder beruflichen Bildung sowohl die Berufsausbildung als auch die berufliche Fort- und Weiterbildung verstanden. Da sich der Beitrag auf die berufliche Erstausbildung konzentriert, wird im Folgenden der Begriff Berufsausbildung verwendet, wenn es explizit um die erste berufliche Ausbildung geht.

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung

119

2 Die Großregion: Von grenzüberschreitender Arbeitsmarktregion zu einer Arbeits- und Berufsausbildungsregion? Die Grenzräume der Großregion, welche die deutschen Bundesländer Saarland und Rheinland-Pfalz, die frühere französische Region Lothringen, das Großherzogtum Luxemburg sowie die belgische Region Wallonien einschließlich der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens umfasst, haben eine lange Tradition grenzüberschreitender Beziehungen. Letztlich waren sowohl die grenzüberschreitenden Rohstoffströme in der Montanindustrie sowie die Pendler*innenbeziehungen zwischen dem Saarland, Lothringen und Luxemburg (sowie der belgischen Provinz Luxemburg) Grund dafür, dass man vom sogenannten Montandreieck gesprochen hat und dass seit Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre der grenzüberschreitende Kooperationsraum ­Saar-Lor-Lux entstanden ist, aus welchem schließlich die Großregion hervorgegangen ist. Trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den einzelnen Regionen der Großregion in den vergangenen 30 Jahren zeichnet sich die Großregion weiterhin durch starke wirtschaftliche und andere grenzüberschreitende Beziehungen aus (Dörrenbächer 2015; Helfer 2015; Belkacem et al. 2018). Mit 232.000 Grenzgänger*innen im Jahr 2017 stellt die Großregion heute die zahlenmäßig bedeutendste grenzüberschreitende Arbeitsmarktregion in der Europäischen Union dar (IBA 2019, S. 6). Im Zuge der unterschiedlichen demographischen und ökonomischen Entwicklung erlangt die grenzüberschreitende Berufsausbildungsmobilität eine immer größere Bedeutung, sodass sich die Frage stellt, ob man die Großregion nicht als einen grenzüberschreitenden Berufsbildungsraum bezeichnen kann (Dörrenbächer 2018).

3 Die Bedeutung des Zusammenspiels ökonomischer sowie demographischer, geographischer und institutionell-kultureller Distanz für grenzüberschreitende Beziehungen Wie bereits in der Einleitung angedeutet, beruhen internationale und interregionale Kapital- und Güterströme, aber auch die Mobilität von Arbeitskräften auf national- und regionalspezifischen Unterschieden des Angebots und der Nachfrage nach diesen Produktionsfaktoren und den damit häufig verbundenen unterschiedlichen Preisniveaus. Was das Angebot an und die Nachfrage nach Arbeitskräften betrifft, sind diese auch von den demographischen Strukturen der

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jeweiligen Regionen abhängig. Es kann daher angenommen werden, dass das Potenzial für Arbeitskräfteströme zwischen zwei Regionen umso höher ist, je stärker die ökomischen und die demographischen Unterschiede, hier als Distanzen bezeichnet2, zwischen den betroffenen Regionen sind. Das heißt, ökonomische und demographische Distanz zwischen zwei Regionen und das Potential für interregionale Personenströme stehen in einem positiven Zusammenhang. Wie allerdings eher mechanistische Gravitationsmodelle (Lexikon der Geographie 2001; Hepple 2009; Johnston 2009) und neoklassische Standorttheorien in den Raum- und Regionalwissenschaften (Braun und Schulz 2012, S. 29–30) zeigen, sind Beziehungen im Raum distanzempfindlich, d. h. sie nehmen mit steigender geographischer (metrischer) Entfernung ab. Allerdings spielt diese im Warenverkehr dank großer Fortschritte im Transportwesen heute nur noch eine untergeordnete Rolle, bei der Vermittlung von Daten und Information ist sie praktisch bedeutungslos geworden. Dass insbesondere persönliche Beziehungen mit steigender geographischer Distanz dennoch häufig abnehmen, ist weniger auf die räumliche Distanz selbst zurückzuführen, sondern ist vielmehr in der zunehmenden kulturellen und institutionellen Differenz – hier als i­nstitutionell-kulturelle Distanz bezeichnet – begründet, welche mit der steigenden geographischen Distanz einhergeht. Die nicht-geographischen Dimensionen der Distanz spielt insbesondere für international agierende Unternehmen eine große Rolle und wurde in den letzten beiden Jahrzehnen vor allem in der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre im Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft intensiv erforscht. So unterscheidet Ghemawat (2001, S. 139) in seinem sogenannten CAGE-Framework vier Dimensionen von Distanz. Demnach sind „alle grenzüberschreitenden Geschäfte … durch verschiedene Formen von Distanzen wie kulturelle, administrative, geographische und ökonomische Distanz geprägt“ (Nevis u. a. 2015, S. 51). Fundamentale Bedeutung für grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen kommt dabei der sogenannten institutionellen Distanz zwischen den beteiligten bzw. betroffenen Staaten und Gesellschaften zu, d. h. der Distanz bzw. Differenz zwischen den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen.3 Dabei unterscheidet Scott (2013) folgende drei Säulen der Institutionen: der regulativen, der normativen

2So

wird die unterschiedliche Altersstruktur zwischen zwei Regionen hier als demographische Distanz bezeichnet. Deren Bedeutung für die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung wird in Abschn. 4.1 erläutert. 3Einen Überblick über das weite Feld der Erforschung institutioneller Rahmenbedingungen, deren Unterschiede zwischen verschiedenen Staaten und Gesellschaften und deren Bedeutung für das Handeln von Wirtschaftsunternehmen geben Bae und Salomon (2010).

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung

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und der kulturell-kognitiven Säule. Was die kulturellen Rahmenbedingungen für grenzüberschreitendes wirtschaftliches Handeln betrifft, ist die von Hofstede (2001) aufgrund umfassender empirischer Erhebungen entwickelte Unterscheidung von fünf verschiedenen Kulturdimensionen besonders aufschlussreich und bedeutsam (Hofstede 2001). Unterschiedliche Verhaltensweisen und -erwartungen, Sprachen, Rechtssysteme, Normen und unterschiedliche institutionelle Arrangements, etwa in Form unterschiedlicher Ausbildungssysteme, um nur einige Beispiele zu nennen, haben erhöhte Transaktionskosten zur Folge und führen tendenziell zu einer Verringerung internationaler und interregionaler Beziehungen4. Das heißt, geographische und institutionell-kulturelle Distanzen zwischen Regionen stehen im Gegensatz zu ökonomischen und demographischen Distanzen in einem negativen Verhältnis zu interregionalen Beziehungen und Strömen (Abb. 1).

Abb. 1   Das Zusammenwirken von ökonomisch-demographischer, geographischer und institutionell-kultureller Distanz im Bereich der grenzüberschreitenden Berufs(aus)bildung. (Quelle: Eigener Entwurf)

4Allerdings

gibt es auch Bereiche des internationalen und interregionalen Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs, welche durch kulturelle Differenz und Distanz positiv beeinflusst werden, etwa der Tourismus, die Gastronomie oder die Kulturökomomie.

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Diese unterschiedlichen Dimensionen der Distanz zwischen benachbarten Regionen wirken demnach einerseits verstärkend und andererseits dämpfend oder abschwächend auf die Entwicklung grenzüberschreitender Beziehungen. Insbesondere die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften und Auszubildenden (Grenzpendler*innen) wird durch institutionell-kulturelle Distanzen zwischen nationalen Arbeitsmärkten und Ausbildungssystemen beschränkt. Diese können nur kompensiert und überwunden werden durch 1. konsequente Maßnahmen zur Förderung und Erlangung von Kompetenz des Gebrauchs der Nachbarsprache im Falle mehrsprachiger Grenzräume, 2. supranationale bzw. supraregionale Ansätze der Harmonisierung institutioneller Arrangements, etwa der Europäisierung von Arbeitsmärkten und von Bildungssystemen (z.  B. Bologna-Prozess zum Aufbau eines europäischen Hochschulraums) und 3. grenzüberschreitende Kooperationsvereinbarungen auf regionaler Ebene, welche auf langjährigen gemeinsamen Erfahrungen von Schlüsselakteuren beiderseits der Grenzen und gegenseitigem Vertrauensbeziehungen aufbauen. Durch solche Vereinbarungen wird institutionell-kulturelle Distanz reduziert. Diese sozialen Aktivitäten und mitunter lang andauernden Prozesse sind nicht nur essenziell für die Verringerung bzw. Überwindung kulturell-institutioneller Distanzen und damit Grundlage für die Durchführung grenzüberschreitender beruflicher Bildung und Berufstätigkeit. Darüber hinaus sind sie Voraussetzung für die Konstituierung integrierter grenzüberschreitender Berufsbildungs- und Arbeitsmarktregionen.

4 Ökonomische und demographische, geographische und institutionell-kulturelle Distanz als Potenziale und Hemmnisse für grenzüberschreitender Berufsausbildung in der Großregion 4.1 Ökonomische und demographische Disparitäten Der Umstand, dass die Erwerbsbevölkerung im Zeitraum 2018 bis 2050 im Saarland voraussichtlich um 33, in Rheinland-Pfalz um 24 und in Lothringen um

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung

123

13,5 % zurückgehen wird (IBA 2019, S. 1; zudem Abb. 2), stellt für die Wirtschaft dieser Regionen eine große Herausforderung dar. Es besteht die Gefahr, dass viele Stellen in Zukunft nur schwer oder überhaupt nicht mehr besetzt werden können, wenn es nicht gelingt, Nachwuchskräfte aus anderen Regionen anzuziehen. Dies betrifft insbesondere Arbeitsstellen im Handwerk sowie im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen, wie Alten- und Krankenpflege. Schon heute sorgen sich viele Kleinunternehmer, insbesondere des Handwerks, wie sie ihren Betrieb an die nächste Generation weitergeben können. Eine Chance, diesen Herausforderungen zu begegnen, könnte man in dem sehr unterschiedlichen Niveau der Jugendarbeitslosigkeit in den Regionen der Großregion vermuten, indem etwa Jugendliche in Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit einer Beschäftigung oder gar einer Berufsausbildung in einer benachbarten Region mit niedriger Jugendarbeitslosigkeit nachgehen. Schließlich sind die diesbezüglichen Disparitäten zwischen den Regionen der Großregion beträchtlich. So beträgt der Unterschied der Jugendarbeitslosigkeit zwischen der belgischen Region Wallonien und dem deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz nicht weniger als 21,6 % (IBA 2019, S. 3; vgl. auch Abb. 3). Während die Jugendarbeitslosigkeit in Rheinland-Pfalz „nur“ 7,4 % beträgt, erreicht diese in Wallonien 29 %, wobei beide Grenzräume dünn besiedelt sind und die Aufnahme einer Ausbildungs- und Beschäftigungsstelle wegen der großen geographischen Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsort gerade für junge Auszubildenden ohne eigenem Fahrzeug weniger attraktiv ist. Dieses Problem trifft für das Saarland nicht in gleicher Weise zu. In dieser verdichteten, vom produzierenden Gewerbe gekennzeichneten Grenzregion beträgt die Jugendarbeitslosigkeit „nur“

Abb. 2   Projektion der Erwerbsbevölkerung in der Großregion 2018–2050 (Angaben in Prozent). (Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage: IBA 2019, S. 1)

124

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Abb. 3   Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit in der Großregion 2017 (Angaben in Prozent) (Jugendarbeitslosigkeit in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Belgien 2016). (Quelle: Eigene Darstellung, Datenquelle: IBA 2019, S. 3)

10,2 %, während diese im benachbarten Lothringen mit 22,1 % mehr als doppelt so hoch ist. Selbst im prosperierenden Großherzogtum Luxemburg beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 15,5 %. Insbesondere in dem dichtbesiedelten Eurodistrict SaarMoselle, dem grenzüberschreitenden Verdichtungsraum von Saarbrücken und dessen deutschen und französischen Umlandgemeinden, erscheint das Potenzial für die Aufnahme einer grenzüberschreitenden Berufsausbildung und Beschäftigung besonders hoch zu sein. Allerdings konnte dieses aufgrund der großen institutionell-kulturellen Distanz zwischen beiden Regionen bisher kaum ausgeschöpft werden. Dabei wird die grenzüberschreitende Berufsbildungsmobilität insbesondere durch mangelnde Fremdsprachenkompetenz auf beiden Seiten der Grenze und durch die sehr unterschiedliche Organisation der Berufsausbildung in Frankreich und Deutschland beschränkt.

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung

125

4.2 Sprachbarrieren Mangelnde Kompetenz im Gebrauch der Nachbarsprache stellt für junge Franzosen und Deutsche wohl die wichtigste Barriere zur Aufnahme einer Berufsausbildung im Nachbarland dar. Dies gilt in geringerem Maße für Arbeitnehmer*innen inklusive Ausbildungswillige in der belgisch-deutschen Grenzregion, da im äußersten Osten Belgiens Deutsch offizielle Amtssprache und Muttersprache der dortigen Bevölkerung (Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens) ist. Ebenfalls im Großherzogtum Luxemburg stellen mangelnde Sprachkenntnisse kein erhebliches Hindernis für grenzüberschreitende Beschäftigung und Berufsbildung dar. Denn der größte Teil der ­autochthon-luxemburgischen Bevölkerung beherrscht neben Luxemburgisch und Französisch auch die deutsche Sprache. Auch zwischen Lothringen und dem Saarland waren die Sprachbarrieren bis vor einigen Jahrzehnten vergleichsweise gering. Bis dahin praktizierten die meisten Lothringer*innen diesseits der Jahrhunderte alten Sprachgrenze, die ca. 40–50 km hinter der heutigen Staatsgrenze durch Lothringen verlief, im Alltag das sogenannte Platt, ein moselfränkischer Dialekt, welcher eine grenzüberschreitende Kommunikation problemlos erlaubte. Davon zeugten bis in die jüngere Vergangenheit die intensiven grenzüberschreitenden Pendler*innenbeziehungen im saarländischen und lothringischen Bergbau und der saarländischen Eisen- und Stahlindustrie. Mit der Rekrutierung des staatlichen Verwaltungspersonals inklusive des Lehrpersonals an den Schulen Lothringens durch Personen aus anderen Regionen Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand das Platt zunehmend aus dem Alltag. Ein großer Teil der jüngeren Bevölkerung ist heute nicht mehr kompetent, dieses zu praktizieren. Auf der saarländischen Seite wiederum ist der Anteil des Französischen als erste Fremdsprache, welches noch in den 1950er und 1960 Jahren an den allgemeinbildenden Schulen dominiert hatte, in der Zeit von 2001/02 bis 2012/13 von 52,86 % auf 42,57 % zurückgegangen (Mohr 2017, S. 183, eigene Berechnungen).5 Diesem Defizit entgegen wirken sollen die von der saarländischen Landesregierung im Jahr 2015 aufgelegte Frankreichstrategie und die im gleichen Jahr von der damaligen Region Lothringen entwickelte Deutschlandstrategie (Stratégie Allemagne). Wichtigstes Ziel der Frankreichstrategie ist (noch

5In

Gesprächen mit Vertretern von Kammern und Bildungsträgern im Saarland wurde die zurückgehende Französischkompetenz in der jüngeren saarländischen Bevölkerung entsprechend wiederholt beklagt.

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immer), das Saarland innerhalb einer Generation zu einer multilingualen Region ­deutsch-französischer Prägung und somit zum ersten mehrsprachigen Bundesland der Bundesrepublik Deutschland zu entwickeln. Französisch soll als Verkehrssprache neben die Mutter- und Amtssprache Deutsch treten und durch Englisch und/oder weitere Fremdsprachen ergänzt werden. Neben der Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in (Aus-)Bildung, Kultur und Wirtschaft verfolgt die Deutschlandstrategie Lothringens ein ähnliches Ziel. Da das Thema Mehrsprachigkeit – im Allgemeinen – und im Rahmen der Frankreich- und der Deutschlandstrategie – im Besonderen – selbst ein umfassendes und komplexes Themengebiet darstellt, sei an dieser Stelle nur auf Staatskanzlei Saarland (2014) und MBKS (2019) sowie auf die Arbeiten von Polzin-Haumann (2017), ­Polzin-Haumann und Reissner (2012 und 2018) und von Crossey und Weber (2020 in diesem Band) verwiesen.

4.3 Unterschiedliche Berufs(aus)bildungssysteme Die Berufsausbildung in den Teilregionen der Großregion ist zum Teil sehr unterschiedlich institutionalisiert und organisiert. Dies betrifft insbesondere die berufliche Ausbildung in Frankreich und Deutschland. So ist die Berufsausbildung in Frankreich im Vergleich zu Deutschland akademisiert, das heißt, sowohl die praktische als auch theoretische Ausbildung klassischer Lehrberufe findet größtenteils, bis auf ein oder mehrere mehrwöchige Betriebspraktika, an Berufsschulen (Lycée professionnel) statt. Sie schließt nach einer zweijährigen Berufsausbildung (nach der 11. Klasse) am Lycée professionnel mit dem CAP (Certificat d’aptitude professionnelle), welches dem Facharbeiterzeugnis in Deutschland entspricht, ab. Alternativ endet sie nach drei Jahren Berufsausbildung, ebenfalls am Lycée professionnel, mit dem Baccalauréat professionnel, welches gleichzeitig zum Hochschulzugang berechtigt (Abb. 4). Die duale Berufsausbildung, eine Kombination aus betrieblicher und schulischer Berufsausbildung, für welche das deutsche Berufsausbildungssystem weltweit bekannt ist, ist in Frankreich nicht verbreitet und genießt ein vergleichsweise geringes Ansehen. Für die meisten Franzosen ist, abgesehen vom Problem der mangelnden Fremdsprachenkompetenz, aus diesem Grund eine Berufsausbildung in Deutschland nicht attraktiv. Umgekehrt ist die stärker akademisierte Ausbildung in Frankreich für deutsche Auszubildende wegen des höheren Stellenwerts der theoretischen Ausbildung und, damit verbunden, der herausgehobenen Bedeutung sprachlicher Kompetenzen problematisch. Hinzu kommt, dass Auszubildende in Frankreich als Schüler*innen gelten, die keine Ausbildungsvergütung

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Abb. 4   Verschiedene Ausbildungswege im französischen Berufsausbildungssystem nach der 9. Schulklasse. (Quelle: Robert Bosch Stiftung 2010, S. 15, eigene Ergänzungen)

erhalten und nicht zur Gruppe der Erwerbstätigen zählen, was die Ausbildung für Deutsche unattraktiv macht.

5 Maßnahmen zur Überwindung ­institutionellkultureller Distanzen in der Berufsausbildung Innerhalb der Großregion stehen einige Grenzregionen vor dem Problem, dass es bedingt durch demographische und ökonomische Disparitäten (Distanz), auf der einen Seite der Grenze ein Defizit an Auszubildenden und auf der anderen Seite ein Defizit an Ausbildungsstellen gibt. Nicht zuletzt aufgrund ­institutionell-kultureller Distanzen zwischen den betroffenen Regionen und ihrer

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jeweiligen Ausbildungs- und Arbeitsmarktsysteme kann dieses Dilemma nur schwer gelöst werden. Mit diesem Problem steht die Großregion allerdings nicht allein. Auch andere Grenzräume, wie die Oberrheinregion, aber auch viele andere Regionen in Europa, unabhängig davon, ob es sich um Grenzregionen oder Binnenregionen handelt, stehen hinsichtlich der Aufnahme bzw. der Entsendung von Auszubildenden aus bzw. in andere nationale/n Bildungssystemen vor ähnlichen Problemen (vgl. Busse und Frommberger 2016; ASKO ­Europa-Stiftung/ Europäische Akademie Otzenhausen 2015).

5.1 Harmonisierung nationaler Systeme beruflicher Bildung auf europäischer Ebene Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die Europäische Union der Harmonisierung der nationalen Berufsbildungssysteme große Bedeutung beimisst, um die aufgezeigten Disparitäten innerhalb der Union zu verringern und gleichzeitig deren Wettbewerbsfähigkeit im globalen Rahmen zu stärken. Zur Stärkung und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Union hat die L ­ issabon-Strategie der EU von 2000 die Förderung solcher Initiativen hervorgehoben, welche zu gemeinsamen Standards der beruflichen Bildung auf europäischer Ebene führen (Europäische Kommission 2010). Mit diesem Ziel hat die EU 2002 den sogenannten Brügge-Kopenhagen-Prozess (später allgemein als ­Kopenhagen-Prozess bezeichnet) angestoßen. Ziel dieses Prozesses war es, die europäische Dimension der beruflichen Bildung zu stärken, die Transparenz nationaler Systeme und Abschlüsse beruflicher Bildung zu erhöhen und Instrumente der Qualitätssicherung und Regelungen für die Anerkennung von Qualifikationen zu entwickeln (Bartsch 2013; Klenk und Schmid 2018). Er führte 2010 zur Schaffung von EQAVET (European Quality Assurance for Vocational Education and Training), dessen Hauptziel es ist, ein gemeinsames, europaweites Qualitätsverständnis einschließlich eines Europäischen Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung (ECVET), vergleichbar dem auf die Hochschulen bezogenen European Credit Transfer System (ECTS), zu erarbeiten. Darüber hinaus hat EQAVET den Auftrag, den Europäischen Referenzrahmen für die berufliche Bildung umzusetzen. Zu diesem Zweck kooperiert EQAVET mit den nationalen für die Qualitätssicherung der beruflichen Ausbildung verantwortlichen Referenzstellen (Deutscher Bildungsserver 2020). Die durch diesen Prozess angestrebte Durchlässigkeit nationaler beruflicher Bildungssysteme ist insbesondere für Grenzregionen bedeutsam, d. h. für diejenigen Arbeitsmarktund Wirtschaftsregionen, welche an jene anderer Nationalstaaten angrenzen.

Die Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildung

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5.2 Die Entwicklung von interregionalen Rahmenvereinbarungen zur beruflichen Bildung Diesem auf der europäischen Ebene angestoßenen Ansatz zur Harmonisierung nationaler beruflicher Ausbildungssysteme entsprechend, haben einige Grenzregionen und grenzüberschreitende Kooperationsräume seit Mitte der 2010er Jahre Rahmenvereinbarungen über die grenzüberschreitende Berufsbildung bzw. Berufsausbildung ausgehandelt und verabschiedet. Diese stellen nicht nur Meilensteine auf dem Weg zur Integration nationaler Berufsausbildung, sondern auch zur Entwicklung grenzüberschreitender Berufsausbildungsregionen dar. Die erste Vereinbarung dieser Art wurde im Jahre 2013 in der Oberrheinregion auf Initiative der Oberrheinkonferenz zwischen dem französischen Staat, den beiden deutschen Bundesländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie den deutschen und französischen Akteuren der beruflichen Ausbildung ausgehandelt und geschlossen (RVOR 2013). Die Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsausbildung am Oberrhein (im Folgenden RVOR) war gewissermaßen Blaupause für die später in anderen Regionen geschlossenen Rahmenvereinbarungen. Sie hatte erstmals jungen Auszubildenden einen rechtlich verbindlichen Rahmen für die Durchführung einer grenzüberschreitenden Berufsausbildung geschaffen, indem zumeist französische Auszubildende die theoretische Berufsausbildung an einem Lycée professionnel im Heimatland und die praktische Ausbildung in einem Betrieb in Deutschland absolvieren. Damit werden die Besonderheiten des französischen und deutschen Berufsausbildungssystems miteinander verknüpft und die institutionell-kulturelle Distanz zwischen beiden reduziert.

6 Rahmenvereinbarungen und unterschiedliche Formen grenzüberschreitender Berufs(aus)bildung in der Großregion Im Gefolge der ersten in der Oberrheinregion geschlossenen Rahmenvereinbarung wurden in der Großregion und zwischen ihren Teilregionen ab 2014 mehrere Rahmenvereinbarungen über die berufliche Bildung geschlossen. Auch wenn sich diese hinsichtlich ihres räumlichen Perimeters und ihrer inhaltlichen Spezifizität unterscheiden, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie den Akteuren der beruflichen Bildung einen weiten Spielraum für die Ausgestaltung unterschiedlichster Formen beruflicher (Aus-)Bildungsmaßnahmen lassen. Durch Überbrückung und Reduktion institutionell-kultureller Distanzen zwischen den

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nationalen Berufs(aus)bildungssystemen der beteiligten Regionen stellen sie allesamt Meilensteine auf dem Weg zur Entstehung von grenzüberschreitenden Berufsbildungsregionen dar.

6.1 Saarländisch-lothringische Rahmenvereinbarung von 2014 Bereits weniger als ein Jahr nach Unterzeichnung der RVOR haben das Saarland und die Region Lorraine eine Rahmenvereinbarung für die Kooperation in der grenzüberschreitenden beruflichen Aus- und Weiterbildung – ­Saarland-Lothringen (im Folgenden RVSL) (RVSL 2014) geschlossen. Beschleunigt und flankiert wurde die Aushandlung dieser Vereinbarung durch die Erklärungen und Anregungen des deutsch-französischen Ministerrats im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags im Januar 2013. Darüber hinaus haben die deutschen und französischen Bevollmächtigten für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen auf ihrem Treffen im Juli 2013 in Saarbrücken die (deutsch-französischen) Grenzregionen ermutigt, „dem Beispiel des Eurodistrikts Straßburg/Ortenau zu folgen und bis Ende 2014 analoge Programme der dualen Berufsausbildung zu entwickeln“ (Erklärung von Saarbrücken 2013, S. 2 f.). Nach Unterzeichnung einer politischen Absichtserklärung betreffend den Ausbau der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der beruflichen Aus- und Weiterbildung durch den damaligen Präsidenten des Regionalrates von Lothringen, Jean-Pierre Masseret, und die damalige Ministerpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer, wurde die Rahmenvereinbarung zwischen dem Saarland und der Region Lorraine nach dem Muster der im September 2013 in der Oberrheinregion geschlossenen RVOR ausgehandelt und schließlich am 2. Juni 2014 unterzeichnet. Die RVSL schuf die Voraussetzung für die Schaffung eines grenzüberschreitenden Ausbildungs- und Arbeitsmarktes „durch die Förderung beruflicher Austauschmaßnahmen zwischen beiden Gebieten“ und den „Ausbau der grenzüberschreitenden beruflichen Bildung zwischen dem Saarland und Lothringen“ (RVSL 2014, S. 3). Durch die Vereinbarung sollte deutschen und französischen Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, „den praktischen Teil ihrer Ausbildung auf der Grundlage eines Ausbildungsvertrags in einem Unternehmen des Nachbarlandes zu absolvieren“ (RVSL 2014, S. 2). Ein wesentliches Ziel war es, einen Beitrag zur Verzahnung der unterschiedlichen Ausbildungssysteme zu leisten, wobei dem in Deutschland praktizierten Prinzip der dualen Berufsaus-

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bildung eine besondere Rolle zukam, indem die Auszubildenden die Möglichkeit erhalten sollten, die theoretische Ausbildung im jeweiligen Heimatland und die praktische (betriebliche) Ausbildung im Nachbarland zu absolvieren. Damit sollte sowohl der bisherigen Inkompatibilität des deutschen und französischen Ausbildungssystems als auch dem Problem der für die Absolvierung der theoretischen Ausbildung im Nachbarland meistens nicht ausreichenden Sprachkenntnisse der Auszubildenden begegnet werden. Bei der Vereinbarung handelt es sich um ein flexibles Instrument, wie die Bezeichnung „Rahmenvereinbarung“ deutlich macht, in welchem zwar langfristige Ziele formuliert werden, welche aber Raum für unterschiedliche Formen der Kooperation lassen. So stimmten die Partner im Abkommen überein, „dass eine Vielfalt von Kooperationen wünschenswert ist und angestrebt wird“ (RVSL 2014, S. 4). Damit verfolgte die Rahmenvereinbarung einen von Diversität geprägten Ansatz der Europäisierung beruflicher Ausbildung, welche stärker fokussiert auf die Vermittlung von Kompetenzen als auf gleiche Berufsabschlüsse. Die Rahmenvereinbarung eröffnete damit ein Experimentierfeld für unterschiedliche Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Dabei beschränkt die RVSL ihren Fokus nicht nur auf Kooperationen zwischen lothringischen und saarländischen Akteuren, sondern betont, dass die durch die Vereinbarung ermöglichten Initiativen „in enger Koordination mit den Partnerregionen der Großregion, dem Großherzogtum Luxemburg, der Region Wallonien und Rheinland-Pfalz, entwickelt werden“ sollen (RVSL 2014, S. 3). Sie antizipiert damit die noch im gleichen Jahr von allen Teilregionen der Großregion ausgehandelte und verabschiedete Rahmenvereinbarung für die gesamte Großregion. Parallel zur Rahmenvereinbarung wurde das Abkommen über die grenzüberschreitende Berufsausbildung Saarland – Lothringen gemäß Artikel 5 der Rahmenvereinbarung über die Kooperation in der grenzüberschreitenden beruflichen Aus- und Weiterbildung Saarland – Lothringen (AGBSL 2014) geschlossen. Unterzeichner waren der französische Staat, die Region Lothringen, die Académie de Metz-Nancy, die Direction régionale de l’alimentation, de l’agriculture et de la forêt, die Handwerkskammer Lothringen, die Industrieund Handelskammer der Region Lothringen, die Industrie- und Handelskammer Saarland, die Handwerkskammer des Saarlandes, die Landwirtschaftskammer Saarland sowie die Regionaldirektion Rheinland-Pfalz – Saarland der Bundesagentur für Arbeit. In dem Abkommen werden die in der RVSL angesprochenen Formen der grenzüberschreitenden Berufsausbildung konkret geregelt. „Mit den Abkommen wird lothringischen und saarländischen Jugendlichen ermöglicht, einen Ausbildungsvertrag mit einem Unternehmen im Nachbarland zu schließen

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und den praktischen Teil der Ausbildung dort zu absolvieren. Theoretische Lehrinhalte werden in der Berufsschule im Heimatland gelernt. Am Ende der Ausbildung legen die Jugendlichen dann in ihrem Heimatland, in dem sie die berufliche Schule durchlaufen haben, die Abschlussprüfung ab und erwerben ihren Berufsabschluss. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, sofern die Bedingungen dafür erfüllt sind, zusätzlich die Abschlussprüfung im jeweiligen Partnerland abzulegen“ (Netzwerk der Fachinstitute der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle 2014, S. 174) und damit einen Doppelabschluss zu erwerben. Auf der Grundlage des Abkommens können insgesamt 15 Berufe grenzüberschreitend erlernt werden (Netzwerk der Fachinstitute der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle 2014, S. 174).

6.2 Die Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion Parallel zur RVSL wurde unter rheinland-pfälzischer Gipfelpräsidentschaft eine Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion (im Folgenden RVGR) ausgehandelt und wenige Monate nach der RVSL Anfang November 2014 unterzeichnet. Wie der Titel „Rahmenvereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung …“ [Hervorh. durch den Verfasser] erahnen lässt, handelt es sich bei dieser Vereinbarung um einen noch weiter gefassten Rahmen als im Falle der RVOR und der RVSL. Denn diese Vereinbarung stellte nicht nur einen Rahmen für die Berufsausbildung, sondern für alle denkbaren Formen der beruflichen Bildung dar – und dies nicht nur für zwei, sondern für alle fünf Teilregionen der Großregion! So werden in Artikel 2 der RVGR explizit unterschiedliche zu unterstützende Varianten der grenzüberschreitenden Berufsbildung aufgelistet, wie z. B. praktische Ausbildung im Nachbarland und theoretische Ausbildung im Heimatland oder theoretische (und praktische) Ausbildung im Heimatland und mehrere Betriebspraktika im Nachbarland, ferner verschiedene Varianten der grenzüberschreitenden beruflichen Weiterbildung. Während die zwischen dem Saarland und Lothringen geschlossene Rahmenvereinbarung und das darauf basierende Abkommen eine Grundlage für die operative Umsetzung grenzüberschreitender beruflicher Ausbildungsgänge darstellt, hat die RVGR die Funktion, die in der gesamten Großregion bestehenden unterschiedlichen grenzüberschreitenden Aktivitäten auf dem Gebiet der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu strukturieren, gemeinsame Ziele der

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grenzüberschreitenden Berufsbildungspolitik zu definieren und geeignete Handlungsansätze zur Verwirklichung dieser Ziele aufzuzeigen. Es geht also nicht darum, einen verbindlichen Standard für die grenzüberschreitende Berufsbildung zu definieren. Vielmehr erheben die Partnerregionen mit dieser Vereinbarung „den Anspruch, die Förderung grenzüberschreitender Berufsbildung in der Großregion besser abzustimmen. In dem Wissen um die Unterschiedlichkeit der Berufsbildungssysteme setzen sie sich soweit zuständig, für Experimentierklauseln ein“ (RVGR 2014, S. 4). Institutionell-kulturelle Distanzen zwischen den Teilregionen und deren Bildungssystemen werden demnach durch gegenseitige Information, durch Kommunikation und weiche Formen der Anwendung und Abstimmung nationaler Vorgaben und Standards überwunden. Insofern erstaunt es nicht, dass die Rahmenvereinbarung „Maßnahmen der Information und Kommunikation mit dem Ziel, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen in der Großregion für die bestehenden Möglichkeiten grenzüberschreitender Berufsbildung zu sensibilisieren und deren Bekanntheitsgrad und Akzeptanz zu steigern“ (RVGR 2014, S. 5), große Bedeutung beimisst. Institutionalisiert wird diese Kommunikation und Information durch ein strukturiertes Verfahren der Berichterstattung und Dokumentation in Form von regelmäßig zu erstellenden Berichten zur Umsetzung der Rahmenvereinbarung. Dieses Verfahren ist in doppelter Hinsicht bedeutsam: Zum einen schafft es in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Bedeutung der grenzüberschreitenden beruflichen Bildung für die Entwicklung der Großregion und umgekehrt für die Bedeutung der Großregion als einen integrierten europäischen Ausbildungsraum. Zum anderen können von diesen regelmäßigen Berichten Empfehlungen für weitere Schritte im Bereich der grenzüberschreitenden beruflichen Bildung abgeleitet und damit kollektive Lernprozesse auf regionaler Ebene angeregt werden. Solche kollektiven Lernprozesse können durchaus als Prozesse der Bildung von Regionen, des region building bzw. der Regionalisierung verstanden werden (vgl. Funk et al. 2020; Paasi et al. 2018)).

6.3 Weitere interregionale Vereinbarungen und Maßnahmen der beruflichen Bildung Bereits vor Unterzeichnung der RVGR gab es in der Großregion eine große Zahl von Initiativen, Projekten und Maßnahmen der grenzüberschreitenden beruflichen Bildung. So listen die Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle für die Großregion (Netzwerk der Fachinstitute der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle 2014, S. 173 ff.) und die Task Force Grenzgänger (2012) für

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diese Zeit ohne Anspruch auf Vollständigkeit nicht weniger als 50 Maßnahmen und Projekte der beruflichen Bildung im weiteren Sinne und 20 Projekte der beruflichen Bildung im engeren Sinne auf (Nienaber et al. 2020). Allerdings handelt es sich bei den meisten um kurzzeitige Aktivitäten, wie grenzüberschreitende Betriebspraktika. Seit 2014 wurden zwischen einzelnen Teilregionen der Großregion neben der zuvor ausführlicher angesprochenen RVSL folgende Vereinbarungen und Absichtserklärungen zur Verabschiedung solcher Vereinbarungen geschlossen (Großregion 2019; siehe auch Abb. 5):

Abb. 5    Rahmenvereinbarungen und Vereinbarungen über grenzüberschreitende Berufs(aus)bildung in der Großregion 2014–2018. (Quelle: Eigene Darstellung)

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• Strategische Kooperationsvereinbarung zwischen Le Forem (Wallonien) und AFPA (Frankreich) (Accord de coopération entre le Forem (Office wallon de la Formation professionnelle et de l’Emploi) et l’Afpa (Association nationale pour la formation professionnelle des adultes) pour le développement de la formation professionnelle et de l’emploi qualifié en Europe) (2014), • Absichtserklärung Luxemburgs und Frankreichs zur Durchführung eines Versuchs in der grenzüberschreitenden Kooperation im Bereich Berufsbildung und Ausbildung (2015), umgesetzt durch • Vereinbarung über die grenzüberschreitende Berufsbildung zwischen der Region Grand Est (Lorraine) und dem Großherzogtum Luxemburg (Protocole d'accord sur la formation professionnelle transfrontalière) (2017) mit einer Dauer von vorläufig zwei Jahren, • Vereinbarung zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens […] und dem Land Rheinland-Pfalz […] zur Umsetzung der Rahmenvereinbarung über grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion (2016), • Vereinbarung zwischen dem Großherzogtum Luxemburg […] und dem Land Rheinland-Pfalz […] zur Umsetzung der Rahmenvereinbarung über grenzüberschreitende Berufsbildung in der Großregion (2018). Diese Vereinbarungen schaffen die Voraussetzung nicht nur für kurzzeitige Formen grenzüberschreitender beruflicher Ausbildung in Form von Betriebspraktika, sondern auch für die Einführung und Durchführung vollintegrierter mehrjähriger grenzüberschreitender Berufsausbildungsgänge. Diese umfassen in der Regel die theoretische Ausbildung im einen und die betriebspraktische Ausbildung im anderen Land. Einige von ihnen räumen darüber hinaus die Möglichkeit ein, über eine zusätzliche Prüfung einen bi-nationalen Berufsabschluss bzw. zwei vollwertige nationale Berufsabschlüsse zu erwerben. Was die Anzahl der Teilnehmer*innen an diesen umfassendsten Formen der grenzüberschreitenden Berufsausbildung betrifft, so spielen diese gegenüber weicheren Formen grenzüberschreitender berufsbildender Maßnahmen, wie Betriebspraktika, noch eine untergeordnete Rolle. Allerdings zeichnen sich die wenigen vollintegrierten grenzüberschreitenden Berufsausbildungsgänge durch große Stetigkeit in ihrer Entwicklung aus (Dörrenbächer 2018; Funk et al. 2020). Schließlich stellen die Vereinbarungen in ihrer Gesamtheit durch die Breite der ermöglichten Maßnahmen beruflicher Ausbildung die Basis für die Entstehung einer integrierten Berufsbildungsregion Großregion dar (Abb. 5). Neben diesen Rahmenvereinbarungen wurden in der Großregion in den Jahren 2014 bis 2018 weitere sieben Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung auf den Weg gebracht. Diese betreffen vor allem berufsvorbereitende

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Maßnahmen, wie Betriebspraktika in einer ausländischen Nachbarregion innerhalb der Großregion. Dabei kooperieren unterschiedlichste Akteure miteinander, wie Schulen, Kammern, Unternehmen und unterschiedliche Bildungsträger. Eine große Rolle nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die langfristige Entwicklung der Großregion zu einer grenzüberschreitenden Berufs(aus)bildungsregion spielen Initiativen und Projekte, welche (durch begleitete Vor- und Nachbereitung) strukturierte Berufspraktika im Nachbarland für Schüler*innen oder für Auszubildende in einem nationalen Berufsausbildungsgang anbieten. Nachfolgend werden beispielhaft für Aktivitäten auf diesem Gebiet die FagA (Fachstelle für grenzüberschreitende Ausbildung) und EcoSop (Économie et stage observatoire – Ökonomie und Schülerorientierungspraktikum) genannt. Bereits von 2009 bis 2013 hat die von der IHK Saarland und dem Verband der Metall- und Elektroindustrie Saarland getragene Verbundausbildung Untere Saar (VAUS) im Rahmen des JOB-STARTER Programms des BMBF und des vom ESF (vgl. BMBF 2017) realisierten Projekts „PontSaarLor“ (Robichon und Schwarz 2011; VAUS 2012) und mit der im Januar 2013 eingerichteten Fachstelle für grenzüberschreitende Ausbildung über 150 französische und vier deutsche Praktikanten vermittelt (Saarland 2013; Interview Alexandra Schwarz (VAUS), 26.07.2015). Zwischen 2013 und 2016 hat VAUS rund 200 Praktika und Ausbildungsabschnitte, davon die meisten von Lothringen Richtung Saarland, vermittelt und begleitet. Seit Juli 2016 vermittelt, organisiert und begleitet die FagA als gemeinsames Projekt der Partner VAUS, Rektorat der Académie Nancy-Metz, Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes und Eurodistrict SaarMoselle im Rahmen des Programms INTERREG 5 A Großregion Betriebspraktika für lothringische und saarländische Jugendliche im Nachbarland. In den ersten beiden Projektjahren wurden 144 Informationsveranstaltungen mit 1.784 Jugendlichen in lothringischen Schulen und 174 Informationsveranstaltungen mit 3.086 Jugendlichen im Saarland und in der Westpfalz durchgeführt. In der gleichen Zeit haben 111 lothringische und 37 deutsche Jugendliche ein grenzüberschreitendes Praktikum bzw. einen grenzüberschreitenden Ausbildungsabschnitt absolviert. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Nancy wurden darüber hinaus weitere grenzüberschreitende berufsbildende Maßnahmen durchgeführt (Großregion 2019; Nienaber et al. 2020). EcoSop, eine Initiative des deutsch-luxemburgischen Schengen-Lyceum im saarländischen Perl, der ANEFORE (luxemburgischen Agentur für europäische Ausbildung), der französischen Berufsschule für Management- und Dienstleistungsberufe Le Rebours, des Zentrums für Aus- und Weiterbildung des Mittelstandes im belgischen St. Vith, des französischen Einzelhandelsunter-

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nehmen Printemps, der Volkssbank Untere Saar eG sowie des Landkreises Merzig-Wadern, bietet mit finanzieller Unterstützung aus dem EU-Programm Erasmus + derzeit 45 Schüler*innen im Alter von 16 und 17 Jahren durch ein mehrwöchiges vor- und nachbereitetes Betriebspraktikum in Nachbarland einen Einblick in die Arbeitswelt des Gastlandes (EcoSop 2020). Eine Zwischenstellung zwischen diesen eher kurzzeitigen Aktivitäten der FagA und der EcoSop und den vollintegrierten Berufsausbildungsgängen nehmen die zahlreichen Kooperationen zwischen Berufsschulen, Kammern und Betrieben, wie z. B. der deutsch-französische Berufsschulzweig im Bereich Automobil des Lycée Professionnel Régional André Citroën in Marly bei Metz und des Berufsbildungszentrums St. Ingbert (Saarland) ein. Dieser fördert die Mobilität der Auszubildenden etwa durch verstärkten (Fach-)Unterricht in der jeweiligen Partnersprache, Fachaustausche und Praktika in Betrieben des Partnerlandes, Lern-Tandems, welche von den jeweiligen Kammern bescheinigt werden und zum Erwerb des Euro-Passes beruflicher Ausbildung führen. Zusätzlich zu 15 sehr unterschiedlichen Maßnahmen (Rahmenvereinbarungen, Initiativen, Netzwerken, Projekten) der grenzüberschreitenden Berufsausbildung seit 2014 werden in der Großregion aktuell weitere sieben Maßnahmen zur Weiterbildung, fünf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und drei flankierende Maßnahmen mit Bezug zur beruflichen Bildung gemeinsam von Akteuren aus mindestens zwei Staaten gemeinsam durchgeführt (Großregion 2019). Diese Maßnahmen wurden zwar nicht unmittelbar durch die zuvor angesprochenen Rahmenvereinbarungen initiiert oder ermöglicht, ihre Sichtbarkeit wurde jedoch durch die Kommunikation grenzüberschreitender Berufsbildungsmaßnahmen im Rahmen der Umsetzung der RVGR erhöht.

7 Fazit: Regionen-Bildung durch Maßnahmen zur Reduzierung und Überbrückung institutionell-kultureller Distanz im Bereich der Berufsausbildung Die vorangegangenen Ausführungen konnten zeigen, dass die Großregion auf der Grundlage der Mitte der 2010er Jahre geschlossenen RVGR und weiterer bi- oder multilateraler Vereinbarungen sowie einer großen Zahl spezifischer Maßnahmen der beruflichen Bildung sich auf dem Weg zu einer grenzüberschreitenden Berufs(aus)bildungsregion befindet. Es konnte ferner gezeigt werden, dass die Konstituierung einer solchen grenzüberschreitenden Region auf grenzüberschreitenden Beziehungen, d. h. auf sozialen Aktivitäten und Prozessen basiert.

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Deren Umsetzung wiederum ist abhängig von der passenden Kombination aus geographischer Distanz, ökonomischer und demographischer sowie institutionell-kultureller Similarität und Diversität – hier ebenfalls als Distanz bezeichnet. Dabei spielt insbesondere die Reduzierung und Überbrückung der institutionell-kulturellen Distanzen eine essenzielle Rolle. Gerade die in der Großregion geschlossene RVGR sowie die anderen bi- und multilateralen Vereinbarungen zur Berufsbildung stellen aufgrund ihres dezidiert experimentellen Charakters und der weiten und flexiblen Rahmensetzung eine Grundlage für zivilgesellschaftliche Diskurse dar, durch welche bisher bestehende institutionellkulturelle Distanzen im Bereich der beruflichen Bildung reduziert und überbrückt werden können. Fazit: Durch den Brückenschlag zwischen unterschiedlichen institutionell-kulturellen Arrangements, welche entsprechend dem Titel des ­ Sammelbands auch als „Ordnungen“ bezeichnet werden können, werden neue Bildungs-Räume und neue „Geographien der Grenze“ geschaffen.

Literatur AGBSL ‒ Abkommen über grenzüberschreitende Berufsausbildung Saarland- Lothringen gemäß Artikel 5 der Rahmenvereinbarung für die Kooperation in der grenzüberschreitenden beruflichen Aus- und Weiterbildung. Saarland – Lothringen/Accord relatif à l’apprentissage transfrontalier Sarre ‒ Lorraine, vom 20. Juni 2014. https://www. saarland.de/dokumente/thema_europa/Rahmenvereinbarung_und_Abkommen.pdf. Zugegriffen: 8. Apr. 2020. ASKO Europa -Stifung/Europäische Akademie Otzenhausen (2015). 17. ­Deutsch-Französischer Dialog Leben in (europäischen) Grenzregionen „Mobilität und grenzüberschreitender Arbeitsmarkt. Aktuelle Tendenzen und Herausforderungen der Zukunft“. 17.–19.06.2015. https://www.asko-europa-stiftung.de/fileadmin/user_upload/ AES/Dokumente/Diskussionsbericht2015_de.pdf. Zugegriffen: 23. Apr. 2020. Bae, J.-H. & Salomon, R. (2010). Institutional Distance in International Business Research. In T. Devinney, T. Pedersen & L. Tihanyi (Hrsg.), The Past, Present and Future of International Business & Management (Advances in International Management, Vol. 23). (S. 327–349). Bingley: Emerald Group Publishing Limited. https://doi.org/10.1108/ S1571-5027(2010)00000230020. Bartsch, T.-C. (2013). Brügge-Kopenhagen-Prozess. In M. Große Hüttmann & H.-G. Wehling (Hrsg.), Das Europalexikon. Bonn: Dietz (zugleich: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176727/bruegge-kopenhagen-prozess). Zugegriffen: 8. Apr. 2020. Belkacem, R., Dörrenbächer, H. P. & Pigeron, I. (2018). Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung in der Großregion: Differenzierte Wirtschaftsentwicklung und Wirkungen der grenzüberschreitenden Beschäftigung/Emploi et développement économique au sein de la Grande Région: développement économique différencié et impacts de l’emploi transfrontalier. UniGR-CBS Working Paper, Vol. 3 (Territorial Science Echo). https://

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Prof. Dr. H. Peter Dörrenbächer ist in der Fachrichtung Geographie – Kulturgeographie – an der Universität des Saarlandes tätig. Frühere Lehr- und Forschungstätigkeiten bestanden an der Universität Trier, dem Institut d’Études Politiques de Paris (Sciences Po Paris), der TU München und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Mitglied im Lenkungsausschuss des Center for Border Studies der Universität der Großregion (UniGR), Verantwortlicher für den trinationalen UniGR-Masterstudiengang Border Studies und Mitglied im Städtebaubeirat der Landeshauptstadt Saarbrücken.

Governance und (Un-)Ordnungen der Grenzen

Zur Konstitution multipler Borderlands im Zuge der Frankreichstrategie des Saarlandes Nora Crossey und Florian Weber

Zusammenfassung

Im Jahr 2014 stellte die saarländische Landesregierung die ‚Frankreichstrategie‘ vor, die der Lage des Landes an der Grenze zu Frankreich Rechnung trägt und mit der in den nächsten Jahrzehnten ein mehrsprachiger Raum deutsch-französischer Prägung geschaffen werden soll. Auch wenn dem Saarland von außen durchaus weitreichende französische Sprachkompetenzen zugeschrieben werden, so sieht der Alltag doch anders aus, womit die gesetzten Ziele ambitioniert und komplex ausfallen. Allerdings wäre es ein Irrtum, mit der Frankreichstrategie eine umfängliche Sprachkompetenz zu verbinden. Vielmehr geht es darum, sich in der jeweiligen Sprache des anderen Landes ‚alltagstauglich‘ verständigen zu können. Der Artikel nähert sich der Thematik aus der Perspektive der Border Studies an und untersucht, wie in der Berichterstattung der regionalen Tageszeitung Saarbrücker Zeitung die verfolgten Ziele eingeordnet werden und wie sich die medialen Bewertungen mit dem aktuellen Fortschrittsbericht der saarländischen Landesregierung in Beziehung setzen lassen. Es zeigt sich, dass die Konstitution eines über das Saarland hinausgehenden Verflechtungsraumes, eines Borderlands, in der Berichterstattung gerade entlang wirtschaftlicher Aspekte erfolgt, mitunter aber auch in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen, wobei differierende räumliche Zuschnitte und Steuerungsebenen N. Crossey (*) · F. Weber  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Weber E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_7

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adressiert werden. Aus konzeptioneller Perspektive deuten sich so multiple Borderlands unterschiedlicher Reichweite und mit Bezug auf unterschiedliche administrative Ebenen an.

1 Einleitung: die Frankreichstrategie des Saarlandes im grenzregionalen Kontext Mit der Vorstellung einer ‚Frankreichstrategie‘ hat die saarländische Landesregierung im Jahr 2014 für Aufsehen gesorgt. Die Vision und Zielsetzung der Strategie besteht auf saarländischer Seite darin, innerhalb einer Generation Anstrengungen zu unternehmen, dass ein „leistungsfähiger mehrsprachiger Raum deutsch-französischer Prägung“ entsteht (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 4). Enthalten sind Elemente, die sowohl auf eine Orientierung nach innen als auch eine nach außen – die saarländische Landesgrenze als Distinktionsund Differenzierungsmechanismus – abzielen, wobei die d­eutsch-französische Kompetenz einen ‚Markenkern‘ darstellt. So entsteht auch die Grundlage dafür, eine Behauptung im „Wettbewerb der Grenzregionen“ (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 2) ermöglichen zu wollen. Dies bedarf Anstrengungen innerhalb des Saarlandes und gleichzeitig eines forcierten Austausches im grenzüberschreitenden Kontext, was die Anerkennung der „Komplementarität des Grenzraums“ einschließt (Funk und Niedermeyer 2016, S. 172). Positive Resonanz auf die Strategie fand sich bei französischen Nachbar*innen ebenso wie bei politischen Entscheidungsträger*innen in Berlin und darüber hinaus (Landesregierung des Saarlandes 2019, S. 1; Marcowitz 2017). In einer Mitteilung der Europäischen Kommission (2017, S. 13) an den Rat und das Europäische Parlament wurde die Frankreichstrategie als europäisches Referenzvorhaben hervorgehoben. Bis heute bringen allerdings nationalstaatliche Grenzen Herausforderungen mit sich, die beispielsweise auch administrative Hürden bedeuten können (Conseil régional du Grand Est 2018; Europäische Kommission 2017, S. 6, 11). Im Rahmen der Landespressekonferenz anlässlich der Präsentation der Frankreichstrategie des Saarlandes am 21. Januar 2014 sprach die stellvertretende Ministerpräsidentin des Saarlandes, Anke Rehlinger, von einem „gewachsene[n] Bewusstsein, dass die formale Grenze, die es noch gibt zwischen Deutschland und Frankreich, weniger im Sinne einer Trennlinie als vielmehr auch als einer Schweißnaht verstanden werden kann und verstanden werden sollte“ (Landes-

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regierung des Saarlandes 2014b, 2:39). Dieses Zitat illustriert beispielhaft mehrere grundlegende Konsense aktueller sozialwissenschaftlicher Grenzraumforschung (einf. bspw. Newman 2006; Rumford 2006, 2013; Wastl-Walter 2011): Zum einen unterstreicht es die Relevanz unterschiedlicher Wahrnehmung(en) von Grenze(n) u. a. durch die Bevölkerung, die nicht (notwendigerweise) kongruent mit ‚formalen‘ nationalstaatlichen Grenzen ausfallen muss/müssen. Zum anderen sind diese Wahrnehmungen – als soziale Konstrukte – durchaus einem Wandel unterworfen, der durch politische Maßnahmen begleitet, aber auch befördert werden kann (vgl. allg. u. a. Pallagst et al. 2018b). Die Frankreichstrategie (Landesregierung des Saarlandes 2014a 2015, 2016, 2020; siehe im Überblick Tab. 1) kann als ein solcher Versuch gedeutet werden, negativen Aspekten der nationalstaatlichen Grenze als ‚Trennlinie‘ im sprachlichen, administrativen und ökonomischen Bereich entgegenzuwirken und gleichzeitig die Wahrnehmung der Grenze als ‚Schweißnaht‘ und damit als Übergangsbereich zu befördern. Die rezenten Bestrebungen sind wiederum nicht ohne Vorläufer – sie lassen sich durchaus als Fortführung einer Tradition der grenzüberschreitenden Kooperation des Saarlandes mit seinen Nachbarn deuten (vgl. Hüser 2017; Uterwedde 2017). Obwohl sich die Frankreichstrategie „in erster Linie auf die Aktivitäten und die Koordinierung staatlicher Stellen bezieht“, geht es „ebenso […] darum, die vielfältigen lothringischen Partner […] miteinzubinden und [sie] insgesamt mit den grenzüberschreitenden Aktivitäten in der Großregion SaarLorLux zu verzahnen“ (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 4). Im Zentrum der grenzüberschreitenden Kooperation zwischen dem Saarland und seinen unmittelbaren Nachbarregionen jenseits der Grenze – die région Lothringen (heute ein Teil der région Grand Est, vgl. dazu bspw. Harster und Clev 2018) und Luxemburg – standen in den Nachkriegsjahren insbesondere die Verflechtungen bei Kohle und Stahl. In den weiteren Jahrzehnten kamen im Falle des Saarlandes und Lothringens weiterhin die besonderen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen peripherer Grenzregionen im Zuge des Strukturwandels hinzu. Nach der Wiedereingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 führten die Gespräche der regionalen Interessensvertreter*innen zur Einrichtung der ‚Gemischten ­deutsch-französisch-luxemburgischen Regierungskommission für die Zusammenarbeit im Montandreieck‘ (1971) und zur Einrichtung der ‚Regionalkommission SaarLorLux-Trier/Westpfalz‘ als ausführendes Organ (Dörrenbächer 2015; ­ Helfer 2015; Wille 2011). In den 1980er Jahren erweiterte sich die Zusammenarbeit der Regionen im Rahmen der Regionalkommission, die sich bis dahin primär mit der Entwicklung eines zukunftsfähigen Arbeitsmarktes in der Region

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befasst hatte, um „Tätigkeiten von gemeinsamem Interesse, insbesondere auf administrativem, technischem, sozialem, wirtschaftlichem oder kulturellem Gebiet, die zur Festigung und Entwicklung der nachbarschaftlichen Beziehungen geeignet sind“, aufzunehmen (Bundesministerium des Auswärtigen 1980, S. 1427). Ab den 1990er Jahren eröffneten sich im Zuge der Reform der EUStrukturfonds neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit für kommunale und regionale Akteure (siehe grundlegend Hooghe und Marks 2002, 2003), konkret immer stärker mit Projekten über INTERREG-Fördermittel für die Großregion1 (EVTZ-Verwaltungsbehörde INTERREG V A Großregion 2020; allg. bspw. Pallagst 2018). So entstand über die Jahre eine Vielzahl grenzüberschreitender Kooperationsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im legislativen (z. B. Interregionaler Parlamentarierrat), sozioökonomischen (z. B. Interregionaler Gewerkschaftsrat) und zivilgesellschaftlichen Bereich, die sich von der nationalstaatlichen auf die regionale und seit den 1990er und 2000er Jahren zunehmend auch auf die kommunale Ebene ‚verlagerte‘ (vgl. Hüser 2017; Wille 2011). Seit den 2000er Jahren lässt sich, so Wille (2011), nunmehr eine weitere Verstetigung, Differenzierung und Professionalisierung der Zusammenarbeit auf der kommunalen Ebene beobachten, was auch Bemühungen in Richtung einer regionalen Bewusstseinsbildung einschließt (vgl. auch Schönwald 2012). Vor diesem Hintergrund stellt sich die übergeordnete Frage, wie sich die Frankreichstrategie im grenzregionalen Kontext bewerten lässt bzw. konkreter aus der Perspektive der Border Studies (vgl. dazu auch Weber et al. 2020 in diesem Band), welche Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen dabei (de)konstruiert und (re)produziert werden. Der methodische Zugriff auf diese Frage erfolgt ausgehend von den Veröffentlichungen der saarländischen Landesregierung über eine Analyse der Berichterstattung zur (Umsetzung der) Frankreichstrategie durch die Saarbrücker Zeitung als regionales Leitmedium sowie als Kontrastierung dazu über die Auswertung des neuesten Fortschrittsberichts der saarländischen Landesregierung, der so genannten ‚feuille de route III‘. Heuristische Leitfragen

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‚Großregion‘ setzt sich als politisch-räumliches Konstrukt aus den Teilregionen Saarland und Rheinland-Pfalz, Lothringen, dem Großherzogtum Luxemburg sowie der Wallonie, der Fédération Wallonie-Bruxelles und der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien zusammen. Im Zuge der französischen Gebietsreform ist die Region Lothringen 2016 in die neu geschaffene Region Grand Est integriert worden. Sie wirkt aber bis heute nach, da operativ weiterhin für die Großregion nur das Gebiet der ehemaligen Region Lothringens berücksichtigt wird.

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sind hierbei: Welche Grenz(wirkung)en werden adressiert, für welchen (­Grenz-) Raum wird der Frankreichstrategie eine Wirkung zugesprochen (als ‚Geographien der Grenzen‘) und welche Rolle(n) werden hier regionalen, kommunalen und nationalstaatlichen Akteuren dies- und jenseits der Grenze zugeschrieben? Im folgenden Abschnitt wird zunächst die theoretische und methodische Annäherung erläutert. Danach erfolgt eine Übersicht über die Erkenntnisse aus der empirischen Analyse der Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung, gefolgt von einer Gegenüberstellung ebenjener mit der im Januar 2020 erschienenen dritten ‚feuille de route‘. Der Artikel endet mit einem Ausblick hinsichtlich zu vertiefender Forschungsbedarfe zugunsten einer multi level-cross-border governance und sich konstituierender variabler Borderlands (in Anschluss an Anzaldúa 2012; vgl. auch Brunet-Jailly 2011; Iossifova 2019; Pavlakovich-Kochi et al. 2004) im grenzüberschreitenden Kontext.

2 Theoretischer Hintergrund und methodische Annäherung 2.1 Theoretischer Hintergrund: Grenzen – Grenzziehungen – Borderlands Grenzen sind Ausdruck historisch gewachsener politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen und Machtkonstellationen (vgl. Popescu 2012), die keineswegs ‚unumstößlich‘ gegeben sind. Insbesondere seit den 1990er Jahren hat sich aus konstruktivistischer Perspektive vor diesem Hintergrund die Aufmerksamkeit zunehmend auf den (Re)Produktionsaspekt und den prozesshaften Charakter von Grenzen als Praktiken der ‚Grenzziehung‘ (,bordering practices‘) gerichtet. Grenzen werden somit zunehmend als Prozesse mit sozialen, diskursiven und symbolischen Dimensionen verstanden, die Logiken der Regelung von Sachverhalten, Zugehörigkeiten und Zuständigkeiten (re) produzieren, (de)konstruieren oder verhandeln (vgl. z. B. Newman 2003, 2006; Paasi 1998, 2011; Rumford 2006, 2013; Wille 2015). Diese Konzeption von Grenzen versucht, deren Vielschichtigkeit, Mehrdimensionalität und Komplexität Rechnung zu tragen – so sind Grenzen nach Paasi (1998, S. 73) zu verstehen als „institutions, but they exist simultaneously on various spatial scales in a myriad of practices and discourses included in culture, politics, economics, administration or education.“ Diese ‚Praktiken und Diskurse‘ sind wiederum die Akte, in denen bzw. durch die Grenzen – als Differenzierung zwischen einem innen und außen, oben und unten, eigen und fremd (vgl. Morehouse 2004, S. 20)

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– ‚gezogen‘ oder auch ‚verschoben‘ werden (können) (siehe auch Agnew 2008; Brunet-Jailly 2011; van Houtum et al. 2005; van Houtum und van Naerssen 2002). Im Kontext von Grenzregionen an nationalstaatlichen Rändern – so also auch im Saarland – geht es darum, danach zu fragen, welche unterschiedlichen Differenzierungen welche Relevanz erlangen. Grenzen können hier sowohl einschränkend als auch ermöglichend wirken, gerade also auch zu Interaktionsräumen führen (in Anschluss an Doll und Gelberg 2014; Iossifova 2019; Paasi 2012, S. 2307). Insbesondere angesichts einer gerade nach dem ‚Fall des Eisernen Vorhangs‘ postulierten ‚borderless world‘ (Ohmae 1999; siehe auch Paasi et al. 2019) und dem (scheinbaren) Schwinden der Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen im Zuge einer fortschreitenden europäischen Integration (vgl. Morehouse 2004), gilt es zu klären, wo, wie und warum praktische und diskursive Grenzziehungen Wahrnehmungen von Zugehörigkeit und Exklusion, von eigen und fremd (re)produzieren und letztlich auch Handlungsrahmen und -räume beeinflussen. Grenzräume lassen sich hier im Sinne von „borderlands [as] spaces where the everyday realities of boundaries are played out“ (Morehouse 2004, S. 19) fassen – also als Übergangsbereiche in multiplen Grenzlagen, wobei gerade das Konzept von Borderlands für die Ausleuchtung von Verflechtungen und Interdependenzen fruchtbar gemacht werden kann (Anzaldúa 2012; Banerjee und Chen 2013; Boesen und Schnuer 2017; Iossifova 2019; Pavlakovich-Kochi et al. 2004; vgl. auch Biemann und Weber 2020 in diesem Band). Dieses Konzept lässt sich mit der Frage nach Steuerungsmöglichkeiten verknüpfen, d. h. einer cross-border governance (Evrard und Schulz 2015, S. 84; Fricke 2014, S. 63; allg. auch Ulrich 2020 in diesem Band), bei der „zusätzlich zum vertikalen Gefüge die zwischenstaatliche (horizontale) Ebene“ Berücksichtigung findet (Pallagst et al. 2018a, S. 33), also nicht nur die nationale Mehrebenen-Governance betrachtet wird, sondern gerade auch ‚Grenzüberschreitungen‘ auf verschiedenen politisch-administrativen Ebenen (dazu auch Berr et al. 2019, S. 40–46).

2.2 Methodische Annäherung: Inhaltsanalytisches Vorgehen „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1996, S. 5). Hieraus resultiert das zweifach begründete Interesse an der Berichterstattung rund um die

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­ rankreichstrategie. Denn zum einen ist die Saarbrücker Zeitung, die im SaarF land eine Auflage von rund 120.000 Exemplaren hat und etwa fünfzig Prozent der hiesigen Bevölkerung erreicht (Saarbrücker Zeitung Verlag und Druckerei GmbH 2019, S. 6 und 11), das regionale Leitmedium, über das sich Bewohner*innen des Saarlandes neben dem Saarländischen Rundfunk auf zentrale Weise über landesbezogene Themen informieren. (Diskursive) Grenzziehungen im Rahmen der Berichterstattung wirken also prägend auf die Wahrnehmung der Leser*innenschaft sowohl in Bezug auf die Frankreichstrategie im Speziellen als auch die grenzüberschreitende Kooperation im Allgemeinen. Zum anderen lässt sich über eine Betrachtung der Berichterstattung auch gesellschaftlich und medial verfestigten und geteilten Wahrnehmungen der Grenze(n) und des saarländisch-lothringischen Grenzraumes in seiner Beeinflussung durch die Grenze(n) nachspüren. In der Frankreichstrategie werden explizit die tragende Rolle und die Potenziale regionaler Medien, die durch entsprechende Berichterstattung die Öffentlichkeit von der Frankreichstrategie überzeugen und strategisch die „französische Prägung“ des Saarlandes vertiefen und ausbauen könnten, adressiert (vgl. Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 26–28). Auch Vatter (2017, S. 194) verweist auf diese Rolle, denn ein zentrales Anliegen der Frankreichstrategie sei die „Stärkung und Motivierung der Akteure der deutsch-französischen Zusammenarbeit sowie [die] Förderung eines Verständ­ nisses der Grenzlage und deutsch-französischen Geschichte des Saarlandes als Stärke und Kompetenz – im Sinne eines ‚empowerment‘“. Die Grundlage unserer inhaltsanalytischen Analyse in Anschluss an Mayring (2008) bilden online zugängliche Artikel der Saarbrücker Zeitung. Mithilfe einer Stichwortsuche (,Frankreichstrategie‘ und ‚Frankreich-Strategie‘) wurde ein Korpus von 84 Zeitungsartikeln aus dem Zeitraum vom 23. Januar 2013 bis 14. Februar 2020 zusammengestellt und chronologisch als ­SZ01-2013-01-23 bis SZ84-2020-02-14 systematisiert. Die Analyse der Artikel erfolgte in induktiv-deduktiven Schleifen mit der Software MaxQDA, um Grenzziehungen – bordering processes – und die Konstitution von Borderlands auszudifferenzieren. Unser Erkenntnisinteresse gilt somit den Konstruktionen des räumlichen und institutionellen (Grenz-)Raumes, der sich von der Frankreichstrategie ausgehend ‚aufspannt‘. In einem zweiten Schritt wurden Grenzziehungen in der medialen Berichterstattung mit jenen der Frankreichstrategie, genauer dem aktuellen Fortschrittsbericht, der ‚feuille de route III‘ (Landesregierung des Saarlandes 2020), verglichen. Zentrale Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

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3 Zur Konstitution unterschiedlicher Borderlands im Zuge der Frankreichstrategie 3.1 Räumliche Bezugnahmen in der Frankreichstrategie Das häufig zitierte, primäre Ziel der Frankreichstrategie besteht in der Schaffung eines „mehrsprachigen Raum[es] deutsch-französischer Prägung“ (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 6), ausgehend davon, dass die „Erwartungen an eine echte grenzüberschreitende Region“ bis dato noch nicht erfüllt seien (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 5). Hieraus entstanden in den ersten Monaten der Umsetzung ausgeprägte Diskussionen um Ansprüche und Formen von Mehrsprachigkeit (siehe dazu Krämer 2017; Universität des Saarlandes und Ministerium für Bildung und Kultur 2019), die sich auch in begleitenden Veröffentlichungen zur Frankreichstrategie widerspiegeln (siehe Tab. 1). Neben der Sprachförderung besteht ein weiterer zentraler Aspekt der Frankreichstrategie, der zugleich als Voraussetzung für ihr Gelingen und als ein (untergeordnetes) Ziel gerahmt wird, in der Beteiligung der „vielfältigen lothringischen Partner“ auf der einen Seite und der Verzahnung „mit den grenzüberschreitenden Aktivitäten in der Großregion SaarLorLux“ auf der anderen (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 4). Weiterhin werden eine „gestärkte Ausstrahlung [der] Region als deutsch-französisches Kompetenzzentrum im internationalen Kontext“ (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 2) sowie mehr „Präsenz auf nationaler Ebene, insbesondere in den Hauptstädten“ (Landesregierung des Saarlandes 2014a, S. 7) als Zielsetzungen aufgeführt. In den Zielen der Frankreichstrategie werden also verschiedene Wirkungsräume benannt: das Saarland selbst, in dem in verschiedenen Bereichen und über verschiedene Maßnahmen eine ‚Frankreichkompetenz‘ gefördert werden soll, weiterhin die ehemalige région Lothringen (seit 2016 in die région Grand Est integriert), die Großregion sowie die nationale und internationale Ebene. In welcher Form spiegeln sich diese nun in der Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung wider?

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Tab. 1   Wegmarken im Kontext der Frankreichstrategie des Saarlandes. (Quelle: Eigene Zusammenstellung) Datum

Ereignis

Quelle

Januar 2014

Verkündung der Frankreichstrategie des Saarlandes

Landesregierung des Saarlandes (2014a)

Januar 2015

Veröffentlichung der ersten ‚feuille de route‘ für die Jahre 2015 und 2016

Landesregierung des Saarlandes (2015)

Oktober 2015

Ankündigung der „Stratégie Allemagne Conseil régional de Lorraine de la Lorraine“ (2015)

Januar 2016

Legifrance (2015) Territorialreform in Frankreich: die ehemalige région Lorraine bildet zusammen mit den ehemaligen régions Alsace und Champagne-Ardenne die neue région Grand Est

Oktober 2016

Veröffentlichung der ‚feuille de route II‘ für die Jahre 2017 bis 2019

Landesregierung des Saarlandes (2016)

Dezember 2018

Veröffentlichung der „Orientations stratégiques transfrontalières de la Région Grand Est: Vers un espace européen de développement unique“

Conseil régional du Grand Est (2018)

Januar 2019

Bundesrepublik Deutschland Unterzeichnung des Aachener Verund Französische Republik trages zwischen der Bundesrepublik (2019) Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration

Januar 2019

Veröffentlichung des „Sprachenkonzept Universität des Saarlandes Saarland 2019“ als Überarbeitung des und Ministerium für Bildung und Kultur (2019) „Sprachenkonzept Saarland 2011“ unter Berücksichtigung der Ziele der Frankreichstrategie

2019

Veröffentlichung von Zwischenergeb- Landesregierung des Saarnissen der Frankreichstrategie, bezogen landes (2019) auf die Jahre 2015 bis 2019

Januar 2020

Veröffentlichung der ‚feuille de route III‘ für die Jahre 2020 bis 2022

Landesregierung des Saarlandes (2020)

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3.2 Das Saarland, das département Moselle und Lothringen als eine zusammengewachsene Grenzregion? In der Betrachtung der Frankreichstrategie-Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung zu Bezugnahmen auf Lothringen und das département Moselle treten primär wirtschaftliche Vorteile für saarländische Unternehmen und den saarländischen Einzelhandel, die von den französischen Nachbar*innen profitieren, in den Vordergrund. Zudem geht es um saarländische Bürger*innen, die jenseits der Grenze einkaufen wollen, d. h. sich etablierende grenzüberschreitende Verflechtungen (so z. B. in SZ06-2014-01-23, SZ11-2014-01-27, S ­ Z82-2020-01-28). Über Kooperationen zwischen lothringischen und saarländischen Akteuren als Kooperation in beiderseitigem Interesse bzw. „auf Augenhöhe“ wird deutlich seltener berichtet und hier beinahe ausschließlich anhand bereits bestehender Projekte (so u. a. in SZ13-2014-02-01, SZ14-2014-02-04, SZ15-2014-02-011, SZ82-2020-01-28). Die wirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen dem Saarland und Lothringen werden in hohem Maße vor dem Hintergrund der höheren Arbeitslosigkeit in Lothringen auf der einen Seite und dem Fachkräftemangel im Saarland auf der anderen Seite ‚erzählt‘. Die Förderung von Zweisprachigkeit im Saarland „senke […] die Schwelle [für Menschen aus Lothringen], um als Kunde oder Arbeitskraft ins Saarland zu kommen“ resümiert ein Artikel (SZ06-2014-01-23) die Reaktion der Industrie- und Handelskammer (IHK) des Saarlandes auf die Verkündung der Frankreichstrategie. Ein anderer Artikel (SZ84-2020-02-14) fasst wie folgt zusammen: „[D]er Regionalverband [scheint] prädestiniert für die Förderung der Bilingualität zu sein. Viele saarländische Firmen haben ein zweites Standbein in Frankreich, Tausende Franzosen pendeln jeden Tag über die Grenze (zur Thematik des Grenzpendels siehe auch Heugel und Chilla 2020 in diesem Band). Auch wegen der vielen Besucher aus dem Nachbarland, die nach Saarbrücken zum Shoppen kommen, lohnen sich gute Französisch-Kenntnisse für den Handel und die Gastronomie.“ Bildungsministerin Streichert-Clivot warnt entsprechend „davor, Englisch und Französisch gegeneinander auszuspielen, weil das Französische für viele Menschen in der Grenzregion eine Rolle spielt, vor allem auf dem Arbeitsmarkt“, bezweifelt allerdings, ob das „Ziel der Zweisprachigkeit“ auch „realistisch“ sei (SZ77-2019-11-04). Für Staatssekretär Roland Theis wird es in Reaktion hierauf zu einer „Frage der Prioritätensetzung“, eine „mehrsprachige Region“ zu forcieren (SZ78-2019-11-05) – passend dazu, dass bereits im Dezember 2018 eine neue Agenda angekündigt

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wurde, um „mehr Begeisterung“ für die Ziel der Frankreichstrategie zu schaffen (SZ50-2018-12-07). Die ‚geteilten Herausforderungen‘ des Strukturwandels, ­ die noch zu Beginn der interregionalen Kooperation das Saarland, Lothringen und Luxemburg zu einer Art ‚Schicksalsgemeinschaft‘ zusammenschweißten, werden in der Berichterstattung lediglich einmal als Hintergrund und Motivation intensivierter Kooperationen angeführt, die jedoch nicht primär als Maßnahmen der Frankreichstrategie verstanden werden: „Sowohl das Saarland als auch die Region Grand Est sind vom Strukturwandel betroffen. Umso begrüßenswerter sind Projekte wie der Technologie-Park, die darauf abzielen, diese Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Der Kern der Frankreich-Strategie bleibt aber nach wie vor der Spracherwerb“ (SZ83-2020-28-01). Chancen der Frankreichstrategie werden dementsprechend gerade mit dem Spracherwerb als eine Möglichkeit verbunden sprachliche Grenzen zu überwinden, um darüber zukünftig Erleichterungen erreichen zu können (zur Sprachthematik vgl. u. a. auch Trépos et al. 2016). Ein bordering und gleichzeitig die Konstitution eines über das Saarland hinausgehenden Borderlands in der Berichterstattung erfolgen also primär entlang wirtschaftlicher Aspekte, womit eine gewisse Hierarchisierung und auch Priorisierung der Räume (und ihrer Interessen) entlang des Gefälles der wirtschaftlichen Stärke bzw. Schwäche einhergeht. Diesem Schema der Grenzziehung werden jedoch auch punktuelle Berichterstattungen an die Seite gestellt, die Differenzierungen oder Alternativen anbieten. Dies geschieht durch die Thematisierung von Kooperationen zwischen saarländischen und lothringischen Akteuren, die im beiderseitigen Interesse und ‚auf Augenhöhe‘ durchgeführt werden. So ist bspw. „grenzüberschreitende Zusammenarbeit [zwischen den Polizeibehörden] gang und gäbe. […] Grenznahe Dienststellen, wie etwa die Polizeiinspektion Merzig und die ‚Gendarmerie Nationale‘ in Rettel tauschen sich häufig aus. Auch gemeinsame Einsätze, etwa Verkehrskontrollen, sind hier an der Tagesordnung“ (SZ14-2014-02-04). An anderen Stellen wird über den Austausch von Lehrpersonal zwischen weiterführenden Schulen in St. Ingbert und Sarreguemines (SZ15-2014-02-11) oder Beziehungen zwischen saarländischen und lothringischen Kindertagesstätten im Rahmen bilingualer Sprachangebote (SZ13-2014-02-01)) berichtet. Es wird damit durchaus auch auf grenzüberschreitende Interaktionsräume abgehoben, die sich über d­ebordering-Prozesse etabliert haben. Obgleich ein Borderland entlang wirtschaftlicher Aspekte mit einem gewissen Gefälle Saarland-Nachbarland das reproduzierte dominante ‚Schema‘ darstellt, konstituieren sich Borderlands gleichberechtigterer Kooperationen mit unterschiedlichen räum-

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lichen R ­ eichweiten in anderen Bereichen. Auffallend ist dabei die unterschiedliche Einbettung der Kooperationsbereiche in lokale, regionale oder nationale institutionelle Interessenslagen und unterschiedliche Restriktionen. So scheinen bspw. die Kooperationen zwischen grenznahen Polizeidienststellen weitgehend eigenständig ohne medial nennenswerte – politische, rechtliche oder administrative – Hürden zu verlaufen. Anders wird jedoch im Hinblick auf den Austausch von Lehrpersonal berichtet, bei dem – einer Schulleiterin zufolge – durch die Frankreichstrategie nicht nur „ideelle Unterstützung“ zu erfolgen habe, „sondern organisatorische und finanzielle Hürden aus dem Weg [zu] räumen [seien], [dann] wäre uns eine solche Kooperation auch heute wieder willkommen“ (SZ15-2014-02-11). Im Rahmen der Beziehungen zwischen saarländischen und lothringischen Kindertagesstätten wiederum werden die Kooperationen durch die finanzielle Unterstützung des AWO-Bundesverbandes und des Deutsch-Französischen Jugendwerkes ermöglicht (SZ13-2014-02-01). Es zeigt sich also, dass sich in den verschiedenen Handlungsfeldern durchaus unterschiedliche (grenzüberschreitende) Verflechtungen aufspannen, die verschiedene administrative Ebenen berühren oder umfassen können. Diese Verflechtungen betreffen jedoch nicht nur den ‚praktischen‘, sondern auch den ‚kommunikativen‘ Aspekt von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Dies wird besonders anhand der Berichterstattung anlässlich des Aachener Vertrages im Januar 2019 deutlich. Im Zuge der Unterzeichnung des Vertrages, der ein Kapitel der regionalen und grenzüberschreitenden Dimension widmet (siehe dazu Bundesrepublik Deutschland und Französische Republik 2019, Kap. 4), ist in der Berichterstattung von der „Grenzregion Saarland/ Moselle“ (SZ56-2019-01-20) die Rede, die Ministerpräsident Tobias Hans zufolge „zu einer Modellregion, zu einem Elysee-District zwischen Deutschland und Frankreich werden“ könne (SZ56-2019-01-20). Die saarländischen Landtagsfraktionen sprechen sich in diesem Zusammenhang durchgehend dafür aus, „dass die Grenzregion Saarland/Moselle zum Vorreiter der neuen Möglichkeiten werden soll, die der Freundschaftsvertrag eröffnen wird“ (ebenfalls ­SZ56-2019-01-20). Diese Akzentuierung einer in gewissem Maße zusammengewachsenen ‚Grenzregion‘ ist in der Berichterstattung vorher wenig vorhanden. Der Aachener Vertrag wurde damit von nationaler Ebene ausgehend zum Impulsgeber, um auf regionaler Ebene die Chancen der Grenzregion zu adressieren, also die weitergehende Konstituierung eines Borderlands zu befördern.

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3.3 Luxemburg und die Großregion Wenngleich die Frankreichstrategie in erster Linie die ‚französische Prägung‘ des Saarlandes (be)fördern möchte, so lohnt sich dennoch ein (kurzer) Blick auf Bezugnahmen im Hinblick auf Luxemburg – zum einen als Vergleichsfolie für Differenzierungen; zum anderen, da Luxemburg neben Lothringen und dem Saarland eine zentrale Teilregion der Großregion darstellt (hierzu allg. auch Wille 2020 in diesem Band). In der Berichterstattung zur Frankreichstrategie tritt mit Bezug auf Luxemburg insbesondere der Ausbau von Bahnverbindungen für Pendler*innen aus dem Saarland in den Vordergrund (z. B. SZ53-2019-01-02, SZ66-2019-29-04, SZ68-2019-07-10) womit bestehende Hürden im grenzregionalen Kontext adressiert werden. Zudem erhält auch die Konkurrenz Luxemburgs im Hinblick auf Mehrsprachigkeit als Standortfaktor Gewicht, denn „[z]weifellos wäre [Mehrsprachigkeit] ein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb der Bundesländer. Aber schon in der Großregion sieht dies anders aus. Viele Luxemburger beherrschen drei oder sogar vier Sprachen. In keinem Fall darf Englisch vernachlässigt werden, da diese Fremdsprache in Wirtschaft und Wissenschaft weltweit eine viel wichtigere Rolle spielt“ (SZ10-2014-01-25) – ein Bezug auch hier auf die Bedeutung der Sprach­ dimension im grenzüberschreitenden Kontext. Auf die so genannte ‚Großregion‘ als übergeordneten (Kooperations-)Raum wird nur selten Bezug genommen. Ulrich Commerçon, dem ehemaligen Minister für Bildung und Kultur, zufolge ist „die Großregion immer mehr […] ei[n] gemeinsame[r] Kultur und Lebensraum“ (SZ01-2013-01-23). Diese positive Beurteilung des bisherigen „Zusammen­ wachsens“ spiegelt sich auch in Teilen der Berichterstattung wider, bspw. anlässlich der Debatte um Verweise auf lothringische Sehenswürdigkeiten an saarländischen Schildern: „Richtig so. Dann profitiert auch Lothringen von den Gästen. Schließlich leben wir in einer Großregion“ (SZ25-2014-10-02). Dennoch bleiben Verweise auf die Großregion häufig recht abstrakt oder vage und werden selten weitergehend erläutert. Die anderen Teilregionen der Großregion (Wallonien und R ­ heinland-Pfalz) finden praktisch keine Erwähnung. Gerade themenbezogen wird in den Artikeln der Saarbrücker Zeitung mit Bezug auf die Frankreichstrategie entsprechend mitunter über das Saarland hinausgegangen, wobei Luxemburg zu einem Vorbild wird und die Großregion in begrenzter Form als Referenz fungiert, die positive Effekte grenzüberschreitenden Handelns zeigen kann. Die Großregion als Borderland mit vielfältigen Verknüpfungen und Verankerungen manifestiert sich so aber nur begrenzt.

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3.4 Grenzziehungen in der aktuellen ‚feuille de route III‘ Seit der Verkündung der Frankreichstrategie veröffentlicht die Landesregierung regelmäßig Fortschrittsberichte (,feuilles de routes‘), die auf Entwicklungsschritte in der Umsetzung von Maßnahmen verweisen sowie Zielsetzungen für die weitere Umsetzung definieren (Landesregierung des Saarlandes 2015, 2016, 2020; vgl. dazu auch Tab. 1). Ende Januar 2020 wurde die ‚feuille de route III‘ (Landesregierung des Saarlandes 2020) beschlossen, die nachfolgend vor dem Hintergrund der resümierten Berichterstattung auf mögliche Kongruenzen oder Diskrepanzen im Hinblick auf Grenzziehungen und Grenzräume betrachtet wird. Die ‚feuille de route III‘ benennt 15 Bereiche, in denen bereits Maßnahmen im Rahmen der Frankreichstrategie umgesetzt wurden bzw. in denen in den nächsten Phasen Maßnahmen verfolgt werden (sollen). Hierunter fallen resümiert Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft, Soziales, Mobilität, Umwelt, Kultur, Administratives und Kommunikation (siehe Landesregierung des Saarlandes 2020, S. 3). Bei deren Betrachtung wird deutlich, dass die Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung die avisierte grenzüberschreitende Ausrichtung der Frankreichstrategie bisher nur begrenzt widerspiegelt. So sind in der aktuellen ‚feuille de route III‘ in nahezu allen Bereichen Maßnahmen beschrieben, die forciert die Beteiligung französischer oder luxemburgischer Partner*innen als Zielsetzung benennen, also aktiv grenzüberschreitende Verflechtungen zu unterstützen suchen. Hier zeichnen sich auch grenzräumliche Präferenzen ab, die in Teilen in den Bereichen selbst begründet sind – so werden bspw. im Bereich der primären und sekundären Bildung insbesondere Kooperationen mit dem département Moselle angestrebt, die sich gut in den Bildungsalltag integrieren lassen (z. B. Austausch von Lehrpersonal). Im Bereich der Wirtschaft wiederum fokussieren sich die Zielsetzungen nicht primär auf den grenznahen Raum, sondern nehmen vielmehr die „Verfestigung der Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich“ (Landesregierung des Saarlandes 2020, S. 9) in den Blick, während im Bereich der Hochschulbildung sowohl Kooperationen mit Akteuren in Lothringen, der Großregion oder auch der internationalen Ebene angestrebt werden, d. h. es werden aktiv mehrere administrative Ebenen der Governance adressiert. In der Gegenüberstellung der Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung und der ‚feuille de route III‘ zeigt sich zunächst, dass die Vertiefung und der Ausbau grenzüberschreitender Beziehungen zwischen saarländischen und lothringischen (bzw. französischen) Akteuren in nahezu allen Handlungsfeldern der Frankreichstrategie forciert wurden und werden, was sich allerdings nicht durchgehend in

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einer ausgeprägten Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung dazu niederschlägt. Zusätzlich wird deutlich, dass die Akteure der jeweiligen Handlungsfelder unterschiedliche ‚Wirkungsräume‘ avisieren, womit auch unterschiedliche „Grenzräume als „spaces where the everyday realities of boundaries are played out“ (Morehouse 2004, S. 19) entstehen (können). Aus konzeptioneller Perspektive deuten sich also multiple Borderlands unterschiedlicher Reichweite und mit Bezug auf unterschiedliche administrative Ebenen an, die einer vertiefenden Analyse zugeführt werden sollten.

4 Fazit und Ausblick Welches Resümee lässt sich abschließend ziehen? Aus der Perspektive der Border Studies haben wir vor dem Hintergrund zentraler Entwicklungslinien grenzüberschreitender Zusammenarbeit in der Großregion die Berichterstattung der Saarbrücker Zeitung zur Frankreichstrategie und die aktuelle ‚feuille de route‘ der saarländischen Landesregierung auf Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen hin untersucht. Die Analyse der Berichterstattung zeigt, dass Maßnahmen oder Projekten mit grenzüberschreitender Komponente trotz der durchaus forcierten grenzüberschreitenden Ausrichtung der Frankreichstrategie weniger Aufmerksamkeit zuteilwird als solchen, die innerhalb des Landes verfolgt werden und möglicherweise von höherer alltagsweltlicher Relevanz für die Leser*innenschaft sind. Wie bereits Vatter (2017, S. 203) anmerkt, wird diese Diskrepanz mitunter zusätzlich durch die traditionelle Aufteilung der Berichterstattung in territoriale Rubriken, d. h. nach Landkreisen, befördert. Grenzziehungen in der Berichterstattung zur Frankreichstrategie orientieren sich vorrangig an den wirtschaftlichen Dynamiken zwischen der deutschen und französischen Grenzregion – wirtschaftliche Disparitäten werden in den Vordergrund gerückt, womit eine Priorisierung und Hierarchisierung der Interessen einhergehen. Dieses Schema wird punktuell durch Berichte über grenzüberschreitende Kooperationen und Austausch – etwa im Bildungsbereich oder der Strafverfolgung – jenseits der Wirtschaft ‚aufgebrochen‘ und mit einem debordering um alternative, weniger hierarchische Grenzräume ‚erweitert‘. Der (quantitative wie qualitative) Ausbau der Berichterstattung zu solchen Kooperationen wäre daher durchaus im Sinne einer „Förderung eines Verständnisses der Grenzlage“ (Vatter 2017, S. 194) und der Herausforderungen ebenso wie der Chancen grenzüberschreitenden Handelns. Weiterhin wird sowohl in der Betrachtung der Berichterstattung als auch der ‚feuille de route III‘ deutlich, dass sich in den verschiedenen Handlungsfeldern

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der Frankreichstrategie unterschiedliche Borderlands als Übergangsbereiche aus Interdependenzen und Verflechtungen aufspannen, die von der kommunalen und regionalen Ebene beider Länder bis auf die nationale Ebene reichen. Diese Verflechtungen können als ‚Geographien der Grenzen‘ über eine Verknüpfung von Konzepten der multi level-governance und der (konstruktivistischen) Grenzraumforschung eine vertiefende Analyse erfahren. Im grenzüberschreitenden Kontext ist entsprechend sowohl der horizontalen als auch der vertikalen Dimension von Steuerung einer cross border-governance Rechnung zu tragen. Die saarländische Seite ist hier wiederum nur eine, die es weiterführend zu berücksichtigen gilt. Auf französischer Seite wurde der Vorstoß der Frankreichstrategie politisch aufgegriffen und mündete zunächst in Diskussionsprozessen um eine Stratégie Allemagne – eine Deutschlandstrategie – Lothringens (Conseil régional de Lorraine 2015; vgl. Tab. 1). Darin wurde die Sprache als „atout indéniable“ – als unbestreitbarer Vorteil – angeführt, zugunsten derer Bemühungen zu unternehmen seien (Conseil régional de Lorraine 2015, S. 22). Unter anderem sei zudem der Austausch zwischen Partnerstädten zu forcieren, um Forderungen mit Leben zu füllen (Conseil régional de Lorraine 2015, S. 24, 38). Auch nach der Gebietsreform wurde die Verwobenheit mit dem Nachbarland als zentral fortgeführt. Dies spiegelt sich in der Zielvorstellung der région Grand Est wider, diese Verbindung zum Sockel der deutsch-französischen Beziehungen zu machen, was nur dann gelingen könne, wenn auch Sprachkompetenzen gegeben seien (Conseil régional du Grand Est 2018, S. 4, 6). Unsere Ausführungen zeigen bereits vom Saarland ausgehend, dass sich variable Borderlands unterschiedlicher Reichweite und verschiedener Ebenen-Bezugnahmen konstituieren, was wir auf Grundlage von Interviews mit regionalen Entscheidungsträger*innen auf deutscher, lothringischer und luxemburgischer Seite künftig ausführlich ausleuchten wollen2.

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2Hierzu

befindet sich 2019–2021 ein Vorhaben in Umsetzung, das mit Mitteln der Staatskanzlei des Saarlandes gefördert wird.

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N. Crossey und F. Weber

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M.A. Nora Crossey studierte Liberal Arts and Sciences mit Hauptfach Governance am University College an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ab Wintersemester 2016/2017 belegte sie den Masterstudiengang ‚Humangeographie/Global Studies‘ an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Parallel hierzu war sie als Projektbearbeiterin im Forschungsbereich ‚Stadt- und Regionalentwicklung‘ für die Evaluierung des ‚LIFE living Natura 2000‘-Projektes zuständig. Seit April 2019 arbeitet sie als wissenschaftliche Mit-

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N. Crossey und F. Weber

arbeiterin in der Arbeitsgruppe ‚Europastudien | Schwerpunkte Westeuropa und Grenzräume‘ an der Universität des Saarlandes. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der grenzüberschreitenden interregionalen Zusammenarbeit sowie Umweltgovernance und Konfliktregelung. Jun.-Prof. Dr. habil. Florian Weber studierte Geographie, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promovierte er zu einem Vergleich ­ ­deutsch-französischer Stadtpolitiken. Von 2012 bis 2013 war Florian Weber als Projektmanager in der Regionalentwicklung in Würzburg beschäftigt. Anschließend arbeitete er an der TU Kaiserslautern in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Universität der Großregion, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und als Akademischer Rat an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er 2018 habilitierte. Seit dem Sommersemester 2019 forscht und lehrt er als Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Diskurs- und Landschaftsforschung, Border Studies, erneuerbaren Energien sowie Stadtpolitiken und Stadtentwicklungsprozessen im internationalen Vergleich.

Re-Figuration von Grenzen und Ordnungen im sozialen Raum. Konzeptualisierung eines Analysemodells partizipativer Governance in EU-Grenzregionen Peter Ulrich Zusammenfassung

In Zeiten dynamischer globaler Veränderungsprozesse, zunehmender Politikentfremdung und Demokratieerosion fokussiert der Artikel EU-Grenzregionen als Ressourcen zur Demokratisierung europäischer Politik durch Schaffung gemeinschaftlicher Politikstrukturen, die gleichermaßen staatliche Akteure und Zivilgesellschaft auf beiden Seiten der Grenze einspannen. Der Beitrag beleuchtet, warum EU-Grenzregionen Orte sind, wo räumliche, soziale und institutionelle Grenzen und Ordnungen (B/Orders) neu verhandelt und re-figuriert und wie sie „gesteuert“ werden. Schrittweise wird die Erarbeitung eines Analysemodells zur Untersuchung von partizipativer Governance in EUGrenzregionen erläutert und abschließend am Beispiel der Euroregion Pro Europa Viadrina angewandt.

P. Ulrich (*)  Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_8

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1 Einleitung: Grenzregionen in der EU – von der Peripherie ins Zentrum Europa steckt in turbulenten Zeiten. Zahlreiche Krisen haben vor allen Dingen in den 2010er Jahren die Europäische Union (EU) in eine „Bredouille“ gebracht, aus der sie nur schwer wieder herauszukommen scheint (nicht nur die ­Corona-Virus-Krise, die zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Artikels am Anfang stand1). Gleichzeitig ist das bereits seit längerem diagnostizierte Demokratiedefizit der EU bei den mittlerweile etwa 450 Mio. EU-Bürger*innen (EU-27) nicht kleiner geworden, sondern hat sich um ein Vielfaches verstärkt. Begeisterung für die EU und die europäische Idee ist selten spürbar – eher bei den Eliten als bei der breiten Bevölkerung. Dabei gibt es zahlreiche Bereiche, die nicht nur generelle Erfolgsgeschichten der Europäischen Union, die nicht nur Elite und breite Bevölkerung, sondern auch Stadt-Land, jung-alt, alt-neu ansprechen. Wenn es um die „breite Bevölkerung“ in der EU geht, so denkt man auch an den ländlichen Raum oder an die zahlreichen Regionen. Dort wurden seit Jahrzehnten durch die Europäische Gemeinschaften aus Gründen der Ernährungssicherheit Fonds zugunsten von Landwirtschaftssubventionen aufgelegt. Zudem wurden mit dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) räumliche und soziale Entwicklungen in unterschiedlichen Regionen angestoßen Schmitt-Egner (2005). Ein besonderes Vermächtnis der EU (und davor auch schon vom Europarat) ist die politische Unterstützung der Verzahnung, Konvergenz und Verflechtungsleistung nationaler Peripherien über europäische Grenzen hinweg. Durch finanzielle, rechtliche und politische Förderung von innereuropäischen Grenzräumen schuf die EU ein „Europa der Grenzregionen“ (Ulrich 2020), ausgedrückt etwa durch 150 grenzüberschreitende Euroregionen/Euregios/Eurodistrikte (Svensson 2013) und über 70 Europäische Verbünde für territoriale Zusammenarbeit (Ulrich 2020). Da über 40 % des EU-Territoriums ­EU-Grenzregionen ausmachen, in denen über 30 % der Gesamtbevölkerung in der EU leben (Beck 2017, S. 343), ist es ein enormes sozioräumliches Potenzial. Die Bewohner*innen von Grenzregionen erleben auf täglicher Basis Internationalität und Europäisierung, Kontakt und Austausch mit den Nachbar*innen und können als Orte der Begegnung, der Diffusion und des Zusammenkommens verstanden werden (siehe dazu auch Dörrenbächer 2020 und Wille 2020 in diesem Band). Gleichzeitig haben in den letzten Jahren auch einige

1Der Artikel

wurde im März und April 2020 im Home Office verfasst.

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europäische und regionale Wahlen gezeigt, dass die Grenzlage in Zeiten offener Schengen-Grenzen auch Ressentiments schüren kann und protektionistische Diskurse, Praktiken, Wahlverhalten und Politiken in den nationalen Peripherien entstehen. Das Ziel dieses Artikels ist es, diese identifizierte Ambivalenz theoretisch zu diskutieren, diese Reflexion schrittweise in ein Analysemodell zu überführen und das Modell anhand einer Euroregion an der deutsch-polnischen Grenze skizzenhaft anzuwenden. Ausgehend von dem Verständnis eines Europas der Grenzregionen sind nationale Grenzen dynamischen Ordnungsprozessen unterworfen (dazu auch Weber et al. 2020 in diesem Band). Nationale Peripherien rücken in das europäische Zentrum: Die EU-Grenzregionen sind Orte, wo hybride Grenzen und Ordnungen (B/Orders) räumlich, sozial und institutionell re-figuriert werden (Kap. 2). An diesen Orten entstehen neue Formen von Governance (Kap. 3). Auch in Zeiten von Reisefreiheit (Schengen) und offener Zirkulation von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital in der EU (EU-Binnenmarkt) können sich vermeintlich „offene Staatsgrenzen“ durchaus weiterhin funktional verdichten und ein Hindernis darstellen, etwa durch rechtliche, politische und administrative, aber auch soziale und kulturelle Grenzziehungspraktiken. Des Weiteren transformieren sich EU-Binnengrenzen durch äußerliche Faktoren und werden temporär physisch und materiell wiederhergestellt und durabel. Verschiedene grenzspezifische Elemente haben unterschiedlichen Einfluss auf grenzüberschreitende Politik- und Planungsprozesse, wie das in Kap. 4 entwickelte Analysemodell zeigen wird. Dabei ist speziell auch der Einfluss auf Interaktionen von staatlichen Einrichtungen und Gesellschaft von Interesse im Hinblick auf die eingangs formulierte Ausgangssituation des Demokratiedefizits in der EU. Danach wird das ausführlich hergeleitete Analysemodell anhand des Untersuchungsbeispiels der deutsch-polnischen Euroregion Pro Europa Viadrina angewandt (Kap.  5), bevor zentrale Ergebnisse (Kap.  6) zusammengefasst werden.

2 Re-Figuration räumlicher, sozialer und institutioneller Grenzen und Ordnungen EU-Grenzregionen verstanden als Räume hybrider Grenzen und Ordnungen können als „Kontaktzonen“ (Pratt 1991), als „Liminalitäten“ (Turner 1989; Schiffauer et al. 2018) oder als „dritte Räume“ (Bhabha 2003) bezeichnet werden. Es sind Orte, an denen mehrere nationale politische, institutionelle, rechtliche, soziale, wirtschaftliche, kulturelle, sprachliche und historische

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Ordnungen und Grenzen aufeinanderstoßen und in Zeiten von Globalisierung und Glokalisierung sowie EU-Integration verschwimmen, sich überlappen, auflösen und neu etablieren. Grenzen sind in diesem Zusammenhang als komplexe Gebilde (Gerst et al. 2018; Bossong et al. 2017) zu greifen, die neben einem politisch-territorialem Grenzverständnis auch symbolisch-soziale, räumliche ­ und zeitliche Dimensionen umfassen können (Schiffauer et al. 2018, S. 6 ff.). Dabei ist dieses komplexe Grenzgebilde in Europa in steter Transformation, die „durch eine widersprüchliche Entwicklung von Grenzauflösungen und Grenzstabilisierungen geprägt“ (Schiffauer et al. 2018, S. 5) ist. Im Zuge dessen können sich nicht nur Grenzen verändern und funktional transformieren, sondern auch die Ordnungen, die durch Grenzziehungen erzeugt werden, sowie die internen Ordnungen der komplexen Grenzgebilde (Schiffauer et al. 2018): Dadurch können sich neue Ordnungsmuster, -vorstellungen und -erfahrungen (Hübinger 2019, S. 6) ergeben oder wandeln, die nun im Umkehrschluss wieder neue Grenzziehungen oder Grenztransformationen nach sich ziehen. Letztlich werden an den nationalen Peripherien überschreitend Räume und darin ihre Grenzen und Ordnungen re-figuriert (Löw und Knoblauch 2019, S. 3 f.). An diesen Orten werden unter anderem basierend auf internationalem oder europäischem Recht dritte institutionell-rechtliche Ordnungen in Form von grenzüberschreitenden Rechts- und Institutionsformen geschaffen. Beispiele dafür sind Euroregionen, die den Anspruch haben, einen dritten politischen Raum zwischen den Nationalstaaten losgelöst vom „nationalen Container“ (Sassen 2013) darzustellen: ein Europa von unten mit einer eigenen euroregionalen Identität. Rechtlich-institutionelle Re-Figurationen vom grenzüberschreitenden Raum können dabei auf Basis der sogenannten Europäischen Verbünden für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) geschehen: Basierend auf einer EU-Rechtsform können hier grenzüberschreitend-institutionelle Überlappungsräume entstehen, die dritte Ordnungen und Repräsentationen aufzeigen. Diese Re-Figuration von Räumen aus politischer, rechtlicher und ­administrativ-institutioneller Sicht kann hauptsächlich als top-down Neu-Konzeptualisierung von Raum verstanden werden. Wie verhält es sich aber mit einer bottom-up, also einer gesellschaftlichen, bürgerlichen und sozialen Neujustierung von ­räumlich-sozialen Zusammenhängen in einst getrennten Räumen? In der Tat entstehen durch Öffnung von alten physischen Grenzen und der Schaffung von Räumen des Aufeinandertreffens nach Pratt „Kontaktzonen“, durch deren Existenz die Hoffnung gehegt wird, das eine „positive“ Wahrnehmung in Relation zum „Anderen“ verstärkt wird. Täglicher Austausch, Mobilität und Kontakt sollten zu neuen Formen des Zusammenarbeitens, des Vertrauens und zu wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen führen. Gleich-

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zeitig wird nicht nur täglich internationales Zusammenleben und -arbeiten dadurch möglich, sondern es werden durch die politische, rechtliche und finanzielle Förderung gemeinschaftliche Planungspolitiken befördert und somit Re-Figurationsprozesse von Grenzen und Ordnungen im Grenzraum angestoßen. Die Bedingungen sind eigentlich optimal, um ein „Europa von unten“ an diesen Verflechtungsschnittstellen zu erbauen: Ein Europa der Grenzregionen, das ­bottom-up durch bürgerschaftliche Teilhabe und zivilgesellschaftliche Partizipation in grenzüberschreitenden Politik- und Planungsprozessen europäisch-regionale Unterstützungspolitik in den europäischen „Zwischenräumen“ innoviert und legitimiert. Dadurch können neue Ordnungen auch in der Beziehung zwischen Staat(en) und Gesellschaft(en) in den Grenzregionen entstehen. Zur gleichen Zeit resultieren solche Kontaktzonen nicht immer automatisch in gegenseitigem Austausch, Kontakt und hybriden Identitäten. Ganz im Gegenteil zeigt sich in manchen Fällen, dass protektionistische Diskurse und Praktiken Gesellschaften vor den Nachbarn „abschotten“, da historische Konfliktlinien oder Ressentiments bestehen. Dies zeigte sich zum Beispiel im Zuge der großen EU-Osterweiterung von 2004, wo u. a. Deutschland durchgesetzt hat, dass die polnische Bevölkerung nach dem EU-Beitritt eine siebenjährige Übergangsphase durchlaufen musste bis sie die volle EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen konnte (2011). Auch zeigen neuere Studien aus dem deutsch-polnischen Grenzraum, dass trotz „offener Grenzen“ keine neuen „dritten“ Ordnungen geschaffen wurden, sondern die nationalen Grenzen durchaus nachwirken (Dolińska und Niedźwiecka-Iwańczak 2015; Knippschild und Schmotz 2018). Auch geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte wie das der „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“ zeigen auf, wie nachhaltig solche ehemaligen nationalen und/oder politisch/territorialen Grenzen sein und nachwirken können (von Hirschhausen et al. 2015).

3 Sozioräumliche Governance in EU-Grenzregionen Um auf Re-Figuration von Grenzen und Ordnungen in grenzüberschreitenden sozioräumlichen Kontexten in der Raumplanung und Regionalpolitik reagieren zu können, bedarf es einer politischen Steuerung, die entweder durch „supraregionale“ Institutionen oder durch Netzwerke von verschiedenen Akteuren in unterschiedlichen Bereichen (Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft) vollzogen wird. Dieses Regieren mit/neben und parallel zum Nationalstaat wird auch als „Governance“ bezeichnet, entweder als regionale bzw. räumliche (Fürst 2010; Kilper 2010) oder als grenzüberschreitende Governance (Christmann et al. 2019;

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Ulrich und Scott 2020). Governance umfasst als Begriff der kollektiven Form der Planung, Politik und Steuerung von Raum und Grenze eine Vielzahl verschiedener Akteure und beschreibt die Form, Methoden und Art und Weise, wie grenzüberschreitende Planung und Politik gelenkt wird. Sozioräumliche Governance bezieht sich auf das Regieren und Planen von Raum und der im Raum lebenden und arbeitenden Gesellschaft durch eine Vielzahl von Akteuren, teilweise auch angetrieben von „Schlüsselfiguren“ (Gailing und Ibert 2016), die aus verschiedenen Sektoren kommen können (öffentliche Einrichtungen, Unternehmen, Wirtschafts- und soziale Einrichtungen, Vereine und Verbände, bürgerschaftliche Einrichtungen). Sozioräumliche Governance in EU-Grenzregionen umfasst Planungs- und Politikstrukturen, die Akteure, Gesellschaften und Räume aus mindestens zwei Ländern involvieren und auf unterschiedlichen institutionellen, rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen beruhen. Daher ist Governance über nationale Grenzen stets mit der Steuerung von Differenz verbunden, etwa von differenten Akteursarten, administrativen Leveln oder soziokulturellen Aspekten (siehe hierzu auch Caesar und Evrard 2020 sowie Crossey und Weber 2020 in diesem Band). So sollten auch Unterschiede in nationalen soziokulturellen Sphären und Gesellschaften berücksichtigt werden, wenn grenzüberschreitende Planung und Regionalpolitik zwischen Staat und Gesellschaft durchgeführt wird. Bezüglich der eingangs formulierten These der Demokratisierung und Erhöhung von Legitimation europäischen Regierens auf euroregionaler Ebene durch die Einbindung sozialer und zivilgesellschaftlicher Akteure ist es daher wichtig zu überprüfen, wie die Beteiligung in EU-Grenzregionen dieser Gruppen vollzogen wird und inwiefern spezifische Dimensionen der Grenzziehungen (boundaries) der nationalen Grenze (border) solche Mobilisierungsprozesse im negativen oder positiven Sinn beeinflussen. Konkreter gefragt: Stimuliert Differenz, dass Akteure, Staat und Gesellschaft über Grenzen hinweg in Dialog und gemeinschaftliche Politik- und Planungspraxis treten oder ziehen sich diese Differenzen zu einer kaum überwindbaren Barriere zusammen? Im Folgenden werden verschiedene Ansätze sowie Modelle zu sozioräumlicher Governance im Raum und zu Grenze diskutiert und Schritte unternommen, um ein theoriegeleitetes Analysemodell für die Untersuchung von partizipativ-sozioräumlicher Governance in EU-Grenzregionen zu elaborieren.

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4 Das Nachwirken der Grenze und kollaborative Formen grenzüberschreitender Planungspolitik – Herleitung eines theoriegestützten Analysemodells Dieses Kapitel geht schrittweise auf die Erarbeitung eines Analysemodells von partizipativ-sozioräumlicher Governance in EU-Grenzregionen ein. Dadurch soll zum einen Transparenz in der Erstellung eines solchen Modells erzeugt und zum anderen dargelegt werden, welche Alternativen auf dem Weg zur Erstellung eines solchen Analysemodell bereitliegen.

4.1 Schritt 1: theoretische Modelle und Kategorisierungen von Grenze As erstes wird der Frage nachgegangen, welches Konzept oder Modell für die Interaktionen, Beziehungen und Verflechtungen in Grenzräumen innerhalb der EU am besten anzuwenden ist. Es gibt verschiedene Analysemodelle aus dem Bereich der Border(land) Studies, die sich mit den Effekten von verschiedenen Arten von Grenzen/Differenzen auf grenzüberschreitende Prozesse befassen. Die Unterscheidungslogik wird dabei meist in den Dichotomien Grenze/Ordnung, border/boundary, Nähe/Distanz, dicke (thick)/dünne (thin) Grenzen vollzogen. Die Ausprägung der Eigenschaften bestimmt dabei das potenzielle Ausmaß grenzüberschreitender Interaktionen in den untersuchten Bereichen regionale Kooperation, Wirtschaft- und Innovationsentwicklung, grenzüberschreitende Politik sowie Planung und Institutionalisierung in grenzüberschreitenden Räumen. Im Folgenden werden vier im Bereich der Border Studies existierende Analysemodelle oder Erklärungsansätze, die eine Kausalität von der Qualität/Ausprägung der Grenze zu Interaktionsprozessen über Grenzen hinweg skizzieren, chronologisch nach Erscheinungsjahr vorgestellt. In der im Bereich der Border Studies berühmten Studie von Emmanuel Brunet-Jailly (2005), werden verschiedene Ebenen betrachtet, deren Existenz einen integrativen Grenzraum entstehen lassen. Die vier Ebenen umfassen Marktkräfte und Mobilität, verschiedene Regierungsebenen (Governance), lokale grenzüberschreitende Kultur (etwa durch Identität oder Sprache) und lokale grenzüberschreitende Politik (Organisationen, Zivilgesellschaft, Netzwerke

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und Institutionen) (2005, S. 645). Wenn alle vier Ebenen sich verstärken oder komplementieren, so die Theorie, desto mehr ist ein kulturell und sozial zusammenhängender und integrativer Grenzraum zu erwarten. Ein weiterer Beitrag zur De-Codierung der nationalen Grenze und Grenzraum ist das Analysemodell von Beatrix Haselsberger (2014). Der Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass in Europa trotz meist geöffneten Grenzen durch Schengen und EU-Binnenmarkt in grenzüberschreitenden Regionen sich trotzdem verschiedene Arten von spezifischen Grenzdimensionen, die mit der staatlichen Grenze direkt oder indirekt zusammenhängen, bemerkbar machen. In dieser relationalen Logik werden dabei zuerst die englischsprachigen Grenzbegriffe border, boundary und frontier unterschieden, wobei border die nationalstaatliche Grenze, boundary spezifische Grenzdimensionen umfasst und frontier ein räumlicher Begriff ist, der Grenzzonen oder -räume markiert (Haselsberger 2014, S. 509). Haselsberger geht dabei davon aus, dass die nationalstaatliche Grenze (border) sich in ihrer Dickheit (thickness) durch die Überlappung von verschiedenen Grenzdimensionen (boundaries) konstituiert. Die Grenzdimensionen sind dabei biophysische (natürliche und geologische Hindernisse), geopolitische (territoriale und physische Hindernisse), soziokulturelle und wirtschaftliche (Kosteneffizienz und Wohlstand) Ebenen, die sich wie in einem Baukastenprinzip übereinander lagern2 und die Dickheit oder auch die Durabilität der nationalen Grenze bestimmen. Diese Dickheit der Grenze beeinflusst grenzüberschreitende Politik- und Planungsprozesse, wobei angenommen wird, dass je dicker die Grenze ist, desto mehr die Regionalplanung vor Herausforderungen steht. Auch Sara Svensson und Péter Balogh untersuchen in ihrer Studie verschiedene Formen von Grenzhindernissen (border obstacles), die trotz europäischer Integration an „offenen Grenzen“ in der EU weiterhin bestehen (Svensson und Balogh 2018, S. 116). Grundsätzliche Hindernisse im Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation sehen sie durch verschiedene Ebenen und Strukturen der Politik auf beiden Seiten der Grenze sowie durch das Spannungsfeld von freiem Handel und der gleichzeitigen Forderung nach Sicherheit

2Haselsberger

(2014) liefert mit ihrem „Dynamic border interpretation framework“ (S. 512–513) nicht nur ein Modell zur Analyse von verschiedenen Grenzdimensionen, sondern auch ihrer konkreten Funktionen, Grenzziehungsprozesse durch Diskurse, Wahrnehmungen und Interpretationen. Das Analysemodell gibt auch konkrete Vorschläge, wie man Grenzen bzgl. der Grenzdimensionen operationalisieren und empirisch untersuchen kann.

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(Svensson und Balogh 2018, S. 117). Ihre Klassifikation von Grenzhindernissen bezieht sich aber weniger auf institutionell-politische Kooperation, sondern auf Herausforderungen, die die Bevölkerung in Grenzlagen täglich erlebt, etwa im Kontext der Arbeitsmigration und Mobilität über Grenzen hinweg. Dabei stellen sie insbesondere fehlende Kommunikation und Infrastrukturen, verschiedene rechtliche Regularien, Sprachen und Kulturen als wesentliche Hindernisse im Austausch in grenzüberschreitenden Regionen heraus (Svensson und Balogh, S. 124). In einem Beitrag der Wirtschaftsgeographin Michaela Trippl (2018) wird die Frage behandelt, „welche Rolle Grenzen und Distanzen (bzw. Näheformen) für innovationsbasierte Integrationsprozesse in grenzüberschreitenden Regionen spielen“ (Trippl 2018, S. 135). Der Buchbeitrag betrachtet Grenzen also zumindest als Faktor, wenn nicht gar als Bedingung – für grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtungen im Bereich der regionalen Innovationen. Dabei unterscheidet Trippl vor allen Dingen zwischen den Kategorien „Nähe“ und „Distanz“, die im Bereich der Wirtschaftsgeographie und Regionalwissenschaft seit den 2000er Jahren verstärkte Aufmerksamkeit genießen (Trippl 2018, S. 138). Die Dichotomie von Nähe und Distanz wird im Kontext der Untersuchung von Potenzialen für grenzüberschreitende Regionalisierungsprozesse synonym für den Grenzbegriff verwendet. Trippl unterscheidet zwischen physischer/räumlicher Nähe (absoluter oder relativer), funktionaler Nähe (Asymmetrien in Innovationskapazitäten), kognitiver Nähe (Wissenbasen, K ­ now-How-Austausch) und institutioneller Nähe (geteilte Normen, Regulierungen etc.). Gleichzeitig betont Trippl, dass zu viel Nähe nicht immer gut ist für grenzüberschreitende Wirtschaftsintegration. Eine gewisse Form von Asymmetrien, wie etwa bei der kognitiven Dimension, ist notwendig, damit Wissenstransfer überhaupt stattfinden kann. Letztlich ist aber Nähe die Kategorie, die g­ renzüberschreitend-regionale Innovationsprozesse befördert. Tab. 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Modelle und Erklärungen von grenzspezifischen Faktoren und deren Einfluss auf grenzüberschreitende Interaktionen. Speziell werden die einzelnen Faktoren zum Vergleich untereinander benannt. Da das zu erarbeitende Modell zum einen verschiedene Grenzdimensionen in den Blick nehmen will und zudem grenzüberschreitende und kollaborative Planung und Politik untersuchen soll, eignet sich das Modell von Haselsberger besonders für die weiteren konzeptionellen Schritte.

Kommunikation Rechtliche & Infrastrukturen Normen & Regulierungen

Physisch (räumliche) Nähe

Svensson und Balogh (2018)

Trippl (2018)

Funktionale Nähe Kognitive Nähe

Sprache & Kultur

Soziokulturell

Haselsberger (2014)

Geopolitisch

Biophysisch

Emmanuel Brunet-Jailly (2005)

Faktor 3

Faktor 2 Verschiedene Kultur (Identität, Regierungsebenen Sprache)

Faktor 1

Marktkräfte und Mobilität

Modelle

Institutionelle Nähe

Wirtschaftlich

Lokale grenzüberschreitende Politik

Faktor 4

Interaktion zwischen den Grenzbevölkerungen Distanz bzw. InnovationsNähe und Grenze basierte Integrationsprozesse in grenzüberschreitenden Regionen

Barrieren & Hindernisse

Boundary (Grenz- Grenzüberschreitende dimension) Regionalplanung

Einfluss auf Integrativen Grenzraum

Was? Relationale Ebenen

Tab. 1   Analysemodelle von Grenzdimensionen und Einfluss auf grenzüberschreitende Prozesse. (Quelle: Eigene Darstellung)

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4.2 Schritt 2: Herleitung eines Analysekonzeptes Nachdem verschiedene theoretische Modelle und Kategorisierungen von Grenze skizziert wurden, wird nun zur Erarbeitung eines Analysemodells sozioräumlich-partizipativer Governance in EU-Grenzregionen nach einem ­ passenden Konzept gesucht, um die Frage zu beantworten: Wie wird Raum geplant, regiert und gesteuert? Dabei geht es zunächst darum, gemeinschaftliche Politik und Planung in grenzüberschreitenden Regionen zu erfassen. Verschiedene Konzepte und Begriffe kommen in Frage, wie etwa Netzwerk, Kooperation, Partnerschaft, Steuerung, Management, Koordination, Co-Creation, Politics, Governing oder Governance. Aber welcher dieser Konzepte oder Begriffe passt am besten für das konkrete Vorhaben? Und welches davon ist ideal geeignet zur Beschreibung von Raum-Koordination und Politik von wechselnden Grenzen und Ordnungen? Das (soziale) Netzwerk wird dabei recht häufig verwendet. Es ist eher ein Modellbegriff, der zur Visualisierung von Beziehungen verschiedener Akteure verwendet wird. Die Methode zur Analyse von sozialen Netzwerken wird dabei Netzwerkanalyse genannt (Wasserman und Faust 1994; Scott 1988). Verwendet werden dafür Knotenpunkte als Akteure sowie Verbindungslinien zwischen den Knotenpunkten als Beziehungen. Variiert werden kann dabei zwischen qualitativer und quantitativer Darstellung (Minniberger 2016): Die Häufigkeit der Verbindungslinien bzw. ihre Dicke deutet auf die Anzahl der Kontakte und Interaktionen hin, während die Formen der Darstellung über die Art und Weise der Vernetzung eine Aussage machen können. Der Begriff des sozialen Netzwerks wurde insbesondere durch Scott sowie Wasserman und Faust geprägt, und in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als auch in der raumbezogenen Sozialforschung angewandt. Analysen der sozialen Netzwerke ermöglichen eine Visualisierung der Beziehungen und die Häufigkeit und Art der Interaktionen. Hierarchien, Machtstrukturen und Entscheidungs- sowie Planungsprozesse in grenzüberschreitenden Kontexten können jedoch nur bedingt abgebildet werden. Der Begriff der Kooperation hingegen beschreibt und erklärt Formen und Möglichkeiten der beabsichtigten gemeinsamen Operation, Arbeit und Wirkungskraft aus Gründen erhöhter Effizienz oder als Antwort auf Konflikte (Deutsch 1949; Sugden 2004; Sherif 2015). Kooperation kann verstanden werden als die Bemühungen zur Identifikation eines gemeinschaftlichen Ziels, dessen Erreichen, sowie die Beziehungen zwischen den dabei involvierten Akteuren (Deutsch 1949, S. 130). Der Fokus dieses prozessualen Analysebegriffs liegt daher auf durchführender Arbeit, die gemeinschaftlich vollzogen wird. Auch wenn Kooperation

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auf den ersten Blick tauglich für die Erstellung eines Modells zur gemeinschaftlichen Planungspolitik in EU-Grenzregionen erscheint, inkludiert der Begriff außer der gemeinschaftlichen Problemlösung und Zielverfolgung auch nicht die politische Ebene da Fragen von Macht und Institutionen nicht berücksichtigt werden. Weitere eher wirtschaftswissenschaftliche Konzepte, bei denen die politikwissenschaftliche Komponente fehlt, sind unter anderem Partnerschaft, Steuerung, Management, Koordination, moderner auch Co-Creation, die auch in Tab. 2 ausführlich nach Eigenschaften beleuchtet werden. Eher politikwissenschaftlich geprägte Konzepte zur Beschreibung von Interaktionen von Staat und Gesellschaft wären Politics, Government/Governing/ Governance. Dabei geht der englische Politikbegriff aus dem Dreigespann Polity-Politics-Policy am ehesten auf die Prozessdimension von Politik ein, also wie politische Prozesse geschehen, gelenkt und kontrolliert werden. Hier geht es also klar um die Formen der Lenkung und Kontrolle von Politik. Anders als der Polity-Begriff, der eher auf die strukturelle und Akteursebene eingeht, fehlt das dem Politics-Begriff. Wenn es um zentrale Begriffe von politischer Lenkung geht, mit Akteuren und Prozessen der Kontrolle, so ist der Begriff der Regierung (government) und des Regierens (governing) auch ein zentraler Begriff (Benz et al. 2007). Dabei ist aber der Fokus auf einen zentralen, hierarchischen Akteur gelegt, der lenkt, kontrolliert und „den Ton angibt“.

Tab. 2   Konzepte für Staats-Gesellschaftsinteraktionen in grenzregionaler Planungspolitik. (Quelle: Eigene Darstellung) Konzepte/ Ebenen

Prozess

Netzwerk Kooperation

x

Partnerschaft (x) Steuerung

Akteure

Inhalte

Beschreibung Politische Interaktion Dimension

Interaktion von Staat und Gesellschaft

x

(x)

(x)

x

(x)

(x)

(x)

x

(x)

x

(x)

(x) (x)

(x)

Management

(x)

x

Koordination

(x)

x

x

x

x

x

x

x

(x)

Co-Creation

x

Politics

x

Governing

x

Governance

x

(x) x

x

(x)

x x

x

x

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In Abgrenzung zum Konzept von Government existiert der Terminus Governance, der zum einen ein Akteursbegriff ist, der auf neofunktionalistischen Prämissen beruht und zum anderen auch die Methoden, Art und Weise von Kooperation, Partnerschaft und Netzwerkarbeit beschreibt (Benz et al. 2007). Dabei geht er auch stark auf die verschiedenen Akteure ein, die staatlich/ öffentlich, privat, zivilgesellschaftlich und bürgerschaftlich sein können. Außerdem geht es stets um die gemeinschaftliche Bearbeitung eines konkreten Problembereichs (Politikbereich, Projekt, Programm etc.) oder eines Territoriums (z. B. einer Grenzregion etc.). Der Begriff Governance kann dabei in einer empirisch-analytischen Form verwendet werden (Benz et al. 2007) oder aber auch in einer normativ-ontologischen Art und Weise, wie etwa in Form von demokratischer, partizipativer oder sogenannter guter Governance (Heinelt 2010). In diesen normativen Verständnissen geht es auch sehr stark um ­Staats-Gesellschaftsinteraktionen. Wie Tab.  2 zeigt, deckt das Konzept Governance die meisten Anforderungen ab und soll daher weiter in der Konzeptualisierung verwendet werden.

4.3 Schritt 3: Beleuchtung von Governance Nachdem das zentrale Analysekonzept für Staats-Gesellschaftsinteraktion in grenzregionaler Planungspolitik für das Analysemodell konzeptionell hergeleitet wurde, wird nun im dritten Schritt der gewählte Begriff Governance in seiner normativ-ontologischen Lesart weiter beleuchtet. Dabei stellt sich die Frage, welche Theoriestränge und wissenschaftlichen Debatten es zur Analyse von zivilgesellschaftlicher oder bürgerschaftlicher Partizipation und Demokratieformen von Governance gibt. Zum einen muss erst einmal geklärt werden, was der Unterschied zwischen Bürgerschaft (citizenship) und Zivilgesellschaft (civil society) ist. Bürgerschaft/citizenship bezeichnet zunächst den Status, dass man registrierter/eingetragener Bürger eines Landes ist und damit auch konkrete Rechte (z. B. Schutz durch Staat, Wahlrecht) und Pflichten (z. B. Steuerabgaben) hat (Venables 2016). In EU-Grenzregionen haben Bürger*innen auf den jeweiligen Seiten der Grenze in erster Linie zwei unterschiedliche nationale Staatsbürgerschaften, sind aber durch die EU-Bürgerschaft verbunden. Die Bevölkerung in Grenzregionen kann damit die jeweilige nationale Identität durch Staatsbürgerschaften haben, aber auch eine gemeinsame, hybride Identität, die ihnen europäische Rechte verleiht (EU-Wahlrecht, Reisefreiheit, rechtlicher Schutz vorm EuGH etc.). Der Begriff der Zivilgesellschaft hingegen adressiert noch viel mehr die Ebene von Organisationen und

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Interessensvertretung. Zivilgesellschaft ist laut Kohler-Koch und Quittkat (2013) meistens organisiert (in Vereinen, Verbänden oder anderen Organisationen) und versucht dabei, zivile oder bürgerschaftliche Interessen durchzusetzen. Wenn es also um die gemeinsame Planungspolitik zwischen hybriden Gesellschaften in ­EU-Grenzräumen geht, dann ist Zivilgesellschaft der bessere Politikinteraktionsbegriff im Sinne der Interessensdurchsetzung und wird in der Erstellung des Analysemodells angewandt. Des Weiteren ist zu unterscheiden, welcher normative Governance-Begriff besser anzuwenden ist, der der demokratischen oder der der partizipativen Governance. Während es in der demokratischen Governance einzelne Beiträge gibt, die sich durch eine radikale Neugestaltung von Planung aufgrund komplett bottom-up organisierter und breitendemokratischer Prozesse auszeichnen, gibt es seit den 2000er Jahren eine breite wissenschaftliche Debatte über eine Demokratisierung von Governance durch bürgerschaftliche und zivilgesellschaftliche Partizipation (Kohler-Koch und Quittkat 2013). Die partizipative Governance ist hingegen nicht so basisdemokratisch orientiert, sondern legt das Augenmerk auf Effizienzerhalt und Output-Orientierung von politischen Prozessen. Daher liegt der Fokus vom partizipativen Governance-Ansatz auf verschiedenen Akteuren, aber auch auf denjenigen, die von den Maßnahmen, über die entschieden wird, betroffen sind (Heinelt 2010; Schmitter 2002). Dies spricht dafür, dass in der grenzregionalen Planungspolitik auch stets die Bevölkerung involviert werden sollte, da diese von der grenzüberschreitenden Planung und Umsetzung letztlich betroffen ist. Bisherige Studien von partizipativer Governance haben aber bis dato nur die supranationale EU-Ebene analysiert und die ­subnational-grenzüberschreitende Ebene ausgespart (Kohler-Koch und Quittkat 2013; Heinelt 2010; Schmitter 2002). Daher bildet das Konzept von partizipativer Governance im Grenzkontext ein Unikum.

4.4 Schritt 4: Erstellung eines Konzeptes der partizipativen Governance Aber warum ist es lohnenswert, demokratische und partizipative Formen von Governance in EU-Grenzregionen zu analysieren? Warum ist es gewinnbringend, ein Analysemodell zu entwickeln? Laut den politikwissenschaftlichen Demokratietheorien hat Partizipation und Demokratisierung von Politik- und Governance-Prozessen zahlreiche Effekte, hauptsächlich Transparenz und Beteiligung, Innovation von Governance und Politik, Inklusion von Wissen, soziales Lernen sowie eine Erhöhung der Legitimität von euroregionalen

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Politiken in EU-Grenzregionen (Schmidt 2000; Heinelt 2010). Dabei sind diese Effekte prozessual und aufeinander aufbauend zu sehen. Durch die Involvierung der Grenzbevölkerung kann durch Wissensintegration und soziales Lernen die Input- (Politik mit der Bevölkerung), die Throughput- (Politik durch die Bevölkerung) und durch die wiederkehrende Form Output-Legitimität (Politik für die Bevölkerung durch bessere Politikergebnisse) gestärkt werden (Ulrich 2020). Die Erstellung eines solchen Konzeptes der partizipativen Governance in EU-Grenzregionen und deren Bedingungen (grenzrelevante Faktoren), aber auch unter der Reflexion der möglichen positiven Effekte, ist daher sehr geeignet, um Entwicklungsprozesse in grenzüberschreitender Regionalpolitik zu untersuchen.

4.5 Schritt 5: Ableitung eines Analysemodells Im Folgenden werden die angehenden Konzeptualisierungen reflektiert und in ein Analysemodell überführt. Folgende Fragen stellen sich: Welche Arten von Grenzen und Ordnungen tauchen in grenzüberschreitenden ­Governance-Prozessen auf? Welche Begrenzungen sind das? Wie können diese Begrenzungen klassifiziert werden? Wie bringt man die Modelle/Theorien zusammen? Zuerst soll festgehalten werden, dass das Analysemodell von Haselsberger am geeignetsten erscheint. Von den vier Grenzdimensionen von Haselsberger wurden in den meisten politikwissenschaftlichen Abhandlungen geopolitische (institutionell, rechtlich und politisch) und soziokulturelle (mentale) Grenzen identifiziert, die zugleich auch langfristige und nachhaltige Ordnungen darstellen. Daher werden angelehnt an das Modell und die Operationalisierung von Haselsberger diese Dimensionen für grenzüberschreitende Planungspolitik ausgewählt. Des Weiteren wurde das Konzept der Governance und dabei die normative Stoßrichtung der partizipativen Governance als Analysekonzept der Staats-Gesellschaftsinteraktionen in grenzregionaler Planungspolitik mit erwarteten positiven Aspekten auf Demokratisierung und Legitimationssteigerung in der Grenzregion ausgesucht.

4.6 Schritt 6: Definition und Illustration des Analysemodells Aufbauend auf den konzeptionellen Überlegungen ist der finale Schritt die Definition und Illustration des Analysemodells.

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Abb. 1 zeigt das erarbeitete Analysemodell zur Untersuchung von politischen Interaktionsprozessen zwischen staatlichen Akteuren mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Bürgerschaft und die Bedingungen sowie potenzielle Effekte einer solchen Interaktion. In Abb. 2 wird die Kausalitätslogik illustriert. Durch das Analysemodell wird die Bedingung (X) „Permeabilität der nationalen Grenze“ und deren vermutetes Resultat (Y) „Partizipative Governance in EU-Grenzregionen“ analysiert mit der Hoffnung, einen „positiven“ Effekt wahrzunehmen, nämlich den der Demokratisierung von EU-Politik und damit einen erhofften Legitimationszuwachs europäischer Politik innerhalb der Bevölkerung, was in Zeiten zahlreicher europäischer Krisen eine wichtige Entwicklung wäre.

Abb. 1   Analysemodell: Partizipative Governance und nationale Grenzziehungen in EUGrenzregionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 2   Kausalitätslogik des Analysemodells. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Die vermutete Bedingung der „Permeabilität der nationalen Grenze“ (X) wird dabei durch die Ausprägung der unabhängigen Variablen der geopolitischen (X1) und soziokulturellen (X2) Grenzdimension bestimmt. Angelehnt an das Modell von Haselsberger werden zur Bemessung der Dickheit/Durabilität der Grenze den unabhängigen Variablen konkrete Merkmalsausprägungen zugewiesen. X1 werden dabei die Merkmalsausprägungen „territoriale Organisation“, „Paradiplomatie und Regionalisierung“ und „Compliance mit EU-Recht“ zur Bemessung der geopolitischen Grenzdimension zugewiesen. Die soziokulturelle Dimension (X2) wird durch die „Zugehörigkeitspolitik“, „Wahrung von Gemeinsamkeiten“ und „Schutz der kollektiven Erinnerung“ ermessen. Eine hohe Grenzdichte im untersuchten Grenzraum – durch stark ausgeprägte geopolitische und soziokulturelle Demarkationsprozesse – verhindert, so laut der verwendeten Theorie, zum einen Interaktionsprozesse über Grenzen hinweg, und zum anderen, gemeinschaftliche Planungspolitik von Staat und Gesellschaft. Entlang des Analysemodells wird als nächstes der Einfluss von Grenzziehungsprozessen auf die partizipative Governance, also der Interaktion von Staat(en) und Zivilgesellschaft oder im Idealfall Bürgerschaft gelegt. Partizipative Governance in EU-Grenzregionen ist daher die abhängige Variable, die anhand der Akteursstrukturen (Polity), der politischen Prozesse (Politics) und der politischen Inhalte in den jeweiligen Politikbereichen (Policy) analysiert wird. Wenn partizipative Governance messbar ist, stellt sich die Frage, inwieweit eine mögliche Demokratisierung von euroregionaler Politik tatsächlich eintrifft. Dies könnte etwa durch eine Erhöhung der Legitimation oder eine Innovation von Governance geschehen.

5 Anwendungsbeispiel: Die Euroregion Pro Europa Viadrina Im Folgenden wird die Anwendung des in diesem Artikel entwickelten theoriegeleiteten Analysemodells am Beispiel der Euroregion Pro Europa Viadrina angedeutet. Eine ausführliche Analyse von partizipativer Governance in dieser Euroregion ist in diesem Rahmen nicht möglich. Vielmehr sei auf die Ergebnisse der Studien von Ulrich und Krzymuski (2018) sowie Ulrich (2020) verwiesen. Die deutsch-polnische Euroregion Pro Europa Viadrina wurde 1993 gegründet. Zur Überprüfung, ob Grenzeffekte die zivile Partizipation in Governance-Prozessen beeinflussen, wird die Permeabilität (Durchlässigkeit) der nationalen Grenze analysiert. Auf der geopolitischen Dimension kann die deutsch-polnische Grenze bzgl. der territorialen Organisation, etwa der Selbst-

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bestimmungskompetenzen, Dezentralisierungsgrad der polnischen Wojewodschaften (Regionen) oder Gminas (Gemeinden) und der deutschen Bundesländer und Landkreise auch in spezifischen Politikbereichen analysiert werden. Trotz Dezentralisierungsprozessen der polnischen Verwaltung (etwa im Jahr 1999) besteht eine eindeutige Asymmetrie zum deutschen Föderalismus, weshalb durch unterschiedliche Kompetenzebenen eine diagonale Governance-Struktur entsteht. Diese kann als geopolitische Grenze eingeordnet werden. Die zweite Merkmalsausprägung ist die der Paradiplomatie und Regionalisierung: Die Euroregion Pro Europa Viadrina ist eine von insgesamt vier Euroregionen im ­deutsch-polnischen Grenzraum, die zwischen 1991 und 1995 gegründet wurde. Seit der starken Aufbruchsstimmung speziell in den 1990er Jahren mit zahlreichen bilateralen Verträgen zwischen Deutschland und Polen, dem polnischen Beitritt zur EU (2004) und Schengen (2007) ist wenig von der Euphorie geblieben. Auf bilateral-nationaler Ebene gab es kaum neue Impulse der vertieften grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, während auf grenzüberschreitend-regionaler Ebene immer mehr Initiativen aus dem Boden schossen, wie etwa auch die der institutionalisierten Zusammenarbeit der Doppelstadt Frankfurt (Oder) und Słubice. Die dritte Merkmalsausprägung untersucht die geopolitische Grenze auf der nationalen/supranationalen Dimension: Die Compliance der beiden Regierungen mit EU-Recht (generelles EU-Recht, Binnenmarkt und Schengen). Dort ist vor allen Dingen die starke Arbeitsnehmer- und Dienstleistungsfreizügigkeit im Rahmen des Binnenmarkts als verbindendes Element zu erwähnen, während die teilweise Einführung von stationären Grenzkontrollen im Rahmen der Corona-Krise im März 2020 und zuvor als temporäre Grenzkontrollen (etwa bei der UNFCCC-Klimakonferenz im polnischen Katowice im Dezember 2018) eher als trennende Signale zu verstehen sind. Weitere Spannungen entstanden zwischen Polen, Deutschland und der EU im Zuge der europäischen Migrationskrise in 2015, die als Gräben zwischen den Regierungen in Warschau und Berlin zu deuten sind und nachwirken. Die soziokulturelle Dimension der deutsch-polnischen Grenze wird als erstes durch die Merkmalsausprägung „Politik der Zugehörigkeit“ durch regionale und kommunale Wahlergebnisse und die Parteiideologien der Wahlgewinner*innen analysiert. So können die letzten Landtagswahlen sowie die Europawahl mit jeweils hohen Wahlergebnissen der AfD in Brandenburg und speziell in den östlichen Landkreisen zur Grenze mit Polen nicht über eine Euroskepsis hinwegtäuschen. Andersherum ist in den Westgebieten Polens auf der Gemeindeebene eher die liberale und pro-europäische Bürgerplattform (PO) erfolgreich. In den beiden anderen Merkmalsausprägungen der „Wahrung von Gemeinsamkeiten“ und „Schutz der kollektiven Erinnerung“ geht es hauptsächlich um die Institutionalisierung, den öffentlichen Diskurs und Praktiken in Bezug auf die

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Herstellung von grenzregionalen gemeinschaftlichen oder rivalisierenden Identitäten und Erinnerungskulturen. Dabei ist das allgegenwärtige verbindende Element der Zweite Weltkrieg, mit Vertreibungen auf beiden Seiten der heutigen Grenze, zahlreichen Grenzverschiebungen und der Umgang mit dieser herausfordernden Geschichte. Die deutsch-polnische Beziehung ist spätestens seit den 1990er Jahren eine Geschichte der vorsichtigen Versöhnung, Erinnerung und Zusammenarbeit, die aber trotzdem nicht ohne Konflikte geblieben ist. Ausgehend von diesen Bedingungen wird die Analyse der partizipativen Governance anhand der Euroregion Pro Europa Viadrina skizziert. Auf der Ebene der Akteurskonstellationen („Polity“) wird die interne partizipative Governance anhand der Mitgliederstruktur untersucht. Bei der externen Governance werden die Akteure, mit denen die Euroregion nach außen interagiert, analysiert. Anhand der politischen Prozesse („Politics“) wird die Art und Weise der politischen Interaktion zwischen den Raumakteuren mit der Zivilgesellschaft bewertet und aufgezeigt, ob aktive oder passive Formen des Engagements bestehen und in welcher Breite eine Mitbestimmung bei politischen Inhalten („Policy“) für die Bürgerschaft und Zivilgesellschaft möglich ist. Dabei wird schon bei den Mitgliedern deutlich, dass nicht nur subnationale (Landkreise, Städte, Kommunen) Gebietskörperschaften, sondern speziell auf der brandenburgischen Seite auch wirtschaftliche, wissenschaftliche, soziale sowie andere Akteure involviert sind (Ulrich und Krzymuski 2018, S. 174). Diese institutionalisierte Form der Partizipation erklärt sich auch mit der territorialen Organisation beider Länder. Gleichzeitig wird die Teilnahme von Zivilgesellschaft und bürgerlichen Vereinen hauptsächlich durch die Funktion der Euroregion als Trägerin des Kleine-Projekte-Fonds (KPF) über Grenzen hinweg gefördert. Der KPF, der aus INTERREG-Mittel finanziert wird, ist ein Fonds für Begegnungstreffen für grenzüberschreitende Feste und Events, etwa von der Feuerwehr, Kitas, Schulen, Vereinen, Museen etc. Hier sind die deutsch-polnische Geschichte sowie die Versöhnungs- und Erinnerungspolitik Treiber für eine Beförderung für Projekttreffen. Die Euroregion dient hier als Rahmen, durch den Projekte und Formate von deutsch-polnischen Treffen ermöglicht werden. An die Euroregion Pro Europa Viadrina ist auch das EUROPE DIRECT Informationszentrum Frankfurt (Oder) gekoppelt, das regelmäßig Infound Diskussionsveranstaltungen für die Bürger*innen der Euroregion veranstaltet. Die Partizipation der Bevölkerung und Zivilgesellschaft an ­ euroregionalgrenzüberschreitender Regionalpolitik in der Euroregion Pro Europa Viadrina findet daher entweder institutionell (über Mitgliedschaft) oder auf Veranstaltungs- und Zuwendungsebene statt (über die KPF-Finanzierung). Geopolitische und soziokulturelle Grenzdimensionen spielen eine Rolle, bedingen sich gegenseitig und korrelieren mit partizipativer Governance in EU-Grenzräumen. Ob die Verdichtung von Grenzen immer zu Abschottung

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führt, ist dabei aber nicht ausgemacht. Die im Zuge der Corona-Krise (hierzu ausführlich auch Weber und Wille 2020 in diesem Band) teilweise eingeführten Grenzschließungen an der deutsch-polnischen Grenze haben seit der ersten großen Protestaktion am 24. April 2020 in der nun getrennten Doppelstadt Frankfurt (Oder)-Słubice (die in der untersuchten Euroregion liegt) zu großen Mobilisierungen der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze geführt. Das zeigt, dass auch die Verdichtung der Grenze die Bevölkerung auf beiden Seiten mobilisieren kann, wenn sie in ihren eigenen Rechten eingeschränkt sind. Auch wenn das Analysemodell sich auf gemeinschaftliche euroregionale Planungspolitik fokussiert und weniger auf Protestaktionen, kann dieses Beispiel aufzeigen, dass verschiedene Faktoren zivilgesellschaftliche Partizipation ermöglichen. Des Weiteren zeigt diese Reaktion auf die Grenzschließungen, dass Grenzregionen durchaus Räume sind, wo Grenzen und Ordnungen neuverhandelt und re-figuriert werden. Eine offene Staatsgrenze, über die die Bevölkerung täglich läuft und interagiert, wie in der Doppelstadt Frankfurt (Oder)-Słubice der Fall ist, wurde in den letzten Jahren als räumliche Ordnungsstruktur in einer entgrenzten Doppelstadt wahrgenommen. Die gegenwärtigen Protestaktionen sind Antworten auf die abrupte Grenzschließung und damit auf die Re-Figuration durch reflexartige Verhärtung von Grenzen und Veränderung von Ordnungen.

6 Fazit und Ausblick In Zeiten rascher globaler Veränderungsprozesse und Entfremdung von Bevölkerung von Politik scheint es in Bezug auf EU-Grenzräume lohnenswert, die Voraussetzungen, Formen und Potenziale gemeinschaftlicher Planung und Regionalpolitik zu untersuchen. Der Artikel hat sich zum Ziel gesetzt, zuerst zu untersuchen, warum EU-Grenzregionen so erkenntnisreiche Räume sind, wo räumliche, soziale und institutionelle Grenzen und Ordnungen neu verhandelt, ja gar re-figuriert werden. Im Folgenden wurde auch die Governance (also die Steuerung) der Re-Figuration von B/Orders sowie auf das Nachwirken der Grenze in diesen innereuropäischen Grenzregionen fokussiert. Anschließend wurde theoriegestützt ein Analysemodell zur Untersuchung von partizipativer Governance in EU-Grenzregionen schrittweise hergeleitet. Das Analysemodell baut dabei auf verschiedene andere Modelle und Ansätze auf, die grenzüberschreitende Innovations-, Wachstums-, Kohäsions- oder Integrationsprozesse und deren Bedingungen und Faktoren in Grenzregionen beschreiben. Daher ist dieses erarbeitete Analysemodell zwar keine Neuheit, legt aber aufgrund der transparenten Konzeptualisierung auch den Weg einer solchen Erarbeitung offen. Der spezifische Fokus richtet sich, anders als bei anderen Modellen, auf

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geopolitische (rechtliche, politische, administrative Fragen) und soziokulturelle (historische, sprachliche, soziale, sowie kulturelle) Grenzziehungsprozesse in innereuropäischen Grenzen. Außerdem wird der Einfluss solcher Grenzziehungen auf grenzüberschreitende Teilhabe- und Partizipationsprozesse in euroregionalen Politik- und Planungsprozessen mit und/oder durch die Bevölkerung und Zivilgesellschaft auf beiden Seiten der Grenze durch das Modell untersucht. Der Fokus des Analysemodells richtet sich daher zum einen auf institutionelle Inklusionsmechanismen von euroregionalen Institutionen (Euroregionen, Eurodistrikts und EVTZ) und zum anderen auf deren externe Interaktion mit der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze. Austausch und Mitbestimmung könnten Entscheidungsfragen zur thematischen Nutzung von EU-Fonds, langjährige räumliche Entwicklungspläne und konkrete Projekte umfassen. Mit einer solchen Öffnung für die zivilgesellschaftlichen Akteure und die Bevölkerung ist die Hoffnung geknüpft, EU-Politik auf euroregionaler Ebene bottom-up zu gestalten und gemeinschaftlich zu leben. Des Weiteren gilt es zu erforschen, welche Effekte eine solche partizipative Governance etwa auf Demokratisierung, Legitimation, Lerneffekte oder einfache Politikinnovation hat. Diese im Analysemodell aufgeworfenen Aspekte wurden skizzenhaft an der Euroregion Pro Europa Viadrina angewandt, können aber auch an anderen Grenzregionen in der EU angewandt werden, entweder auf regionaler oder kommunaler Ebene und dann auch untereinander verglichen werden. Spannend ist auch in einer Vergleichsperspektive zu erforschen, ob nun die geopolitischen oder soziokulturellen Grenzziehungspraktiken in den einzelnen Untersuchungsfällen einen größeren Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Mobilisierung haben. Außerdem ist zu überprüfen, ob eine Verdichtung der Grenze durch starke geopolitische Grenzmarkierungen immer unweigerlich zu Abschottungen und Rückzug der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze führt. Die Protestaktionen an der deutsch-polnischen Grenze nach der Grenzschließung zur Eindämmung der Corona-Pandemie zeigen, dass auch die Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze mobilisiert werden kann, wenn sich Einschränkungen von erworbenen und etablierten Rechten ergeben.

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Re-Figuration von Grenzen und Ordnungen im sozialen Raum

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Dr. Peter Ulrich  ist kommissarischer wissenschaftlicher Koordinator des Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und PostDoc am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) Erkner. Als Politikwissenschaftler mit Europa-, Regional- und Raumbezug untersucht er hauptsächlich Prozesse und Strukturen grenzüberschreitender Governance im europäischen Mehrebenensystem, Theorien zu Grenzen, Grenzräumen und Regionen, grenzüberschreitende Daseinsvorsorge, soziale Innovationen, europäische Integration und Demokratie. Seine hauptsächlich untersuchten Politikbereiche sind die der EU-Regional-, Wirtschafts-, Forschungs- und Innovationspolitik. Seine Promotionsschrift zu „Participatory Governance in the Europe of Cross-Border Regions. Cooperation – Boundaries – Civil Society” erscheint voraussichtlich Ende 2020 in der NOMOS-Schriftenreihe „Border Studies. Cultures, Spaces, Orders“ Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, [email protected]

Grenzgeographien der ­ COVID-19-Pandemie Florian Weber und Christian Wille

Zusammenfassung

Als im Dezember 2019 erstmalig von einem neuartigen Coronavirus in China berichtet wurde, war noch nicht absehbar, in welch kurzer Zeit und wie rasant ,COVID-19‘ globale Auswirkungen entfalten würde. Im Januar 2020 wurde Wuhan, die Hauptstadt von Hubei, unter Quarantäne gestellt und nur zwei Monate später hatte sich das Virus in Mitteleuropa ausgebreitet, gefolgt von einer steigenden Infektionswelle unter anderem in den USA. Damit verbunden erodierten vermeintliche Gewissheiten: Bewegungsfreiheiten wurden eingeschränkt, Einreisebeschränkungen verhängt und paradoxerweise genau 25 Jahre nach dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens auch viele EU-Binnengrenzen geschlossen. Der Beitrag fokussiert diese Grenzschließungen, beschäftigt sich aber auch mit sozialen Grenzziehungen im Zuge der Pandemie. Die betrachteten ,Grenzgeographien‘ reichen damit von der Subjektebene bis zur globalen Ebene und werden mit den eingeführten Sicherheitsmaßnahmen, eingesetzten (Ver-)Ordnungen, politischen Renationalisierungsreflexen und zivilgesellschaftlichen Widerständen in Zusammenhang gebracht. Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf einige weiterführende Themen- und Fragestellungen aus Sicht der Border Studies mit und nach der COVID-19-Pandemie. F. Weber (*)  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Wille  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_9

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1 Neue Grenz(ziehung)en Im Dezember 2019 beginnen sich, ausgehend von der chinesischen Stadt Wuhan mit elf Millionen Einwohner*innen (Provinz Hubei), teilweise schwer verlaufende Erkrankungen zu häufen, die auf ein neuartiges Virus hindeuten. Rückblickend gehen Forscher*innen davon aus, dass der erste Patient am 12. Dezember zur Behandlung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde (Wu et al. 2020). Am 31. Dezember wird über ein Ansteigen von Lungenentzündungen in Wuhan berichtet, die chinesische Staatsführung stuft dies aber noch nicht als eine weitreichende Bedrohung ein. Die rasante Ausbreitung bedingt allerdings, dass Wuhan am 23. Januar 2020 und einen Tag später die gesamte Provinz Hubei unter Quarantäne gestellt werden: das heißt, Aus- und Einreisen werden unterbunden, um die weitere Ausbreitung aufzuhalten (Tian et al. 2020). Indem die Provinzgrenzen ,abgeriegelt‘ und somit zur Demarkationslinie gemacht werden, kommt ein territorialer Ansatz der Eindämmung zum Tragen. Allerdings ist es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät: Reisen innerhalb Chinas, Internationalisierung und Globalisierung sorgen für einen schnelle Verbreitung des Virus im globalen Maßstab. So registrieren bereits Ende Januar die USA, Italien, Frankreich und auch Deutschland erste Infektionen, jedoch wird noch von Einzelfällen ausgegangen. Eine Bedrohung wird – mehr oder weniger reflektiert – zurückgewiesen, da die massive Ausbreitung des Coronavirus noch in erster Linie China und die angrenzenden Länder betrifft. Das Virus scheint geographisch und lebensweltlich noch weit entfernt. Gleichzeitig wurden erste Grenzziehungen zwischen Erkrankten und Gesunden mit personenbezogenen Quarantänemaßnahmen vorgenommen. Die Aufzeichnungen des deutschen Bundesgesundheitsministeriums (BMG 2020) beginnen am 27. Januar 2020 mit dem Hinweis auf eine Person aus dem Landkreis Starnberg in Bayern, die sich infiziert habe und isoliert worden sei. Etwa zu dieser Zeit steigen die offiziell gemeldeten Fälle der Infizierten in China deutlich an (World Health Organization 2020, o. S.), jedoch bewertet der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn bezugnehmend auf das Robert Koch-Institut die „Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland“ zunächst als „weiterhin gering“ (BMG 2020, o. S.). Die sich langsam abzeichnende ,Annäherung‘ des Virus lässt die Bedrohung zwar anwachsen, doch kann sie immer noch leicht ‚den Anderen‘ zugeschrieben werden. Denn die bayerischen Fälle können auf die Kontakte eines Unternehmensmitarbeiters mit einer chinesischen Kollegin zurückgeführt werden und damit war das Virus vermeintlich domestizierbar. In dieser Annahme werden auch Rückkehrende aus

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Wuhan im Februar im rheinland-pfälzischen Germersheim in einer Bundeswehrkaserne unter Quarantäne gestellt, um die potenzielle Weiterverbreitung des Virus zu verhindern und somit die Gefahr zu beherrschen. Allerdings werden in vielen Ländern der Welt immer mehr Fälle von Infizierten bekannt, so dass Jens Spahn am 12. Februar äußert, dass „noch nicht absehbar [sei], ob sich aus einer regional begrenzten Epidemie in China eine weltweite Pandemie entwickelt oder nicht“ (BMG 2020, o. S.). Die bis dato mühevoll etablierte Grenze zwischen China als Corona-Hotspot einerseits und Deutschland als nahezu nicht betroffenem Land andererseits erhält somit Risse. Das heißt, die dichotome Ordnung des Wir/Anderen geriet in Unordnung und erodierte schließlich gänzlich, als Ende Februar die Karnevalsfeiern für eine manifeste Verbreitung des Coronavirus im Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfalen) sorgen (Gortana et al. 2020, o. S.). Die externe Attribuierung der vermeintlich fernen Gefahr – wie sie weiterhin in den USA mit der Bezeichnung ‚Wuhan-‘ und/oder ‚Chinese-Virus‘ vollzogen wird (Nossem 2020) – gelingt so kaum noch. Spätestens als sich Ende Februar/Anfang März Norditalien und die französische Region Grand Est aufgrund von ‚Viren als unerwünschte Grenzgänger‘ (Fleischmann 2020 in diesem Band) als erste Epizentren der Corona-Ausbreitung in Europa entpuppen und dramatische Szenen aus ­ italienischen und französischen Krankenhäusern in den Medien gezeigt werden, verändert sich die Wahrnehmung von Risiken bei Wissenschaftler*innen, Regierungen und – respektive mit Auswirkungen auf die Bürger*innen – auch bei den Medien (bspw. dazu Gillmann 2020). Die wachsende Risikowahrnehmung geht mit einem Gefühl der Unsicherheit einher, das sich anhand einer grundlegenden Systematisierung nach Bauman (2000, S. 31) in verschiedene Formen der Destabilisierung ausdifferenzieren lässt: ein Gefühl nicht hinreichend vorhandener Sicherheit, dass das Vertraute – individuell und kollektiv Erworbene – weiterhin gesichert sei; ein Gefühl von Ungewissheit, da scheinbar stabile Ordnungen nunmehr doch in Unordnung geraten können und ein Gefühl von Schutzlosigkeit, dass Schaden vom eigenen Körper nicht ,sicher‘ abgehalten werden könne. Gerade der Schutz als körperliche Unversehrtheit wird binnen kürzester Zeit infrage gestellt und die Schutzlosigkeit ist für viele Menschen eine ungewohnte Erfahrung. Von einer zunächst als Epidemie qualifizierten Krankheitsausbreitung weitet sich das Virus ab Mitte März zunehmend zur globalen COVID-19-Pandemie aus (Robert Koch-Institut 2020, o. S.), die weder vor Staatsgrenzen Halt macht noch bestimmte soziale Gruppen verschont. Rebekka Kanesu (2020, o. S.) bemerkt hierzu treffend: „Corona doesn’t know borders, doesn’t care about skin color, gender, race, age, education or sexual preference.“

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Die politisch Verantwortlichen reagieren darauf – und dies wiederum global – geradezu reflexartig mit raumbezogenem Handeln, indem sie die Bewegungsfreiheiten spürbar beschneiden, Einreisebeschränkungen verhängen und nationale Grenzen schließen (bspw. BMI 2020d; Trump 2020; ZDF 2020b; vgl. auch Weber 2020). Die weitgehend operativen und bis dato selektiv wirksamen Grenz- und Migrationsregime (u. v. Genova 2017; Hess und Kasparek 2012; Pott et al. 2018; siehe auch Niebauer 2020 in diesem Band) werden im Zuge der ,Coronakrise‘ also neu justiert: über die universalen Einreisebeschränkungen für die Einwohner*innen der Europäischen Union in die USA oder an den europäischen Binnengrenzen (siehe dazu auch in der Chronologie Textbox 1).

Textbox 1: Eine Chronologie erodierender Gewissheiten und neuer Grenzziehungen

• 9. März: Italien verhängt zur Eindämmung einer weiteren massiven Ausbreitung von COVID-19 eine Ausgangssperre • 11. März: Das Robert Koch-Institut (RKI) erklärt die französische Region Grand Est zum Risikogebiet, an die die deutschen Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland sowie Belgien, Luxemburg und die Schweiz angrenzen • 13. März: Der US-Präsident erlässt einen Einreisestopp für Europäer*innen in die USA und ruft den nationalen Notstand aus (Trump 2020; siehe auch bspw. dazu ZDF 2020b) • 15. März: Polen schließt seine Grenze zu Deutschland für den Personenverkehr und führt Grenzkontrollen mit der Konsequenz ein, dass sich in kurzer Zeit an den Grenzen enorme Pkw- und Lkw-Staus mit bis zu zwanzig Stunden Wartezeit bilden • 16. März: Deutschland führt vorübergehende Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark ein (BMI 2020e). EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bringt den Vorschlag ein, einen EU-Einreisestopp für 30 Tage zu verhängen (Twitter-Video-Botschaft; zudem zu Richtlinien: European Commission 2020b), der auf breite Zustimmung stößt • 17. März: Frankreich verhängt eine landesweite Ausgangssperre. Die Grenzschließung des Schengen-Raums wird umgesetzt. Premierminister Xavier Bettel ruft im luxemburgischen Parlament den Notstand (état de crise) aus, der ab 18. März in Kraft tritt und Ausgangsbeschränkungen nach sich zieht

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• 18. März: Der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer lässt die Binnengrenzkontrollen auf den innereuropäischen Luft- und Seeverkehr ausweiten (BMI 2020a) • 19. März: Grenzübertritte werden an den deutschen Binnengrenzen zu den am 16. März festgelegten Nachbarländern nur noch an bestimmten Grenzübergangsstellen gestattet; die anderen Grenzübergänge werden gesperrt (BMI 2020d) mit stabilen Absperrungen oder teilweise auch nur mit Flatterbändern • 21. März: Das luxemburgische Parlament stimmt mit 56 Stimmen (0 Enthaltungen, 0 Gegenstimmen) für die Verlängerung des Notstands (état de crise) um maximal drei Monate • 22. März: Die deutsche Bundesregierung und Ministerpräsident*innen der Bundesländer verschärfen die Beschränkungen sozialer Kontakte (Bundesregierung 2020) • Verstärkt ab dem dritten Märzwochenende: Deutsche Krankenhäuser nehmen italienische und französische Patient*innen aus überlasteten Regionen auf (Deutscher Ärzteverlag GmbH 2020; Meister 2020) • 25. März: Für Saisonarbeitskräfte und Erntehelfer*innen nach Deutschland werden Einreisebeschränkungen verhängt (BMI 2020c) • 26. März: Das Europäische Parlament fordert eine einheitliche europäische Reaktion auf die Corona-Krise (Europäisches Parlament 2020) • 29. März: Deutliche, medial geäußerte Kritik an einem unzureichenden Handeln der Europäischen Union häuft sich (bspw. ZDF 2020a) • 31. März: Die Grenzschließungen (Kirch 2020a), die unter anderem im Saarland zu vereinzelten, nicht mehr für möglich gehaltenen Animositäten zwischen Deutschen und Franzosen führten (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020; Saarländischer Rundfunk 2020), werden zunehmend hinterfragt • Ende März/Anfang April vereinbart Luxemburg mit Deutschland, Frankreich und Belgien temporäre Besteuerungsreglungen, die es Grenzgänger*innen mittelfristig erlauben, an ihren Wohnorten in Heimarbeit zu arbeiten • 2. April: Auf YouTube wird ein Video saarländischer Bürgermeister*innen mit einer Solidaritätsbekundung an ihre französischen Partnergemeinden veröffentlicht (Clivot 2020) • 15. April: Das deutsche Bundesinnenministerium verkündet den Beschluss, die Binnengrenzkontrollen bis 4. Mai 2020 fortzusetzen

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(BMI 2020b). Parallel dazu wird eine EU-Roadmap veröffentlicht, in der auf die zeitliche Begrenztheit von Grenzschließungen hingewiesen wird: „Internal border controls should be lifted in a coordinated manner. Travel restrictions and border controls should be removed once the border regions epidemiological situation converges sufficiently. External border should be reopened in a second stage and take account of the spread of the virus outside the EU“ (European Commission 2020a, o. S.). In einem gemeinsamen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bekräftigen der saarländische Ministerpräsident und der Präsident des conseil régional der Region Grand Est, dass die Grenzkontrollen nur vorübergehend praktiziert werden und die ­deutsch-französische Freundschaft gestärkt aus der Krise hervorgehen würde (Hans und Rottner 2020) • 17. April: Die saarländische Staatskanzlei setzt sich dafür ein, dass weitere Grenzübergänge nach Frankreich und Luxemburg geöffnet werden (Kirch und Prommersberger 2020) • Ab Mitte April: Diskussionen in Europa, aber auch den USA nehmen zu, wie Exit-Strategien aus den (unterschiedlich) weitreichenden Beschränkungen vor dem Hintergrund sinkender Neuinfektionen ausfallen und umgesetzt werden können, um die Wirtschaftsentwicklung wieder zu forcieren, ohne allerdings eine zu hohe neue Ansteckungsrate verantworten zu müssen • 28. April: Die Exekutiven der Großregion beraten in einer gemeinsamen Videokonferenz über die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie und vereinbaren, sich beim Zwischengipfel der Großregion (18. Juni 2020) mit dem mittel- und langfristigen Umgang mit der Pandemie und ihrer Auswirkungen zu befassen (Die Luxemburger Regierung 2020, o. S.) • Ab dem 29. und 30. April: Die saarländische und die rheinland-pfälzische Landesregierung sowie Bürgermeister*innen in ­ Grenzlage fordern eine rasche Öffnung der Grenzen (bspw. dazu Büffel 2020; Dylla 2020; Maillasson 2020) • 8. Mai: In Luxemburg wächst das Unverständnis und die „Wut auf Deutschland“ im Hinblick auf die anhaltenden Grenzkontrollen (Gantenbein 2020; Kirch 2020b) • 9. Mai: Am Europatag finden zahlreiche symbolische Aktionen an den Grenzen Luxemburgs statt, insbesondere an der d­eutsch-

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luxemburgischen Grenze, mit der Forderung, die Grenzkontrollen aufzuheben (Commune de Schengen 2020; Cruchten und Hoffmann 2020) • 10. Mai: Der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer hebt die Grenzkontrollen während des Muttertags temporär unter der Voraussetzung auf, dass die Rückreise noch am 10. Mai erfolgt (Luxemburger Wort 2020) • 13. Mai: Die deutsche Bundesregierung beschließt Grenzöffnungen zu Luxemburg ab 16. Mai sowie zu Frankreich, Österreich und der Schweiz in Abstimmung mit diesen Nachbarländern ab 15. Juni; eine Aushandlung mit Dänemark soll erfolgen (tagesschau.de 2020b) Quelle: Eigene Zusammenstellung (Aufgrund des Redaktionsschlusses zu diesem Band reicht die Chronologie der Ereignisse bis Mitte Mai 2020).

Spätestens seit Mitte März wird unübersehbar, dass die COVID-19-Pandemie Gegenstand nationalstaatlichen Handelns ist und nationale Grenzen in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnen. Allerdings zeigt die nähere Betrachtung, dass diese Prozesse gerade auch mit Grenzziehungen im Alltag der Menschen in Verbindung stehen. Sowohl die fortdauernde Erosion des Vertrauten, das rasante Aufkommen neuer (Un-)Ordnungen als auch andere Auswirkungen der COVID-19-Pandemie gehen letztlich mit veränderten oder neuen Grenz(ziehung)en in unterschiedlichen Bereichen einher. Vor diesem Hintergrund verschieben sich für die Border Studies (hierzu Weber et al. 2020 in diesem Band) einige der gewohnten Betrachtungsperspektiven, ebenso wie sich neue Fragestellungen ergeben. Sie fokussieren auf Grenz(ziehung)en, die nicht auf die national-territoriale Ebene verkürzt werden können, sondern auch unter anderem auf Subjektebene wirksam werden. Eine Grenzgeographie der COVID19-Pandemie muss daher im Plural gedacht werden und multiple Grenz(ziehung)en einschließen, die als räumliche und soziale (Un-)Ordnungen auf unterschiedlichen (Maßstabs-)Ebenen eingeordnet werden. Ohne zu diesem Zeitpunkt1 vollständig sein zu können, werden in diesem Beitrag dementsprechend verschiedene Grenzgeographien von der Subjektebene bis zur globalen Ebene thematisiert und einige Zusammenhänge zwischen ihnen herausgearbeitet. Für die betrachteten

1Entwicklungen

nach dem Redaktionsschluss Mitte Mai 2020 konnten nicht vertieft berücksichtigt werden.

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Grenzziehungen und territorialen rebordering-Prozesse spielen die ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen und erlassenen Verordnungen genauso eine Rolle wie die umstrittenen Grenzschließungen und ihr Management im Frühjahr 2020. Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf einige weiterführende Themen- und Fragestellungen aus Sicht der Border Studies mit und nach der COVID-19-Pandemie.

2 (Ver-)Ordnungen und Grenzziehungen Als eine der einschneidendsten Grenzziehungen, die für viele Menschen in Europa eine neue Erfahrung bildet, können die Quarantänemaßnahmen und die sehr weit ins Private reichende Ausgangssperre (z. B. in Italien, Spanien und Frankreich) bzw. die eingeschränkte Bewegungsfreiheit (z. B. in Deutschland und Luxemburg) betrachtet werden. Während zu Beginn der Epidemie die oben erwähnten einhundert aus Wuhan Rückkehrenden im Februar (BMG 2020, o. S.) noch per Verordnung im deutschen Germersheim für zwei Wochen von der Außenwelt isoliert wurden, werden Mitte März flächendeckende Bewegungsordnungen veranlasst. In vielen Ländern werden diese zentral verordnet, im föderalen Deutschland unterscheiden sie sich je nach Bundesland. Sie sollen Kontakte unterbinden und somit eine Grenze zwischen vermeintlich sicherem und unsicherem Raum einsetzen helfen. Diese Differenzierung des Raums über eine Disziplinierung des Sozialen folgt einem erprobten Verfahren der Grenzgeographie, auf das Foucault (2019, S. 251) hinweist: „Nach einem Reglement vom Ende des 17. Jahrhunderts mußten folgende Maßnahmen ergriffen werden, wenn sich die Pest in einer Stadt ankündigte. Vor allem ein rigoroses Parzellieren des Raumes: Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums; Verbot des Verlassens unter Androhung des Todes; Tötung aller herumlaufenden Tiere; Aufteilung der Stadt in verschiedene Viertel […]. Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen.“ Die Parzellierung des Raum äußert sich im Zuge von COVID-19 in den ‚Grenzen des Habitats‘, die nicht nur eingeschränkte Horizonte der Bewegung markieren, sondern auch Einzug ins Innere des Habitats halten. So organisieren sich Haushalte, in denen Infizierte mit Nicht-Infizierten oder Risikogruppen mit NichtRisikogruppen zusammenleben, in neuen räumlichen Wohnformen. Auch bewirken die nun ins Private verlagerten Funktionen des Arbeitens (Home-Office), Lernens (Home-Schooling) oder der Kinderbetreuung neue Grenzziehungen im Alltag. Die verordneten und erforderlichen Grenzgeographien auf Subjektebene bringen mancherorts eine (­Schicksals-)Gemeinschaft der Immobilisierten (les confinés) hervor, wie es zum Beispiel in den Balkongesängen Italiens oder in solidarischer

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und generationenübergreifender Nachbarschaftshilfe zum Ausdruck kommt. Zugleich sind die neuen ‚Grenzen des Habitats‘ ausschlaggebend für gestiegene Gewalt in Familien oder für Ausschreitungen, zu denen es im April etwa in Paris oder Toulouse kam (Kuchenbecker 2020, o. S.; Gauthier 2020). Solche gewaltsamen Ausschreitungen stehen im Zusammenhang mit der – weitgehend durch schnell eingesetzte Notverordnungen legitimierten – Ermöglichung und Durchsetzung von Disziplinierungsmaßnahmen zur Sicherung einer ‚Ordnung undurchlässiger Zellen‘ (in Anlehnung an Foucault (2019, S. 251)). Angesprochen sind damit Reproduktionsprozesse von Grenzen mittels fortlaufender Regulierung und Kontrolle der Immobilisierung des Subjekts. Eine absolute und selbstregulierende Überwachung des individuellen Habitats – wie z. B. bei einem Panopticon (Foucault 2019, S. 256–263; dazu auch Engelhardt 2020 in diesem Band) – ist allerdings nur bedingt möglich. Als ein Ansatz dieser Art kann die schriftliche Selbstbescheinigung (attestation de déplacement dérogatoire) betrachtet werden, die in Frankreich am 17. März als Machttechnik zentral eingeführt wird und in der einer der fünf legitimen Gründe für das Betreten des öffentlichen Raums selbst angekreuzt werden muss. Das unterzeichnete Dokument wird beim Verlassen des Wohnhauses mitgeführt, es zwingt aber bereits davor zu einer Selbstregulierung im eigenen ‚Habitat‘. Außerdem kommen in vielen Ländern „neue Machttechniken“ zum Einsatz, die sich als „post-panoptisch“ verstehen lassen (Bauman 2017 [engl. Original 2000], S. 22 und 18) und mit denen die Bewegungsaktivitäten in Verbindung mit den verschärften oder gelockerten Maßnahmen beobachtet werden. Prominente Beispiele für die Surveillance sind die digitalen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, die in China oder Israel (Satra 2020; Shachar 2020) durchgeführt werden. Ein umstrittenes Tool solcher digitalen Grenzregime auf Subjektebene sind Trackingoder Contact-Tracing-Apps, die Daten über räumliche (Un-)Ordnungen der Bewegung und Individualkontakte sammeln. Die dargelegten (Ver-)Ordnungen und Grenzziehungen können mit Foucault (2005) in das Spannungsfeld zwischen Regierung und Selbstreg(ul)ierung eingeordnet werden. Damit wird die Fremdführung einerseits – also das government als Steuerung gesellschaftlicher Probleme per Gesetz oder Verordnung (dazu u. v. bspw. Benz und Dose 2010, S. 26; Bröchler und Blumenthal 2006) – und die Selbstführung andererseits sowie die zwischen ihnen vermittelnde gesellschaftliche Praxis angesprochen: „Regierung integriert Subjektivität (sich selbst regieren) und politische Herrschaft (regiert werden), integriert Macht, aber auch Widerstand (,nicht dermaßen regiert werden wollen‘, ,sich selbst nicht dermaßen regieren wollen‘)“ (Füller und Marquardt 2009, S. 89–90). Dieses

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auch als Gouvernementalität (Foucault 2004) bezeichnete Verhältnis zwischen Regierung und Selbstreg(ul)ierung beschreibt die Umgangsweisen mit (verregelten) Grenzgeographien, wie sie auch für die Abstandsregelungen und Einlassbeschränkungen auf Wochenmärkten (vgl. Abb. 1 oben), in Super- bzw. Baumärkten oder auf Spielplätzen (vgl. Abb. 1 unten) zum Tragen kommen. Diese erweiterte Perspektive auf COVID-19-Verordnungen erlaubt es, auch die Aneignungen von verordneten Grenzen in den Blick zu nehmen, wie zum Beispiel Grenzverletzungen beim Einhalten des Sicherheitsabstands in Warteschlangen, das Ausgehen auf ‚Corona-Partys‘ oder in die illegal geöffnete Kneipe. Außerdem ermöglicht die Gouvernementalitätsperspektive im Sinne der „Technologien des Selbst“ (Foucault 1988) Selbstbeschränkungen zu betrachten und damit das freiwillige Praktizieren von Grenzen: zum Beispiel das freiwillige Tragen von Handschuhen oder eines Nasen-Mund-Schutzes. Selbstbeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie sind vor allem in Bezug auf den eigenen Körper und zum Schutz der eigenen Gesundheit und jener Anderer festzustellen. Neben den empfohlenen hygienischen Maßnahmen – etwa das Händewaschen nach einer normierten Choreographie – ist bereits im März ein relativ verbreitetes Tragen eines Nasen-Mund-Schutzes im öffentlichen Raum zu beobachten. Zu dieser Zeit wird seine Sinnhaftigkeit zwar öffentlich noch kontrovers diskutiert, die selbst gewählte Grenzziehung zwischen dem eigenen Körper und den anderen Körpern scheint sich aber dennoch zu etablieren. Angesichts einer potentiell todbringenden Krankheit erstaunt diese Beobachtung nicht, allerdings ruft Baumann (2017 [engl. Original 2000], S. 215) eine weitere Erklärung auf: „Der Körper ist gleichsam zum Rückzugsort von Kontinuität und Langlebigkeit geworden […]. Hier liegt die letzte Verteidigungslinie der Sicherheit, und die ist dem dauernden Beschuß feindlicher Kräfte ausgesetzt […]. Daher rührt der Körperwahn, die Besorgnis um den Körper und seine Verteidigung. Die Grenze zwischen Körper und Außenwelt ist mit die am schärfsten bewachte unserer Welt.“ Baumann folgend fungiert der Körper in der Postmoderne also ohnehin als letzte Bastion der Sicherheit, die nun im Zuge der COVID-19-Pandemie umso stärker umkämpft ist. Damit wird einsichtig, warum das Tragen eines Nasen-Mund-Schutzes bereits den öffentlichen Raum prägt, bevor dies von den Instanzen verordnet wird. Die Maskenpflicht wird zum Beispiel in Luxemburg am 20. April mit einem individuellen starter kit von fünf Einwegmasken, die jede*r Bürger*in im Briefkasten vorfinden soll, eingeführt. Im Saarland werden ab dem 27. April ebenfalls fünf Einwegmasken über die Kommunen an die Bewohner*innen abgegeben.

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Abb. 1   Disziplinierungen auf dem Markt in Neustadt/Weinstraße, wo Mindestabstände per Kreidestrich auf dem Boden, ,Einbahnregelung‘ mit Bezahlen am Ende des Marktstandes und Absperrkette rechts der Schlange etabliert wurden (oben) und Zutrittsregulierungen zu einem Spielplatz (unten), März 2020. (Quelle: Aufnahmen Florian Weber (oben) und Anette Krause (unten) 2020)

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Mit dem Körper und seinem Schutz stehen auch die von Politik und Medizin vorgenommenen Grenzziehungen in Verbindung. Dazu zählt die Kategorisierung in Gesunde, Kranke und Genesene sowie die Differenzierung in üblicherweise weniger vom schweren Krankheitsverlauf Betroffenen und ,Risikogruppen‘, denen ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen zugeordnet werden. Diese Ordnungen werden diskursiv (re)produziert, verfestigt und erlangen eine soziale Wirkmächtigkeit (u. a. Robert Koch-Institut 2020, o. S.; allg. zum Machtaspekt bei der (Re-)Produktion sozialer Wirklichkeiten bspw. Angermüller und van Dyk 2010; Glasze und Mattissek 2009). So werden bestimmte Personengruppen als besonders vulnerabel und damit als schützenswerter als andere markiert, wie zum Beispiel in der Roadmap der Europäischen Kommission zum Ausstieg aus dem Lockdown nachzulesen ist (European Commission 2020a, o. S.; vgl. bspw. auch Gutschker 2020). Vulnerabilität avanciert so zu einem Unterscheidungskriterium, das Grenzen auf Subjektebene hervorbringt, sich allerdings als nicht verlässlich erweist: Denn auch jüngere Menschen können einen schweren Krankheitsverlauf durchleben. Im Zuge der COVID-19-Pandemie werden zudem Ordnungsprinzipien wirksam, die sich an Merkmalen wie Geschlecht oder schlichtweg an administrativen Erfassungskategorien orientieren. So konstatiert Kanesu (2020, o. S.): „While in Germany, discourses especially focus on age boundaries, by advising to keep safe distance from grandparents and elderly neighbors, in Panama City control of movement functions through divisions along binary gender lines where females are allowed to leave the house on Monday, Wednesday and Friday and males can go outside on Tuesday, Thursday and Saturday. Columbia, on the other hand, tries to organize mobility in public spaces according to National ID numbers, which creates boundaries between those who hold the citizenship and those without proper documents“.

3 Territoriale Ordnungen und Grenzen Die skizzierten Bewegungsordnungen und sozialen Grenzziehungen auf Subjektebene stehen mit nationalen Grenzen und den darüber vorgenommenen Territorialisierungen im Zusammenhang. Sie können als (Un-)Ordnungen der Sicherheit verstanden werden, die in China und den angrenzenden Ländern bereits frühzeitig Gegenstand staatlichen Handelns sind: „When a cluster of mysterious viral pneumonia cases struck in Wuhan, China in January 2020, neighboring Asian countries that had already borne the brunt of the SARS and MERS outbreaks – notably Hong Kong, Taiwan, and South Korea – wasted no time. These countries swiftly introduced public health responses that included

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extensive testing, isolation of patients, and quarantines. But they also quickly introduced another set of measures: travel bans that restricted access to their territories. Officials in these countries boarded planes arriving from Wuhan to screen passengers, barring admission to those with symptoms“ (Shachar 2020, o. S.). Auch in Europa werden Mitte März rasch Risikogebiete ausgerufen mit der Konsequenz, dass Grenzen reaktiviert werden und Rückkehrer*innen (und später Einreisende) aus solchen Gebieten sich in eine zweiwöchige häusliche Quarantäne begeben müssen. In der Großregion SaarLorLux wird die französische Region Grand Est vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft, womit die COVID-19-Pandemie am 11. März quasi ‚amtlich‘ in die unmittelbare Nachbarschaft der Schweiz, der deutschen Bundesländer Baden-Württemberg, Saarland und Rheinland-Pfalz, der belgischen Region ­ Wallonien und des Nationalstaats Luxemburg rückt. Allerdings ist die territoriale Kategorie ‚Risikogebiet‘ bei einer ‚Superregion‘ mit 57.500 km2 Fläche, die sich vom Département Ardennes an der belgischen Grenze bis zum Département Haut-Rhin an der schweizerischen Grenze erstreckt, durchaus zu hinterfragen. Mit dieser Beschreibung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass am 11. März der Raum um die französische Stadt Mulhouse als gravierender Infektionsherd gilt, dieser allerdings mehr als 200 km vom Saarland und ca. 300 km von Luxemburg entfernt liegt. Diese Parameter relativieren das von Grand Est ausgehende und amtlich deklarierte Sicherheitsrisiko für einige der Anrainer. Weiter erscheint das Risiko relativ, wenn die noch junge französische Region näher betrachtet wird: Grand Est ist im Jahr 2016 aus der französischen Territorialreform als Verschmelzung der vormaligen Regionen Lothringen, Elsass und Champagne-Ardenne hervorgegangen (dazu bspw. Harster und Clev 2018). Damit wird nicht nur die Kontingenz territorialer Ordnungen deutlich, sondern genauso die Kontingenz eingesetzter Ordnungen der Sicherheit. Denn noch im Jahr 2015 wäre das Risiko dem Elsass zugeschrieben worden und Lothringen zunächst vom Risikostatus verschont geblieben. Das Saarland, Luxemburg oder Wallonien wären somit nicht zu Anrainern eines Risikogebiets geworden. Diese Kategorie wird in Luxemburg übrigens Mitte März obsolet als die Epidemie zu einer Pandemie erklärt wird und das Ministerium für Gesundheit nicht länger nach dem räumlichen Ordnungsprinzip Risiko/Nicht-Risiko operiert, sondern fortan von einem generellen Infektionsrisiko ‚in der Welt‘ ausgeht (MSAN 2020, o. S.). Wie bereits angerissen, sind es gerade nationale Grenzen, die im Zuge der COVID-19-Pandemie in den Fokus der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rücken. Eine Sicherung der europäischen Außengrenzen und das damit verbundene Migrationsregime (u. v. Campesi 2018; Cuttitta 2015,

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2018; Genova 2017; Hess und Kasparek 2012; Miggelbrink 2013; Pott et al. 2018) – bei aller Härte für ankommende und hilfesuchende Geflüchtete – ist in den letzten Jahren zu einer ,normalen‘ Lebenswirklichkeit geworden. Neue nationalstaatliche Migrationsregime, die als veränderte Grenzgeographien nach innen in die Europäische Union hineinwirken, gehören hingegen nicht zur ,Normalität‘: Der Schengen-Raum hat es mit sich gebracht, dass nationalstaatliche Grenzen für Europäer*innen ohne Kontrollen überquert werden können – mancherorts erinnern nur noch Relikte wie verwaiste Grenzhäuschen an die Zeit systematischer Grenzkontrollen. Damit ist es letztlich paradox, dass genau 25 Jahre nach Inkrafttreten des Schengener Abkommens (1995) diese Grenzen im Jahr 2020 wieder kontrolliert bzw. in Teilen geschlossen werden (siehe dazu Abb. 2 und Abb. 3). Nossem (2020, S. 8) erkennt darin einen tiefen Einschnitt: „[A]s the idea of open borders has been such a crucial element in the formation of a ‘European’ identity and the shared self-image across the entire Schengen area, border closures weigh particularly strongly in Europe.“ Aus der Wiederbelebung von nationalen Grenzen im Zuge der COVID-19-Pandemie lässt sich ein Rückbesinnen auf einen starken und selbst agierenden Nationalstaat – eine ,Postgovernance‘ (Berr et al. 2019, S. 20–24) – ableiten (Crossey 2020), was eindrücklich illustriert, dass auch in einer globalisierten Welt aus Netzwerken, Personen- und Warenströmen, Mobilitäten (vgl. allg. auch bspw. Rumford 2006, S. 163) und ,kosmopolitischen Viren‘ (Kanesu 2020, o. S.) Grenzen existieren und leicht reaktiviert werden können. Grenzen und die sie markierenden territorialen Ordnungen sind demnach stets veränderbar: „There is no single border situation. Borders are opening and closing throughout the world at one and the same time. Borders are differentiated through society and space, such that while they are becoming more porous and amenable to crossing in one place, they are becoming more restrictive and sealed to movement in other places“ (Newman 2011, S. 33–34; auch u. a. Anderson und O'Dowd 1999). Die wiedererlangte Bedeutung von nationalen Grenzen lässt sich im Sinne eines ,rebordering‘ zunächst als Renationalisierungsprozess fassen, der für gesundheitliche Sicherheit sorgen soll. Allerdings haben solche Renationalisierungen eher symbolischen Charakter, verhindern nationale Grenzen doch nicht die Ausbreitung des Virus (Hamez et al. 2020; Kanesu 2020). Das Reaktivieren von nationalen Ordnungen verhindert allerdings ein abgestimmtes und einheitliches EU-Handeln, welches in der aktuellen Situation ohnehin begrenzt ist, da der Infektionsschutz den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten obliegt (dazu bspw. auch Berrod et al. 2020) und die Europäische Kommission lediglich Vorschläge zugunsten abgestimmter Maßnahmen vorlegen kann. In den Grenzregionen werden Renationalisierungsprozesse – etwa über nationale

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Abb. 2   Gesperrte Grenzübergänge zwischen dem Saarland und dem Département Moselle in der Region Grand Est (oben zwischen Silwingen und Waldwisse, unten Freundschaftsbrücke zwischen Kleinblittersdorf und Grosbliederstroff). (Quelle: Aufnahmen Brigitte Weber (oben) und Peter Dörrenbächer (unten) 2020)

und/oder regionale Verfügungen – unmittelbar wirksam. Hier treffen verstärkte Grenzkontrollen oder geschlossene Grenzen auf verflochtene Lebenswirklichkeiten ‚vor Ort‘ und damit auf die alltäglichen Grenzgeographien der Bewohner*innen (bspw. Spellerberg et al. 2018; Wille 2015, 2020a; Wille und

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Abb. 3   Überblick über die im Zuge der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie wiedereingeführten Grenzkontrollen in Europa, Stand 22. April 2020. (Quelle: Copyright MOT 2020, o. S. (https://www.espaces-transfrontaliers.org))

Nienaber 2020). So leben zum Beispiel in der grenzüberschreitenden Region Saarland, Lothringen, Luxemburg Familien beiderseits der Grenze, deren Kontakte nun zum Teil gravierend eingeschränkt sind. In einigen Dörfern (z. B. im saarländischen Leidingen) verläuft die Grenze durch den Ort, so dass auf den Straßenseiten jeweils unterschiedliche Pandemie(ver)ordnungen gelten; die Selbstversorgung mit Lebens- und Haushaltsmitteln im benachbarten Land ist nicht mehr möglich und schließlich sind Grenzpendler*innen stark betroffen. Zwar können letztere die Grenze mit einem Passierschein queren, aufgrund

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geschlossener Grenzübergänge müssen sie aber zum Teil weite Anfahrts- und Umwege in Kauf nehmen. Diese Einblicke illustrieren, welche Konsequenzen mit einigen politischen Maßnahmen in Grenzregionen verbunden sind und inwiefern sich in Europa bereits Borderlands entwickelt haben (Boesen und Schnuer 2017; Brunet-Jailly 2011; Pavlakovich-Kochi et al. 2004; Špaček 2018; Wille 2012; siehe auch Crossey und Weber 2020; Weber 2020; Wille 2020b in diesem Band). Sie werden im Zuge der COVID-19-Pandemie spürbar herausgefordert, was zu verschiedenen Initiativen des Widerstands bzw. Protests geführt hat, die mit dem erwähnten Verhältnis von Regierung und Selbstreg(ul)ierung in Verbindung stehen. Ein bekannt gewordenes Beispiel sind Liebespaare an der deutsch-schweizerischen Grenze, die sich aufgrund der Grenzschließung nicht mehr besuchen können, aber an einem Bauzaun treffen, der die Grenze behelfsmäßig markiert (SWR 2020, o. S.). Das so genannte ,Zaunieren‘ wurde allerdings rasch reguliert und erschwert: Um den Körperkontakt durch den Zaun zwischen den Paaren zu unterbinden, wurde nach wenigen Tagen eine zweite Zaunreihe aufgestellt, die die Liebenden nun auf Abstand hält. Weniger ‚romantische‘ Anfechtungen der Grenzschließungen beruhen auf Handlungen von Bürger*inneninitiativen, die zum Beispiel zu öffentlichen Solidar- bzw. Protestbekundungen in Form von Spruchbändern an teilweise symbolischen Orten geführt haben: • an der Autobahnauffahrt im deutschen Trier mit dem Text „L‘Europe, c‘est la liberté, l‘amitié et la solidarité. Metz + Trèves pour toujours“2 , • an der Freundschaftsbrücke zwischen dem deutschen Kleinblittersdorf und dem französischen Grosbliederstroff: „La Sarre ou la Lorraine. ­Aidez-vous les uns les autres et restez fort!“3 (vgl. Abb. 4), • an der Stadtbrücke zwischen dem deutschen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Słubice: „Im Herzen vereint und gemeinsam stark. Wir sehen uns bald wieder! | Razem łatwiej przetrwać najtrudniejsze chwile. Do zobaczenia wkrótce!“

2Eigene

Übersetzung: „Europa ist Freiheit, Freundschaft und Solidarität. Metz + Trier für immer.“ Dieses Spruchband sowie weitere in der Stadt Trier platzierte wurde von den Ultras des Fußballclubs Eintracht Trier aufgehängt und richtet sich an die ,Tribune Ouest‘ aus Metz (Grand Est, Frankreich) und an die Ultras der ,Curva Sud‘ aus Vicenza (Italien). Besonders zur ,Tribune Ouest‘ aus Metz, der Partnerstadt von Trier, pflegt der Trierer Fußballclub seit über zehn Jahren eine enge Freundschaft (SV Eintracht Trier 2020, o. S.). 3Eigene Übersetzung: „Saarland oder Lothringen. Helft Euch untereinander und bleibt stark!“

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Abb. 4   Spruchband auf der Freundschaftsbrücke zwischen dem deutschen Kleinblittersdorf und dem französischen Grosbliederstroff „La Sarre ou la Lorraine. Aidez-vous les uns les autres et restez fort!“ (Quelle: Aufnahme Eva Nossem 2020)

Zivilgesellschaftlicher Aktivismus angesichts verordneter Grenzgeographien lässt sich auch an der Aktion ,Schengen is alive‘ ablesen, die (bereits im Jahr 2016 im Zuge der damaligen temporären Schließungen von einigen Schengen-Grenzen (Evrard et al. 2018) ins Leben gerufen) im April zunächst mit verschiedenen Grenzgemeinden im Dreiländereck Schengen neu aufgelegt und mit den Bürger*innen über mehrere Wochen hinweg fortgesetzt wird. Explizit ausgewiesene Proteste gegen Grenzschließungen finden am 24. April an der deutsch-polnischen Grenze statt, insbesondere in der Doppelstadt Frankfurt (Oder)/Słubice, wo die Bürger*innen für „Lasst uns zur Arbeit, lasst uns nach Hause“ demonstrieren. An der deutsch-französischen Grenze wiederum bauen Aktivist*innen des transnationalen Jugendverbands ,Junge Europäische Föderalisten‘ am 3. Mai in einer symbolischen Aktion an zwei gesperrten Grenzübergängen im Saarland die Barrieren ab und sprühen „#DontTouchMySchengen“ auf den Asphalt (JEF 2020). Diese Beispiele zeigen, dass die Grenzen in den unmittelbar betroffenen Regionen umkämpft sind und illustrieren anschaulich das Wechselverhältnis von re- und ­debordering-Prozessen. Im Zuge der COVID-19-Pandemie haben die europäische Idee und die Frage nach ihrer Praktikabilität weiter an Brisanz gewonnen, es geht um die Grundfeste Europas: „Le danger est la remise en question des principes fondateurs de l’idée européenne, basée sur l’unification des peuples européens et non pas sur leur différentiation nationale. Si l’Union renonce au modèle de gouvernance

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à multiples niveaux associant le niveau européen, les autorités nationales et les collectivités locales et régionales dans les régions frontalières, elle va y perdre son âme sans parvenir à combattre la propagation d’un virus qui ne suit certainement pas une logique de contamination nationale“4 (Berrod et al. 2020, o. S.). Dass die Europäische Kommission bemüht ist, „ihre Seele“ (âme) nicht zu verlieren, zeigen verschiedene Aktivitäten, wie das koordinierte Rückholen von Staatsbürger*innen, die gemeinsame Beschaffung von medizinischem Material, die angestrebte Abstimmung von Lockerungsmaßnahmen oder die Initiative, global abgestimmt gegen das Virus vorzugehen. Viele Mitgliedsstaaten ,ziehen mit‘ und durchbrechen nationale Logiken. Sie folgen also nicht den Grenzgeographien streng nationalen Zuschnitts und leisten zum Beispiel grenzüberschreitende Hilfeleistungen, wie etwa bei der Patient*innen-Versorgung. Crossey (2020, o. S.) unterstreicht in diesem Zusammenhang die um so wichtiger gewordene symbolische Dimension solcher Solidaritäten: „Symbolische und praktische Akte fließen hierbei ineinander über – so mag beispielsweise die Aufnahme von französischen Notfallpatient*innen durchaus Krankenhäuser in Grand Est entlasten, gleichzeitig kommt ihr insbesondere angesichts des derzeit anscheinend erschütterten Vertrauens in die tatsächliche Belastbarkeit der deutsch-französischen Partnerschaft eine hohe symbolische Tragweite zu.“ Eine solche symbolische Dimension ist auch den Aktionen von saarländischen, rheinland-pfälzischen und luxemburgischen Bürgermeister*innen von Grenz­ gemeinden inhärent: Mit gemeinsamen Videobotschaften oder gemeinsamen Briefen (siehe Textbox 1) kämpfen sie nicht nur für die Öffnung von Grenzübergängen, zugleich treten sie dadurch für die europäische Idee ein und machen diese sichtbar. Ihr Aktivismus für lokale Erfordernisse ruft die offenen EUBinnengrenzen und die damit verbundenen Freiheiten als Errungenschaften in Erinnerung, um die es zu kämpfen gilt. Insofern kann die COVID-19-Pandemie trotz ihrer politischen Renationalisierungsreflexe und vor allem wegen der zivilgesellschaftlichen Anfechtungen von Grenzschließungen sowie grenzüberschreitenden Solidaritäten auch als eine Chance zur Wiederbelebung der

4Eigene

Übersetzung: „Es besteht die Gefahr, dass die Grundprinzipien der europäischen Idee, die auf der Vereinigung der europäischen Völker und nicht auf ihrer nationalen Unterscheidung beruhen, in Frage gestellt werden. Wenn die Union das Modell der Multi-LevelGovernance aufgibt, an dem die europäische Ebene, die nationalen Behörden und die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in den Grenzregionen beteiligt sind, wird sie ihre Seele verlieren, ohne dass es ihr gelingt, die Ausbreitung eines Virus zu bekämpfen, die sicherlich nicht einer nationalen Logik der Durchseuchung folgt.“

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Europäischen Idee und ihrer Prinzipien gedeutet werden. Diese Deutung wird untermauert von den zahlreichen praktischen und symbolischen Akten am und um den Europatag am 9. Mai 2020, die den Druck zur Öffnung der geschlossenen EU-Binnengrenzen weiter erhöhen und auf die Wiedereinrichtung des als ‚normal‘ erachteten Grenzregimes im Schengen-Raum hinwirken.

4 Grenzgeographien: weiterführende Themen- und Fragestellungen In diesem Beitrag wurden Grenzgeographien der COVID-19-Pandemie auf unterschiedlichen (Maßstabs-)Ebenen und einige ihrer Zusammenhänge aufgezeigt. Der zum Redaktionsschluss Mitte Mai gegebene Einblick ist nicht erschöpfend und steht für eine erste Annäherung, um einige weiterführende Themen- und Fragestellungen aus Sicht der Border Studies mit und nach COVID-19 sowie nach den erwarteten Öffnungen der EU-Binnengrenzen zu umreißen. Die Betrachtungen haben gezeigt, dass (Ver-)Ordnungen und Grenzziehungen auf Subjektebene unmittelbar wirksam werden und für ‚Grenzen des Habitats‘ stehen können. Im Anschluss daran können eine Vielzahl von Fragestellungen unter dem Stichwort ‚boundary coping‘ entwickelt werden, die auf die Aushandlungen von Parzellierungen und Grenzziehungen im ‚­ Corona-Alltag‘ abzielen. Dazu zählen Aneignungsweisen und Bewältigungsstrategien im Zusammenhang mit Ausgangssperren, Kontakt- und Zutrittsbeschränkungen sowie privatem Risikomanagement. Genauso bildet der (verordnete) Rückzug ins Private einen Analysegegenstand, der als Wiederentdeckung des Habitats aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Ein Beispiel stellen die während des ‚confinement‘ wenig beachteten und sozial benachteiligten ,cités‘ (Großwohnsiedlungen) in den französischen ,banlieues‘ dar: Nicht nur die hier vorherrschenden beengten Wohnverhältnisse wurden durch die (bis zum 11. Mai) verhängte Ausgangssperre gravierend verschärft, auch hat sich die soziale Situation der Bewohner*innen aufgrund der ohnehin fragilen Arbeits- und Lebensverhältnisse im Lockdown weiter zugespitzt. Hinter diesem Beispiel steht die generelle Frage nach Inklusion und sozialer Gerechtigkeit, die während der COVID-19-Pandemie erneut an Brisanz gewonnen hat und Anstoß geben sollte, um weitgehend unhinterfragte Kategorien wie Privilegierte/Benachteiligte oder Systemrelevante/Nicht-Systemrelevante und ihre angenommenen Zusammenhänge kritisch zu überdenken. Aspekte des ‚boundary coping‘ und Fragen der sozialen Gerechtigkeit bleiben über den Lockdown hinausgehend brisant und relevant. Die sich dafür

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eröffnenden Betrachtungsperspektiven zielen vor allem auf die alltäglichen und langfristig etablierten Grenzgeographien mit COVID-19 ab, die sich auf Subjektebene als ‚Corona convivialities‘ untersuchen lassen. Damit sind die – empirisch zu beantwortenden – Fragen nach den Arten und Weisen angesprochen, die Subjekte für ein konstruktives Zusammenleben miteinander praktizieren: „conviviality can be used as an analytical tool to ask and explore the ways, and under what conditions, people constructively create modes of togetherness“ (Nowicka et al. 2014, S. 342). Dafür naheliegend ist die weitere Beobachtung der während des Lockdown entstandenen solidarischen bottom up-Initiativen (Nachbarschaftshilfen, heimische Nasen-Mund-Schutzproduktion u. v. m.) und ihre eventuellen Transformationen hin zu ‚Corona commons‘ (allg. in Anschluss an Helfrich et al. 2015) mit dem Potenzial für eine Destabilisierung von Exklusionsmechanismen. Ein weiterer Zugang zu ‚Corona convivialities‘ kann über die erwartete wachsende Sensibilität für Körper und Sicherheit erfolgen, wenn etwa Abstandsregelungen bzw. Körper/Außenwelt-Grenzen auf Subjektebene inkorporiert und damit Sicherheits(ver)ordnungen als routinierte körperliche ‚Aufführungen‘ in das Zusammenleben integriert und Grenzziehungen so ggf. langfristig als Residualpraktiken verdauert werden. Ein solcher Zugang über den Körper kann Sozialtheorien zu einer Aufwertung verhelfen, die belebte und unbelebte Akteure gleichermaßen als Teilnehmer*innen des Sozialen betrachten (u. a. Latour 2005; Reckwitz 2003; Schatzki et al. 2001). Der Körper spielt vermutlich auch eine Rolle in der zukünftigen Betrachtung von staatlichen Regulierungs- und Kontrollpraktiken. Zum Teil durch Notverordnungen legitimiert haben sich staatliche Autoritäten im Zuge der COVID-19-Pandemie temporär eine sicht- und spürbarer gewordene Steuerungsbefugnis gegeben, die weit ins Private hineinreicht. Die empirische und kritische Beobachtung wird zeigen, welche Rolle der ‚erstarkte‘ Nationalstaat in ‚Corona convivialities‘ spielen wird und inwiefern die verstärkten (digitalen) ­Surveillance-Praktiken unangefochten bleiben. Dafür können Ansätze genutzt werden, die Körper und (Kontroll-)Apparaturen als Teilnehmer*innen des Sozialen betrachten und mit Machttechniken in Verbindung bringen. Dazu zählt zum Beispiel das Konzept der iBorders (Pötzsch 2015), das digitale Grenzregime in den Blick nimmt und einen kritischen Zugang eröffnet zum „sorting, profiling, categorizing, predicting, and filtering“ (Pötzsch 2015, S. 104) als digitale und kulturelle S­ urveillance-Praktik: „iBorders refers to a sociotechnological apparatus that employs techniques of biometric and algorithmic bordering to validate, establish, and indeed produce, identities and patterns of life. The deployed practices enlist individual subjects as both target and source in bordering processes that disperse locally as well as across transnational space. In these

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processes, individuals become objects of governance to be analyzed and assessed, but also serve as implicit contributors to the databases enabling algorithm-driven mappings of patterns of behavior and association“ (Pötzsch 2015, S. 111). Die territoriale Dimension von Grenzen gilt es nach einer Reihe von bereits vorliegenden grenzüberschreitenden Forschungsarbeiten (u. v. bspw. Heintel et al. 2018; Pallagst et al. 2018; Ulrich 2020; Wille et al. 2016) vor allem im regionalen Maßstab erneut zu beleuchten. Dabei sollten die Aushandlungsprozesse in Grenzregionen von und zwischen staatlichen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren im Zentrum stehen, die in den Re- und Deaktivierungen sowie im Management von Grenzen wirksam sind. Dies kann zunächst Fragen der grenzüberschreitenden Kooperation umfassen, hinsichtlich derer der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans und der Präsident des Regionalrats von Grand Est Jean Rottner unterstreichen, dass die Krise in der Großregion beweise, „dass wir eine ständig engere grenzüberschreitende Zusammenarbeit brauchen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020, o. S.). Crossey (2020, o. S.) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass unterschiedliche Akteure „im Rahmen ihrer Möglichkeiten ‚ihren Teil‘ zur grenzüberschreitenden Freundschaft auch in Krisenzeiten beitragen“ wollen und wirft die weitreichende Frage auf, wie „dieser Rahmen für die jeweiligen Akteur*innen in der Grenzregion tatsächlich“ aussehen könnte. Damit verweist sie (vgl. auch Eurodistrict SaarMoselle 2020) auf die Zukunft der grenzüberschreitenden Kooperation und ihre Ausgestaltung, für die forschungs- wie praxisbezogen eine produktive Verschneidung von ,multi-level governance‘ und ,cross border-governance‘ in der Großregion lohnenswert erscheint. Die Vertreter*innen des höchsten politischen Gremiums der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, der Gipfel der Großregion, haben Ende April beschlossen, sich im Frühsommer 2020 „mit dem mittel- und langfristigen Umgang mit der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen auf die Großregion [zu] befassen“ (Die Luxemburger Regierung 2020, o. S.), wobei allerdings grundlegende Governance-Fragen vermutlich nicht auf der Tagesordnung stehen. Weiter bilden die zivilgesellschaftlichen Kräfte und ihre Aktionen in Grenzregionen einen Untersuchungsgegenstand, der im Zuge der C ­ OVID-19-Pandemie an Profil gewonnen hat. Proteste und symbolische Aktionen an den EUBinnengrenzen, wie sie während des Lockdowns zur Wiederherstellung des Schengen-Regimes zu beobachten waren, bildeten in der Vergangenheit die Ausnahme in ,Räumen der Grenze‘ (Wille 2014). Über die Erfahrung von ­rebordering-Prozessen und der damit verbundenen Auswirkungen ist die Grenze nun (vorübergehend) wieder in den Alltag der Grenzraumbewohner*innen getreten (border experiences, dazu allg. Wille und Nienaber 2020). Auch

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hat der aktiv(istisch)e Einsatz für die Deaktivierung des Grenzregimes die Grenze als einen nicht gesetzten und durchaus verhandelbaren Gegenstand unmittelbar erfahrbar gemacht. Die als borderwork (Rumford 2012, S. 897) fassbare Beteiligung der Grenzraumbewohner*innen an debordering-Prozessen kann als ‚act of [European] citizenship‘ (Isin und Nielsen 2008) betrachtet werden und lässt in dieser Perspektive die zu prüfende Vermutung zu, dass die Grenzschließungen eine Europäischen Bürger*innenschaft in Grenzregionen gestärkt haben. Transformationen im Verhältnis zu Europa im Zuge der COVID-19-Pandemie lassen sich auch aus diskurstheoretischer Perspektive untersuchen (Glasze 2013; Keller 2007; Laclau und Mouffe 1985; Weber 2018), indem der Fokus auf Verschiebungen (Dislokationen) in vermeintlich unumstößlichen Diskursen gerichtet wird. Ganz grundlegend hat der vormals machtvoll verankerte Diskurs um den Klimawandel zumindest temporär gegenüber COVID-19 an Dominanz eingebüßt. Die Betrachtungen sollten hier vor allem auf die sich wandelnden Europa- und Grenzdiskurse abzielen und ihre Dynamiken anhand von Dislokationen, Subdiskursen und gegenhegemonialen Stimmen herausstellen. Darüber können bspw. folgende Fragen von Grenzgeographien behandelt werden: • Inwiefern sind die (frühen) Renationalisierungsreflexe in Europa einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der bis dato kaum vorstellbaren Aufgabe der Bewältigung einer potenziell todbringenden Epidemie geschuldet? • Inwiefern hat das geteilte Moment der Krise und der (grenzüberschreitenden) Solidarität die EU-Mitgliedsstaaten oder auch Grenzregionen wieder bzw. noch näher zusammenrücken lassen? • Inwiefern können die Grenzschließungen und nationalen Alleingänge als eine Gefahr, aber auch als Chance für die europäische Idee und ihre Prinzipien bewertet werden? Außerdem können über Diskursanalysen die im Zuge der COVID-19-Pandemie aktivierten territorialen Ordnungsprinzipien und deren Wirkmächtigkeiten im Zeitverlauf und ländervergleichend ausdifferenziert werden. Angesprochen sind damit sprachlich codierte bordering-Prozesse, die sich an Zuschreibungen oder diskursiven Verräumlichungen ablesen lassen. Dafür anschaulich steht ‚die Rede‘ vom so genannten Wuhan- bzw. chinesischen Virus, die Nossem (2020, S. 5) bereits als eine Technik der Grenzgeographie herausgearbeitet hat (siehe hierzu u. a. auch tagesschau.de 2020a, o. S.): „the G7 countries’ failure to issue a joint statement because of Washington’s insistence on using the label ‘Wuhan virus’ hit the headlines, and the U.S. administration has been working hard over the last

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weeks to enforce the name ,Chinese virus‘ as the official label for the coronavirus during their press conferences. This move of rebranding the virus by using a specific ,place-mark‘ is just one of many strategies of apportioning the blame for the (spread of the) virus to a specific place/country and to construct the disease as a foreign-grown threat to the nation.“ Die kritische Betrachtung solcher Beispiele diskursiv hervorgebrachter Grenzgeographien hilft, die performativen Techniken zu verstehen, mit denen im Zuge der COVID-19-Pandemie die Unzähmbarkeit des Virus und die damit verbundenen Risiken ‚den Anderen‘ zugeschrieben wurden mit dem Anliegen, die eigene Gruppe bzw. das eigene Territorium mit einer Zähmbarkeit des Virus, gesundheitlicher Sicherheit und souveräner Handlungsfähigkeit auszustatten. Schließlich machen die betrachteten COVID-19-Grenzgeographien wiederholt deutlich, dass Grenz(ziehung)en nicht verkürzt als ,lines in the sand‘ (Parker und Vaughan-Williams 2009) thematisiert werden können, sondern dass die jüngsten konzeptionellen Entwicklungen der Border Studies besonders vor dem Hintergrund der Pandemie appliziert und weiter ausdifferenziert werden sollten. Dazu zählen vor allem die erweiterten Auffassungen von bordering-Prozessen, die für die Multiplizität und die darin wirksamen Aspekte sensibilisieren und einen multiplen Zugriff auf Grenz(ziehung)en einfordern. Hinzu kommen die daran anschließenden texturorientierten Betrachtungen, die Grenz(ziehung)en als Effekte des komplexen Zusammenspiels von Tätigkeiten, Diskursen, Objekten, Körpern und Wissen verstehen (Brambilla 2015; Rumford 2012; Weier et al. 2018; Wille 2020c). Letztere berücksichtigen die in und für Grenz(ziehung)en wirksamen Aspekte, projektieren sie als ein sozial, materiell, räumlich oder zeitlich bestimmbares dynamisch-komplexes Gefüge und interessieren sich dafür, wie sich bordering-Effekte durch die Interaktionen und Wechselwirkungen der berücksichtigten Aspekte verstärken oder relativieren. Dieser auch als bordertextures (Weier et al. 2018; Wille 2020c) bezeichnete Zugang zu bordering-Prozessen leistet es, die in diesem Beitrag angesprochenen Aspekte von Wuhan (China) bis Leidingen (Saarland) oder von der Subjektebene bis zur globalen Ebene als ein von bestimmten (Macht-)Logiken zusammengehaltenes Gefüge mir Ver-/Entgrenzungseffekten zu konzipieren. Außerdem räumen bordertextures dem derzeit weltweit bekannten Protagonisten von Grenzgeographien, dem Coronavirus, einen analytischen Platz ein. Von der Wissenschaft als Quasi-Lebewesen bezeichnet (Fleischmann 2020 in diesem Band), kann es im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2005) als ein in bordertextures wirksamer Akteur betrachtet werden. Ein solcher analytischer Einbezug des Virus in komplexe bordering-Prozesse erlaubt eine Neueinstellung und damit Schärfung bestimmter Fragen:

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• Inwiefern gehen vom Virus bestimmte Regierungspraktiken aus, die sich als Grenzgeographien in Form von Parzellierungen oder Bewegungs(ver)­ ordnungen in den Raum einschreiben und sich damit das Virus letztlich verräumlicht? • Inwiefern destabilisiert das Virus als machtvolles Subjekt den S ­chengenRaum, re-/deaktiviert Grenzen oder bringt zukünftig neue Praktiken eines mit ihm verwobenen Grenzmanagements hervor? Die angerissenen Themen- und Fragestellungen sollen Impulse für Weiterentwicklungen und zukünftige Untersuchungen geben, die sich mit den temporären und teilweise voraussichtlich verdauernden Grenz(ziehung)en mit und nach der COVID-19-Pandemie auseinandersetzen. Bereits zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Beitrags ist deutlich, dass die Grenzgeographien dynamisch bleiben und ihre Beobachtung auch weiterhin Aufschluss über neue Grenz(ziehung)en und damit über neue Verhältnisse von Macht, Grenze und Raum geben wird.

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Jun.-Prof. Dr. habil. Florian Weber studierte Geographie, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik an der Johannes G ­ utenberg-Universität Mainz. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promovierte er zu einem Vergleich deutschfranzösischer Stadtpolitiken. Von 2012 bis 2013 war Florian Weber als Projektmanager in der Regionalentwicklung in Würzburg beschäftigt. Anschließend arbeitete er an der TU Kaiserslautern in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Universität der Großregion, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und als Akademischer Rat an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er 2018 habilitierte. Seit dem Sommersemester 2019 forscht und lehrt er als Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Diskurs- und Landschaftsforschung, Border Studies, erneuerbaren Energien sowie Stadtpolitiken und Stadtentwicklungsprozessen im internationalen Vergleich. Dr. Christian Wille (https://www.wille.lu) ist Senior Researcher an der Universität Luxemburg und leitet das grenzüberschreitende Netzwerk UniGR-Center for Border Studies. Er lehrt kulturwissenschaftliche Border Studies und arbeitet über Border Complexities. Wille ist Gründungsmitglied der interuniversitären Arbeitsgruppen Cultural Border Studies und Bordertextures sowie Mitherausgeber der Buchreihe Border Studies: Cultures, Spaces, Orders. Zuletzt hat er die Bücher „Border Experiences in Europe“ (2020, Nomos), „Spaces and Identities in Border Regions“ (2016, transcript) und „Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen“ (2015, transcript) herausgegeben. Wille hat an der Universität des Saarlandes und der Universität Luxemburg promoviert, in Luxemburg den fakultären Schwerpunktbereich Migration and Intercultural Studies koordiniert und in der Interregionalen Arbeitsmarktbeobachtungsstelle der Großregion gearbeitet.

(Un-)Ordnungen der Kontrolle. Politische Auseinandersetzungen um das Asylsystem der Europäischen Union nach der Krise des Grenzregimes 2015 David Niebauer Zusammenfassung

Die Krise der europäischen Migrations- und Grenzpolitik im Jahr 2015 hat Auseinandersetzungen um die Kontrolle und Steuerung von Migration sowie das europäische Projekt im Allgemeinen hervorgerufen. Das verdeutlichen die politischen Aushandlungen eines neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Der Beitrag untersucht unterschiedliche Ansätze und Reformvorschläge europäischer Institutionen und Staaten zum GEAS und stellt dar, dass diese zum einen hinsichtlich der Ebene des Regierens grundlegend umkämpft sind, indem europapolitische Konzepte einer Renationalisierung, Europäisierung und differenzierten EU-Integration miteinander konkurrieren. Zum anderen zeigen sich innerhalb und zwischen diesen Ansätzen divergierende Strategien raumbezogener Migrationssteuerung. Dadurch stehen sich verschiedene Geographien der Grenze gegenüber, die von territorialen Kontrollen an europäischen Außen- oder Binnengrenzen bis hin zu räumlich ausgedehnten Maßnahmen wie Umverteilungen von Asylsuchenden oder sozioökonomische Restriktionen in Aufnahmestaaten reichen. Im Anschluss an die Grenzregimeforschung besteht mein Argument darin, die Ansätze jedoch nicht allein als sich widersprechend, sondern als im Regierungshandeln zugleich miteinander verwoben zu begreifen. Dadurch kann verständlich gemacht werden, wie nicht trotz,

D. Niebauer (*)  Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_10

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sondern gerade aufgrund von Interessenunterschieden in der EU multiskalare und heterogene (Un-)Ordnungen der restriktiven Migrations- und Grenzkontrolle entstehen.

1 Einleitung Im Juli 2019 warb Ursula von der Leyen mit einer Rede vor dem Europäischen Parlament für ihre Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin. Darin versprach sie unter anderem Folgendes: „Ich werde einen neuen Migrations- und Asylpakt vorschlagen, in dessen Rahmen insbesondere die Reform der D ­ ublin-Asylregelung neu aufgerollt werden soll“ (von der Leyen 2019a). Einige Woche später wies die ins Amt gewählte von der Leyen bei der Zusammensetzung ihrer ­EU-Kommission die Zuständigkeit für Migrationspolitik zudem nicht nur wie bislang üblich dem Ressort für Inneres zu, sondern auch dem Vizepräsidenten Margaritis Schinas (von der Leyen 2019b). Damit erklärte sie Fragen der Migration offiziell zur Priorität ihrer Amtszeit und verdeutlichte, wie tiefgreifend sich die migrationspolitischen Ereignisse des Jahres 2015 auch noch vier Jahre später auf die EU-Politik und das europäische Projekt im Allgemeinen auswirken. In jener Phase 2015, die zumeist als ‚Flüchtlingskrise‘ bezeichnet wird, brach die Migrations- und Grenzpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten temporär zusammen. Die tiefgreifende Krise der europäischen Politik lässt sich dabei nicht nur aus normativer Sicht – sei es etwa auf Basis menschenrechtlicher oder demokratietheoretischer Argumente – konstatieren, sondern allein schon gemessen an den selbstformulierten Zielen der EU, nach denen „Migration bestenfalls verhindert und schlimmstenfalls gesteuert werden müsse“ (Kasparek 2019, S. 121). Kritische Autor*innen sprechen daher angemessener von einer „Krise des europäischen Grenzregimes“ (Hess et al. 2017) oder vom „Sommer der Migration“ (Kasparek und Speer 2015), um das Scheitern der EU-Politik hervorzuheben und nicht die Geflüchteten selbst als Problem erscheinen zu lassen. Diese überwanden in großer Zahl nicht nur die zunehmend externalisierten Grenzkontrollen außerhalb des EU-Territoriums sowie die europäischen Außengrenzen, sondern überschritten auch Europas Binnengrenzen, um in westund nordeuropäischen Staaten mitten im „Schengenland“ (Walters 2011) einen Asylantrag stellen zu können. Doch bereits ab Herbst 2015 lassen sich Versuche der EU-Institutionen und Regierungen der Mitgliedsstaaten beobachten, die zentralen Bausteine des mehrstufigen europäischen Grenzregimes zu restabilisieren. So einigten sich

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europäische Entscheidungsträger*innen auf weiterführende Externalisierungspolitiken und verschärfte Maßnahmen zur Sicherung der Außengrenzen, wie die EU-Türkei-Erklärung oder der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex beispielhaft zeigen (Buckel 2018; Engler 2019; Georgi 2019). Demgegenüber bleibt jedoch der Wieder- und Neuaufbau der EU-internen Dimension des europäischen Grenzregimes politisch umkämpft und geprägt von den allgemeinen Krisen- und Desintegrationsprozessen, welche die EU seit einigen Jahren kennzeichnen. Dies zeigt sich vor allem daran, dass die vorgesehene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bis zum Beginn der Amtszeit der EU-Kommission von der Leyens Ende 2019 nicht beschlossen werden konnte. Das von ihr abgegebene Versprechen vor der Wahl zur Kommissionspräsidentin demonstriert insbesondere die Kontroverse um die Reform der Dublin-Verordnung als Kernelement des GEAS, die die Prinzipien der Kontrolle und Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für Asylsuchende innerhalb der EU neu regeln soll. Vor diesem Hintergrund analysiere ich in meinem Beitrag die Entwicklungen des innereuropäischen Migrations- und Grenzregimes nach 2015 anhand der Auseinandersetzungen um das europäische Asylsystem. Dabei beziehe ich sowohl die konkreten Reformverhandlungen um das GEAS als auch parallel ergriffene politische Maßnahmen mit ein, die mit der (Dys-)Funktionalität und der Reform des Systems in Verbindung stehen. Ich gehe der Frage nach, welche widerstreitenden Diskurse und Praktiken der EU-internen Kontrolle von Migration in den Auseinandersetzungen um das GEAS ausgehandelt werden sowie welche Rolle hierbei Europadiskurse und (Des-)Integrationsprozesse der EU spielen. In der Analyse stütze ich mich auf öffentlich zugängliche Policy-Dokumente und auf von mir geführte Interviews mit Vertreter*innen der EU-Institutionen (siehe dazu Tab. 1). Die methodische Auswertung erfolgt vor der Folie einer ­kritisch-poststrukturalistischen Policy- und Diskursanalyse (Fischer et al. 2015; Jäger 2011), wodurch untersucht wird, wie Europa- und Grenzdiskurse in den Aushandlungsprozessen entstehen und strukturiert sind. Um die umkämpften Aushandlungsprozesse zwischen Befürworter*innen unterschiedlicher Europamodelle und die damit verbundene Produktion divergierender Geographien der Grenze herauszuarbeiten, nutze ich theoretische Überlegungen der kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung, auf die ich zunächst eingehe. Die verschiedenen Logiken der Ordnungspolitiken – des „b/ ordering space“ (van Houtum et al. 2005) – systematisiere ich anschließend entlang der politischen Kontroverse um die räumliche Maßstabsebene. Diese besteht zwischen Institutionen und Akteur*innen, die eine ,nationale‘ oder ,europäische Lösung‘ befürworten sowie jenen, die diese Ansätze zunehmend um Konzepte

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Tab. 1   Übersicht über die in die Analyse einbezogenen Interviews Interview 1. (2019). Mitglied des Rates der Europäischen Union, 14.02.2019 Interview 2. (2019). Mitglied des Europäischen Parlamentes, 22.03.2019 Interview 3. (2019). Mitglied des Europäischen Parlamentes, 28.03.2019 Interview 4. (2019). Mitglied des Europäischen Parlamentes, 02.04.2019 Interview 5. (2019). Mitglied der Europäischen Kommission, 22.05.2019 Interview 6. (2019). Mitglied der Europäischen Kommission, 27.05.2019 Interview 7. (2019). Mitglied des Rates der Europäischen Union, 27.06.2019 Interview 8. (2019). Mitglied des Rates der Europäischen Union, 27.06.2019 Interview 9. (2019). Mitglied der Europäischen Kommission, 15.07.2019 Interview 10. (2019). Mitglied der Europäischen Kommission, 17.07.2019 Quelle: Eigene Übersicht

einer ,differenzierten EU-Integration‘ zu erweitern anstreben. Doch trotz dieser europapolitisch entgegengesetzten und zwischen und innerhalb der skalaren ,Lösungsansätze‘ heterogenen Diskurse und Praktiken der Migrationskontrolle beabsichtigt der Beitrag schließlich zu zeigen, dass die Ansätze nicht als sich wechselseitig vollständig ausschließend zu verstehen sind. Vielmehr vervielfältigen und verknüpfen sich die Kontrollinterventionen in der Regierungspraxis zu einer hybriden Form des restriktiven Regierens von Migration.

2 Das (inner-)europäische Migrations- und Grenzregime Die europäischen Migrations- und Grenzpolitiken entstanden in den 1980er Jahren im Zuge der Gründung des Schengenraums. Denn durch das politische Projekt des gemeinsamen Binnenmarkts und der Personenfreizügigkeit ergab sich die Konstellation eines ,Kontrolldilemmas‘: Politische Entscheidungsträger*innen sahen sich mit der Frage konfrontiert, wie die Abschaffung der nationalen Grenzkontrollen innerhalb Europas mit dem weiterhin vorhandenen Anspruch einer Kontrolle menschlicher Mobilität verbunden werden kann (Lahav und Guiraudon 2000). Europäische Institutionen und Staaten begannen daraufhin mit der Schaffung und Sicherung einer gemeinsamen europäischen Außengrenze sowie der Etablierung von gemeinsamen Migrationspolitiken, die den Verzicht auf die Binnengrenzkontrollen kompensieren sollten. Dadurch entwickelten sich Fragen von Migration primär zu einem Gegenstand der Sicherheitspolitik – verbunden mit dem Ziel, Mobilität von außerhalb Europas möglichst

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zu verhindern und zu steuern oder lediglich die punktuelle Einwanderung nach Nützlichkeitserwägungen zu ermöglichen (Bigo 2002; Huysmans 2000). Insofern stellt die restriktive Migrations- und Grenzpolitik von Beginn an die Kehrseite des politischen Projekts des grenzkontrollfreien Schengenraums dar, auch wenn oftmals ausschließlich von einem genuin ‚postnationalen‘ und ‚grenzüberschreitenden‘ europäischen Projekt die Rede ist (Stierl 2020, S. 254–256). Entsprechend sind die europäischen Migrations- und Grenzpolitiken bis zum heutigen Zeitpunkt von der Rationalität und den Prozessen einer Versicherheitlichung geprägt. Daraus ein Verständnis einer ‚Null-Einwanderungspolitik‘ im Sinne einer bloßen „Repressionshypothese“ ­ (Kasparek 2016, S. 65) abzuleiten, wäre jedoch unterkomplex und unzureichend. Wie im Anschluss an die Migrations- und Grenzregimeforschung verdeutlicht werden kann, ließe ein solch strukturalistischer Ansatz die vielfältigen Auseinandersetzungen, Ausgestaltungen, Funktionen und Effekte unberücksichtigt, die die europäischen Migrations- und Grenzpolitiken ebenfalls kennzeichnen. Unter Bezugnahme auf den Regimebegriff ist weder von einer einzigen systemischen Logik des Regierens von Migration, noch von einer übergeordneten zentralen Steuerungsmacht der Politik auszugehen (Hess et al. 2018). Vielmehr entstehen Migrations- und Grenz(kontroll)politiken in umkämpften Aushandlungsprozessen zwischen einer Vielzahl an gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen sowie in einem Ensemble aus unterschiedlichen Gesetzgebungen, Diskursen, Praktiken, Räumen und Infrastrukturen (Hess 2018; Tsianos und Karakayali 2010). Migrations- und grenzpolitische Verhältnisse gehen demzufolge als Ergebnisse von Auseinandersetzungen und der Praxis eines ,un/ doing borders‘ (van Houtum und van Naerssen 2002) hervor, womit sie fortwährend Transformationsprozessen unterliegen. Die beständige Infragestellung und Fragilität des Regimes ergibt sich zudem nicht zuletzt aus der konstitutiven Kraft der Migration selbst: Durch die Handlungsmacht von Migrationsbewegungen unterwandern Migrant*innen politische Kontrollversuche durch Grenzüberschreitungen immer wieder, sodass Migration nie vollständig lückenlos nach den Zielen der Politik gesteuert werden kann (Mezzadra 2011; Moulier Boutang 2007). Dieses regimetheoretische Verständnis des Regierens von Migration kann auch mit den umkämpften Entscheidungsprozessen und der netzwerkartigen Verfasstheit der EU in Verbindung gebracht werden. So ist die EU selbst nicht durch ein einziges Steuerungszentrum gekennzeichnet, sondern durch eine Verteilung der Entscheidungsmacht über mehrere, miteinander verflochtene Maßstabsebenen hinweg (Beck und Grande 2004; Walters und Haahr 2005). Zugleich ist die Anordnung der Ebenen und politischen Kompetenzen nicht schon als gegeben

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und statisch vorauszusetzen: Sie werden stattdessen in konfliktreichen Aushandlungen zwischen den Institutionen und Akteur*innen laufend neu verhandelt, produziert und verändert (Wissen et al. 2008). In dieser Hinsicht verdeutlichen dann auch zahlreiche Forschungen im Anschluss an die Regimetheorie, wie sich in letzten Jahrzehnten ein europäisches Grenzregime mit einem Konglomerat an Abschottungs- und Kontrollpolitiken auf verschiedenen lokalen, nationalen, europäischen und internationalen Maßstabsebenen entwickelte (Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ 2014; Hess und Kasparek 2010; Hess et al. 2017; Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Eine bedeutsame Transformation der Migrations- und Grenzpolitik, die sich im Kontext dieser Etablierung des europäischen Grenzregimes feststellen lässt, ist eine zunehmende Verräumlichung und geographische Ausbreitung. So sind Grenzen längst nicht mehr auf den Charakter einer fixierten Linie am Rand eines Territoriums beschränkt (Parker und Vaughan-Williams 2009). Denn zusätzlich entstanden sind neue Formen der territorial ausgedehnten Grenzen, was sich auch durch die Technisierung, Digitalisierung und Biometrisierung der Kontrollen – sogenannte ‚smart borders‘ – verstärkt und von Forscher*innen mit Konzepten wie „borderscapes“ (Brambilla 2015), „borderlands“ (Balibar 2009) oder „networked borders“ (Rumford 2006, S. 157) analytisch zu fassen versucht wird (zu Grenzsicherungen vgl. auch Engelhardt 2020 sowie Weber und Wille 2020 in diesem Band). Diesbezüglich deutlich wird die räumliche Dimension des mehrstufigen europäischen Grenzregimes zum einen durch die Externalisierung von Grenzkontrollen, d. h. die Aus- und Vorverlagerung von Kontrollpraktiken in und an Drittstaaten außerhalb des EU-Territoriums (Bialasiewicz 2012; Lahav und Guiraudon 2000; Lavenex 2006). Zum anderen zeigt sich mit Blick auf das Innere Europas die Durchsetzung eines raumbezogenen Kontrollregimes. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Dublin-Verordnung, die bereits im Kontext der Gründung des Schengenraums beschlossen und mit dem Vertrag von Amsterdam Ende der 1990er Jahre als Bestandteil des GEAS in das EU-Vertragswerk integriert wurde. Ziel des Dublin-Systems ist es, die innereuropäische Bewegungsfreiheit von Menschen ohne EU-Staatsbürger*innenschaft oder Visum und damit das potentiell mehrfache Stellen von Asylanträgen im Schengenraum ohne Grenzkontrollen durch sogenannte ,Sekundärmigration‘ zu verhindern. Ein Kriterienkatalog regelt hierfür die alleinige Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für Asylverfahren. In der Praxis hat sich dabei das Land der ersten Einreise als zentrales Kriterium herauskristallisiert. Dementsprechend sollen Asylsuchende in dem Staat ihr Asylverfahren durchlaufen, in dem sie erstmals EU-Territorium betreten haben. Angesichts eines fehlenden Prinzips der Verteilung von Asylsuchenden in der EU

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sind daher aufgrund der geographischen Fluchtrouten mit der Zeit die Staaten an den südeuropäischen Außengrenzen für die überwiegende Mehrheit der Asylanträge zuständig geworden (Kasparek 2016; Lorenz 2015). Neben der Dublin-Verordnung ist die Eurodac-Verordnung zentraler Bestandteil des inzwischen in verschiedenen Phasen mehrfach überarbeiteten GEAS. Die Fingerabdruckdatenbank Eurodac schaffte eine Grundlage, das ­Dublin-System auch operativ umsetzen zu können. Denn durch eine unmittelbare digitale Registrierung aller auf dem EU-Territorium ankommenden Migrant*innen lassen sich die jeweiligen EU-Ersteinreisestaaten feststellen, wodurch Personen bei Verlassen ihres zuständigen Staates wieder dorthin abgeschoben werden können. Damit zielt die mittlerweile als Dublin-III in Kraft getretene Verordnung in Verbindung mit dem Eurodac-Verfahren auf die Immobilisierung und die Kontrolle von Migrant*innen im Inneren Europas. Gleichzeitig wird mit den drei Rechtsakten – der Verfahrens-, Qualifikations- und Aufnahmerichtlinie – das Anliegen eines europaweit homogenen Flüchtlingsschutzes verfolgt: Diese legen gemeinsame Kriterien zum Ablauf von Asylverfahren, der Anerkennung eines Flüchtlingsstatus und den materiellen Mindeststandards für Schutzsuchende in allen EU-Staaten fest (Lehnert 2015; Lorenz 2015). Dass allerdings dieses vorgesehene System der europäischen Asylpolitik im Jahr 2015 in eine fundamentale Krise geriet, soll nachfolgend näher erläutert werden.

3 Politische Auseinandersetzungen um das EU-Asylsystem nach dem ,Sommer der Migration‘ 2015 Die europäische Asylpolitik ist unter dem Eindruck der umfassenden Grenzüberschreitungen der Migrationsbewegungen 2015 zum Erliegen gebracht worden. Allerdings lassen sich bereits seit den frühen 2010er Jahren Krisensymptome beobachten, die verdeutlichen, dass das innereuropäische Kontrollregime schon länger von Kämpfen gegen das System und einer strukturellen Dysfunktionalität geprägt war (Kasparek 2016; Lorenz 2015). Doch erst mit dem ‚Sommer der Migration‘ brach das GEAS temporär vollständig zusammen. Zurückzuführen ist das zum einen auf die Kraft der Migration selbst: Viele Asylsuchende unterwanderten die Dublin-Regelung des Ersteinreiselands, indem sie nicht an den südlichen Rändern Europas verblieben und stattdessen in anderen Mitgliedsstaaten einen Asylantrag stellten. Parallel dazu verzichteten aber auch die südeuropäischen Ersteinreisestaaten ihrerseits zunehmend auf die vorgesehene Registrierung von Migrant*innen in der Fingerabdruckdatenbank Eurodac sowie

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auf die Aufnahme von Geflüchteten und die Durchführung von Asylverfahren, zu denen sie aufgrund der Dublin-Verordnung rechtlich verpflichtet wären. Damit wurde offensichtlich, dass die fehlende Balance in der Verteilung von Asylsuchenden in Europa für Staaten wie Griechenland und Italien politische Anreize erzeugte, Migrant*innen nicht länger an der Weiterreise zu hindern und ‚Sekundärmigration‘ zuzulassen. Im Mittelpunkt der sich schon länger abzeichnenden Auseinandersetzungen um das GEAS steht somit seit 2016 die Frage nach einem neuen System der Registrierung, Kontrolle, Verteilung und Aufnahme von Asylsuchenden. Als weniger strittig erwies sich in den GEAS-Reformverhandlungen bisher das Vorhaben, die nach wie vor höchst unterschiedlichen Aufnahmebedingungen, Verfahrensstandards und Anerkennungsquoten rechtlich anzugleichen, um einer Ursache für die als zu verhindern geltende ‚Sekundärmigration‘ zu begegnen. Wesentlich umstrittener sind jedoch die Fragen, wo und wie die Registrierung und Kontrolle von Migrant*innen zu organisieren ist und nach welchen Prinzipien die Verteilung von Asylsuchenden innerhalb Europas in Zukunft erfolgen soll (Interview 3-2019; Interview 7-2019; Interview 10-2019). Die damit verbundenen politischen Aushandlungsprozesse sollen im Folgenden skizziert werden. Dabei systematisiere ich die unterschiedlichen Ansätze und Reformvorschläge entlang des zentralen Konflikts über die räumliche Maßstabsebene zur ‚Bearbeitung‘ der Krise und beschreibe schlaglichtartig einerseits ‚nationale‘ und andererseits ‚europäische‘ Ansätze sowie zudem Strategien der ‚differenzierten EU-Integration‘.

3.1 ‚Europa der Vaterländer‘: Strategien der Renationalisierung Im Zuge der Krise des GEAS haben sich während und nach 2015 nationale Maßnahmen als ein zentraler Ansatz in Europa herausgebildet. Entlang einer Vorstellung eines „Europas der Vaterländer“ (Interview 6-2019) stehen diese Diskurse und Praktiken in Verbindung mit dem grundsätzlichen Erstarken von konservativen und rechten Politiker*innen, Parteien und Regierungen in Europa sowie einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Handlungsfähigkeit der EU in der Migrationspolitik. Die Rückentwicklung zu nationalen Migrations- und Grenzpolitiken drückt sich neben der Verschärfung nationaler Asylgesetzgebungen insbesondere in der eigenmächtigen Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum aus. Dieses nationale ,rebordering‘ fungiert im Diskurs als eine „Metapher der ‚Rückgewinnung von Kontrolle‘ und der ‚Herstellung von

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Sicherheit‘“ (Chojnacki und Paping 2016, S. 24). Im September 2015 war es dabei zuerst die deutsche Regierung, die Kontrollen an der Grenze zu Österreich veranlasste, um der erhöhten ,Sekundärmigration‘ und Ankunft von Asylsuchenden entgegen zu wirken. Damit löste sie eine Kettenreaktion aus, infolge derer neben Deutschland auch Frankreich, Österreich, Norwegen, Schweden und Dänemark – als Hauptzielländer von Asylsuchenden – beschlossen, ihre Binnengrenzen wieder selektiv zu kontrollieren. Dadurch versetzten die Staaten den Schengenraum in eine Art „Stand-by-Modus“ (Schmidt-Sembdner 2019, S. 255) und sorgen seitdem dafür, dass durch permanente Verlängerungen der im Schengener Abkommen lediglich zeitlich befristeten Maßnahme der Grundsatz der offenen Grenzen kontinuierlich in Frage gestellt wird (Georgi 2019, S. 222). Zudem machen sich die Prozesse der Renationalisierung auch in den Reformverhandlungen des GEAS durch eine politische Blockade im Rat der EU unmittelbar bemerkbar. Trotz mehrjähriger Debatten konnten sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten auf keine gemeinsame Position für eine neue Dublin-IV-Verordnung einigen. Während vor allem die Regierungen der südeuropäischen Staaten das Ersteinreiselandprinzip des Dublin-Systems überwinden wollen und ihnen damit Vorschläge ohne eine unmittelbare und verpflichtende Umverteilung von Migrant*innen nicht weitreichend genug sind, zeigen sich Regierungen Osteuropas zu keinerlei verbindlichen Umverteilung von Asylsuchenden bereit. Als ein Grund für den Stillstand in den Verhandlungen gilt darüber hinaus ein informeller Konsens, Beschlüsse zum GEAS im Rat nur noch einstimmig zu treffen, um eine weitere Spaltung zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden, obwohl Entscheidungen nach Mehrheitsprinzip rein rechtlich weiter möglich wären (Interview 7-2019).

3.2 ‚Zurück zu Schengen’: Konzepte einer weiterführenden Europäisierung Den nationalen Maßnahmen gegenüber stehen Bestrebungen nach einer einheitlichen ‚europäischen Lösung‘ durch eine Reform des GEAS (Interview 4-2019). Zu den Befürworter*innen dieser Position zählen vorrangig die E ­ U-Kommission und mehrheitlich Politiker*innen des EU-Parlaments. Das von der EUKommission formulierte Ziel besteht dabei darin, durch eine weiterführende Europäisierung und Zentralisierung der Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene „Zurück zu Schengen“ (Europäische Kommission 2016d) zu gelangen, weshalb aus ihrer Sicht die nationalen Binnengrenzkontrollen einiger Mitgliedsstaaten baldmöglichst wieder einzustellen seien. Zudem verfolge die EU-Kommission

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das übergeordnete Ziel, insgesamt „dieses Europa zusammenzuhalten“ (Interview 6-2019). Daher wurde bereits 2016 unmittelbar nach der Krise 2015 die Reform des gesamten GEAS-Pakets initiiert (Europäische Kommission 2016a). In den anschließenden Reformverhandlungen entstanden mehrere Vorschläge für ein neues GEAS und insbesondere für eine angestrebte Dublin-IV-Verordnung. Der 2016 von der EU-Kommission vorgelegte Reformansatz sieht vor, das Dublin-System mit dem Kriterium der Ersteinreise prinzipiell beizubehalten und lediglich um einem ‚Korrekturmechanismus‘ zu ergänzen (Europäische Kommission 2016c). Demnach würde eine temporäre Umverteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU erfolgen, wenn zwischenzeitlich die Ankunftszahl über eine rechnerische Quote der Aufnahmebereitschaft eines ­EU-Mitgliedsstaates steigt. Für ein Modell eines für alle Mitgliedsstaaten verbindlichen und permanenten Verteilungsschlüssels votierte dagegen das EUParlament: Hier bestünde das Prinzip in einer unmittelbaren Umverteilung aller auf dem E ­ U-Territorium ankommenden Asylsuchenden nach einer festen Quote, bei der neben der rechnerischen Aufnahmekapazität der EU-Staaten auch familiäre Verbindungen und Zielstaatspräferenzen von Asylsuchenden miteinbezogen werden würden (Europäisches Parlament 2017). Dadurch soll der ungleichen Verantwortungsverteilung und der damit verbundenen Spaltung zwischen dem Süden und Norden der EU durch eine fairere Verteilung dauerhaft entgegentreten werden. Ein neues Umverteilungssystem soll zudem an eine rigorosere Umsetzung der Registrierung und Sortierung von Migrant*innen gekoppelt werden. Hierfür sind vor allem Vorprüfungen von Asylanträgen an den europäischen Außengrenzen vorgesehen: So soll im Rahmen von ,Zulässigkeitsprüfungen‘ bei der Ankunft von Asylsuchenden bereits vorab geprüft werden, wer überhaupt Zugang zum offiziellen Asylverfahren erhalten soll oder wem unmittelbar die Abschiebung droht (Europäische Kommission 2016b). Organisatorische Unterstützung sollen die Mitgliedstaaten dabei von europäischen Agenturen wie der Grenzschutzagentur Frontex und dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) erhalten, auch wenn die Entscheidung für die Gewährung von Asyl weiterhin bei den Nationalstaaten liegen soll (Europäische Kommission 2016a). Einher geht die Etablierung von Vorprüfungen aller Voraussicht nach mit der Schaffung von ‚Registrierzentren‘, die langfristig eher die Gestalt von Flüchtlingslagern anzunehmen drohen. Denn mit mehreren ,Hotspots‘ in Italien und Griechenland existieren bereits ähnliche Lager, die sich zu Langzeitlager entwickelten und deren Zustände aus menschenrechtlicher Sicht vielfach kritisiert werden. Allerdings erhält der Versuch der weiteren Etablierung von Lagern an der europäischen Außengrenze auch Unterstützung vonseiten der europäischen

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Staats- und Regierungschef*innen. Diese einigten sich darauf, die Errichtung von sogenannten „kontrollierten Zentren“ (Europäischer Rat 2018) in Europa politisch anzustreben. Darüber hinaus sollen nach den Plänen der EU die Möglichkeiten der digitalen Registrierung und Überwachung durch den Ausbau der Fingerabdruckdatenback Eurodac ausgeweitet werden. Außerdem soll die Verhinderung von ‚Sekundärmigration‘ nicht zuletzt dadurch erreicht werden, dass zukünftig jene Geflüchtete durch Kürzungen von Sozialleistungen sanktioniert werden sollen, die ihren zugewiesenen EU-Mitgliedsstaat verlassen (Europäische Kommission 2016a). Insgesamt reichen die Vorschläge für ein neues europaweites System der Steuerung und Kontrolle von Migration daher von territorialen Kontrollen und Grenzverfahren an den europäischen Außengrenzen, über Formen der räumlich ausgebreiteten Migrationssteuerung wie Umverteilungen bis hin zu restriktiven Aufnahmepolitiken.

3.3

,Koalitionen der Willigen’: Ansätze einer differenzierten EU-Integration

Im beschriebenen Spannungsfeld aus partieller Renationalisierung und einer gesamteuropäisch bislang nicht durchsetzbaren GEAS-Reform gewinnen zudem Ansätze einer ,differenzierten EU-Integration‘ an Bedeutung. Damit sprechen sich Akteur*innen vermehrt für Kooperationsformen aus, in denen vom Prinzip der homogenen Politik aller EU-Mitgliedsstaaten bzw. der Vorstellung einer ‚ever closer union‘ abgewichen wird, indem nur eine Teilgruppe von Staaten gemeinsame Politiken zu einem bestimmten Zeitpunkt oder dauerhaft umsetzt (Boysen 2019; Holzinger und Schimmelfennig 2012). Verwiesen wird auf den Ansatz im Diskurs oftmals unter Rückgriff auf Leitbilder und Narrative wie ein ‚Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten‘, ein ‚Europa der variablen Geometrie‘ oder ein ‚Europa à la carte‘ (Müller-Graff 2007). In der Herangehensweise sehen Befürworter*innen vor allem eine pragmatische Alternative zum Stillstand bei den Reformverhandlungen und einen Ausweg aus allgemeinen ­EU-Desintegrationsprozessen (Chebel d’Appollonia 2019). Zu beobachten ist jene Strategie nach 2015 insbesondere im Kontext der Seenotrettungspolitik: Im Rahmen sogenannter ,Koalitionen der Willigen‘ nahm eine geringe Anzahl an EU-Mitgliedsstaaten in einigen wenigen Fällen im Mittelmeer gerettete Geflüchtete entgegen des Dublin-Prinzips des Erstankunftslands auf. Ziel ist es dabei, das Anlegen von zivilen Seenotrettungsschiffen ohne längere Wartezeit und politische Verhandlungen in Häfen zu ermöglichen. Denn wenn

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– so die Idee – vorher vereinbart ist, wer Geflüchtete verbindlich aufnimmt, führt dies zu einer Entlastung der südeuropäischen Staaten und verhindert deren Blockaden von Häfen, die es mit dem Verweis auf einen fehlenden Verteilungsmechanismus mehrfach gab. Erst mit der Zeit entwickelte sich sukzessive ein routinierteres Prozedere für die zunächst lediglich informellen Vereinbarungen und ad-hoc Initiativen (Interview 9-2019). Im September 2019 unterzeichneten schließlich Italien, Malta, Deutschland und Frankreich eine multilaterale Erklärung (Rat der Europäischen Union 2019) – mit dem Ziel, dass sich dieser ‚Zwischenlösung‘ weitere Staaten anschließen werden. Allerdings beschränkt sich die Vereinbarung nicht nur auf die wenigen Staaten, sondern ist auch noch zeitlich und räumlich stark begrenzt, da sie nur vorübergehend und ausschließlich für die Region des zentralen Mittelmeers vorgesehen ist. Dennoch gilt die Erklärung vielen EU-Vertreter*innen als ein ‚Pilotprojekt‘ für eine Dublin-Reform (Interview 10-2019). So entstand auch unter der österreichischen Ratspräsidentschaft bereits ein Reformmodell (Bundesministerium für Inneres Österreich 2018), welches das Prinzip einer differenzierten Integrationsstrategie politisch festschreiben würde. Dieser Entwurf sieht vor, das Dublin-System mit dem Ersteinreislandprinzip im Grundsatz beizubehalten. Leidglich in ,Krisensituationen‘ würden sogenannte ,direkte‘ und ,indirekte Solidaritätsmaßnahmen‘ umgesetzt werden sollen. Dies bedeute, dass die ‚Solidarität‘ der Mitgliedsstaaten in einer Umverteilung von Geflüchteten bestehen könne, aber auch nur Finanzzahlungen oder eine stärkere Beteiligung bei der Sicherung der Außengrenzen als Ausgleich möglich wären – wodurch letztlich die Möglichkeit geschaffen werden würde, dass sich Staaten „von Umverteilungsverpflichtungen freikaufen“ (Interview 7-2019). Zugleich sollen mögliche Maßnahmen explizit auf freiwilliger Basis der Länder erfolgen, weshalb auch von einer „flexiblen Solidarität“ (Interview 6-2019) die Rede ist und sich demzufolge nicht alle Staaten gleichermaßen und zu jeder Zeit an den Politiken beteiligen müssten.

4 Verwobenheiten konkurrierender Ansätze der Migrations- und Grenzkontrolle Die skizzierte Gegenüberstellung der Ansätze zum GEAS legt die Schlussfolgerung nahe, dass aufgrund der Konflikte zwischen den EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten in Europa verschiedene Programmatiken der Migrations- und Grenzkontrollpolitik unvereinbar aufeinandertreffen. Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt, dass auch vier Jahre nach dem ‚Sommer der Migration‘ bis

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Ende 2019 unter der EU-Kommission Jean-Claude Junckers keine Einigung über eine GEAS-Reform erzielt wurde. Mit der Perspektive der regimetheoretisch informierten Migrations- und Grenzforschung argumentiere ich jedoch, dass sich die in den Reformverhandlungen und der Regierungspraxis konkurrierenden Ansätze nicht einfach nur als widersprüchlich oder gar einander vollständig ausschließend zu verstehen sind, sondern als zugleich miteinander verwoben. Damit sollen weder die beschriebenen Unterschiede der Ansätze, noch die Uneinigkeiten in den Verhandlungsprozessen bestritten werden. Eine Verengung der Perspektive auf die politischen Kontroversen birgt allerdings die Gefahr, die Gemeinsamkeiten und Verschränkungen der verschiedenen Ebenen, Rationalitäten und Techniken der Kontrollpolitiken, die das europäische Grenzregime wesentlich prägen und wirkmächtig werden lassen, aus dem Blick zu verlieren. Dieses Argument verdeutliche ich im Folgenden anhand von drei Aspekten: (1) dem übergeordneten Ziel einer Reduzierung von Migration, (2) der Vervielfältigung von Kontrollmaßnahmen im Regierungshandeln, sowie (3) der ­raum-zeitlich dynamischen Verknüpfung und Verlagerung von Kontrolltechniken. Die Ansätze unterscheiden sich erstens hinsichtlich ihrer zugrundeliegenden Rationalität und Zielsetzung deutlich weniger voneinander als dies oftmals angenommen wird. Zurückzuführen ist das vor allem auf ein weit verbreitetes Verständnis, welches EU-Institutionen gegenüber den Mitgliedsstaaten eine liberalere Migrationspolitik zuschreibt. Die Annahme eines solchen Gegensatzes lässt sich auch am öffentlichen und politischen Diskurs in den Jahren nach 2015 ablesen: Während die Migrationspolitiken der EU-Institutionen als tendenziell ‚europäisch‘ und ‚human‘ erscheinen, gelten die Vorgehensweisen von Mitgliedsstaaten wie insbesondere von etwa Ungarn oder Italien hingegen als ‚uneuropäisch‘ und ‚inhuman‘ (Stierl 2020, S. 260). So sind auch zweifelsohne in den Auseinandersetzungen um das GEAS Unterschiede im grundlegenden Umgang mit Migration von Ansatz zu Ansatz festzustellen: Eine Quote zur Verteilung von Asylsuchenden gemäß dem Vorschlag des EU-Parlaments würde beispielsweise ein migrationspolitisch liberaleres Vorhaben darstellen als die derzeitige Dublin-III-Regelung, die infolge der politischen Blockaden der ­EU-Mitgliedsstaaten weiterhin in Kraft ist. Doch einerseits würde es sich auch bei einem Verteilungsschlüssel erneut nur um ein Zwangsinstrument handeln, insofern als nicht die selbstbestimmte Weiterreise und Interessen von Migrant*innen im Mittelpunkt eines solchen Konzepts stünden. Andererseits besteht letztlich in und zwischen allen Institutionen und Akteur*innen der EU weitgehend Einigkeit darüber, dass die Zahl der auf dem europäischen Territorium ankommenden Migrant*innen reduziert oder zumindest verstärkt gesteuert werden soll. Allen Ansätzen liegt damit eine „tief verankerte

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Hegemonie der Grenze“ (Buckel 2018, S. 440) zugrunde, wodurch die Kontrolle von Migration gesellschaftspolitisch als sowohl notwendig wie auch legitim gilt. In dieser Hinsicht ist nicht ob, sondern lediglich in welchem Ausmaß, wie und wo Migration restriktiv zu begrenzen sei, politisch umstritten. Aus diesem Grund spielt in der Debatte um das GEAS auch ein Modell einer freien Auswahl des Aufnahmelands für Asylsuchende, oder die Schaffung und Erweiterung legaler Einwanderungswege sowie ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit eine nur marginale Rolle (Interview 2-2019). Dieses übergeordnete Ziel der Verhinderung und Steuerung von Migration wird zudem zweitens durch eine Kombination von Ansätzen verfolgt. Damit ist die Beziehung zwischen den Ansätzen und Steuerungsebenen keineswegs als eine Art ‚Nullsummenspiel‘ zu verstehen. Die Gründe dafür liegen in den Kompromissen und den Versuchen der Zusammenführung von Maßnahmen, die die Aushandlungen kennzeichnen und dazu führen, dass die Konzepte verschiedentlich Eingang in die Reformverhandlungen und das Regierungshandeln finden. In den Auseinandersetzungen um die räumliche Maßstabsebene macht sich die Vervielfältigung der Maßnahmen daran bemerkbar, dass zwar Akteur*innen immer wieder betonen, dass die Krise nur mit Politiken auf einer jeweils bestimmten Ebene angemessen zu bewältigen wäre. So tritt zum Beispiel die EU-Kommission weiterhin für die Aufhebung der nationalen Grenzkontrollen im Sinne einer ‚europäischen Lösung‘ ein. Allerdings werden die Maßnahmen an den EU-Binnengrenzen inzwischen auch von der EU-Kommission selbst als ein Instrument auf dem Weg ‚Zurück zu Schengen‘ legitimiert (Europäische Kommission 2016d; 2018; 2019). Laut einem Kommissionsmitglied sollen diese für die Mitgliedsstaaten solange als eine Art „Brücke“ (Interview 10-2019) dienen, bis die Ankunftszahlen wieder so niedrig sind, dass öffentlich erklärt werden könne, dass die nationalen Grenzkontrollen wieder ausgesetzt werden könnten. Und umgekehrt fordern auch Befürworter*innen ‚nationaler Lösungen‘ als „kleinsten gemeinsamen Nenner“ (Interview 8-2019) eine gesamteuropäische Politik der Sicherung der europäischen Außengrenzen. Dass die Architektur des Grenzregimes nicht auf eine einzige Maßstabsebene oder eine klar abzugrenzende Dichotomie zwischen Renationalisierung und Europäisierung zu reduzieren ist, zeigen darüber hinaus die Ansätze einer differenzierten Integration, die zusätzlich zwischenstaatliche Vereinbarungen entstehen lassen. Infolgedessen produziert das europäische Grenzregime in den Auseinandersetzungen um das GEAS auf unterschiedlichen, miteinander verwobenen Ebenen multiple Kontrollmaßnahmen, die zudem drittens nicht bloß isoliert nebeneinanderstehen. Denn die diversen Formen der Regulierung von Migration werden in der Politikformulierung und -ausübung als funktional eng miteinander

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verschränkt und voneinander abhängig begriffen. Dahinter steht folgende Logik: Aus Sicht der EU-Kommission wird es nationale Binnengrenzkontrollen im Schengenraum solange geben, solange das Dublin-System nicht effektiv funktioniert. Das Dublin-System könne aber wiederum nur funktionieren, wenn der Außengrenzschutz und die Externalisierung der Kontrolle verstärkt umgesetzt werden, um die Zahl an Asylsuchenden, die EU-Territorium erreichen, möglichst gering zu halten. Daher gilt das GEAS als lediglich ein Baustein des mehrstufigen Grenzregimes. Eine solche Verknüpfung der Kontrollpraktiken entspricht dabei dem schon länger existierenden Konzept eines „Gesamtansatzes für Migration und Mobilität“ (Europäische Kommission 2011) oder einer „Steuerung der Migration in all ihren Aspekten“ (Europäische Kommission 2018), wie es im EU-Sprachgebrauch inzwischen ebenfalls heißt. Danach gilt Migration als ein über die staatlichen und europäischen Grenzen hinausgehendes Phänomen, das auch ‚proaktiv‘ durch Maßnahmen in Transit- und Herkunftsstaaten beherrschbar gemacht werden soll. Dazu kommt, dass sich der Fokus der Kontrollen von den territorialen Grenzen auf die Migrationsrouten ausweitet. Alles in allem bedeute dies laut EU-Vertreter*innen, dass an mehreren „Stellschrauben“ (Interview 5-2019) parallel anzusetzen sei, weil „doch alles miteinander zusammenhängt“ (Interview 10-2019). Allerdings stellen EU-Vertreter*innen in diesem Zusammenhang selbst fest, dass es eine „vollständige Steuerung der Migration“ (Interview 5-2019) nicht geben könne, auch wenn diese Illusion mitunter weiter politisch existiere. Die kontrollpolitischen „Hindernisse“ seien aber letztlich doch „relativ lächerlich“ (Interview 1-2019) für aus Kriegsgebieten geflohene Menschen. So führt die Handlungsmacht der Migrationsbewegungen und deren Grenzüberschreitungen auch dazu, dass sich mit der Zeit die Orte und Räume der Kontrolle immer wieder verlagern. Nach den Plänen der EU soll die Steuerung entsprechend möglichst variabel in einem engmaschigen Netz aus räumlich breit gestreuten, ‚harten‘ und ‚weichen‘ Kontrolltechniken wirksam sein. Damit werden zwar einzelne Grenzabschnitte gesichert, die Mobilität der Migrationsbewegungen lässt sich aber nicht vollständig unterbinden – stattdessen müssen Migrant*innen jedoch auf oftmals gefährlichere Routen ausweichen (Chojnacki und Paping 2016, S. 22–23).

5 Fazit Das Anliegen des Beitrags war es, die Auseinandersetzungen um das ­EU-Asylsystem nach der Krise des europäischen Grenzregimes 2015 im Hinblick auf konkurrierende Ansätze der Migrations- und Grenzkontrolle und sich

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wandelnde Europadiskurse zu untersuchen. Hierfür verdeutlichte ich zunächst, dass die regulativen Entscheidungen und Reformvorschläge zum GEAS durch divergierende europapolitische Modelle und Geographien der Grenze (hierzu auch Weber et al. 2020 in diesem Band) gekennzeichnet sind: Die Konzepte unterscheiden sich grundlegend darin, auf welchen Maßstabsebenen (EU, nationalstaatlich, bi- und multilateral), mit welchen Kontrollmaßnahmen (territoriale Grenzkontrollen, Flüchtlingslager, Umverteilungen, Digitalisierung, sozioökonomische Sanktionen etc.) und in welchen Räumen (EU-intern, Routen, Außengrenzen, EU-extern) die Politiken der Verhinderung und Steuerung von Migration umgesetzt werden sollen. Unter der von mir eingenommen Regimeperspektive bestand mein weiterführendes Argument anschließend darin, die Ansätze der „vielen Europas“ (Biebuyck und Rumford 2012) jedoch nicht allein als sich widersprechend zu begreifen, sondern deren Verbindungslinien im europäischen Grenzregime offenzulegen. Dadurch gehe ich davon aus, dass das Regime durch Prozesse eines ständigen Ringens um Hegemonie zwischen den politischen Institutionen und Akteur*innen geprägt ist, sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aber zugleich stets zu bestimmten Konstellationen und Formen eines Regierens von Migration temporär verdichten, welche es gleichsam in den Blick zu gewinnen gilt. Deutlich wird dabei, dass sich in der Praxis eine hybride Regierungsform herausbildet, die nicht der Logik eines einzelnen Modells entspricht oder einem vorgefertigten ‚Masterplan‘ folgt. Es sind vielmehr die Widersprüche und Kompromisse, die intendierten und nicht-intendierten Effekte sowie die Vielzahl an parallelen Maßnahmen, die die spezifische Architektur und Wirkmächtigkeit des Grenzregimes auszeichnen. Aus regimetheoretischer Perspektive besteht daher auch kein Widerspruch in der beobachtbaren Gleichzeitigkeit von Prozessen einer Renationalisierung und weiterführenden Europäisierung. Vielmehr konstituiert sich in einem Netz an neben-, mit- und gegeneinander wirkenden Europakonstruktionen und Steuerungspolitiken ein auf migrationspolitische Dynamiken bezogenes „Raumdispositiv“ (Walters 2011, S. 323), das eine mal mehr, mal weniger fragile (Un-)Ordnung der Kontrolle produziert. Ferner wird verständlich, dass die Verwerfungen innerhalb der EU zwar eine stärkere politische und räumliche Fragmentierung zur Folge haben, es aber nicht zu einer generellen Umorientierung oder Schwächung der postkolonial und neoliberal geprägten Abschottungs- und Steuerungspolitik der EU kommt. So wird nicht trotz, sondern gerade aufgrund der EU-internen Uneinigkeiten auch nach 2015 in heterogenen Raumkonstellationen restriktive Kontrolle gegenüber Migrant*innen ausgeübt. Für Geflüchtete entsteht infolgedessen kein einheitliches Europa – geschweige denn ein offener Zufluchts- und Lebensort für alle –,

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sondern ein Europa der räumlich ausgebreiteten Regulation von Mobilität. Wie jedoch die Praktiken der Migrationsbewegungen zeigen, lässt sich Migration nicht vollständig einhegen: Zwar ist die Zahl der Asylanträge europaweit deutlich gesunken, doch noch immer erreichen Migrant*innen EU-Territorium. Durch diese nicht zu verhindernde Kraft der Migration werden politische Entscheidungsträger*innen auch zukünftig mit dem Scheitern eines repressiven Regimes wie jenes des Dublin-Systems konfrontiert und zu immer neuen Maßnahmen veranlasst werden – auch wenn es zu diesen Entscheidungen in der EU nur noch mühsam kommt, wie an den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um das GEAS allzu deutlich wird.

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David Niebauer M.A. ist Politikwissenschaftler und Doktorand im Promotionskolleg „Migrationsgesellschaftliche Grenzformationen“ an der G ­eorg-August-Universität Göttingen. Im Rahmen seines Promotionsprojekts forscht er zu den politischen Auseinandersetzungen um Migrations- und Grenzkontrolle in der Europäischen Union am Beispiel der Reformverhandlungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nach 2015. Als Lehrbeauftragter war er bislang an der Freien Universität Berlin und der ­Georg-August-Universität Göttingen tätig. Studiert hat er Politikwissenschaft und Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (B.A.) und der Freien Universität Berlin (M.A.). Er ist Mitglied im „Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung“ (kritnet).

Grenz(re)produktionen und Verflechtungen

Mehr-als-menschliche Grenzen: Die Neuverhandlung des europäischen Grenzregimes im Kontext der Afrikanischen Schweinepest Larissa Fleischmann Zusammenfassung

Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Beobachtung, dass sich der politische Umgang mit Viruskrankheiten in Territorialisierungen und Grenzziehungsprozessen materialisiert, die für die Auseinandersetzung mit Geographien der Grenzen von Interesse sind. Werden Viren, Tiere und andere nichtmenschliche Lebewesen in den Fokus der Betrachtung gerückt, eröffnen sich neue Einblicke in den gegenwärtigen Umgang mit ‚unerwünschten‘ räumlichen Bewegungen. Dieser Beitrag schlägt daher vor, territoriale Grenzziehungsprozesse aus mehr-als-menschlicher bzw. posthumanistischer Perspektive zu untersuchen. Mehr-als-menschliche Grenzen werden hier als Produkte kontinuierlicher Aushandlungsprozesse verstanden, die durch komplexe Akteursnetzwerke aus Menschen, Tieren, Viren und anderen Materialitäten hervorgebracht werden. Einerseits nimmt ein mehr-als-menschlicher Zugang zu Grenzen in den Blick, wie nichtmenschliche Lebewesen zum Objekt räumlich wirksamer Herrschafts- und Regierungspraktiken gemacht werden. Andererseits werden nichtmenschliche Lebewesen auch als eigensinnige politische Akteure verstanden, welche die auf sie gerichteten Regierungspraktiken und Grenzziehungsprozesse herausfordern und Brüche in bestehenden räumlichen Ordnungen offenlegen können. Ein solcher Forschungszugang wird im Folgenden am Beispiel des politischen Umgangs mit der Afrikanischen Schweinepest skizziert; einer Tierkrankheit die seit

L. Fleischmann (*)  Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_11

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etwa 2018 im Fokus von Regierungspraktiken in Europa steht. Anschließend werden die (post)kolonialen Dimensionen des Umgangs mit Tierkrankheiten am Beispiel des südlichen Afrikas aufgezeigt.

1 Einleitung: Tiere und Viren als unerwünschte „Grenzgänger“ Viruskrankheiten, die bei Nutztieren, wie Schweinen, Rindern oder Geflügel tödlich verlaufen, stehen in wiederkehrenden Abständen im Zentrum öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit. Dies zeigt sich an Beispielen, wie der sogenannten „BSE-Krise“, die um die Jahrtausendwende Angst um „Rinderwahn“ in Deutschland verbreitete; an dem europaweit viel diskutierten Ausbruch der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im Jahr 2001; oder der Angst um die globale Ausbreitung der Vogelgrippe H5N1 im Jahr 2007. Cresswell (2014, S. 715) argumentiert, dass es die grenzüberschreitenden räumlichen Bewegungen von Tieren und Tiererzeugnissen sind, die im Kern dieser wiederkehrenden Momente der Panik stehen. Um die Tiergesundheit in Massentierhaltungsbetrieben (wieder)herzustellen, werden in der Folge vielfältige Regierungspraktiken in Gang gesetzt, die auf die Begrenzung und Immobilisierung von als ‚riskant‘ eingestuften räumlichen Bewegungen hinwirken. Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie im politischen Umgang mit Viruskrankheiten spezifische räumliche Ordnungsmuster (re)produziert, herausgefordert oder neuverhandelt werden (zur COVID-19-Pandemie siehe in diesem Kontext Weber und Wille 2020 in diesem Band). Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in diesem Zusammenhang Territorialisierungen und Grenzziehungsprozesse sichtbar werden, die von Interesse für die Auseinandersetzung mit Geographien der Grenzen sind (hierzu auch Weber et al. 2020 in diesem Band). Dafür wird ein mehr-als-menschlicher Zugang zu territorialen Grenzen gewählt. Mehr-als-menschliche Grenzen werden hier als Produkte kontinuierlicher Aushandlungsprozesse verstanden, die durch komplexe Akteursnetzwerke aus Menschen, Tieren, Viren und anderen Materialitäten hervorgebracht werden. Ein mehr-als-menschlicher Zugang zu Grenzen wirft dabei die Frage auf, wie nichtmenschliche Lebewesen zum Objekt und Kristallisationspunkt räumlich wirksamer Herrschafts- und Regierungspraktiken gemacht werden. Darüber hinaus bedingt eine mehr-als-menschliche Perspektive auch, dass nichtmensch-

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liche Lebewesen, wie Tiere und Viren1, als eigensinnige politische Akteure verstanden werden, welche die auf sie gerichteten Regierungspraktiken und Grenzziehungsprozesse herausfordern und Brüche in bestehenden räumlichen Ordnungen offenlegen. Werden also nichtmenschliche Lebewesen in den Fokus der Betrachtung gerückt, so könnten sich neue Einblicke in den gegenwärtigen Umgang mit ‚unerwünschten‘ räumlichen Bewegungen eröffnen. Als empirisches Beispiel dient der Umgang mit der Afrikanischen Schweinepest (ASP), die zwischen 2018 und 2020 im Fokus vielfältiger räumlich wirksamer Regierungspraktiken in Europa stand. Die auch als „Schweine-Ebola“ bezeichnete hochansteckende Viruskrankheit verläuft sowohl bei Haus- als auch Wildschweinen tödlich und wurde medial als die bedrohlichste globale Tierkrankheit des 21. Jahrhunderts verhandelt. So schrieb beispielsweise das Fachjournal Welternährung über die Situation in China im Jahr 2019: „Es ist eine der größten Krisen der Tiergesundheit“ (Northoff 2019). Dort führte die Tierkrankheit zu einer Dezimierung des Schweinebestandes um mehr als die Hälfte, zu Versorgungsengpässen mit Schweinefleisch sowie zu massiven Preissteigerungen (Northoff 2019). Auch in EU-Mitgliedsstaaten wurden zahlreiche Maßnahmen implementiert, um eine räumliche Ausbreitung der Viruskrankheit zu verhindern oder sie im Falle eines akuten Ausbruchs schnell und effizient bekämpfen zu können. Ein nachgewiesener Fall der Afrikanischen Schweinepest (ASP) in Massentierhaltungsbetrieben hat nicht nur die präventive Keulung hunderttausender Hausschweine zur Folge, sondern auch ein durch die EU verhängtes Exportverbot von lebenden Schweinen und Schweinefleisch. Wie in Polen oder Rumänien zu beobachten war, führt dies zu hohen Umsatzeinbußen für die betroffenen nationalen Schweinewirtschaften und setzt Regierungsakteure unter öffentlichen Handlungsdruck. Im Jahr 2020 gab es noch keine nachgewiesenen Fälle der ASP in Deutschland, ein Ausbruch gilt jedoch weiterhin als wahrscheinlich (Friedrich-Löffler-Institut 2019). Im Fokus vieler Maßnahmen im Kampf gegen die ASP steht das europäische Wildschwein. Seine unkontrollierten räumlichen Bewegungen werden als zentraler Ausbreitungsvektor der Afrikanischen Schweinepest eingestuft ­(Friedrich-Löffler-Institut 2018). Potenziell mit dem Virus infiziert, so lautete die Befürchtung, könnten sie die Tierkrankheit aus Osteuropa in bislang krankheits-

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Viren nicht dazu in der Lage sind ihr genetisches Erbgut selbstständig zu replizieren, sondern dafür in die Zellen anderer Lebewesen eindringen müssen, sind sie „technisch“ gesehen keine Lebewesen. In der wissenschaftlichen Fachdebatte werden sie deshalb auch als ­„quasi-life“ bzw. „Quasi-Lebewesen“ bezeichnet.

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freie Staaten nach Westeuropa transportieren. Zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten ergriffen daher Maßnahmen, um die räumlichen Bewegungen von Wildschweinen zu begrenzen. Neben der radikalen Dezimierung oder gar Ausrottung ganzer Wildschweinpopulationen, wie in den Jahren 2018 und 2019 in Polen und Deutschland zu beobachten war, erfuhr die Errichtung von Wildschweinzäunen entlang nationalstaatlicher Grenzen eine besondere Relevanz. Wohl bekanntestes Beispiel ist der rund 70 km lange Wildschweinzaun, der im Jahr 2019 entlang der gesamten dänisch-deutschen Grenze errichtet wurde und den unerwünschten Grenzübertritt von Wildschweinen aus Deutschland verhindern sowie die dänische Schweinewirtschaft schützen soll. Auch entlang der nationalen Grenzen weiterer europäischer Mitgliedsstaaten, wie Deutschland, Frankreich, Belgien, Bulgarien oder Finnland wurden Zäune errichtet, um die unkontrollierten räumlichen Bewegungen von Wildschweinen zu begrenzen. Im Kontext der ASP lässt sich also prägnant beobachten, wie sich der politische Umgang mit Viruskrankheiten in mehr-als-menschlichen Grenzziehungs- und Territorialisierungsprozessen materialisiert. Der folgende Beitrag beginnt zunächst mit theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu mehr-als-menschlichen Grenzen. Darauf aufbauend werden die Konturen einer solchen Forschungsperspektive am Beispiel des Umgangs mit der ASP im Spannungsfeld des europäischen Grenzregimes skizziert. Im Anschluss wird der Blick auf das südliche Afrika gerichtet, wo sich die KoProduktion von territorialen Grenzen und (Nutz-)Tiergesundheit bereits seit der Kolonialzeit beobachten lässt. Der Beitrag schließt mit einem Resümee über die ­mehr-als-menschliche Auseinandersetzung mit Geographien der Grenzen.

2 Mehr-als-menschliche Grenzen Posthumanistische Ansätze, die in der angloamerikanischen Humangeographie bereits seit den frühen 2000ern ihren Einzug fanden, öffnen den Blick für die ko-konstitutiven Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren (vgl. Buller 2014). Mit den More-than-Human Geographies und den Animal Geographies bilden sie inzwischen eigenständige und dynamische Forschungsfelder, die sich hauptsächlich in den Teildisziplinen der Kultur- und der Sozialgeographie verorten (Panelli 2010, S. 80). Forschungsarbeiten im Zeichen des Posthumanismus untersuchen zum Beispiel, wie Menschen in komplexe Netzwerke mit Lebewesen, wie Tieren, Pflanzen, Pilzen, eingebunden sind und wie die Interaktion dieser Akteure das Zusammenleben in einer ­mehr-als-menschlichen Welt ko-konstitutiv hervorbringt (Panelli 2010, S. 80.).

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Sie üben Kritik an der bisherigen anthropozentrischen Ausrichtung humangeographischer Forschungsarbeiten, indem sie Lebewesen und Materialitäten als gleichberechtigte Akteure in die Untersuchung miteinbeziehen (Srinivasan und Kasturirangan 2016). Unter Einfluss der Akteurs-Netzwerk-Theorie von Latour (2005) und des New Materialism (Barad 2007; Bennett 2010) entstanden zudem Arbeiten, die die Eigendynamiken von Technologien und anderen Materialitäten jenseits von Sprache und Repräsentation betonen. Gemein ist solchen Forschungsarbeiten, dass sie mit gängigen Binaritäten, wie Kultur/ Natur, Mensch/Tier, Objekt/Subjekt brechen und stattdessen danach fragen, wie sich agency in relationalen Beziehungen zwischen Menschen und anderen nichtmenschlichen Subjekten und Materialitäten entfaltet (vgl. Panelli 2010). Mit gewisser zeitlicher Verzögerung halten mehr-als-menschliche Forschungsperspektiven jüngst auch in der deutschsprachigen Humangeographie ihren Einzug (Steiner et al. im Erscheinen). Nichtsdestotrotz bleiben Tiere und andere nichtmenschliche Lebewesen in empirischen und konzeptuellen Arbeiten der Politischen Geographie nach wie vor weitestgehend unberücksichtigt. Hobson (2007) verweist in ihrem Beitrag mit dem Titel „Political animals? On animals as subjects in an enlarged political geography“ auf die bis dato einseitige Fokussierung auf den Menschen als Untersuchungssubjekt politisch-geographischer Fragestellungen. Gleichzeitig plädiert sie für eine stärkere Öffnung der Teildisziplin hin zu nichtmenschlichen Akteuren, wie Tieren, und verweist auf die daraus resultierenden Impulse für eine Re-Konzeptualisierung des Politischen: „research which conceptualizes animals as part of, not incidental to, specific political configurations […] enables a broader conceptualization of how the ‘political’ is constituted“ (Hobson 2007, S. 251). Knapp zehn Jahre später knüpft Srinivasan (2016) an Hobson’s Beitrag an und kritisiert die anhaltende anthropozentrische Ausrichtung ­politisch-geographischer Forschungsarbeiten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass nichtmenschliche Lebewesen bisher kaum Eingang in die Auseinandersetzung mit territorialen Grenzen – und damit einem der zentralen Forschungsgegenstände der Politischen Geographie – fanden. Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Beitrag von Sundberg (2011), der die Rolle von Tieren und anderen nichtmenschlichen Akteuren in der Herstellung der territorialen Grenze zwischen den USA und Mexiko untersucht. Sie resümiert: „those classified as nonhumans – whether living or inert – cannot be backdrops to (geo)political affairs but are integral to and constitutive of them“ (Sundberg 2011, S. 332). Zu nennen ist außerdem der Beitrag „Desert trash“ von Squire (2014), der territoriale Grenzziehungsprozesse aus posthumanistischer Perspektive untersucht, indem er den Fokus auf Dinge, die von

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irregulären Grenzgänger*innen in der US-amerikanischen Wüste zurückgelassen wurden, legt. Mather und Marshall (2011, S. 300) untersuchen die „geography of animal health governance“ in Südafrika und fragen danach, wie Räume innerhalb des Landes (re-)konfiguriert und (re-)territorialisiert wurden, nachdem es zu einem Ausbruch der Klassischen Schweinepest in Schweinemastbetrieben im Jahr 2005 gekommen war. Dabei zeigen sie auf, wie die untersuchten Biosicherheitsmaßnahmen territoriale Grenzen aktualisierten, die während der Apartheid gezogen wurden, zum Beispiel um das ehemalige Homeland Transkei. An diese Arbeiten anknüpfend plädiert dieser Beitrag für eine stärkere mehr-als-menschliche Ausrichtung der geographischen Beschäftigung mit ­ Grenzen. Ein solcher Zugang rückt das Spannungsfeld zwischen nichtmenschlichen Lebewesen, Macht und Raum in den Fokus des Erkenntnisinteresses. Zentral ist dabei die Frage, wie Tiere – und darüber hinaus andere nichtmenschliche Lebewesen und Materialitäten – in Herrschafts- und Machtbeziehungen eingebunden sind, die sich in räumlichen Grenzziehungen materialisieren. Einerseits wird untersucht, wie Tiere zum Kristallisationspunkt räumlich wirksamer Regierungspraktiken und -diskurse gemacht werden und wie in diesem Zuge spezifische räumliche Ordnungsmuster und Kompartimentalisierungen hergestellt werden. Andererseits bedingt ein mehr-als-menschlicher Zugang zu territorialen Grenzen, dass nichtmenschliche Lebewesen gleichzeitig als politische Subjekte gedacht werden, die agency besitzen, indem sie bestehende Grenzziehungen und Territorialisierungen herausfordern, verschieben und neu hervorbringen. Mehr-als-menschliche Grenzen werden hier also als Ergebnis kontinuierlicher Aushandlungsprozesse verstanden, die durch komplexe Akteursnetzwerke aus Menschen, Tieren, Viren und anderen Materialitäten ko-konstitutiv hervorgebracht werden. Damit wird an humangeographische Arbeiten zu Grenzen angeknüpft, die deren Emergenz und kontinuierliche Neuaushandlung betonen (vgl. Paasi 2001, 2009; Parker und Vaughan-Williams 2009). Der Fokus liegt dabei auf den Praktiken der Grenzherstellung, auf „acts of bordering“ (Andersson 2014; Newman 2006; van Houtum und van Naerssen 2002), „border-making“ (Brambilla et al. 2015), oder „border work“ (Bialasiewicz 2012). Aus dieser Perspektive läuft der Prozess der mehr-als-menschlichen Grenzherstellung nicht ausschließlich am territorialen „Rand“ ab, sondern kann anhand vielfältiger Regierungspraktiken untersucht werden, die sich auch „im Inneren“ von Territorien ereignen und materialisieren (vgl. Amilhat Szary und Giraut 2015). Für die skizzierte prozessorientierte Untersuchung der Grenzziehungen im gegenwärtigen Europa wurde in der deutschsprachigen Debatte das Konzept des „europäischen Grenzregimes“ geprägt (siehe Niebauer 2020 in diesem Band).

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Jüngst wird dieser Begriff auch verstärkt in englischsprachigen Forschungsarbeiten aufgegriffen (Kasparek und Schmidt-Sembdner 2019; Perl und Strasser 2018; Tazzioli 2018; van Houtum 2010). Das Konzept des „europäischen Grenzregimes“ rückt die Widersprüchlichkeit und den umkämpften Charakter von Regierungspraktiken in den Fokus, die implementiert werden, um grenzüberschreitende räumliche Bewegungen nach Europa und innerhalb Europas zu regulieren, zu ordnen, und zu begrenzen (vgl. Heimeshoff et al. 2014; Hess et al., 2017a; Tsianos und Karakayali 2008). Das Grenzregime wird dabei als dynamischer und konfliktträchtiger Aushandlungsraum verstanden, an dessen Aushandlung eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure beteiligt sind. Dieses kritische Verständnis der europäischen Grenzen betont ihre zentrale Funktion als Herrschaftsinstrument und verweist auf damit einhergehende Ausschlussund Diskriminierungsprozesse. Hess et al. (2015 ohne Seitenangabe) konzeptualisieren das europäische Grenzregime demnach als ein: „umkämpfte[s] Geflecht aus Akteuren, Praktiken, Diskursen, Materialitäten, Bewegungen und Kämpfen […] in und zwischen denen um Kontrolle und Bewegungsfreiheit gerungen wird“. Eine solche theoretisch-konzeptionelle Annäherung an Grenzen birgt also durchaus das Potenzial, eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und deren umkämpfte Ansprüche zu untersuchen. Dieser Beitrag plädiert dafür, auch nichtmenschliche Lebewesen, wie Tiere und Viren, als Bestandteile dieses „umkämpften Geflechts“ zu denken – ein Aspekt der in bestehenden Arbeiten zum europäischen Grenzregime bisher kaum berücksichtigt wurde. Im Folgenden wird der Mehrwert einer solchen mehr-als-menschlichen Beschäftigung mit dem europäischen Grenzregime am Beispiel des Umgangs mit der ASP skizziert. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie das europäische Grenzregime durch nichtmenschliche Lebewesen, wie Tiere und Viren, aktualisiert, verschoben, neu hervorgebracht wird.

3 Die Afrikanische Schweinepest im umkämpften Spannungsfeld des europäischen Grenzregimes Dieser Beitrag schlägt vor, die mehr-als-menschliche Ausgestaltung territorialer Grenzziehungsprozesse am politischen Umgang mit Viruskrankheiten zu untersuchen: Hier werden vielfältige Regierungspraktiken sichtbar, die auf eine Begrenzung, Kontrolle, Regulierung und Immobilisierung der als ‚riskant‘ eingestuften räumlichen Bewegungen von Tieren und Viren hinwirken. Exemplarisch wird eine mehr-als-menschliche Perspektive auf Geographien der Grenzen daher nachfolgend am Umgang mit der ASP in Europa in den Jahren

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2019 und 2020 skizziert. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Einhegung der räumlichen Bewegungen von Wildschweinen, die als ein Hauptausbreitungsvektor der Tierkrankheit gelten. Wie in den folgenden Absätzen aufgezeigt wird, könnten die mehr-als-menschlichen Grenzziehungs- und Territorialisierungsprozesse, die im Zusammenhang mit der ASP sichtbar wurden, gleichzeitig als Ausdruck von und Beitrag zu einer umkämpften Neuverhandlung des europäischen Grenzregimes verstanden werden, die im Anschluss an die turbulenten Ereignissen im „langen Sommer der Migration“ (Hess et al., 2017a) im Jahr 2015 in Gang gesetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich auf eindrückliche Weise, wie grenzüberschreitende Bewegungen nach Europa dazu in der Lage sind, das gesamte europäische Projekt in eine „Krise“ zu versetzen (Kasparek 2016). In den darauffolgenden Jahren wurde eine weitreichende Kette von Reaktionen in Gang gesetzt, die umkämpfte (Neu-)Aushandlungsprozesse im europäischen Grenzregime sichtbar werden ließ. Zum einen verweisen Arbeiten der europäischen Grenzregimeforschung auf eine sich verstärkende R ­ e-Nationalisierung: nationalstaatliche Grenzen und Souveränitäten innerhalb der Europäischen Union erfahren eine erhöhte Relevanz und werden im Zuge von Grenzpraktiken (re-) aktualisiert (vgl. Hess et al., 2017b). Dies zeigte sich nicht zuletzt an der Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen und dem kurzzeitigen Außerkraftsetzen des Schengen-Abkommens (vgl. Brekke und Staver 2018; Kasparek und Schmidt-Sembdner 2019). Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass verstärkte Bemühungen um eine koordinierte europäische Antwort auf grenzüberschreitende Bewegungen beobachtet werden konnten, was sich beispielsweise in den politischen Aushandlungen um das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (siehe Niebauer 2020 in diesem Band) oder dem verstärkten Ausbau und der Sicherung der europäischen Außengrenze zeigte (Mrozek 2017). Insgesamt ließ sich seit dem Migrationssommer 2015 also ein Trend hin zu einer (Re-)Aktualisierung territorialer Grenzen, sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch entlang ihrer Ränder beobachten. Nichtsdestotrotz verweisen verschiedene Autor*innen auch auf die Akteure, die diese Grenzziehungen kontinuierlich herausforderten und anfochten und so Brüche im europäischen Grenzregime sichtbar werden ließen, zum Beispiel Aktivist*innen oder irreguläre Migrant*innen (vgl. Santer und Wriedt 2017). Diese umkämpften Grenzziehungsprozesse, die im Anschluss an den Migrationssommer 2015 an Dynamik gewannen, wurden auch im Kontext des politischen Umgangs mit der ASP sichtbar. Im Zentrum stand dabei die Unterscheidung zwischen „erwünschten“ grenzüberschreitenden mehr-als-menschlichen Bewegungen einerseits und „unerwünschten“ und ­

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potenziell sicherheitsgefährdenden mehr-als-menschlichen Bewegungen andererseits. Wie Belina (2014) aufzeigt, wird die freie Zirkulation von Waren und Menschen über Grenzen hinweg zugleich als ökonomische Notwendigkeit und als Sicherheitsrisiko eingestuft. In der Folge werden Prozesse der „Versicherheitlichung“ in Gang gesetzt, die bestimmte Personen- und Warenströme als riskant einstufen und zum Gegenstand vielfältiger Grenzkontrollen werden lassen. Ähnliche Tendenzen ließen sich für die räumlichen Bewegungen von Tieren und Viren im Kontext des Umgangs mit der ASP in Europa in den Jahren 2019 und 2020 beobachten. Auf der einen Seite wurde der grenzüberschreitende Export und Import von Mastschweinen, Schweinefleisch und Folgeerzeugnissen – also die freie Zirkulation von Schweinen innerhalb des Schengen-Raums – als ökonomische Notwendigkeit dargestellt, die es durch staatliche Akteure sicherzustellen gilt. Gleichzeitig erschien die grenzüberschreitende Bewegung von Schweinepest-Viren und potenziell mit diesen infizierten Wildschweinen als Sicherheitsrisiko für europäische Schweinewirtschaften, was umkämpfte Regierungspraktiken auf den Plan rief, um die potenziell bedrohlichen Wildschweinbewegungen im europäischen Grenzregime einzuhegen oder zu immobilisieren. Erstens ließ sich eine verstärkte Suche nach nationalen Antworten auf grenzüberschreitende Bewegungen im Umgang mit der ASP beobachten. So wurden zahlreiche Maßnahmen auf nationaler Ebene implementiert, die auf die Begrenzung und Immobilisierung der räumlichen Bewegungen von potenziell mit dem Virus infizierten Wildschweinen hinwirkten und deren „Einwanderung“ auf nationales Territorium zu verhindern suchten. Dies zeigte sich prägnant am etwa 70km langen, 1,5 m hohen und soliden Grenzzaun, der 2019 entlang der gesamten dänisch-deutschen Grenze errichtet wurde. Der Zaun soll den unkontrollierten Grenzübertritt von Wildschweinen aus Deutschland verhindern und die dänische Schweinewirtschaft vor der Viruskrankheit schützen. Dänemark zählt zu einem der größten Schweineexporteure der Welt und besitzt eine der größten Schweinewirtschaften der EU (Danish Agriculture & Food Council 2019). So exportierte das Land im Jahr 2014 über eine Million Schweine (Danish Agriculture & Food Council 2019) und erwirtschaftete 2019 einen Umsatz von 1,3 Mrd. EUR (Beller 2019). Der Grenzzaun, der maßgeblich von der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei vorangetrieben wurde, war jedoch auch nach seiner Fertigstellung höchst umkämpft und Kristallisationspunkt kontroverser Debatten und aktivistischer Aktionen in Dänemark und im Norden Deutschlands. Verschiedene Medienartikel kritisierten den Wildschweinzaun beispielsweise als „Symbol der Trennung“ oder gar als Beitrag zu einer Verschlechterung der dänisch-deutschen Beziehungen (Stöcklin 2019). Anfang

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Februar 2020 demonstrierten zudem rund 250 Menschen im Rahmen eines Protestzugs gegen den Wildschweinzaun und forderten dessen Abschaffung (Deter 2020). Ende Februar 2020 entfernte eine Gruppe von Aktivist*innen 22 m des Grenzzauns, um ihn in einer Protestaktion vor dem Kieler Rathausplatz als Mahnmal wieder aufzubauen (Jung 2020). Am Zaun wurden Infoplakate mit Forderungen wie „Freedom of movement for all (beings)“ angebracht. Auch in Deutschland wurden im Grenzraum zu Polen sogenannte „mobile Zäune“ errichtet, um den Grenzübertritt von potenziell mit der Afrikanischen Schweinepest infizierten Wildschweinen zu verhindern. Allein in Brandenburg besaßen die errichteten Wildschweinzäune eine Länge von rund 120 km (Land Brandenburg 2019). Im Gegensatz zum soliden Grenzzaun, der entlang der dänischen Grenze errichtet wurde, waren diese Zäune „zeitlich begrenzt“ (Land Brandenburg 2019). Neben Elektrozäunen wurden auch sogenannte „Duftzäune“ aufgestellt, die Wildschweine durch unangenehme Gerüche vom Grenzübertritt abhalten sollten (Land Brandenburg 2019). Insgesamt kann der Ausbau von Wildschweinzäunen als Symbol und Beitrag zu einer (umkämpften) Re-Territorialisierung nationaler Souveränitäten und zu einer Re-Aktualisierung nationaler Grenzen innerhalb der EU verstanden werden. Zweitens konnten verstärkte Bemühungen um eine koordinierte europäische Antwort auf die ASP beobachtet werden. So ergriff die EU parallel zu den Bemühungen nationaler Regierungen verschiedene Maßnahmen, die auf eine Europäisierung der Bedrohungslage hinwirkten, indem sie die Tierkrankheit zum „europäischen Problem“ erklärten. Dies zeigte sich beispielsweise in verschiedenen EU-weiten Aufklärungskampagnen, die auf das Risiko der ASP aufmerksam machten und disziplinierend auf menschliches Verhalten einwirkten. Beispielhaft sei hier auf den von der Europäischen Kommission im Januar 2019 ausgetragenen Kongress „Preparing European hunters to eradicate African Swine Fever“ hingewiesen, der Jäger*innen über den ‚richtigen‘ Umgang mit der Tierkrankheit aufklärte (Hunters of Europe 2019). Im Falle eines akuten Ausbruchs der Afrikanischen Schweinepest innerhalb eines Mitgliedsstaates kommt es zudem zu einem durch die EU verhängten Exportverbot von Schweinefleisch bei einer gleichzeitig verordneten präventiven Keulung hunderttausender Mastschweine. Um den Export zumindest teilweise wiederaufzunehmen, müssen verschiedene EU-Richtlinien und EU-Biosicherheitsauflagen durch nationale Regierungen umgesetzt werden. Die entsprechenden rechtlichen Grundlagen sind in der EU-Richtlinie 2002/60/EC formuliert (European Union 2002). Beispielsweise müssen im Falle eines Ausbruchs Zonierungen vorgenommen werden, indem „Zonen“ unterschiedlicher Sicherheitsstufen und -maßnahmen innerhalb

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eines Mitgliedsstaates ausgewiesen werden, wie 2019 in Polen oder Belgien beobachtet werden konnte. Drittens forderten Wildschweine und Viren die auf sie gerichteten umkämpften Regierungsansprüche im europäischen Grenzregime durch ihre eigensinnigen Logiken heraus. Dies zeigte sich beispielsweise in der medialen und politischen Debatte um die „Nützlichkeit“ von Zäunen zur Begrenzung der räumlichen Bewegungen von Wildschweinen. So wurde konstatiert, dass Wildschweine „gute Schwimmer“ seien und den dänisch-deutschen Wildschweinzaun durch die Flensburger Förde „umschwimmen“ könnten, um so nach Dänemark zu gelangen. Als Reaktion wurden Pläne entworfen, den dänisch-deutschen Grenzzaun durch „schwimmende Röhren“ zu ergänzen, die als Barrieren entlang der dänischen Küste wirksam werden sollten (von Tiedemann 2018). Spätestens hier zeigt sich, dass Tiere nicht nur als Objekt oder Kristallisationspunkt umkämpfter Grenzziehungsprozesse gedacht werden können, sondern gleichzeitig auch selbst zu politischen Akteuren werden, die an der Hervorbringung von Grenzen ­ko-konstitutiv mitwirken.

4 Die (post)kolonialen Dimensionen ­mehr-alsmenschlicher Grenzen Die mehr-als-menschlichen Grenzziehungsprozesse, die im Umgang mit der ASP in Europa in den Jahren 2019 und 2020 beobachtet werden konnten, sind kein neues Phänomen. Ihre bisherige Anwendung fanden solche Maßnahmen zur Herstellung von (Nutz-)Tiergesundheit jedoch vornehmlich in außereuropäischen Kontexten. Dies zeigt sich prägnant im südlichen Afrika, wo ein Netz aus sogenannten „Veterinärzäunen“ mit insgesamt mehr als zehntausend Kilometern Länge besteht; zum Teil wurden diese bereits zur deutschen und britischen Kolonialzeit errichtet (Cumming et al. 2015). Der Beitrag schlägt vor, dass die Auseinandersetzung mit historischen (Dis-)Kontinuitäten im Umgang mit Tierkrankheiten eine differenziertere Betrachtung der mehr-als-menschlichen Konstitution von Grenzen ermöglicht. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Veterinärzäune im südlichen Afrika skizziert, die hier als (post)koloniale Erweiterung des europäischen Grenzregimes verstanden werden (zu Grenzsicherungen siehe Engelhardt 2020, zu postkolonialen Perspektiven Fellner 2020 in diesem Band). Veterinärzäune spielen im südlichen Afrika seit der Kolonialzeit eine zentrale Rolle im Umgang mit Tierkrankheiten, wie der Maul- und Klauenseuche.

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Heute wirken sie sowohl entlang der nationalen Grenzen zwischen Namibia, Botswana und Simbabwe, als auch innerhalb der Länder als physisch-materielle und symbolische Barrieren. Ziel der Zäune ist es, die als riskant eingestuften räumlichen Bewegungen von Wildtieren zu begrenzen und ‚wildtierfreie‘ und ‚krankheitsfreie‘ Gebiete zur Rinderzucht zu schaffen (cf. Republic of Namibia 2015). Beispielsweise gelten die unkontrollierten Bewegungen von Kaffernbüffeln, analog zum Wildschwein im Kontext der ASP in Europa, als Reservoir und potenzieller Ausbreitungsvektor der Maul- und Klauenseuche. Die Wildtierökolog*innen Cumming et al. (2015, S. 243) beschreiben die aktuelle Situation im südlichen Afrika folgendermaßen: „Fences of one sort or another now dominate southern Africa’s landscapes. Veterinary fences, separating domestic livestock and large wild mammals, are a major feature in many parts of the region“. Neben Wildtierzäunen lassen sich auch Zonierungen im südlichen Afrika seit der Kolonialzeit in ausgeprägter Form beobachten: Botswana beispielsweise ist in ein komplexes System aus „krankheitsfreien“ Zonen einerseits und Wildtierzonen andererseits unterteilt (European Union 2016). Veterinärzäune wurden im südlichen Afrika erstmals um 1900 durch britische und deutsche Kolonialregierungen zur Herstellung von Tiergesundheit errichtet. Auch heute wirken sie vielerorts weiter fort. Diese (post)kolonialen Dimensionen von Veterinärzäunen lassen sich prägnant am Beispiel der sogenannten „Red Line“ in Namibia beobachten. Der 1250 km lange Veterinärzaun durchzieht das Land von Ost nach West und wurde bereits 1896 nach einem Ausbruch der Rinderpest unter deutscher Kolonialherrschaft errichtet. Dabei markierte er zugleich eine Siedlungsgrenze, die sich in weitere koloniale und rassistische Politiken eingliederte (vgl. Miescher 2013). Auch heute wirkt die „Red Line“ weiterhin als sozioökonomische Barriere zwischen dem ärmeren Norden – den sogenannten Northern Communal Areas – und dem reicheren Zentrum und Süden des Landes (Miescher 2013). Während südlich der Veterinärgrenze vornehmlich weiße Großgrundbesitzer für den Export bestimmte Rinderzucht betreiben, darf aus dem als „nicht-krankheitsfrei“ eingestuften Norden des Landes kein Rindfleisch ausgeführt werden. Seit den 2000ern ist die Veterinärgrenze politisch und gesellschaftlich stark umkämpft. So wird intensiv über eine Abschaffung bzw. Verlegung der „Red Line“ an die namibisch-angolanische Staatsgrenze diskutiert (Lichtenberg 2018). Dieser Beitrag schlägt vor, dass Veterinärzäune im südlichen Afrika auch heute noch als (post)koloniale Externalisierung des europäischen Grenzregimes betrachtet werden könnten. Dies zeigt sich am massiven Ausbau der

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Veterinärzäune seit den frühen 2000ern, der als direkte Antwort auf die Verschärfung des Zugangs zum europäischen Markt gedeutet werden kann. So stellt der Export von Rindfleisch in die EU einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Länder des südlichen Afrikas dar (ODI 2007, S. 19). In Folge eines Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien im Jahr 2001 und der damit einhergehenden medial verbreiteten Angst vor Nutztierkrankheiten wurde jedoch der „verstärkte Handel zwischen der EU und Drittländern“ als zentraler Risikofaktor für die Verbreitung von Tierkrankheiten in der EU identifiziert (Europäisches Parlament 2002). Dies führte zu einer massiven Verschärfung der ­EU-Biosicherheitsrichtlinien. Seitdem dürfen nur noch jene tierischen Erzeugnisse aus dem südlichen Afrika nach Europa importiert werden, die in vermeintlich krankheits- und wildtierfreien „Zonen“ produziert wurden (vgl. European Union 2016). Die Einhaltung dieser Richtlinien im südlichen Afrika wird regelmäßig durch Audits der Europäische Union überwacht (vgl. European Union 2016). Wildtierökolog*innen verwiesen in diesem Zusammenhang auf die dramatischen Folgen, die der Ausbau der Veterinärzäune im südlichen Afrika mit sich brachte; insbesondere auf das jährliche Massensterben zehntausender Wildtiere, wie Gnus oder Antilopen, die auf ihren natürlichen Wanderungsrouten von Wasserquellen abgeschnitten werden (Mbaiwa und Mbaiwa 2006). Seit den frühen 2000er Jahren erfüllen Veterinärzäune und Zonierungen im südlichen Afrika also vornehmlich den Zweck, tierkrankheitsfreie „Exportzonen“ für den europäischen Markt auszuweisen. Damit zeigt sich, dass die Herstellung von Biosicherheit und Tiergesundheit in Europa mit mehr-als-menschlichen Grenzziehungsprozessen und Territorialisierungen einhergeht, die sich auch in außereuropäischen Regionen materialisieren. Wie Bruce Braun (2007, S. 23) es formuliert: „biosecurity weds biopolitics with geopolitics“. Mehr-als-menschliche Grenzziehungsprozesse zur Herstellung von Tiergesundheit sind, in anderen Worten, in ungleiche globale Herrschaftsverhältnisse eingebettet, die sich seit der Kolonialzeit im südlichen Afrika als physische Barrieren materialisieren. Diese Beobachtung schließt an kritische Arbeiten zur Geopolitik der Europäischen Union an, die darauf verweisen, dass sich europäische Grenzpraktiken auch jenseits der ­EU-Außengrenzen materialisieren und mit postkolonialen Kontinuitäten einhergehen (Bialasiewicz 2011; Boedeltje und van Houtum 2011; Celata und Coletti 2016). Eine Untersuchung von mehr-als-menschlichen Geographien der Grenzen könnte also auch neue Ansichten über (post)koloniale globale Verflechtungen zwischen Europa und außereuropäischen Regionen eröffnen.

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5 Resümee: Mehr-als-menschliche Geographien der Grenzen Dieser Beitrag plädierte für eine Öffnung der wissenschaftlichen Betrachtung von Grenzziehungs- und Territorialisierungsprozessen um Akteure jenseits des Menschen. Er skizzierte die Konturen einer mehr-als-menschlichen Auseinandersetzung mit Geographien der Grenzen am Beispiel der räumlichen Produktion von Tiergesundheit. Zu Beginn wurde die Frage aufgeworfen, welche spezifischen räumlichen Ordnungsmuster im politischen Umgang mit Viruskrankheiten (re)produziert, herausgefordert oder neuverhandelt werden. Erstens lässt sich feststellen, dass die im Kontext der ASP in den Jahren 2019 und 2020 in Europa errichteten Wildtierzäune zu einer Re-Aktualisierung nationaler Grenzen und nationaler Souveränitäten innerhalb der EU beitrugen und gleichzeitig die freie Zirkulation im Schengen-Raum herausforderten. In diesem Zusammenhang ließ sich auch eine Tendenz zur (Wieder-)Errichtung und Sicherung von linienhaften, physisch-materiellen nationalen Grenzen beobachten. Zweitens setzt die Implementierung von EU-Biosicherheitsrichtlinien zur Herstellung von Tiergesundheit aber auch mehr-als-menschliche Grenzziehungs- und Territorialisierungsprozesse in Gang, die auf eine Europäisierung hinwirken und die EU als politischen Raum (re-)territorialisieren. Im Gegensatz zu den ergriffenen nationalen Maßnahmen materialisieren sich diese Grenzpraktiken vornehmlich fernab der eigentlichen physisch-materiellen europäischen Grenzlinie, zum Beispiel in Zonierungen innerhalb der europäischen Mitgliedsstaaten. Europäische Grenzpraktiken im Umgang mit Tierkrankheiten zeigen sich aber auch außerhalb des europäischen Territoriums: Ein Blick ins südliche Afrika verdeutlichte, wie sich die Begrenzung des europäischen Marktes für Fleischerzeugnisse aus Drittländern in einem Ausbau von Wildtierzäunen in Namibia, Botswana und Simbabwe materialisierte. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass nichtmenschliche Lebewesen, wie Tiere und Viren, Grenzpraktiken und Territorialisierungen in Gang setzen, die sich (a) als linienhafte, physische Barrieren materialisieren und (b) symbolische und politische Grenzziehungen und Demarkationen (re)produzieren, die in weitere umkämpfte Herrschafts- und Machtverhältnisse eingebettet sind. Die mehr-als-menschlichen Dimensionen von Grenzziehungen und Territorialisierungen zeigten sich auch auf besonders eindrückliche und zugespitzte Weise im politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Coronavirus im Jahr 2020: Nichtmenschliche (Quasi-)Lebewesen setzten hier weitreichende Reaktionen in Gang, die räumliche Mobilitäten und

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g­ renzüberschreitende Bewegungen dramatisch einschränkten. Dabei galten verzehrte Wildtiere, die auf dem Markt in Wuhan angeboten wurden, als Ursprung der sich global ausbreitenden räumlichen Bewegungen der Covid-19-Viren. Eine Aufarbeitung der mehr-als-menschlichen Grenzziehungsprozesse, die in diesem Zuge in Gang gesetzt wurden, erscheint von besonderer Relevanz. Darüber hinaus könnten Grenzziehungsprozesse aus mehr-als-menschlicher Perspektive aber auch in weiteren Kontexten, wie zum Beispiel Naturschutz oder Jagd, untersucht werden. Zukünftige Forschungsarbeiten zu mehr-als-menschlichen Geographien der Grenzen könnten so einen Beitrag dazu leisten, neue Einblicke in die räumliche Konstitution des Politischen zu eröffnen.

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Larissa Fleischmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Anthropogeographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt setzt sie sich mit dem Spannungsfeld Tiere, Macht und Raum auseinander. Dabei interessiert sie sich für die räumliche Produktion von Tiergesundheit in Europa und im südlichen Afrika. Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Ethnologie und Kulturanthropologie und im Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz tätig.

In Beton gegossene Grenzen: Wie Mauern als Instrumente der Macht die Realität des Raums verändern Marc Engelhardt

Zusammenfassung

Die Welt erlebt eine Ära des Mauerbaus: Mehr als 60 Mauern, Zäune oder Grenzanlagen zur Trennung von Staaten oder Territorien sind in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts errichtet worden. Aber wie konnten Mauern die Geographie der Grenze so maßgeblich verändern? Diese Frage verfolgt dieser Aufsatz. Mit Michel Foucault lassen sich diese Mauern als Produkt einer Architektonik der Macht verstehen, der das panoptische Prinzip zugrunde liegt. Indem das Prinzip des „zwingenden Blicks“ baulich in die Mauern integriert ist, schaffen Mauern dies- und jenseits der Grenze Disziplin und beeinflussen den konzipierten Raum, die Raumrepräsentation. Die Architektonik der Mauern lässt sich zudem nicht von der Tatsache trennen, dass Menschen Raum stets als leibliche Wesen wahrnehmen. Die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit, die sich in den dem Menschen wörtlich auf den Leib geschneiderten Mauern manifestiert, spiegelt sich in der Raumpraxis wieder, dem empfundenen Raum. Zudem verändert die leibliche Verortung etwa von Fremde und Heimat den kollektiv ge- oder erlebten Raum, den Repräsentationsraum. Der von Henri Lefebvre als diese Dreiheit beschriebene Raum ist die Grundlage der Produktion einer durch die Mauer entstandenen neuen räumlichen Ordnung, die die Geographie der Grenze neu bestimmt. In diesem umfassenden Sinne lässt sich erkennen, wie Mauern als Machtinstrumente die Realität des Raums verändern – und wie ihre Macht gebrochen werden könnte. M. Engelhardt (*)  Weltreporter, Genf, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_12

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1 Zeitalter der Mauern Mit den terroristischen Anschlägen am 11. September 2001 hat eine Ära der Mauern begonnen, die bis zu den 2020er Jahren anhält. Obwohl das Datum einen Wendepunkt darstellt, hängt das Phänomen nicht unmittelbar mit dem sogenannten Antiterrorkampf zusammen, wie Elisabeth Vallet feststellt. Vielmehr waren Mauern, die im Kalten Krieg die Systeme voneinander trennen sollten, nie verschwunden, sondern fanden in der durch die Globalisierung ausgelösten Unsicherheit bereits vor 9/11 eine neue Legitimation (Vallet 2019, S. 156 f.). Grenzen finden seither immer öfter in Beton gegossen statt, mit Mauern als trennende Substanz. Das ist an sich keine neue Idee. Schon der erste Architekturtheoretiker, von dem wir wissen, Vitruv, hob im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die praktische Bedeutung der Mauer zur Verteidigung der Heimat hervor und betonte, ihre konkrete Ausgestaltung müsse abhängig von Terrain und verfügbaren Baumaterialien geschehen (Vitruv 2013, S. 53 ff.). Deshalb ist im Folgenden auch von Mauern die Rede, wenn es sich um Zäune, Wälle oder kombinierte Grenzanlagen handelt. Im Kalten Krieg gab es weltweit 19 Grenzmauern. Neun davon wurden seit 1990 niedergerissen. Zugleich aber wurden, im Zeitraum zwischen 1990 und 2018, auf allen bewohnten Kontinenten außer Australien mehr als 60 neue Grenzzäune, -mauern und Sperranlagen errichtet, sind geplant oder derzeit im Bau (Engelhardt 2018). Etliche davon entstanden in Europa – am prominentesten ist wohl der Sperrzaun, den Ungarns Regierung 2015 auf der sogenannten Balkanroute errichtete, um Flüchtlinge vor allem aus Syrien von der Flucht nach Mitteleuropa abzuhalten (zur Thematik der Grenzregime siehe auch Fleischmann 2020 und Niebauer 2020 in diesem Band). Insgesamt wurden in den beiden Jahrzehnten nach 9/11 57 % der Mauern mit dem Schutz vor Einwanderung begründet (Vallet 2019, S. 158). So wird mit den „neuen Mauern“ Macht ausgeübt: Auf der einen Seite, von uns aus gesehen diesseits der Mauer, stehen die Mächtigen – jenseits, auf der anderen Seite, die Ohnmächtigen. Dieses Missverhältnis wird durch Mauern zementiert, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn von Mauern die Rede ist, bedarf der Begriff einleitend einer kurzen Erläuterung. „Im Spannungsfeld von ideellen und materiellen Grenzen sind Mauern gestaltgewordener Grenzstrich, sie stecken materiell (und ebenso symbolisch) ein Territorium ab“, heißt es im Lexikon der Raumphilosophie (Briese 2012, S. 247). Der Architekt Rem Koolhaas nennt in diesem Zusammenhang die Wehrmauern, die den ursprünglich politischen Charakter der Mauer als Mittel der Begrenzung zwischen dem Selbst und dem Anderen beispielhaft wiedergeben und nationale Mythen und existenzielle Ängste gleichermaßen manifestieren (Koolhaas 2014, S. 214).

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Wie aber schaffen es Mauern, die Geographie der Grenze so maßgeblich zu verändern? Meine These ist, dass Mauern als auf den Menschen maßgeschneiderte und symbolhaft aufgeladene Instrumente der Macht die Realität des produzierten Raums verändern und damit eine neue räumliche Ordnung herstellen. In diese Produktion des Raums, die ich nach Henri Lefebvres Modell betrachte, fließen drei der Mauer maßgeblich eingeschriebene Faktoren ein. Zum einen sind Mauern mit Michel Foucault als Produkte einer Architektonik der Macht zu verstehen: Indem das panoptische Prinzip des „zwingenden Blicks“ baulich in die Mauern integriert ist, schaffen Mauern dies- und jenseits ihres Standorts auf der Grenze Disziplin. Diesem Aspekt widme ich mich im folgenden Abschn. 2, bevor ich im Abschn. 3 die phänomenologische Dimension unter Beiziehung von Bernhard Waldenfels beleuchte. Darin zeige ich auf, dass die Architektonik der Mauern die Tatsache ausnutzt, dass Menschen den Raum stets als leibliche Wesen wahrnehmen, und wie die Angst vor dem Fremden jenseits der Grenze in der Mauer verbaut ist. Diese drei Faktoren fließen in die Erörterung der Produktion einer neuen räumlichen Ordnung ein, die ich in Abschn. 4 behandle, bevor ich in Abschn. 5 abschließend ein Fazit ziehe und auf die mögliche Überwindung der durch die Mauer geprägten räumlichen Ordnung eingehe.

2 Mauern als Architektonik der Macht Der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) setzt sich mit Fragen von Raum und Architektur vor allem im Zusammenhang mit seiner Analyse von Machtstrukturen auseinander (vgl. Foucault 2003). „Der Raum hat bei jeglicher Machtausübung fundamentale Bedeutung“, konstatiert Foucault im Gespräch mit dem Anthropologen Paul Rabinow (Foucault 2005b, S. 337). Mauern lassen sich als Architektonik der Macht verstehen, die durch Parzellierung des Raums Disziplin erzeugt. Den dahinterstehenden Mechanismus beschreibt Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ (Foucault 2016) anhand eines utopistischen Gefängnisbaus, dem Panopticon (hierzu auch Weber und Wille 2020 in diesem Band).

2.1 Das Panopticon Mit „Panoptismus“ ist das Kapitel von „Überwachen und Strafen“ überschrieben, in dem Foucault ein von Jeremy Bentham 1787 skizziertes, utopisches Gefängnisgebäude als architektonischen Entwurf für eine Gesellschaft beschreibt, die die Ausschließung des Anderen durch die Machttechnik der parzellierenden

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Disziplin des Raumes betreibt. Dabei wird Macht nicht mit einem Individuum identifiziert, das sie ausübt, sondern wird Teil einer Maschinerie. Macht selbst beschreibt Foucault als komplizierter und diffuser als die Summe aus Gesetzen und Staatsapparat. Zwar gebe es je nach Institution einen „Gipfel“ der Macht, doch sei dieser nicht die Quelle oder das Prinzip derselben. Eher sei die Macht eine „wechselseitige und endlose ,Erpressung‘“ (Foucault 2016, S. 255). Unter Disziplin versteht Foucault einen Typus der Macht, der die innere Ordnung des Subjekts und die äußere Ordnung weitgehend in Übereinstimmung bringt. In einem historischen Rückblick beschreibt Foucault das Disziplinierungsmodell, das bei der Pestepidemie im Mittelalter angewandt wurde: Während etwa Leprakranke schlicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, stand bei der Bekämpfung der Pest die Ordnung und Überwachung des Raums im Mittelpunkt. Jeder Bewohner musste sich zu festgelegten Zeiten an einem festgelegten Ort der lückenlosen Überwachung stellen. Die Disziplin war und ist mithin auf den parzellierten Raum angewiesen, jedes Individuum hat darin seinen festen Platz. Die dauerhafte Überwachung, die die äußere Ordnung repräsentiert, ist in einer disziplinierten Bevölkerung aber mehr als ständige Beobachtung. Sie führt nach Foucault zu permanentem, persönlichkeitsprägendem Verhalten beim Subjekt und dessen innerer Ordnung: „Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen“ (Foucault 2016, S. 221). Die Struktur der Disziplinarmacht spiegelt sich in Benthams Panopticon wieder (vgl. Abb. 1). Im Mittelpunkt des runden Gebäudes steht ein Wachturm, von dem aus jede der durch ein Fenster von außen beleuchteten und nach innen blickoffenen Zellen jederzeit eingesehen werden kann. Seitlich sind die wie in einem Ring angeordneten Zellen durch Wände begrenzt, und auch ins Innere des Turms kann der Zelleninsasse nicht sehen – er ist nur gewiss, dass er von dort aus stets gesehen werden kann. Die Architektur des Panopticons zwingt dem Zelleninsassen eine permanente radiale Sichtbarkeit und zugleich eine seitliche Unsichtbarkeit (etwa zur Verhinderung von Revolten oder Kontakten im Generellen) auf, was zusammengenommen die Ordnung garantiert. Die Macht funktioniert im Panopticon mithin automatisch; das gilt unabhängig davon, wer den Aufsichtsturm bemannt, wohin der Aufseher gerade blickt oder ob er überhaupt im Turm weilt: „der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist“ (Foucault 2016, S. 257). Dieses Machtverhältnis wird vom Unterworfenen internalisiert, er wird – so der berühmte Satz Foucaults – „zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 2016, S. 260).

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Abb. 1   Jeremy Benthams Plan für das Panopticon. (Quelle: Foucault 2016, S. 172 f.)

Dessen Grundlage ist die Architektur: „Das Prinzip der Macht liegt […] in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind“ (Foucault 2016, S. 260). Dadurch, dass die Macht immer tiefer in das Verhalten der Menschen eindringt, wird das Panopticon ein „verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell“, das „die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert“, kurz: „eine Gestalt politischer Technologie, die man von ihrer speziellen Verwendung ablösen kann und muss“ (Foucault 2016, S. 263 ff.). Das panoptische

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Schema verteilt Körper im Raum, es ordnet Machtzentren und -kanäle in ihm an und ermöglicht, dass Macht über immer mehr Menschen von immer weniger Personen ausgeübt werden kann. Architektur und Geometrie reichen dafür als physisches Instrumentarium aus.

2.2 Panoptische Mauern Auf den ersten Blick unterscheiden sich Mauern erheblich von der Architektur des Benthamschen Panopticons. Zum einen umschließt das Panopticon einen kleinen Raum und eine ausgewählte, eingeschlossene Personengruppe. Foucault selbst zitiert Benthams Aussage, das panoptische Schema sei anwendbar „auf alle Anstalten, in denen innerhalb eines nicht allzu ausgedehnten Raumes eine bestimmte Anzahl von Personen unter Aufsicht zu halten ist“ (Foucault 2016, S. 264). Grenzmauern dagegen werden überwiegend mit dem Ziel gebaut, Personen auszuschließen. Der von Mauern ausgeschlossene Raum ist größer als der eingeschlossene, was der nach innen gerichteten architektonischen Struktur des Panopticons scheinbar widerspricht. Doch lassen sich in Geometrie und Architektur der Mauern Strukturen wiederfinden, die denen des Panopticons gleichen: So sind verspiegelte und von außen nicht einsehbare Beobachtungstürme fester Bestandteil selbst physisch unüberwindbar scheinender Mauern; die Gewissheit permanenter Sichtbarkeit wird durch technische Einrichtungen wie Bewegungssensoren, Radaranlagen, Gesichtserkennungssystemen und Wärmekameras verstärkt. Dank direktem Anschluss der High-Tech-Mauer an ein Glasfasernetz ist die Kontrolle an jedem beliebigen Punkt einer hunderte Kilometer langen Mauer zu jedem Zeitpunkt von jedem beliebigen Ort aus denkbar. Die von Foucault konstatierte Einrichtung des zwingenden Blicks, mit der die Disziplin sich durchsetzt, ist wie beim Panopticon gegeben. Grenzzäune wie der um die spanische Exklave Melilla (vgl. Abb. 2) trennen mit Drahtgittern radiale Einheiten voneinander ab, um Eindringlinge zu vereinzeln. Während diese so vom Beobachtungsturm aus deutlich sichtbar sind, sehen sie selbst nur die meterhohen Zäune vor, hinter und neben sich. Die Architektur der Mauer degradiert den Eindringling vom Individuum zum bloßen Körper. Doch diese architektonischen Parallelen alleine machen Mauern noch nicht zu panoptischen Apparaten. Zentral für die von Foucault konstatierte politische Technologie ist die Internalisierung des Machtverhältnisses durch den Unterworfenen. Er muss das von der Mauer manifestierte Machtverhältnis verinnerlichen, d. h. seinen festen Platz im Raum (jenseits der Mauer) akzeptieren.

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Abb. 2   Skizze des Grenzzauns zwischen Melilla und Marokko. (Quelle: Zentrum für politische Schönheit (https://politicalbeauty.de/mauerfall.html). Zugegriffen: 05.04.2020)

Dabei geht es nicht allein um den Ausschluss, wie ihn Foucault für den Leprakranken beschreibt: „Der Leprakranke wird verworfen, ausgeschlossen, verbannt: ausgesetzt; draußen lässt man ihn in einer Masse verkommen, die zu differenzieren sich nicht lohnt“ (Foucault 2016, S. 254 f.). Wie die Kontrolle der Pestkranken oder der Insassen des Panopticons, so zielen die an der Mauer eingesetzten Technologien auf Differenzierung: Gesichtserkennung, Kameras und auch die Vereinzelung des Körpers, der sorgfältig erfasst wird. Erkennungsmerkmale werden in Datenbanken gespeichert, die an den Mauern gespeist werden, wo die Staatsmacht die Körper registriert. Auf Grundlage dieser Datenbanken werden Drohnen oder Gesichtserkennungssysteme den Erfassten bei einem neuen Versuch des Eindringens schneller erkennen und dabei weitere Daten erfassen, die zur Kontrolle dienen. Die vorbeugende Registrierung potenzieller Eindringlinge etwa im Rahmen von Programmen zur „Fluchtursachenbekämpfung“ tragen überdies dazu bei, dass im langen, aber ausgeleuchteten Schatten der Mauer das entsteht, was Foucault einen „Raum detaillierter Lesbarkeit“ nennt (Foucault in Bentham 2013, S. 160). Das Überwinden der Mauer ist in diesem Feld vollkommener Sichtbarkeit keine Option mehr, es bleibt nur die Internalisierung der Machtverhältnisse. So reicht die Disziplinarmacht dank der Mauern weit über die formalen Grenzen hinaus, die Mauern eigentlich konstituieren. Sie

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verstärken den Machtapparat, wie Foucault ihn für jedes panoptische Schema konstatiert. Zugleich sind sie im Vergleich zu den Alternativen günstig: Nicht nur ökonomisch (schon Bentham hebt in seinem Plädoyer für das Panopticon die monetären Vorteile hervor), sondern sie garantieren auch politisch geringe Kosten, wie Foucault betont: „Wenn man sehr viel Gewalt anwendet, läuft man Gefahr, Revolten hervorzurufen“ (Foucault in Bentham 2013, S. 163). Panoptische Schemata ersetzen dagegen Gewalt durch Selbstüberwachung. In dieser Hinsicht wirkt die Mauer ebenso nach außen wie nach innen. Nicht umsonst sind Mauern auf beiden Seiten ähnlich konstruiert. Auch gegenüber den Bewohner*innen auf der „Innenseite“ entfaltet die Mauer eine vergleichbare Disziplinarmacht wie nach außen, wenn nicht gar eine größere, da der Gesellschaftskörper (etwa durch andere Institutionen) von der Macht noch tiefer durchdrungen ist. Die Mauer dient als deren weithin sichtbare architektonische Manifestation. Da die Überwachung im Inneren der Mauer verortet ist, sind Einwie Ausgeschlossene dem panoptischen System der Mauer gleichermaßen ausgeliefert. Vom Standpunkt der Mauer aus gesehen befinden sich beide außen. Zusammengefasst bedeutet dies: Mauern sind – im Foucaultschen Sinne – Produkt einer Architektonik der Macht, der sich keines der zu Körpern degradierten Machtsubjekte entziehen kann. Die Grenze definiert ein Innen und ein Außen politischer Macht, das Raumgefüge richtet sich danach aus: außen die Fremdheit, das Ausland, die Feindschaft, innen zugleich Gefangenschaft, Schutz und Freiraum. Das panoptische Prinzip ist die ultimative Utopie dieser Machtarchitektur, indem es die Disziplin mit Hilfe des „zwingenden Blicks“ baulich integriert. Ständige Beobachtung weicht so einer automatischen Überwachung durch die Unterworfenen selber. Dem durch Architektur verwirklichten panoptischen Schema bedient sich die Macht, um Machtzentren und -kanäle im Raum zu verorten, mithin Machträume zu schaffen und diese zu stabilisieren. Dies belegt den ersten Teil meiner eingangs formulierten These, dass Mauern als Instrumente der Macht auf die räumliche Ordnung wirken und damit die Geographie der Grenze maßgeblich verändern. Im Folgenden widme ich mich dem zweiten Aspekt: dem Phänomen der Mauer selber und der Tatsache, auf welche Weise sie den Raum formt.

3 Phänomenologie der Mauer Foucault wie auch Phänomenologen wie der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (geb. 1934), auf den ich mich im Folgenden beziehe, sind der festen Überzeugung, dass es nicht einfach „den Raum“ als leeres Behältnis gibt, der

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dann gefüllt wird wie im Computerspiel „Minecraft“. Die Architektur produziert raumbildende Dinge, die den Raum erst schaffen. Bernhard Waldenfels (1999, S. 205) formuliert das so: „Räumlichkeit entsteht mit dem Bauen“. Diese Räumlichkeit aber ist stets leibhaftig, das heißt: auf unseren Leib bezogen. Die Mauer als grenzbildendes Instrument nutzt diese Tatsache aus.

3.1 Leibhaftige Mauern Raumgrenzen kann es nur durch uns leibliche Wesen geben, die sich im Raum aufhalten und zum Raum verhalten, ihn bewohnen. Die Leiblichkeit wirkt also als raum- und grenzbildende Kraft, der Leib ist Nullpunkt aller räumlichen Orientierung (Husserl 1952, S. 158). Diese beginnt am eigenen Leib mit der Haut als „Grenz- und Berührungsfläche“ (Waldenfels 2009, S. 77): Der Leib vermittelt zwischen Positions- und Situationsräumlichkeit, dem doppelten Horizont von Außenraum und Körperraum. Der Raum ist eine Erweiterung unseres Leibes, das Verhältnis ist habituell: Das Leben im Raum ist nicht Ergebnis, sondern Bedingung unseres Zugangs zur Welt (vgl. Delhom 2009, S. 85). Das bedeutet, dass Außen- und Innenraum nicht einfach festgelegt werden, indem etwa ein Architekt eine Grenze auf einem Bauplan einzeichnet, sondern indem wir als leibliche Wesen uns im Raum bewegen: „Drinnen und draußen entstehen nicht unter dem abgrenzenden Blick, sie entstehen im Prozess einer gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung“ (Waldenfels 1999, S. 204), als ein ­Sich-ein-und-ausgrenzen. So bezieht sich das Bewohnen immer auf einen begrenzten Raum, der von mir als meiner oder – im Fall etwa eines Staates – von einer Gemeinschaft als der ihrige verstanden wird. Der Ein-Wohner steht dem ­Aus-wärtigen gegenüber, getrennt durch eine immer auch symbolische Wand, die den Eigenraum markiert, der dem jenseitigen Fremdraum gegenübersteht. Gäbe es den Ein-Wohner nicht, der sich zum Raum verhält, gäbe es die Grenze nicht, die durch die Mauer physisch manifestiert wird. Leibliche Verfassung und Situiertheit bestimmen, wo Grenzen im Rahmen der natürlichen Gegebenheiten gezogen werden. Nicht nur das Wo, auch das Wie der Grenzziehung wird vom Leib geprägt. Waldenfels verweist darauf, dass der Mensch den Raum nicht nur in unterschiedlichen Richtungen durchquert, sondern durch seinen aufrechten Gang eine bestimmte Position im Raum einnimmt. Betrachten wir die Architektur von Mauern, so greifen sie in ihrer übersteigerten Vertikalität die leibliche Verfassung des aufrechten Gangs auf. Mauern sind dem Menschen quasi auf den Leib geschneidert.

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An den weitgehend baugleichen Grenzzäunen zwischen den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sowie Marokko (vgl. Abb. 2) steht der vielleicht 1,80 m große Mensch einem Außenzaun von 6 m Höhe, einem Zwischenzaun von 3,5 m und schließlich – auf marokkanischer Seite, vom Erbauer gesehen dem „Außen“ – einem 7,43 m hoher Zaun mit beweglicher Anti-Sprung-Vorrichtung gegenüber. Bis auf zwei Meter Höhe, also über die Körpergröße eines durchschnittlichen Menschen hinaus, reicht auf dieser Seite der N ­ ATO-Stacheldraht. Am Mittelzaun ist auf dieser Höhe eine Düse mit Reizgas befestigt. Die Tiefe des Grenzzauns ist im Vergleich mit nicht einmal fünf Metern eher gering. Auch andere Mauern sind in die Höhe gebaut, die zwischen Israel und dem Westjordanland ist zwischen acht und 12 m hoch – deutlich höher, als sie sein müsste, um unüberwindbar zu sein. Stattdessen geht es darum, die leibhaftige Wirkung der Grenze im Raum zu verstärken. Dabei nutzt die Architektur die Labilität des Menschen. „Nur wer oder was stehen kann, kann umfallen“, stellt Waldenfels fest (Waldenfels 1999, S. 219 f.). Im Fallen aber geraten wir in eine Bewegung, die unserer Kontrolle entgleitet. Entsprechend führt Labilität zu „Unsicherheit und Ungewissheit“, ein architektonischer Effekt, den die Mauerbauer wohl erzielen wollen. Die Konstruktionsweise von Grenzanlagen kann damit als Beispiel dafür gelten, dass „leibliche und architektonische Konzeptionen sich durchdringen“ (Waldenfels 1999, S. 219 f.). Entsteht ein Bauwerk, so fügt es sich nicht einfach in den vermeintlich vorhandenen Raum ein, sondern verändert den Raum und bildet neue Räume. Im Zusammenhang mit der deutsch-deutschen Mauer wäre etwa an die Zonenrandgebiete zu denken, einst zentral gelegene Orte, die durch die Mauer zu Orten am Rand der Gesellschaft transformiert wurden und die Spielräume der dort lebenden Bevölkerung eingrenzten. Dabei zeigt uns sich die Räumlichkeit als solche nur, wenn das Gebäude nicht „in der Normalität zur Ruhe kommt“, wie Waldenfels es ausdrückt, sondern ihm „ein Moment der Heterotopie anhaftet, ein Anderswo, das die Kehrseite des Hier-seins bildet“ (Waldenfels 1999, S. 215). Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von Schwellen, „Grenzzonen, in denen wir uns aufhalten, an denen wir zögern, vor denen wir zurückschrecken oder die wir überschreiten“ (Waldenfels 1999, S. 31). Indem wir uns zum Raum verhalten und bestimmte Handlungsrichtungen, -zonen und -möglichkeiten ausgrenzen, entsteht die Differenz von Diesseits und Jenseits. Was jenseits der Schwelle liegt, gehört nicht mehr zu unserem Handlungsraum, unserer Ordnung, sondern „bedeutet eine Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges, das in der jeweils bestehenden Ordnung keinen Platz findet“ (Waldenfels 1999, S. 31). Gerade diese Erfahrungen weisen für Waldenfels darauf hin, dass unsere

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Welt durch Eingrenzung von Vertrautem und Ausgrenzung von Unvertrautem erst zustande kommt, die von Husserl konstatierte «Heimwelt» als Sphäre des Vertrauten und Bekannten wie die «Fremdwelt» als Sphäre des Unbekannten und Unbestimmten (Husserl 1962, S. 89 f.) erst entstehen. Die Mauer als Architektur der Schwelle manifestiert die Trennung von Diesseits und Jenseits. Sie verfolgt den Zweck, die Grenze symbolhaft darzustellen. Symbole wie Grenzpfähle und Warnschilder verändern den Realitätsgehalt des Raums (Waldenfels 2009, S. 112). Die Mauer kann in diesem Sinne als symbolbeladenes Bauwerk verstanden werden, das uns vom uns Fremden trennt. Im Folgenden soll diese Symbolik beleuchtet werden, die für die kollektive Wahrnehmung von Grenzmauern und mithin für die Produktion neuer räumlicher Ordnung entscheidend ist, auf die ich in Abschn. 4 eingehe.

3.2 Symbolhafte Mauern Dem Fremden kommt beim Prozess des „Sich-ein-und-ausgrenzens“ eine zentrale Bedeutung zu. In der DDR wurde die Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“ verbrämt, die Schutz vor den fremden Faschisten auf der anderen Seite bieten sollte. Wenn heute Mauern propagiert werden, dann warnt etwa US-Präsident Donald Trump vor „Vergewaltigern, Drogenhändlern und Mördern“ aus der Fremde, die bei ihrer Einwanderung die amerikanische Heimat bedrohten. Ähnlich begründen europäische Befürworter*innen den Bau neuer Grenzzäune und -mauern. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán etwa warnt vor der Entstehung von „Mischvölkern“, einer angeblichen Gefahr, der der 175 km lange Grenzzaun nach Serbien Einhalt gebieten solle. So wird zur Bewerbung der Ausgrenzung und des Mauerbaus Angst geschürt vor dem Fremden. Ausgangspunkt einer Phänomenologie des Fremden sind die Erfahrungen, die wir machen, indem sich uns etwas als etwas zeigt. Dieser Prozess wird als Intentionalität bezeichnet. Als was und wie etwas erscheint, stellt sich als signifikante Differenz dar: Etwas ist drinnen und nicht draußen, hier und nicht dort. Solche Erfahrungen verweisen jeweils auf bestimmte Ordnungen, die sich aus Kontrasten, Resonanzen und Wiederholungen ergeben, die mir zugänglich sind und so meine Lebenswelt formen. Diese kontingenten Ordnungen ermöglichen in ihrem begrenzten Bereich bestimmte Erfahrungen, andere werden ausgeschlossen: Die Voraussetzung für die Existenz des Fremden. Erfahrungen, die durch eine (räumliche) Ordnung ausgeschlossen sind, sich unserer Erfahrung entziehen, können als fremd bezeichnet werden. Das Fremde

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ist nicht anderswo, es ist das Anderswo, ein Nicht-Ort. Wenn nun unsere Leiblichkeit als raum- und grenzbildende Kraft dient, mit dem Leib als Nullpunkt aller räumlichen Orientierung, dann sind Handlungsrichtungen, -zonen und -möglichkeiten auf einen Nicht-Ort hin ausgeschlossen. Die Mauer begrenzt die uns zugängliche Ordnung und blockiert physisch in der Lebenswelt den Zugang zu Erfahrungen mit dem Fremden. Die räumliche Bestimmung des Fremden bezeichnet Waldenfels dabei als primär: „Die Erfahrung des Fremden entsteht durch Ein- und Ausgrenzung“ (Waldenfels 1997, S. 146). Die pauschale Zuschreibung, dass jenseits der Mauer lebende Fremde „Vergewaltiger, Drogenhändler und Mörder“ (Trump) sind, ist nur deshalb möglich, weil das wahrhaft Fremde dem Ein-Wohner verborgen bleibt. Es leuchtet (mit Waldenfels) nur in der Ferne auf, als Verweis auf die Grenzen des Raums (Waldenfels 2009, S. 112). Dem Sich-ausgrenzen steht untrennbar das Sich-eingrenzen zur Seite. Waldenfels rekurriert in diesem Zusammenhang auf das Phänomen der Heimat, das für ihn „schillernd zwischen Traditionspflege, menschlicher Zusammengehörigkeit und Grenzpolitik“ steht (Waldenfels 1985, S. 194). Heimat lässt sich also nicht in Koordinaten erfassen oder auf einer Landkarte ablesen; sie wird vom leiblichen Ich erworben und gestaltet, nicht vorgefunden. Das gilt für den Herkunftsort, der mir wie der Leib übereignet ist, ebenso wie für die erworbene Heimat, den Lebensort. Heimwelt hebt sich vor dem Hintergrund einer Fremdwelt ab. Zu ihren Kennzeichen gehören Abgrenzung und Abschirmung gegen Fremdes. Die derart überhöhte Heimat kann so für eine Sphäre der Geborgenheit, das Natürliche, das Einfache, bis hin zu heiligem Boden stehen. Der Ausruf „America first“ kann als Ruf nach Geborgenheit verstanden werden, die man „im Raume“ sucht, in einer „doppelten Fluchtbewegung, die sich in der Architektur mit Händen greifen lässt“ (Waldenfels 1985, S. 205). Die Mauer ist so nicht nur Schutzwall vor dem vermeintlichen feindlichen Fremden, die vermeintliche Antwort auf die Frage „Wo ist (der, die das) Fremde?“ (Waldenfels 1997, S. 184), sondern auch Anlaufstelle für die Wieder-Verankerung in der Lebenswelt, eine Vergewisserung der eigenen Heimat. Die symbolhafte Aufladung sowie die leibhaftige Wirkung der Mauer trägt ebenso wie die inhärente Architektonik der Macht zur Veränderung der Geographie der Grenze bei, die ich in meiner Ausgangsthese konstatiert habe. Im folgenden Abschnitt führe ich all diese Aspekte in der Produktion von Raum zusammen, die beschreibt, wie Mauern zur Etablierung einer neuen räumlichen Ordnung führen.

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4 Mauern und räumliche Ordnung Dass Mauern den Realitätsgehalt des Raums verändern, führen Michel Foucault und Bernhard Waldenfels gleichermaßen aus. Ihnen gemein ist ein Verständnis von „Raum“, das weder euklidisch noch planimetrisch, sondern topologisch verfasst ist. Wenn hier im Sinne des Titels dieses Sammelbands von Räumen, Ordnungen und Verflechtungen die Rede ist, mithin von einer durch die Mauer veränderten Geographie der Grenze, so liegt dem diese Definition von Raum zugrunde. Der Prozess, in dem dies geschieht, ist die im Produktion des Raums. „Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum“, stellt Foucault zwei Arten, den Raum zu denken, einander gegenüber (Foucault 2013, S. 9). Auch Waldenfels verweist auf eine Dichotomie des Raums, wenn er auf den bereits zitierten „doppelten Horizont von Außenraum und Körperraum, von Positions- und Situationsräumlichkeit“ (Waldenfels 2009, S. 54) hinweist, vermittelt durch ein Drittes, den Leibkörper. Beide verweisen mit ihren Aussagen auf das topologische Raummodell Maurice Merleau-Pontys, das anstelle von Koordinaten Nachbarschaften, Umgebungen, Einschließungen und Ränder kennt, „die selbst dem mathematischen Denken eine eigentümliche Körperlichkeit verleihen“ (Waldenfels 2009, S. 107). Auch Foucault bezieht sich auf topologische Beziehungen, wenn er schreibt: „Wir leben […] in einer Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich nicht aufeinander reduzieren und einander absolut nicht überlagern lassen“ (Foucault 2005b, a, S. 934). Solche Relationen sind Ausgangspunkt für die Produktion des Raums, wie sie der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre (1901–1991) beschreibt (Lefebvre 2000). Ihm zufolge produziert jede Gesellschaft ihren eigenen sozialen Raum durch drei gleichzeitig wirkende und sich gegenseitig beeinflussende Faktoren (Formanten), nämlich das Wahrgenommene (le perçu), das Konzipierte (le conçu) und das Erlebte (le vécu). Daraus ergibt sich eine „Dreiheit des Raums“ (vgl. Abb. 3; Lefebvre 2000, S. 48 ff.): Die räumliche Praxis der Gesellschaft produziert den empfundenen Raum (espace perçu), indem Alltagswirklichkeit und territoriale Wirklichkeit in einem dialektischen Prozess von Setzung und gleichzeitiger Voraussetzung verknüpft werden. Es geht hier um einen subjektiven Prozess, den Lefebvre Raumpraxis nennt. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie pendeln täglich durch den Hamburger Hafen und überqueren dabei stets die Köhlbrandbrücke. Dann erfahren Sie diese Brücke aus einer bestimmten Handlungsperspektive, in der der Raum als materiale Wirklichkeit wahrgenommen wird.

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Abb. 3   Die Dreiheit des Raums nach Henri Lefebvre. (Quelle: Eigene Darstellung)

Raumplaner*innen, Architekt*innen oder Geograph*innen stellen hingegen Raumrepräsentationen her, die Lefebvre als konzipierten Raum (espace conçu) bezeichnet. Hier handelt es sich um einen objektiven Prozess, der etwa in Karten oder Plänen mündet. Bei der als Beispiel genannten Köhlbrandbrücke begannen diese schon mit den ersten Bauplänen, geologischen Grundlagenuntersuchungen und geographischen Planvorgaben. „Bewohner“, „Benutzer“, kurz: die erlebenden Subjekte schließlich produzieren kollektiv Bedeutung. Das Ergebnis sind Repräsentationsräume bzw. der ge- oder erlebte Raum (espace vécu), der durchdrungen ist vom Imaginären und vom Symbolismus. Im Fall der Köhlbrandbrücke wäre hier an Hamburg als Hafenstadt und „Tor zur Welt“ zu denken. Raumpraxis, Raumrepräsentationen und Repräsentationsräume stehen bei der Produktion des Raums in ständiger Wechselwirkung. Während Raumrepräsentationen von einem sich laufend verändernden, scheinbar objektiven Wissen durchzogen sind, sind die Repräsentationsräume vom Imaginären und teils überlieferter Symbolik durchdrungen. Der espace vécu ist integraler Bestandteil der Architektur, durch die der espace conçu einen „spezifischen Einfluss auf die Produktion des Raums“ besitzt (Lefebvre 2000, S. 52 f.). Wer eine Mauer baut, gießt mithin nicht nur Beton in Schalen, sondern verbaut zugleich die Erfahrung der im Raum agierenden Subjekte, die über die Form des

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produzierten Raums (mit)entscheidet. In der Raumpraxis ist die Mauer zunächst ein Grenzbau, der von denen, die ihn täglich nutzen – Wachen, potenzielle Flüchtlinge – performativ und leibhaftig erfahren wird. Hier spielt die leibliche Komponente wie in Abschn. 3.1 beschrieben eine maßgebliche Rolle. Hinter der Raumrepräsentation steckt das planerische Konstrukt, die im Abschn. 2 konstatierte Architektonik der Macht, die die Mauer zur panoptischen Maschine macht. Sie beginnt mit dem ersten Bauplan, bevor überhaupt ein erster Grundstein gelegt wird. Der Repräsentationsraum der Mauer schließlich umfasst die kollektive Wahrnehmung des Bauwerks, etwa als Schutzwall für die Heimat vor dem Fremden, wie sie in Abschn. 3.2 beschrieben ist. Diese Dreiheit des Raums bestimmt, was Mauern für uns sind.

5 Mauern und die Realität des Raums Einleitend habe ich die These formuliert, dass Mauern die Geographie der Grenze auf eine ihnen eigene Weise maßgeblich verändern. Im Folgenden habe ich dargestellt, wie Mauern das panoptische Prinzip in einer „Architektonik der Macht“ integriert haben und damit die Raumrepräsentation beeinflussen. Zudem nutzen Mauern auf zweierlei Weise die Tatsache aus, dass Menschen den Raum stets als leibliche Wesen wahrnehmen: Indem Mauern Menschen „auf den Leib geschneidert“ sind, was die Raumpraxis verändert, und indem sie im topologischen Raum der Mauer symbolhafte Bedeutung etwa im Hinblick auf Fremde und Heimat einschreiben, was sich im kollektiven Repräsentationsraum widerspiegelt. Auf Grundlage der durch Mauern derart veränderten Dreiheit des Raums produziert die Gesellschaft einen Raum neuer Prägung und mithin eine neue, räumliche Ordnung, die die Geographie der Grenze neu bestimmt. Für Mauern und ihre Auswirkung auf den Realitätsgehalt des Raums lässt sich somit ein wichtiger Schluss ziehen. So wie in einer Mauer nicht nur Beton, sondern auch der erlebte Raum der Grenze ‚verbaut‘ ist, so reicht es auch nicht, Mauern niederzureißen, um Grenzen zu öffnen (auch wenn das sicher ein wichtiger Bestandteil ist). Die Änderung der Raumpraxis alleine reicht nicht aus. Vielmehr müssen auch Raumrepräsentation und Repräsentationsraum (die oft genannten „Mauern in den Köpfen“) adressiert werden (hierzu allg. Wille 2020 in diesem Band). Benötigt werden etwa Gegen-Repräsentationsräume, um Mauern endgültig einzureißen. Die von Foucault genannten Heterotopien (Foucault 2017) könnten Hinweise auf solche Räume sein, die im Hinblick auf Mauern einer eigenen Untersuchung wert wären.

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Ein Beispiel dafür, dass Mauern sich uns nicht zwangsläufig als Schutzwall, Instrument der Ausgrenzung oder Einfriedung zeigen müssen, sind etwa die Überreste der Berliner Mauer, die heute zum Beispiel in Schengen (Luxemburg) stehen (s. Abb. 4). Dort dienen sie als Mahnmal für offene Grenzen. Der symbolische Gehalt ist groß: Als 1985 das erste Schengener Abkommen unterzeichnet wurde, stand die Berliner Mauer noch, die Grenzöffnung war das Gegenmodell der Europäischen Gemeinschaft zum eisernen Vorhang. Betrachtet man die Raumproduktion in diesem Fall, so kann man so weit gehen zu sagen: Vielleicht hätte es ohne die Mauern im Osten den Fall der Grenzen im Westen Europas nie gegeben und umgekehrt. In Schengen wurden Raumrepräsentation und Repräsentationsraum verändert, bevor die Raumpraxis 1989 nachzog und die Mauer fiel. In dieser Weise können Mauern die Realität des Raums um sie herum also auch verändern.

Abb. 4   Überreste der Berliner Mauer in Schengen (Luxemburg). (Quelle: Eigene Aufnahme 2019)

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Marc Engelhardt (geboren 1971 in Köln) hat das Geographie-Studium an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Diplom abgeschlossen und studiert an der FernUniversität Hagen im Masterstudiengang Philosophie. Seit einem Volontariat beim Norddeutschen Rundfunk arbeitet der Vater zweier Töchter als Journalist, zunächst bei der Tagesschau in Hamburg, danach sieben Jahre als Korrespondent in Nairobi (Kenia) und seit 2011 in Genf (Schweiz). Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, darunter „Ausgeschlossen. Eine Weltreise entlang Mauern, Zäunen und Abgründen“ (DVA 2018).

Counter-Mapping Corporeal Borderlands: Border Imaginaries in the Americas Astrid M. Fellner

Abstract

This article seeks to explore the geography of borders and borderlands in the Americas by looking at the photographs of Tatiana Parcero. In her works, Parcero palimpsestically uses a series of anatomical drawings, codices, and maps, chemical constructions, which she projects on the female body, mostly her own. In thinking from the concept of bordertextures, my analysis of the corporeal borderlands of this artist will expose her strategies of ­counter-mapping. Laying bare the border imaginaries that Parcero’s images design, I will show how her works expose the faultlines that borders create in the dominant cultural imaginary in the Americas.

1 Introduction: Corporeal Hemispheric Entanglements in American Borderlands In his Massey Lecture titled Latin America: At War with the Past, which he presented in Toronto in 1984, Carlos Fuentes talked about the border that divides North and South America, exploring the ramifications of this border in geographic, political, economic, and psychological ways: “Latin America begins at the Mexican border. […] It is the only frontier between the industrialized and A. M. Fellner (*)  Universität des Saarlandes, North American Literary and Cultural Studies, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_13

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the developing worlds. […] It is the frontier between two cultures: the Protestant, capitalist, Nordic culture, and the Southern, Indo-Mediterranean, Catholic culture of syncretism and the baroque” (Fuentes 1985, p. 7–8). Fuentes’s statement suggests that North American borders can no longer be understood to refer exclusively to the particular region around the U.S.-Mexican border or around the U.S.-Canadian border. Borders in North America, according to him, are “living borders that form a contact zone” in which different cultures in the Americas meet and clash (Fellner 2018, p. 218). As spaces of transcultural flows, American borderlands may, in fact, refer to any geographic area in the Americas (see also Johnson 2020 in this volume). Following Ann M. Little (2009, p. 1607), historically speaking, American borderlands refer to areas “wherever people of different cultures met in a landscape where political, military, and cultural sovereignty was ambiguous.” Borderlands are “ambiguous and often-unstable realms where boundaries are also crossroads, peripheries are also central places, homelands are also passing through places, and the end points of empire are also forks in the road” (Hämäläinen and Truett 2011, p. 338). As a result, the analysis of borders and borderlands has become important in American Studies and has fruitfully been approached within a hemispheric or Inter-American paradigm, which privilege hemispheric relations that involve the U.S., Canada, and Latin America (Sadowski-Smith 2008, pp. 16–18). Since the late 1990 s the study of American history, literature, and arts, in general, has increasingly focused on the analysis of “the intricately intertwined geographies, movements, and cross-filiations among peoples, regions, diasporas, and nations of the American hemisphere” (Levander and Levine 2008, p. 3). The new paradigm of the hemispheric or even transhemispheric has contributed to an understanding of the multiple meanings of ‘America’ beyond the confines of the nation, by inscribing a north—south rather than an east—west axis that is enmeshed in diverse global movements and crossings (Fellner 2009). Gloria Anzaldúa’s description of the border in her seminal Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza, according to which the U.S.-Mexico border is “una herida abierta,” an open wound, “where the Third World grates against the first and bleeds” (Anzaldúa 2012, p. 25) also involves a hemispheric view. Her mestiza consciousness—the form of radical political awareness that dwellers of the borderlands learn to possess—is both grounded in the colonial legacy of the Southwest of the U.S. as well as rooted in larger hemispheric developments.1

1Anzaldúa’s

figure of the new mestiza, the subject who inhabits mestiza consciousness, is a hybrid figure of the borderlands. She is “neither hispana india negra española/ni gabacha;”

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Crucially, in outlining the various intertwined dynamics that make up the mestiza consciousness, Anzaldúa also highlights the corporeal dimension of borderlands. The border, she makes clear, does not simply exist as a line on a map; it materializes in the very bodies of those who cross it, “los atraversados […] the squint-eyed, the perverse, the queer, the troublesome, the mongrel, the mulato, the half-breed, the half dead” (Anzaldúa 2012, p. 25, emphasis in the original). It takes a firm grip in and on the flesh itself. It is carried on the back, creating a wound that refuses to heal. For Anzaldúa, the border and its bio-politics, therefore, is deeply enmeshed in the corporeal.2 Concurrently, there is yet another connection between the border and the human body, as the body in its boundedness figures as a surface and scene of cultural inscription for social identity. In its alignments of anatomical parts, the body serves, “as the margin joining/separating one subject from the other, one sex from the other, one race from the other” (Smith 1993, p. 10; see also Weber and Wille 2020 in this volume). Serving “simultaneously as a personal and political, psychological and ideological boundary of meaning, a contested border of restraint and of transgression through which subjectivity emerges” (Smith 1993, p. 127), the body functions as a border that separates and divides “whereby the culturally dominant and the culturally marginalized are assigned their ‘proper’ places in the body politic” (Smith 1993, p. 10). It is this politics of the body as border together with the realization that borders materialize and become visible through bodies that cross which govern the logics of geographical borderlands. Consequently, territorial borders and the various borderlands that they create can also be grasped as bodily signifiers that mark specific modes and histories of being, thinking, doing, making sense and sensing. This article seeks to explore the geography of borders and borderlands from the point of view of the corporeal. It does so through the analysis of the aesthetics of the Mexican artist Tatiana Parcero, who pursues a project of

rather, she is “mestiza, mulata, ­half-breed/caught in the crossfire between camps/while carrying all five races on [her] back/not knowing which side to turn to, run from” (2012, p. 216, emphasis in the original). Her multiplicity allows a new kind of consciousness to emerge, which moves beyond binary dichotomies, is able to build bridges and may bring about social and political change. 2My understanding of the notion of bio-politics goes back to Michel Foucault and refers to the various mechanisms through which processes of human life are managed under regimes of authority, knowledge, and power.

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mapping hemispheric corporeal borderlands. Parcero is a Mexican-born artist who earned her Master of Arts in the fields of Art Theory and Photography from New York University and a Bachelor’s Degree in Psychology from Universidad Nacional Autónoma de Mexico (UNAM), Mexico City. She lived in New York und Miami, and now resides in Buenos Aires, Argentina. In her works, Parcero palimpsestically uses a series of anatomical drawings, codices, and maps, chemical constructions, which she projects on the female body, mostly her own.3 In my analysis of her artwork, I will show how Parcero’s images reanimate the histories of colonialism, imperialism, and cultural contact in the borderlands, engaging in acts of counter-mapping (Peluso 1995; Harris and Hazen 2005). With help of the conceptual trope of bordertextures (Weier et. al. 2018; Wille et al. forthcoming 2021), I will lay bare the border imaginaries that Parcero’s images design, showing how her works expose the faultlines that borders create in the dominant cultural imaginary in the Americas.4

2 Laying Bare Border Imaginaries Through Acts of Bordertexturing Drawing from Mezzadra and Neilson’s proposal to approach borders not simply as objects of study, but, through concepts such as labor also as methods, my take on borders insists that the formation of territories and bodies are inherently interwoven, turning the border into a texture whose analysis necessarily requires a theorization of socioeconomic structures, institutions, flows, and libidinal corpo-realities. According to Sandro Mezzadra and Brett Neilson (2013, p. 18), the border can serve not only as a research object but also as an epistemic framework, a viewpoint that “allows an acute critical analysis not only of how relations of domination, dispossession, and exploitation are being redefined

3For

more information on this artist, see: https://www.jdcfineart.com/tatiana-parcero-1 (18/04/2020). 4The imaginary is a key concept in cultural criticism. In defining the set of values, forms, laws, and symbols which define one society and make it different from another, every society, as Cornelius Castoriadis (2005, p. 147) has it, “defines and develops an image of the natural world, of the universe in which it lives.” The imaginary refers to the forms which define what, for a given society, counts as ‘real.’ Castoriadis argues that every society attempts “in every instance to make of it a signifying whole, made not only for the natural objects and beings important for the life of the collectivity, but also for the collectivity itself, establishing, finally, a certain ‘world-order’” (2005, p. 149).

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presently but also of the struggles that take shape around these changing relations.” Their approach also owes much to Walter Mignolo’s concept of border thinking. In carving out his decolonial project, Mignolo (2000, p. 64) advocates an epistemological shift towards what he calls pensamiento fronterizo, “border thinking.” Mignolo’s suggestion that border thinking refers to an “epistemology of and from the border” and requires the acknowledgment that such a border epistemology necessarily entails disorientation, disalignment, and a way of thinking beyond Western paradigms (Mignolo 2000, p. 52). Building on Gloria Anzaldúa’s corporeal border theory, Mignolo’s concept of border thinking constitutes an epistemic framework for the geopolitics of knowledge and ­(bio-) power, which refers to the creativity and the energy that emerges from subaltern subject positions. Thinking through or from the border, rather than thinking about it, according to him, exposes the colonial underside of Western modernity and resists dichotomous thinking and also disciplinary territories. The way I see it, the multilayered compositions of Tatiana Parcero do precisely this: They expose the colonial underside of Europe by focusing on the performative making of the Americas through acts of mapping. In doing so, they lay bare the workings of colonialism and imperialism, which have been instrumental in establishing borders in the first place. Constituting an act of decoloniality that proposes a possibility for undoing modern/colonial power relations, Parcero’s works open up a critical space of counter-mapping, in which subaltern knowledge can emerge. Border thinking, as Mignolo (2000, p. 23) has it, privileges knowledge that takes form at the margins of the modern Western world during “the moments in which the imaginary of the modern world system cracks.” Parcero’s images expose these border imaginaries, forms of knowledges that are not institutionalized but which emerge as border thinking in the fissures of dominant discourses of colonialism and imperialism. The conceptual tool of bordertexturing, an interpretative strategy which approaches borders through an experiential dimension, will allow me to read Parcero’s engagement with the body as an enactment of uncovering border imaginaries. Bordertexturing strives to carve out stories and ways of thinking that address the “depth of place” (Pearson and Shanks 2001, p. 65), giving voice to the border as a viewpoint that “allows an acute critical analysis not only of how relations of domination, dispossession, and exploitation are being redefined presently but also of the struggles that take shape around these changing relations” (Mezzadra and Neilson 2013, p. 18). As I want to show, it is through Parcero’s images that we can glean how the border represents a dispositive that structures the body, its experiences and its boundaries, making the body not simply an object but a multi-sedimentary

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territoriality on and in which the border interweaves with the flesh to form the body in the first place. Parcero’s early work, her series Cartografia Interior (Interior Cartografies), reveals what hides below the skin by integrating anatomical drawings and the figure of the female body. Nuevo Mundo (New World) engages the figure as symbol for territory and conquest. If maps signify control and territorial ownership, then colonial maps and codicies are highly charged images, which reveal various forms of border crossings and trespasses. In her next series, Re-Invento (Reinvented), Parcero also employs mapping, expanding her repertoire and combining celestial maps and chemical constructions with images of the body. Generally, maps provide a sense of location, ensuring navigational certainty and control. By focusing on alternative possibilities and offering c­ounter-mapping strategies, Parcero’s cartographies disrupt any such certainty, exposing the constructedness of map-making practices.5 In her image Nuevo Mundo (New World) # 17, for instance, Parcero makes use of ancient maps and projects them onto her own pregnant belly. Superimposing these maps onto the surface of her body allows her to draw the attention to the problem of projection, which is inherent in any map-making project (cf. Harley 2002). As Fernando Castro R. (2010, non. pag.) has stated “German mathematician Johann Carl Friedrich Gauss proved […] that a sphere cannot be projected onto a plane without distortion. And we know that the Mercator projection […] contains more distortion than one would think.” To add to this problem, maps, as Dwight Conquergood (2010, p. 369) has pointed out, constitute only one form of knowledge, the “official, objective, and abstract”; there is, however, another domain of knowledge, “practical, embodied, and popular—‘the story.’” Cartographic devices often conceal more complex stories about empire, capitalism, and violence, and in her works Parcero aims at laying bare these embodied stories and incarnate feelings which rest hidden in border spaces. The performance of her body can be read as a corporeal cartography which both constitutes and performs an act of bordertexturing, drawing the attention to the multilayered assemblages that have accounted for colonial dispossession and subjugation of people in the New World.

5Harris

and Hazen (2005, p. 115) define counter-mapping as “any effort that fundamentally questions the assumptions or biases of cartographic conventions, that challenges predominant power effects of mapping, or that engages in mapping in ways that upset power relations.”

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©Tatiana Parcero, Nuevo Mundo #17, 1998–2000, Acetate & Archival pigment print, 50 × 70 cm The map that Parcero has superimposed on the dramatic profile of her pregnant belly functions as a metaphor for new life. In this image, the focus of the gaze is on the protruding area of the abdomen and the navel as attachment site of the umbilical cord, which becomes the center from which the newly charted landmasses radiate out. The navel here becomes the prime signifier of Parcero’s border imaginary. Connecting the human body with its constitutive outside, the navel as relic of the umbilical cord also signifies the border between old and new life. Moreover, the contours of the pregnant body serve as border between the black margin of the image and the female body. Located on the left rim of this image, the belly with its navel assumes center-stage, drawing the attention to the importance of the periphery in the vision of a new beginning of a continent. While the colonial gaze viewed the continent as tabula rasa, awaiting to be called into existence through Martin Waldseemüller’s map and be given a female name—America—Parcero inverts this colonial scenario: In her image the female body gives birth to the New World, creating sensate corporeal borderlands which constitute the beginning of signification.

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As a discursive ‘invention’ of the Old World, the New World was performatively called into existence through maps. As performance scholar Diana Taylor (2007, p. 1421) has argued, America is a highly contested practice, “an act of passion and belief conjured into existence through verbal and visual performatives.” It was “[c]onquered in part through naming and given to be seen through hypervisuality—maps, drawings, and tangible goods such as gold and material specimen (Indians)” (2007, p. 1421). And Winfried Siemerling (2005, p. 4) has poignantly stated: “Inaugurated in expectations of replication, the ‘New World’ was as much ‘discovered’ as it was articulated through colonial projection that sought to decipher and recognize familiar patterns.” It is this colonial projection that Parcero’s images perform and subvert. Maps wrap Parcero’s pregnant body, covering its surface and turning the flesh into a signifying body of land and water. The image highlights that the new beginning which the ‘discovery’ of this new land promised closed its mind to the local knowledge of the place, preferring instead to ‘write’ the European mind and its ideas onto the continent. As I have argued elsewhere (Fellner 2018, p. 210) in “the Americas, the notion of fracture or break with the old seems especially pertinent, because through conquest previous symbolic orders were superposed, which then came to serve as the alterity against which (white European) modernity could define itself.” In fact, the new idea of the ‘world’ resulted in the ‘New World.’ As Montaldo (2016, p. 154) states, [t]he first modern moment thus occurred when America (still called ‘The Indies’) was inserted into the world map. This ‘globalization,’ the conquest of non-European territories, opened the world and made it a modern world of accelerated change, expansion, and confrontation.

Parcero’s Nuevo Mundo series sketches alternative maps which produce what Beatriz Sarlo (1998) has termed “peripheral modernity” (1988), other iterations of modernity, which have been dismissed as backward or irrational. Offering a version of a relational and interconnected version of modernity, which thinks from the point of view of the border and produces embodied and affective border imaginaries, Parcero’s image Nuevo Mundo # 17 draws on the body’s performative perception and seeks new territories where it is possible to rethink new perceptive spaces. Geography, as becomes evident, is commonplace in Parcero’s work, where borders and borderlands produce dislocation, contributing to a disjunction of the dominant interpretation of reality.

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3 Texturing the Borders of the Body: The Spectrality of Absence In all of her works, Parcero uses her own body in order to make visible the invisible and make corporal borderlands perceptible. Frequently, her images focus on parts of the body: a hand or a torso. As the artist introduces her work: I explore the corporeal as a map that I can relate to concepts as different as identity, memory, territory and time. I am interested in translating emotions and moods; ­re-inventing and recreating personal or collective experiences and visual metaphors. I move particularity to the general: my experience as a reflection of what other people could have lived.6

The technique that Parcero relies on in her series Cartografía Interior (1995–98) uses a photograph and combines it with a visual strategy, which then structures the image. As Gabara explains (Gabara 2017, p. 121): The image of the body is printed onto acetate, which is then adhered onto Plexiglas … creating a visual effect like that of a photographic negative. A visual tool for the organization of ideas—a map, a diagram, or a codex—functions as a backdrop printed on paper, over which the acetate body hovers as an emptied and spectral presence made visible by dark outlines. The mode of overlay of images has varied throughout the past two decades, but a layering process is generally part of the work.

Rather than tattoo ink on the body, Parcero’s “acetate bodies write fleetingly on the drawn or printed page behind them” Gabara 2017, p. 122), creating a unique type of tissued bordertexture of the body. As a result, images of lines and borders seem blurry. The maps which the artist uses in her Cartografía Interior are a series of Aztec maps and codices that stem from the 16th century. As Hien (2014, p. 31) explains, after the Spanish conquest of Mexico, these maps were drawn by Indigenous cartographers by using pigments on hand-made amate paper, in order to provide the Spanish government with information about Aztec geography and culture. Featuring Indigenous maps and codices is crucial, as there are important differences between European and Indigenous mapping strategies, which “go beyond mere space and its visualization, beyond geography and geopolitics, to the very sense of social relationships among human beings, and between humans and the natural world” (Gabara 2017, p. 123). In Parcero’s images tacit knowledges and border thinking shine palimpsetically through her pictures, making visible the spectral traces of history and geography. 6Tatiana

Parcero. “Artist Statement,” Schneider Gallery, Chicago. https://www. schnediergallerychicago.com/new-page-3/. (20/04/20).

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©Tatiana Parcero, Cartografía interior #36, 1996, Acetate & Archival pigment print, 50 × 70 cm In Cartografía Interior #36, for instance, Parcero works with the Mapa de Teozacoalco, a pictoral manuscript that stems from the Mixtec community of San Pedro Teozacoalco, in the modern state of Oaxaca in Mexico. This map, painted around 1580, was included in the catalogue of maps called Relaciones Geográficas, which the Spanish Crown dispatched as response to a questionnaire some sixty years after the Spanish conquistadores had subdued the Indigenous empire of the Aztecs (Mundy 1996, p. xviii). Introducing color to the ­black-and-white image, the blue and red lines remind of veins and arteries. As Gabara (2017, p. 125) adds: “The paths of human travel on the earth become the internal transit of blood in the body.” At first glance, the veins look like rivers that are borders, symbolic representations of western history and bordering practices. But, as Hien (2014, p. 32) reminds us, this Eurocentric reading is misleading. The lines in this image are not borders, but lines of connections, line of migration, travel, and commerce routes, which spread over the Americas. In insisting on interwoven and trans-border constellations whose analysis cannot be separated from questions of corpo-realities, Parcero’s Cartografía Interior #36 offers a powerful corporeal cartography that produces textured images of borders.

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Absence is a recurrent theme in her works. On the one hand, her works literally deal with the disappeared and offer a strong critique of power systems. Missing people figure prominently in her works, referring to the tens of thousands of desaparecidos, the disappeared people during the military dictatorship in Argentina between 1976 and 1983 or the 43 student teachers from the Rural Teachers’ College of Ayotzinapa in Iguala, Guerrero in Mexico, whose names appear in circular form around the heart of the palm in a piece called Palma Ayotzinapa (2014). On the other hand, Parcero also offers a critique of photography and the way in which it has created knowledge and has figured as a hegemonic and colonial visual strategy for documenting alterity. As Gabara (2017, p. 122) explains: The negative space of the body inserted throughout her oeuvre performs an intervention into these founding images that organize modern Western knowledge. The expanded absence at the center of these works builds upon the fundamental paradoxes of photography—how it appears to document presence but signifies absence, how it pretends accurate and mimetic reproduction but has always invented as much as it records. Possessing similar powers as maps, photographic images re-produce reality, projecting fantasies and preconceived notions of difference upon the natural world. Insisting on the “importance of the ephemeral nature of the image produced by the penetration of light through the layers of acetate,” Parcero, in her series Cartografía Interior, includes “Amerindians codices that give pictorial accounts of their history and lands, and scientist-artists’ illustration of the body” (Gabara 2017, p. 122). In all of these images, the dark shadow of the nude “and fragmented body haunts the logic of visual knowledge as it has been constituted in the history of art and science” (Gabara 2017, p. 122). Subsequently, Parcero’s cartographic proposals produce a special form of intensity. In the cosmology that is inherent to her counter-mapping, there are no borders that divide, no clear-cut beginnings or endings. Instead, borders emerge a hybrid zone of inter-woven and continuous existences. Following this logic, Parcero’s images are rather meditations on connections and the multi-layered threads of bordertextures.

4 Conclusion: A Counter-Geography of Borders Referring to the colonial project and the role of cartography, Bill Ashcroft (2001, p. 128) has argued that “[g]eography, maps and mapping have arguably had a greater effect on our ways of imagining the world than any other discourse.” They are forms of making sense of the world, but, “crucially, they represented

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an ability to see the world as a whole, an ability which amounted to an ability to know the world (Ashcroft 2001, pp. 128–29, emphasis in the original). As such they are instruments of power in the creation of universal space. Importantly though, a map, “arises out of a particular culture’s understanding of space, which in turn is presaged on a culture’s own construction of reality” (Mundy 1996, p. xii–xiii). Rich in traditions and belief systems, the Americas were anything but a tabula rasa on which Europeans could inscribe their beliefs, traditions and cultural practices. Showing the entanglements of the multiple power structures and the different threads of corporeal border politics, Tatiana Parcero’s artwork offers a ­“counter-geography” (Rogoff 2000) of borders. In her images, the map reminds of a rhizome which “pertains to a map that must be produced, constructed, a map that is always detachable, connectable, reversible, modifiable, and has multiple entryways and exits and its own lines of light” (Deleuze and Guattari 2013, p. 22). As a nonhierarchical relation, Parcero’s corporeal maps belong to the domain of border imaginaries, which contain powerful alternative strategies of counter-mapping that can performatively restitute border thinking. Her textured images thus constitute powerful tools in carving out the bordertextures of American borderlands. Relying on her body, which is marked by the trauma of colonialization, and making use of spatiality, b/orders, and connections, and maps as ways of performing the female body, Parcero’s art articulates borderlands as spaces of highly diverse forms of transgressions and movements, of hybrid crossings and zones of weaving patterns. Her artwork offers what Cherríe Moraga and Gloria Anzaldúa have called a “theory in the flesh” (1983, p. 23), embodied theories that emerge from the material reality of multiple oppression. Showing that borderlands in the Americas are made up of a thickly amalgated web of corporeal and other disciplinary discourses (see also Roßmeier 2020 in this volume), Parcero proposes radically new ways of thinking about borderlands and offers powerful border imaginaries that allow for imaginative new beginnings.

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Prof. Dr. Astrid M. Fellner is Chair of North American Literary and Cultural Studies at Saarland University in Saarbrücken, Germany. She is Co-Speaker in interdisciplinary International Research Training Group “Diversity: Mediating Difference in Transcultural Space” that Saarland University and University of Trier are conducting with the Université de Montréal. She is Project Leader of the EU-funded INTERREG Greater Region ­VA-Project “University of the Greater Region Center for Border Studies“ and is Action Coordinator of a trilingual Border Glossary. Her publications include Articulating Selves: Contemporary Chicana Self-Representation (Braumüller 2002), Bodily Sensations: The Female Body in Late-Eighteenth-Century American Culture (WVT, forthcoming) and several edited volumes and articles in the fields of Border Studies, U.S. Latino/a literature, Post-Revolutionary American Literature, Canadian literature, Indigenous Studies, Gender/ Queer Studies, and Cultural Studies.

Sehnsuchtsräume und Beheimatungsstrategien jamaikanischer Frauen in Montreal Lisa Katharina Johnson

Zusammenfassung

Der Artikel gibt einen ethnographischen Einblick in soziokulturelle Praktiken der Beheimatung und strategische Mobilitätsbewegungen jamaikanischer Frauen, die in den 1960er Jahren nach Montreal (Quebec) auswanderten und die Absicht hegen nach Jamaika zurück zu kehren. Die Auseinandersetzung mit der Rückkehr erweist sich als lebensbegleitender, vielschichtiger Prozess der die Sehnsucht nach Kindheitserinnerungen, Traditionen, Orten und Menschen in Jamaika veranschaulicht. Mobiltelefone sind dabei elementare Instrumente, um soziale Netzwerke über Zeit und Raum hinweg aufrechtzuerhalten. Kontakt-halten über räumliche Distanzen hinweg entpuppt sich als soziokulturelle Praxis, die eine affektive Zugehörigkeit zu Land und Leuten in Jamaika aufrechterhält, Migrationsbewegungen koordiniert und eine spätere Reintegration erleichtert. Im Zuge dieser Praxis werden translokale Interaktionen und Verflechtungen von Menschen und Orten beleuchtet, die unterschiedliche Dimensionen von Grenzerfahrungen aufzeigen. Der Artikel zeigt, dass Frauen, die diese Praxis weniger intensiv betreiben, mit teilweise unangenehmen und unvorhergesehenen kulturellen Ausgrenzungen und Spannungen konfrontiert werden. Die aktive Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen über kulturelle, geographische und nationale Grenzen hinweg erweist sich als wichtiger Schlüssel, um den dynamischen Prozess der Rückwanderung zu bestehen. Dabei tragen persönliche Flexibilität und die Neuaus-

L. K. Johnson (*)  Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_14

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lotung von Beziehungen dazu bei, diverse Lösungswege für Grenzerfahrungen während der lokalen Reintegration zu finden.

1 Ausgangspunkt Ab Mitte der 1950er Jahre erreichte der Zuzug karibischer Migrant*innen nach Kanada seinen Höhepunkt. Viele Jamaikaner*innen verließen in dieser Zeit ihre Heimat, um ansteigender ökonomischer Marginalisierung und Kriminalität zu entkommen. Die kanadische Regierung nahm jährlich einhundert jamaikanische Pflegekräfte und Hausangestellte auf, die nach Ablauf eines Jahres eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung beantragen konnten. Durch die vonseiten des jamaikanischen Staates geförderte, hohe Qualifikation des Pflegepersonals war Auswanderung nach Quebec geschlechtsspezifisch und historisch gesehen zunächst Frauensache. Die Nachfrage nach Gastarbeiter*innen aus der englischsprachigen Karibik stieg durch den ökonomischen Nachkriegsboom in Kanada und durch Jamaikas Unabhängigkeit bis Mitte der 1960er Jahre stark an. Viele Jamaikaner*innen blieben langfristig in Kanada und schickten – nachdem sie sich lokal und sozioökonomisch etabliert hatten – nach ihren in der Heimat verbliebenen Kindern, Ehepartnern und nahestehenden Familienangehörigen. Bis heute haben durch diese Art der Familienzusammenführung viele jamaikanische Haushalte Familienmitglieder in aller Welt. In Jamaika verbliebene Verwandte profitieren dabei von den, in Kanada, USA und England gepflegten, sozialen Unterstützungsnetzwerken. Im Verlauf der Feldstudie in Montreal wurden mehrheitlich Jamaikaner*innen, die persönlich oder durch einen nahen weiblichen Verwandten mit dieser Migrationsgeschichte verbunden sind, angetroffen. Nach statistischen Angaben des Quebecer Ministeriums für Kultur und Migration verdoppelte sich die jamaikanische Bevölkerung bis 2011 von vormals 7345 auf 12.730 (NHS Profile, Quebec 2011). Die tatsächliche Zahl sollte jedoch deutlich größer sein, da sich die Befragten in weitere Kategorien des Zensus wie z. B. "Black", "West Indian" oder "Caribbean" eintragen konnten. In Quebec ist, ähnlich wie in anderen Industriestaaten, die Nachfrage nach bezahlbaren Arbeitskräften im Bereich der Kranken- und Altenpflege bis heute besonders hoch. Ethnographische Einblicke in die Erzählungen und Erinnerungen jamaikanischer Frauen der zweiten Migrationsgeneration zeigen Strategien der Beheimatung in Montreal sowie die Sehnsucht nach einer räumlichen Wiederverbindung mit Jamaika. Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus vermerkte bereits

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in ihrem Ende der 1970er Jahre erschienenen Werk „Auf der Suche nach Heimat“ die "emotionale(n) Bezogenheit auf einen soziokulturellen Raum" (1979). Soziale Netzwerke sind dabei für die kontinuierliche Aufrechterhaltung einer emotionalen Verbindung mit der Heimat entscheidend. Da der Heimatbegriff in Deutschland nie einheitlich bzw. wertfrei verwendet wurde, und die ethnographische Studie auf der dieser Artikel beruht in englischer Sprache verfasst wurde, ist „Heimat“ hier als Übersetzung des englischen Begriffs „Homeland“ zu verstehen. Heimat (‚Homeland‘) wird daher im Sinne einer konstruierten Sehnsuchtsmetapher als Gegenentwurf zur Fremde und in Anlehnung an eine affektive Verbundenheit mit bestimmten Menschen, Traditionen, Erinnerungen und Orten, verstanden. Der Artikel beleuchtet wie sich Remigration nach vielen Jahren der Abwesenheit vom Heimatland ausgestaltet und welche Grenzerfahrungen im Zuge der Rückkehr entstehen können. Hierbei stellt sich zusätzlich die Frage wie ‚anders‘ erinnerte lokale Begebenheiten im Prozess der Remigration neu ausgelotet werden. Nachfolgend wird ein kurzer methodologischer Überblick der Studie gegeben, der dann in die Präsentation der empirischen Ergebnisse und deren Interpretation mündet. Hier liegt das Hauptaugenmerk auf den Handlungsspielräumen der Frauen für ihre geplante Rückkehr nach Jamaika. Die Remigration formiert sich anhand wechselseitiger Verknüpfungen von lokalen und globalen Strukturen in kulturellen Praktiken und Narrativen. Die hier vorliegenden individuellen Biographien geben einen Einblick in die Ausdifferenzierung und Neuauslotung dieser translokalen Relationen und ihrer Grenzen.

2 Unterwegssein als Methode Der Artikel basiert auf einer ethnographischen Studie, die in mehreren Feldaufenthalten – von Herbst 2016 bis Winter 2019 in Montreal und auf Jamaika – durchgeführt wurde. Die Feldforschung wurde in verschiedenen Stadien der Rückkehr, an verschiedenen Orten sowie an wichtigen Knotenpunkten im Sinne einer multilokalen bzw. „multi-sited ethnography“ durchgeführt (vgl. Marcus 1995; Hannerz 1996). Jedoch ermöglichte nicht die vergleichende Untersuchung verschiedener Orte, sondern das aktive Unterwegssein mit fünf ausgewählten Migrantinnen eine „dichte Beschreibung“ (Geertz 2003) ihrer vielfältigen Beziehungen, Erfahrungen und Interaktionen. Aktives Reisen wurde durch die doppelte Staatsbürgerschaft der Informantinnen sowie regelmäßigen und kostengünstigen Luftverkehr zwischen Kanada und Jamaika erheblich erleichtert. Zudem evozieren elektronische Kommunikation in Echtzeit über z. B. Instant

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Messenger sowie die Möglichkeit für Geldüberweisungen in wenigen Minuten eine Verdichtung von Zeit und Raum in einer globalisierten Welt. Im Fokus dieses Artikels stehen kulturelle Praktiken und Narrative der Beheimatung, die für die Migrationsbiographien der Frauen relevant sind. Anhand ethnographischer Methoden – teilnehmender Beobachtung (Malinowski 1922; 1935), biographischer Interviews, informeller Gespräche, aktiven Begleitens der Frauen in ihrem Alltag in Montreal und auf ihrer Rückkehr nach Jamaika – konnten Strategien der Beheimatung und Rückkehr nachvollzogen werden. Die Protagonistinnen der Studie schildern dabei oft Gefühle von soziokultureller und moralisch-emotionaler Zugehörigkeit, die mitunter zwei oder mehr translokale Lebenszusammenhänge umspannen. Grenzüberschreitende Verbindungen zu Menschen an anderen Orten umfassen z. B. auch immobile Familienmitglieder in Jamaika oder Verwandte in anderen Regionen der Welt. Der Artikel veranschaulicht wie divers sich Identitätszusammenhänge ausgestalten können denen sich jamaikanische Frauen verpflichtet fühlen und welche Auswirkungen dies wiederum auf ihre Selbst-Positionierung in Bezug auf ihre Reintegration hat.

3 Heimat ist eine Erinnerung „Back then, it was happening all over the island. My mother had gone to Canada, just for a few years to make some money as she said. We stayed with my grandmother, a resolute and god-fearing woman. We grew up on her farm in the countryside. We had everything we needed, we were so free, I tell you, so free. (…) My mother used to send barrels for us, you know, with clothes, food, and presents, all from foreign. (…) One day, we had to go to town to take passport pictures, our mother had sent for us after six years. Later that week we packed, I cried when we drove to the airport. (…). I will never forget that day“. (Interview mit einer Informantin in Montreal, 2017)

Biographische Narrative von Kinder- und Jugendlichen-Migrantinnen – siehe das vorangesetzte Beispiel – veranschaulichen, dass viele Frauen der zweiten Generation von ausgesprochenem Heimweh geplagt sind. Dieses Heimweh ist Ausdruck einer affektiven Zugehörigkeit zu Jamaika, die im täglichen Leben von besonderer Bedeutung ist. Retrospektive Berichte von Frauen über die Umstände ihrer mehr oder weniger erzwungenen Abkehr von der Heimat sind häufig Ouvertüren, die in die Erzählung über ihre gegenwärtigen Rückkehrwünsche einführen. Nostalgie, romantische Vorstellungen über die Heimat und der Wunsch nach Zugehörigkeit werden durch positive Kindheits- oder Urlaubserinnerungen,

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Berichte von Anverwandten und soziale Medien insgesamt gestärkt und tragen als diverse Einflussfaktoren zu einer mentalen Reise ins – „Paradies“ – Jamaika bei. Die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat bzw. das Träumen von der alten Heimat sind jedoch keinesfalls Indikatoren einer gescheiterten Integration in Montreal. Bei der Betrachtung zeigen In- und Exklusionsprozesse in Bezug auf Montreal mehrheitlich Formen einer hybriden Existenz, die zusätzlich zur Ortsbezogenheit, Mobilität im Sinne eines kulturellen Pendelns hinzudenkt. Hybridität im Sinne einer nicht-einheitlich gedachten Identität, sondern einer Identität als Differenz (Hall 1994, S. 236) wird hier theoretisch als Zusammenspiel diverser individueller und historischer Erfahrungen verstanden, die in ihrer Konstruktion nie ganz abgeschlossen sein können. Gerade Migrant*innen sind darauf angewiesen in den Kulturen in denen sie leben zurechtzukommen ohne sich ‚bloß‘ zu assimilieren (Hall 1999, S. 435). Insofern ist eine hybride Existenz nicht als Zwischenglied, sondern als eine soziokulturelle Wirklichkeit zu verstehen. Entscheidungen über Remigration sind daher nicht nur von individuellen Erfahrungen geprägt, sondern in einen dynamischen Prozess auf mehreren Ebenen soziokultureller, ökonomischer, struktureller und symbolischer Bedingungen eingeflochten (Schönhuth 2008, S. 11). Einfussfaktoren für die Rückkehrentscheidung von Jamaikanerinnen der zweiten Generation sind neben Sehnsucht und Heimweh häufig negative Erfahrungen in Montreal. Insbesondere langjährige Diskriminierungserfahrungen im Berufsleben sowie Alltagsrassismus sind Faktoren der persönlichen Aushandlung und Abwägung von Rückkehr bzw. kulturellem Pendeln. Fremdzuschreibungen durch die Quebecer Gesellschaft führen aufgrund von Hautfarbe, Sprache und Herkunft für viele zu soziokultureller Exklusion von der Mehrheitsgesellschaft. Zudem sind klimatische Bedingungen in einem der kältesten Teile Kanadas Faktoren die Heimkehrwünsche nach Jamaika, gerade für ältere Frauen, beflügeln. Obwohl das mobile Leben der Frauen in mehrere Orte und transnationale Räume eingebettet ist, ist es notwendig anzumerken, dass Orte lokaler Vernetzung in Montreal aktiv mit Orten und Lebenswelten in anderen Teilen der Diaspora und Jamaikas verbunden sind. Die ethnologische U ­ r-Vorstellung von – „Feldforschung“ – im Sinne eines klar umrissenen, abgegrenzten Raumes ist wie bereits James Clifford feststellte infrage zu stellen (Clifford 1997, S. 54). Da das – „Feld“ – nicht mehr ein statischer, räumlich gebundener Ort ist (Appadurai 1991, S. 191), ist es von entscheidender Bedeutung, die fortwährende Präsenz von Erzählungen über Jamaika in täglichen Interaktionen zu verstehen. Die Aufrechterhaltung jamaikanischer, kultureller Traditionen und Werte ist somit nicht statisch oder homogen, sondern vielmehr von ständigen ­Aushandlungsprozessen

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und Veränderungen geprägt. Im Zuge aktueller Migrationsdebatten soll Remigration hier nicht als endgültiger, sondern als fortwährender Prozess begriffen werden. Dieser Prozess ist vielschichtig, simultan und grenzüberschreitend verwoben (Glick-Schiller 2007). Jamaika als Heimat scheint im Leben von vielen Befragten eine unerlässliche Konstante zu sein. Die Zugehörigkeitsbeschreibungen zeigen Perspektiven auf Heimat, die sich über den Raum des Nationalstaates hinaus ausdehnen. Ein Raum, der mit den Menschen verbunden ist, die ihn als solchen kontinuierlich schaffen; ein Raum der Hybridität. Alltägliche, kulturelle Praktiken zeigen emotionale Verbindungen und Strategien der Beheimatung mit diesem Raum. Die enge, lokale Gemeinschaft mit anderen Frauen aus Jamaika und der englischsprachigen Karibik in Montreal schafft Inseln der Beheimatung in einem ansonsten eher untypischen Umfeld. Jamaikanische Migrant*innen leben in Montreal nicht in einer ethnischen Enklave wie in anderen Ballungszentren Nordamerikas üblich, sondern vereinzelt über den gesamten urbanen Raum hinweg. Dadurch ist die Zusammenkunft in öffentlichen, semi-öffentlichen und privaten Lokalitäten in der Stadt von gesonderter Bedeutung. Das aktive, religiöse Engagement in der Kirchengemeinde oder regelmäßige Besuche im jamaikanischen Friseur- und Schönheitssalon sind dabei nicht zu unterschätzende Pfeiler der persönlichen Solidarisierung und Kontinuität mit der Heimat. In den eigenen vier Wänden liegt die Heimat im Duft der jamaikanischen Küche, den traditionellen Rezepten von Müttern und Großmüttern, in der Einrichtung und den konservierten Geschichten und Photographien über zurückgelassene Menschen und Orte. Zugehörigkeit zu Jamaika hat dabei nicht nur mit der aktiven Teilnahme an einer lokalen, ethnischen Gemeinschaft zu tun, sondern auch mit Lebensweisen, die bestimmte kulturelle Werte sowie deren Bewahrung aufrechterhalten. Die symbolische Bedeutung der andauernden Verbindung mit der Heimat kann dabei über direkte, persönliche Beziehungen hinausgehen und im Sinne eines gemeinschaftlich-gedachten, jamaikanischen Bezugssystems verstanden werden (Faist 2006). Viele Frauen legen zum Beispiel größten Wert auf die Verankerung jamaikanischer Werte in der Sozialisation ihrer Kinder. Dazu gehören z. B. das Erlernen von kulturellen Gepflogenheiten, Sprache, Religiosität, Esskultur und generationsübergreifende Erzählungen. Diese sind Nährboden für glorifizierte Sichtweisen über das Leben in Jamaika, aber auch für negative Perspektiven auf das Leben in Montreal. Die romantisierten, intergenerationalen Narrative und Sehnsuchtsbezeugungen bilden die Grundlage für über die eigene Generation hinweg andauernde Auseinandersetzungen mit der Heimat und der persönlichen, kulturellen Identität.

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4 Impulsgeber für die Rückkehr Neben nostalgischen Erinnerungen und der kontinuierlichen Referenz auf den jamaikanischen Heimatraum als Stützpfeiler ethnischer Zugehörigkeit sind auch strukturelle Einflüsse relevant. Viele Frauen unterstützen zum Beispiel ihre daheim gebliebenen Familien durch Geldzusendungen („Remittances“) und schaffen damit weitere Anreize für Anverwandte nach Kanada zu migrieren. Ob finanzielle Unterstützung bei der Ausbildung, Mithilfe bei der Beantragung von Visa oder Familienzusammenführung viele Frauen sind selbst wichtige Knotenpunkte in ihren eigenen sozialen Netzwerken. Die fortwährende Fürsorge für die lokale Familie ist eine nicht zu unterschätzende moralische Basis für eine erfolgreiche Reintegration (Plaza 2008). Zentral ist bei dieser Art von persönlicher und familiärer Verankerung auch die doppelte Staatsbürgerschaft (Jamaika-Kanada) der Informantinnen. Kombiniert mit dem erschwinglichen und regelmäßigen Flugverkehr zwischen Montreal und Jamaika erleichtert der – „doppelte Pass“ – visafreie Mobilität und eine Entkopplung vom sonst streng reglementierten Immigrationsregime der kanadischen Behörden. Anreize zur Rückkehr werden überdies durch Programme des jamaikanischen Staates gefördert, da pensionierte Rückkehrer*innen zumeist einkommensstarke, zur lokalen Ökonomie beitragende Bürger*innen darstellen. Für viele Jamaikanerinnen in Montreal ist die bevorstehende Rente ein wichtiger Faktor in der Planung ihrer Remigration. Der Erwerb oder das Erbe von Grundbesitz und Häusern in Jamaika, sind weitere entscheidende ökonomische Ressourcen, die im Laufe eines Lebens angeschafft und abbezahlt werden. Der Wunsch im Heimatland zu sterben und im Land der Vorväter begraben zu werden sind damit verknüpfte, bedeutsame Beweggründe. Nebst diesen Aspekten ist die Aktivität in virtuellen Netzwerken von gesonderter Bedeutung für die praktische Durchführung der Rückkehr.

5 Kontakt-halten als soziokulturelle Praxis Neben dem zeitlichen und historischen Kontext von Migration müssen bei der Analyse der einzelnen Rückkehrwünsche auch globalisierende Faktoren, insbesondere die Digitalisierung und fortgeschrittene Vernetzung, berücksichtigt werden. Durch virtuelle Verbindungen wird die Bedeutung der Gleichzeitigkeit bzw. Zeit-Raum-Kompression über geographische Grenzen hinweg erneut betont. Kontinuierliche soziale Interaktionen durch – „technoscapes“ – (Appadurai 1996) sind wichtige Prozesse der transnationalen Vermittlung und Übersetzung, die die

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Interaktionen zwischen diversen Räumen strukturieren (Lehmkuhl et al. 2015). Digitale Kommunikationsnetzwerke sind ein wichtiger Schlüssel für die Analyse von Strategien der Beheimatung. Dabei ist die Qualität der Vernetzung im Sinne eines Informiert-Seins über lokalkulturelle Zusammenhänge in Jamaika von zentraler Bedeutung. Wie Forschungen über transnationale, jamaikanische Familien nahelegen (Goulbourne und Chamberlain 2001, S. 41), sind Telefone und damit neue Kommunikationstechnologien Schlüsselinstrumente, um Verbindungen mit familiären und sozialen Netzwerken in Jamaika über Zeit und Raum hinweg aufrechtzuerhalten. Viele Frauen der zweiten Genration berichten, wie wichtig es ist – „nichts zu verpassen“ – und mit ihren Freunden und ihrer Familie vor Ort und an diversen anderen Orten in der jamaikanischen Diaspora in Kontakt zu bleiben. Wie die Untersuchung von Horst und Miller (2005) über Mobiltelefone in Jamaika zeigt, sind nicht nur Familienangehörige, sondern speziell Freunde für gegenseitige Hilfe, Empfehlungen und Unterstützung lokal und global von herausragender Bedeutung. Die virtuelle Verbindung und das Kontakt-halten über digitale Räume ist eine kulturelle Praxis, die als Vorstufe erfolgreicher Reintegration verstanden werden kann. Diese schafft Sichtbarkeit und ist für zukünftige Bedürfnisse nützlich. Viele der Informantinnen in Montreal betonen die Wichtigkeit der sozialen Vernetzung über ihr Smartphone. Das Aufrechthalten von Kontakten über Jahre hinweg dient hier als wichtiges Werkzeug zur Koordinierung von Migrations- und Mobilitätsbewegungen. Anrufe, Videoanrufe, Textnachrichten oder Sprachnachrichten werden hauptsächlich dazu benutzt viele, kurze, freundliche Worte oder Bilder an so viele Verbindungen wie möglich zu verbreiten. Kurze Austauschs-Floskeln wie „Hallo, wie geht´s?“ und „Mir geht es gut, danke“ sind nicht zu gering zu bewerten und unterhalten virtuelle Verbindungen zu wichtigen Schlüsselpersonen, die wiederum lokale Kontakte herstellen und bei Bedarf reaktivieren können. Vor ihrer Remigration oder vor saisonalen Besuchsreisen nach Jamaika sind regelmäßige Telefongespräche mit Familienmitgliedern, Freunden, Wohnungsgebern, Bekannten oder auch Bauunternehmern und Umzugshelfern die Voraussetzung für eine erfolgreiche Heimkehr. Jedoch ist nicht nur das in Verbindung-bleiben per se, sondern speziell das Wissen um soziokulturelle Veränderungen vor Ort relevant. Während sie in der Diaspora leben, tauschen die Mitglieder der zweiten Generation über ihre sozialen Netzwerke Informationen und Bilder über lokale Begebenheiten aus (Appadurai 1996, S. 34). Diese rekonstruieren wiederum eine Idealisierung Jamaikas und sind wesentliche Bestandteile von Identitätsbildungen. Plaza beschreibt, dass der praktischen Mobilität eine mentale vorangestellt ist um ein „mentales, physisches und emotionales Netzwerk mit relevanten Orten“ zu

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unterhalten (Plaza 2008, S. 5). Außerdem bieten neue Kommunikationstechnologien die Möglichkeit, mehr über die Hindernisse einer möglichen Rückkehr in Erfahrung zu bringen. Bleibt dieses Wissen über mögliche Hürden aus können im Verlauf der Rückkehr häufig diverse Spannungen entstehen.

6 Strategische Rückkehr und Reibungspunkte Bei der Analyse strategischer Mobilitätsbewegungen jamaikanischer Frauen ist es zunächst notwendig, sich von binären Ansätzen im Denken über migrantische Gesichtspunkte zu lösen. Migration ist hier als fortlaufender Prozess des Mobilseins und der Zugehörigkeit über nationale Grenzen hinaus zu betrachten. Methodologisch war es daher relevant die Akteurinnen bei ihren Entscheidungsprozessen und Rückreisen ins Heimatland zu begleiten und die Forschung an mehreren Orten und Etappen stattfinden zu lassen. Die Bewegungen der Frauen sind nicht linear, sondern aus historischen Begegnungen resultierende, relationale Wege der Verstrickung und Übersetzung zwischen transnationalen Orten, Nationen und Menschen (Clifford 1997, S. 7). In Jamaika werden Rückkehrer*innen oft als prestigeträchtige Ehrenbürger*innen seitens der Regierung angesehen, während andere Teile der lokalen Bevölkerung sie als Außenseiter*innen oder sogar als Eindringlinge wahrnehmen, die lokale Ressentiments hervorrufen (Hall und Müller 2004; McWatters 2009). Viele Rückkehrerinnen versuchen durch die Remigration den Jahren harter Arbeit in Kanada entgegenzuwirken, die sie für ihren Ruhestand in Jamaika aufgewendet haben: Große Häuser, üppige Gärten und Konsumgüter sind hier Aspekte der Schaffung eines freiheitlichen und vergnüglichen Lebensstils. Der Bau von Häusern wird bereits viele Jahre vor der eigentlichen Rückkehr begonnen und durch lokale Kontakte oder eigene Reisen nach Jamaika strategisch überwacht. Bei dieser Form der strategischen Mobilität ins Heimatland werden auch lokale Kontakte neu ausgelotet und mögliche Formen der späteren Freizeitgestaltung sondiert, wie z. B. die Mitgliedschaft in lokalen R ­ ückkehrer-Verbünden. Die Perspektiven kürzlich zurückgekehrter, jamaikanischer Frauen aus Montreal zeigen sowohl strukturelle als auch interkulturelle Reibungen, die auftreten können, wenn Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen mit tatsächlichen lokalkulturellen Gegebenheiten konfrontiert werden. Hierbei entstehen wichtige Umstrukturierungen sozialer Beziehungen sowie Veränderungen persönlicher Identitätskonstruktionen. Die Wiedereingliederung in die jamaikanische Gesellschaft ist zumeist deutlich schwieriger als zunächst angenommen, was

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sich in Gefühlen der Einsamkeit, Langeweile und Fremdheit niederschlägt. Individuelle Vorstellungen und symbolische Verbindungen von Rückkehrerinnen stehen häufig im Kontrast zu den unerwarteten Realitäten bei der Ankunft in Jamaika. Obwohl die Zugehörigkeit zur Heimat von vielen als selbstverständlich angesehen wird, stehen Prozesse der Neuauslotung und Übersetzung bei der Rückkehr im Vordergrund. In diesem dynamischen, dialogischen und sich überschneidenden Prozess verändern sich sowohl die neuen als auch die alten Sehnsuchtsräume im Laufe der Zeit. Dieser vielschichtige Prözess macht die Sehnsucht nach Wiederverbindung, nach ethnischer Zugehörigkeit, nach Traditionen und vertrauten Kulturlandschaften spürbar. Orte werden dabei zum Symbol für spezifische Lebenserfahrungen und emotionale Verbindungen mit Menschen. Aufgrund ihrer ‚rosigen‘ Vorstellungen, die sie über ihre Erinnerungen an die – „good old days“ – in Jamaika nährten, haben viele Frauen gewisse Erwartungen, die jedoch schnell enttäuscht werden. Viele Informantinnen erleben im Zuge der Reintegration einen – „Kulturschock“ – da sie zunehmend erkennen müssen, dass sie in ihrer antizipierten Heimat als kulturelle Fremde angesehen werden. Montreal als vorheriger Lebensmittelpunkt wird von vielen Befragten in einem ganz neuen Licht betrachtet: Funktionierende Infrastruktur, Pünktlichkeit oder die Verfügbarkeit bestimmter Lebensmittel und Freizeitaktivitäten werden nach der Rückkehr völlig neu eingeschätzt. Das Vermissen von Freunden, Verwandten und erwachsenen Kinder und, in vielen Fällen, Enkelkindern in Kanada und den USA sowie das Nicht-abschließen-können mit dem alten Leben spielen hierbei eine große Rolle. Lokale Kultur in Jamaika wird anders erlebt als antizipiert, dazu gehören beispielsweise die Langsamkeit bürokratischer Prozesse, extrem lange Wartezeiten, Unwissen über sich über die Jahre veränderte kulturelle Gepflogenheiten und Kommunikation sowie die hohe Kriminalitätsrate und schlechte Infrastruktur von z. B. Straßen und öffentlichem Nahverkehr. Auch die Eingliederung in lokale Verbände und Kirchennetzwerke fällt vielen schwer. Das Knüpfen neuer Freundschaften dauert länger, geht ungewohnt vonstatten oder scheint weniger solidarische Aspekte als zuvor in Montreal aufzuweisen. Viele lokale Freunde und Verwandte zeigen mit zunehmendem Aufenthalt der Befragten großes Interesse an materiellen Zuwendungen und fragen regelmäßig nach Geldgeschenken, sogenannten – „Handouts“ – was die Beziehungsverhältnisse brüchig werden lässt und Misstrauen sowie Distanzgefühle gegenüber Einheimischen hervorruft. Die Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten nach Kanada gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung und wird wiederum ein wichtiger Ankerpunkt des nun jamaikanischen Alltags. Heimat (im Sinne von ‚Homeland‘) ist daher, kein Ort, sondern ein vielfältiges Konstrukt (Hülz et al.

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2019), dass sich im Laufe des Lebens verändert und sich mit immer neuen Ausformungen beschäftigt (Gupta und Ferguson 1997). Obwohl Orte geographisch verortet werden können, kann sich Heimat im Falle der jamaikanischen Frauen der zweiten Migrationsgeneration, als Imagination oder Projektion persönlicher Ideen und Erwartungen erweisen. Die romantischen Heimaterzählungen ihrer Mütter und Großmütter prägen gepaart mit Familienbesuchen in Jamaika, das Ideal einer alternativen Heimat; einer ausgeprägten Kultur-Geographie, die sich als mentale Landkarte einprägte, jedoch nicht bestätigt. Trotz unerwarteter Grenzen der lokalen Zugehörigkeit verfallen die Rückkehrerinnen jedoch selten in ein psychologisches Trauma, sondern nutzen ihre virtuellen, sozialen Netzwerke auch im weiteren Verlauf ihrer Neustrukturierung und Reintegration in Jamaika. Neue Kenntnisse und veränderte Verhaltensweisen, Werte, Zugehörigkeiten und Identitäten haben sich während der Emigration, Integration und nun Remigration entwickelt. Dies fordert die Akteurinnen heraus, sich nach ihrer Rückkehr mit ihrem neu angehäuften Wissen und Lernprozessen auseinanderzusetzen und die Bedeutung von Heimat neu zu definieren (Olivier 2013). Rückkehr kann daher nicht als Endpunkt von Migration verstanden werden. Im Gegenteil finden viele Frauen aktive Wege um ein erfülltes Leben als – „Rückkehrer“ – zu führen, dass nicht von Immobilität, sondern von einem fortlaufenden Prozess der Mobilität geprägt ist. Räumliche, soziale und kulturelle Grenzen werden dadurch verschoben und als ‚Geographien der Grenze‘ neu zusammengesetzt. Diese Grenzüberschreitungen werden in der fortwährenden Interaktion der Frauen mit ihren sozialen Netzwerken sichtbar, insbesondere im Kontext der Familie. Die räumliche Flexibilität der Frauen, insbesondere durch ihren Status als Rentnerinnen und doppelte Staatsbürgerinnen sowie die geographische Nähe zu Nordamerika bzw. Kanada ermöglicht ihnen ein Leben das vom kulturellen Pendeln geprägt ist.

7 Poröse Grenzen: Jenseits des Transnationalismus “An authentically migrant perspective would rather root from an intuition that the opposition between here and there is itself a cultural construction, a consequence of thinking in terms of fixed entities and defining them oppositional” (Chambers 1994, S. 42). “It might begin by regarding movement, not as an awkward interval between fixed points of departure and arrival, but as a mode of being in the world” (Carter 1992, S. 34).

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Der vorliegende Artikel diskutierte die Praxis des virtuellen sowie mentalen und physischen Kontakt-haltens jamaikanischer Frauen in Montreal zu ihrer alten Heimat und somit die translokalen Verflechtungen zwischen beiden Orten. Wiederkehrende Reisen nach Jamaika sind dabei die Voraussetzung für eine erfolgreiche Reintegration. Jedoch entscheiden sich einige Frauen bereits im Zuge dieser Mobilität für eine Alternative zur Rückkehr. Viele Informantinnen verspüren bereits vor der Remigration Zweifel an ihrer ursprünglichen Entscheidung. Zweifel werden insbesondere durch die Realisierung diverser, lokaler Reibungspunkte und Fremdheitserfahrungen geschürt. Daher beschließen einige Frauen in Kanada bzw. in den USA zu verbleiben, Jamaika jedoch regelmäßig zu besuchen. Für die Pension angeschaffte Immobilien werden zu Feriendomizilen umfunktioniert und bei Abwesenheit z. B. an Tourist*innen vermietet. Saisonale Reisen nach Jamaika eröffnen dabei die Möglichkeit, das ‚beste‘ aus beiden Welten zu genießen. Andere vollziehen die Remigration, reisen jedoch über die heißen Sommermonate für einige Zeit zu ihren Familien nach Kanada bzw. USA, um Zeit mit ihren Kindern und Enkelkindern zu verbringen. Die Frauen der zweiten Generation finden Wege, um einer gewünschten Zukunft in Jamaika auf unterschiedliche Art und Weise näher zu kommen. Hierbei modifizieren sie ihre Beheimatung strategisch durch neue Formen der Mobilität. Jamaika verbleibt im Alltag trotz Neuorientierung die soziokulturelle Referenz. Nicht als physischer Ort, sondern als wichtiger ideeller und emotionaler Gleichgewichtspunkt. Soziale Netzwerke und Beziehungen bleiben über nationale Grenzen hinweg intakt und machen diese durchlässig und porös. Die Mobilität von jamaikanischen Frauen nach ihrer Erst-Migration nach Montreal ist ein relationaler, kombinierter, fließender sozialer Prozess, der eine gleichzeitige Verflechtung von verschiedenen Menschen, Orten, Räumen und Lebenswelten ermöglicht. Im historischen Kontext jamaikanischer Migration nach Kanada lassen verschiedene Einwanderungswellen die Annahme zu, dass mobile, kulturübergreifende Aktivitäten kein neues Phänomen sind. Die Vermittlung von Zugehörigkeit und die Verhandlung von Raumbezügen zu bestimmten Orten im Laufe der Zeit erfordern dennoch eine ständige Übersetzungsleistung der Akteur*innen über reale und imaginäre Grenzen hinweg. Raum und Zeit – sowie die Fokussierung auf spezifische, miteinander verbundene Orte, können daher nicht nur anhand historischer Migrationswellen oder technischer Neuerungen betrachtet werden – sondern müssen im individuellen, soziokulturellen Kontext der Akteur*innen betrachtet werden. Insbesondere soziale Netzwerke und der damit verbundene Zugriff und Zugang zu bestimmten Orten ist während der Integration in Montreal, aber auch während der Reintegration in Jamaika, relevant. Daher prägen Überschneidungen zwischen dem ­ Heimatland, Wohn-

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ort und kontinuierliche Verbindungen mit anderen wichtigen Orten der jamaikanischen Diaspora die Basis für jedwede Anpassungsleistung. Die Bewegungen jamaikanischer Frauen der zweiten Migrationsgeneration werden demnach nicht als gänzlich entkoppelt angesehen. Migration, Mobilität und Beheimatung sind informierte, regulierte und über verschiedene Generationen hinweg geprägte soziokulturelle Prozesse, die auf multiplen Ebenen stattfinden. Die Protagonistinnen der Studie sind hier in vielerlei Hinsicht privilegiert. Aufgrund ihrer doppelten Staatsbürgerschaft, ihrer durch die Pensionierung freien Zeitgestaltung und ökonomischen Stabilität sind sie in der Lage verschiedene Lebenswelten miteinander zu verschränken und Gäste an vielen globalen Orten zu sein. Auch wenn manche Frauen dabei keine vollständige Rückkehr vollziehen, bleibt Jamaika eine zentrale Referenz soziokultureller und affektiver Zugehörigkeit. Im Falle jamaikanischer Migration nach Kanada ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese privilegierte Art des Reisens nicht weit verbreitet ist. Die Mehrzahl von Migrant*innen sind ohne Ausweispapiere vor Ort, ihre Visa sind längst abgelaufen oder sie werden gar abgeschoben. Auch wenn jamaikanische Rückkehrerinnen als relevantes Beispiel eine Form von transkultureller Neuverortung veranschaulichen, ist ihre Position doch in einer Sonderstellung. In Bezug auf die fortschreitende Debatte um Transnationalismus und Migration ist es wichtig zu bedenken, dass die Welt weit davon entfernt ist grenzenlos oder fluid zu sein. Soziokulturelle und räumliche Differenzierung und Exklusion ist ein komplexer, historischer und aktueller Prozess sozialer Konstruktion und politischer Instrumentalisierung, der in jüngster Zeit besonders sichtbar wurde (Flüchtlingskrise im ­ EU-Schengen-Gebiet, USMexiko-Grenze u. a., dazu Niebauer 2020 sowie Fellner 2020 in diesem Band). Für die interdisziplinäre Erforschung von Migration und Mobilität ist es dementsprechend nicht ratsam gängige Muster, die zu den Paradigmen des Transnationalismus passen zu replizieren. Vielmehr gilt es zu verstehen und zu beschreiben, wie Mobilität als Prozess mit der Zeit imaginiert, verhandelt und gelebt wird und warum bzw. wann Bewegung sinnvoll erscheint. Aus ethnologischer Perspektive ist es notwendig, die anhaltende Bedeutung von Orten bzw. Ortsgebundenheit als Wissens- und Praxismodus von Kulturen und Gesellschaften im Blick zu behalten.

Literatur Appadurai, A. (1996). Modernity at large. Cultural dimensions of globalisation. Minneapolis: University of Minnesota Press.

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Lisa Katharina Johnson  studierte B.A. Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Trier und M.A. Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität Bayreuth. 2020 schloss sie ihr Promotionsstudium im DFG-geförderten Graduiertenkolleg „IRTG Diversity: Mediating Difference in Transcultural Spaces“ an der Universität Trier ab. Neben ihrem Forschungsinteresse für Mobilität und Migration zählen ethnologische Fragestellungen zu Alltagspraktiken, Zeit und Raum, Gender, kultureller Identität und Musik/ Sound zu ihren Forschungsinteressen. Seit 2019 ist sie Lehrbeauftragte für Cultural Studies an der Universität des Saarlandes (Fachrichtung Amerikanistik, Anglistik und Anglophone Kulturen). Der vorliegende Beitrag ist ein Derivat aus der Doktorarbeit von Lisa Johnson zu Mobilitäts- und Verortungsstrategien jamaikanischer Migrantinnen in Montreal mit dem Titel „Moves, Spaces and Places: Roots, Pathways and Trajectories of Jamaican Women in Montreal“.

Grenz(de)stabilisierungen und ­­Stadt-Land-Hybride

Migration and Urbanity in Rural Areas. Developments in the G ­ ermanLuxembourg Border Region Elisabeth Boesen, Gregor Schnuer and Christian Wille

Abstract

Studies on the connection between migration and urbanity are usually concerned with conditions and developments in cities. The presence of ‘urbanity’ in rural space is the topic of the present contribution. It will be discussed using the example of residential migration in the Greater Region SaarLorLux. The massive influx of residential migrants from Luxembourg into the border regions of the neighbouring countries is a relatively recent phenomenon, the main cause of which lies in the developments in the ­real-estate market in the Grand Duchy of Luxembourg. This phenomenon is of special interest for the topic of migration in rural areas in two regards: because of the important demographic changes produced by the residential migrants in individual border villages and because of the complex composition of the group of residential migrants, which is extremely differentiated regarding the dimension rural—urban. Central to the article is the question, whether urban attitudes and practices become visible in German border villages, and, if so, how the migratory movement from Luxembourg influences this ‘rural

E. Boesen (*)  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] G. Schnuer  Pretoria, Südafrika C. Wille  University of Luxembourg, Esch-Belval, Luxemburg E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_15

319

320

E. Boesen et al.

urbanity’. Furthermore, taking the everyday practices of the residential migrants as starting point, it asks in how far the dichotomy urbanity— rurality presents a conceptual approach for the examination of individual and structural integration processes.

1 Introduction This article1 deals with the topic of migration and urbanity in rural areas, using the example of the cross-border residential migration in the Greater Region SaarLorLux2 (see also Wille 2020 in this volume). The massive influx of residential migrants3 from Luxembourg to the border regions of the neighboring countries is a relatively recent phenomenon and is mainly due to the developments on the property market in the Grand Duchy of Luxembourg (Carpentier 2010). In the context of migration and urbanity in rural areas, this phenomenon is of particular interest for two reasons: first, because of the profound demographic changes residential migration has brought to some border villages, and, second, because of the complex composition of the immigrant group, which, in regard to the rural—urban dimension, is extremely differentiated (in general Stébé and Marchal 2020 in this volume).

1A

longer version of this text has been published in German language in Garstenauer, R. & Unterwurzacher, A. (eds.). (2014). Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen. Mobilität und Migration im ländlichen Raum seit 1945. Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2014. Innsbruck: StudienVerlag. The translation into English was done by Lingotransfair Eva Nossem & Domenica MG Caminiti GbR. 2The term Saar-Lor-Lux has been used since 1995 to designate a Euroregion initially consisting of the Grand Duchy of Luxembourg, Lorraine and Saarland, and then extended to Wallonia and Rhineland-Palatinate. 3The term “residential migrants” is meant to emphasize the fact that the purpose of the change of residence to a neighboring country here is to improve the housing situation, while other living conditions (workplace, other social environment, etc.) remain more or less unchanged, so that the migration is, in a way, only partial. The question of whether the term migration is appropriate given the small size of the movement cannot be discussed further here; (see also Schnuer 2014). Some authors propose a distinction between “residential migration” and “residential mobility” and advocate the use of the term mobility when relocation is linked to biographical changes or local housing market conditions; (cf. Bonvalet and Fribourg 1990; Carpentier and Gerber 2009).

Migration and Urbanity in Rural Areas

321

Based on the everyday practices of residential migrants in German villages close to the border, our article deals with the question to what extent the urban— rural dichotomy can serve as a conceptual starting point for the investigation of individual and structural integration, i.e. whether it helps to grasp different spatial identification and ordering processes. Our study is essentially based on the results of a qualitative study in four villages (see Figure 1), which are among the preferred destinations for residential migration from Luxembourg.4 Residential migration on the German-Luxembourg border is far more heterogeneous and complex in terms of both the national and socio-economic composition of migrants than corresponding phenomena at other European internal borders.5 In addition to Luxembourgers, it also involves members of the highly mobile, international elite as well as traditional migrant workers, especially those of Portuguese origin. The proportion of residential migrants of Luxembourgish nationality has increased significantly in recent years (Carpentier 2010, p. 21, 30). In 2012, they accounted for about 60 percent of those moving to Rhineland-Palatinate municipalities.6 Previous studies have shown that, in general, residential migrants mainly come from the most populous municipalities in Luxembourg (L’Observatoire de l’Habitat 2010, p. 2) and settle, for the most part, in villages that are no more than five kilometers from the border (Brosius and Carpentier 2010, p. 33 ff.). Although their proportion of the bordering districts’ total population is still small7, in individual municipalities they represent almost a quarter of residents8.

4Cf.

the project Cross-Border Residence. Identity experience and integration processes in the Greater Region. (https://history.uni.lu/research-cross-border-residence). 5Cf. about residential migration on the German-Dutch border: Strüver (2005); van Houtum and Gielis (2006). For a research overview, see Jagodic (2013). 6According to official statistics, the number of Luxembourg nationals living in RhinelandPalatinate—mostly in close vicinity to the border—increased between 1995 and 2012 from around 1,400 to more than 5,600 people, meaning that it more than quadrupled; data furnished by the State Statistical Office Rhineland-Palatinate. The demographic data, however, are very imprecise; a considerable proportion of those who have moved from Luxembourg prefer to remain registered in the Grand Duchy and therefore officially only have a second home in Germany. 7City of Trier: 0.5%, ­Trier-Saarburg district: 1.7%, Eifel district Bitburg-Prüm: 2.1%, data furnished by the State Statistical Office Rhineland-Palatinate. 8Data furnished by the registration offices of the municipalities of Trier-Saarburg, Konz and Trier-Land.

322

E. Boesen et al.

Figure 1   Study locations in the German-Luxembourg border area. (© Boesen, Schnuer, Wille)

The majority of these migrants keep their jobs in Luxembourg after the move. Referred to by some authors as “atypical cross-border commuters” (Wille 2011), they belong to the large group of people (27,000 from Rhineland-Palatinate

Migration and Urbanity in Rural Areas

323

alone9) who travel to work in Luxembourg every day, thus representing a variant of occupational commuting that gives the entire region its economic character. Finally, it should be noted that this case deserves special attention also in view of the importance of historical-cultural factors. On the one hand, there are significant similarities between the autochthonous population of the German villages and the newly arrived Luxembourgers, i.a. linguistic commonalities. On the other hand, as explained above, the group of residential migrants is extremely heterogeneous, so that in some Moselle villages, in which live over 40 different nationalities now, one can no longer speak of general cultural familiarity with the newcomers. The complex composition of the group of residential migrants has the effect that perceptions of difference, proximity, and distance and the categorizations associated with origin and migration have lost their clarity. This also applies, according to our thesis, for the existing conceptions of urban versus rural lifestyle. This article therefore sheds light on the interwovenness of everyday practices of national border drawing or overcoming and basic ­space-bound, namely urban vs. rural attitudes and competencies.

2 Urbanity and Rurality 2.1 Habitual Urbanity Our analysis has as starting point the concept of habitual urbanity developed by Peter Dirksmeier (Dirksmeier 2006, p. 228). By applying Bourdieu’s concept of habitus, Dirksmeier attempts to dissociate the notion of urbanity from the structure of the city and to equate it with specific competencies. According to Dirksmeier, the dispositions and competencies that constitute habitual urbanity make it possible to deal with the three fundamental features of urban life: strangeness, individualization, and contingency. With the feature of strangeness, Dirksmeier addresses the omnipresence of and the relationship between people who are strangers to one another: “In the city, strangeness becomes the expectable normality.” (Ibid., 223). This is associated with an ontic indeterminacy of the individual, which, on the one hand, opens up possibilities or options for action and thus permits change, on the other hand necessitates a “formalized treatment

9The

data refer to the year 2011; (cf. Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle 2013, p. 81).

324

E. Boesen et al.

of mutual strangeness” and a “disprivileging of contact with strangers” (Ibid., 223). The term “individualization,” the second feature of urbanity, refers to the individual gain in freedom, self-centeredness and the dissolution of community values, as they are produced by the living conditions in modern societies— prosperity, mobility, and educational expansion. Especially in cities, individuals are “detached from traditional social relationships and increasingly thrown back on themselves” (Ibid., 223). Dirksmeier understands contingency, the third characteristic of urbanity, as the “possibility to also be different,” which emerges from the interplay of strangeness and individualization: “Urbanity can thus be defined as the contingency of urban society on the basis of individualization and omnipresent contact with strangeness.” (Ibid., 224). Thus, habitual urbanity can be summed up as the totality of those dispositions and competencies that enable to cope with contingency, that is, with the multitude of choices that characterize the city. Dirksmeier also explains the process of forming a specific space-bound— in this case urban—habitus with reference to Bourdieu. Based on the latter’s concept of capital he defines a specific “residential capital”: “a set of qualities which accumulate because of the particular relevance of a place of birth and domicile” (Dirksmeier 2012, p. 80). This is not an independent capital category, but rather a structure of space-bound or space-specific forms of social and cultural capital.10 Space-bound cultural capital is that part of the embodied abilities and dispositions, such as language skills and local knowledge, that arise from the fact of local origin or long-term residence in one place and enable one to intuitively interpret and react appropriately to particular situations. The second component of residential capital is space-bound social relationships. This is social capital in the strict sense of the word, relationships with friends, relatives, neighbors, etc., but Dirksmeier, again with reference to Bourdieu, also characterizes the symbolic capital that is given to a place by its inhabitants as residential capital (Ibid., 80). Urbanity is “the competence that gives accumulated residential capital to an actor in the city”. As was previously mentioned, it is Dirksmeier’s goal to show that urbanity is not tied to the city:

10See

on the relationship between capital spatial and capital résidentiel Lévy (2003); cf. also Cially (2007) and Flamm and Kaufmann (2006).

Migration and Urbanity in Rural Areas

325

“Urbanity becomes habitual, since the mastering of it, i.e., the handling of individualization and strangeness, is transmitted through the habitus and enters permanently into the practices of the actors. In the form of habitual urbanity, this urbanity is theoretically also possible outside of the city.” (Ibid., 228)

The habitus is characterized by inertia (hysteresis), that is, it consists of persistent structures of perception, thought and action that remain intact if one were to move to a rural area. Dirksmeier himself examines this ‘mobile’ urbanity using the example of two rural communities in southern Bavaria—Bodolz and Tegernsee—and notes that the local traditions there are subject to transformation due to immigration from the city, which have the effect that “the basis for residential capital erodes” (Dirksmeier 2012, p. 84). In other words, the influx of city dwellers means that the basis for the appropriation of social and cultural capital has become noticeably less located, traditional networks are disintegrating, and village structures—including architectural structures—are changing. In our case, we are also concerned with rural communities where significant migration is being observed. The parallels in the developments are obvious, for example, when it comes to the concerns of the native residents regarding the rising property prices. However, the differences between the two fields of investigation are equally obvious: the residential migrants who have moved in from Luxembourg must, unlike the Bavarian ones, cross an international border, and their house or apartment in the rural municipalities is not just a weekend and holiday home. Unlike the villages of Tegernsee and Bodolz the villages we studied do not have a long tradition as spa or tourist locations. Residential migration is a relatively recent phenomenon here, the emergence of which is linked to the development of the labor market in the neighboring Grand Duchy. At the same time, however, the region is characterized by specifically complex mobility phenomena, which are not only related to very different categories of immigrants, but also to a noticeably mobile long-established population, especially commuters. The villages along the Moselle river in the German border area to Luxembourg, therefore, show striking differences to the southern Bavarian communities, which make them potential counter-examples to the tableau designed by Dirksmeier. This raises the question of whether the concept of habitual urbanity is also suitable for the analysis of transformation processes in this specific field of investigation. What significance does residential capital have in view of the various (highly) mobile ways of life that can be observed here? And is it possible that habitual urbanity enables one to accumulate residential capital in a rural village?

326

E. Boesen et al.

The results of our empirical work do not completely coincide with Dirksmeier’s findings. While the recent influx of highly urbanized individuals and families has led to urbanization, or, more correctly, has intensified urbanization processes in the villages we studied, it also strengthens and preserves rural structures and practices. However, in our case, this ambiguity raises the question—which has been debated in current social science research for quite some time—as to whether the rural—urban dichotomy is at all suitable for describing present ways of life (and forms of settlement).11

2.2 Networks of Rurality Is ‘rurality’ an outdated concept? Does the term merely designate a residual category, namely all those forms of life, modes of settlement and localities that, despite increasing urbanization, cannot be characterized as urban? For Dirksmeier, the rural is such a residual category. He contrasts urbanity with rurality, but gives a positive definition only to the former.13 In sociological and human-geographical research, there seems to be a broad consensus today that the idea that localities are to be identified as rural due to specific socio-spatial conditions and processes has become obsolete.13 Recent research focuses less on such identifiable facts and more on ideas and concepts (Mormont 1990). One can observe a turn from “rural as space” to “rural as representing space” (Halfacree 1993, p. 34). Particularly interesting in this field of research, however, is the work of Keith Halfacree, who has developed a concept of rurality that seeks to overcome the

11On

the phenomenon of the “blurring of the urban—rural distinction”, (cf. Champion and Hugo 2004, p. 8–11; see also Marchal et al. 2019). 12Cf. Dirksmeier (2008); here he explicitly refers to the idea of the rural idyll, without, however, establishing a link to the concepts of habitus and capital. 13On this, see, for example, Keith Hoggart: “[…] causal forces are not distinctive in rural areas, nor are they uniform in them” (Hoggart 1990, p. 249); cf. also Brown and Cromartie (2004), who underscore the need for a—dynamic—concept of rurality and propose a multidimensional approach that takes into account environmental, socioeconomic and cultural conditions. On the rurality concept in sociology see also Murdoch and Pratt (1993); on the debate in cultural geography see Cloke (1985); Helbrecht (2013) provides a concise historical overview.

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327

dichotomy of material versus ideational conception.14 Halfacree speaks of “rural spaces” or “networks of rurality” in which different representations—academic and other professional discourses as well as lay discourses—and social practices interact in a more or less harmonious way. Inspired by Lefebvre’s concept of space, Halfacree describes these “rural spaces” as three-dimensional. They are composed of (1) the “rural localities” determined by spatial practices, (2) the political and bureaucratic “formal representations” and (3) the more incoherent, individual and social “everyday lives of the rural” (Halfacree 2006, p. 51). As an example of such a complex network, he discusses the “productivist network” that emerged in the post-war decades (in the UK), which is based on the model of productivist agriculture, a production-increasing, growth-oriented agriculture. Productivism was “the glue that consolidated a ‘structured coherence’ […] for rural Britain, holding economy, state and civil society together in a relatively stable fashion at the local level” (Halfacree 2004, p. 295; emphasis added by the author). This network was relatively stable until the agricultural productivity crisis of the late 1970 s, and was superseded by several, partly antithetic networks of rurality: ‘super productivism,’ ‘effaced rurality,’ ‘radical visions’ and ‘rural idyll.’ (Ibid., 297). Halfacree’s general conclusion from the analysis of British conditions is: “Rurality […] may be different in different places and at different times—it is irredeemably contextual […] different ruralities may have little or nothing in common with each other” (Ibid., 303). In view of our research question, the conclusion can be drawn that the dichotomy rural—urban is also not a general constituent of rurality. However, Halfacree’s research interests are above all related to the network “rural idyll” and the question of why the idea of a rural idyll could become what he calls a resource, a moment of agency. He explains the attractiveness of the idea of rural idyll by the fact “that it reflects a concern with the character and direction taken by contemporary society […] the ‘postmodern condition’” (Ibid., 300). The rural idyll is one of the possible answers to this state: “[…] the rural is set up as an alternative universe to that of our capitalist postmodern world” (Ibid., 301). The postmodern condition is, though, genuinely urban in Dirksmeyer’s sense. It is characterized, according to Halfacree, by “volatility and ephemerality of fashions, commodities, the production process, norms, and even values and ideas” (Ibid.,

14Halfacree

was concerned above all with rurality in the British context, including counterurbanization in the 1980′s.

328

E. Boesen et al.

300), that is to say, it consists of an increase of the experience of contingency that already characterized the urban mode of existence. From Halfacree’s analysis, it can be concluded that the rural—urban dichotomy is also suitable today for the description of certain complexes of social ideas and practices, and that consequently the characterization of habitus, of behavioral and value dispositions by the conceptual pair urban/rural makes sense.15 Halfacree’s work is interesting not least because he also deals with the historical-cultural basis of the representations of the rural—including the national specificity of these representations. The general methodological and conceptual shortcoming of restricting research to specific social groups and thereby neglecting ‘rural geographies’, the ideas and practices of the rural population is not met by this emphasis on historical-cultural differentiation.16 This danger of narrowing the approach is counteracted in our study by the fact that the residential migrants themselves have, in part, a distinctly rural background.17 In contrast to Halfacree, we are not primarily interested in counterurban migrants. On the contrary, it seems particularly promising to also investigate the dispositions and practices of those whose decision to relocate was evidently influenced only to a small extent by the idea of rural idyll and, more fundamentally, whose migration did not necessarily involve the idea of transformation and a new beginning, the desire for and/or the fear of change that usually accompany migration decisions. So we are asking about the effect and functionality of urban and rural dispositions of migrants who may not even understand or have understood themselves as such, because they assumed that the move would not change their lives drastically.

15Halfacree

himself makes clear, in accordance with Shields, that social representations of space, in this case representations of rural space, are not primarily created in a conceptual or logical process, but are internalized “through the ‘embodied’ memory of the habit, gesture, and spatial practice” (Shields 1991, p. 264 cited in Halfacree 1993, p. 32). 16Halfacree’s investigations into the “rural idyll” network are, of course, largely concentrated on a specific urban-middle class; see also, for example, Dirksmeier, on the motivations and imaginations of city dwellers who move to the countryside (Dirksmeier 2008); cf. in contrast, the work by Candau and Remy on sociabiliés rurales that focusses on francophone studies (Candau and Rémy 2009). 17A more far-reaching consideration of (sub)groups that tend to be neglected is not intended in our study. For typically neglected rural geographies, cf. Philo (1992).

Migration and Urbanity in Rural Areas

329

3 Residential Migrants in German Border Villages 3.1 Three Ideal-Types of Habitus In the following, we will introduce some of these immigrants and outline how different the new villagers are in terms of their dispositions—their needs and abilities associated with the relocation. Our data comes from narrative interviews with 46 residential migrants of different nationalities that, at time of the interview, had recently moved into the four border villages we studied. In all four villages, there has been rapid population growth over the past fifteen to twenty years, new development areas have increased and a more or less drastic change has occurred in the structure of the village. However, the locations vary greatly in their proximity to the Luxembourg border as well as in their size and infrastructure. First, we present a couple—Michelle and George—who, at the time of the interview in 201318, had been living in Beuren, a very small village seven kilometers from the border, for just over a year. The population of Beuren grew from 170 to 213 in the years following the turn of the century. In 2013, there were 42 officially registered persons of Luxembourgish nationality, including Michelle. In addition, the village is home to a French family and two Portuguese families, a Belgian, an Italian, and finally a Briton, Michelle’s partner George. Michelle and George bought a house in Beuren in a new building complex consisting of a dozen single-family houses. The two, aged fifty and sixty, represent a very unequal pair in terms of the biographical background relevant to the residential migration and the dispositions that result from it. Michelle describes herself as very settled. She comes from a Luxembourgish village, spent most of her adult life in a very small town, where she previously had a wine trade with her first husband. She had hardly had the opportunity to travel, which she did not see as something she had missed out on. George has been a cosmopolitan from the time of his childhood; he lived with his parents in Canada and East Asia and later led a very mobile life as an investment banker. The two thus embody, united in a couple as it were, the two ends of our spectrum of residential migrants: rural Luxembourger and international mobile elite. However, Michelle and George are particularly interesting because they also present concise

18The

following information refers to the year 2013.

330

E. Boesen et al.

representations of what could be described as habitual rurality versus habitual urbanity. In this respect too, they occupy the opposite ends of a spectrum. Michelle’s attitude to the new place of residence and her contacts with the villagers are based on the experience of commonality, which soon developed into a feeling of familiarity. The first time she attended a village festival, after spending just a few hours together with the villagers, she had the feeling that she had always lived there. She points out the fact that she could talk to people in Moselle-Franconian/Luxembourgish and, in her conversations with an older farmer, even rediscovered linguistic expressions from her childhood that had practically disappeared from the language. In her new place of residence, Michelle finds the familiar; in encounters with the native residents she can rely on her existing knowledge, on the residential capital she accumulated in Luxembourg, which consists of linguistic competence, in her regional variant moreover, but also in the basic familiarity with the rural way of life. For George, the situation is quite different. In the new residence, he does not find—and does not seek—familiarity, but rather the surprising. He describes life in the village as a series of encounters with individuals, with “characters” that do not easily fit the common ideas of rural people, such as the farmer who goes to New York to visit the Guggenheim Museum. George describes such encounters as enriching and challenging; in the new place of residence, a hitherto unknown world of impressions and experiences, as well as, a new sphere of knowledge are open to him. As a person receptive to “challenges,” George embodies a specific variant of urbanity or urban habitus, a positive realization of the normality of strangeness; a strangeness whose effect on the rural social structures is not erosive but, on the contrary, positive in the sense that it contributes to the strengthening and partial reformation of these structures. Thus, in Michelle and George we have two examples that show that the influx of residential migrants by no means inevitably leads to the obsolescence of local residential capital: whereas Michelle was, very obviously and from the outset, in possession of the appropriate cultural capital, George, within a very short time, has succeeded in establishing individual relationships that provide him with social residential capital. This is particularly evident from the fact that just a year after the interview he was elected deputy mayor of his village. While the dispositions of Michelle and George are very different, in some ways outright contrary, they equally enable the two to participate in the social life of the village, and thus to preserve and renew the village forms of sociability and reciprocity. Michelle and George reveal two different ideal types of encounters with rurality: Michelle embodies what could be called the “rural familiarity” type, George, on the other hand, “rural sociability.” However, our empirical data

Migration and Urbanity in Rural Areas

331

suggest the establishment of at least one other type. This too will be presented with the help of an example. Anne-Marie has lived for nearly a year and a half with her husband and young daughter in Wincheringen, which is located directly on the Moselle river, on the border to Luxembourg. Much larger than Beuren, Wincheringen is a regional center (Mittelzentrum) and has an elementary school and a daycare center, two bank branches, a doctor’s office, a small supermarket, two bakeries and various other shops. Between 2000 and 2011, the population of Wincheringen increased from 1,149 to 1,565 persons and is now composed by residents from 33 different countries. Citizens of Luxembourgish nationality represent by far the largest group (194 people) among the village’s foreign population.19 Since the year 2000, Wincheringen has created several new development areas, including a so-called “family park” developed by an Icelandic investor— a settlement high above the Moselle and above the village, consisting of more than three hundred relatively expensive plots, occupied mostly by rather luxurious one-family houses. In one of these houses, with a direct view of the Moselle river, lives Anne-Marie. She and her husband did not move there from Luxembourg, but from a large German city where they lived and worked for several years; however, the relocation was connected to a job change to Luxembourg. Anne-Marie, like George, is in financial management, but is still relatively at the beginning of her professional career. She describes the move to the countryside as the result of deliberate consideration of how to meet professional as well as other needs and the choice made as an ideal combination of city and countryside, of urban opportunities and proximity to nature. For Anne-Marie, urbanity means, above all, internationality, the possibility of meeting new and different people, a feature that she appreciates not only at her place of work, the city of Luxembourg, but also at the new place of residence, the new housing development in the village of Wincheringen, where people from all over the world live and gradually become acquainted. Anne-Marie describes herself as a “networker” and her contact with her new neighbors, most of them young parents who also work in Luxembourg, as easy. Their experiences, life plans and orientations—reconciliation of work and motherhood, etc.—are very similar to her own. The new place of residence offers them all together a quiet, safe environment for their children who are mostly still young, as well as a daycare with comprehensive and, moreover, multilingual care.

19In

2019, the village has grown to 2,300 inhabitants stemming from 50 nations.

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This brief description may be enough to justify the construction of the third ideal type, which, based on Halfacree, we would like to call “new rural idyll.” In describing her space-bound needs and opportunities, Anne-Marie makes little reference to her residential capital—although, as not further explained here, she has a great deal of it since she has close family ties to Wincheringen. Instead, she emphatically identifies herself with the characteristics of urban life described above; she stresses her individual life planning, which deviates from the norm in the village, calling herself a networker, that is, a person who knows how to handle strangeness by establishing particular, functional relationships. Overall, ­Anne-Marie stresses not so much the local relationships and cultural knowledge that she has had since childhood, but rather the specific skills and needs that bind her to the neighbors in the new development area. In stark contrast to Michelle and George, Anne-Marie and her husband rarely participate in village activities.

3.2 Habitus and Residential Capital Based on our empirical data, we have constructed three ideal types of habitus, which we have called “rural familiarity,” “rural sociability” and “new rural idyll.” We do not start from the simple dichotomy of rural—urban, but rather assume that the urban disposition appears in two variants, the “rural sociability” and the “new rural idyll.” The two variants produce distinctly different social and cultural practices and forms of integration in the rural context and thus have different, even opposite, effects on the rural social structures by weakening them in one case and contributing to their preservation and renewal in the other case. The three ideal types form the theoretical cornerstones of a continuum of possible attitudes and behaviors that can be depicted as a triangle (see Figure 2). In the field thus formed, the 46 residential migrants we interviewed can be placed with regard to their individual dispositions and practices, so that tendencies or relative strengths can be identified. The categories “rural familiarity,” “rural sociability” and “new rural idyll” thus form an analytic-heuristic framework that allows real persons to be compared with regard to their attitudes toward the new place of residence and their residential needs and behaviors. The purpose of the graphical representation is to illustrate that the very heterogeneous group of immigrants, who are individually represented by a letter, forms three more or less distinct clusters with regard to urban and rural dispositions. This aggregation is accompanied by differences in the potential impact on the development of the local structure.

Migration and Urbanity in Rural Areas

333

Figure 2   Habitus Field (©Boesen, Schnuer, Wille)

3.2.1 Rural Familiarity In his definition of the concept of habitual urbanity, Dirksmeier does not address the possible counterpart, habitual rurality, and thus uses a concept of rurality that is defined purely negatively, namely by the absence of certain dispositions and abilities to act which are needed to cope with everyday life in urban space. This type of characterizing the rural through a contrasting reference to the features of the city also appears in the interviews, but here it often has the function of distancing the rural space or inhabitant from these features. Such a distancing occurs particularly frequently in the self-description of people who lived in small-town settings before the move and who can still refer to direct family or biographical ties to the rural world. They emphasize the negative aspects of the urban world: traffic, hectic pace, crime, the growing number of unknown and foreign neighbors and the general detachment and anonymity (D, E, F, G, U, V,

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E. Boesen et al.

c, d). In these cases, one can speak of being overwhelmed by the urban living conditions or, to refer to Dirksmeier’s terminology, of a lack of contingency management. In addition to this negative definition of rurality as an absence of urbanity, one can also identify a form that is characterized by specific rural dispositions, abilities, and perceptions—as illustrated by the example of Michelle. In the reports on their arrival and how they settled in, the newcomers who come close to this habitus type emphasize the importance of cultural commonality. This foundation appears in descriptions of the—often unexpectedly—known and familiar, including the experience of like-mindedness with the local population, that is, the congruence of orientations and values (B, C, D, F, H). In these cases, the feeling of belonging does not first arise as a result of integration efforts, such as joining a club. Instead, the concerned persons experience a sense of belonging in their very first local encounters. They have a feeling of being “on the same wavelength” with the long-established residents. A significant factor here is linguistic commonality, namely the proximity of Luxembourgish to the ­Moselle-Franconian dialect spoken on the German side of the border (A, B, C, D, E, F, G, H, I, e, f). However, not all new residents with Luxembourgish citizenship accept this language commonality and use it as residential cultural capital. Some prefer to speak High German to their new neighbors: they avoid the use of Luxembourgish—which they consider to be a standard language—and thus counteract the impression of its commonality with the rural dialect that could result from their effortless communication with one another (Y, c, d, p). An important element of rurality is the fact of complete mutual familiarity, of being known by everyone and knowing everyone—the opposite of urban anonymity. Again, this feature is not just about establishing the negative characteristic of non-urbanity—i.e. deficient coping with strangeness—but also about establishing the specific dispositions and abilities that are required in order to cope with this pervasive familiarity. The interviews show that one’s own immediate living space, i.e. house and yard, plays an important role in this context. Those interviewees who accept and strive for being ubiquitously known do not describe their own home as a private retreat, but rather as a medium through which they belong to the village, as a place where social relationships are established, cultivated and symbolized (A, B, C). The renovation and maintenance of an old farmhouse, for example, are regarded by its new inhabitants as a fulfillment of a personal lifelong dream, but also as a contribution to the collective formation of the village—an effort that is thus understood and honored by the local community (B, C).

Migration and Urbanity in Rural Areas

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In addition, the neighbors and new acquaintances have directly participated in the creation of the home through active assistance, loaning of equipment and machines, etc. Working on the house and yard offers the opportunity to practice mutual help, which still characterizes rural social structures. When building or renovating a home, the newcomers can demonstrate their ability to engage in this type of exchange and present themselves as potential exchange partners (B, C, H, I, d). The naturalness with which one asks others for help and accepts help, that is, the willingness and ability to enter into relationships of generalized reciprocity, is, in general, an element of the rural habitus. An intensification of this feature resides in the willingness to engage in physical work in specific areas. This disposition opens the door to the rural “labor economy.” Anyone who does their own gardening work, rather than assigning that task to a company, has the opportunity to ask for help from other villagers, thereby expressing appreciation for this type of work.20 Another facet of the rural habitus is revealed by the interviewees who stress the fact that they go out and socialize in their new place of residence without any real reason and without purpose, but simply to be “among the people”—to the sports field, to the pub, to neighbors when the opportunity arises (A, F, H). They are familiar with the village customs, which is why they more or less effortlessly succeed in finding access to the village public space and gaining further specific local knowledge. The structure of rural public space, which is characterized by the fact that the borders to private space are blurred, favors this behavior—but must also be understood and accepted. All in all, it is clear from the interviews mentioned that a rural habitus enables the acquisition and accumulation of specifically rural cultural and social capital. Furthermore, the interviews show that language commonality, mutual help and local knowledge can be characterized as rural forms of residential capital also insofar as they not only establish individual relationships, but promote access to a collective, that is, membership to the village community.

3.2.2 Rural Sociability George was introduced to illustrate a type that is characterized by habitual urbanity, but that, precisely because of its urban dispositions and competencies

20It

is, to some extent, a separate exchange system in which only certain gifts or services circulate and in which only those who appreciate these gifts and dispose of them themselves can participate (see Rössler 2005, p. 189 ff.).

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to act, is capable of integrating into rural life, acquires residential capital, and helps to maintain or revitalize the rural structures. In our sample, we found quite a few other residential migrants who come close to this ideal type. They participate in village life (K, M, O, P, Q) and are actively involved in clubs and in their immediate neighborhood. Even though they did not know the customs of the village in advance, they were able to adapt to them without much difficulty and learn how to participate: what is required to run the wine stall at a village festival or how to properly attend family celebrations. In the interviews with these newcomers, there are concrete descriptions of this learning process and descriptions of the consciously and purposefully pursued integration through participation in certain village activities. Compared to individuals who are more likely to be characterized by habitual rurality and who describe their inclusion in the village community as an effortless process, those closer to the apex of “rural sociability” are more inclined to describe participating in village life as a challenge that they have to make an effort to meet. Though they treat integration as a matter of course, it is not in the sense of a natural and intuitive convergence, but as a necessity, that is, something that has to be accomplished. The old-established villagers can expect active efforts to integrate, but integration is also something you owe yourself and, more importantly, your children. The description of the village neighborhood and club life as a new and positive experience can be interpreted in these cases as an expression of urbanity, of openness to strangeness and, in this sense, also a form of coping with contingency that is possible and opportune in a rural context. These immigrants understand how to experience participation in a village festival as an expression of individuality, as a situation in which everyone can bring their personal abilities to the table and thus contribute to change (J, K, W). A marked difference to those who are rather shaped by a rural habitus can be seen in the different social framing they give to their own achievements. They report on club activities, contributions to daycare or school festivals and the like. Their own house, though, does not appear in these interviews as a place to experience and promote belonging to the village, for example through the social contacts that are possible in the upkeep and care of the house, or the symbolic-aesthetic value of the house as a contribution to the appearance of the village. As already illustrated by the example of George, perceiving rural structures and lifestyles as a source of enrichment opens up the possibility for urban residential migrants to also acquire residential social capital. In contrast to the newcomers who belong to the type “rural familiarity” they do not currently have any space-bound capital available to them and are therefore forced to create

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social contacts and networks in other ways, through membership in local clubs and an active commitment to village affairs and projects. One area in which this type of integration and accumulation of social capital is particularly visible is that of childcare. This may be due to the fact that some of the interviewees, who are close to the type “rural sociability” came to the village as a married couple with small children at a time—about 20 years ago—when there were no full-time daycare facilities in the villages. Unlike the long-established inhabitants, they could not rely on help from other family members, especially grandparents. The creation of organized childcare in the village was therefore a matter of urgent interest for them. However, activities of this kind are not only supported because of their immediate benefits, but also expressly described as a way of accessing social contacts and local and regional knowledge. Of course, this applies especially to the village festivals. For many, the regular and more or less active participation in parish fairs, “Wine Cellar Open Days” or carnival festivities is common practice, so that the local festival calendar is a factor that significantly determines the yearly individual and family planning.

3.2.3 New Rural Idyll It has already become clear from the example of Anne-Marie that the realization of urbanity termed ‘rural sociability’ is by no means practiced by all urban residential migrants. A significant portion of them are more likely to be placed near the third apex, the “new rural idyll” type, and can be identified with social processes that more or less correspond to what Dirksmeier observed and described as urbanization due to the influx of habitual urban people. We call this ideal type “new rural idyll” because, in contrast to the rural idyll defined by Halfacree it is not determined by a clear rejection of urban life, but rather, as Anne-Marie’s case made very clear, aims to connect urban and rural life, elements of urban flight, the actual, rural idyll, with a highly mobile urban lifestyle. Most people who come close to this ideal type have small children, and their move to the countryside was motivated by the desire to protect their children from the dangers of the city, to allow them to grow up in a peaceful and healthy environment, and to give them the opportunity to develop a relationship with nature (X, i, l, m, n, r). In the interviews, the consequences of the relocation for the planning of everyday family life are explicitly and extensively reported upon (W, X, g, h, j, k, l, m, n, r). However, an important part of this planning is done to preserve access to the urban opportunities and possibilities, even if these are no longer enjoyed to the same extent as before (W, X, i, j). The interviewees therefore speak a great deal about transport accessibility and the management of

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day-to-day mobility aimed at minimizing the additional time needed to travel to the city of Luxembourg. The newcomers who can be placed near the ideal type “new rural idyll” describe their move as a successful unification of the city’s amenities—rich cultural offerings, variety, internationality—with those of the countryside— vast space, tranquility and picturesque landscape. It is therefore understandable that these people do not locate themselves in the village, but, on the one hand, in the wider supralocal space created by their cross-border mobility and, on the other hand, in the narrow sphere of the new development area they live in, where they meet other representatives of the “new rural idyll” who, like them, are mobile or are trying to be. Social contacts focus on the immediate neighborhood; communality is based on a common cultural openness and cosmopolitan attitude (g, i, j, k, l, r, n). The rural urbanity in these newly formed local entities is described emphatically by the inhabitants of the above-mentioned new development area in Wincheringen as a particular quality and an element of distinction (g, i, j, k, l, m, n). The “Family Park,” privileged already by its magnificent view on the Moselle valley, offers its inhabitants a remarkable infrastructure, in particular a daycare center with first-class service, which—in order to make the new rural idyll complete—was relocated from the old section of the village to the center of the new development area.21 For the representatives of the “new rural idyll”, too, urbanity means having the capacity to deal with contingencies, the village, however, does not present them with a challenge. The particularities of rural life are not a challenge or potential enrichment for them, except in as much as special efforts for daily planning are required. Therefore, they do not seek to actively participate in local club life. The efforts to integrate into the village community, if they exist at all, are limited to the occasional attendance of village festivals (Y, i, j, k). References to residential capital appear significantly less frequently in these interviews, so that it can be assumed that localized cultural and social capital of the rural variant, such as mutual help and specific local knowledge, are not of high importance and their acquisition is not considered necessary or useful. The new place of residence is rather described as a place free of the accumulation pressures felt in the city in terms of the symbolic value of consumer goods. In

21There

were also plans for additional facilities that could be described as more urban—a gym, a restaurant—but the Icelandic investor was forced to forego their realization due to the banking crisis.

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this affirmation one can see a reflection of the idea of rural idyll, as studied by Halfacree, although in many cases, given the size and furnishings of the houses and the vehicles parked in front of them, it could almost be regarded as ironic.

4 Conclusion Our analysis shows that the attitudes and behaviors of residential migrants in rural places are not adequately characterized by a simple urban—rural distinction (with regard to hybrid borderlands see Roßmeier 2020 in this volume). This dichotomous conception does not allow to capture the actual socio-spatial processes and attitudes that shape the borderland villages in question. The individual habitus are not situated on an axis, but rather, as the graph illustrates, in a three-pole field that encompasses a continuum of the possible connections of rural dispositions and practices with urban ones. It also became clear that such a non-dichotomous understanding of urbanity and rurality and a corresponding analysis of rural development processes presuppose that rurality is positively defined, not merely as a lack of urbanity. Finally, we return to Halfacree’s concept of “networks of rurality”, which combines structures, everyday experiences and practices, and public discourses—or more generally, with which the author seeks to overcome the juxtaposition of material and ideational conceptions of rurality. The habitus variants presented in the ideal types can be understood as elements—and, at the same time, results—of such different networks of rurality, that is to say as connected both with spatial practices and structures as well as with representations. In the explanation of the type “new rural idyll” this network-like integration was already discernable. Here it could be seen that certain dispositions to act interact with structural developments. In addition, the “new-rural-idyll” complex is a central component of public discourse, and as such it has been adopted and maintained by administrations and investors. In their political programs and marketing strategies they emphasize what has become a reality in the border village: a successful combination of the advantages of rural life—tranquility, scenic beauty, traditional viticulture, etc.—with modern infrastructure, mobility, internationality and even centrality, making the village a “place in the heart of Europe.” The same applies to the other two complexes, “rural familiarity” and “rural sociability,” which, in the same way, are dependent on distinct, relatively permanent practices or structures and representations. The concrete behavior that an urban habitus enables is thus, among other things, dependent on the given spatial structures and representations.

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While “rural familiarity,” “rural sociability” and “new rural idyll” coexist as three alternative variants of ‘rural space’ or “networks of rurality” they also reveal historical variation in as much as the “new rural idyll” is related to recent ­ socio-structural and cultural developments and epitomized by young cosmopolitan families. Our example illustrates the complexity and sometimes contradictory nature of rural boundary drawing and ordering processes related to migration and shows that diachronic approaches are needed to understand these processes, namely both historical-structural studies, such as those proposed by Halfacree, and biographical analyses dealing with the transformation of individual dispositions and competences.

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Dr. Elisabeth Boesen is a senior researcher at the University of Luxembourg Institute for History. Prior to this, she worked at the Centre for Modern Oriental Studies (Berlin), at Bayreuth University, the Ludwig Maximillian University of Munich and the Free University of Berlin. She holds a PhD in cultural anthropology from Bayreuth University, her thesis being on processes of identity formation and inter-ethnic relations in Northern Benin. Later, she expanded her interest to issues of spatial mobility and rural change in the West African Sahel, especially Niger. She is currently engaged in research on border issues in the Greater Region SaarLorLux. In this domain, she directed a research project on cross-border residential mobility that was dedicated to the analysis of individual and familial migration narratives (‘Cross border residence. Identity experience and integration processes in the Greater Region’). A further field of interest is migration to Luxembourg from Lusophone countries. Dr. Gregor Schnuer  is currently Research and Learning Advisor for the Save the Children International’s East and Southern Africa Regional Office, focusing on child protection in the context of migration and displacement, including gender and child migrant as well as child migration and climate change. This position involves the management of research and advising program development and strategy on regional project aiming to ensure migrant children are treated as children first and foremost. Previously, he has worked at the University of Luxembourg as Postdoctoral Researcher on a project looking at residential migration in the German-Luxembourg borderland. The heterogeneous nature of this phenomenon allowed the research to explore the nuance of concepts like mobility, rurality, urbanity and familiarity. Gregor holds a PhD in Sociology from the University of Edinburgh and the thesis focused on a theoretical engagement with justice and fairness, viewing ethical and justice through a sociological lens to develop a normative argument in favor of redress. Dr. Christian Wille (https://www.wille.lu) is a senior researcher at the University of Luxembourg and head of the cross-border network UniGR-Center for Border Studies. He teaches cultural border studies and works on border complexities. He is a founding member of the research groups “Cultural Border Studies” and “Bordertextures” and co-editor of the book series “Border Studies: Cultures, Spaces, Orders”. Wille edited the books „Border Experiences in Europe“ (2020, Nomos), „Spaces and Identities in Border Regions“ (2016, transcript) and „Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen“ (2015, transcript). He holds a PhD from the German Saarland University and the University of Luxembourg, he coordinated the faculty key area “Migration and Intercultural Studies” in Luxembourg and worked for the Interregional Labor Market Observatory of the Greater Region.

The city’s internal boundaries in the light of socio-territorial realities Jean-Marc Stébé and Hervé Marchal

Abstract

This paper underlines the fact that the construction of political and administrative boundaries does not necessarily reflect the socio-economic realities and mental representations of urban dwellers living in different urban territories. Hence the importance of making a clear distinction, following Robert Escallier, between “imposed boundaries”, which are the result of public policies, “spontaneous boundaries” deriving from segregation processes and “imaginary boundaries” based on social representations and mental images. Once made, these distinctions reveal the complexity of boundaries within evermore fragmented metropolises and make it possible to detect the formation of real urban fragments, synonymous with strong social and territorial separatist dynamics. Yet, parallel to these developments, new centralities are emerging in urban peripheries, which calls into question the center-periphery model which has often been used by the media and by many political actors to describe the evolutions of contemporary cities. Further analysis can then shed light on the way in which, within peri-urban rings, ­socio-territorial fragmentation is developing, leading to the creation of boundaries between the historic and affluent peri-urban area located close to the city and the more distant periurban space, mostly inhabited by lower-income populations. J.-M. Stébé (*)  Département de sociologie, Université de Lorraine, Nancy, Frankreich E-Mail: [email protected] H. Marchal  Département de sociologie, Université de Bourgogne, Dijon, Frankreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_16

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1 Introduction The city is by definition an open and integrative space, a place of exchange and sociability. It allows the expression of diversity, whether of cultures, life paths, statuses, identities or ways of appropriating space. This, however, constitutes both a strength and a weakness. The urban dynamic imposes adjustments – which are never completely stabilized — between the diversity of the city’s constituent parts and the need to ensure social and territorial unity, between collective identities and individual logics, between openness to the world and control of mobility. Here lies a contradiction that is inherent to the city since its dynamic evolution can never accomplish itself without boundaries emerging at the same time (see Lazzarini 2015; Scott and Sohn 2018). From this perspective, it is obvious that the notion of a harmonious, united and global city does not stand up to reality, since today’s urban areas are made up of various, more or less well-defined, contrasted and separated functional, residential, economic and social units. The example of the neighborhood — which refers to a segment of urban space which is limited by more or less stabilized boundaries while often making sense to the inhabitants — immediately springs to mind. By extension, one should also mention the boundaries which have been established between different administrative and political units (city, urban pole, urban area, metropolis…) for purposes of governance and territorial organization. According to Robert Escallier (2006), modern cities evince three types of internal boundaries. First, the author points to “imposed boundaries”, that is boundaries which result from housing policies, urban planning and development and political strategies. Such administrative and political-institutional boundaries are materialized within the city through architecture, urban design, street furniture and atmosphere. He then identifies “spontaneous boundaries” deriving from economic and social segregation processes and the desire to build up self-enclosed communities. These boundaries translate ever-increasing socio-economic inequalities which go hand in hand with logics of dissociation, processes of dislocation and dynamics of polarization in the different parts of the city. This accentuates ethnical and cultural affinity groupings, and heightens tensions between those who feel included and excluded, connected or disconnected from such networks. Finally, R. Escallier defines “imaginary boundaries” based on social representations, beliefs and mental images. These immaterial boundaries are mainly shaped out of feelings and perceptions as well as living experience. They can in fact prove more watertight than material boundaries, as they “draw up in people’s minds a specific structuration of the

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urbanized space, refer to a way of apprehending the built environment that anticipates actual behavior and relationships to space” (Escallier 2006, p. 89). This contribution first underlines the complexity of boundaries in contemporary metropolises, whether imposed, voluntary or imaginary. Then, we wish to show that new centralities are emerging even within urban peripheries. Finally, we argue that it is necessary to identity a new boundary between the rather affluent historic peri-urban ring and rural territories in order to grasp the emergence of a new living territory with specific social and economic characteristics.

2 The city today: a setting for imposed, voluntary and mental boundaries Under the influence of the globalized economy, today’s city cannot be identified anymore with the historic city and its clearly defined borders: it is turning into a shapeless, diffuse and “fractal” city (Weber and Kühne 2015) which is extending infinitely and where virtual as well as material flows routinely cross national borders. The emergence of such a “globalized” city can be observed everywhere around the world, and is part of a real “transnational movement”, i.e. a process of deterritorialization involving multinational companies, financial markets as well as “cosmopolitized” individuals (Beck 2006), ethnic groups, religious movements and political formations. Following this, it is tempting to consider urbanized individuals as nomads who travel between sky and sea, from one country to another, unselfconsciously breaking free from territorial borders. In the same way, it is easy to play down the importance of boundaries and maintain that from now on we will be living in an open world, without barriers, as if the dividing lines between nations, continents and other transnational spaces (like the European Union) could be, if not completely abolished, at least easily crossed. Yet the problem is that the vast majority of city-dwellers are restricted in their movements for economic or political reasons, not to mention the fact that a significant number live within actual borders. One need only think of those who have been relegated to underprivileged neighborhoods in European cities, like the poverty-ridden social housing estates located in the suburbs of French metropolises. How can one also not think of all the destitute people who have to face every day the harsh reality of living in the shantytowns which have been springing up for a few years in European urban areas? Finally, one could also think of the American black people who have been confined to urban ghettoes or

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of all the middle-class populations that do not have the economic means to free themselves from territorial constraints that can take the form of modest detached houses in out-of-town housing developments or of condominiums that are deteriorating for lack of maintenance. These fringes of the urban population can be related, in various ways, to the figure of the insular city-dweller (Le Breton 2016), whose defining feature is that he is unable to have an overall view of urban territories but only perceives and experiences them as spaces of unfreedom, of relegation, prohibition, inaccessibility or even stigmatization. Contrary to what the notion of “fluidity” dear to sociologist Zygmunt Bauman (2013) would suggest, the processes of globalization, though a factor of mobility, are not fluid et all, and certainly not everywhere or for everybody. As Vincent Kaufmann and Emmanuel Ravalet (2019) have shown, individuals are far from benefiting from similar mobility possibilities: access to public transport is widely unequal within the same territory, which de facto strengthens the boundaries that exist within the city. More generally, more or less watertight demarcation lines — or even high-security walls — have been springing up all around the world, which would seem to challenge the social cohesion and sustainable development of urban areas, the balance between rich and poor countries, and the dialogue between all human beings. As geographer Lussault (2009a) rightly underlines, far from being open and border-free, today’s urban world is both characterized by the injunction to mobility and by a worldwide diffusion of the principle of separation. In this respect, the segregation processes that are typical of the industrial city and that have been developing along the lines of profession, economic activities or income and status, have tended, in the post-industrial city, to evolve into processes of socio-territorial fragmentation, increasing the number of urban fragments to the point of posing a deep threat to the spatial and social cohesion of metropolises. There has been a move from a situation in which separatist tendencies did not fundamentally challenge the city as a system able to contain and include all of its constituent parts to one in which it has become increasingly harder, within urban spaces, to enable city-dwellers to build common norms and values and to maintain the social links necessary for living together. That being said, we can distinguish eight types of spaces into which contemporary cities are now becoming fragmented: 1/the most affluent areas, characterized by buildings with a strong historic and heritage value and inhabited by the circulating elites and the high bourgeoisie; 2/gentrified neighborhoods in the city centers, which are occupied by “hipsters”; 3/high-security gated communities; 4/edge cities, i.e. autonomous urban “centers” located on the outskirts of cities and concentrating corporate offices in the same way as city

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centers; 5/ethnic enclaves bringing together communities from various diasporas; 6/ “ghettos” characterized by deep poverty, strong and long-standing racial discrimination and the lack of public policies; 7/poverty-ridden urban territories (shantytowns, social housing estates, townships…); 8/suburban housing developments mostly inhabited by middle-class and low-income social categories. The interest of such a typology is that first, it accounts for the different types of spaces into which the city is breaking up today and, secondly, it makes it possible to compare two different cities at a given time. Yet, while it does cover a wide range of realities, it lacks precision: it cannot highlight all the complexity of the political, urbanistic, economic and socio-cultural situations and contexts. A typology is by definition too abstract to be able to capture social reality in any detail. We should then add that the city cannot be likened to a succession of spaces, arranged side by side and impervious to difference, so that the metaphor of the mosaic developed by some Chicago school sociologists seems too radical to account for today’s urban world (Marchal and Stébé 2008). For all this, we do need to underline that the emergence of real urban fragments goes hand in hand with the construction of boundaries, resulting at the same time from public policies, administrative decisions and processes of personal or collective withdrawal.

3 Remapping the contemporary city Parallel to this process of fragmentation resulting in the formation of distinct and divergent spaces, it must be observed that, on the other hand, the city has “exploded” and spread out under the pressure of economic globalization and the personal choices made by urban-dwellers to live in single-family houses. The contemporary city is sprawling more and more and scattering into fragments, pieces of the city that take the form of housing subdivisions, shopping centers or industrial areas (see also Kühne et al. 2020 and Roßmeier 2020 in this volume). This process of urban sprawl, and more precisely of urban scattering, de facto invalidates any analysis based on the center/periphery binary opposition dear to Henri Lefebvre (1968). Indeed, the Marxist sociologist-philosopher’s hypothesis, according to which there would remain in the city a strong centrality as represented by the traditional downtown area, has not materialized, even though the inequalities between the center and the periphery have not completely disappeared (Pinçon and Pinçon-Charlot 2007; Lapeyronnie 2008), and even though, on a strictly economic level, individuals continue to a certain extent to shuttle between center and periphery to perform their daily activities

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(Berger 2004). That being said, one cannot ignore that, as the city has been spreading out, a multiplicity of urban poles have appeared: these new centralities are located on the spatial periphery but are socially integrated into the daily lives of many urban-dwellers. This multiplication of new centralities is both the cause and the consequence of the process of urban sprawl: it should be understood in relation to the advance of the urban front, which is being pushed further and further away from the limits of the ‘typical’ city with its historic centre and its numerous services and amenities, giving shape to a vast and diversified periurban space. From this perspective, peri-urban spaces cannot be considered today only as peripheral spaces: they are also, and above all, urban territories in their own right, therefore redefining, re-questioning and recomposing the layout of the city, starting with the city center. It is indeed the emergence of attractive peripheral centralities, endowed with meaning and competing with the city centers, that has been responsible for so profoundly remapping the urban space and restructuring urban life for thirty years or so. This may lead to the conclusion that in today’s cities, the people who live in peri-urban housing subdivisions, for example, do not organize their daily lives in relation to the centrality as a place with multiple properties and as a space accessible to as many people as possible as defined by Lefebvre (1968), that associated with the historic city, but rather in relation to the centralities that are springing up everywhere in the scattered city.

4 The fragmentation and complexity of peri-urban space The research which has been carried out for forty years or so in geography, sociology, political science, urban planning or history, has helped qualify the exaggerated, stigmatizing and outrageous views which have been popular about peri-urban spaces. The studies have especially shown that they are open spaces with permanent and close links to city centers as much as to rural areas, so that it seems to be far too simplistic and reductive to oppose the metropolis and the periphery (Charmes 2011, 2019; Marchal et al. 2019). Even more than that, the studies emphasize the fact that these are plural and diversified spaces from a social as well as a spatial point of view. Thus, one can distinguish different types of peri-urban areas: industrial peri-urban areas, almost exclusively devoted to industry or crafts; mixed peri-urban areas, occupied by industries, housing, major

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facilities (hospitals, universities, …) and/or commercial and hotel structures (shopping centers (see Fig. 1), exhibition centers, hotel chains, …); and finally, residential peri-urban areas made up of residential subdivisions and of old houses located in the hearts of villages and small towns (Fig. 2). But one could also point to more specifically defined close or remote peri-urban rings, affluent or popular communes, exclusive and gentrified niche areas. Therefore it is clear that there does not exist a single peri-urban territory, but rather several different types of peri-urban territories. Proof of this can be found in the fact that, if we look more closely at residential peri-urban spaces, for instance, we can detect specificities such as different housing types (apartment buildings, detached houses or old houses), different professions and social categories (wealthy, middle-class or working class populations), different types of surrounding environment (proximity to a park or to a forest, presence of a beltway, a railroad, an airport, …), or different modes of communication with the urban areas, as well as several elements favoring independence from the city centers (important communication networks, administrative and socio-cultural facilities, employment structures, shops, …).

Fig. 1   The outskirts of shopping centres with their vast car parks. (Source: pixybay.com)

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Fig. 2   Peri-urban housing estates. (Source: Photo Romain Rousseaux-Perin 2018)

Therefore, apprehending peri-urban space as a specific reality, as a homogeneous and independent entity, appears to be devoid of any heuristic relevance. We might rather identify different possible levels of analysis. First, the morphological (physical form) and spatial (urban planning, development, and architecture) level invites us to reflect on the urban planning models that have governed the extension of peri-urban space, thus redefining the relations between city centers and peripheries (Lussault 2009b). Secondly, the socio-demographic level focuses on the changes in the population, according to socio-professional category, family situation, age or residential seniority. Thirdly, the political level investigates the role of elected officials, local authorities and the State (taxation, home ownership policies…). Finally, the sociological and psycho-affective level seeks to understand the processes of appropriation, the lived experience of the inhabitants depending on the areas they live in and the housing types, the creation of self-enclosed communities or the logics of social distinction (Marchal and Stébé 2018).

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5 A new invisible territory within a fragmented peri-urban space In view of the city’s internal changes, especially the extension of its peri-urban rings, should we not, in France especially, question the identification of a very large peri-urban territory that is homogeneous and too imprecise from a social, cultural and economic point of view proposed by the French National Institute of Statistics and Economic Studies (INSEE), since it seems, on closer inspection, to overlook a more accurate territorial reality that has been emerging on the outskirts of peri-urban spaces? The research conducted in several French cities over the past ten years (Marchal and Stébé 2017) has led us to identify a new type of territory, situated in between the now densified traditional peri-urban space and the diffuse rural areas: we might call it a “pre-urban space”. It is both characterized by the presence of urban features in a mainly rural environment — “a city in the meadow” — and rural resistance to encroaching urbanization, hence the use of the term “pre-urban” (Fig. 3). This new definition highlights, in a broad sense, social realities that cannot be confused with those characterizing the dense periurban rings, which are strongly caught up in urban dynamics, lest the very concept of peri-urban become a king of floating, catch-all notion, covering very different socio-democraphic, cultural, landscape, economic and morphological realities. Would it be exaggerated to state that this new territory reflects a spatial as well as social remapping of the distant outskirts of cities? It results from the social and demographic reconfiguration of distant peri-urban rings. It is peopled by an urban population who does not have enough economic capital to own a house in the inner rings that are closer to the city proper. Though formally devoid of a name, this territory does emerge as a reality in the process of urban sprawl and in the daily lives of those who live there. Yet the INSEE gathers under the same generic name — “peri-urban” — all peri-urban rings, whether close or distant from the city, and whatever their distinct features. The field data we have collected, therefore, invite us to have a more critical view of the categories defined by the INSEE which do not identify any space between peri-urban and rural space. In the wake of the studies produced over the past decades by geographers, who have explored the evolutions of peri-urban areas from the point of view of land use and socio-political mutations (Jaillet 1982) or of urban sprawl (Raux 1981) and have distinguished between different levels of analysis, the present contribution echoes, to a certain extent, the work of Anglo-Saxon scholars on urban sprawl (Jackson 1985; Fishman 1987) and exurbia (Garreau 1991; Lang 2003). They

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Fig. 3   The remote peri-urban area called the “pre-urban”. (Source: Photo Jean-Marc Stébé 2019)

have shown that, given increasing peri-urban growth in the United States in particular, there has been an evolution from suburbia, or the traditional inner-ring suburbs typical of the industrial period, to exurbia, outer-ring suburbs, referring to semi-urban outgrowths located beyond the actual suburbs.

6 Conclusion Through this analysis, this contribution aims to underline that the construction of political and administrative boundaries is far from providing an adequate reflection of the socio-economic realities and mental representations of ­urban-dwellers living in different types of urban territories (see also in general Weber et al. 2020 in this volume). That is why it is judicious to question the ­center-periphery model which has very often been used by the media and by political actors to describe the evolution of contemporary cities. The actual

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distribution of the population does not et all conform to such a simple binary opposition, with affluent classes residing in urban centralities, on the one hand, and, on the other hand, lower-income populations confined to the urban peripheries. We need to picture a wider spectrum of multiple, more or less fragmented spaces, if we are to understand the complex spatial reconfigurations of fractal cities. In this line, further analysis can shed light on the way in which within peri-urban rings, ­ socio-territorial fragmentation is developing, leading to the creation of boundaries between the historic and affluent peri-urban area located close to the city and the more distant peri-urban space, mostly inhabited by lower-income populations. Our aim has thus been to go beyond political and media descriptions that portray a single and homogeneous peri-urban territory. Beyond the specific example of peri-urban space, this also means that we need to continually question the categories we use to grasp the reality of cities so that they make sense for those who live in today’s increasingly scattered and fragmented metropolises.

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Jean-Marc Stébé is Professor of sociology in the sociology department at the University of Lorraine. He teaches urban sociology and general sociology to undergraduate and graduate students. He is a member of the research unit 2L2S (Laboratoire lorrain de sciences sociales). His research focuses on socio-territorial fragmentations, peri-urbanization, globalization in the cities, and urban utopias. He has authored and ­ ­co-authored more than twenty books, in particular: Introduction à la sociologie urbaine (Paris, Armand Colin, 2019); Le logement social en France (Paris, PUF, 2019 – 8th ed.);

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Idées reçues sur le logement social (Paris, Le Cavalier Bleu, 2016); Les grandes questions sur la ville et l’urbain (Paris, PUF, 2014); Qu’est-ce qu’une utopie? (Paris, Vrin, 2011); La crise des banlieues (Paris, PUF, 2010 – 4th ed.); La ville au risque du ghetto (Paris, Lavoisier, 2010). Hervé Marchal  is Professor of sociology in the sociology department at the University of Bourgogne-Franche-Comté. He is a member of the Centre Georges Chevrier (UMR 7366 - CNRS). His research focuses on the identity of the city-dweller, mobility, urban sprawl and suburbia. He has authored and co-authored more than twenty books, in particular: La France pavillonnaire (Paris, Bréal, 2020); Territoires au singulier, identités au pluriel (Paris, L’Harmattan, 2019); La France périurbaine (Paris, PUF, 2018); La sociologie urbaine (Paris, PUF, 2018 – 6th ed.); Idées reçues sur les bidonvilles en France (Paris, Le Cavalier Bleu, 2017); Un sociologue au volant (Paris, Téraèdre, 2014); L’identité en question (Paris, Ellipses, 2012 – 2nd ed.). He has recently coedited an issue of the journal MAUSS (n°54, 2019) entitled La possibilité d’une ville conviviale.

Hybrid Urban Borderlands. Von der Hybridität intra-urbaner Grenzen in der internationalen Metropolregion San Diego Albert Roßmeier

Zusammenfassung

Im vorliegenden Artikel wird innerhalb einer Untersuchung der jüngeren Downtown-Erweiterung San Diegos (Südkalifornien) mit einem grenztheoretischen Blick auf Hybridität ein alternativer Zugang zu Aspekten von räumlicher Teilhabe und der Wahrnehmung von Ausgrenzung und Verdrängung erarbeitet. Dabei werden die Neubau- und Sanierungsmaßnahmen in den innenstadtnahen Nachbarschaften East Village und Barrio Logan in den übergeordneten Prozess einer Stadtlandhybridisierung eingeordnet, in welchem binäre Abgrenzungen des Einen vom Anderen, des Innerstädtischen vom Suburbanen zugunsten hybrider Ausdifferenzierungen an Präzision und Gültigkeit verlieren. Im Zuge der Nachverdichtung brechen tradierte Ordnungen im Gegenüber von Zentrum und Rand auf, die innerstädtischen Grenzen verschwimmen und lassen sich als hybrid urban borderlands fassen. Diesen Umbrüchen wurde in der vorliegenden Analyse mithilfe eines sozialkonstruktivistischen, multimethodischen Zugangs begegnet, wobei nicht nur die Verschiebung physischer Grenzziehungen betrachtet wurde, sondern insbesondere auch die Prozesse gesellschaftlicher Distinktionen im Fokus standen. Dabei zeigte sich einerseits, dass die alltagsweltlichen Grenzziehungen individuell und in Teilen unabhängig von physischen Grenzlinien

A. Roßmeier (*)  Forschungsbereich Geographie, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_17

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wie Highways und Canyons gezogen werden. Andererseits wurde deutlich, dass die konstruierten Grenzen im Zuge räumlicher sowie gesellschaftlicher Transformationsprozesse stets aktualisiert werden, sich verschieben und überlagern und letztlich zu hybriden Übergangsbereichen aufschwemmen.

1 Einführung: Die hybriden Grenzen von Downtown San Diego Begrenzt durch die San Diego Bay im Westen und Süden und eingerahmt durch die Interstate I-5 im Norden und Osten sowie den Balboa Park im Nordosten stößt Downtown San Diego nach circa 50 Jahren Sanierungs- und Restrukturierungsentwicklungen an ihre räumlichen Grenzen (Appleyard und Stepner 2018; Comer-Schultz 2011; Ervin 2007; Kühne 2017, S. 23; Kühne und Schönwald 2015b, c). Seit den 2000er Jahren verorten sich die weitgehend ökonomisch getriebenen Entwicklungsbemühungen insbesondere im Osten bzw. Südosten der Downtown und erstrecken sich über das ehemalige Industrie- und Lagerhallenviertel East Village bis in die mexikanisch-amerikanisch geprägte Nachbarschaft Barrio Logan hinein. Es kommt zur Urbanisierung des vormals suburbanen, inneren Rings (siehe allgemein: Charles 2013; Charmes und Keil 2015; Delgado und Swanson 2019; bezugnehmend auf San Diego: Kayzar 2006; Kühne und Schönwald 2015b, c; Roßmeier 2019, 2020; Rumpf 2016; Schönwald 2016). Dabei wurde das Convention Center im Süden der Downtown sowie die Waterfront grundlegend ausgebaut, nebenan eröffnete 2004 das Baseballstadion Petco Park in East Village, es folgen Hotels und andere tourismusorientierte Unternehmen. Im Jahr 2006 wurde der San Diego Downtown Community Plan verabschiedet, welcher bis heute die planerische Grundlage für die Innenstadtentwicklung sowie die Nachverdichtung und erneute Verzahnung der umliegenden, baulich teils abgetrennten Nachbarschaften mit der Downtown darstellt (CCDC 2015, S. 1.8–1.12). Die Folge war ein „beispielloser Boom der [innerstädtischen] Siedlungsentwicklung“1 (CCDC 2015, S. 1.8), der auf ökonomische wie planerische und gesellschaftliche Aspekte zurückzuführen ist. Präferenzen für zentrale Wohn- und Arbeitslagen, die eine höhere persönliche und räumliche Flexibilität ermöglichen, gewannen seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts

1“unprecedented

boom in residential development.”

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wieder vermehrt an Tragweite (Acolin et al. 2016; Gallagher 2014; Gerhard 2017; Häußermann 2009; Herfert und Osterhage 2012; Kühne 2012, 2016), worauf in San Diego ökonomisch und planungspolitisch mit veränderter Schwerpunktsetzung auf Nachverdichtung und zahlreichen, innerstädtischen Wohnbauprojekten reagiert wurde, finanziert durch Public Private Partnerships (City of San Diego 2019; DSDP 2016; Erie et al. 2010, 2011; Ervin 2007). So kam es insbesondere in der Zeitspanne der letzten zwei Dekaden zu tiefgreifenden, physisch-räumlichen Umbrüchen im Zuge von Neubauprojekten, Gebäudesanierungen, Renovierungen sowie Um- bzw. Neunutzungen und in der Folge auch zu Gentrifizierungsprozessen und einem Bewohner*innenwechsel in Downtown San Diego und den Randlagen (vgl. Kühne 2017, S. 23–24). Dabei brechen tradierte Ordnungen im Gegenüber von Zentrum und Rand auf, die Grenzen der Innenstadt zu den ehemals suburbanen Nachbarschaften des ersten Rings verschwimmen im Prozess einer ausgreifenden Urbanisierung. Auch Deutungen bzw. Deutungskategorien wandeln sich dabei, ,einfache Unterscheidungen‘ (Weber und Kühne 2020), wie zwischen innen und außen, verlieren an Präzision und Gültigkeit. Stereotyp urbane bzw. suburbane Elemente, neue und alte Strukturen, Nutzungen, Funktionen und Bewohner*innen vermischen sich als unterschiedliche, hybride Kompartimente zu einem (räumlichen) Pastiche (Kühne und Weber 2019b; Schönwald 2016), der nicht nur die innenstadtnahen Gebiete, sondern die gesamte Metropolregion San Diego kennzeichnet. Dabei entstehen im übergeordneten Prozess der Stadtlandhybridisierung (Kühne 2012, 2016; Kühne und Schönwald 2015b; Kühne et al. 2017) gesellschaftliche wie räumliche Kombinationen und Vermischungen unterschiedlichen Hybriditätsgrades, welche den Raum San Diego multikomplex auf unterschiedlichen Ebenen durchziehen: auf internationaler Ebene in einer Art hybriden Metropolregion San Diego-Tijuana, die sich durch individuelle Grenzbiographien2, ­Bilinguität und sprachliche Hybridformen wie spanglish (Morales 2002), ökonomische Beziehungen sowie kulturelle, politische und planerische Verflechtungen bzw. Kooperationen auszeichnet; auf regionaler Ebene bspw. in Bezug auf eine Verwischung von S ­tadt-Land-Übergängen, welche innerhalb einer postmodernen Auflösung bzw. Ausdifferenzierung klassisch städtischer und suburbaner

2Hier

sei auch auf die Chicano-Kultur verwiesen, ein hybrides Biographiekonstrukt ­ exikanisch-stämmiger US-amerikanischer Bürger*innen, die ihre kulturelle Identität m fernab der gängigen Kategorien ‚Mexikaner*in‘ und ‚US-Amerikaner*in‘ konstruieren (siehe hierzu Heyman 2012; Falser 2007; Kühne und Schönwald 2015a, b; 2018; Schönwald 2016, 2017).

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Lebensstile, Bauweisen und Haushalte deutlich wird; und auch auf nachbarschaftlicher Ebene in Bezug auf sich überlagernde und uneindeutige, individuellimaginäre wie physische Grenzziehungen zwischen Downtown und Rand, hier und dort, gleich und anders, wie anhand eines historischen Abrisses und mithilfe empirischer Analyseergebnisse herausgearbeitet wird. Konzeptionell wird in der vorliegenden Untersuchung der Frage nachgegangen, inwiefern aktuelle Inhalte der Stadtforschung um Transformationsprozesse in (ehemals) suburbanen, innenstadtnahen Nachbarschaften, den so bezeichneten Urfsurbs (Urbanizing former suburbs; Kühne 2016; Kühne 2017; Kühne und Schönwald 2015b; Kühne et al. 2016, 2017; Kühne und Weber 2019b; Weber und Kühne 2017), als spezielle Ausprägung im übergeordneten Prozess der Stadtlandhybridisierung anschlussfähig sind an Stoßrichtungen der interdisziplinären Border Studies. Dies wird beispielhaft anhand der südöstlichen Downtownerweiterung in San Diego veranschaulicht, denn hier werden aktuell im Zuge von Restrukturierungs- und Nachverdichtungsentwicklungen die offiziellen, physischen sowie individuell-imaginären Grenzen zwischen Innenstadt und außen liegenden Nachbarschaften neu verhandelt und dabei die Polarität unterschiedlicher Deutungskategorien wie urban und suburban zugunsten hybrider Mischformen weiter infrage gestellt. Die hieran ansetzende Untersuchung dient letztlich dem Ziel, die Urbanisierungsprozesse in den Nachbarschaften des ,inneren Rings‘ in San Diego auf neue Art und Weise einzuordnen, und mithilfe einer grenztheoretischen Perspektive den Blick auf Aspekte von räumlicher Teilhabe und der Wahrnehmung von Ausgrenzung sowie Verdrängung (vgl. Paasi 1998, S. 73; Scott und Sohn 2018, S. 5; Van Houtum und Van Naerssen 2002, S. 126) richten zu können. Dabei werden Geographien der Grenzen mit dem Konzept der hybrid urban borderlands letztlich um einen Zugang zu urbanen Räumen erweitert, welcher den Blick auf die grenzspezifische Uneindeutigkeit von sozialräumlicher Trennung und Verflechtung und damit einhergehende, gesellschaftliche (Um-)Ordnungen richtet. Zunächst werden der theoretisch-konzeptionelle Zugang (Abschn.  2.1) sowie die methodische Herangehensweise (Abschn. 2.2) der Arbeit dargelegt. Anschließend wird anhand eines historischen Abrisses die Entwicklung der ­inner-ring suburbs in San Diego von ihrer Entstehung bis zu ihrem heutigen, ‘urban comeback’ nachgezeichnet (Abschn.  3.1). Inwiefern dabei Aspekte individueller Grenzziehungen und Deutungen relevant werden, wird anschließend anhand der empirischen Ergebnisse herausgearbeitet (Abschn.  3.2). Zum Abschluss des Beitrages werden weitere Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen angeführt (Abschn. 4).

Hybrid Urban Borderlands

361

2 Theoretisch-konzeptioneller Hintergrund und multimethodisches Vorgehen der Untersuchung Um sich beispielhaft den räumlichen wie gesellschaftlichen Umbrüchen am Zentrumsrand von San Diego mit einem grenztheoretischen Blick auf Hybridität annähern zu können, wird im Folgenden zunächst auf den konzeptionellen, übergeordneten Prozess der Stadtlandhybridisierung und aktuell damit einhergehende Entwicklungstendenzen innenstadtnaher Nachbarschaften eingegangen. Damit wird es möglich, hybride Gesichtspunkte intra-urbaner Grenzziehungen betonen und herausarbeiten zu können, wobei nicht nur Bezug auf physische Grenzen genommen wird, sondern insbesondere auch auf individuell-imaginäre Distinktionen und damit die Prozesshaftigkeit und soziale Hergestelltheit von Grenzen.

2.1 Von Stadtlandhybriden und Urfsurbs zu hybrid urban borderlands Mit dem Prozess der Stadtlandhybridisierung wird in der postmodernen Raumforschung die Ausdifferenzierung und Komplexisierung siedlungsräumlicher Erscheinungen innerhalb unterschiedlicher Kompartimente verschiedenen Hybriditätsgrades bezeichnet (einführend: Kühne 2012; siehe ebenfalls: Kühne 2016; Kühne und Schönwald 2015b; Kühne et al. 2017; Kühne und Weber 2019b; Weber und Kühne 2020). Innerhalb einer zunehmenden Auflösung von Stadtland(schafts)-Übergängen zugunsten vielseitiger Mischformen und Kombinationen stereotyper Elemente beschreibt die Stadtlandhybridisierung Differenzierungen „in struktureller (z. B. in Bezug auf Bebauung), funktionaler (z. B. zentralörtlicher), lebensweltlicher, aber auch emotionaler[, ästhetischer] und kognitiver Hinsicht“ (Kühne 2017, S. 18). Diese Ausdifferenzierungen sind auf unterschiedliche, räumliche wie gesellschaftliche, planungspolitische und ökonomische Entwicklungen zurückzuführen (vgl. Lazzarini 2015, S. 177), die (nicht nur) in Südkalifornien in Ausprägungen wie der massenhaften Wohnsuburbanisierung (Bourne 1996; Herzog 2015), der Bildung von Edge Cities (Garreau 1992; Roßmeier 2016) und Edgeless Cities (Lang 2003) am Siedlungsrand, sondern auch der jüngeren Urbanisierung innenstadtnaher Nachbarschaften des ehemals suburbanen, inneren Rings kulminieren (Charles 2013; Charmes und Keil 2015; Gallagher 2014; Hanlon und Airgood-Obrycki 2018; Kühne und Weber 2019a; Markley 2018; Roßmeier 2019, 2020; Weber und Kühne

362

A. Roßmeier

2017). Dabei erfolgt einerseits eine Hybridisierung durch Mischungen und Verknüpfungen unterschiedlicher Elemente, es kommt zur Auflösung des Gegenübers und des Binären. Im Stadtland-Kontext lösen sich die Grenzen zwischen Siedlung und Nicht-Siedlung auf, an ihre Stelle „treten mehr oder minder differenzierte Ränder, Perforierungen, schwindende Nutzungsintensitäten, neue Kondensationspunkte von Siedlungstätigkeit, unbesiedelte Parzellen u. a.” (Kühne 2017, S. 21; allg. dazu auch Boesen et al. 2020 sowie Stébé und Marchal 2020 in diesem Band). Andererseits ergeben sich gleichzeitig aber auch neue Ein- und Ausschlüsse innerhalb der Versuche, „Ränder und Grenzen zu definieren und eine gewisse Ordnung innerhalb ‚ungeordneter‘ Situationen des Wandels zu konstruieren“3 (Scott und Sohn 2018, S. 13). Es kommt zu einer „pasticheartigen Binnendifferenzierung von Stadtlandhybriden“ (Kühne 2017, S. 21), zu neuen Abund Ausgrenzungen. Physisch-räumlich zeigt sich dies eindrucksvoll in der Errichtung von durch Zäunen und Mauern abgeriegelten Gated Communities (Webster et al. 2002) bzw. urban enclaves (Iossifova 2015, 2019; Liao et al. 2018), deren Abtrennung nicht weniger tiefgreifend auch auf individuelldistinktiven Konstruktionen um das Gleiche und das Andere (Paasi 1998, S. 75), einer „diskursiven Differenzierung zwischen uns und ihnen“4 (Van Houtum und Van Naerssen 2002, S. 125) gründet. Van Houtum und Van Naerssen (2002) bezeichnen diese Praktiken der Abgrenzung als “(b)ordering” und “othering.” Der Prozess der Stadtlandhybridisierung ist übergeordnet in einen Prozess der Raumpastichebildung eingebunden, wobei sich unterschiedliche Kompartimente unterschiedlichen Hybriditätsgrades herausbilden, die sich teilweise am Anfang einer Vermischung befinden oder aber auch am Ende eines Assimilationsprozesses, in welchem sich das einst getrennt Gedachte bereits auflöst (vgl. Kühne 2017, S. 22). In diesem Spektrum bewegen sich auch die hybriden Ausformungen der aktuellen Downtownerweiterung in San Diego, wobei gewisse Grenzen aufbrechen, allerdings aber auch neue Ein- und Ausschlüsse stattfinden (Kühne und Schönwald 2015b, 2018; Lazzarini 2015, S. 182; Schönwald 2017; Scott und Sohn 2018, S. 4). Die Hybridisierungen im Prozess der sich aktuell abzeichnenden Urfsurbanisierung (Kühne 2016, 2017; Kühne et al. 2016; Roßmeier 2019; Weber und Kühne 2017) sind dabei „eine Begleiterscheinung

3“to

define edgses and limits and to construct a degree of order within ‘unordered’ situations of change.” 4“discursive differentiation between us and them.”

Hybrid Urban Borderlands

363

von Funktionsänderungen“ (Schönwald 2017, S. 165) am Downtownrand, die „eine neue Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten, […] eine ‚Ästhetik des Hybriden‘ hervorbringen“ (Schönwald 2017, S. 165) und sich damit eindeutigen Zuschreibungen entziehen. Hierbei werden unterschiedliche, verschiedenartige Elemente ‚ineinander gestreut‘, bspw. in einer Mischung aus stereotyp urbanen und suburbanen Elementen zu einer hybriden, städtebaulichen Körnung aus großen Apartmentkomplexen (mit hoher Geschossflächenzahl) und kleiner Einfamilienhausbebauung (mit niedriger Geschossflächenzahl). Pasticheartig ergeben sich „Vermischungen, Reminiszenzen und Überprägungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, [die Hybriditäten] bezieh[en] sich auf unterschiedliche Gestaltungsformen (etwa das Zitieren vergangener Baustile), vermeng[en] die vormals normativ getrennt gedachten Sphären von Kultur und Natur, spann[en] sich zwischen den Polaritäten des Städtischen und Ländlichen auf und verschm[elzen] vormals getrennte Sphären des Lebens (etwa Freizeit und Arbeiten in Cafés)” (Kühne und Weber 2019a, S. 36). In diesem übergeordneten Prozess verfestigen sich individuelle, gesellschaftliche Distinktionen zu physischen Grenzziehungen wie Mauern und Zäunen, während sich physische Grenzen auflösen und „unscharfe und unbestimmte und damit umstrittene“5 (Scott und Sohn 2018, S. 13–14) Abgrenzungen sozialräumlicher Zuschreibung hinterlassen. Hier setzt die vorliegende Forschung an, im Fokus auf das fransige, perforierte in-between der uneindeutigen, räumlichen Kompartimente der Stadtlandhybride, im Folgenden konzeptionell gefasst als hybrid urban borderlands (vgl. Iossifova 2019; Weber und Kühne 2020). Das Konzept der hybrid urban borderlands (Iossifova 2015, 2019; Rumford 2006) erweist sich für die hier angewendete Analyse als besonders geeignet, da es – zum einen – der „Räumlichkeit von Grenzen“6 (Rumford 2006, S. 162) im städtischen Kontext Rechnung trägt. Mit dem b­ orderland-Konzept wird es möglich, Grenzen als „dreidimensionale, sozial-materielle Räume“7 und Bereiche zu fassen, nicht als starre Linien zwischen abgetrennten Einheiten. Zum anderen wird damit der postmoderne Ansatz verfolgt, „über die moderne Idee“8 (Dell’Agnese und Amilhat Szary 2015, S. 6) polarer Dichotomie hinauszugehen (hierzu allg. auch Weber et al. 2020 in diesem Band). Das Konzept zielt darauf

5“fuzzy

and indeterminate and thus contentious.” of borders.” 7“three-dimensional sociomaterial spaces.” 8“beyond the modernist idea.” 6“spatiality

364

A. Roßmeier

ab, „alternative raumzeitliche Topologien zu den binären Oppositionen (innen/ außen, Zentrum/Peripherie, etc.) zu finden“9 (Brambilla 2015, S. 24) und damit auf die „Dekonstruktion von Essentialismen und Formen des Dualismus“10 ( Brambilla 2015, S. 24; siehe auch Weber und Kühne 2020). Denn entsprechend der postmodernen Ausdifferenzierungen und Entgrenzungen in den Stadtlandhybriden sind borderlands nicht nur als Abgrenzung einzelner Kompartimente zu verstehen, sondern insbesondere auch als ihre Verzahnung und ihr Bindeglied: borderlands „sind die eingeklagten, angeeigneten, geteilten, kontinuierlich ausgehandelten, unterhaltenen und oftmals sogar herangezogenen Räume der Kopräsenz und Koexistenz“11 (Iossifova 2015, S. 91), die sich im Kontext städtischer Restrukturierungen verschieben und überlagern, dabei multipel vorliegen und letztlich hybride werden. Diesen Prämissen folgend wurde es in der vorliegenden Untersuchung einerseits möglich, Aspekte einer „vorübergehenden Hybridität“12 (Newman 2006a, S. 180) innerhalb der Umbrüche in den innenstadtnahen Nachbarschaften East Village und Barrio Logan in den Mittelpunkt zu rücken. Andererseits konnten in Verbindung mit dem spezifischen Blick der Border Studies multimethodisch individuelle Sichtweisen und Deutungen um Prozesse von Exklusion, Teilhabe, aber auch von Identitätsbildung in den Urfsurbs von San Diego eingefangen werden. Im Folgenden wird kursorisch auf die einzelnen Methodenbausteine der triangulären Analyse eingegangen.

2.2 Neopragmatische Triangulation und methodische Bausteine der Untersuchung Um dem dargelegten, komplexen Fokus der Analyse in den innenstadtnahen Nachbarschaften San Diegos gerecht werden zu können, wurde ein multimethodischer, explorativer Zugang gewählt, der vorwiegend durch eine sozialkonstruktivistische Forschungsperspektive (Berger und Luckmann 1966; Burr

9“finding

alternative spatio-temporal topologies to the binary oppositions (inside/outside, centre/periphery, etc).” 10“deconstructing essentialisms and forms of dualism.” 11“are the claimed, appropriated, inhabited, shared, continuously negotiated, maintained and often even nurtured spaces of co-presence and coexistence.” 12“transitional hybridity.”

Hybrid Urban Borderlands

365

2015; Gergen 1994; Kühne 2019a, b, d; Schütz 1971) geleitet wird. Dabei wurden innerhalb eines neopragmatischen Ansatzes (Chilla et al. 2015; Eckardt 2014; Kühne und Weber 2019a, S. 49) verschiedene, perspektivisch unterschiedlich ansetzende Methoden kombiniert. Grundlegend ist davon auszugehen, dass ‚monotheoretische‘ bzw. ‚monomethodische‘ Ansätze bei der Analyse von postmodernen, widersprüchlichen Phänomenen und vielschichtigen Umbrüchen eher einseitig und nicht umfassend genug ausfallen (Kühne 2019c). Der Vorteil neopragmatischer Forschungsansätze liegt in ihrer konzeptionellen Offenheit: verspricht eine methodische bzw. perspektivische Triangulation einen „Gewinn an Verständnis gesellschaftlicher/räumlicher Entwicklungen und Zusammenhänge“ (Kühne und Weber 2019a, S. 49), werden „(partielle) Widersprüche zwischen theoretischen Zugängen einerseits sowie dem Verhältnis von Theorie und empirischer Methode andererseits“ (Kühne und Weber 2019a, S. 49) akzeptiert. Konkret wurde es damit in der vorliegenden Analyse möglich, qualitative Herangehensweisen wie leitfadenorientierte Interviews, ero-epische Gespräche (Girtler 2001) sowie teilnehmende Beobachtungen und fotographische Dokumentationen mit kartographischen Visualisierungen und quantitativ ansetzenden (eher positivistischen) Vorgehensweisen der Sozialforschung zu verbinden. So konnte einerseits ein vielschichtiger Zugang zu den gesellschaftlichen wie physischräumlichen Umbrüchen am Innenstadtrand ermöglicht und die Untersuchung andererseits den Anforderungen einer multiperspektivischen Analyse von Grenzen (Newman 2006b, S. 143; Rumford 2012, S. 893) gerecht werden. Denn Rumford (2012, S. 893) folgend können „aktuelle Transformationen nicht von einem einzigen, privilegierten Blickwinkel aus verstanden werden“13; Grenzforschung muss ihm nach den „Fokus auf die individuellen Grenznarrative und -erfahrungen“14 (Rumford 2012, S. 893) richten, was in besonderer Weise anschlussfähig ist an den vorliegenden sozialkonstruktivistisch orientierten, neopragmatischen Ansatz. Die empirischen Bestandteile der darzulegenden Analyse gründen auf Erhebungen, die im Sommer und Herbst 2019 in San Diego durchgeführt wurden. In diesem Rahmen fanden 32 Leitfaden-orientierte Interviews bzw. ero-epische Gespräche (GP-1 bis GP-32) sowie fünf teilnehmende Beobachtungen (TB-01 bis TB-05) statt. Neben Interviews mit Verantwortlichen aus Politik und Planung, Wissenschaftler*innen, Unternehmer*innen sowie Vertreter*innen aus dem

13“contemporary

transformations cannot be properly understood from a single privileged vantage point.” 14“focus on the individual border narratives and experiences.”

366

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Immobiliensektor fanden insbesondere auch Gespräche mit Anwohner*innen statt, um unterschiedliche Blickwinkel auf die Wandlungsprozesse vereinen zu können. Dabei verteilen sich die Interviews und ero-epischen Gespräche zu ungefähr gleichen Teilen auf die drei Perspektivenkategorien Wirtschaft/Planung (elf Gespräche), Wissenschaft (zehn) und Bewohner*innen (elf). Die Gespräche wurden ergänzt durch teilnehmende Beobachtungen. Diese bestanden aus mehrstündigen Spaziergängen entlang markanter Straßenzüge und Aufenthalten an öffentlichen Plätze sowie bei unterschiedlichen Veranstaltungen in East Village und Barrio Logan, welche in Form von Feldnotizen und Fotographien dokumentiert wurden. In phänomenologischer Herangehensweise konnten dabei unterschiedliche olfaktorische und gustatorische, akustische (wie bspw. die Geräusche unterschiedlicher Nutzer*innengruppen und ihrer Aktivitäten, Fauna, Autobahnlärm oder auch Stille) und optische Reise (­physisch-materielle Elemente wie das bauliche Stadtgefüge, Freiraummobiliar, Infrastruktur, Müll sowie Fauna und Flora, andere Nutzer*innen und ihre Aktivitäten), aber auch emotionalatmosphärische Eindrücke des Forschenden dazu beitragen, ein individuelles und doch umfassendes Bild der innenstadtnahen Viertel, ihrer Bewohner*innen und deren Nutzungen und lokalen Routinen zu erhalten (Edler und Kühne 2019; Kazig 2013, 2019; Kühne 2019b; Wylie 2007). Darüber hinaus wurde die Analyse um kartographische Elemente ergänzt. Hierbei konnten der Verlauf offizieller, administrativer Grenzen und Bereiche sowie deren Überlappungen visualisiert werden, um diese in einem nächsten Schritt mit den in den Interviewgesprächen wiedergegebenen, individuellen Grenzziehungen abzugleichen. Die letzte Komponente der methodischen Triangulation besteht aus dem Einbezug von quantitativen Daten der Erhebungen des US Census Bureaus, womit die qualitativen, empirischen Bestandteile der Untersuchung mit Zahlen zur Einwohner*innenentwicklung, ethnischen Zusammensetzung oder aber auch zur Altersverteilung in den unterschiedlichen Nachbarschaften ergänzt werden konnten.

3 Downtown-Erweiterung in San Diego: Uneindeutige Grenzziehungen und die Neuverhandlung des Randes Nach den konzeptionellen und methodischen Ausführungen werden im Folgenden die empirischen Ergebnisse der Analyse dargestellt. Zunächst wird innerhalb eines Abrisses der Entstehung der inner-ring suburbs von San Diego

Hybrid Urban Borderlands

367

im Laufe des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet, wie sich gewisse, gesellschaftlich konstruierte und physische Grenzen im regionalen Gefüge ausbilden und inwiefern diese auf Distinktions- und Segregationsprozesse zurückzuführen sind. Daraufhin wird anhand der unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen herausgearbeitet, inwiefern diese Grenzziehungen, Ordnungen und individuellen Deutungen nun im Zuge der Downtownrestrukturierung und den aktuell damit einhergehenden Umbrüchen im südöstlichen East Village und Barrio Logan umgeordnet sowie neu ausgehandelt werden. Damit kann letztlich dargelegt werden, wie sich die vormaligen Grenzen zwischen Zentrum und Rand in San Diego zu einem hybriden Übergangsbereich aufspannen, der begrifflich als hybrid urban borderland gefasst wird.

3.1 San Diegos innerer Suburbiumsring: von attraktiven Streetcar Suburbs zu veralteten Nachbarschaften und ihrem aktuellen ‘urban comeback’ Die ersten Horse- bzw. Streetcar Suburbs (siehe allgemein: Hanlon und Vicino 2007, S. 250; Jackson 1985; Puentes und Orfield 2002; Vicino 2008a, S. 553) entstanden seit den 1880er Jahren in Southeastern San Diego, ein Gebiet, welches im Osten an das ehemalige Industrie- und Lagerhallenviertel East Village angrenzt und heute durch die Interstate I-5 von der Innenstadt abgegrenzt wird (vgl. Abb. 1). In den Boom-Jahren nach der PanamaCalifornia-Ausstellung im Jahr 1915 hatte sich die zuziehende Bevölkerung insbesondere in den Nachbarschaften Southeast San Diegos angesiedelt. Die neuen Wohngebiete wurden im Vergleich zu den Standards nach dem Zweiten Weltkrieg mit kleineren Grundstücken erschlossen und ermöglichten so die notwendige Fußläufigkeit in den nachbarschaftlichen Quartieren und den bequemen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch nicht nur die frühe Straßenbahnverbindung verlieh den neuen Nachbarschaften außerhalb der Innenstadt eine gewisse Attraktivität bei der aufkommenden Mittelschicht, auch die entstehende Idee des Lebens in suburbaner Gemeinschaft beflügelte den Siedlungstrend in zentrifugaler Richtung (Norris 1983, o. S.). Das moderne Bedürfnis nach klarer Ordnung und Trennung konnte sich damit in die Siedlungsstruktur des 20. Jahrhunderts einschreiben. „Die vorstädtische Welt der Freizeit, des Familienlebens und der Vereinigung mit der Natur basierte

368

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Grünanlagen

Washington Street University Avenue

Balboa Park

Park Boulevard

San Diego Zoo

Entwurf und Kartographie: Olaf Kühne

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Lindbergh Air Field

Florida Drive

State 163

4th Avenue

6th Avenue

1st Avenue

0,5 miles / 0,8 km

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Schienenwege HILLQuartiersCREST bezeichnungen

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BANKERS HILL

NORTH PARK

30th Street

Park Boulevard

kleinere Straßen

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Robinson Avenue

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Florida Street

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Balboa Park

Fern Street

B Street

Front Street

Pacific Highway

North Harbor Drive

DOWNTOWN

Broadway

EAST VILLAGE

G Street GASLAMP QUARTER

State 94 Market Street SHERMAN HEIGHTS

PETCO Park

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Chicano Park

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South 32th Street

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South 30th Street

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STOCKTON

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GOLDEN HILL

SAN DIEGO

25th Street

4th

SOUTH PARK

Ash Street Santa Fe Depot

San Diego Bay

3rd

BURLINGAME

LITTLE ITALY

Seaport Village

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Abb. 1   Downtown San Diego und Umland. (Quelle: Kühne und Schönwald 2015b, leicht verändert)

von Anfang an auf dem Prinzip der Ausgrenzung. Die Arbeit war vom Familienwohnsitz ausgeschlossen; die Villen der Mittelschicht wurden von den Arbeiterwohnungen getrennt; das Grün der Vorstadt stand im Gegensatz zu einer grauen,

Hybrid Urban Borderlands

369

verschmutzten städtischen Umgebung“15 (Fishman 1987, S. 22). Nach und nach kam es zu gesellschaftlichen und nutzungsspezifischen Distinktionen bzw. Abgrenzungen, die sich räumlich in der ausbreitenden Metropole manifestierten. Die rechtliche Grundlage hierfür war die Verabschiedung von sogenannten zoning ordinances zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auch zum Zweck der ethnischen Ausgrenzung und Segregation in den peripheren, expandierenden Wohngebieten genutzt wurden (Fishman 1987; Silver 1997). Diese Mechanismen der Abgrenzung gründen auf “ordering”- und “othering”-Prozessen (Van Houtum und Van Naerssen 2002), Praktiken der Differenzierungen zwischen Personen unterschiedlichen Bestands an symbolischem Kapital sowie unterschiedlicher Ethnien (Lazzarini 2015, S. 182; Newman 2006a, S. 177; Paasi 1998, S. 73, 75; Scott und Sohn 2018, S. 5, 13–14), die als Leitprinzip die Entstehung der vorstädtischen Siedlungen in San Diego kennzeichneten und katalysierten. Mit der einsetzenden Massenmotorisierung in den 1920er Jahren und der Großen Depression der 1930er Jahren sanken die Fahrgastzahlen der Straßenbahn in San Diego, 1922 wurde der erste Bus eingesetzt, die Schienen der Bahnen wurden nach und nach zurückgebaut und durch Buslinien16 und Highways ersetzt, die noch weiter in die Peripherie reichten (Foster 1981; MTS 2020). „Orte, die zuvor nur mit großem Zeitaufwand zu erreichen waren, wie La Jolla, aber als landschaftlich attraktiv galten, wurden nun auch als Wohnstandorte insbesondere für Personen mit einem hohen Bestand an symbolischem Kapital attraktiv, weil nun rasch erreichbar, was wiederum eine zusätzliche Konkurrenz für ältere Downtown-nahe suburbane Siedlungen“ (Kühne und Schönwald 2015b, S. 141–142) bedeutete. In der Folge des Einsatzes der zoning ordinances in den abgelegenen Nachbarschaften im Norden wurden die Wohngegenden im Osten der Downtown – sowie die Downtown selbst – bereits in den 1920er Jahren Teil der wenigen, verfügbaren Gebiete in San Diego für die nicht-weiße Bevölkerung und Personen mit einem niedrigen Bestand an symbolischem Kapital, es kam

15“From

its origins, the suburban world of leisure, family life, and union with nature was based on the principle of exclusion. Work was excluded from the family residence; middle– class villas were segregated from working–class housing; the greenery of suburbia stood in contrast to a gray, polluted urban environment.” 16Die Fahrgastzahlen stiegen zwar mit der aufkommenden Militärpräsenz zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erneut drastisch an – um 600 % laut der San Dieganischen Verkehrsgesellschaft Metropolitan Transit System (2020) –, und führten damit auch zu einem Mangel an Bahnführer*innen in den Kriegsjahren (Eddy 1993), doch wurde das Schienensystem 1949 in Gänze durch ein Busnetz ersetzt.

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zu einer „Sukzession der Bewohnerschaft“ (Kühne 2017, S. 23). Im Weiteren wurden das Viertel East Village und die im Osten an die Innenstadt angrenzenden Nachbarschaften vorwiegend als Industrieareale (durch den hohen, militärischen Fertigungsbedarf in den 1940er Jahren; siehe Eddy 1993, o. S.) sowie als Wohngegend von Arbeiter*innen und lateinamerikanischen Einwanderer*innen entwickelt (Norris 1983, o. S.), womit „Southeastern San Diego […] auch heute noch eine der ethnisch vielfältigsten und historischsten Communities in San Diego“17 (City of San Diego 2015, S. 1.5) darstellt. In den 1950er Jahren begann die Stadt mit der Planung der Autobahnen. Die Interstate I-5 wurde nicht, wie vorerst geplant, um die Waterfront, sondern um die Downtown herum gelegt und sollte deren Ränder definieren. Damit trennte die im Jahr 1964 gebaute I-5 die Verbindung von East Village zum Balboa Park und zu den Quartieren im Osten der Downtown, es kam zur Umwidmung von Flächen der Wohn- zur Verkehrs- und weiteren industriellen Nutzung – mit „zerstörerischen Auswirkungen“18 (Norris 1983, o. S.) für die Nachbarschaften und Communities. Dabei wurden auch die in ­Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen E, F und G als Auffahrten geplant, was die Verbindungen zwischen East Village und den Vierteln im Osten ebenso reduzierte. Mit dem Bau des State Highways 94 im Jahr 1960 und der Coronado Bay Bridge im Jahr 1969 wurden auch die inner-ring suburbs in Southeastern San Diego in mehrere Teile zerschnitten und voneinander abgetrennt. Dadurch entstand vor circa 50 Jahren neben Golden Hill und Sherman Heights auch Barrio Logan als eigene Nachbarschaft zwischen der I-5 und dem industriell sowie militärisch genutzten Abschnitt der San Diego Bay. Auch hier kam es zu Änderungen der Flächennutzung zugunsten einer weiteren Industrialisierung (vor allem mit der Umwidmung von Flächen zur Abfallverwertung) und einer Verbreiterung des Harbor Drives, womit Barrio Logan seit jeher einer hohen Emissionsbelastung durch „Lärm, Gerüche, Verkehr und damit verbundenen Problemen“ (Norris 1983, o. S.) ausgesetzt ist (Delgado und Swanson 2019, S. 8; Kühne und Schönwald 2015b, S. 142; entsprechend schildernd auch GP-19, GP-32). Dem Erfolg der suburbanen Wohnlagen als Idee der ‚Ausgrenzung des Fremden‘, der zunehmenden Industrialisierung in den innenstadtnahen Lagen sowie einem Verfall der baulichen Substanz geschuldet (Kühne 2017, S. 23–24;

17“Southeastern

San Diego today remains one of the most ethnically diverse and historic communities in San Diego.” 18“destructive effects.”

Hybrid Urban Borderlands

371

Norris 1983, o. S.), nahm das „Ansehen [der inner-ring Nachbarschaften] ab, was mit dem Niedergang der Innenstadt zusammenfiel“19, wie im Downtown Community Plan (CCDC 2015, S. 1.2) festgehalten wird. Parallel fand ein starkes Wachstum am Siedlungsrand statt, in der Peripherie bildeten sich neue Wohnund Arbeitszentren heraus, eine funktionale Ausdifferenzierung und zunehmende Stadtlandhybridisierung kennzeichnete den südkalifornischen Raum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Ervin 2007; Gallagher 2014; Garreau 1992; Kayzar 2006; Kühne 2012; Kühne und Schönwald 2015b; Roßmeier 2019). Dabei kontrastierten Bilder der verlassenen und heruntergekommenen Downtown die idealisierten, landschaftlich attraktiven Communities jenseits der innerstädtischen Grenzen. Die Innenstadt hatte kaum mehr Bedeutung für die Mittelschicht in der Peripherie, ebenso wenig die innenstadtnahen Suburbien des ersten Rings (Hanlon 2010; Kühne und Schönwald 2015c; Vicino 2008b). Dem entgegensetzend kam es in den 1970er und 1980er Jahren zu umfassenden Sanierungs- und Restrukturierungsbemühungen im Downtowngebiet, dem zweiten Aufschwung der circa 100-jährigen „­Wachstums-Rückgangs-Wachstumskurve“20 (Kayzar 2006, S. 11) der Innenstadt. Nach dem Bau des innerstädtischen Einkaufszentrums Horton Plaza und der umfassenden Renovierung des ehemaligen Rotlicht- und heutigen Tourismusviertels Gaslamp Quarter (Ervin 2007; Gaslamp Quarter Association 2019) gipfelte die planerisch-ökonomische Refokussierung auf die zentralen Lagen im Bau des Petco Parks, dem 2004 eröffneten Baseballstadion in East Village (Comer-Schultz 2011; Costello et al. 2003; Erie et al. 2010, 2011; Kayzar 2006; Kühne und Schönwald 2015c). Die Entwicklung in der Innenstadt San Diegos und in East Village wurde zu großen Teilen von privaten Interessen getrieben, und „im Falle des Petco Parks in größerem Umfang als für die meisten innerstädtischen Lagen üblich“21 (Erie et al. 2010, S. 652). Damit wurde die Downtown Konsum- und Freizeitzwecken gewidmet, in der Hoffnung, die mittlerweile in der suburbanen Peripherie „nördlich der Interstate I-8“22 (GP-09) ansässige, arbeitende und einkaufende Bevölkerung wieder in Richtung Zentrum zu orientieren. Dabei scheint die parallel zur mexikanisch-amerikanischen Grenze in Ost-West-Richtung verlaufende Interstate I-8 „eine sehr deutliche Grenze zwischen den Gebieten in San Diego zu sein, die als Wohn- und als städtische

19“over

time their prestige diminished, coinciding with downtown’s decline.” trajectory.” 21“with Petco Park, on a larger scale than is typical in most urban areas.” 22“north of the Interstate I-8.” 20“growth-decline-growth

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Gegend differenziert werden“23, wie der Interviewpartner GP-32 beschreibt (entsprechend auch GP-09, GP-23; bezogen auf ethnische Differenzierungen entlang der I-8 auch GP-32, GP-31 und GP-21). Mit dem Baseballstadion als „Katalysator“24 (Kayzar 2006, S. 149) für die weitere Entwicklung der Innenstadt (Erie et al. 2010) wurde im Laufe der 2000er Jahre der stadtpolitische Fokus mehr in Richtung Nachverdichtung und Um- bzw. Neubauprojekte im zuvor vernachlässigten, inneren Ring verschoben (CCDC 2015, S. 1–9, 1–12; City of San Diego 2019). Während Teile der DowntownNachbarschaften, wie bspw. das Gaslamp Quarter oder die Waterfront bereits entwickelt wurden, erfahren aktuell andere Viertel am Rand mit zunehmender Wohnnutzung und gewerblicher Aktivität „erhebliche Veränderungen“25 (CCDC 2015, S. 1.1). An die Phase des baulichen Verfalls, des Leerstands und der emissionsreichen, industriellen Nutzung in East Village „schließt sich […] – mit dem Prozess der Entstehung der URFSURBs – eine Gentrifizierungsphase an“ (Kühne 2017, S. 23–24), die auch Nachbarschaften wie Barrio Logan ergreift (Kühne und Schönwald 2015a, S. 239). Im Rahmen der Verabschiedung des aktuellen Community Plans für das Downtowngebiet im Jahr 2006 wird die „Planung einer kompatiblen Entwicklung an den Rändern“26 (CCDC 2015, S. 1.12), und damit die „Wiederanbindung der Innenstadt an die umliegenden Nachbarschaften als wichtiges Ziel“ (CCDC 2015, S. 1.9) in der stadtpolitischen Agenda verankert. Denn „mit dem erneuten Interesse an städtischem Wohnen und der stadtweiten, politischen Gewichtung von Nachverdichtungsprojekten ist der Wachstumsdruck auf die umliegenden Stadtviertel zurückgekehrt. Diese Gebiete erleben eine eigene Renaissance; ein Trend, der wahrscheinlich noch zunehmen wird, wenn sich die Innenstadt weiter entwickelt und Planungsstrategien umgesetzt werden, die Investitionen in bestehende Nachbarschaften befördern“27 (CCDC 2015, S. 1.12).

23“to

be a real significant border between what is considered residential San Diego and urban San Diego.” 24“catalyst.” 25“major transformations.” 26“planning for compatible development at edges.” 27“With renewed interest in urban living and citywide policy emphasis on infill development, growth pressures have returned to the surrounding neighborhoods. These areas are undergoing renaissances of their own, a trend that will likely increase as downtown develops further, and as planning strategies emphasizing investments in existing neighborhoods are implemented.”

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Aktuell werden nun im Ausgreifen der Urbanisierungsprozesse und der einsetzenden Gentrifizierung hybride Kombinationen und Vermischungen im inneren Ring befördert, worauf im Weiteren eingegangen wird. Dabei brechen einerseits die im Laufe des 20. Jahrhunderts gewachsenen physisch-räumlichen Grenzziehungen, individuellen Distinktionen und Ordnungen zwischen der Innenstadt, dem Viertel East Village und den Nachbarschaften in Southeastern San Diego wie Barrio Logan in gewisser Weise auf und verzahnen die Gebiete. Andererseits finden gleichzeitig aber auch neue Abgrenzungen und Distinktionen statt. Es kommt zur Überlagerung von Zentrum und Rand, die Trennlinien zwischen Innenstadt und Suburbium fransen aus, verschieben sich und spannen einen hybriden Übergangsbereich auf.

3.2 Variable Konstruktionen, Widersprüchlichkeiten und Hybriditäten: San Diegos hybrid urban borderlands am Rande des Zentrums Wie im Planungsdokument zur zukünftigen Flächennutzung in Downtown San Diego, dem Community Plan, angeführt wird, befindet sich das Stadtzentrum „inmitten einer Revitalisierung, die es wieder zu einem lebendigen Zentrum werden lässt“ (CCDC 2015, S. 1.9). Während im Census des Jahres 2000 (SANDAG 2003b) noch 17.513 Einwohner*innen im Innenstadtgebiet (der Centre City Community Planning Area, in welche auch das Viertel East Village mit einbezogen wird) gezählt wurden, stieg die Einwohner*innenzahl im Verlauf der folgenden zehn Jahre auf circa 179 % bzw. 31.494 (SANDAG 2016b), und damit überproportional im Vergleich zum County San Diego, in welchem die Bevölkerungszahl lediglich auf 110 % anwuchs. Darüber hinaus sank in der Zeitspanne von 2000 bis 2010 das Medianalter der Bewohner*innen der Innenstadt von 40,6 Jahren auf 36,8 Jahre, der prozentuale Anteil der (über 16-jährigen) Nichtberufstätigen minderte sich ebenfalls von circa 52 (8.330 Personen) auf rund 35 % (10.579 Personen). Der Anteil der Bevölkerung mit Bachelorabschluss oder höherem akademischem Titel stieg von 26 % im Jahr 2000 auf 47 % im Jahr 2010, die Gruppe der Akademiker*innen in Downtown und East Village wächst. Bedeutend erscheint im Vergleich der Jahrgänge auch der hohe Anstieg der Wohneinheiten in der Downtown San Diego: von 9454 Einheiten im Jahr 2000 zu 23.689 Wohneinheiten im Jahr 2010, und damit ein Zubau von ungefähr 150 %. Auch ein Gesprächspartner aus dem Bereich Wirtschaft/Planung (­GP-15) betont: Downtown San Diego verzeichnete in den 2000er Jahren „einen dramatischen Zuwachs an Wohnraum, und das war großartig. […] Petco Park gab

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den Startschuss für die Entwicklungen“.28 Die Projekte, in welche der Gesprächspartner involviert war bzw. ist, sollten Downtown zu „einem Magneten für Talent“29 verwandeln, die dabei fokussierte Zielgruppe seien „junge, gebildete und kreative Menschen. Diese Leute wollen in Downtown sein und nicht mehr in den Suburbs“30, betont er. Auch eine andere Gesprächspartnerin (GP-07) hebt hervor: „Neue Projekte kommen, man sieht, dass immer mehr Dinge gebaut werden, man sieht viel mehr Geschäfte, die in die Gegend kommen, Tacoläden und Cafés.“31 In Barrio Logan sei diese Entwicklung „wirklich ähnlich, […] [allerdings] ist die Nachbarschaft dabei sich im Zuge der Gentrifizierung zu verändern“32 (GP-07). Im Jahr 2010, als die Census Daten bereits quantitative Veränderungen in East Village aufzeigen, wäre allerdings „nichts dort gewesen, aus der Nutzerperspektive heraus war es uninteressant […]. Es gab keine Restaurants, und gestern habe ich dort in dem Geschäft gegessen, das zum besten Taco-Laden in San Diego gewählt wurde“33 (GP-15). Heute gäbe es in Downtown „Eltern mit Kinderwägen, vor neun Jahren waren es lediglich Obdachlose“34 (GP-15). Die Zukunftsvision für East Village sei Gesprächspartnerin GP-20 nach ein „wirklich wiedererkennbares Viertel, ein unkonventionelles Produzenten-Viertel, in welchem Gemeinschaft und Fußgängerfreundlichkeit hochgehalten wird, es ist wirklich großartig. Das einzige Problem ist, dass es 130 Straßenblöcke groß ist, also könnte es in Zukunft als verschiedene Teile und Bezirke beworben werden.“35 Damit werden Ideen einer zukünftigen Binnendifferenzierung des

28“a

dramatic increase of housing, and that was great. […] Petco Park kicked off significantly the development.” 29“a magnet for talent.” 30“young, educated and creative people. These people want to be downtown and not in the suburbs anymore.” 31“New development is coming, you see more stuff being built, you see a lot of more businesses coming in the area, taco shops, and coffee shops.” 32“really similar […] [but] the neighborhood is about to turn in terms of gentrification.” 33“there was nothing, from the user perspective it was not interesting […]. There was no place to eat, and yesterday I ate at the place which was voted the best taco place in San Diego.” 34“parents with strollers, and nine years ago there were only homeless.” 35“really recognizable neighborhood, a funky makers quarter space where we celebrate community and walkability, it is really awesome. The only issue is that it is 130 blocks big, so it might be promoted as different parts and districts in the future.”

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Viertels mit neuen Grenzziehungen im Zuge der weiteren Entwicklungen von Downtown artikuliert, East Village wird in diesen Gesprächspassagen als prosperierendes Stadtviertel mit vielversprechender Zukunft kommuniziert. Diesen Schilderungen gegenüber stehen allerdings auch Aussagen von Interviewpartner*innen sowie eigene Eindrücke innerhalb der teilnehmenden Beobachtungen, die ein anderes Bild der östlichen Downtown und ihrem Übergang zur Nachbarschaft Barrio Logan zeichnen. Denn bis heute enthält East Village „ein Patchwork aus alten Gebäuden, durchsetzt mit leeren Grundstücken und einer großen, einkommensschwachen und obdachlosen Bevölkerung, die sich nach der Sanierung von Gaslamp […] in diesem Sektor der Stadt konzentrierten“36 (Rumpf 2016, S. 15). Dem Gespräch mit GP-31 nach, einem Anwohner aus City Heights, wäre East Village eine “sacrifice zone” für Obdachloseneinrichtungen gewesen, und damit der Ort in San Diego, in welchem die obdachlose Bevölkerung und andernorts störende Flächennutzungen toleriert worden wären. Auch heute scheint das Viertel „weiterhin als Ort für weniger erwünschte Flächennutzungen“37 (Kayzar 2006, S. 149) zu fungieren. East Village habe diesbezüglich „immer noch eine negative Konnotation“38 (GP-11), dem Viertel fehle es darüber hinaus aufgrund der Größe und der als schlecht bewerteten Fußläufigkeit an Identität, wie Interviewpartner GP-11 in Bezug auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten bemängelt. „Obdachlosigkeit ist hier ein großes Thema. Es gibt überall Obdachlose, die in East Village leben, und das überschattet das Geschehen hier.“39 Die Präsenz der obdachlosen Bevölkerung sei GP-15 nach der Grund dafür, wieso die neuen Wohnungen in East Village nicht vollständig vermietet seien: „Viele Menschen wollen nicht in Downtown sein, sie mögen die Obdachlosigkeit nicht, aber sie wollen nahe an Downtown und an Hillcrest sein, es ist eine attraktive Nachbarschaft“40, womit er den aktuellen

36“a

patchwork of old buildings, interspaced with empty lots, and a large low-income and homeless population, which became concentrated in that sector of the city after the Gaslamp redevelopment.” 37“continues to act as an outlet for less desirable land uses.” 38“has still a negative connotation.” 39Homelessness is a big issue here. These is homeless people living everywhere in East Village, and that is overshadowing what is happening here.” 40“a lot of people don’t want to be downtown, they don’t like homelessness, but they want to be close to Downtown and close to Hillcrest, it is an attractive neighborhood.”

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Zulauf in die zentrumsnahen Urfsurbs in San Diego erklärt (entsprechend argumentierend auch GP-32). Darüber hinaus würden viele Einwohner*innen von East Village nicht vor Ort arbeiten, „meistens hat man dieses ausgehöhlte Gefühl der Downtown, es gibt keine Leute, die den Raum aktivieren“41 (GP-15). Vergleichbar ansetzend bemängelt der Gesprächspartner GP-11: „Das Wachstum übersteigt die Nachfrage.“42 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die individuellen Zuschreibungen, Erfahrungen und Deutungen der Entwicklungen in East Village deutlich widersprüchlich ausfallen. Während in einem Teil der Gespräche ein prosperierendes Stadtviertel mit kreativer, junger Bewohner*innenschaft beschrieben wird, wird innerhalb anderer Interviews insbesondere auf fortbestehende, gesellschaftliche Problematiken und den Leerstand neuer sowie alter Gebäude und Wohnungen verwiesen. Die damit beschriebenen Widersprüchlichkeiten des Viertels werden auch in der Fotocollage (Abb. 2) deutlich, in welcher das Nebeneinander sich horizontal erstreckender Einfamilienhausbebauung und vereinzelter, vertikaler Hochhäuser sowie älterer, kleinerer Strukturen und neuerer, größerer Gebäude dokumentiert wird. Damit wird letztlich das Hybride in East Village unterstrichen, die temporär auftretenden, pasticheartigen Kombinationen in der Übergangsphase eines vormals vernachlässigten Industrieund Lagerhallenviertels zu einem innerstädtischen, prosperierenden Kreativquartier (vgl. Kühne und Weber 2019a, S. 212). Darüber hinaus werden in den thematisch offen geführten Interviews und Gesprächen regelmäßig die Themen Wohnungsnot, Gentrifizierung und Verdrängung angesprochen. GP-23 erklärt: „Die Mieten steigen und es fängt an, Menschen auszuschließen.“43 Im Zuge von Änderungen der Flächennutzungsregelungen sei es, dem Interviewpartner GP-01 nach, welcher zwischen 2001 und 2013 in East Village gelebt habe, in den frühen 2000er Jahren zum Umbau zahlreicher Industriebauten gekommen, in denen sich viele Obdachlose angesiedelt gehabt hätten. In Teilen wird dabei auch auf eine Kunstszene in East Village Bezug genommen, welche im Zuge der Sanierungen „komplett zerstört wurde“44

41“most

of the time you have this hallowed out feeling of downtown, you don’t have people activating the place.” 42“The growth is exceeding the demand.” 43“Rents are going up and it is starting to exclude people.” 44“complete destroyed.”

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Abb. 2   Der hybride Übergangsbereich zwischen East Village und Southeastern San Diego. Oben links: Ausblick aus der 2013 im östlichen East Village eröffneten San Diego Central Library über den Parkplatz des Baseballstadions in Richtung Barrio Logan. Oben rechts: Blick von Sherman Heights nach East Village über die physische/administrative Grenze zwischen den zwei Nachbarschaften, die Interstate I-5. Unten links: Blick entlang der klein strukturierten Main Street in Barrio Logan (Höhe Cesar E. Chavez Parkway) nach East Village. Unten Mitte: Nebeneinander von alten, stereotyp suburbanen und neuen, stereotyp urbanen Gebäuden in East Village. Unten rechts: Blick von dem Fußgängerüberweg über die Interstate I-5 in Barrio Logan auf einstöckige Bebauung im Vordergrund und ehemalige Industriedenkmale sowie neue Mehrparteiengebäude im rechten Bildmittelgrund, Hochhausbebauung in East Village im Hintergrund. (Quelle: Aufnahmen Albert Roßmeier 2019)

(GP-13) und ihre Wohn- und Arbeitsorte verloren hätte. „Mitte der 1990er Jahre lebten und arbeiteten etwa 300 Künstler*innen in Lofts im Osten der Innenstadt, und auch zahlreiche kleine Veranstaltungsorte, Kunstgalerien und Designschulen bevölkerten das Gebiet“45 (Kayzar 2006, S. 148). Die Gesprächspartnerin GP-13

45“By

the mid-1990s though, roughly 300 artists were residing and working in live/work lofts in the east end of downtown and numerous small performance venues, art galleries, and design schools populated the area as well.”

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betont: „Der Baseballplatz [Petco Park] war das Ende des East Village als künstlerisches Zentrum“46, es sei zu einer „radikalen Verdrängung“47 (GP-31) der Bevölkerung von East Village in Richtung Osten gekommen (GP-13), wodurch nun Barrio Logan als „neues offizielles Kunstviertel“ (GP-10) fungiere und wahrgenommen werden würde. Seit den Restrukturierungen in Downtown komme es zu ­„‚spill-over‘-Effekten“48 (GP-17), die Stadt wachse laut Interviewpartner GP-30 „Richtung Süden, nach Barrio Logan“49 und Gentrifizierungsprozesse seien die Folge (GP-09, GP-10, GP-13, GP-22, GP-26, GP-30; vgl. auch Kühne und Schönwald 2015a, S. 239). Damit geht ein Wandel in der Wahrnehmung der südöstlich an die Innenstadt grenzenden Nachbarschaften einher: „Früher als einkommensschwaches, ethnisiertes mexikanisch-amerikanisches Viertel stigmatisiert, wurde Barrio Logan kürzlich zu einer ‚up-and-coming‘ Künstlerenklave umkodiert, die ‚authentische‘ kulturelle Erfahrungen für abenteuerlustige Urbaniten bietet“50 (Delgado und Swanson 2019, S. 13). Entsprechend wird die Nachbarschaft auch seitens der San Diego Tourism Authority (2019) kommuniziert, Barrio Logan sei „ein verborgenes Zentrum der Kunst.“51 Dem gegenüber stehen Konstruktionen von Interviewpartner*innen wie bspw. GP-26, einem aztekischen Tänzer aus Barrio Logan: das Viertel sei geprägt von der „Geschichte rassistischer Diskriminierung […]. Die Kunst und die Künstler [aus East Village] waren lediglich ein Werkzeug zur Ausdehnung der Grenze. Sie haben die Grenze nach Barrio Logan hinein ausgedehnt, obwohl Barrio Logan bereits ein Künstlerzentrum war.“52 Dabei wird deutlich, dass die Nachbarschaft unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten und -ansätze bietet, welche sich im Verlauf der Umbrüche auch wandeln. Dem entsprechend berichtet GP-09, ein Immobilienentwickler aus

46“The

Ballpark was the end of East Village as the artistic centre.” displacement.” 48“spill over effects.” 49“to the south, towards Barrio Logan.” 50“Formerly stigmatized as a low-income, racialized Mexican American neighborhood, Barrio Logan has recently been re-codified as an ‘up- ­and-coming’ artistic enclave offering “authentic” cultural experiences for adventurous urbanites.” 51“a hidden hub for art.” 52“history of racial discrimination […]. The arts and artist were only a tool used to expand the border. They expanded the border into Barrio Logan, even though Barrio Logan was already an artistic hub.” 47“radical

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Barrio Logan, dass die Nachbarschaft früher afroamerikanisch und lateinamerikanisch geprägt gewesen sei und „die Leute wirklich Angst vor Barrio Logan hatten […]. Die Leute sind hier nicht hergekommen“53 (so auch GP-10), denn dem Viertel habe eine schlechte Reputation angehaftet. „Die Sache, die das geändert hat, ist der Einfluss der Brauereien und Restaurants.[…] Die Bars und Restaurants, die sich hier angesiedelt haben, haben Barrio Logan geholfen, sich für andere Menschen zu öffnen“54 (GP-09). Vergleichbar darstellend schildert auch GP-28 einen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung Barrio Logans von einem gefährlichen Viertel und einer „desinvestierten Gegend [zu] einer Gegend der Möglichkeiten. […] Irgendwie versuchen die Menschen jetzt, sich Zugang dazu zu verschaffen, sie fühlen sich nun wohler mit dieser Art des Grenzüberganges von der Innenstadt nach Barrio Logan.“55 Nun sei Barrio Logan „cool zu erkunden“56 (GP-09), die in Barrio Logan vorgefundene Hybridität wird ästhetisiert, jedoch distanziert wertgeschätzt. Denn „die Leute leben hier nicht wirklich, sie pendeln ein.“57 Es ergibt sich ein „Konflikt zwischen ­ästhetisch-affirmativer und sozial-ökonomisch ablehnender Deutung des Fremden (hier des Mexikanischen)“ (Kühne und Schönwald 2018, S. 412; entsprechend auch GP-21). Die in mehreren Gesprächen geschilderte Angst und das Fernbleiben von der Nachbarschaft mildert sich im Laufe der Gentrifizierungsprozesse zu Neugierde und einem ‚Erkunden‘, wobei jedoch stets soziale und ethnische ‚othering‘-Prozesse (Van Houtum und Van Naerssen 2002) stattfinden. So berichtet auch der Immobilienentwickler GP-27 von einem Desinteresse der San Dieganer nach Barrio Logan zu ziehen, „aber das beginnt sich jetzt gerade alles zu verändern.“58 Ein „Kampf der Verdrängung“59 (GP-17) entstehe. Denn mit dem Einsetzen der Verdrängungs- und Gentrifizierungsprozesse verschieben sich gewisse Grenzen, die Wohn- und Aufenthaltspräferenzen, aber auch

53“people

used to be really scared of Barrio Logan.” thing which changed that, is the influence of breweries and restaurants. […] The bars and restaurants which came here, helped Barrio Logan to open up for other people.” 55“disinvested area [to] an opportunity area. […] Now somehow, people are trying to access it, people became more comfortable with that kind of crossing, I guess, of that border from downtown to Barrio Logan.” 56“cool to explore.” 57“people don’t really live here, they commute into here.” 58“but all of that is starting to change now.” 59“battle of displacement.” 54“The

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Zugänglichkeits- und Teilhabemöglichkeiten in der Stadt abstecken. Dabei zeigen sich die in den 1980er und 1990er Jahren stattgefundenen „spill over-Effekte verfallender Gegenden aus den Innenstädten in die inner-ring suburbs“60 (Lee und Leigh 2007, S. 148) nun im ersten Ring und führen zur „Verdrängung der der Arbeiterschicht angehörenden Bewohner*innen“61 (Markley 2018, S. 607) aus den inner-ring Nachbarschaften in die Viertel des nächsten Rings (vgl. Kühne et al. 2017, S. 183). In diesem Prozess stiegen die Grundstückspreise in Barrio Logan an, wie GP-09 beschreibt. Auch die Census Daten (SANDAG 2003a, 2016a) zeigen einen Anstieg des Medians der Grundstückswerte von $111,207 im Jahr 2000 auf $428,906 im Jahr 2010. Doch nicht nur Barrio Logan, auch andere Nachbarschaften in Southeast San Diego wie Golden Hill habe eine Gentrifizierungsphase erreicht. GP-13 beschreibt: „Golden Hill war früher nur Arbeiterklasse und eine der erschwinglichsten Wohngegenden. Doch auch diese wurde in eine der Hipstergegenden verwandelt, mit alten, historischen Wohngebäuden.“62 Diese Umbrüche führen dazu, dass „mehr und mehr Orte nun als Downtown bezeichnet werden.“63 Was aktuell als Innenstadt und was als Suburbium des inneren Rings gilt, wird immer unklarer, wie auch anhand der uneindeutigen Abgrenzungen in der kartographischen Darstellung (Abb. 3) visualisiert wird. Abschließend kann festgehalten werden, dass die Restrukturierungen und damit einhergehenden Wandlungsprozesse in der Innenstadt San Diego in deren Randgebiete vordringen und dabei auch in den angrenzenden Urfsurbs zu einer funktionalen Ausdifferenzierung und pasticheartigen Hybridisierungen führen. Dabei zeigt sich vor allem, dass die individuellen Deutungen der Viertel subjektiven Konstruktionsprozessen und damit auch Wandlungsprozessen unterliegen. Im Hinblick auf die Verschneidung stadtgeographischer und grenztheoretischer Fragestellungen wurde deutlich, dass mit den Prozessen der Nachverdichtung und Umnutzung am Zentrumsrand auch eine Adaption von intra-urbanen Grenzen einhergeht. Im weiteren Sinne findet einerseits ein debordering statt, eine Erweiterung des Siedlungsraumes um ‚urbane Erlebnisräume‘ und damit eine Verzahnung von vormals getrennt gedachten Raumkompartimenten, andererseits kommt es zu einem rebordering, wodurch

60“spill

over effects of blighted areas from the inner cities to the inner-ring suburbs.” of ­working-class residents.” 62“Golden Hill was all working class and one of the cheapest places to live. But it got turned into one of the hipster areas, too, with old historic homes.” 63“more and more spots are being called downtown.” 61“displacement

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Abb. 3   Offizielle Grenzen und Zonen der Downtown und innenstadtnahen Gebiete San Diegos. Unterschiedlich, uneindeutig abgegrenzter Bereich im Übergang von East Village zu Barrio Logan hervorgehoben (Kartographie: Albert Roßmeier)

räumliche Teilhabe reguliert wird und sich Ausgrenzungsprozesse vollziehen (vgl. Gibson und Canfield 2016; Liao et al. 2018; Scott und Sohn 2018). Doch ist die Tragweite dieser Prozesse von individuellen Faktoren, wie dem Bestand ökonomischen bzw. symbolischen Kapitals abhängig und wird daher auch unterschiedlich wahrgenommen. Diesen Aspekten folgend wird hier von hybrid urban borderlands gesprochen, von mehrdeutigen, hybriden Grenzräumen (allg. dazu

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auch Biemann und Weber 2020 sowie Crossey und Weber 2020 in diesem Band), die sich klaren Deutungen und Zuschreibungen entziehen und damit die Gegensätzlichkeit urbaner und suburbaner Räume infrage stellen.

4 Fazit: hybrid urban borderlands in San Diego und anderswo Ziel des vorliegenden Beitrages war es, der Frage nachzugehen, inwiefern aktuelle Inhalte der Stadtlandforschung um die Prozesse der Stadtlandhybridisierung und einer damit einhergehenden Urfsurbanisierung (Urbanizing former suburbs; Kühne 2012, 2016, 2017; Kühne und Schönwald 2015b; Kühne et al. 2016, 2017; Kühne und Weber 2019b; Weber und Kühne 2017) anschlussfähig sind an Ausrichtungen der interdisziplinären Border Studies. Dabei wurden in einer sozialkonstruktivistisch ausgerichteten, multimethodischen Untersuchung der Nachbarschaften East Village und Barrio Logan in San Diego physischräumliche wie gesellschaftliche Umbrüche im Rahmen von Reurbanisierungsund Gentrifizierungsprozessen fokussiert. Mit der Erweiterung der Analyse von innenstadtnahen Wandlungsprozessen auf Nachbarschaftsebene um eine grenztheoretische Perspektive wurde ein alternativer Zugang zu Aspekten von räumlicher Teilhabe und der Wahrnehmung von Ausgrenzung sowie Verdrängung erarbeitet (vgl. Paasi 1998, S. 73; Scott und Sohn 2018, S. 5; Van Houtum und Van Naerssen 2002, S. 126). Hierzu wurde der Terminus der hybrid urban borderlands eingeführt, welcher den uneindeutigen Grenzbereich bezeichnet, der im Zuge der Neuverhandlung offizieller, physischer sowie individuell-imaginärer Grenzen zwischen Innenstadt und außen liegenden Nachbarschaften entsteht und dabei die Polarität unterschiedlicher Deutungskategorien zugunsten hybrider Mischformen infrage stellt. Die hybrid urban borderlands sind Räume der möglichen Koexistenz, der gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung, in welchen Teilhabe, Zugehörigkeit und Zugänglichkeit temporär neu verhandelt und reguliert werden und deren weitere Entwicklung ungewiss ist. Mit dieser konzeptionellen Einordnung wurde letztlich eine Geographie der urbanen Grenzen angestoßen, die der uneindeutigen Grenzspezifik von sozialräumlicher Abtrennung und Verflechtung sowie den damit einhergehenden, gesellschaftlichen (Un-)Ordnungen im urbanen Kontext Rechnung trägt. Die Tatsache, dass sich die Prozesse einer Stadtlandhybridisierung und einer Ausdehnung innenstadttypischer Räume nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Teilen der Welt wie bspw. in Frankreich (Weber 2019; Weber und Kühne 2017, 2020) vollziehen, verleiht dem Begriff der

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hybrid urban borderlands international an raum- und sozialwissenschaftlicher Relevanz. Resümierend kann festgehalten werden, dass insbesondere im Hinblick auf die zukünftigen Chancen und Herausforderungen im Zuge der Nachverdichtung und Transformation von Nachbarschaften im inneren Ring (Puentes und Warren 2006, S. 1; Sierra 2019, S. 4) alternative Zugänge zu individuellen Deutungen und Zuschreibungen, wie im vorliegenden Beitrag in neopragmatischer Herangehensweise (Chilla et al. 2015; Eckardt 2014; Kühne 2019c; Kühne und Weber 2019a, S. 48–50) erarbeitet, als sinnvoll zu erachten sind. Denn mit den Entwicklungsimpulsen einer Verdichtung und Ausdifferenzierung von innenstadtnahen Vierteln ergeben sich nicht nur Potenziale auf nachbarschaftlicher, sondern auf gesamtregionaler Ebene, denen in Form einer multiperspektivischen, „netzwerkorientiert[en]“ (Kühne 2017, S. 28) Planung zu begegnen ist. Transdisziplinär ansetzend scheint hierzu auch eine stärkere, analytische Ausrichtung auf Aspekte stadtlandhybrider Konflikte zielführend, welche es in zukünftigen Forschungen um einen grenztheoretischen Blick in Richtung intra-urbaner Grenzkonflikte zu erweitern gilt.

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Albert Roßmeier  studierte Landschaftsarchitektur mit Schwerpunkt Stadtplanung an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, anschließend im Masterstudiengang ‚Humangeographie/Global Studies‘ an der Eberhard Karls Universität Tübingen. An der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf war er von Winter 2015 bis Winter 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem durch das Bundesamt für Naturschutz geförderten Vorhaben zum Landschaftswandel im Zuge der Energiewende beschäftigt. Von Winter 2016 bis Frühling 2019 hat er an der Eberhard Karls Universität Tübingen unter anderem in dem EU-Projekt „LIFE living Natura 2000“ geforscht. Aktuell promoviert er zur Transformation von innenstadtnahen Suburbs und Prozessen urbaner Grenzziehungen in San Diego, USA. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern Energiewende, Landschaftswandel und städtische Entwicklungsprozesse in Europa sowie Nordamerika.

Postmoderne Siedlungsentwicklungen in Baton Rouge, Louisiana: Stadtlandhybridität und Raumpastiches zwischen Begrenzungen und Entgrenzungen Olaf Kühne, Corinna Jenal und Lara Koegst Zusammenfassung

Mit postmoderner Raumentwicklung wird häufig die Trennung von Raumeinheiten in Form von Fragmentierungsprozessen in Verbindung gebracht. Solche Entwicklungen finden sich auch in Baton Rouge (Louisiana), einerseits in der natürlich angelegten Barriere des Mississippis in Richtung Westen, andererseits auch in der dichotomen Trennung von Baton Rouge entlang der Florida Street/Boulevard. Diese trennt Baton Rouge in einen Norden mit Bewohner*innen schwarzer Hautfarbe mit im Vergleich zum Süden mit Bewohner*innen weißer Hautfarbe deutlich verminderten Lebenschancen, unter anderem in Bezug auf Einkommen, Bildung, Teilnahme am Verkehr und auf Umweltqualität. Daneben dominieren in Baton Rouge physische Manifeste der Durchmischung von Natur und Kultur sowie Städtischem und Ländlichem. Auch die Downtown konnte in Relation zu vergleichbaren Siedlungen eine besondere Urbanität ausprägen, wenngleich in den letzten Jahrzehnten das Bemühen um Reurbanisierung erkennbar ist. In der

O. Kühne (*) · C. Jenal · L. Koegst  Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Jenal E-Mail: [email protected] L. Koegst E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Weber et al. (Hrsg.), Geographien der Grenzen, Räume – Grenzen – Hybriditäten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30950-3_18

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O. Kühne et al.

Konsequenz lässt Baton Rouge zahlreiche Strukturen erkennen, die sich als postmodern deuten lassen, wenngleich sie häufig weniger aus einer räumlichen Organisation emergieren als schlicht mittels einer Verweigerung der Modernisierung in der Vormoderne wurzeln.

1 Einleitung Postmoderne Siedlungsentwicklungen wurden in den vergangenen mehr als drei Jahrzehnten umfangreich aufgearbeitet. Ausgangspunkt bildete Los Angeles, dem – insbesondere seitens der Los Angeles School of Urbanism – eine prototypische Bedeutung dafür zugeschrieben wurde (unter vielen: Bratzel 1995; Dear et al. 1996; Dear 2005; Keil 1998; Kühne 2012a; Laux und Thieme 2008; Scott und Soja 1996; Soja 1994, 1996; Thieme und Laux 1996). Die Arbeiten zur postmodernen Siedlungsentwicklung betonten zu Beginn stärker die Fragmentiertheit, die Ab- und Ausgrenzungserscheinungen in postmodernen Siedlungsgefügen, erst allmählich gelangen verstärkt Erscheinungen des Hybriden und Vernetzenden in postmodernen Siedlungen in den Fokus (etwa bei: Bramham und Wagg 2009; Drzewiecka und Nakayama 1998; Kühne und Schönwald 2015, 2018; Roßmeier 2019; vgl. auch Roßmeier 2020 in diesem Band). Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, in welcher Weise sich im Raumpastiche (der Terminus wird an späterer Stelle erläutert) von Baton Rouge, der Hauptstadt des Bundesstaates Louisiana, fragmentierende und hybridisierende wie auch vernetzende Siedlungsentwicklungen nachvollziehen lassen. Oder, um in der Terminologie des Bandes zu bleiben, ob sich soziale und physische Strukturen und Prozesse gegeneinander strikt abgrenzen oder Übergangssäume, Hybriditäten unterschiedlicher Intensität ausbilden und wie sich Grenzen, Säume und Hybriditäten unterschiedlich räumlich ausprägen und gegebenenfalls auch überlagern (siehe unter anderem: Ha 2006; Ipsen 2006; Kühne und Meyer 2015; Sahr und Wardenga 2005; Schönwald und Kühne 2014; allg. auch Weber et al. 2020 in diesem Band). Baton Rouge ist eine Siedlung, die weniger im Fokus der nationalen und internationalen raumbezogenen Wissenschaften steht. Obwohl Hauptstadt des Bundesstaates Louisiana, einer der bedeutendsten Standorte der Ölindustrie im Süden der Vereinigten Staaten sowie Hauptstandort der Louisiana State University (LSU), fand die letzte umfassendere geographische Auseinandersetzung mit Baton Rouge vor rund sechs Jahrzehnten in deutscher Sprache statt (Brill 1963), eine Untersuchung, auf die wir uns mit unserer aktuellen Studie (Kühne und Jenal 2020) stützen konnten. Baton Rouge kann hinsichtlich der Ausprägung von Raum-

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pastiches nicht allein als Beispiel für eine Metropolregion mittlerer Größe, sondern auch für eine der Südstaaten, freilich beeinflusst durch eine spezifische lokale Historie gelten (zur Geschichte von Baton Rouge siehe: Armstrong 2010; Carleton 1981; Rodrigue und Phillips 2011; zum Ineinandergreifen lokaler, regionaler und überregionaler Einflüsse und ihren Manifesten in Siedlungen: Berking 2013; Berking und Löw 2008; Frank 2012; Kühne und Schönwald 2015). Unser Beitrag befasst sich zunächst knapp mit einigen konzeptionellen Überlegungen zur aktuellen Siedlungsentwicklung, mit Fokus auf Hybridisierungsprozesse im postmodernen Raumpastiche. Im Anschluss daran sollen wesentliche Meilensteine der ‚Siedlungsbiographie‘ von Baton Rouge charakterisiert werden, bevor wir uns den aktuellen Ausprägungen des Siedlungspastiches von Baton Rouge widmen wollen, um dann den Beitrag mit einem Fazit zu Begrenzungen und Entgrenzungen zu schließen.

2 Konzeptionelle Überlegungen zu aktuellen Stadtentwicklungen Die wissenschaftliche Untersuchung postmoderner Siedlungsentwicklungen fokussierte sich – wie in der Einleitung angesprochen – stark auf die räumlichen Folgen von Individualisierung, sozialer Fragmentierung, ‚Neoliberalisierung‘, dem Verlust geordneter (fordistischer) ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen und bezogen sich stark auf ‚Rauminseln‘, wie gated communities, ethnisch, ökonomisch und/oder sozial segregierte Siedlungsteile, auf Konsumlandschaften, wie shopping malls oder urban entertainment centers. Entsprechend endeten die Versuche, „die neue, postmoderne Struktur der Stadt zu charakterisieren“ in einem Rückgriff „auf das Bild eines Gitters oder Netzes[-], wobei allerdings nicht die Figur eines Spinnennetzes, sondern die eines Tornetzes oder auch die eines Fangzauns gemeint ist“ (Basten 2005, S. 57). Der Abschied von modernen Entwicklungsschemata zugunsten individueller Lösungen, häufig in Kooperation zwischen lokalem Staat und privaten Investoren (vgl. z. B. Degen 2008), bedeutete auch den Abschied der Stadtplanung, „ein einheitliches Stadtbild zu gestalten“ (Löw 2010, S. 154; dazu auch Sieverts 1998). Sowohl die moderne Stadtplanung als auch die frühe postmoderne Siedlungsentwicklung bediente sich analytisch und normativ des Prinzips der Grenze, der Konstruktion von Eindeutigkeiten, in diesund jenseits der gedachten Linie. Die so geformten Grenzen sind in erster Linie Folgen des Sozialen, wie Georg Simmel in seinem berühmten Zitat aus dem Jahre 1908 feststellte: „die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“

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(Simmel 2001, S. 467). Diese primär soziale Formung bleibt auch bestehen, wenn sich ehemals scharf gezogene Grenzen in Ränder und Hybridräume differenzieren. Gerade das Konzept von ‚Hybridität‘ und ‚Hybridisierung‘ wurde im Kontext der zunehmenden Verbreitung postmoderner Perspektiven (siehe z. B. Vester 1993), in den Kultur- und Sozial-, weniger wie gezeigt, in den Raumwissenschaften aufgegriffen. So wird ‚Hybridisierung‘ zu einer „Metapher für kulturelle Vermischung“ (Hein 2006, S. 59; vgl. auch Ha 2005), wobei ‚Kultur‘ als ein „work in progress“ (Ackermann 2004, S. 144) gedeutet wird. Anstatt Kultur also essenzialistisch zu deuten (dazu: Glasze und Thielmann 2006), wird sie als Prozess der Aushandlung zwischen Menschen um gemeinsam geteilte Deutungsund Bewertungsmuster konzipiert. Dabei ist Hybridität entsprechend „kein dritter Begriff, der die Spannung zwischen zwei Kulturen oder die beiden Szenen des Buches in einem dialektischen Spiel der ‚Erkenntnis‘ auflöst“ (Bhabha 2000 [engl. Original 1994], S. 168). Vielmehr meint Hybridität eine „Strategie der Vermischung und Aushandlung von Differenzen“ (Hein 2006, S. 55). Ein solches Verständnis von ‚Hybridisierung‘ lässt sich in mehrfacher Weise für die Untersuchung von aktuellen Siedlungsentwicklungen fruchtbar machen. Dies geschieht etwa in den Raumkonstruktionen und physischen Manifestationen von Hybridkulturen, etwa der Chicanos, die für sich eine Mischkultur aus nordund lateinamerikanischer Komponenten entwickelt haben (vgl. hierzu Kühne et al. 2013; Schönwald 2016; Sperling Cockcroft und Barnet-Sánchez 1993) oder ‚Kulturnaturhybride‘, die Ausdruck der Erkenntnis sind, dass heute schwerlich physische Räume denkbar sind, die vom Menschen unbeeinflusst sind, der Neologismus ‚Anthropozän‘ (Crutzen 2006) zeugt davon, aber auf Ebene der Begriffe, ‚Natur‘ letztlich nur ein soziales Konstrukt darstellt und somit kulturlichen Ursprungs ist (Kühne 2012b). In dem Kontext der Siedlungsforschung gewinnt unter den hier dargestellten Hybriditätskonzepten der ‚Stadtlandhybrid‘ (Kühne 2012a; weiterführend: Kühne 2016a; Kühne und Schönwald 2015; Kühne et al. 2017; Weber 2017) eine besondere Bedeutung. Siedlungen differenzieren sich sowohl in struktureller (wie in Bezug auf Bebauung, Infrastruktur), funktionaler (z. B. zentralörtlicher), aber auch lebensweltlicher Hinsicht (also hinsichtlich des Bemühens für sich persönlich und das eigene Umfeld, die Elemente des Lebens wie wohnen, arbeiten, sich versorgen, sich erholen etc. angesichts der ökonomischen, administrativen, familiären etc. Situation möglichst reibungsarm zu organisieren). ‚Standlandhybride‘ sind aber auch in emotionaler (etwa in Bezug auf eine ‚Verheimatung‘), wie auch ästhetischer (Räume nach den Deutungsmustern Schönheit/Hässlichkheit/Erhabenheit/Pittoreskheit/Kitsch zu deuten) und kognitiver Hinsicht (z. B. in Form von Raumbeschreibung und ­-verständnis) wirksam (Kühne und Weber 2019). ‚Stadtlandhybride‘ legen auch

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eine alternative Deutung des ‚Suburbanen‘ nahe, wie Gailing (2015, S. 85) pointiert feststellt: „Suburbane Räume sollten auch als subrurale Räume beachtet werden“. Das Verständnis von ‚Stadtlandhybriden‘ bedeutet indes keine Rückkehr zum Denken in (modernen) Gradienten (‚Stadt-Land-Kontinuum‘), vielmehr sind sie in ‚Raumpastiches‘ (Kühne 2006) mit Kompartimenten unterschiedlichen Hybriditätsgrades angeordnet (Hofmeister und Kühne 2016; hierzu allgemein auch Weber und Kühne 2016). Das Wort ‚Pastiche‘ bedeutet „nicht einfach Entdifferenzierung, sondern setzt Differenzbildung voraus, um dann zu Hybridkreuzungen, Rekombinationen, Reintegrationen zu führen“ (Vester 1993, S. 29; mehr dazu siehe z. B. Hoesterey 2001). Differenz ist „nicht nur eine relative, das heißt auf ein Gemeinsames bezogene Verschiedenheit“ (Scherle 2016, S. 61) zu verstehen, sondern auch eine Verschiedenheit, „die durch kein einheitliches Fundament (mehr) zusammengehalten wird und die klassische Frage nach der Relation des Einen und des Vielen, des Allgemeinen und des Spezifischen aufbricht“ (Scherle 2016, S. 61). ‚Raumpastiches‘ entstehen aus Kompartimenten unterschiedlichen Grades an Hybridität, wobei sich die Hybriditäten zumeist auch überlagern: Raumkompartimente weisen spezifische Kombinationen etwa von Stadtland-, Naturkultur- und differenzierter kultureller Hybridität, aber auch unterschiedlicher Gestaltungsformen (etwa dem Zitieren vergangener Baustile), dem Verschmelzen vormals getrennter Sphären des Lebens (etwa Freizeit und Arbeiten in Parks und Cafés oder von Arbeit und Transport, wie der verbreiteten Arbeit in der Eisenbahn, infolge von ‚Fahrplanabweichungen‘ häufig länger als ursprünglich geplant; unter vielen: Aitken und Zonn 1994; Hofmeister 2008; Kratzer und Lange 2006; Kühne 2006, 2012a 2017; Kühne und Schönwald 2015; Sauer 2012; Schönwald 2017; Zierhofer 2003). Als Beispiel für die Bildung von Raumpastiches können ‚Edgeless Cities‘ (Lang 2003) gelten. Sie lassen sich als eine weitere Stufe der Raumstrukturalen und -funktionalen Entgrenzung der modernen Stadt begreifen, die einen ersten Höhepunkt in der Entstehung von ‚Edge Cities‘ (Garreau 1992), der Konzentration von Dienstleistungsaktivitäten in verkehrsgünstiger Lage (etwa an bedeutenden Flughäfen oder Autobahnkreuzungen) begonnen hatte. Edgeless Cities setzen diesen Entgrenzungsprozess fort, indem sie zentralörtliche Funktionen in vielerlei Formen, Größen und Dichten und vielfältigen Anordnungen bündeln, häufig entlang und im Umfeld bedeutender Straßen (Lang et al. 2013, S. 727). Da sie sich schwerlich abgrenzen lassen, fehlt ihnen ein klares ‚Außen‘ und auch das ‚Innere‘ lässt sich nur schwer definieren, weswegen „sie nicht als ein Ort wahrgenommen werden“ (Lang et al. 2013, S. 732). Vormals klare Grenzen verwischen, es entstehen hybride Grenzräume (Weber und Kühne 2020).

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Als eine weitere emergente Komponente im postmodernen Raumpastiche können ‚urbanizing former suburbs‘ (URFSURBS; Kühne 2016a 2017; Kühne und Schönwald 2015; Kühne, Schönwald, Weber 2016, 2017; Weber und Kühne 2017) gelten. Sie beschreiben die Ausdehnung ‚urbaner‘ Lebensstile, häufig aber auch Funktionen (z. B. des Arbeitens in der Kultur- und Kreativwirtschaft mit einer hybriden Arbeit-Freizeitgestaltung) sowie Strukturen (etwa in Form von bestimmten ‚innenstadttypischen Gebäuden‘, wie Hochhäusern, mit gemischter Nutzung, von Gastronomie und spezialisiertem Einzelhandel im Erdgeschoss, darüber Appartements und Büros bzw. irgendetwas dazwischen; vgl. Kühne 2016a 2017; Kühne und Schönwald 2015; Kühne, Schönwald, Weber 2016, 2017; Weber und Kühne 2017). URFSURBS sind Ausdruck des Attraktivitätsverlustes ‚klassischer Suburbien‘ (infolge u. a. sinkender Attraktivität eines ‚klassischen familiären Lebensstils‘, steigenden Energiepreisen; vgl. auch Häußermann 2009; Gallagher 2013; Hanlon 2008, 2010; Hesse 2008, 2010). Die Intensität der Überformung der ehemaligen suburbanen Siedlungen variiert dabei von einer Beibehaltung der physischen Strukturen und Nutzungen durch eine Bewohnerschaft mit einer höheren Ausstattung symbolischen Kapitals (Bourdieu 1989) über die (weitgehende) Beibehaltung der physischen Strukturen und einem Nutzungswandel oder einer Beibehaltung der Nutzungsart bei gleichzeitiger Revision physischer Strukturen (etwa Ersatz mehrerer Einfamilienhäuser zur Errichtung größerer Appartementhäuser) bis hin zu einer völligen Revision von Nutzung und physischen Strukturen (Kühne 2016a 2017; Kühne, Schönwald, Weber 2016). Die Bildung von räumlichen Pastiches vollzieht sich insbesondere dort in besonderer Intensität, wo der politische/planerische Einfluss auf die Raumentwicklung schwach ausgeprägt ist (wie etwa in den Vereinigten Staaten oder dem heutigen Polen; vgl. Gawroński 2015; Kühne 2012a, 2016b). Weniger ausgeprägt ist sie in Staaten, in denen administrative Eingriffe in die Raumentwicklung auf den unterschiedlichen Ebenen intensiver sind. Insofern lässt das Beispiel Baton Rouge eine starke Raumpastichebildung erwarten, ist Neigung und Fähigkeit des lokalen Staates hier besonders gering ausgeprägt, in die Raumentwicklung einzugreifen (Burby 2000).

3 Vom Roten Pfahl am Ufer des Mississippi bis zur Krise der Ölindustrie – Aspekte der Entwicklung von Baton Rouge Der Name der Siedlung ‚Baton Rouge‘ (frz. für ‚Roter Pfahl/Stock/Stab‘) geht auf die Zeit der Erkundungen, Missionierungen und Unterwerfungen der beiden Amerikas durch Europäer zurück. In diesem Falle auf Pierre le Moyne, Sieur

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D’Iberville, und seinen Bruder Bienville. Bei ihrer Expedition den Mississippi aufwärts entdeckten sie im Jahre 1699 auf dem Territorium der heutigen Stadt einen roten Pfahl (andere Autor*innen gehen von einer großen Zypresse aus). Sie versahen das Terrassengelände mit seinem steilen Ufer zum Mississippi mit diesem topographischen Namen. Die Besiedlung des Raumes bleib jedoch lange verhalten: Im Jahre 1721 erfolgte eine erste permanente europäische Besiedlung (Landwirtschaftsbetrieb der Brüder D'Artaguette). Bis zur Wende 18./19. Jahrhundert bemühten sich Franzosen, Spanier und Engländer (als wechselnde Kolonialmächte) um die Besiedlung des Raumes, kamen jedoch über kleinere Agglomerationen von Gebäuden nicht hinaus (Carleton 1981; Rodrigue und Phillips 2011). Erst um das Jahr 1810 erlangte die Siedlung eine gewisse zentralörtliche Bedeutung, insbesondere als Handelsplatz für die landwirtschaftlichen Güter der Umgebung, infolge des an Bedeutung gewinnenden Mississippihandels (Brill 1963). In diese Zeit fielen wiederum politische Turbulenzen: Zunächst wurde Louisiana, und damit auch Baton Rouge, Teil eines unabhängigen West Floridas, dann im Jahre 1812 zu einem US-Bundesstaat. Die liberale Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten stimulierte Handel und Landwirtschaft. Bis zum Beginn des Bürgerkriegs entwickelte sich Baton Rouge zu einem regional bedeutenden Handelszentrum, 1850 wurde es Sitz des Parlaments von Louisiana, was einen temporären Entwicklungsschub bedeutete (Brill 1963; Douglas 1955). Dieser wurde durch die indirekten Folgen des Bürgerkriegs jäh beendet: Baton Rouge verlor vorübergehend seine politische Bedeutung (teilweise Zerstörung des Old Louisiana State Capitols durch Kriegshandlungen und Rekonstruktionsära, in der die politische Selbstbestimmung der ehemaligen Konföderationsstaaten eingeschränkt war), der Handel brach ein, die Sklavenbefreiung erforderte eine neue Organisation der Plantagenwirtschaft. Im Jahre 1879 wurde in der Verfassung Baton Rouge als Hauptstadt von Louisiana festgeschrieben, womit es bis heute seine Bedeutung als administratives und politisches Zentrum Louisianas sicherte. Die sich nach der Restrukturierungsphase effizienter organisierende Plantagenwirtschaft (was wiederum zahlreiche schwarze Arbeiter*innen freisetzte, die häufig in die Städte, so auch nach Baton Rouge zogen) wie auch der stetig wachsende Mississippihandel ließen Baton Rouge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Größe heranwachsen, die eine Straßenbahn lukrativ machte (bis in die 1920er Jahre durch Maultiere gezogen, danach elektrifiziert, heute seit langem stillgelegt; Carleton 1981; Draughon Jr. 1998; Rodrigue und Phillips 2011; Woodward 1981). Doch blieb die Gestalt der Stadt zur Wende des 19. zum 20. Jahrhundert wenig urban: Lediglich entlang der westlichen Straßen entlang des Mississippiufers fanden sich mehrstöckige und steinerne Gebäude, die übrigen

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waren zumeist hölzern und einstöckig, die Straßen in der Regel unbefestigt, im Regen häufig unpassierbar (Brill 1963). Theoretisch gerahmt: Das moderne Denken in Dichotomien (Stadt-Land, Natur/Kultur) konnte sich (mangels politischer Gestaltungskraft und ökonomischen Kapitals) in Baton Rouge bis zu diesem Zeitpunkt nicht im physischen Raum manifestieren. Auch wenn der Wille zur politisch-administrativen Raumgestaltung in Baton Rouge weiter verhalten blieb, änderte sich die Verfügbarkeit ökonomischen Kapitals Ende des ersten Jahrzehnts fundamental: Im Norden der Stadt, am Ufer des Mississippis errichtete Standard Oil im Jahre 1909 eine Erdölraffinerie. Die nun folgende rasante Industrialisierung und Verstädterung von Baton Rouge ließ „nur wenige Elemente der Stadt des 19. Jahrhunderts intakt“ (Brill 1963, S. 73). Mit der Errichtung des neuen Campus der Louisiana State University (LSU) im Süden des Stadtgebietes entwickelte sich Baton Rouge zur ‚Tripole City‘ (Kühne und Jenal 2020; siehe auch Ruffin 2006), wie sie heute besteht, eine Stadt zwischen LSU (die ebenfalls in Baton Rouge lokalisierte Southern University verfügt nur über einen Bruchteil an Studierenden, Personal und Ressourcen), öffentlicher Verwaltung (insbesondere des Bundesstaates Louisiana, aber auch der Behörden der East Baton Rouge Parishs, vergleichbar mit einem Landkreis in Deutschland, wie auch der Stadt) und der Ölindustrie. Deren weltkriegsbedingter Boom bescherte Baton Rouge ein Bevölkerungswachstum in den 1940er Jahren von knapp 270 %. Die solchermaßen entstandene Siedlungsstruktur war (im Vergleich zu Städten ähnlicher Größe und Bedeutung) durch eine große Inanspruchnahme von Flächen durch die öffentliche Hand, einen schwach ausgeprägten Central Business District, sowie eine unterdurchschnittlich entwickelte Verkehrsinfrastruktur wie auch einen Fokus auf eine investorengetriebene Raumentwicklung geprägt. Insbesondere die letzten drei Aspekte stehen in engem Bezug zu einem sehr schwach ausgeprägten politisch-administrativen Eingriff in die Raumstruktur. Das Ergebnis war eine stark dezentral und von ihren Nutzungen sehr heterogen entwickelte Raumstruktur, die sich nahezu als insulär bezeichnen lässt, verbunden durch eine schwach ausgeprägte Infrastruktur (Bartholomew 1945, 1948), eine Struktur die sich bis in die heutige Zeit fortsetzt (Kühne und Jenal 2020). Die Anlage zu einem postmodernen Raumpastiche mangels Durchsetzung moderner räumlicher Gliederung setzte sich in den Folgejahrzehnten fort, wenngleich sich das Bevölkerungswachstum jenseits der Stadtgrenzen in suburbanen Siedlungen konzentrierte. Die dezentral (weil am Mississippi; siehe dazu auch Abb. 1) gelegene Downtown von Baton Rouge verlor ihre Funktion als Einzelhandels-, Hotel- und Gastronomiestandort bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nahezu völlig. Im Zentrum der Downtown wurden lediglich neue

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Bürokomplexe errichtet, die nördlich von Behörden des Bundesstaates, südlich des Parishs und der Stadt gesäumt wurden. Zur Entgrenzung zentralörtlicher Nutzungen trugen die seit den 1960er Jahren an dezentralen Standorten entwickelten Shopping Center und später Shopping Malls bei. Mit dem Ölboom der 1970er Jahre erhielt die Agglomeration von Baton Rouge einen Wachstumsschub, von dem jedoch die Kernstadt weit weniger profitierte als die suburbanen Teile des Parishs. Die Ölkrise der 1970er Jahre traf Baton Rouge in mehrfacher Weise: Zum ersten fielen zunehmend gutbezahlte Arbeitsplätze für gering Qualifizierte in der Ölindustrie weg, zum zweiten sanken die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand, was zum dritten in eine zurückgehende Investitionstätigkeit in die Infrastruktur und auch viertens zu verringerten Mittelzuweisungen für die LSU mündete, womit alle drei Pole mit den Motoren der Stadtentwicklung von der Krise betroffen waren. Mit dem Verlust von Arbeitsplätzen in der Ölindustrie zogen sich viele weiße ehemalige Arbeiter aus den Quartieren östlich des ­Exxon-Werkes zurück (vgl. Abb. 1), Baton Rouge entwickelte eine starke Segregation: nördlich der Florida (teilweise Street, teilweise Boulevard)

Abb. 1   Baton Rouge Downtown, Mississippi als ‚natürliche Barriere‘ (oben); das ExxonGelände im Norden der Stadt (unten) Fotos: Eigene Aufnahmen 2019.

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Abb. 2   Beispielhafte Darstellungen von Siedlungen nördlich (oben) und südlich (unten) von Florida Street bzw. Boulevard Fotos: Eigene Aufnahmen 2019.

konzentrierte sich zunehmend eine schwarze Bevölkerung mit einer geringen Ausstattung symbolischen Kapitals, südlich der Florida und in den Suburbien eine weiße Bevölkerung mit einer hohen Ausstattung an symbolischem Kapital (siehe dazu auch Abb. 2). Die krisenhaften 1980er Jahre fanden ihren Abschluss in einer großen Explosion im Exxon-Werk und dem nachfolgenden Brand am 23.12.1989 (Auslöser war eine Kälteperiode), zwei Arbeiter fanden den Tod, zahlreiche Personen wurden verletzt und die Wohngebäude der Umgebung unterschiedlich heftig beschädigt (Burby 2000; Driskell 2010; Driskell und Wang 2009; Gibson 2002; Huebner et al. 2004; Kühne und Jenal 2020; Richard 2006; Rodrigue und Phillips 2008; World Population Review 2019). Diese Explosion lässt sich auch als Ausdruck der ‚gescheiterten Modernisierung‘ von Baton Rouge interpretieren, da es dem lokalen Staat nicht gelungen ist, eine Pufferzone zwischen Exxon-Werk und den umgebenden Wohnsiedlungen zu sichern. Dies setzte sich nach den Ereignissen um Weihnachten 1989 Exxon nun privatwirtschaftlich durch: Gebäude und

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Grundstücke wurden aufgekauft, die Gebäude abgerissen, wodurch das Gelände einen parkartigen Charakter erhält – ohne Zugänglichkeit durch die benachbarte Bevölkerung (Burby 2000; Kühne und Jenal 2020).

4 Das postmoderne Raumpastiche Baton Rouge heute, von klaren Grenzen und hybridisierten Räumen Die Krise der 1980er Jahre, die sich auch in einem abnehmenden Veränderungsdruck auf die Downtown äußerte, ließ Raum für die Umsetzung des postmodernen Prinzips der Wertschätzung des Historischen. Wurden bis in die 1970er Jahre die zumeist kleinteiligen historischen Gebäude der Downtown in der Regel durch Gebäude größerer Kubatur ersetzt, setzte sich in Stadtgesellschaft und Stadtpolitik zunehmend eine Wertschätzung historischer Bausubstanz durch (so wurden das Old Capitol und Old Governor’s Mansion in den 1990er Jahren renoviert). Die Downtown nahen (de facto) suburbanen Siedlungsteile Spanish Town (im Nordosten) und Beauregard (eine im Kern französische Siedlung, im Süden) wurden URFSURBanisiert. Bei der Spanish Town handelt es sich um den Zuzug von Bewohner*innen mit einer höheren Ausstattung an symbolischem Kapital bei Beibehaltung der Nutzung (Wohnen). Beauregard wird nicht allein durch eine Sanierung der Bausubstanz, sondern auch (infolge seiner Nähe zum Gericht) durch eine Nutzungsänderung gekennzeichnet: Anwaltskanzleien ersetzen Wohnbevölkerung (Speights-Binet 2004). Mit dem zunehmenden Bemühen der Revitalisierung der Downtown um die Jahrtausendwende, die sich in der Eröffnung von Restaurants, Bars und Hotels äußerte, und die Downtown heute zu einer Agglomeration an Restaurants und Bars (neben der mittleren Government Street und der Perkins Road um die Kreuzung mit der Interstate 110) macht, wurde auch innerstädtisches Wohnen attraktiv. Mehrere Appartementhäuser wurden und werden errichtet. Trotz dieser Bemühungen um eine Re-Urbanisierung von Baton Rouge bleibt auch dieser Teil des Raumpastiches noch weit von dem Pol der ‚Metropolitanität‘ der Stadtlandhybridität entfernt. Auch der Mangel an Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen erzwingt in der Downtown von Baton Rouge einen suburbanen Lebensstil, u. a. in Form der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen in Shopping Malls unter Nutzung des privaten Kraftwagens. Stichwort Kraftwagen: Das Leben in Baton Rouge ist – selbst für ­US-Verhältnisse – stark vom motorisierten Individualverkehr abhängig: Fahrradspuren finden sich nur in Ausnahmefällen, Fußwege eigenen sich maximal für

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sehr lokale Wege (eigens bei der Überquerung verkehrsreicher Straßen mangelt es an Durchgängigkeit), eine Anbindung an das nationale Eisenbahnnetz findet sich nur beim Güterverkehr, das innerstädtische Busnetz ist dünn und der Busbetrieb scheint eher dem Zufall als dem Fahrplan zu folgen (Verlegungen von Haltestellen und der häufige Verzicht auf eine Anbindung von Haltestellen an Fußwege erschwert zusätzlich die Nutzung). Dabei wird der Qualität der Straßen von Baton Rouge hinsichtlich der baulichen Qualität wie auch der Anfälligkeit für Staus bei einschlägigen Untersuchungen regelmäßig ein Platz im untersten Quartil der Metropolregionen ähnlicher Größe (500 tausend bis eine Million Einwohner*innen) in den USA bescheinigt. Dies trägt zu der ‚Verinselung‘ von Lebenswelten bei (Kühne und Jenal 2020). Diese quartierspezifische Binnenbezogenheit wiederum trägt zu der Einschätzung bei, Baton Rouge bestünde aus einer riesigen Ansammlung von Dörfern (nicht im ökonomischen, sondern im sozialen Sinne), Kommunikation erfolgt kaum distanziert und zumeist persönlich (Indikatoren, wie sie bereits Simmel dem großstädtischen Leben entgegengesetzt sah; Simmel 1903). Die Quartiere unterscheiden sich wiederum untereinander durch eine differenzierte Verteilung ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals der Bewohner*innen, das Baualter, die architektonische Gestaltung sowie deier Grundstücksgröße. Unabhängig von diesen Differenzierungen dominiert eine zur Dichotomisierung neigende Verteilung: die der Hautfarbe, wie sie verstärkt in den 1980er Jahren entwickelt wurde, wenngleich innerhalb der schwarzen wie auch der weißen Gesellschaft von Baton Rouge z. B. deutliche quartiersspezifische Differenzierungen bestehen. Eine kulturelle Hybridisierung im Sinne gemischter Wohnquartiere stellten die Ausnahme dar (Kühne und Jenal 2020). Die Florida Street/Boulevard bildet eine Grenze unterschiedlicher Lebenschancen (im Sinne von Dahrendorf 1979): Der Bereich im Norden weist eine geringere Ausstattung an kulturellem Kapital, geringere Chancen auf höhere Bildung (selbst Highschools finden sich nur an den Rändern dieses Raumes), ökonomischem Kapital, aber auch eine für die Anwohner*innen problematischere Umweltsituation als der Süden auf. Die problematische Umweltsituation ist nicht allein der Nähe zu den Exxon-Werken geschuldet, sondern äußert sich auch in einem geringeren Bestand beschattender Bäume. Somit findent sich hier und in dem Bereich der weitgehend deindustrialisierten Zone im Osten der Downtown die größte Ausprägung der innerstädtischen Überwärmung. Dies wiederum lässt sich auch insofern als problematisch charakterisieren, da die Bewohner*innen infolge des Mangels an ökonomischem Kapital nicht in der Lage sind, individuelle Schutzmaßnahmen gegen die Hitze/Schwüle in Form des Betriebs von Klimaanlagen zu ergreifen (ausführlich bei: Kühne und Jenal

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2020). In diesem Sinne stellt der natürliche Pol der Naturkulturhybridität einen Indikator für eine höhere Ausstattung an symbolischem Kapital in Baton Rouge dar. Dass in diesem Kontext eine Verallgemeinerung schwierig ist, zeigt eine andere Form der Naturkulturhybridisierung: Baton Rouge liegt in weiten Teilen kaum über dem Normalwasserstand des Mississippis (ausgenommen hiervon sind insbesondere weite Teile der Downtown und die Universitäten, aber auch das Exxon Werk, die auf einer Terrasse des Mississippi errichtet sind; siehe dazu auch Abb. 1). Gegen die Überschwemmung durch den Mississippi sind die tiefliegenden Bereiche von Baton Rouge zwar geschützt, nicht jedoch gegen die Ansammlung von Niederschlagswasser und das Wasser der Zuflüsse des Mississippis bei Starkniederschlagsereignissen. Infolge der Ermangelung an Bauland in weitgehend Hochwasser geschützten Bereichen, erfolgen Siedlungserweiterungen (für Menschen mit einer höheren Ausstattung an symbolischem Kapital) in überschwemmungsgefährdeten Bereichen, wobei eine Steigerung der Überschwemmungsgefahr infolge des anthropogen verstärkten Klimawandels (ein weiterer Naturkulturhybrid) prognostiziert wird (Black 2008; Mathur und Cunha 2001; van der Wiel et al. 2017). Die vergleichsweise geringe Ausprägung eines Bereiches hoher Zentralität in den Bereichen Gastronomie, Einzelhandel und selbst Business im Bereich der traditionellen Downtown hat nicht allein zu einer umfangreichen Dezentrierung durch Shopping Center und Malls geführt, sondern auch der Ausprägung von Edgeless City-Strukturen, entlang des südlichen Airline Highways und der Siegen Lane. Hier ordnen sich neben Kraftfahrzeughändlern, Bürogebäude, Motels, Klinikgebäude, Shopping Center etc. an, ohne dass deutlich würde, wo diese Strukturen beginnen und wo sie enden, was insbesondere im Bereich nördlich der Kreuzung des Airline Highway mit der Florida deutlich wird, hier häufen sich Tankstellen, Restaurants (zumeist Ketten), aber auch ungenutzte Flächen.

5 Fazit – das postmoderne Raumpastiche Baton Rouge zwischen Begrenzung und Entgrenzung Welche Geographien der Grenzen ergeben sich nun resümierend? Zwei Grenzen dominieren das ansonsten von Hybriditäten, Rändern und Entgrenzungen geprägte Raumpastiche von Baton Rouge, eine, die durch den natürlichen Pol von Naturkulturhybridität geprägt ist, eine, die die ethnische und zugleich die Verteilung symbolischen Kapitals betrifft. Die erste Grenze ist der Mississippi, der eine Siedlungsbarriere und auch eine soziale Barriere bildet. Zu überwinden ist er nur an zwei Stellen und als Person nur mit dem Auto, sodass das am westlichen

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Mississippi-Ufer gelegene Port Allen (mit Ausnahme des Hafens) kaum funktional und strukturell in die Entwicklung von Baton Rouge eingebunden ist. Insofern sollte das Simmelsche Diktum zum Thema ‚Grenze‘ um den Satz erweitert werden: „Eine Grenze kann aber auch eine natürliche Barriere sein, die sozial als solche akzeptiert und durch Tun, Dulden oder Unterlassen aktualisiert wird“. Eine Grenze, die hingegen dem Simmelschen Diktum entspricht, ist jene zwischen Teilen des Raumpastiches mit Bewohner*innen schwarzer und weißer Hautfarbe, die sich besonders prägnant an der klassischen Haupteinfallstraße, der Florida Street/ Boulevard entwickelt hat. Sie stellt eine prägnante Demarkationslinie (hierzu auch Engelhardt 2020 in diesem Band) ungleicher Lebenschancen dar, sowohl in Bezug auf Bildungschancen, die Teilnahme am Verkehr als auch in Bezug auf die Qualität der ökologischen Umwelt. So dominieren heute im Raumpastiche von Baton Rouge – mit Ausnahme der beiden ‚harten Grenzen‘, Strukturen, die aus Kombinationen unterschiedlicher Hybriditäten geprägt sind: Architektonisch dominieren Reminiszenzen an ländliche und kleinstädtische Architekturen, mit Ausnahme der Downtown, wo sich auch an Metropolitanität angelehnte Architekturen finden. Hinsichtlich der Naturkulturhybridität dominiert der Pol der ‚Natürlichkeit‘. Dies wird besonders deutlich in den Bereichen außerhalb des Stadtgebietes, auch teilweise des East Baton Rouge Parishs, insbesondere in östlicher Richtung: hier lösen sich (zumeist hochwassergefährdete) Siedlungsstrukturen zwischen Bayous (langsam fließenden Gewässern), Sumpf-, Wald- und landwirtschaftlichen Flächen in einer eher zu den Polen der ‚Ländlichkeit‘ und ‚Natürlichkeit‘ neigenden Hybriden auf. Und auch die Edgeless City ‚à la Baton Rouge‘, intensiv durchmischt mit umgebenden nichtzentralen Strukturen zeigt die postmoderne Entgrenzung von Baton Rouge. Bei der synthetischen Betrachtung der Siedlungsentwicklung von Baton Rouge lässt sich festhalten: Baton Rouge hat wenn, nur in Ansätzen moderne Raumstrukturen entwickelt, weder ein dominantes Zentrum, noch eine starke Funktionstrennung, die Infrastruktur (insbesondere die des Verkehrs) blieb immer in einem vergleichsweise wenig ausgebauten Zustand, auf lokale Verkehre konzentriert (von einigen überregionalen Straßen einmal abgesehen), das Ziel der Moderne, die Natur (zumindest weitgehend) zu beherrschen, wurde nie erreicht. Insofern lässt sich auch folgern, dass Baton Rouges Entwicklung von der Vormoderne in weiten Teilen ohne Umweg über eine moderne Stadtentwicklung (eine Ausnahme bilden sicherlich einige Bürogebäude im CBD) unmittelbar in die Postmoderne führte. Was sich in Anlehnung an Bruno Latour (1998) zur durchaus überspitzten Frage überleiten lässt: „Ist Baton Rouge je modern gewesen?“ Die Antwort: Zumindest in Teilen (etwa in Bezug auf die forcierte Industrialisierung), aber sicherlich weit weniger als vergleichbare Siedlungen.

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