Von Wien her, auf Wien hin: Ilse Aichingers "Geographie der eigenen Existenz"
 9783205791249, 9783205785941

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Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 18 Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Simone Fässler

Von Wien her, auf Wien hin Ilse Aichingers „Geographie der eigenen Existenz“

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch:

Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien Fonds des publications de l’ Université de Lausanne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78594-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln

Mit großem Dank an Prof. Peter Utz, Prof. Roland Berbig, Prof. Karl W ­ agner, Richard Reichensperger, Reto Ziegler, Franz Hammerbacher, Angela ­Stienen, Alejandro Hagen, Lukas Fässler, Serge Losego und Andreas Nentwich

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Kartographie des Unerforschten  : Das topographische Paradigma in der Literatur der 1950er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger.. . . . . . . . .  21

1 Springen, um nicht überklebt zu werden  : Das Plakat als Raum-, Zeichen- und Lektüremodell 1.1 Aus der Tiefe in die Fläche, von der Fläche zum Sprung  : Drei Raumqualitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufforderung zum Tanz  : Die Kommunikation in der Stadtbahnstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das zyklische Muster der Begrenzung und Entgrenzung  ; und ein Seitenblick zu Dürrenmatt und Bachmann.. . . . . 1.4 Lektüre im Sprung  : Der Dialog zwischen Text und Leser..

. . . . . 33 . . . .  41 . . . .  55 . . . .  62

2 „Es war alles ein einziger Anlauf“  : Die größere Hoffnung als Lektüre der Wiener Topographie 2.1 „Eine Fliege kroch von Dover nach Calais“  : Die Lektüre der Weltkarte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der erste Blick in den Spiegel  : Die große Hoffnung . . . . . . . . . 2.3 Zwischen zwei Spiegeln  : Die Angst vor der Angst . . . . . . . . . . 2.4 Durch den Spiegel hindurch  : Die größere Hoffnung . . . . . . . . . 2.5 Gereihte Fragmente, zyklisches Ganzes  : Wientopographie und Romanstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Vom Ende und vom Anfang her erzählen  : die Erzählstimme und Ellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Morgenstern und Sandfleck  : Die größere Hoffnung und Das Plakat im Vergleich. . . . . . . . . .

. . . .

 67  73  82  93

. 101 . 122 . 133

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Inhaltsverzeichnis

3 „Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“  : Die szenischen Dialoge Zu keiner Stunde 3.1 Orte als Ausgangspunkt und Ziel der Dialoge. . . . . . . . . . . 3.2 Auf die Säule oder um den Brunnen  : Französische Botschaft . . . 3.3 Schöne und unschöne Aussichten  : Belvedere . . . . . . . . . . . 3.4 Donau aufwärts  : Die Sequenz der szenischen Dialoge. . . . . . 3.5 Die literarische Gattung der Dialoge  : Spiel- oder Lesetexte  ? . .

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139 142 152 159 167

4. „Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“  : Kurzschlüsse. Wien und Kleist, Moos, Fasane 4.1 Autobiographisches Schreiben 1943–2005  : Von der ‚Hoffnung‘ zum ‚Erinnern‘. . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 „Die Orte, die wir sahen, sehen uns an“  : Kurzschlüsse. Wien. . 4.3 Erinnerung in Blechkannen sammeln  : Kleist, Moos, Fasane . . 4.4 Erinnerung aus Steinen schlagen  : Hilfsstelle und Der 1. September 1939 . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 173 . . . 179 . . . 193 . . . 203

5 Eine flüchtige Autobiographie  : Film und Verhängnis und Unglaubwürdige Reisen 5.1 Flüchtige Texte  : Schreiben fürs Feuilleton.. . . . . . . . . . . . . . 5.2 Im Kino verschwinden, im Kino erinnern . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Erinnerungen in Filme einsetzen  : Lya de Putti in der Hohlweggasse  ; Das Erinnerungsbild  ; Der dritte Mann. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Erinnern mit Espresso  : Im Auge des Taifuns  : Das „Demel“  ; Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Feuilletons als Buch  : Eine Autobiographie ohne Ich . . . . . .

213 216 228 243 251

Bibliographie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Einleitung

Kartographie des Unerforschten  : Das topographische Paradigma in der Literatur der 1950er-Jahre Landkarten und Atlanten, Koordinaten und Meridiane, trigonometrische Punkte und Neigungswinkel, Orte, Gelände. Ausmessen, erkunden, orientieren, Richtung gewinnen. Die literarischen Standort- und Richtungsbestimmungen, die Ilse Aichinger, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Günter Eich in ihren poeto­logischen Texten der 1950er-Jahre formulieren, sind von räumlichen und topogra­phischen Konzepten geprägt. Sie setzen damit im Diskurs der „Orientierung“, der sich in den Nachkriegsjahren aus dem Bedürfnis nach Erklärung, Vergewisserung und Neubestimmung entwickelt,1 einen eigenen Akzent  : Sie verstehen Orientie­rung wörtlich als Situierung, Ausrichtung und Bewegung im Raum. Sie setzen anstelle sinnstiftender Inhalte die Frage nach der Art und Weise des Suchens. Sie begründen eine Literatur, die sich nicht über Inhalte, sondern durch ihre Form, nicht über das Was, sondern über das Wie des Gesagten auf die Wirklichkeit be­zieht. Und vollziehen damit jenen Paradigmenwechsel in der deutschen Nach­kriegsliteratur, für den der erste gemeinsame Auftritt von Aichinger, Celan und Bachmann bei der Gruppe 47 steht, 1952 in Niendorf an der Ostsee.2 1 Das Medium dieses Diskurses bildeten in erster Linie die ab 1945 schnell neu oder wieder entstan­denen literarischen, kulturellen und politischen Zeitschriften. Volker C. Dörr  : Mytho­ mimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nach­ kriegszeit (1945–1952). Berlin 2004, S. 80. 2 Aichinger und Bachmann waren schon vor dem Treffen in Niendorf in Kontakt. Während Bachmanns Wiener Zeit 1946–52 galten sie als unzertrennlich. Aichinger war der fünf Jahre Jüngeren ein wichtiges Vorbild, Hans Weigel sprach gar von einer „imitatio Ilse“ (Joachim Hoell  : Ingeborg Bachmann. München 2001, S. 52). Als Celan sich zwischen Dezember 1947 und Juli 1948 in Wien aufhielt, entspann sich zwischen ihm und Bachmann eine Liebesbeziehung. Aichinger befand sich während der Zeit in London. Zu einer Wiener Begegnung von Celan und Aichinger kommt es nur in Bachmanns Gedicht Große Landschaft bei Wien, für das sie 1953 den Preis der Gruppe 47 erhielt. Der Satz „Nirgends ge­währt man, wie hier, vor den ersten Küssen / die letzten“ wird als Kommentar zur Erstbegegnung Bachmanns mit Celan im Nachkriegs-Wien gelesen (Sigrid Weigel  : Ingeborg Bachmann. Hinter­lassenschaften unter Wah­ rung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 245), ist aber genauso eine Referenz auf Aichingers ein Jahr zuvor mit dem Preis der Gruppe ausgezeichnete Spiegel­geschichte, die das Bild aus der

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Einleitung

Die Metaphorik der Landvermessung insistiert gegen einen hochfliegend un­gefähren Jargon auf Genauigkeit. Doch die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit und Methode adaptieren die Autoren nur, um sich davon abzustoßen. Denn ihre Vermes­sung betrifft eben jene Dimension, die, wie sie meinen, durch die Wissenschaft aus der Welt gedrängt worden ist. Ernst Schnabel beispielsweise beschreibt in der kurzen Prosa Die Karte der Welt (1944), wie ihm beim Betrachten einer alten Seekarte auffalle, dass es darauf noch unerforschte und unbekannte Gebiete gebe und dass auf den Zeichnungen in den Zwischenräumen und an den Rändern auch der Traum noch seinen Platz habe, jene „vierte Dimension“, die nun durch die „genauen Meridiane“ verdrängt worden sei  : Die Erde ist noch groß, rätselhaft und abenteuerlich, noch gehört sie den Pfadfindern. Aber das ist nicht alles  : In den Zwischenräumen zwischen zwei großen und zwei kleineren kreis­förmigen Kartenbildern und an ihren Rändern hat eine andere Welt ihr Dasein, die vierte Dimen­sion, nämlich, wenn man die Sache streng geographisch betrachtet, ein kupfergestochenes, hand­koloriertes Welttheater von Göttern und Menschen, die um die Erdkreise gruppiert sind wie die Figuren alter Deckengemälde um Fensterbögen und Pfeilerkronen. […] Zweierlei auf einem Kartenplan, die Wirklichkeit und der Traum. Oder ist beides noch in eins ineinander verwoben  ? Hat sich der Kupferstecher wirklich nicht nur einen Schmuck für sein Kartenblatt ausgedacht, sondern geträumt, wo er nicht wußte  ? Geht der Mensch wahrhaftig noch an der Hand der Götter über die Erde, um ihr Gesicht zu entziffern  ?3

In der Diskussion um Verlust und Wiedergewinnung dieser „vierten Dimen­ sion“ ist das in den Nachkriegsjahren vorherrschende Erklärungsmuster zu Handlung einer im Rückwärtsgang noch einmal ablaufenden Lebensgeschichte entwickelt. Im ersten von Hans Weigel herausgegebenen Jahrbuch Stimmen der Gegenwart 1951, in dem er junge Autoren förderte, sind Texte von allen drei Autoren abgedruckt. Günter Eich, 1907 in der Mark Brandenburg geboren, ist fast eine Generation älter und kommt aus einem anderen kulturellen Kontext als Aichinger, Bachmann und Celan, teilt mit ihnen aber die räumliche und topographische Vorstellung von Literatur, die er bereits 1932 in Eine Karte im Atlas formuliert und gestaltet. Günter Eich  : Eine Karte im Atlas. In  : Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 4. Hrsg. v. Axel Vieregg. Frankfurt/M. 1991, S. 223–225. Aichinger lernte Eich 1951 bei der Gruppe 47 kennen und war mit ihm von 1953 bis zu seinem Tod 1972 verheiratet. In den 50er- und 60er-Jahren entwickelten sie Schreiben und Poetik in intensivem Austausch weiter. 3 Ernst Schnabel  : Die Karte der Welt. In  : Die neue Rundschau 55 (1944), S. 43f.

Kartographie des Unerforschten

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erken­nen, das die durch den Krieg und dessen Folgen erfahrene Bedrohung der Exis­tenz in die ahistorische Grundbefindlichkeit des modernen Menschen umdeutet.4 Es greift auf das heilsgeschichtliche Muster eines verlorenen und in Zukunft wiederzugewinnenden Paradieses zurück, das Romantik und Moderne auf den Prozess der Entzauberung der Welt und ihrer Transzendierung in der Kunst über­tragen haben und nun unter existentialistischem Vorzeichen erscheint  : Den Halt, der in einer objektiven Weltordnung nicht mehr zu finden ist, soll der letzte Kern des Menschen verbürgen, die Existenz selbst als allen inhaltlichen Festlegungen vorausliegende Tiefe.5 Während Schnabel die „vierte Dimension“ auch auf der Weltkarte noch deut­lich als spirituellen Inhalt kennzeichnet, interpretieren Aichinger, Bachmann, Celan und Eich das Muster konsequent räumlich. Für sie bedeutet der Sündenfall, bei dem undeutlich bleibt, ob er sich mit dem Verlust der eigenen Kindheit er­e ignete, mit der Erfahrung des Krieges oder doch bereits mit Säkularisierung, Industrialisierung und Technisierung, eine Veränderung der räumlichen Qualität der Welt durch den Verlust einer Dimension ihrer Ausdehnung. Aichinger, die ihr Konzept des sich verändernden Raumes im Porträt Ernst Schnabels mit dem Titel Die Sicht der Entfremdung (1952) entwirft, beschreibt den Sündenfall als Verlust der Tiefe des Raumes  : „Man könnte diese Zeit die Zeit der erwachsenen Leute nennen  ; der tiefe Raum, in dem während der Kindheit und frühen Jugend die Szenen abliefen, hat seine Dimension verloren. Noch während wir hinsahen, ist der Vorhang niedergegangen, die Figuren sind eingezeichnet und bewegen sich nicht mehr.“ (KW 51)6 Bei Celan und Bachmann erscheint diese Veränderung im Extremfall gar als Verlust des Raumes überhaupt  : Celan geht in der Rede zum Bremer Literaturpreis 1958 vom konkreten Verlust seiner Herkunftsgegend aus, „dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie“,7 um sich zum Schluss überhaupt ohne Boden unter 4 Es ist erstaunlich, wie weit selbst die hier zur Diskussion stehenden Autoren in ihren frühen Stand­ortbestimmungen das vorherrschende Diskursmuster übernehmen. Sie, die sich ihr Leben lang gegen die kollektive Vereinnahmung des Subjekts verwahrt haben, verwenden ganz selbst­verständlich das alle Zeitgenossen gleichermaßen umfassende „wir“. Sie, die stets dafür eintraten, das Geschehene beim Namen zu nennen, bezeichnen die historische Gegenwart nie deutlicher denn als „diese Zeit“. 5 Dörr  : Mythomimesis, S. 76. 6 Im Folgenden werden Aichingers Werke unter Siglen zitiert, die im Literaturverzeichnis aufge­ schlüsselt sind. 7 Paul Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hanse­stadt Bre­

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Einleitung

den Füßen zu sehen, als einer, der, „überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheim­lichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht“.8 Bachmann formuliert es im frühen Gedicht Menschenlos mit fast den selben Worten und Bildern  : „Wir, in die Zeit verbannt / und aus dem Raum gestoßen, / wir, Flieger durch die Nacht und Bodenlose.“9 Die literarische Utopie besteht für die Autoren folglich darin, schreibend Raumtiefe, Raum überhaupt wieder zu schaffen. Damit resultiert aus der Meta­ phorik der Kartographierung kein Abbildrealismus. Vielmehr soll umgekehrt durch die literarische Kartographierung neues Terrain und Wirklichkeit erst ent­stehen. Er habe Gedichte geschrieben, „um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirk­lichkeit zu entwerfen“,10 fährt Celan in der Bremer Rede fort. Eich spricht in seiner Büchnerpreisrede (1959) von einer Sprache, die „in einem unerforschten Gebiet die erste Topographie versucht“.11 In Der Schriftsteller vor der Realität (1956) betont er die richtungsweisende Funktion des Gedichts  : Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigono­metrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren. Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraus­setzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen.12

Sein Ziel ist ein anders nicht wahrzunehmender Boden unter den Füßen  : „In jeder gelungenen Zeile höre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt  : Ich bin auf festem Boden.“13

  8   9 10 11 12 13

men. In  : Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt/M. 1983, S. 185f., hier S. 185. Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 186. Ingeborg Bachmann  : Gedichte 1948–1953. In  : Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München  ; Zürich 1978, S. 19. Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 186. Günter Eich  : Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1959). In  : Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 615–627, hier S. 619. Günter Eich  : Der Schriftsteller vor der Realität (1956). In  : Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 613f., hier S. 613. Eich  : Der Schriftsteller vor der Realität, S. 614.

Kartographie des Unerforschten

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Sprache und Schreiben als letztes Residuum  : da klingt die konkrete Erfahrung des Heimatverlusts durch. „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dieses eine  : die Sprache“,14 schreibt Celan, und Adorno  : „Wer keine Heimat hat, dem wird wohl das Schreiben zum Wohnen.“15 Dies ist aber nicht in dem Sinn zu verstehen, dass eine in der Literatur entworfene Welt zum Aufent­haltsort werden könnte. Der Raum ist überhaupt nicht in der Literatur zu finden, sondern konstituiert sich erst und immer neu in deren Vergegenwärtigung in der Lektüre. Deshalb die Bezeichnung des Gedichts als Richtungsangabe, Orien­tierungsmarke und Weg  : Es zielt auf etwas hin, das sich im Raum des Dialogs konstituiert als persönliches wie als räumliches Gegenüber, als Du wie als Dort  : Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen  ! – zum Gedicht eines – immer noch – Wahrneh­menden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden  ; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch. Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich.16

Im Dialog entsteht durch Sprache und Sprechen Raum  : Hinter dieser Vor­ stellung steht, von Celan explizit benannt, bei Aichinger in Struktur und Handlung der Texte erkennbar,17 das ‚dialogische Prinzip‘ von Martin Buber und Emmanuel Lévinas. Es bezeichnet im Gegensatz zu der zweckorientierten, beziehungslosen, einseitigen ‚Ich-Es-Haltung‘, welche ihr Gegenüber als Objekt betrachtet, die zweckfreie, wechselseitige ‚Ich-Du-Haltung‘, die im Gegenüber das Einzigartige, Fremde wahrnimmt und den Einzelnen über sich hinausführt zum Anderen und zur Wirklichkeit.18 Begegnet man der Welt mit dieser Haltung, entstehen Orte, die auf eine andere Weise wirklich sind als 14 Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 185. 15 Theodor W. Adorno  : Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1951, S. 98. 16 Paul Celan  : Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises Darmstadt, am 22. Oktober 1960. In  : Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 187–202, hier S. 198f. 17 Während Aichingers Texte sehr oft aus Dialogen bestehen und immer versuchen, zum Leser ein dialogisches Verhältnis herzustellen, spielt der Begriff des Dialogs in ihrer Poetologie erstaunlicherweise keine Rolle. 18 Martin Buber  : Ich und Du. In  : Werke. Bd. 1. München 1962, S. 77–170.

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Einleitung

jene, die wir bereisen. Bachmann unter­scheidet in den Frankfurter Vorlesungen (1959/60) zwischen den Karten der Geographen und dem „Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht“  : Aber suchen wir einmal jenes Frankreich, das wir jetzt meinen, reisen wir – wir werden nicht ankommen, dort waren wir schon immer oder noch nie. Auf dem Zauberatlas ist es eingezeichnet, wahrer, viel wahrer, und es grenzt dort die Newa an die Seine, und über die Seine führt der Pont du Carrousel von Balzac und der Pont Mirabeau von Apollinaire, und die Steine und das Wasser sind aus Worten gemacht. Dort werden wir unseren Fuß nie hinsetzen, auf diesen Pont Mirabeau niemals, und das schneeige Russland, durch das die Zwölf von Alexander Blok gezogen sind, wird uns nicht sehen. Aber andererseits  : auf all unseren Fahrten, wo sind wir wirklich gewesen  ? Im Bordell von Dublin und auf dem Blocksberg, auf den finnischen Gütern des Herrn Puntila und in den Salons von Kakanien – dort waren wir vielleicht wirklich.19

Das Verhältnis von physisch betretbaren und nur in der Vorstellung zu bege­ henden Orten kehrt sich um in deren existentiellen Deutung, nach der es durchaus möglich ist, dass man an einem Ort, wo man (objektiv) war, (subjektiv) nie ge­wesen ist,20 und an einem Ort, den man nie betreten hat, „vielleicht wirklich“ war. Für Aichinger werden die Orte durch das Schreiben „aus der Ortlosigkeit ge­hoben“. Entscheidend ist dabei, dass sich der Text nicht auf einen ihm voran­gehenden Ort bezieht, sondern diesen durch seine Setzung – eine „Definition“ – hervorbringt  : Der Weg zum Gedicht führt durch die Orte der Welt, aber jeder dieser Orte wird auch zum Ort des Gedichts. So wird die Identifikation von Ort und Ort vollzogen.

Wenn das nicht so wäre, könnte eine Reisebeschreibung entstehen, eine Schilderung, keine Defi­nition.

19 Ingeborg Bachmann  : Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. In  : Werke, Bd. 4, S. 181–271, hier S. 239f. 20 Im Gedicht Abschied von England im Band Gestundete Zeit, das sich auf einen vergangenen Englandaufenthalt bezieht, fragt sie  : „War ich je hier  ?“ und kommt zum Schluss  : „Ich habe seinen Boden nie betreten.“ Bachmann  : Abschied von England. In  : Werke, Bd. 1, S. 30.

Kartographie des Unerforschten

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Die Grenze zwischen Beschreibung und Definition ist entscheidend. Das Ergebnis heißt nicht  : ich war an diesem Ort. Sondern  : dieser Ort war bei mir. Wo das gelingt, sind die Orte aus der Ort­losigkeit gehoben.21

Der „Ort“ ist der Platz der Anwesenheit, im „Ort“ verwandelt sich der Kreu­ zungspunkt der Koordinaten der Weltkarte in das Hier und Jetzt eines Subjekts  : „Indem ich mich ganz hineinbegebe in Ort und Stunde, werde ich herausgehoben, werde ich als Kreuzungspunkt ich selbst“, (KMF 63) schreibt Aichinger in einer Aufzeichnung von 1954. Ein „Ort“ ist da, wo im Augenblick – hier synonym  : der „Stunde“ – die Zeit, in die die Autoren sich verbannt sehen, zum Raum wird. Raum als Konstruktion. „Vertauschbarkeit von Raum und Zeit“,22 „Raum und Zeit sind aufgelöst“  :23 In solchen Formulierungen geistert die Relativitäts­ theorie durch den Diskurs, 24 die, missverstanden als Erkenntnis oder gar Grund der Relativierung aller Werte, zum Schlagwort der Epoche wird. Die Begründung für die Zeitdiagnose der Autoren kommt indessen nicht von Einstein,25 sondern von den Geisteswissenschaften, die zur selben Zeit den Begriff des Raumes, wie ihn Kant als absolut gegebene Form der Anschauung zugrunde legte, als Kon­struktion kenntlich machen. Der Raum ist ein Sinnsystem und kann folglich ganz unterschiedliche Strukturen annehmen. Ernst Cassirer formuliert es im Aufsatz Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum  : 21 Der Ort des Gedichts wird definiert durch Schweigen. In  : Dem Dichter des Lesens. Gedichte für Paul Hoffmann. Von Ilse Aichinger bis Zhang Zao. Hrsg. v. Hansgerd Delbrück, Tübingen 1997, S. 1. Aichingers Text, den sie Hoffmann gewidmet hat, wird in der Festschrift als Originalbeitrag ausgewiesen, dürfte also aus jenen Jahren stammen. 22 Die Sicht der Entfremdung, KW 54. 23 Bachmann  : Frankfurter Vorlesungen, S. 188. 24 Explizit beispielsweise bei Bachmann  : „‚Ist die Chronologie im Roman noch möglich im Zeit­ alter der Relativitätstheorie  ?‘“ Bachmann  : Frankfurter Vorlesungen, S. 183. 25 Wie Max Planck betont, hat Einstein mit der Relativitätstheorie das Absolute nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur weiter rückwärts verlegt  : „Wenn dem Raum und der Zeit der Charakter des Absoluten abgesprochen worden ist, so ist das Absolute nicht aus der Welt ge­schafft, sondern es ist nur weiter rückwärts verlegt worden, und zwar in die Metrik der vierdi­mensionalen Mannigfaltigkeit, welche daraus entsteht, daß Raum und Zeit mittels der Lichtge­schwindigkeit zu einem einheitlichen Kontinuum zusammengeschweißt werden. Diese Metrik stellt etwas von jeglicher Willkür abgelöstes Selbständiges und daher Absolutes dar.“ Max Planck  : Vom Relativen zum Absoluten (1924). In  : Ders.  : Vorträge und Reden. Hrsg. v. der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Braunschweig 1958, S. 145–158, hier S. 157.

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Einleitung

Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur, sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnordnung ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.26

Diese Erkenntnis bildet die Voraussetzung zur Entdeckung und Beschreibung verschiedener Räume, die aus unterschiedlichen Formen des Weltbezugs hervor­gehen, durch Phänomenologie und Psychologie. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget zeigt, wie die Raumvorstellung sich mit der kognitiven Entwicklung verändert.27 Ein ganz besonderes Interesse gibt es in unterschiedlichen geisteswis­senschaftlichen Disziplinen für jenen Raum, der nicht vom Subjekt abstrahiert und in der Entwicklung der Raumvorstellung dem euklidischen vorangeht  : den im leiblichen Hier und Jetzt des Subjekts entspringenden Raum, den der Existential­phänomenologe Maurice Merleau-Ponty „Situationsraum“ nennt. Auch Aichinger, Bachmann, Celan und Eich sehen die Raumveränderung abhängig von der Wahrnehmungsveränderung, die mit der indivi­duellen wie der historischen Entwicklung einhergeht. In der „Sicht der Kindheit“,28 wie Aichinger die früheste und nun verlorene Wahrnehmungsweise nennt, hatte

26 Ernst Cassirer  : Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In  : Ders.  : Symbol, Technik, Spra­ che  : Aufsätze aus den Jahren 1927–1932. Hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois. 2. Aufl. Hamburg 1995, S. 93–111, hier S. 102. 27 Piaget beschreibt die Entstehung des euklidischen Raumes als epochale Umstrukturierung der Vorstellung mit der Ausbildung des „konkret-formalen Denkens“ im Alter von etwa sieben Jahren, als „Übergang von einem Anfangszustand, in dem alles auf den eigenen Körper und die eigene Aktion zentriert ist, in einen Zustand der Dezentrierung, wo diese aufgrund ihrer objektiven Beziehungen in die Gesamtheit der im Universum entdeckten Gegenstände und Ereignisse einge­fügt werden.“ Jean Piaget  ; Bärbel Inhelder  : Die Psychologie des Kindes. Olten 1972, S. 100. Das konkret-formale Denken abstrahiert die Wahrnehmungs- und Handlungserfahrungen zum euklidi­schen Raum  : einem Koordinatensystem mit drei senkrecht aufeinander stehenden Achsen, die einen leeren Raum bilden, in den Objekte hineingebracht und wieder entfernt werden können, ohne dass sich dabei etwas am Raum ändert. In diesen objektiven Gesamtraum passt das Subjekt nun seine Wahrnehmungen ein, auch wenn es ihn nie so wahrgenommen hat. In der Adoles­zenz folgt dann nach Piaget noch eine, allerdings nicht mehr in jedem Fall vollzogene, zweite Dezentrierung des Denkens, „in der der junge Mensch sich vom Konkreten löst und das Wirkliche in ein System von möglichen Transformationen einordnet“. Piaget  ; Inhelder  : Die Psychologie des Kindes, S. 133. Die zweite Dezentrierung ermöglicht beispielsweise die der Anschauung nicht mehr zugänglichen Raumkonzepte der modernen Physik. 28 Aichinger  : Die Sicht der Entfremdung, KW 51.

Kartographie des Unerforschten

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der Raum noch Tiefe. Die gegenwärtige historische Situation ist für die Autoren durch Blindheit gekennzeichnet, die wiederum nicht physisch ist, sondern ein verstelltes Sehen meint, das sein allzu bekanntes Gegenüber zum Objekt degradiert.29 Gegenmodell dazu ist Aichingers „Sicht der Entfremdung“, welche durch den Wechsel der Perspektive einen neuen ersten Blick ermöglichen will. Celan spricht mit Bezug auf Martin Buber von dialogischer Wahrnehmung als einer Haltung, die dem Erscheinenden als einem noch gänzlich unbekannten Gegenüber begegnet. Raum und Sprache. Ist der Raum eine Sinnordnung, dann sind räumliche Beziehungen immer auch Sinn- und Bedeutungsbeziehungen. Wird in den poeto­logischen Texten von Aichinger, Bachmann, Celan und Eich über den Raum ge­sprochen, geht es immer auch um Sprache. Werden Raummodelle konstruiert, sind daraus auch Zeichenkonzepte abzuleiten. In ihrer Reflexion über Sprache beziehen sich die Autoren auf das roman­ tische, seinerseits Elemente der theologisch-mystischen Tradition aufgreifende Konzept einer adamitischen Ursprache, die im biblischen Sündenfall und dessen sprachverwirrenden Folgen verstellt wurde und deren Restitution das Ziel des lite­rarischen Schreibens ist. Chiffre für diese Sprache ist der „Name“, der sich im Ritus der ersten Benennung oder Taufe mit seinem Träger verbindet. Aichinger wie Bachmann verbinden „Namen“ vorzüglich mit Orten, mit dem „Ort“, der damit zur räumlich-topographischen Verkörperung jenes Zeichens wird, bei dem „das Wort und das Ding zusammenfallen“.30 Bachmann schreibt in den Frank­furter Vorlesungen  : „Weil der Dichtung in Glücksfällen Namen gelungen sind und die Taufe möglich war, ist für die Schriftsteller das Namensproblem und die Namensfrage etwas sehr Bewegendes, und zwar nicht nur in bezug auf Gestalten, sondern auch auf Orte, auf

29 „Wir erblinden bei offenen Augen, wenn uns niemand hilft.“ Interview mit einem Stern. Rezension zu Ernst Schnabel  : ‚Sie sehen den Marmor nicht‘. In  : Wort und Wahrheit 7 (1952), S. 469f. „Unsere Welt ist allzu bekannt geworden […], wir haben mit unseren Flug- und Schiffahrtslinien die Landkarten durchkreuzt und sind blind geworden.“ Aichinger  : Die Sicht der Entfremdung, KW 51. „Indessen hat es den Anschein, als würde der Mensch blinder, je mehr er sieht.“ Günter Eich  : Rede vor den Kriegsblinden (1953). In  : Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 609–612, hier S. 609. Bachmanns Essay Die blinden Passagiere von 1955 interpretiert seinen Titel ebenfalls in dieser Weise  : „Selten schaut einer zum Fenster hinaus, und wenn, dann tut er es mit einem Blick, der sagt  : Ach, erst Blumenstraße …“ Ingeborg Bachmann  : Die blinden Passagiere. In  : Werke, Bd. 4, S. 35–44, hier S. 38. 30 Eich  : Der Schriftsteller vor der Realität, S. 613.

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Einleitung

Straßen.“31 Aichinger spricht im Schnabel-Essay von der „Sicht der Kindheit, die Orte zu Orten werden läßt und ihnen ihre Namen neu gibt.“ (KW 51) Jeder Name hat einen Ort, und jeder Ort hat auch einen Namen. Die Übernahme von Argumentation und Begrifflichkeit verdeckt die Diffe­renzen zum romantischen Konzept einer adamitischen Ursprache, die beträchtlich sind. So beklagen die Autoren der 50er-Jahre nicht nur die Trennung und willkür­liche Zuordnung von Wort und Ding. Mit der Abstraktwerdung des Raumes scheinen ihnen die Dinge überhaupt abhanden gekommen, die durch die Sprache neu gesetzt werden müssen. Auch bedienen sich die Autoren durchaus der neuen Erkenntnisse von Phänomenologie und Linguistik, wenn sie die Utopie einer Namenssprache in der nicht-signifikativen Form sprachlicher Präsenz suchen, in Bewegung und Ausdruckscharakter der gesprochenen Sprache, in Atem und Stimme  : Sie nehmen de Saussures Unterscheidung auf von der langue als dem System von Regeln und Zeichen und der parole als deren tatsächlicher Verwen­dung in einer konkreten Situation. Diese Differenz ist in der Argumentation amal­gamiert mit der existentialistischen Dichotomie zwischen dem gesellschaftlichen „Gerede“ und dem individuellen Angesprochensein, in dem allein Wahrheit und Wirklichkeit erfahrbar werden, sowie mit Schriftlichkeit und Mündlichkeit  : insbe­sondere bei Aichinger und Celan ist die konventionell festgelegte Sprache auch die festgeschriebene, die situational verwendete auch die gesprochene. Die Aufgabe des Dichters ist es also, die konventionalisierte, abstrakte, zeit­ lose (Schrift-)Sprache, die ihm einzig zur Verfügung steht, schreibend in Raum und Zeit zu bringen und damit zu verwandeln in ein dialogisches, mündliches, in einem Individuum verkörpertes Sprechen. Celan stellt diesen Prozess der Um­wendung in der Bremer Rede als Bewegung im Raum dar  : Aber [die Sprache] mußte hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah  ; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.32

31 Bachmann: Frankfurter Vorlesungen, S. 239. 32 Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 185f.

Kartographie des Unerforschten

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Fünf Mal muss die Sprache „hindurchgehen“ und geht sie hindurch, bis sie zuletzt auf einer anderen Seite – in einer neuen Dimension – „zutage“ tritt, aus der Fins­ternis ins Helle kommt, aus dem Tod ins Leben, und kraft ihrer Bewegung all das, was sie nicht benennen kann, mit sich führt. Der Weg zurück führt nach vorne, der Weg zur Restitution führt über deren negativen Gegenpol  : Auch diese Denk­form ist den Autoren gemeinsam. Celan sieht sie im „Meridian“ verkörpert als einem „über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrende[n]“.33 Er definiert jene abstrakte Linie, die bei Schnabel für die Verdrängung der vierten Dimension aus der Welt steht, zur Bewegungsund Denkform um. Und vollzieht dadurch auch mit diesem Zeichen die Verwandlung, für die es steht. Landkarten und Atlanten. Dass und wie die Verwandlung des Raumes und der Sprache zusammengehen, zeigt sich deutlich in den vielen Texten über Karten und Atlanten, die sich bei Aichinger, Bachmann, Celan und Eich finden. Be­züglich des Verfahrens werden Karten und Atlanten, die die Welt in einem Modell aus abstrakten Zeichen abbilden, zum Vorbild, von dem sich das litera­rische Kartographieren abstößt. Auf der Inhaltsebene dienen Karten und Atlanten, zu denen nach der Meinung der Autoren die Welt selbst geschrumpft, verflacht und abstrahiert ist, als Ausgangspunkt, der durch die literarische Karto­graphierung verwandelt werden soll. Komplexe und durch ihre Ähnlichkeit verblüffende Beispiele sind Eichs früher Text Eine Karte im Atlas von 1932 und der Beginn von Aichingers Roman Die größere Hoffnung. In konzentrierter Form findet sie sich in Eichs Gedicht Kartographien von 1964, dessen Titel im Plural sich auf die beiden unterschied­ lichen Methoden des Kartographierens beziehen könnte. Kartographien Diese Welt, so einfach in Atlanten  : Einbuchtungen, Inseln, Braun, Grün und Blau, so scheint sie geordnet in runden Städten, sorglos und ohne Tod. 33 Celan  : Der Meridian, S. 202.

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Einleitung

Diese Welt, dieser Winter, diese Schiffahrtslinien, wir wollen ihnen sorgfältig nachgehen. Dort muß es sein. Dort, eine Spur.34

Am Anfang ist die ganze Welt im Blick, die im ersten Vers gesetzt und mit dem zweiten über die Operation der Vereinfachung in ihre kartographische Abbil­dung transferiert wird. Im unbestimmten Plural erscheinen auch die „Atlanten“ nicht als konkretes Kartenbuch, sondern als allgemeiner Begriff, und sie enthalten konventionalisierte Zeichen, die keine konkrete Referenz auf der Welt haben, nicht bestimmte Orte nennen, sondern nur Kategorien, die die Welt auf den Karten ordnen  : Inseln, Buchten, Städte. Braun, Grün, Blau stehen, das wissen wir, auf den Karten für Gebirge, Kontinente, Ozeane. Hier aber ist sogar diese Refe­renz eliminiert. Ohne Referenz auf ein abwesendes Anderes aber bekommen die Farben ihren Eigenwert zurück. Sie werden, wie auch die genannten Formen, frei, sich zu einer eigenen, neuen Topographie zu fügen. Die literarische Kartographie unterscheidet sich dadurch von der geogra­ phischen, dass sie Zeit und Subjektivität in die Karte hineinbringt. Schon das erste Wort, „diese“, verweist auf die Anwesenheit eines Betrachters und Sprechers und situiert diesen mit der Welt, auf die er hinweist, sowie mit dem Leser als dem Adressaten der Zeigegeste, in einem gemeinsamen Raum. Mit „so einfach“ positioniert sich das Subjekt durch ein persönliches Urteil, das impliziert, dass es zu der vereinfachenden Karte eine komplexere Vergleichsgröße gibt. In die selbe Richtung zielt die Feststellung, dass die Welt nicht geordnet „ist“, sondern bloß „scheint“. In der zweiten Strophe ist das Subjekt auch als grammatisches an­wesend  : „wir wollen ihnen / sorgfältig nachgehen“. Es tritt als Plural auf, Autor und Leser umfassend, die die Kartographierung miteinander und nacheinander vollziehen, indem sie die Schifffahrtslinien, in denen auf der Karte Bewegungen als zeitlose Linie dargestellt sind, wieder in die Zeit übersetzen. „Nachgehen“ bedeutet verfolgen oder ergründen, bezeichnet aber vor allem eine Weise der Fortbewegung, die metaphorisch als Lektürebewegung mit Auge und Finger ver­standen werden kann, wörtlich 34 Günter Eich  : Unveröffentlichte Gedichte. In  : Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 288.

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aber die konkrete Begehung des Geländes meint, die damit als Möglichkeit in den Blick kommt. Dass das Nachgehen bereits im Gang ist, zeigt sich daran, dass Zeit in die Karte hineinkommt  : Am Ende der ersten Strophe ex negativo, „ohne Tod“, am Anfang der zweiten bereits positiv  : Ist es die Kälte des Winters, die die Welt zur Karte erstarren ließ  ? Die Absichtserklärung „wir wollen ihnen sorgfältig nach­gehen“ öffnet die Zukunftsdimension. Der Satz ist die räumliche Achse zwischen „dieser Welt“ und dem „dort“ als dessen komplementärem Gegenüber. Dieses Gegenüber, mit dessen Fokussierung die Atlaswelt verschwindet, ist räumlich lokalisiert, inhaltlich aber unbestimmt  : das Pronomen „es“ hat im Text keine Referenz. Oder eben jene Topographie, die sich in der Lektüre konstituiert. „Dort muß es sein“ peilt den Ort sprachlich an  ; der Satz kann als Hypothese verstanden werden, als dringender Wunsch oder gar als Beschwörung. Das allein auf einer Zeile stehende „Dort“, das sowohl ‚Wort‘ als auch ‚Ort‘ ist, steht im Text für dessen Vergegenwärtigung im Hier und Jetzt. Als „Spur“ allerdings nur. Die Spur bezeichnet eine andere Zeichenqualität als die konventionalisierten Zeichen der Atlanten  : Die Spur verbürgt die vergangene Präsenz des von ihr Bezeichneten und gibt die Richtung an, in welcher dieses künftig wieder gefunden werden kann  : „Jede Spur hat ihre eigene Vergangenheit und Zukunft. Sich auf jemandes Spuren zu begeben, bedeutet, diese Dimensionen zu verfolgen.“35 Die Spur öffnet den Text an dessen Ende zeitlich und räumlich, zu jenem Ort hin, der im Dialog mit dem Leser entsteht.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger In den poetologischen Ausführungen von Aichinger, Bachmann, Celan und Eich gibt es, gerade auch was die räumliche und topographische Bildlichkeit und Begrifflichkeit betrifft, eine weitgehende Übereinstimmung. Niemand unter diesen Autoren aber führt Poetik und Sprachreflexion so explizit und systematisch auf ein Raummodell zurück wie Aichinger. Und in keinem anderen Werk findet die Poetik eine so weitgehende, genaue, wörtlich-anschauliche Umsetzung wie in ihrem. Die Akzente verschieben sich, die Dynamik verändert sich, der Grad der Abstraktion variiert, doch all ihre Texte, über 60 35 Jens Ruchatz  : Spur. In  : Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. v. Nicolas Pethes und Jens Ruchaz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 558–561, hier S. 559.

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aber die konkrete Begehung des Geländes meint, die damit als Möglichkeit in den Blick kommt. Dass das Nachgehen bereits im Gang ist, zeigt sich daran, dass Zeit in die Karte hineinkommt  : Am Ende der ersten Strophe ex negativo, „ohne Tod“, am Anfang der zweiten bereits positiv  : Ist es die Kälte des Winters, die die Welt zur Karte erstarren ließ  ? Die Absichtserklärung „wir wollen ihnen sorgfältig nach­gehen“ öffnet die Zukunftsdimension. Der Satz ist die räumliche Achse zwischen „dieser Welt“ und dem „dort“ als dessen komplementärem Gegenüber. Dieses Gegenüber, mit dessen Fokussierung die Atlaswelt verschwindet, ist räumlich lokalisiert, inhaltlich aber unbestimmt  : das Pronomen „es“ hat im Text keine Referenz. Oder eben jene Topographie, die sich in der Lektüre konstituiert. „Dort muß es sein“ peilt den Ort sprachlich an  ; der Satz kann als Hypothese verstanden werden, als dringender Wunsch oder gar als Beschwörung. Das allein auf einer Zeile stehende „Dort“, das sowohl ‚Wort‘ als auch ‚Ort‘ ist, steht im Text für dessen Vergegenwärtigung im Hier und Jetzt. Als „Spur“ allerdings nur. Die Spur bezeichnet eine andere Zeichenqualität als die konventionalisierten Zeichen der Atlanten  : Die Spur verbürgt die vergangene Präsenz des von ihr Bezeichneten und gibt die Richtung an, in welcher dieses künftig wieder gefunden werden kann  : „Jede Spur hat ihre eigene Vergangenheit und Zukunft. Sich auf jemandes Spuren zu begeben, bedeutet, diese Dimensionen zu verfolgen.“35 Die Spur öffnet den Text an dessen Ende zeitlich und räumlich, zu jenem Ort hin, der im Dialog mit dem Leser entsteht.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger In den poetologischen Ausführungen von Aichinger, Bachmann, Celan und Eich gibt es, gerade auch was die räumliche und topographische Bildlichkeit und Begrifflichkeit betrifft, eine weitgehende Übereinstimmung. Niemand unter diesen Autoren aber führt Poetik und Sprachreflexion so explizit und systematisch auf ein Raummodell zurück wie Aichinger. Und in keinem anderen Werk findet die Poetik eine so weitgehende, genaue, wörtlich-anschauliche Umsetzung wie in ihrem. Die Akzente verschieben sich, die Dynamik verändert sich, der Grad der Abstraktion variiert, doch all ihre Texte, über 60 35 Jens Ruchatz  : Spur. In  : Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. v. Nicolas Pethes und Jens Ruchaz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 558–561, hier S. 559.

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Einleitung

Jahre hin und durch alle Gat­tungen hindurch, vom Tagebuch mit Eintragungen aus den Jahren 1943–45 bis zu den Subtexten von 2005, sind vom Raum und der Topographie her gedacht. Alle bleiben auf ein Grundmuster bezogen, das auch, wo es destruiert wird, präsent bleibt. In den früheren Texten, insbesondere dem Roman Die größere Hoffnung, den Erzählungen in Der Gefesselte, den Prosagedichten Kurzschlüsse und den Dia­logen in Zu keiner Stunde, fällt eine Vielzahl wiederkehrender räumlicher Ele­mente auf. Von der Makrostruktur der Stadt bis zur Mikrostruktur der Gegen­stände  : Straßen, Schienen, Kreuzungen, Häuser, Kirchen und Parks – Fenster, Türen, Tische, Stühle und Betten – Eimer, Koffer, Schulheft, Teekanne. Von in diesen Räumen lokalisierten Personenkonstellationen bis zu mit geometrischer Genauigkeit beschriebener Mimik, Gestik, Körperhaltung. Übereinander, hinter­e inander, nebeneinander sind die Dinge angeordnet. Wege orientieren den Raum horizontal, eine aufgestellte Leiter, eine Säule vertikal. Türen werden geschlossen, Fenster gehen auf. Präzise koordiniert mit dieser räumlichen Struktur ist die „Architektur“ 36 der Texte. Auch sie zeigt identische Strukturen auf der Makro- und Mikroebene, eine an jedem Ende in einen Sprung mündende zyklische Dynamik prägt das Textganze wie einzelne Segmente und jeden Abschnitt. Schreitet eine Figur einen Weg ab, so ist dieser Gang mit der Dauer eines Kapitels koordiniert. Kommt es zwischen zwei Figuren zu einem Dialog, so fällt der Moment der Begegnung mit einem formalen Anfang zusammen, das Verschwin­den von zumindest einem Dialogpartner mit dem Ende. Mit jedem Anfang im Text schließen sich Räume, bilden sich Konturen, entsteht Struktur, mit jedem Ende öffnet sich ein Raum, bricht eine Begrenzung ein, zerreißt, wird überflutet. Mit den unterschiedlichen Raum- und Textstrukturen gehen als drittes Element verschiedene Arten von Sprache und Sprechen einher  : Schrift und Lektüre, Be­fehle, Drohungen und Versprechen, Verhöre, Smalltalk und Gespräche, Erzählen, Singen, Theaterspiel, Fremdsprachenunterricht, Rufen, Schreien, Flüstern, Schweigen. Diese Beobachtung führt zur These, dass die Gestaltung des Raumes stets die Struktur und Dynamik der Texte sichtbar macht, in deren Verlauf sich Art und Qualität der Sprache verändern. Oder in der umgekehrten Blickrichtung 36 Laut Thums verwendet Aichinger den Begriff der „Architektur“ von Texten „in Abgrenzung zur Inhaltsanalyse, um darauf hinzuweisen, dass letztere wenig aufschlussreich für den Umgang mit ihren Texten ist“. Barbara Thums: Interview mit Ilse Aichinger. Wien, 4. 8. 1998. In  : Barbara Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“. Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg i. Br. 2000, S. 14, Anm. 18.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger

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formu­liert  : Die Texte realisieren in der sprachlichen Form, was ihre Inhalte bezeichnen. Bei den „Botschaften“, die an Anfang und Ende sowohl der Grö­ ßeren Hoffnung als auch des Dialogzyklus Zu keiner Stunde stehen und sowohl ein Konsulat als auch eine relevante Mitteilung bezeichnen, ist die Verbindung von Topographie und Semiotik besonders augenfällig. Sie gilt aber auch für jedes andere räumliche Element. Das Grundmuster von Aichingers Raummodell, das zugleich ein Text- und Zeichenmodell ist, wird im 1. Kapitel anhand der Erzählung Das Plakat (1948) aus dem Band Der Gefesselte aufgezeigt. Die selbstreferentielle Handlung der Erzählung stellt eine Lektüresituation dar, deren Verlauf mit unserer Lektüre des Textes koordiniert ist, und zeigt das Modell in seinen Bedingungen  : Ein Junge, der in die See springt, ist mitten im Sprung im zweidimensionalen Raum eines Plakats festgehalten, das nun in einer Stadtbahnstation hängt. Indem das Plakat von verschiedenen Personen betrachtet und gelesen wird, entsteht in der Station ein kommunikativer Raum, in welchem dem Jungen auch die Dimension nach vorne und hinten wieder offen ist, in der er zuletzt sogar seinen Sprung beendet. Zur Be­stimmung der unterschiedlichen Raumqualitäten wird auf die Terminologie des Existentialphänomenologen Maurice Merleau-Ponty zurückgegriffen, der dem objektiven, zeitlosen „Positionsraum“, welchem unsere Raumvorstellung ge­wöhnlich entspricht, den „Situationsraum“ gegenüberstellt, der im Hier und Jetzt eines handelnden Subjekts entspringt. Vom Ende her und auf das Ende hin erzählen  : Die größere H ­ offnung und Zu keiner Stunde. Die Fokussierung des Raumes ermöglicht einen neuen Blick auf formale Aspekte von Aichingers Texten, die bisher wenig oder kontrovers diskutiert worden sind  :37 die literarische Gattung, die Erzählperspektive, das Ver­hältnis zur Wirklichkeit sowie die Kontinuitäten und Akzentverschiebungen innerhalb des Werkes. Diese Themen stehen im 2. und 3. Kapitel im Vordergrund, die den Roman Die größere Hoffnung (1948/1960) und die szenischen Dialoge Zu keiner Stunde (1957) als ihren Gegenstand verwandelnde Lektüren der Wiener Topographie lesen.38 Die literarische Gattung  : Aichingers Schreiben entwickelt immer wieder neue formale Muster, die dann anhand unterschiedlicher Themen und Szenarien in schneller Folge vielfach durchdekliniert werden. Bei Die größere 37 Die Positionen der Sekundärliteratur werden in den jeweiligen Kapiteln diskutiert. 38 Hier werden die vier formalen Aspekte im Überblick betrachtet. Inhalt und Vorgehen der einzelnen Kapitel sind jeweils deren Einleitung zu entnehmen.

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Hoffnung und Der Gefesselte weisen die Gattungsbezeichnungen „Roman“ und „Erzählungen“ dieses Muster als Prosa aus. Die Texte in Zu keiner Stunde nennt Aichinger „Sze­nen und Dialoge“, in der Darstellungsweise als Figurenrede mit Regieanwei­sungen erscheinen sie als dramatische Form. Die Differenz zwischen Roman, Erzählungen und Dialogen ist aber insofern nur graduell, als alle Texte als Prosa konzipiert sind, die zur dramatischen Form hin tendiert. Im Roman wird ein Weihnachtsspiel geprobt, das im Moment, da die spielenden Kinder verhaftet werden, zur Wirklichkeit wird. Die Erzählung drängt durch den abschnittweisen Perspektivenwechsel zwischen den kommunizierenden Figuren, durch direkte Rede, Gestik, Mimik und Bewegung im Raum auch formal zum Drama. Dasselbe gilt für die Dialoge, bei denen das dramatische Element auch die Textform prägt, während sie als Lesetexte konzipiert sind, die nicht zur Aufführung gedacht sind. Die Dialoge setzen sich mit der Konvention des Hörspiels auseinander, das sich für die Umsetzung der topographischen Poetologie ganz besonders anbietet, indem es den Raum seiner Bühne ausschließlich durch Sprache schafft. Die Texte eines Musters verbindet Aichinger stets zu einem Zyklus, der als Ganzes wiederum dem zyklischen Muster der Be- und Entgrenzung folgt. 39 Nicht das Erzählte, aber die Bewegung des Erzählens bindet die einzelnen Texte in einen übergreifenden Bogen ein. Das gilt für den Roman, der aus zehn räumlich, zeitlich und inhaltlich diskontinuierlichen Kapiteln besteht, genauso wie für die Reihe der Erzählungen und Dialoge. Einen Unterschied gibt es allerdings darin, wie weit diese Integration auch die inhaltliche Ebene betrifft  : Beim Erzählband bleibt sie ausschließlich formal. Bei den Dialogen kommt die gemeinsame Lokali­sierung der Texte in der Wiener Topographie hinzu. Im Roman gibt es auch noch die durchgehend anwesende Protagonistin Ellen, die vom Beginn bis zum Ende des Kriegs von der Schulanfängerin zur jungen Erwachsenen wird. Die Erzählperspektive  : Schon vielfach diskutiert ist die sogenannte „Kinder­perspektive“ der Größeren Hoffnung, die als naive Sicht eines Kindes nicht zu erklären ist. Vielmehr haben wir es mit einer Doppelperspektive zu tun, die zugleich sowohl mit den Augen der Figuren auf die Welt sieht als 39 Die meisten Texte eines Musters entstanden jeweils innerhalb des Zeitraums von ca. einem Jahr. In den folgenden Jahren kamen dann noch zwei, drei weitere Texte hinzu. In Reichenspergers Gesamtausgabe von Aichingers Werken von 1991 sind diese in die Zyklen eingefügt. Dies ist insofern problematisch, als sie sich in der Form meist deutlich von den früheren unterscheiden und die Struktur des Zyklus durch die Erweiterung verändert wird.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger

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auch von einem Standpunkt letzter Gewissheit her auf das Geschehen zurückblickt. In Die größere Hoffnung ist das Verfahren über die Figur der Ellen noch an das Modell biogra­phischer Kontinuität gebunden. Im poetologischen Text Das Erzählen in dieser Zeit, der den Erzählband Der Gefesselte eröffnet, bestimmt Aichinger es rein formal als Erzählen „vom Ende her und auf das Ende hin“ (DG 10)  : Die Perspek­tive bestimmt sich aus der Position und Blickrichtung von Erzählinstanz und Figur im Verhältnis zur Zeitachse des Textes. Das Erzählen „vom Ende her und auf das Ende hin“ bestimmt auch die Dialoge, die, abgesehen von den Regiean­weisungen, ausschließlich aus Figurenrede bestehen. Die Erzählstimme, die bereits in Roman und Erzählung auch in der direkten Rede der Figuren präsent ist, treibt die Rede der Figuren stets über deren Bewusstseinshorizont hinaus. Das Verhältnis zur Wirklichkeit  : Beim Roman, der einen deutlich autobiogra­phischen Hintergrund hat, welcher jedoch abstrahiert, fiktionalisiert und durch die ungewohnte Erzählperspektive verfremdet erscheint, wurde in der Forschung schon viel über das Verhältnis von Fakten und Fantasie diskutiert. Bei den Erzählungen und Dialogen scheint der fiktionale Charakter fraglos  : die surrealen Szenen können sich höchstens in ihrem parabolischen oder exemplarischen Charakter auf Wirklichkeit beziehen. Indessen bestimmt sich der Wirklichkeits­bezug von Aichingers Texten nicht über ihren Abbildcharakter  : Gemäß der topo­graphischen Poetologie soll Literatur, von einer abstrakt gewordenen Welt ausge­hend, Wirklichkeit mittels Sprache allererst hervorbringen. Die Abstrahierung und Universalisierung, die Aichingers frühe Texte und die Literatur der 1950er-Jahre überhaupt kennzeichnet, ist also mitnichten das angestrebte Ideal  : als Symptom einer zu übersichtlich gewordenen, entzauberten und verflachten Welt steht sie für einen zu überwindenden Mangelzustand. Ziel des Schreibens ist die Rekonkreti­sierung und Relokalisierung. Mit der Lektüre der Landkarte am Anfang der Größeren Hoffnung fordert Aichinger diese Konkretisierung und Lokalisierung programmatisch ein, mit dem Roman selbst setzt sie sie ein erstes Mal um. Die Dialoge in Zu keiner Stunde, die auf den ersten Blick noch abstrakter erscheinen als der Roman, machen dieses Prinzip explizit, indem ihre Titel – Belvedere, Französische Botschaft oder Hohe Warte – jene Wiener Orte nennen, welche die Texte vergegenwärtigen. Dass es sich bei dem durch die Lektüre zu verwan­ delnden Ort beide Male um Wien handelt, ist kein Zufall  : Die Stadt ist für Aichinger nicht nur mit der verlorenen Kindheit identisch, sondern mit ihrer Existenz überhaupt  : „Ich kann nur in Wien leben. Ich möchte auch gerne in Wien sterben. […] Es ist die Stadt, in der ich geboren bin. Alles, was ich an

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Einleitung

Schreck­lichem, aber auch an Schönem erlebt habe, hängt mit dieser Stadt zusammen.“40 Der Roman sucht in der Stadt die Orte auf, an denen Aichinger während des Krieges Verfolgung, Abschied und Tod erlebte. Die Dialoge spielen in den Bezir­ken, in denen Aichinger die ersten Nachkriegsjahre verbracht hat. Zielen die Texte auf die Wiederaneignung dieser Orte, so sind sie zwar nicht ihrem Inhalt nach, aber strukturell Erinnerungstexte. Der Roman sucht Orte der Abwesenheit auf und zielt darauf, diese erinnernd in Anwesenheit zu verwandeln. Die Dialoge gehen von Gedenkorten aus, Monumenten und Orten der Kunst, und umkreisen die Frage, wie Erinnerung lebendig bleibt. Kontinuitäten und Akzentverschiebungen innerhalb des Werkes  : Bei Aichin­gers Werk ließe sich mit den selben Argumenten eine Kontroverse um „Konti­nuität“ oder „Bruch“ führen wie bei Eich.41 Auf der einen Seite kann man feststellen, dass alle zentralen Motive des Spätwerks schon in den frü­ hesten Texten vorhanden sind. Das „Verschwinden“, das Kino, das Erinnern  : in Die größere Hoffnung ist alles schon da. Auf der anderen Seite liegen Welten zwischen der jungen Frau, die am 13. Jänner 1944 „mit heißen Wangen“ immer wieder den Satz ins Tagebuch schreibt  : „es ist unausdenkbar – was ich alles hoffe  ! – – – – “,42 der anerkannten Autorin, die 1973 lakonisch festhält  : „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr“ (SW 11), und der über 80– Jähri­gen, die im Wiener Café Jelinek, produktiv und subversiv wie nie zuvor, auf flie­gende Zettel Sätze schreibt wie  : „Positiv denken ist das Gegenteil von Denken.“ (Die Pest in Wien, St 33) Anhand der Veränderungen und Verschiebungen in Raum und (Wien-)Topographie wird fassbar, welche Kontinuitäten und Brüche es in diesem Werk gibt, innerhalb des Rahmens einer prozessualen, selbstreferen­tiellen, als Bewegung im Raum gedachten Literatur, die für Aichinger wie für Bachmann, Celan und Eich stets verbindlich bleibt. Die wichtigsten Tendenzen sind  : Die Ausrichtung auf einen finalen Sprung wird abgelöst durch einen unab­schließbaren Prozess immer neuen Springens. Die Präsenz der Erzählinstanz wird zurückgenommen und der Leser stärker zu 40 Julia Kospach; Peter Schneeberger: „Es muss gar nichts bleiben.“ Ilse Aichinger über Politik und Literatur, das Alter und den Tod. In: profil, 28. 10. 1996. Wieder in: Ilse Aichinger: Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. Frankfurt/M. 1997, S. 31–38, hier S. 35. 41 Zusammenfassend in  : Rudolf Käser  : Zeichenmagie und Sprachkritik in einem frühen Prosatext Günter Eichs. Eine Fallstudie zur Frage, wie literarische Texte ihre Lesbarkeit problematisieren. In  : Sprache im technischen Zeitalter 25 (1987), S. 63–80, hier S. 77. Bei Aichinger gibt es diese Diskussion bisher nicht, was darauf schließen lässt, dass mehr die Kontinuität wahrgenommen wird als die Brüche. 42 Deutsches Literaturarchiv, Marbach, D  : Ilse Aichinger. Tagebuch 1944/45, Eintrag  : 13. Jänner 1944.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger

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eigener Sinnkonstitution gefordert. Die Selbstreferentialität wird zunehmend zum eigentlichen Thema. Strukturell sind die Veränderungen von Werk zu Werk immer nur graduell. In ihrer Konsequenz führen sie oft zu gänzlich anderen Erscheinungsformen. Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift  : Kurzschlüsse – Kleist, Moos, Fasane – Film und Verhängnis und Unglaubwürdige Reisen. Von dem Raum­modell, wie es in Das Plakat dargestellt ist, führen in Aichingers Werk zwei unterschiedliche Wege weiter  : Auf der einen Seite gibt es die Tendenz zu einer zunehmenden Abstraktion, in der die Texte immer radikaler nur noch Bewegung sind und mit der eigenen Form auch die Architektur der dargestellten Räume auf­lösen. Sie gipfelt in der Prosa von Schlechte Wörter (1976), wo sich die Raum- und Bewegungselemente so wenig mehr zu einer Einheit fügen wie die Elemente der Syntax.43 Die andere Linie des Werkes verläuft in der entgegengesetzten Richtung  : Das abstrakte Raummodell wird in konkrete Topographien eingeschrieben, allen voran jene von Wien.44 Mit der Topographie kommen Erinnerungen ins Spiel, Inhalte drängen zur Darstellung, die Texte werden länger und erzählender. Es ist dieser Strang des Werks, der jenseits der äußersten Abstraktion und Destruktion, auf die ab 1980 fast zwei Jahrzehnte des Verstummens folgen, einen Neueinsatz ermöglicht mit einem Schreiben, das Erinnerung als immer wieder und von immer anderen Standpunkten aus zu vollziehenden Prozess versteht. Die erste Linie verfolgt Barbara Thums in ihrer Arbeit über Mythos, Ge­ dächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers,45 der bisher einzigen, die mit einer übergreifenden Fragestellung an verschiedene Werke Aichingers her43 Beispielsweise in Bergung von 1971  : „Jetzt kippt es bald. Was sich in den Winkeln eingenistet hat, wird mitgerissen. Spinnwebfäden werden durchlöchert, Hohlzäune gekippt, Achtung da vorn, nicht tauchen, solange die Luft reicht, nichts aus den Ärmeln schütteln, was ohnehin herausfällt.“ (SW 85) 44 Nebst Wien, das in Aichingers literarischem Universum die differenzierteste und konnotations­ reichste Topographie hat, spielen in ihrem Werk insbesondere zwei weitere Gegenden und Länder eine wichtige Rolle  : England, wo ihre Zwillingsschwester die Kriegsjahre verbrachte und Aichinger sich 1947/48 zum ersten Mal aufhielt. Die Topographie von London steht beispiels­ weise im Hintergrund der Spiegelgeschichte und des Hörspiels Knöpfe, Dover ist Ausgangspunkt der gleichnamigen Prosa in Schlechte Wörter. In Aichingers Lyrik ist die ländliche Gegend Ober­ bayerns stark präsent, wo Aichinger mit ihrer Familie ab 1953 während 30 Jahren lebte. Im Spät­werk erweitert sich mit den verarbeiteten Stoffen auch die Topographie in alle Himmels­ richtungen. Vgl. dazu mein Vorwort zu Unglaubwürdige Reisen, UR 7–12. 45 Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“.

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Einleitung

antritt.46 Es ist die Prosa in Eliza Eliza und Schlechte Wörter, die Thums als Eingedenken an die Toten durch das mythische, mnemonische und mystische Umschreiben einer Leerstelle interpretiert und bei der ihr an dekonstruktivistischen Texttheorien orientierter Ansatz besonders fruchtbar ist  : Gerade „die Tendenz der Texte, die eigene Begründung auszulöschen und auf der selbstreflexiven Metaebene zur leeren Struktur zu werden“,47 verleiht, so ihre These, dem Nicht-Darstellbaren ein Gedächtnis. Indem dieses sich gegen jede Vereinnahmung sperrt, hebt es hervor, „dass jedem propositionalen Sprechen Verschwiegenes, Vergessenes und der Repräsentierbarkeit Entzogenes eingetragen ist“.48 Hier soll dagegen der andere Strang von Aichingers Werk im Zentrum stehen und, ausgehend von einem per­formativen, Medialität und Vollzug betonenden Sprachverständnis, auch die andere Seite dieses Schreibens und Erinnerns, das stets darauf zielt, Abwesenheit in Präsenz, Erinnerung in Gegenwart zu wenden.49 Die Kapitel 4 und 5 befassen sich in diesem Sinn mit Kurzschlüsse. Wien (entstanden 1953), der Erinnerungs­prosa in Kleist, Moos, Fasane (1959–1982) und den Feuilletons, die in Film und Verhängnis (2001) und Unglaubwürdige Reisen (2005) versammelt sind. Mit der Hinwendung zum konkreten und persönlichen Erinnern folgt Aichingers Werk einer allgemeinen Tendenz der deutschsprachigen Literatur.

46 Die Arbeiten von Lorenz und Lindemann bemühen sich um einen ersten Überblick über das gesamte Werk. Dagmar C. Lorenz  : Ilse Aichinger. Königstein/Ts. 1981. Gisela Lindemann  : Ilse Aichinger. München 1988. Eine Reihe von Dissertationen befasst sich mit einzelnen Werken, wobei überwiegend die Prosa im Blick ist  : Eleonore De Felip  : Die Zumutung einer Sprache ohne alle Gewähr. Ilse Aichingers Szenen und Dialoge ‚Zu keiner Stunde‘. Innsbruck 2005. Antje Friedrichs  : Untersuchungen zur Prosa Ilse Aichingers. Münster 1970. Vera Neuroth  : Sprache als Widerstand. Anmerkungen zu Ilse Aichingers Lyrikband ‚Verschenkter Rat‘, Frankfurt/M. u.a. 1992. Nicole Rosenberger  : Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman ‚Die größere Hoffnung‘. Wien 1998. Miriam Seidler  : „Sind wir denn noch Kinder  ?“ Untersuchungen zur Kinderperspektive in Ilse Aichingers Roman ‚Die größere Hoffnung‘ unter Einbeziehung eines Fassungsvergleichs. Franfurt/M. 2004. Annette Ratmanns differenzierte Untersuchungen ausge­wählter Prosastücke und Gedichte sind ebenfalls ohne thematische Fokussierung. Annette Rat­mann  : Spiegelungen, ein Tanz. Untersuchungen zur Prosa und Lyrik Ilse Aichingers. Würzburg 2001. 47 Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“, S. 418. 48 Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“, S. 418. 49 Auch Thums betont, dass Aichingers Um-Schreibung der Leerstelle nicht im destruktiven Verfah­ren der Sinnzerstreuung aufgeht, sondern, wie insbesondere das mystische Paradigma zeigt, zugleich im Akt der Konstruktion von Ähnlichkeitsbeziehungen das Nicht-Darstellbare ahnend er­fasst. Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“, S. 419.

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger

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Mit zunehmendem zeitlichem Abstand wenden sich Autoren den Geschehnissen im Dritten Reich jenseits von univer­salisierend allegorischer Abstraktion und Unsagbarkeitstopos zu, indem sie sich von einem bewusst subjektiv beschränkten Standpunkt aus auf Spurensuche machen. Ich wüsste allerdings keine zweite Autorin, die dieses Projekt so radikal vorantreibt wie Aichinger in ihrem Spät­werk, das sich wöchentlich neu zum Erinnern aufmacht, das bereits vielfach Erin­nerte immer weiter transformiert und damit der Vorstellung einer „Vergangen­heitsbewältigung“, die sich aus gesicherter Position das früher Geschehene neu aneignet, die Praxis eines Erinnerns entgegenhält, das mitsamt seinen Gegen­ständen im Fluss bleibt. Den Grundstein von Aichingers Erinnerungsprojekt bildet dennoch ihr Roman, den sie unmittelbar nach dem Krieg zu schreiben begann. Ellens Weg durch die Stadt, der im Sprung über die zerstörte Brücke endet, gibt das Grund­muster vor. Das Wiedersehen und Gespräch mit dem ermordeten Freund Georg auf der Brücke ist die Urszene von Aichingers vergegenwärtigendem Erinnern. Die Wiener Schwedenbrücke, wo sie ihre jüdischen Angehörigen zum letzten Mal sah, als sie auf Lastwagen weggebracht wurden, ist der Ort, auf den jede Erzähl- und Erinnerungsbewegung zuläuft. Der 6. Mai 1942, der Tag, an dem sich dies ereignete, ist – mit Celan gesprochen – Aichingers „20. Jänner“, der jedem ihrer Texte eingeschrieben ist und dem das Schreiben stets eingedenk zu bleiben versucht. 50 Die späteren Texte führen und entwickeln das Erinnerungsprojekt weiter in immer neuen Formen und mit zunehmender Komplexität und Dynamik in Reflexion und Darstellung. Dabei wird das nach vorne gerichtete Paradigma der „Hoffnung“ durch die „Erinnerung“ abge­löst, die die früheren Augenblicke der Hoffnung immer neu in Gegenwart übersetzt. Das explizit autobiographische Erinnern setzt in dem Moment ein, wo sich – in den Prosagedichten Stadtmitte und Landstraße geschieht es zum ersten Mal – im Text die Gegenwartsebene eines sich erinnernden Ichs etabliert. 50 „Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt  ? Viel­ leicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies  : daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben  ?“ Celan  : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen, S. 196. Celan nimmt mit dem Datum Bezug auf den Anfang von Büchners Lenz  : „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ Marlies Janz hat den Bezug zu Celans eigenem „20. Jänner“ hergestellt  : dem 20. Januar 1942, an dem auf der Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde. Marlies Janz  : Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frank­furt/M. 1976, S. 105f.

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Einleitung

Mit diesem Schritt wird das Erzählen „vom Ende her und auf das Ende hin“ (DG 10) abgelöst durch ein Erinnern, „das sich nicht zu Ende begreift“ (FuV 107) und damit keinen festen Außenstandpunkt mehr hat. An die Stelle des heilsgeschichtlichen Schemas von Verlust und Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands tritt das Muster einer Erinnerung, die herausgehobene Momente unterschiedlicher Zeitschichten verbindet. Die Dichotomie von Kindheit und Erwachsenenleben, Positionsraum und Situationsraum, Schriftlichkeit und Mündlichkeit verliert an Bedeutung. Was bleibt, ist das räumliche Modell der Polarisierung und überschreitenden Ver­mittlung. Es wird zum Erinnerungsmodell, in dem sich eine Gegenwarts- und eine Vergangenheits­ ebene gegenüberstehen, die zunehmend aufeinander durchlässig werden, bis dass im entgrenzenden Sprung das Vergangene zu neuer Präsenz kommt. Im Erinnerungsprozess ist die Ebene des Erinnerns dem Erinnerten vorge­ ordnet, sodass die Texte nun nicht mehr Vergangenheit vergegenwärtigen, sondern von der Gegenwart ausgehen, deren Wege in die Erinnerung führen. In Wien, der Großstadt, ist Vergangenheit in besonderer Weise im Raum zugänglich. Der (groß-)städtische Raum hat als Gedächtnisort51 eine herausragende Stellung, da er viel Information auf engem Raum präsentiert, und weil in ihm in beson­derem Maß verschiedene Zeitschichten sichtbar werden. In der Großstadt scheint das zeitliche Nacheinander im räumlichen Nebeneinander begehbar. Sie macht die Vergangenheit greifbar und entzieht sie doch  :52 51 Assmann definiert den „Gedächtnisort“ als Ort ehemaliger Präsenz, der ein Zeichen der Erinne­ rung an eine bedeutende vergangene Begebenheit festhält, und grenzt ihn ab vom „heiligen Ort“, der die Präsenz eines numinosen Wesens verbürgt, dem auratischen „genius loci“, an dem Natur­stimmen oder Geisterstimmen einer verschollenen Vergangenheit zu vernehmen sind, dem „Ge­denkort“, wo rituelle Kommemoration stattfindet, und dem „Schauplatz“ oder „Tatort“, der die Indizien eines Verbrechens, eines Ereignisses oder einer Person für nachträgliche Zeugen festhält. Aleida Assmann  : Das Gedächtnis der Orte. In  : DVjs 68 (1994), S. 17–35. 52 Stierle formuliert zwei Prinzipien der „urbanen Semiose“  : 1. „Nähe des Fernen, Ferne des Nahen“ als Strukturformel für die Erfahrung der großen Stadt. Einerseits steht das Fernste, Unzu­ gänglichste in einer prinzipiellen relativen Nähe, da die Distanzen hier nicht so sehr räumliche als zeichenhafte sind. Anderseits rückt auch das Nächste, sich unmittelbar Darbietende in eine prinzi­pielle Ferne, da das Fremde stets das Vertraute überwiegt. Indem das Nahe den Blick auf anderes verdeckt, steht alles Erscheinende vor einem Horizont des Abwesenden, den die Summe seiner sich überlagernden Erinnerungen heraufruft. – 2. Die Stadt ist das Medium, wo die Wirklichkeit immer im Zustand des semiotischen Zerfalls, der Spaltung von Bezeichnendem und Bezeichnetem begriffen ist. Ein Riss geht durch die Erscheinungen, bricht ihre Identität auf und macht sie zur Verweisung auf das, was sie selbst nicht sind. Die Stadt ist ein Ort gesteigerten Bewusstseins, das durch die semiotische Unruhe unablässig in Erregung gehalten

Raum, Topographie und Erinnerung bei Ilse Aichinger

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Da die Distanz zu dem zu erinnernden Ereignis konstitutiver Bestandteil der Materialität von Gedächtnisorten ist, können diese insofern auch im Sinne von W. Benjamins Begriff der Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit) verstanden werden. Gedächtnisorte verweisen zwar auf authen­tische Erfahrungen, ermöglichen aber nicht deren Wiederholung.53

In der Stadt kann sich Erinnerung einstellen, da die Vergangenheit darin als Ab­wesende präsent ist. Während Aichingers Prosagedichte und die Erinnerungsprosa in Kleist, Moos, Fasane sich von der Flaneur-Literatur distanzieren, indem sie auch auf der Ebene des Erinnerns keine kontinuierlichen Wege verfolgen, wird Wien in den Feuille­tons in ganz konkreter Weise zum Schauplatz und Ausgangspunkt des Erinnerns, indem Aichinger, die inzwischen auch wieder in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend wohnhaft ist, hier schreibt, erinnert und publiziert. Zwei herausgehobene Orte gibt es in der Stadt, an denen die Autorin selbst, beziehungsweise ihre Texte „verschwinden“ können, um dem Erinnerten das Feld zu überlassen  : das Kino und das Café. In den Feuilletons des Spätwerks ersetzt Aichinger in ihrer Wiener Topo­ graphie die Kirchen durch Kinos und Cafés und in ihrer Argumentation die christlich geprägten Begriffe und Bilder durch kinematographische. Das rituell-religiöse Zeichen- und Erinnerungsmodell, das das Frühwerk prägte und auch in Kleist, Moos, Fasane noch stark präsent ist, wird durch ein medial-performatives abgelöst. Und mithin auch ein der Moderne verpflichtetes Konzept, das stets auf die verlorene Ganzheit bezogen bleibt, durch eines, das Pluralität und Prozes­sualität betont, dem Evidenten und Passgenauen das Unglaubwürdige, Über­triebene, Oberflächliche und Flüchtige vorzieht und damit eher der Postmoderne zuzuordnen ist. In waghalsigen, nicht mehr immer nachvollziehbaren Richtungs­wechseln und Sprüngen, über Motive, Anspielungen, Zitate auf das eigene Werk und andere kulturelle Erzeugnisse vom Film bis zu Boulevardschlagzeilen und Alltagsgesprächen, erfasst die Erinnerung immer weitere Stoffe, die als erinnerte Inhalte zugleich immer weniger wird. In einer zweiten Bewegung sodann schließt sich der Riss wieder, kehrt der Blick aus der Zeichenferne zurück und erfährt das Konkrete in seiner eigenen unerschöpflichen Besonderheit, wodurch die Stadt auch zum Ort der Präsenz wird. Karlheinz Stierle  : Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt. München 1993, S. 37f. 53 Beate Binder  : Gedächtnisort. In  : Gedächtnis und Erinnerung, S. 199–200, hier S. 200.

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Einleitung

zu greifen sind. Im Buch Film und Verhängnis versammelt und mit einer Vor­ bemerkung versehen, die sich mit den diskursiven Normen der Gattung der Autobiographie auseinandersetzt, vereinen sich die Feuilletons zu einer „flüchtigen Autobiographie“, in der die Autorin als sich schreibend Erinnernde präsent ist, als Gegenstand aber verschwindet. Unter der Bedingung der von Woche zu Woche fortgeführten Kolumne entwickelt Aichinger die Form der modernen Autobiographie weiter, indem sie den Erin­nerungsprozess in einem Alltag verankert, der sich nicht auf die Funktion der Erinnerungsgenerierung beschränkt, und von hier aus einzelne Episoden immer neu und in zunehmend unglaubwürdigerer Zuspitzung erzählt. Die zentralen Inhalte und Thesen der Kapitel sind jeweils im einleitenden Teil zusammengefasst. Die Sekundärliteratur, die nur im Fall von Die größere Hoff­nung etwas umfangreicher ist, wird an den entsprechenden Stellen in Fußnoten diskutiert.

Kapitel 1

Springen, um nicht überklebt zu werden Das Plakat als Raum-, Zeichen- und Lektüremodell

1.1 Aus der Tiefe in die Fläche, von der Fläche zum Sprung  : Drei Raumqualitäten Im Essay Die Sicht der Entfremdung von 1952, einem Porträt Ernst Schna­bels, skizziert Ilse Aichinger mit wenigen Sätzen das Raum-, Zeichen- und Lek­ türemodell, auf dem ihre Texte basieren. In der Erzählung Das Plakat von 1948, die im Band Der Gefesselte erschienen ist, spielt sie es durch anhand der Ge­schichte eines Jungen, der eben noch vom Strand in die See springen wollte, nun aber im zweidimensionalen Raum eines Werbeplakats festgehalten ist, das in einer Stadtbahnstation hängt. Anhand von Essay und Erzählung soll das Modell in diesem ersten Kapitel exemplarisch aufgezeigt und erläutert werden. Kapitel 1.1 charakterisiert die unterschiedliche Struktur und Qualität der beiden Räume, die Aichinger „Zustand der Kindheit“ und „Raum der Erwach­ senen“ nennt und hier mit der Terminologie des Existentialphänomeno­logen Maurice Merleau-Ponty als „Situationsraum“ und „Positionsraum“ be­zeichnet werden. Den Prozess, in dem einem Erwachsenen der Raum der Kind­heit auf neue Weise wieder zugänglich werden kann, führt Das Plakat systematisch vor. Kapitel 1.2 zeigt in einer detaillierten Analyse der Erzählung, wie der Junge auf dem Plakat durch die Kommunikation mit den Menschen in der Stadtbahnstation erst das Wissen er­langt, „was sterben heißt“, und dann die Fähigkeit zum leiblichen Sprung, mit dem er selbst stirbt und zu leben beginnt. Das Zeichen, zu dem der Junge auf dem Plakat geworden ist, bekommt an dem Ort, wo es rezipiert wird, neue Wirklichkeit, unter der Bedingung, dass es nicht als Stellvertreter, sondern in seiner individuellen Präsenz wahrgenommen wird. In 1.3 folgt die Beschreibung des zyklischen Musters von Begrenzung und Entgrenzung, das im Raum, in dem die Erzählung spielt, die Dynamik des Textes abbildet und ganz ähnlich auch bei anderen Autoren der 50er-Jahre zu finden ist, Friedrich Dürren­matt und Ingeborg Bachmann zum Beispiel. Jeder Zyklus beginnt mit einer Polarisierung und Schließung

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Springen, um nicht überklebt zu werden

des Raumes. In der Mitte sind die Wände und Grenzen durchlässig. Am Ende werden sie von außen geöffnet, und die Extrempole schlagen ineinander um. Kapitel 1.4 zeigt, durch welche strukturellen Merkmale der Text selbst – nach dem Vorbild des Jungen auf dem Plakat – im Dialog mit dem Leser die Ver­ wandlung aus dem flachen Raum der Schriftlichkeit in einen neuen tiefen Raum der Mündlichkeit vollzieht  : Ein Sub­jekt- und Perspektivenwechsel von Abschnitt zu Abschnitt verlangt vom Leser immer wieder eine neue Positionierung. Die im Abschluss gleich wieder einen Anfang setzende Geste am Ende jeder Texteinheit fordert ihn zum Springen auf. In der Folge der Abschnitte entsteht ein Muster existentieller Wiederholung, die das Vergangene unter neuen Voraussetzungen aktualisiert und damit Identität und Veränderung vereint. „Sicht der Kindheit“, „Zeit der Erwachsenen“  : Situationsraum und Posi­t ionsraum. Der Essay Die Sicht der Entfremdung beginnt mit einer Gegen­warts­analyse, welche die Struktur des Raumes und deren Veränderungen fokus­siert. Sie verbindet nach dem heilsgeschichtlichen Muster von Verlust und Resti­tution eines paradiesischen Zustandes drei historische und individualbiogra­phische Epochen mit je unterschiedlichen Raumstrukturen  : Unsere Welt ist allzu bekannt geworden, sie ist durchfahren und überflogen und nach allen Rich­tungen durchquert, wir haben mit unseren Flug- und Schiffahrtslinien die Landkarten durchkreuzt und sind blind geworden. Fast alles Unbetretene ist betreten, und es ist heute möglich, in verbil­ligten Autobusreisen Kontinente zu durchfahren und die Welt von einem Ende zum andern zu durchblättern wie ein Postkartenalbum. Von einem Ende zum andern – nur den Anfang finden wir nicht mehr, die Sicht der Kindheit, die Orte zu Orten werden läßt und ihnen ihre Namen neu gibt. Man könnte diese Zeit die Zeit der erwachsenen Leute nennen  ; der tiefe Raum, in dem während der Kindheit und frühen Jugend die Szenen abliefen, hat seine Dimension verloren. Noch während wir hinsahen, ist der Vorhang niedergegangen, die Figuren sind eingezeichnet und bewegen sich nicht mehr. (KS 51)

In der Gegenwart, die Aichinger „die Zeit der erwachsenen Leute“ nennt, ist „unsere Welt“ als ganze im Blick, „von einem Ende zum anderen“. G ­ erechnet wird im Größenmaß von „Kontinenten“. Die Mobilität ist hier unbeschränkt  : Im Tempo moderner Verkehrsmittel „durchfahren“, „durchquert“, „durchkreuzt“ und „überflogen“, ist die Welt an jedem Punkt in jeder Richtung einsichtig, zu­gänglich und berechenbar. Als Verkehrs-„Linie“ erscheint die Bewe-

Aus der Tiefe in die Fläche, von der Fläche zum Sprung  : Drei Raumqualitäten

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gung in räumlicher Gleichzeitigkeit. Im Verhältnis zum früheren Zustand hat der gegen­wärtige Raum „seine Dimensionen verloren“  : Der Raum ist flach und abstrakt geworden. Die Welt ist eine „Landkarte“, die Wege sind „Linien“, die Orte Post­karten  : festgehaltenes Bild, schönfärberische Werbung, vielfach gedruckt, käuf­lich, überall verfügbar. Eine solche Welt zu bereisen, scheint wenig Wert zu haben, sonst wären die Autobusreisen nicht „verbilligt“. Der „Raum der Erwachsenen“, wie Aichinger ihn schildert, ist der kontinu­ ierliche, unendliche, unbewegte, qualitätslose, isotrope Raum der euklidischen Geometrie. Es ist der zeitlose „Positionsraum“, dessen Punkte ausschließlich quantitativ und funktional bestimmt sind. Die Medien, in denen der Positionsraum erscheint, sind bei Aichinger die Landkarte, die Postkarte, das durchblätterte Album  : ort- und zeitunabhängig verfügbare Medien der Bild- und Schrift­kultur, die ihre Inhalte auf einer zweidimensionalen Oberfläche mittels konven­tionell festgelegter Zeichen darstellen. Der verlorene Raum ist schwerer zu fassen als der Positionsraum, dem unsere Raumvorstellung gewöhnlich entspricht. Nach Aichingers Definition ist in der „Kindheit und frühen Jugend“ der Raum „tief “. Statt einem „Ende“ auf beiden Seiten hat er einen „Anfang“. Es gibt bewegte „Szenen“ und lokalisierbare „Orte“. In diesem Raum muss leibliche Bewegung möglich sein und sinnliche Wahrnehmung der nächsten Umgebung. Hier soll es fremdes, unbekanntes, unbe­tretenes Terrain geben, Singularität und Individualität. Dem Raum, den Aichinger der „Sicht der Kindheit“ zuordnet, entspricht in Merleau-Pontys Terminologie der „Situationsraum“,1 welcher in einem wahrneh­menden, sich bewegenden und kommunizierenden Subjekt gründet und damit ein Raum in der Zeit ist.2 Der Situationsraum ist nicht gleichförmig  : Bin ich im Raum anwesend – ‚situiert‘ –, gibt es darin einen herausgehobenen Ort, der sich insofern grundlegend von allen anderen Punkten im Raum unterscheidet, als ich mich davon nicht entfernen kann, auch wenn ich meine objektive Position verändere. Das Hier und Jetzt meines Leibes, „von dem aus ich sehe, den ich selber aber nicht sehen kann“,3 ist der Punkt, an

1 Maurice Merleau-Ponty  : Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen v. Rudolf Boehm. Berlin 1966, S. 125. 2 Merleau-Ponty bestimmt die situative Zeit als die Zeit, die das Subjekt erfährt, indem es in der Wirklichkeit engagiert ist  : „Die Zeit ist also kein realer Prozess, keine tatsächliche Folge, die ich bloß zu registrieren hätte. Sie entspringt meinem Verhältnis zu den Dingen.“ MerleauPonty  : Phä­nomenologie der Wahrnehmung, S. 468. 3 Merleau-Ponty  : Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 117.

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Springen, um nicht überklebt zu werden

dem der Raum entspringt  :4 Dies ist der „Anfang“, von dem Aichinger spricht. Das Gegenstück zum Hier und Jetzt bildet das Gegenüber, auf das sich die Intention des Subjekts richtet  : Ich kann dem ‚dort‘ Befindlichen nur ‚hier‘ im Eigenen inne werden und umgekehrt mich selbst und meinen Ort nur über den Umweg des Anderen wahrnehmen. Die Dimension, die vom Hier und Jetzt ausgeht, ist die Tiefe. Anders als der Positionsraum, der prinzipiell unendlich ist, hat der Situationsraum absolute Grenzen  : einen Horizont, den man zwar verschieben und erweitern, nie aber berühren oder überschreiten kann. Die Grenzen begründen die paradoxe Offenheit des Situationsraumes  : „Daß ich ein Gesichtsfeld habe, diese Aussage besagt, daß […] meine Sicht stets eine begrenzte ist, daß mein aktuelles Sehen stets umgeben ist von einem Horizont nicht gesehener, ja überhaupt nicht sichtbarer Dinge.“5 Das Medium, in dem der Situationsraum erscheint, ist bei Aichinger, die von „Szenen“ und „Vorhang“ spricht, das Theater. Im Theater ist die Sprache münd­lich, kommunikativ und performativ  : Ein handelndes Subjekt artikuliert sich in einer konkreten Situation. Wenn Sprache, wie Aichinger schreibt, den Orten ihre „Namen“ neu gibt, dann ordnet sie ihnen nicht einen allgemeinen Begriff zu, sondern beschenkt sie mit einer individuellen Benennung. Aichingers Diagnose beschränkt sich nicht auf die Feststellung des gegen­ wärtigen Mangels. Sie sieht in Ernst Schnabels Schreiben auch einen Weg, die „Gefahr dieser Zeit“ in eine „Chance“ zu wenden und den früheren Zustand unter ganz anderen Bedingungen wiederherzustellen  : Und in allem, was er geschrieben hat, ist es ihm gelungen, die Gefahr dieser Zeit in ihre Chance zu verwandeln. Er weiß, daß wir nichts mehr zu entdecken haben, oder alles, und daß der neue Konti­nent, den wir finden müssen, alle Kontinente zusammenfaßt. Daß der Columbus von heute nicht die fremde Welt bekannt machen muß, sondern die allzu bekannte fremd. Er entdeckt den Raum als etwas zu Verantwortendes, Fliehendes, vorübergehend Geschenktes, und die Vertauschbarkeit von Raum und Zeit. (KS 53f.)

Ein neuer Modus der Betrachtung macht das „allzu bekannte“ „fremd“ und damit neu entdeckbar. Zu entdecken ist allerdings nicht irgend etwas, son4 „Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ‚hier‘ nicht eine im Verhältnis zu anderen Posi­tionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt.“ Merleau-Ponty  : Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 125. 5 Merleau-Ponty  : Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 254.

Aus der Tiefe in die Fläche, von der Fläche zum Sprung  : Drei Raumqualitäten

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dern, in radi­kaler Zuspitzung, „nichts“ oder „alles“. Unter der Bedingung, dass sich ein Sub­jekt findet, das den Raum „verantwortet“, der ihm im Gegenzug „geschenkt“ wird. „Vorübergehend“ soll es den Raum bekommen als ein „Fliehendes“  : in neuer Zeitlichkeit, die als beschleunigte Vergänglichkeit und rasches Entgleiten erscheint. Im Augenblick wird die Zeit zum Raum. Das Konzept leitet sich von der Existenzphilosophie Kierkegaards ab, den Aichinger in den 40er-Jahren intensiv gelesen hat  :6 Der neue Situationsraum, der „nichts“ oder „alles“ umfasst, ist gleichbedeutend mit der Existenz, die sich aller Objektivierung entzieht und nur in der Entscheidung zum paradoxen Sprung in die Subjektivität zugänglich ist. Das Zeitmaß des Sprunges ist der Augenblick, der als Unterbrechung der Zeitachse erscheint, als Riss, als Sprengung  : Im Jetztpunkt, wo Zeitlichkeit erfahrbar wird, springt Zeit in Ewigkeit um  : „Dank des Einbruchs der Ewigkeit in die Zeit ist er kein leerer Jetztpunkt, sondern erfüllte Gegen­wart.“7 Wie der Weg zu diesem Sprung aussehen kann, stellt die Erzählung Das Plakat modellhaft dar, in der wie im Schnabel-Essay die Entwicklung eines Menschen vom Kind zum Erwachsenen mit der Veränderung des Raumes, unter­schiedlichen Sichtweisen, Zeichenkonzepten und Medien verbunden ist. Der Raum, in dem die Erzählung spielt, eine Stadtbahnstation, liegt an einer „Ver­kehrslinie“, wie der Schnabel-Essay sie dem Raum der Erwachsenen zuordnet. Das Plakat, auf dem der Junge mitten im Sprung (fotografisch) festgehalten ist und nun, mit Schriftzügen versehen, für ein Ferienlager wirbt, ist ein ort- und zeitunabhängig verfügbares zweidimensionales Medium der Bild- und Schrift­kultur. Zwei Sündenfälle  : Kleist und Kierkegaard. Die erste Veränderung des Raumes vom Situationsraum an der See, wo der Junge springend unterwegs war, in den Positionsraum des Plakats ist mit dem Motiv des Sündenfalls verbunden  : Der Junge ist „festgehalten wie zur Strafe für Sünden, von denen er nichts wußte“ (III).8 Der Vorgang, der sich zu Beginn der Erzählung bereits vollzogen hat, und dessen Gründe erschließen sich über den Intertext von 6 Wie Ilse Aichinger mir erzählte, kannte sie aus Kierkegaards Werken ganze Passagen auswendig. Kennen gelernt hat sie Kierkegaard im Kreis um Friedrich Hansen-Löwe, dem Herausgeber der Zeitschrift Wort und Wahrheit, für die sie auch Rezensionen verfasste. 7 Michael Theunissen  : Augenblick. In  : Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel 1971. 8 Die Textstellen der Erzählung, die im Band Der Gefesselte S. 39–47 zu finden ist, werden durch die Abschnittzahl in römischen Ziffern ausgewiesen.

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Springen, um nicht überklebt zu werden

Heinrich von Kleists Auf­satz Über das Marionettentheater, der einen Verlust des Situationsraumes zeigt, der alle von Aichinger genannten Elemente enthält  : Sündenfall, Bewusstwerdung, Erwachsenwerden, Veränderung des Sehmodus. Kleists Erzähler, der auch den einen Part des berichteten Dialogs bestreitet, begründet die Veränderung des Raumes mit dem Sündenfall der Bewusstwerdung, die sich in der Adoleszenz unumgänglich vollzieht  : Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wiedergefunden.9

Der junge Mann, der dem Erzähler als Beispiel dient, verliert die „natürliche Grazie“, als er versucht, eine unbewusst vollzogene Bewegung vor dem Spiegel zu wiederholen. „Grazie“ hat die Bewegung, wenn sie unbewusst aus der Mitte des Leibes koordiniert ist  : im Situationsraum.10 Im Anblick des Spiegels geht die Grazie verloren, weil der junge Mann die Bewegung nun über die Vorstellung steuert, die die eigene Person als Objekt im Positionsraum denkt. Auch bei Kleist ist die Folge Erstarrung in einem geschlossenen Raum  : Der junge Mann bleibt tagelang vor dem Spiegel stehen, wo sich „eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt […] wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen“11 scheint. Da Wahrnehmung und Bewegung und damit das Erleben von Wirklichkeit nur im Situationsraum möglich sind, ist für Aichinger wie für Kleist die ent­scheidende Frage, ob und unter welcher Bedingung man vom Positionsraum aus wieder in den Situationsraum gelangen kann. Für den Erzähler im Marionetten­theater gibt es kein Zurück zum unbewussten Zustand. Die einzige Möglichkeit sieht er in einem weiteren Schritt vorwärts  : „wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.“12   9 Heinrich von Kleist  : Über das Marionettentheater. In  : Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3. Hrsg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1990, S. 555–563, hier S. 560. 10 Mit den Worten von Kleists Tänzer, dem anderen Dialogpartner  : „Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt  ; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren  ; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgend ein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.“ Kleist  : Über das Marionettentheater, S. 556. 11 Kleist  : Über das Marionettentheater, S. 551 12 Kleist  : Über das Marionettentheater, S. 563.

Aus der Tiefe in die Fläche, von der Fläche zum Sprung  : Drei Raumqualitäten

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Um in einen neuen Situati­onsraum gelangen zu können, müsste der junge Mann einen noch höheren Grad an Bewusstsein erlangen. Kleist projiziert das zweite Essen vom Baum der Erkenntnis als „das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“13 in eine uneinhol­bare Zukunft. Aichinger als Autorin des 20. Jahrhunderts, wo Physik wie Phänomenologie und Psychologie dynamische Raumkonzepte jenseits der eukli­dischen Schachtel entwickeln, spielt diesen zweiten Sündenfall durch, der über eine weitere Stufe des Bewusstseins zuletzt mit dem wörtlichen Schritt vorwärts in einen neuen Situationsraum führt. Dabei behält sie die von Kleist vorgegebene Richtung bei, wenn sie ­davon ausgeht, dass der Weg zum Anfang zurück über das Ende führen muss, und wenn sie im schriftlichen Text eine Dynamik hin zu neuer Mündlichkeit initiiert, indem sie ihn als durch Mimik und Gestik begleiteten Dialog gestaltet. Aichinger erweitert Kleists Versuchsanordnung um die kommunikative Situ­ation zwischen dem Zeichen, zu dem der Junge mit dem ersten Sündenfall ge­worden ist, und dessen Leser und Betrachter  : Das Plakat hängt in einer Stadtbahn­station, wo sich verschiedene Passanten aufhalten. Indem diese sich durch die Station bewegen, kommt Zeit und Subjektivität in den Raum. Indem sie das Plakat wahrnehmen, entsteht eine kommunikative Situation. „‚Du wirst nicht sterben  !‘“ (I), spricht der Mann, der das Plakat eben auf die Wand aufgezogen hat, mit dem ersten Satz der Erzählung den Jungen an. In diesem Moment öffnet sich dem Jungen eine neue Dimension  : räumlich nach vorne zum Gesprächspartner in der Stadtbahnstation und zeitlich in die Zukunft. Es ist in diesem kommunikativen Raum, der durch die Lektüresituation entsteht, wo es für das Zeichen die Möglichkeit gibt, durch einen weiteren Schritt nach vorne in einen neuen Situati­onsraum zu gelangen. Die Ausgangssituation von Das Plakat ist eine freie Reinszenierung der existentialistischen Interpretation des Sündenfalls durch Kierkegaard in Der Be­ griff der Angst. Diese geht davon aus, dass der paradiesische Adam weder das göttliche Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, noch die angedrohte Kon­sequenz der Verbotsübertretung – „denn sobald du davon issest, mußt du sterben“ (Gen. 2,16) – begreifen kann, weil das Verständnis die Übertretung des Verbots voraussetzt. Das Verbot signalisiert für Adam vorerst bloß die abstrakte Möglich­keit, überhaupt etwas zu können – eine Freiheit, die Angst und Schrecken weckt  :

13 Kleist  : Über das Marionettentheater, S. 563.

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Springen, um nicht überklebt zu werden

Das Verbot ängstigt [Adam], weil das Verbot die Möglichkeit der Freiheit in ihm weckt. Was an der Unschuld vorübergestreift ist als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst hineingetreten, und ist hier wiederum ein Nichts, die ängstigende Möglichkeit zu können.14

Ins Bewusstsein kommt diese Angst als „Nichts“, das die Tendenz in sich trägt, zu „Etwas“ zu werden  : zur Übertretung des Verbots. Die Antwort auf die Mög­lichkeit zu können, ist der Sprung. Der Sprung, mit dem aus der Möglichkeit Wirklichkeit wird, ist die Erfüllung der Freiheit und ihr Sündenfall  : Wenn aber gehandelt worden ist […], gibt sich die Freiheit auf in der nun gesetzten Wirklichkeit, die vorher Möglichkeit gewesen war. Den Schritt zurück gibt es dann nicht mehr. Nach einer Handlung mit ihren verpflichtenden Folgen mag zwar die Angst vorüber sein, aber man weiß auch, daß man nur vorher frei gewesen war. Der Sündenfall ist eingetreten.15

In der Erzählung, in deren ersten Abschnitten die Stichworte „Angst“, „Schreck“, „Schwindel“, „Möglichkeit“, „Sünden“, Verbot und Schuld auf den Intertext verweisen, erwacht beim Jungen auf dem Plakat, als er durch den Mann auf der Leiter angesprochen wird, der Wunsch zu wissen, was sterben heißt. Es erwacht das Bewusstsein, dass es da etwas gibt, von dem er bisher nicht wusste. Mit dem ersten Satz der Erzählung wechselt der Junge, ohne dabei seine Körper­stellung zu verändern, vom zeitlosen Positionsraum in einen Situationsraum, in dem Sterben und Leben wie die Tiefendimension nicht inexistent, sondern unter­sagt sind  : „‚Das Betreten der Schienen ist verboten  !‘“ (III), steht in der Stadtbahn­station vor den Augen des Jungen auf einer Tafel. Die Erzählung zeigt den Weg vom Bewusstsein der Möglichkeit zum leiblichen Sprung. Von der Ansprache „‚Du wirst nicht sterben  !‘“ (I), die der Junge als Aufforderung versteht, zur Antwort „‚Ich sterbe  !‘“ (XXII), mit der er von der Wand auf die Schienen springt.

14 Sören Kierkegaard  : Der Begriff der Angst. In  : Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg. und übersetzt v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans. Düsseldorf  ; Köln 1950ff., S. 42f. 15 Konrad Paul Liessmann  : Kierkegaard zur Einführung, Hamburg 1993, S. 93.

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1.2 Aufforderung zum Tanz  : Die Kommunikation in der Stadtbahnstation Gewöhnlich gibt es keine direkte Kommunikation zwischen einem Zeichen aus Bild und Schrift und seinem Betrachter  : Das Zeichen kann sich nicht auf ein konkretes Gegenüber einstellen.16 Am Anfang von Das Plakat aber sieht „der Mann, der die Plakate klebte“ (I), sich durch das Plakat auf eine Weise herausge­fordert, dass er den Jungen nicht als Stellvertreter anspricht, sondern als Original, nicht als „es“, sondern – mit Bubers Terminologie gesprochen – als „du“  : „‚Du wirst nicht sterben  !‘“ (I) Im Moment der Begegnung, wo sich das System der Lektüre noch nicht etabliert hat, ist die Interaktion direkt und symmetrisch. Der Mann mit der Leiter kommuniziert im weiteren Verlauf nicht mehr mit dem Jungen auf dem Plakat. Im Text besteht die kommunikative Situation, die durch die anfängliche Begegnung entstanden ist, aber weiter, indem nun der Junge und der Mann abwechselnd Subjekt der Handlung sind. Und es ist diese kommuni­kative Dynamik, die die Situation des Jungen allmählich verwandelt, von der negierten Möglichkeit der leiblichen Bewegung und direkten Kommunikation zu deren positivem Gegenstück. Der Raum, in dem diese Kommunikation stattfindet, die Stadtbahnstation, deren Architektur eine Wiener Stadtbahnstation von Otto Wagner erkennen lässt, hat selbst die Struktur eines Dialogs  : Er besteht aus zwei gegenüberliegenden Bahnsteigen, die durch die Geleise ge­trennt sind. An den Außenwänden der Bahnsteige hängen Plakate. Eine Treppe führt auf eine Brücke mit Getränkestand, die zum Ausgang führt und die Bahnsteige verbindet. So geometrisiert und symmetrisch wie die Station ist auch die Erzählung, die nach der Wegfahrt eines Zuges beginnt und mit der nächsten Zugeinfahrt endet. Sie besteht aus zwei je 12 Abschnitte umfassenden Hälften  : In der ersten ist der „Mann mit der Leiter“ das kommunikative Gegenüber des Jungen, in der zweiten löst ihn in dieser Rolle ein Kind ab, das an der Hand seiner Mutter auf den nächs­ten Zug wartet. Der Mann beginnt seinen Weg auf der

16 „Es fehlt die face to face situation, der alle Formen sozialer Interaktion entspringen“, beschreibt Wolfgang Iser die „fundamental asymmetrische Beziehung“ zwischen Leser und Text, in der der Text sich nicht auf den je konkreten Leser einzustellen vermag, der ihn gerade zur Hand nimmt, und der Leser vom Text nie die ausdrückliche Gewissheit bekommt, dass seine Auffassungen zu­treffend sind. Vgl. Wolfgang Iser  : Der Akt des Lesens  : Theorie ästhetischer Wirkung. München 1994, S. 262.

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Leiter vor dem Plakat mit dem Jungen und entfernt sich dann, indem er über die Brücke auf die andere Seite wechselt, wo er genau gegenüber von seinem Ausgangspunkt die Leiter wieder aufstellt, um ein Plakat zu überkleben. Das Kind, das sich von Anfang an auf dieser gegenüberliegenden Seite aufhält, nimmt dann über die Schienen hinweg mit dem Plakatjungen Kontakt auf und springt ihm zuletzt über den Bahnsteig hinaus entgegen. Die beiden Hälften der Erzählung bestehen sodann je wieder aus zwei je sechs Abschnitte umfassenden Teilen  : Im jeweils ersten findet ein kommunika­tiver Austausch statt, im jeweils zweiten ein Sprung. Der erste Sprung geschieht im Denken, der zweite ist ein leiblicher. „Jetzt wußte er es“  : Der gedankliche Sprung. Als der Mann die Leiter hinuntersteigt, erfährt der Junge – und wir mit ihm – wie er sich von den Menschen in der Stadtbahnstation unterscheidet  : „Er wollte dem Mann nachschauen, hatte aber keine Möglichkeit, den Blick zu senken.“ (III) Noch viel weniger kann er, seinen Sprung beendend, selbst auf den Boden kommen. Er ist am Wendepunkt seiner Bewegung festgehalten wie die Menschen auf den Plakaten links und rechts von ihm  :17 „halbnackt“ (III), zwischen Land und Wasser, „in der Mitte des Tages“ (VIII), am Scheitelpunkt des Sprungs, wo Fliehgeschwindigkeit und Schwerkraft sich die Waage halten. Als Plakatmensch befindet er sich im zweidimensionalen Positionsraum, dessen Horizontale sich nach links und rechts erstreckt, wo die Plakate in einer Reihe mit zunehmendem Lebensalter18 nebeneinander hängen und so bedürfnis- wie wunsch- und gedankenlos19 eine Welt bevölkern, die abstrahiert ist zu Form und Farbe  : Die See unter dem Jungen ist ein „Streifen“ (V), das Land hinter ihm „ein heller Flecken […], worauf keiner stehen konnte“ (XXII). Die auf dem Auto-Plakat abgebildeten Wolken sind „von silbernen Linien wie von Ketten umgeben, die sie nicht wandern ließen“  : Die lineare Umfassung be17 Das Mädchen verharrt, „einen Blumenstrauß an die Brust gepresst“, am Wendepunkt zwischen dem Nehmen und „Lassen“ des Straußes, der Herr steht mitten in der Aufrichtebewegung vor seinem offenen Auto (IV). 18 Am Anfang steht das Mädchen mit dem Blumenstrauß, dann folgt, in einer Übergangssituation, der Junge beim Sprung in die See, weiter der Herr mit dem blauen Auto und zuletzt, auf der ge­genüberliegenden Seite der Stadtbahnstation, Frauen, die in den Armen ihrer Herren für den Spie­gelsaal eines Tanzlokals werben. 19 „Das Mädchen hatte kein Verlangen, den Strauß, den es kaum halten konnte, aus seinen rosigen Armen zu lassen.“ (IV) Der Herr „dachte nicht daran, sich aufzurichten, das Auto abzusperren und den hellen Wolken ein Stück nachzugehen.“ (IV)

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festigt die Wolken in von links nach rechts gereihten Schriftzügen, die die Figuren auf ihre vertikale Position festschreiben. Über dem Kopf des Jungen „steht“ (im doppelten Wortsinn von ‚ist geschrieben‘ und ‚steht still‘) das Wort „Jugend“ und zu seinen Füßen „Komm mit uns  !“ (V). Das Schlagwort oben setzt die Zeit außer Kraft, indem es den Jungen auf seine Jugend festlegt, der Slogan unten wirbt für oder befiehlt gar die Einordnung ins Kollektiv von Gleichen  : ein Punkt des Positions­raumes zu werden. Doch auch von den Plakatmenschen links und rechts unterscheidet sich der Junge, wie ihm im IV. Abschnitt deutlich wird  : Denn in Wahrnehmung und Denken existiert für ihn auch die Dimension nach vorne, mit der auch ein unsicht­bares ‚Hinten‘ entsteht  : der Situationsraum. „Vor sich“ hat er „den Staub und die Stille der Station und die Tafel mit der Aufschrift ‚Das Betreten der Schienen ist verboten  !‘“ (III) Verzweifelt lacht er „auf die andere Seite der Station, wo das Kind vor sich hin sang und die Frau verloren und sehnsüchtig zu ihm hinübersah.“ (III) „Der Junge im Gischt war der einzige, dem die Auflehnung hinter dem er­starrten Lachen saß wie das unsichtbare Land hinter der gelben Küste.“ (IV) Der Junge steht genauso da wie die anderen Plakatmenschen, anders als diese empfin­det er nun aber schmerzhaft den Zustand vertikaler Differenz, in dem er fest­gehalten ist  : Er lacht „schreckerfüllt“ (III) und „verzweifelt“ (III) mit aufgeris­senen Augen, verharrt mit hochgeworfenen Armen in höchster Anspannung. Und dieser Spannungszustand bildet die Ausgangslage für eine entspannende Been­digung des Sprungs und den Wechsel vom sichtbaren ‚Vorne‘ zum unsichtbaren ‚Hinten‘. Im Abschnitt VI, der das erste Viertel der Erzählung abschließt, ist wieder der Mann mit der Leiter Subjekt. Er geht über die Brücke auf die andere Seite der Station. Mit dem räumlichen Seitenwechsel verändert sich auch die zeitliche Per­spektive  : Bisher war die Zeit vom Anfang her orientiert  : der Abfahrt des Zuges und dem Aufkleben des Plakats. Nun geht sie auf ein Ende zu  : Der Mann macht sich daran, ein Plakat zu überkleben. Als er die Brücke verlässt, heißt es  : „Der nächste Zug war noch immer nicht gekommen.“ (VI) Um die Frage, wie man dieses Ende überlebt, dreht sich die zweite Hälfte des ersten Teils. Der Junge findet dabei die Antwort auf die Frage, was sterben heißt. Dem Mann mit der Leiter, dessen Tun durch Wiederholung gekennzeichnet ist,20 erscheint die selbe Erkenntnis als unerwünschte Erinnerung. 20 Bei dem Mann mit der Leiter ist das Wort „wieder“ stets kombiniert mit Ende („zuletzt“) und Neuanfang („von neuem“, „begann“). Auf der Brücke lehnte er die Leiter „an die schmutzige Mauer des Stationsgebäudes, wechselte mit dem lahmen Bettler einige Worte über die Hitze

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Indem er auf das Plakat gegenüber schaut, wird der Junge zum (erwachsenen) Leser und Betrachter  ; mehrfach wird betont, dass diese Situation dem Jungen genaues und bewusstes Sehen ermöglicht.21 Er sieht sowohl die Situation, die auf dem Plakat abgebildet ist, wo Menschen in einem Spiegelsaal tanzen, als auch jene des Plakats in der Stadtbahnstation, wo der Mann mit dem Pinsel über die Wand zu streichen beginnt. Beide Situationen gehen auf ein Ende zu  : Im Spiegel­saal steht den Tänzern das „Morgengrauen“ bevor, das „Ende der Nacht“. In der Stadtbahnstation soll das Plakat überklebt werden. In der Sicht des Jungen erscheinen die Frauen „in der Mitte der Nacht“ er­ starrt, „in kostbaren Kleidern und in dem frevelhaften Wunsch, festzuhalten, was nicht festzuhalten war“ (VII). Und dies aus folgendem Grund  : [VII] Der Wunsch, das Ende der Nacht nicht zu erleben, war ihnen in Erfüllung gegangen. Ihre Angst vor dem Morgengrauen war so groß gewesen, daß sie von nun an nichts anderes mehr konnten als für den Spiegelsaal eines Tanzlokals werben, starr und leicht zurückgeneigt in den Armen ihrer Herren.

Das Plakat gegenüber steht zu jenem mit dem Jungen in einem Verhältnis der Steigerung und Umkehrung. Der Junge ist „festgehalten wie zur Strafe für Sün­ den, von denen er nichts wußte“ (III)  : Er weiß nicht, wie ihm geschehen ist. Die Tänzer zwischen den Spiegeln dagegen befinden sich in einem Zustand poten­zierter Reflexion, in dem sie erkennen, dass und warum sie im Positionsraum sind. Der Junge befindet sich mitten am Tag beim Sprung ins Offene, im Situa­tionsraum der Kindheit also, und ist in diesem Zustand festgehalten im zweidi­mensionalen Raum des Plakats. Die Tänzer sind um Mitternacht in einem ge­schlossenen Raum, der sich durch die gegenseitige Spiegelung optisch nach vorne und hinten öffnet.22 Im Spiegelsaal wird im Raum die Zeit sichtund überquerte zuletzt die Fahrbahn, um sich an dem Stand auf der Brücke ein Glas Bier zu kaufen. Dort wechselte er wieder einige Worte über die Hitze und keines über das Sterben“, holte dann die Leiter „und stieg auf der anderen Seite der Stadtbahn die Stiegen wieder hinunter“ (VI), wo er „seine Leiter wieder aufstellte und von neuem über die Wände zu streichen begann“ (VII). (Her­vorhebungen S. F.) 21 „Der Junge auf dem Plakat, der nicht anders konnte als lachend geradeaus starren, sah, wie der Mann genau gegenüber seine Leiter wieder aufstellte […]. Der Junge konnte es deutlich sehen, und er sah, wie sie freundlich und wehrlos das Furchtbare mit sich geschehen ließen.“ (VIII) Hervorhebungen S. F. 22 In der selben Bedeutung erscheint der doppelte Spiegel bereits im 5. Kapitel von Die größere Hoff­nung, vgl. Kap. 2.3, S. 67ff.

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bar  : Anfang und Ende. Das Bewusstsein des Endes weckt Angst und führt bei den Tänzern zur Entscheidung, freiwillig ein zweites Mal zu erstarren. Das Plakat gegenüber zeigt dem Jungen die Situation, in der er sich selbst in der Stadtbahnstation befindet, während er auf das Plakat gegenüber schaut  : Den zweiten Sündenfall, bei dem das reflexive Bewusstsein entsteht, das die Bedingungen der eigenen Existenz erkennt. Als der Junge sieht, wie der Mann die Plakate überkleben will, wird ihm deutlich, welchen Preis die Tänzer bezahlen  : Zwar können sie nun ewig im Tanzlokal bleiben, nicht aber in der Stadtbahnstation. Während im Tanzsaal das Ende mit der Erstarrung aufgehalten werden kann, können sie sich nicht dagegen wehren, dass sie überklebt werden. Am Ort ihrer Betrachtung und Lektüre sind Bild und Text nicht zeitlos, sondern unterliegen der linearen Zeit. Nur als Sub­jekte in der Zeit aber können die Plakatmenschen dem Mann mit der Leiter erneut begegnen, können sie sich wehren, indem sie den Mann „von der Leiter stoßen“ (VIII). Als der Junge den Tänzern zu helfen versucht, indem er über die Geleise hin­weg verbal und körperlich Kontakt aufnimmt, obwohl er dies nicht kann, erkennt er, dass er sich in der gleichen Lage befindet. Im selben Augenblick ereignet sich ein Wechsel von vorne nach hinten  : „Hinter der Stirne des Jungen begann es zu rasen.“ (X) Es setzt eine Denkbewegung ein, die zeigt, wie die Distanz zum Gegenüber zu überwinden wäre, und deren Dynamik einen Sprung vollzieht. Zuerst wiederholt sie den Slogan, der den Jungen zur Werbung festschreibt, drei­mal und treibt ihn mit dem Verbot, andere Gedanken zu haben, über sich hinaus  : „Komm mit uns – komm mit uns – komm mit uns  ! Er hatte nichts anderes im Kopf zu haben als die Worte zu seinen Füßen.“ (IX) Es folgt eine Reihe von Va­riationen, die sich verlängernd verlangsamen wie der Sprung, solange er sich vom Boden entfernt  : „Das sangen sie, wenn sie auf Ferien fuhren, das sangen sie, wenn ihnen die Haare flogen. Das sangen sie noch immer, wenn der Zug auf der Strecke hielt, das sangen sie, wenn ihnen die Haare im Fliegen erstarrten.“ (IX) In den Variationen wird die Vergangenheit des Jungen sichtbar, die erste Hälfte seines leiblichen Sprunges, wo „Komm mit uns“ noch der Reim eines Liedes war  : ge­sungene Sprache, die benennt, was die Kinder gleichzeitig tun. Mit diesem Anlauf aus der Vergangenheit wird der Moment, in dem der Junge festgehalten ist, wieder zum Umschlagpunkt einer Bewegung. Entsprechend springt der Reim um zu jenem Satz, mit dem die Erzählung beginnt und der das Ende in den Blick bringt  : „Der Reim sprang um  : Du wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben – du wirst nicht sterben  !“ (X)

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Die zweite Hälfte des rasenden Gedankengangs lotet in wieder vier anapho­ rischen Variationen die Bedeutungsmöglichkeiten von „sterben“ aus, sich ver­ kürzend beschleunigend wie der Sprung auf den Boden zurück  : „Sterben, das hieß vielleicht die Bälle fliegen lassen und die Arme ausbreiten, sterben, das hieß viel­leicht tauchen oder fragen, sterben hieß von dem Plakat springen, sterben – jetzt wußte er es –, sterben mußte man, um nicht überklebt zu werden.“ (X) Die Ab­folge der Bilder zeichnet die Bewegung in die Zukunft vor  : eine Landebewegung durch die Luft („die Bälle fliegen lassen und die Arme ausbreiten“) ins kühlende Wasser („tauchen“). Über den Weg von „keine Ahnung“ über „hieß vielleicht“ und „hieß“ zu „jetzt wußte er es“ wendet sich das Nichtwissen in Wissen. Das isolierte Wort „sterben“, das alle vorausgehenden Varianten umfasst, benennt die Erkenntnis. Dagegen ist „Sterben mußte man, um nicht überklebt zu werden“ als nachträgliche verallgemeinerte Aussage wieder eine Aussage ex negativo. Das Ende ist umgesprungen in den Anfang einer neuen Dimension  : Nun geht es nicht mehr ums Wissen, sondern um das Sterben selbst. Auch die unwillkürliche Erinnerung des Mannes mit der Leiter im Abschnitt XI vollzieht sich in drei Schritten von der Negation zur Anwesenheit. Zuerst sind die Worte, die der Mann zu Beginn der Erzählung aussprach, als vergessene negativ anwesend  : „Der Mann auf der Leiter hatte seine Worte längst vergessen“. Dann erscheinen sie im Modus des Irrealis  : „Und wenn es einer Fliege auf dem Rücken seiner Hand eingefallen wäre, ihn daran zu erinnern, so hätte er sie abge­leugnet.“ Im dritten Satz sind sie indikativisch präsent  : „Er hatte es in einem Anfall von Verbitterung gesagt.“ Das Bild der Fliege auf dem Rücken der Hand weist, wie zu Beginn der plötzliche Fall „mit dem Rücken gegen die Mauer“ (II), auf den Moment der Wende von vorne nach hinten. Der Mann versucht dann das Grenzerlebnis zu rationalisieren, indem er es als kurzzeitigen Ausfall des Denkens interpretiert, als „Anfall“ infolge der Hitze, als Sprechen im Traum  : „Die Hitze war ihm eben in den Kopf gestiegen, vielleicht hatte er im Traum gesprochen.“ Doch die Argumentation wendet sich sofort gegen ihn  : Mit dem Gedanken, „schließlich lebte er davon, Plakate zu kleben“, drängt sich die Einsicht auf, dass er durch diese Arbeit nicht nur seinen Lebensunterhalt verdient, sondern auch sterben wird. Will er mit „Schluss damit“ seine Argumentation besiegeln, dann spricht dieser „Schluss“, wie auch das folgernde „schließlich“, wiederum von dem Ende, an das er nicht erinnert sein will. Noch nicht äußerlich, aber innerlich ist der Mann einmal mehr von der Leiter geworfen, nicht vom Husten, wie es in der Textpassage heißt,23 son23 „Außerdem mußte er achtgeben, daß ihn der Husten nicht von Zeit zu Zeit von der Leiter warf.“

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dern durch die Widerlegung seiner Argumentation, die zur existentiellen Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit führt. Mit dem Mann, der von der Leiter geworfen wird, führt Aichinger eine Metapher des Existentialismus auf ihre wörtliche Bedeutung zurück, die eine leibliche Bewegung bezeichnet  : Die „Geworfenheit“ als die Art, wie das Ich zu seinem In-der-Welt-Sein gekommen ist. Der gewählte Ausdruck deutet an, dass dies ungefragt und ohne persönliche Zustimmung geschehen ist, im Gegensatz zum Sein-Können, dem Selbstentwurf, für den der Sprung vorwärts steht. „Wer will mit mir tanzen  ? “ Der leibliche Sprung. Am Ende der ersten Hälfte der Erzählung fügt der Mann mit der Leiter sich in die Gemeinschaft der Passanten ein und tritt damit sowohl im Raum als auch im Geschehen in den Hintergrund. Die zweite Hälfte beginnt mit der Feststellung  : „Das Kind hatte sich von der Hand der Mutter losgerissen und drehte sich im Kreis.“ (XIII) Das Kind, das anfänglich hinter dem Mann auf der anderen Seite der Station vor sich hin­sang, löst sich aus der Gruppe, tritt hervor und wendet sich dem Jungen auf dem Plakat zu  : „Es wollte schwindlig werden. Aber bevor es schwindlig wurde, fiel sein Blick auf das Plakat gegenüber.“ (XIII) Der Mann, der den Schwindel als Bewusstseinsverlust fürchtet, wird abgelöst von dem Kind, das den Schwindel im Spiel sucht. Auch die mediale Situation ändert sich mit dem Wechsel des Kom­munikationspartners  : Während der Mann mit der Leiter immer der Wand zuge­wandt ist, entsteht, als das Kind sich dem Jungen zuwendet, über die Geleise hinweg eine Bühnensituation. Das Kind bewegt sich im Situationsraum der Kindheit  : Während der Junge aus „Kopf “ und „Stirne“ besteht und der Mann mit der Leiter aus „Kopf “ und „Rücken“, sind beim kleinen Mädchen stets „Hände“ und „Füße“ im Spiel. Es bewegt sich ohne Einschränkung vor und zurück, auf und ab, hüpft, tanzt, springt. Es kommuniziert, singend und rufend, unter dem Einsatz des ganzen Repertoires der nonverbalen Kommunikation, von Mimik und Vokalisation bis zur Bewegung im Raum. Aus dem Moment heraus handelnd, wird das Kind, das einmal auch als „kleines Mädchen“ (XVII) identifiziert wird, die Bewegung von der Mutter weg zum selbst gewählten Partner hin vollenden. Eine analoge Struktur hat die Spra­che des Kindes, in der Signifiant und Signifié intentional aufeinander bezogen sind, und deren drei Einwortsätze je einen Bezug zwischen dem ‚Hier‘ und dem ‚Dort‘ der beiden Kommunikationspartner herstellen  : Erst sagt es, mit der Hand auf das Plakat hinüberzeigend „Da  !“ (XIII). Dann zeigt es mehrmals „so“ dem Jungen die Tanz- und Sprungbewegung vor (XIX–XX). Zuletzt fordert es den Jungen auf zu springen  : „Komm  !“ (XX) Die

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einsilbigen Deikta „da“ und „so“ sind selbst noch mehr Verstärkung der Gebärde, der sie lautlich folgen,24 als deren symbolischer Ersatz. Der Imperativ fordert auf, die beiden Seiten handelnd zu verbinden. In der ersten Hälfte des zweiten Teils (XIII–XVIII) kommunizieren das Kind und der Junge auf dem Plakat über die Schienen hinweg. Für das Mädchen, das sich von dem lachenden Jungen angesprochen sieht, ist diese Situation symmet­risch. Für den Jungen wird sie es zunehmend, während die Erzählung in viel kür­zeren Abständen zwischen den verschiedenen Subjekten hin- und herwechselt als davor. Zuerst macht nur das Denken Laufbewegungen  : Sterben – sterben – sterben  ! Ist das Sterben, wenn die See endlich naß wird  ? Ist das Sterben, wenn der Wind endlich weht  ? Was ist das  : Sterben  ? (XIV) Sterben – […] –, sterben, daß ich nicht mehr lachen muß  ! Ist das Sterben, wenn man seine Stirn falten darf  ? Ist das Sterben  ? (XV)

Die weiteren Antworten auf die Frage, was „sterben“ sei, zeichnen den Weg vor in eine Wirklichkeit, wo das Wasser nass ist, der Wind weht und der Junge die Stirne falten kann – also nicht mehr flach ist, alt werden darf und sein Denken in der Mimik sichtbar machen kann. Dann wird die Körperbewegung des Jungen nicht mehr nur mit Worten negiert, sondern auch mit (je wiederum negiertem) gestischem Kopfschütteln und mündlicher Rede  : „Der Junge hatte 24 Die deiktischen Wörter lassen durchweg die direkte Lautmetapher erkennen, die in den verschie­denen Arten des Zeigens und Hinweisens erst als Verstärkung der Gebärde dienten, die sie später ersetzten  : In fast allen indogermanischen Sprachen werden Unterschiede in Lage und Ent­fernung durch den einfachen Wechsel des vokalischen oder konsonantischen Lautes ausgedrückt. Auf das ‚Dort‘ verweisen Laute mit zentrifugaler Tendenz (p, b, t, d, g, k plus stumpfer Vokal), welche Gesten des Fortweisens, Wegstoßens, Hinweisens, Zeigens be­gleiten  : ‚da‘, ‚dort‘, ‚dann‘, ‚du‘. Für die Bezeichnung des ‚Hier‘ stehen Lautgruppen mit wesent­lich zentripetaler, auf das Subjekt zurückweisender Tendenz wie m, n, j plus scharfem Vokal, die mit der Gebärde des Greifens, Umfassens, Heranziehens einhergehen  : ‚hier‘, ‚ich‘, ‚jetzt‘. Vgl. Ernst Cassirer  : Die Sprache. Philosophie der symbolischen Formen, erster Teil. In  : Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11. Hrsg. v. Birgit Recki. Hamburg 2001, S. 150ff.

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keine Macht, den Kopf zu schütteln, er hatte keine Macht, zu sagen  : ‚Nein, das ist es nicht  !‘“ (XIV) Erstmals erscheint hier eine Rede des Jungen in Anführungszeichen und dann folgt sogar eine direkte Frage  : „‚Was meinst du  ?‘ fragte sein Lachen zu­rück.“ (XVII) Umgekehrt erscheint „das Wort Jugend“ (XVII), das über ihm steht, ohne die Anführungszeichen, die es an früheren Stellen als schriftliches Zitat ausweisen.25 Das „Komm mit uns  !“, das unter ihm steht, wird zur persön­lichen Aufforderung  : „Komm  !“ (XX), ruft ihm das Kind über die Schienen zu.26 Der Junge wechselt von der Zeitlosigkeit in die „immer“ angehaltene, „nie“ vergehende Zeit  : [XVII] Aber wie sollte er tanzen, wenn er nicht sterben konnte, wenn er immer so bleiben musste, jung und schön, die Arme erhoben, halbnackt im weißen Gischt  ? Wenn er sich niemals in die See werfen konnte, um auf die andere Seite zu tauchen, wenn er niemals zurück an Land gehen durfte, um seine Kleider zu holen, die im gelben Sand versteckt lagen  ? Wenn das Wort Jugend immer über seinem Kopf hing wie ein Schwert, das nicht fallen wollte  ? Wie sollte er mit dem kleinen Mädchen tanzen, wenn das Betreten der Schienen verboten war  ? (Hervorhebungen S. F.)

Dabei imitiert er in Gedanken die Bewegung des Überschreitens, die das Kind ihm vorgezeigt hat. Das Kind „streckte seinen Fuß ein wenig vor“, „warf einen Blick zurück“, „ging an den Rand“, „lächelte hinunter, ohne die Tiefe zu mes­sen“, „hob den Fuß ein Stück über den Rand und zog ihn wieder zurück“ (XVI). Der Junge denkt an die Bewegung vorwärts in die See, zurück ans Land, dann an die vertikale Bewegung des (nicht) fallenden Schwertes, ans entgrenzende Tan­zen, den Sprung auf die Schienen. Die zweite Hälfte der Erzählung wendet sich auf das Ende zu, als der nächste einfahrende Zug hörbar wird. Seine Einfahrt droht wie das Überkleben des Plakats die Kommunikation zwischen dem Kind und dem Jungen zu beenden. Das Kind fordert den Jungen zur Entscheidung auf, indem es ihm immer ungeduldiger die Tanzschritte über den Rand vorzeigt  : „Das Kind lä-

25 „Wenn das Wort Jugend immer über seinem Kopf hing wie ein Schwert, das nicht fallen wollte.“ (XVII) Dagegen heißt es am Anfang der Erzählung  : „Über seinem Kopf stand, in heller Schrift, schräg wie eine vergessene Rauchwolke über den Himmel geworfen, das Wort ‚Jugend‘.“ (V) 26 „Komm  !“ ist auch der existentielle „Ruf “ von der anderen Seite, mit dem Bachmanns Wasser­ wesen Undine den Menschen Hans ruft  : „Komm. Nur einmal. Komm.“ Bachmann  : Undine geht, in  : Werke, Bd. 2, S. 253–263, hier S. 263.

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chelte ungeduldig. Wieder hob es den Fuß über den Rand, den einen – den anderen – den einen – den anderen –“ (XIX).27 Als der Zug um die Kurve rast, geht es auch mit dem letzten Schritt voran, in einer doppelten Bewegung des Überschreitens  : Mit den Händen fasst es den „Saum“ seines Kleides, mit den Füßen springt es über den „Rand“ des Bahn­steigs  : „‚So  !‘, rief das Kind zornig und sprang auf die Schienen, bevor der Zug das Bild des Jungen verdecken konnte. […] Es wollte tanzen.“ (XX) Für das Ende des Sprunges hat der Text keine Worte mehr. „In diesem Augenblick begann die See die Füße des Junge zu netzen“, be­ ginnt die mittlere Passage dieses letztes Teils (XXI–XXII), deren Subjekt der Junge ist. Die Verwandlung des Plakats in Wirklichkeit, die sich nun vollzieht, geschieht „in diesem Augenblick“  : in der minimalen Zeitspanne, während der das Kind vor den Zug springt. Im Text dehnt sich diese zu den beiden längsten Ab­schnitten. Darin hebt eine Bewegung an („begann“ ist das dominante Wort dieser Passage), in der auch der leibliche Raum des Jungen wieder Tiefe und Wirklich­keit bekommt  : Das Grün der See „vertieft“ sich und wird „durchsichtig“. Erst leicht „netzend“, zuletzt mächtig „flutend“ dringt die See als bewegtes Element in den Raum ein, die Hitze kühlend. Als Wind und Wasser den Raum zwischen Himmels- und Bodenstreifen füllen, bewegen sich ‚unten‘ und ‚oben‘ aufeinander zu, der Junge kann seinen in die Vertikale gerissenen Körper entspannen. Von unten „steigt“ Kühle in die Glieder, der Schmerz von den spitz in die Sohlen ste­chenden Kieseln „jagt“ das „Entzücken“ bis in die Wangen hoch. In der Gegen­bewegung lässt der Junge die Arme sinken. Der Mund schließt und die Stirn faltet sich. Als der Wind dem Jungen Sand und Wasser in die Augen treibt, werden anstelle der Fern- die Nahsinne aktiviert  : Tast-, Wärme- und Schmerzsinn. Das Wort „Jugend“ löst sich auf „wie Rauch“, verwandelt sich gewissermaßen zurück in die hellen Wolken, welche die Autowerbung zum Schriftzug festge­schrieben hatte. Mit der Müdigkeit, dem Schmerz und der Gefahr, in der steigenden Flut zu ertrinken, erfährt der Junge die Begrenzung seiner Existenz. Er stirbt, er wird geboren, findet zum Ende und zum Anfang  : „‚Ich sterbe‘, dachte der Junge, ‚ich kann sterben  !‘ Er atmete tief, zum ersten Male atmete er.“ (XXII)

27 Der Satz ist ein Echo auf eine analoge Szene im letzten Kapitel von Die größere Hoffnung, wo die Atemzüge des schlafenden Geliebten von Ellen die Kierkegaardsche Entscheidung fordern  : „Wie selten hört ihr euch atmen  ! Und wie ungern hört ihr euch atmen. Entweder – oder, entweder – oder  !“ (DgH 265) Vgl. Kap. 2.4., S. 98.

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Wie in der gleichzeitig mit dem Plakat entstandenen Spiegelgeschichte,28 in der, während eine junge Frau stirbt, ihr Leben rückwärts noch einmal abläuft, fallen zum Schluss Tod und Geburt zusammen.29 Die entspannende Bewegung des Ausat­mens ermöglicht die Artikulation von Stimme. Zu Beginn des XX. Abschnittes „denkt“ der Junge noch, „ich sterbe“, am Ende „ruft“ und erlebt er es zugleich. Dabei hat sich das Verhältnis von Bewegung und Sprache umgekehrt  : Im Situa­tionsraum der Kindheit folgt die Sprache der Bewegung. Nun, im neuen Situati­onsraum, ruft die Sprache die Bewegung hervor. Der Junge bewegt die Finger, versucht „einen Schritt vorwärts zu machen, wie das Kind es ihm gezeigt hatte.“ (XXII) Der Junge bewegt sich wie das Kind, er bekommt die Kindheit neu, mit dem entscheidenden Unterschied, dass er es mit Bewusstsein tut. Der Junge plant sein Handeln, wägt ab zwischen Alternativen  : Soll er ans Land zurück, um seine Kleider zu holen  ? Da sieht er wieder die Ver­botstafel in der Stadtbahnstation – im neuen Situationsraum bleibt der Positions­raum im Hintergrund präsent – und entscheidet sich  : „Nein, er würde seine Klei­der nicht holen.“ (XXII) Mit der Begründung  : „Mußte die See nicht zur See werden, damit das Land Land sein konnte  ?“ (XXII) Um den Anfang wiederzuge­winnen, das Land, das hinter der gelben Küste auf dem Plakat nicht mehr sichtbar ist, muss der Junge das Ende erreichen  : Auch den letzten Schritt vorwärts wagen, ins Offene. Bereit für das Unmögliche, versucht der Junge zu springen, obwohl er es nicht kann. Und „gerade, als er dachte, es würde ihm nie gelingen“, tritt mit einem „Windstoß von der Brücke“ der Umschwung ein  : „Die See stürzte auf die Schienen und riß den Jungen mit sich. Der Junge sprang und riß die Küste mit sich.“ (XXII) Der Junge wird passiv vom Windstoß und der stürzenden See mit­gerissen, springt aktiv und reißt seinerseits die Küste mit. Der Junge springt von der Wand auf die Schienen und antwortet damit handelnd auf die Herausfor­derung, mit der die Erzählung begonnen hat, die Ansprache  : „‚Du wirst nicht sterben  !‘“ und die Tafel  : „Das Betreten der Schienen ist verboten  !“ Handelnd schafft er in der Stadtbahnstation eine neue Wirklichkeit, die auch 28 An der Spiegelgeschichte arbeitete Aichinger über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren, begon­ nen Anfang 1948 als erste Prosa nach Die größere Hoffnung und beendet im Winter 1949. Wäh­ rend dieser Arbeit entstanden mehrere andere Erzählungen, als erste, bereits 1948 abgeschlossen, Das Plakat. 29 „Es ist der Tag deiner Geburt. Du kommst zur Welt und schlägst die Augen auf und schließt sie wieder vor dem starken Licht. Das Licht wärmt dir die Glieder, du regst dich in der Sonne, du bist da, du lebst. Dein Vater beugt sich über dich. ‚Es ist zu Ende –‘, sagen die hinter dir, ‚sie ist tot  !‘ Still  ! Laß sie reden  !“ (Spiegelgeschichte, DG 74)

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jenen Raum wieder umfasst, in dem er sich ursprünglich befand  : den Strand und die See. Doch nicht nur das Kind und der Junge springen. Unfreiwillig und rückwärts vollziehen auch die Erwachsenen im Hintergrund die entsprechende Bewegung von Umschwenken und Zugreifen. Bevor das Kind springt, wird seine Mutter „herumgeworfen“  : „Die Frau neben der Leiter bemerkte ihre freie Hand, ihre Hand warf sie herum.“ (XX) Bevor der Junge springt, tut es der Mann auf der Leiter, der „von der Leiter sprang, als stieße ihn jemand zurück“ (XXI). Als der Junge die Grenze überschreitet, die ihn von seinen Betrachtern und Lesern trennt, verschwindet auch die Grenze, die das Bild von der Wirklichkeit trennt  : Im Sprung in die Mitte der Stadtbahnstation kommen – im Moment ihrer Zerstörung – sowohl das Zeichen und sein Betrachter als auch Signifiant und Signifié zusammen. Das heißt für das Zeichen- und Lektüremodell, das die Erzählung vorführt  : Indem der Rezipient den Signifiant nicht als Stellvertreter instrumentalisiert, sondern in seiner spezifischen klanglichen und materiellen Erscheinungsform wahrnimmt, entsteht am Ort dieser Begegnung auch der Signifié neu. So wie für Aichinger der „neue Kontinent“, den der neue Columbus zu entdecken hat, „alle Kontinente zusammenfasst“ (KS 55), kann dies allerdings nur ein existentielles Zeichen sein, das nichts und alles bedeutet. So wie der „helle Fleck Sand“ (XXIII), der zuletzt zwischen den Schienen zurückbleibt. Zwischen den Schienen ein heller Fleck Sand. Die Erzählung beginnt nach der Wegfahrt eines Zuges mit der Begegnung zwischen dem Mann auf der Leiter und dem Jungen auf dem Plakat. Da wäre zu erwarten, dass sie im Moment, wo die nächsten Züge einfahren und die kommunikative Situation im Sprung aufge­hoben wird, endet. So wie Die größere Hoffnung mit dem Sprung der Protago­nistin über die zerstörte Brücke hinaus auf den abwesenden Freund Georg zu aufhört, „noch ehe die Schwerkraft sie wieder zur Erde zog“ (DgH, 219). In Das Plakat folgt nun aber noch eine Coda von zwei Abschnitten. Die Coda zeigt innerhalb des Textes eine Situation nach dem Ende der Lektüre  : [XXIII] Niemand beachtete es, daß eines der Plakate schlecht geklebt worden war, niemand be­achtete es, daß eines davon sich losgerissen hatte, auf die Schienen wehte und von dem einfah­renden Gegenzug zerfetzt wurde. Nach einer halben Stunde lag die Station wieder leer und still. Schräg gegenüber war zwischen den

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Schienen ein heller Fleck Sand, als hätte es ihn vom Meer herübergeweht. Der Mann mit der Leiter war verschwunden. Kein Mensch war zu sehen. [XXIV] Schuld an dem ganzen Unglück waren die Züge, die um diese Zeit so selten fuhren, als verwechselten sie Mittag mit Mitternacht. Sie machten die Kinder ungeduldig. Aber nun senkte sich der Nachmittag wie ein leichter Schatten über die Station.

Das Ende ist in einen neuen Anfang übergegangen  : Wie zu Beginn der Erzählung ist die Station nach einer Zugdurchfahrt „leer und still“, „niemand“ ist darin, „kein Mensch“ zu sehen. Im Unterschied zur Anfangssituation ist aber der Mann mit der Leiter „verschwunden“. Das Subjekt, das das erste Wort des Ab­schnitts nennt, ist „niemand“. Positiv anwesend ist einzig der helle Fleck Sand zwischen den Geleisen. Die Zeit, die während des gesamten bisherigen Ge­sche­hens im Mittag angehalten war, läuft nun weiter  : Der Nachmittag senkt sich „wie ein leichter Schatten über die Station“. Der Mann mit der Leiter ist nicht weggegangen oder verunfallt, er ist „ver­ schwunden“.30 Verschwunden ist, wer gesprungen ist, wer die Seite gewechselt hat von ‚vorne‘ nach ‚hinten‘, vom Positionsraum in den Situationsraum der Existenz. Der „Niemand“ ist das Gegenstück zum Verschwundenen, er ist erst potentiell anwesend. Der „Niemand“, der das letzte Subjekt der Erzählung ist, ist räumlich da situiert, wo der Sandfleck zwischen den Schienen „schräg gegen­über“ liegt  : an einem Ort, der in der Architektur der Stadtbahnstation nicht zu lokalisieren ist, in einer Dimension, die bisher nicht vorgekommen ist. Zeitlich befindet er sich an dem Punkt, wo „nun“ die Zeit wieder zu laufen beginnt, die im Mittag stehen geblieben war  : Auf die nächste volle Stunde zu (eine „halbe Stunde“ ist seit dem Sprung vergangen) und auf den Abend. An diesem Ort befin­det sich am Ende der Erzählung der Leser. Die letzte Opposition und Begegnung, die der Text schafft, ist jene zwischen dem Leser und dem Fleck Sand, dem amor­phen, anorganischen, ahistorischen, nichts bezeichnenden und bedeutenden Element,31 das den Ort markiert, an dem

30 Zum Begriff des Verschwindens in Aichingers Werk vgl. auch Kap. 5.2, S. 220 ff. 31 Die Wüste als das absolut Offene, nichts Bezeichnende und Bedeutende, das die strukturierte, geschlossene, Bedeutung generierende Stadt einnimmt, ist ein Topos der literarischen Moderne. Sie ist die „ultimative sprachliche Chiffre, in der sich die Sprache selbst negiert, annulliert.“ Vgl. Peter Utz  : Robert Walsers ‚Jakob von Gunten‘. Eine „Null“-Stelle der deutschen Literatur. In  : DVjs 74 (2000), S. 488–512, hier S. 511.

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sich im entgrenzenden Sprung die Opposi­tionen aufgehoben haben, die die Erzählung konstituierten. Mit der Frage nach der Bedeutung des Sandflecks initiiert der Text über sein Ende hinaus eine Kommunikation mit dem Leser. Mit deren abschließendem Sprung kommt er wie zuvor das Plakat selbst in Zeit und Wirklichkeit. Auf den ersten Blick erscheint die Coda als Schlusspointe, die rückblickend alle Rätsel rational auflöst  : Weil der Mann auf der Leiter im Schreck oder in der krankheitsbedingten Schwäche das Plakat „schlecht geklebt“ hatte, wurde es vom Fahrtwind des Zuges von der Wand gerissen und auf die Schienen geweht. Der Junge schien deshalb die Stirn in Falten zu legen, weil das Plakat sich wellte. Im Zusammenhang mit dem „Rettungswagen“ schließt man darauf, dass das Kind tatsächlich vor den Zug gesprungen ist. Mit dem Sand wurden die Spuren des Unfalls zugedeckt. Der allgemeine Grund, der zum Schluss „für das ganze Unglück“ verant­ wortlich gemacht wird, ist dann aber doch reichlich ungewöhnlich. Weder die Mutter soll schuld sein, die nicht auf das Kind geachtet hat, noch das unfolgsame Kind, sondern die Züge, die die Kinder ungeduldig machen, weil sie „um diese Zeit so selten fuhren, als verwechselten sie Mittag und Mitternacht.“ Diese Be­gründung widerlegt den Versuch einer rationalen Auflösung und verlangt vom Leser, das Geschehen in die Logik einer existentiellen Betrachtungsweise zu übertragen  : In der Mitte des Tages steht die Stadtbahn scheinbar still. Es entsteht ein Moment der Leere, auf den die Kinder mit der Entscheidung zum Sprung antworten  : einem Sprung quer zu den Schienen, die den Verlauf der objektiven Zeit anzeigen, in die subjektive Zeit, wo im Augenblick die Zeit zum Raum wird. In dieser Logik wird auch einleuchtend, dass der Satz, „Sie machten die Kinder ungeduldig“, im Präteritum und Plural steht  : Es ist diese bestimmte Situation gemeint und nicht nur das Mädchen, sondern auch der Junge, welcher subjektive Motive hatte für den Sprung, sich aktiv – die Formulierung lässt auch diese Lesart zu – „losgerissen hatte“ und „auf die Schienen wehte“, wo er eine ganz andere Art von „Rettung“ fand. Den Fleck Sand hat es von der Plakatwand „herübergeweht“, wo dieser folglich nicht abgebildet, sondern konkret anwesend war. Der Sandfleck ist anders als der helle „Flecken […], worauf keiner stehen konnte“ (XXII), der auf dem Plakat das Land im Rücken des Jungen anzeigt, ein Ort, an dem man sich aufhalten kann  : Das Hier und Jetzt eines Situationsraumes.

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1.3 Das zyklische Muster der Begrenzung und Entgrenzung; und ein Seitenblick zu Dürrenmatt und Bachmann Das Plakat handelt in einem Raum, der streng geometrisiert, gleichzeitig aber auch sehr dynamisch ist. Denn mit der Kommunikation und Handlung, die sich darin abspielt, verwandelt sich der Positionsraum der Stadtbahnstation in einen Situationsraum. Im dargestellten Raum wird die Dynamik der Erzählung sichtbar  : eine zyklische Bewegung der Begrenzung und Entgrenzung, die jeweils mit einer Begegnung beginnt und im entgrenzenden Sprung endet. Die dreiphasige, jeweils ‚Anfang‘, ‚Mitte‘ und ‚Ende‘ umfassende Struktur und Dynamik dieser zykli­schen Bewegung prägt sowohl die Erzählung als ganze als auch deren symmet­rische Hälften und einzelnen Abschnitte. Sie ist in sämtlichen Texten Aichingers präsent, in jenen aus den 40er- und 50erJahren systematisch, im späteren Werk in etwas freierer Handhabung. Ein Seitenblick zu Dürrenmatt und Bachmann wird zeigen, dass dieses Muster in der existentialistischen Literatur der 50er-Jahren in einem gewissen Maß codiert war. Der ‚Anfang‘ von Das Plakat handelt in einem seltsamen Moment und in einem ungewöhnlichen Raum  : [I] „Du wirst nicht sterben  !“, sagte der Mann, der die Plakate klebte, und erschrak über seine Stimme, als wäre ihm in der flirrenden Hitze sein eigener Geist erschienen. Dann wandte er den Kopf vorsichtig nach links und rechts, aber da war niemand, der ihn für verrückt halten konnte, niemand stand unter seiner Leiter. Der Stadtbahnzug war eben weggefahren und hatte die Schie­nen wieder ihrem eigenen Glanz überlassen. Auf der anderen Seite der Station stand eine Frau und hielt ein Kind an der Hand. Das Kind sang vor sich hin. Und das war alles. Die Stille des Mittags lag wie eine schwere Hand über der Station und das Licht schien von seinem Übermaß überwältigt zu sein. Der Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit, zu schützen und einzustürzen, und die Telegraphendrähte hatten längst zu singen aufgehört. Die Ferne hatte die Nähe verschlungen und die Nähe die Ferne.

Gerade hat sich etwas ereignet  : Ein Zug ist „eben“ weggefahren, und der Mann auf der Leiter, erschließen wir rückblickend, hat ein neues Plakat aufgezogen. Nun aber ist und steht alles still in der „Station“, die selbst – abgeleitet von lat. statio – das Stillstehen bedeutet. Die horizontalen Bezüge haben sich aufgelöst  : Die Schienen sind „ihrem eigenen Glanz überlassen“. Die Men-

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schen haben kein Gegenüber  : Das Kind singt „vor sich hin“, die unvermittelte Aussage, mit der die Erzählung beginnt, hat keinen Adressaten. Nähe und Ferne haben sich gegenseitig „verschlungen“. Der Raum ist durch die Vertikale bestimmt, die sich bis zur Mit­tagssonne am Himmel erstreckt. Die Wirklichkeit der „Schienen“ ist durch­drungen von Scheinbarem und Erscheinungen  : Das Licht „schien“ von seinem Übermaß überwältigt, der Mann erschrickt, als wäre ihm sein eigener Geist „er­schienen“. Gewaltsame Zerstörung ist ebenso möglich wie schützendes Bewahren  : „Der Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit, zu schützen und einzustürzen.“ Die Stadtbahnstation ist anfänglich ein Raum der Potentialität. Im zweiten Abschnitt dominiert noch immer die Vertikale, jedoch mit einer entscheidenden Veränderung  : [II] „Du wirst nicht sterben  !“ wiederholte der Mann verbittert und spuckte von der Leiter. Ein Flecken Blut blieb auf den hellen Steinen. Der Himmel darüber schien plötzlich vor Schreck er­starrt. Es war fast, als hätte ihm einer erklärt  : Du wirst nie Abend werden, als wäre der Himmel selbst zum Plakat geworden und stünde nun grell und groß wie die Werbung für ein Seebad über der Station.

Unvermittelt polarisiert und schließt sich der Raum, unten sind Steine, oben scheint der Himmel zum Plakat erstarrt. In einem ebensolchen geschlossenen, vertikal polarisierten Raum befindet sich der Junge auf dem Plakat, der mit aufge­rissenen Augen und hochgeworfenen Armen zwischen zwei Schriftzügen steht. Ab dem III. Abschnitt, wo der Junge zum Subjekt wird, findet sich diese Raum­struktur dann in der Horizontalen  : Zwischen den Wänden der Stadtbahnstation ent­steht eine kommunikative Situation. Verallgemeinernd kann der ‚Anfang‘ der zyklischen Bewegung der Be- und Entgrenzung damit folgendermaßen beschrieben werden  : Mit einer plötzlichen zentrifugalen Bewegung, die sich hier genauso im Wegfahren des Zuges wie im Spucken des Mannes manifestiert, entsteht eine Differenz. Der Raum schließt sich, ist leer und still und wechselt von der vertikalen Orientierung in die Hori­zontale. Menschen begegnen sich. Die zugehörige Tageszeit ist der Mittag, die Jahreszeit der Sommer. Der Himmel ist wolkenlos. Das helle Licht akzentuiert Grenzen und Differenzen. Die vorherrschenden Farben sind die Primärfarben und weiß  : Der Himmel und das beworbene Auto sind blau, der Blutfleck rot, die Küste gelb, der Junge lacht mit weißen Zähnen. Der ‚Anfang‘ hat die selbe Struktur wie der Positionsraum. In diesem ist nun aber ein Subjekt anwesend, das ihn wahr­nimmt und erlebt. In Das Plakat gilt dies sowohl

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für den Mann auf der Leiter als auch für den Jungen auf dem Plakat, die sich im Moment begegnen, wo die Stadt­bahn genauso stillsteht wie das Plakat. Die ‚Mitte‘ der Bewegung wird sichtbar, als in der Mitte der ersten Hälfte der Erzählung der Mann mit der Leiter auf der Brücke zwischen den Bahnsteigen eine Pause macht  : [VI] Der Mann mit der Leiter war inzwischen oben angelangt. Er lehnte die Leiter an die schmut­zige Mauer des Stationsgebäudes, wechselte mit dem lahmen Bettler einige Worte über die Hitze und überquerte zuletzt die Fahrbahn, um sich an dem Stand auf der Brücke ein Glas Bier zu kau­fen. Dort wechselte er wieder einige Worte über die Hitze und keines über das Sterben und ging dann zurück, um seine Leiter zu holen. Über allem war ein Schleier von Staub, in den das Licht sich vergeblich zu hüllen versuchte. Der Mann packte die Leiter, den Eimer und die Rolle mit den Plakaten und stieg auf der anderen Seite der Stadtbahn die Stiegen wieder hinunter. Der nächste Zug war noch immer nicht gekommen. Sie verkehrten um diese Zeit manchmal so selten, als ver­wechselten sie Mittag mit Mitternacht.

Für den Mann mit der Leiter ist die ‚Mitte‘ wie der ‚Anfang‘, wo er erst der eigenen Stimme begegnete und dann, im gespuckten Blutfleck, seiner Leiblichkeit und Sterblichkeit, eine existentielle Situation. Während er in der Zwischenzeit, die Leiter horizontal über der Schulter, parallel zu Plakatwänden und Schienen dem Bahnsteig entlang ging, befindet er sich auf der Brücke, wo er die Leiter wieder aufstellt, erneut im rechten Winkel dazu  : quer zur linearen Zeit. Wieder sind Helligkeit, Hitze und Feuer Thema, das totalisierende „nichts“ und „alles“, die eigene Leiblichkeit und Sterblichkeit. Die Dynamik des Raumes ist aber anders als am Anfang  : In der ‚Mitte‘ auf der Brücke herrscht ein wechselseitiger Austausch, es gibt einen kommunikativen Bezug, die Grenze ist durchlässig, der Raum locker gefüllt  : Aus dem statischen „über“ ist ein bewegtes „überqueren“ geworden. Zum „queren“ kommen mehr­fach die Verben „kehren“ und „wechseln“.32 Im Raum sind einzelne Menschen anwesend und ein „Schleier von Staub“, der das Licht dämpft. Die Bewegungen sind gemäßigt  : Der Mann erstarrt nicht im Schreck, sondern macht eine Pause. Er „fällt“ nicht mit dem Rücken gegen die Mauer, sondern „lehnt“ die Leiter daran. Der Leib ruft sich ihm nicht über Schmerz und 32 Die Züge „verkehren“ so selten, „als verwechselten sie Mittag und Mitternacht“. Der Mann wech­selt die Seite der Station, indem er dreimal die Brücke überquert. Mit dem lahmen Bettler und am Stand „wechselt“ er einige Worte.

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Krankheit in Erinnerung, sondern in der kühlenden Erquickung des Trinkens, mit dem hier in begrenztem Maß auch das erste Wasser erscheint. Ein erstes ‚Ende‘ gibt es bereits am Schluss der Eingangspassage  : Der Plakat­kleber hebt die vertikale Differenz auf, indem er den Pinsel in den Eimer zurück­wirft und von der Leiter steigt. Als er mit dem Rücken gegen die Mauer fällt, er­eignet sich ein Wechsel zwischen ‚vorne‘ und ‚hinten‘. Am Ende der ersten Hälfte dann steht der Mann auf der anderen Seite der Station wieder auf der Leiter  : [XII] Die Frau mit dem Kind war näher gekommen. Drei Mädchen in hellen Kleidern klapperten die Stiegen hinunter. Zuletzt standen alle um seine Leiter und sahen ihm zu. Das schmeichelte ihm, und es blieb ihm nichts übrig, als zum drittenmal ein Gespräch über die Hitze zu beginnen. Sie stimmten alle eifrig ein, als wüßten sie endlich den Grund für ihre Freude und für ihre Traurigkeit.

Die Wörter „schließlich“, „Schluß“, „zuletzt“, „endlich“ markieren ebenso das Ende wie die vollendende Dreizahl. Mit den drei Mädchen, die in die Station hereinkommen, gibt es eine zentripetale Bewegung von außen, der Raum füllt sich zunehmend, auch mit Worten und Geräuschen. Die Menschen nähern sich einander an, bilden um die Leiter einen Kreis. Ähnlich ist die Situation auf der Werbung für den Spiegelsaal  : Wenn die Damen „leicht zurückgeneigt in den Armen ihrer Herren“ (VII) stehen, sind die Paare schon so weit aufeinander zuge­gangen, dass sie sich berühren. Bevor sie erstarrt sind, waren sie im Begriff, ins Ende der Nacht hinein zu tanzen. Das Ende der Erzählung wird vom Abschnitt XVIII eingeleitet, in dem in einer weiteren zentripetalen Bewegung von außen, mit der auch die „Ferne“ wieder existiert, der nächste einfahrende Zug hörbar wird  : [XVIII] Aus der Ferne hörte man das Anrollen des nächsten Zuges, vielmehr hörte man es nicht, es war nur, als hätte sich die Stille verstärkt, als hätte sich die Helligkeit an ihrem hellsten Punkt in einen Schwarm dunkler Vögel verwandelt, die brausend näher kamen.

Mit der Annäherung des Zuges verwandeln sich die Extrempole in ihr Gegen­ stück  : Die Stille „verstärkt“ sich zum „Anrollen“ und „Brausen“. Die Helligkeit verwandelt sich an ihrem hellsten Punkt in Dunkel. Technik wird zu Natur  : der Zug zum Vogelschwarm. Als nächstes „faßt“ (XIX) das Kind den Saum seines Kleides und hebt den Fuß über den Rand  : Nun geht es darum, die

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Grenze zu über­schreiten und im Sprung das Gegenüber zu ergreifen. Geräusche, Stimmen und Emotionen steigern sich zu höchster Intensität  : Das Kind ruft seine letzte Auffor­derung „zornig“ (XX), der Smalltalk der Erwachsenen endet im „Schreien“, das noch durch „das grelle Hupen des Rettungswagens“ (XXI) verstärkt wird. Der Sprung geht einher mit einem heftigen Umschwenken in die Vertikale  : „Der Zug raste um die Kurve. Die Frau neben der Leiter bemerkte ihre freie Hand, ihre freie Hand warf sie herum. Sie griff nach dem Saum eines Kleides, als wollte sie den Himmel greifen.“ (XX) Auf den Schienen fährt von beiden Seiten ein Zug ein, von den beiden Bahnsteigen springen das Kind und der Junge  : in die Mitte, wo die Stadtbahnstation, die nur über den Bahnsteigen überdacht ist, offen ist, vertikal zum Himmel, horizontal zur See. Wind, Wasser, Sand, die amorphen Elemente, dringen ein und verwirklichen Zerstörung und Bewahren, die zu Be­ginn als Möglichkeit anwesend waren, gleichermaßen. Die objektive Zeit, die durch die Bahn repräsentiert wird, schlägt um ins „Jetzt“ des subjektiven Augen­blicks. Das ‚Ende‘ kündigt sich also an in einer Beschleunigung, Intensivierung und Verdichtung, die am Punkt ihrer maximalen Steigerung in ihr Gegenstück umschlagen. Die Dialogpartner entscheiden sich zum letzten Schritt aufeinander zu, in einem gleichzeitigen Losreißen, Springen und Fassen. Alle Wände und Grenzen öffnen sich, eine zentripetale Bewegung von außen in die Mitte hinein setzt ein. Die räumliche Orientierung wendet sich in die Vertikale, die Polarisierung des Raumes wird durch eine entspannende Sinkbewegung aufgehoben. Das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund, Subjekt und Objekt, aktivem und passivem Part, An- und Ab­wesenheit kehrt sich um. Während der Anfang „plötzlich“33 eintritt, markiert das „jetzt“34 den erfüllten Augenblick des Endes. Motive, die stets mit dem ‚Ende‘ einhergehen, das identisch ist mit dem im Augenblick wieder hergestellten Situationsraum, sind Entgrenzungsbewegungen wie tanzen, fliegen, tauchen, springen  ; die vollendende Dreizahl, die Sekundär­farbe Grün,35 der Ende und Anfang zusammenschließende Kreis,36 33 „Der Himmel darüber schien plötzlich vor Schreck erstarrt.“ (II, Hervorhebung S. F.) 34 Am Ende des Erkenntnissprunges des Jungen heißt es  : „jetzt wußte er es“ (X). Der letzte Satz der Erzählung lautet  : „Aber nun senkte sich der Nachmittag wie ein leichter Schatten über die Station.“ (XXIV), Hervorhebungen S. F. 35 In Das Plakat erscheint das Grün mit der Vertiefung der See (XXI). 36 Im ersten Eintrag ihrer Aufzeichnungen 1950–1985 beschreibt Aichinger, wie der Kreis als die „gelassenste“ und „selbstverständlichste“ Form aus der äußersten Spannung entsteht  : „Ein Band

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Wasser und Feuer. Mitternacht ist – zum Beispiel auf der Werbung für den Spiegelsaal – der Punkt, an dem die Nacht sich zum neuen Morgen hin wendet, Weihnachten, wie man in der Grö­ßeren Hoffnung sehen wird, der analoge Moment im Jahreslauf. Ein vertikaler Tunnel, ein Wolkenkratzer  : Dürrenmatt und Bachmann. In dieser Konsequenz angewendet hat das dynamische Raummodell nur Ilse Aichinger. Dennoch findet es sich mitsamt den begleitenden Motiven auch bei anderen Autoren der 50er-Jahre. So zum Beispiel in den existentialistischen Para­beln von Friedrich Dürrenmatt und Ingeborg Bachmann, der Erzählung Der Tunnel (1952) und dem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan (1958). Diese Texte drängen genauso von der konkreten Verortung in der Schweiz, bezie­hungsweise New York weg ins Universelle wie Aichingers Erzählung aus der Wiener Topographie. Beide wechseln in ihrem Verlauf von der Horizontalen in die Vertikale, in der die objektive Zeit nicht weiterläuft und der Augenblick zum Raum wird. Beide enden in einer tödlichen Entgrenzungsbewegung. In Dürrenmatts Erzählung Der Tunnel, die wie Aichingers Erzählung vom Bild der Eisenbahn ausgeht, fährt ein „Vierundzwanzigjähriger“, der fett ist, „damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme“,37 an einem Sonntagnachmittag im Sommer unter wolkenlosem Himmel mit dem Zug von Bern nach Zürich – alles deutet auf die Situation eines ‚Anfangs‘. Eine Weile führt die Bahn einem Fluss entlang  : die objektive Zeit neben der subjektiven.38 Dann kommt ein Tunnel, der sonst, wenn der junge Mann darauf achten wollte, immer schon vorbei war, diesmal aber nicht mehr aufhört. Während draußen die Sonne sinkt, und also der Tag auf das Ende zu geht, kommt es im dunklen Tunnel bei wachsender Geschwindigkeit, zunehmendem Getöse, Hitze und gleißendem Licht allmählich zum Richtungswechsel Metall, das, zum Reifen gebogen, so lange Widerstand leistet, bis es gelötet ist. In diesem Mo­ ment, in dem des äußersten Widerstands, erhält es seine gelassenste, seine selbstverständlichste Form, in der äußersten Spannung die äußerste Gelöstheit. Und nur in ihr.“ (KMF 43) 37 Friedrich Dürrenmatt  : Der Tunnel. In  : Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Bd. 21. Zürich 1998, S. 19–34 und 97f., hier S. 21. Wie die Frau in Aichingers Erzählung Seegeister, die „vergeht, sobald sie ihre Sonnenbrille abnimmt“ (DG 88), trägt der Mann sozusagen als portable Kulisse eine Sonnenbrille. 38 Bei Aichinger findet sich das Motiv mehrfach in der Größeren Hoffnung, vgl. Kap. 2.7, S. 134f. In Das Plakat klingt es an mit dem Wechsel von den Schienen zur See.

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von der Horizontalen des Immergleichen in die Vertikale des Augenblicks, vom Positionsraum in den Situationsraum der Existenz  : „immergleich, weil er nur auf diesen Augenblick hinlebte, der nun erreicht war, auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche Nachlas­sen der Erdoberfläche.“39 Zuletzt geht es, während sich in der Frontscheibe der führerlosen Lokomotive „ein erster Spalt“40 zeigt, im freien Fall auf die Mitte und die Peripherie zu  : dem Erdmittelpunkt entgegen und auf Gott zu, der den Menschen fallen gelassen hat  : „Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.“41 Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan von 1958, das 1950 spielt, handelt von einer Liebe im Angesicht des Endes  : Ein Paar, das auf einem Tanzfest die ersten Blicke tauschte, lernt sich kurz vor der Abreise des männlichen Prota­gonisten kennen  : „Und was führt sie nach New York  ?“ fragt Jennifer, „Der Wunsch, abzureisen“, ist Jans Antwort, „mir bleiben nur noch ein paar Stunden oder ein paar Tage bis zum nächsten Schiff.“42 Die Geschichte spielt zwischen der Ankunft mit dem Zug43 und der Ausfahrt mit dem Schiff, also erneut beim Wech­sel von den Schienen ins Wasser. Die Zwischenzeit bildet einen vertikalen Raum  : Die Liebenden bewohnen immer höher gelegene und teurere Hotelzimmer, bis hin zum 57. Stock, dem letzten, wo sie durch den „Guten Gott von Manhattan“, den Vertreter der „großen Konvention“,44 die von der Liebe außer Kraft gesetzt wird, in die Luft gesprengt werden. Es ist ein heißer Sommertag, im Radio wird eben die volle Stunde gemeldet. In der Vertikalen des Wolkenkratzers herrscht, während Jans Uhr immer lang­samer läuft, die „Gegenzeit“. Jan sagt zu Jennifer  : „So komm. Ich bin mit dir und gegen alles. Die Gegenzeit beginnt.“45 Er sieht sich gerade da, wo er nicht zu Hause ist und kaum Boden unter den Füßen hat, neu im Raum situiert  : „Ich fühle, daß ich nie besser wissen werde, auf welchem Längen- und Breitengrad ich mich befinde, und nie besser, worauf alles gegründet ist als in diesem beliebigsten Zimmer. Genau hier ist es zu spüren, wo es wenig Erde gibt. Hier ist Raum. Und du beherbergst mich, den Fremden.“ 46 Sich selbst 39 Dürrenmatt  : Der Tunnel, S. 30. 40 Dürrenmatt  : Der Tunnel, S. 98 (erste Fassung). 41 Dürrenmatt  : Der Tunnel, S. 98. 42 Ingeborg Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan. In  : Werke, Bd. 1, S. 269–372, hier S. 277. 43 Die Szene, in der Jennifer Jan erstmals anspricht, spielt auf dem New Yorker Grand Central Bahn­hof. 44 Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan, S. 318. 45 Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan, S. 317. 46 Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan, S. 314.

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beschreibt er als eine Welt aus unbetretenen und unkultivierten Zonen  : „Ich möchte jetzt eine Karte haben, die mich dir erklärt  : alle meine Wüsten, sandfarben darauf, und weiß die Tundren, und eine noch unbetretene Zone. Aber auch eine neue grüne Zeichnung ist da, die besagt, daß der Kältesee in meinem Herzen zum Abfließen kommt.“47 Jen­nifer brennt vor Liebe  : „Ich brenne bis in meine Eingeweide vor Liebe und verbrenne die Zeit zu Liebe, in der er hier sein wird und noch nicht hier ist.“48 Die Liebesgeschichte zwischen Jan und Jennifer, in der Mann und Frau, Europäer und Amerikanerin über die Geschlechter-, Kontinental- und Sprach­grenze hinweg in einen Dialog treten und die mit einer entgrenzenden Sprengung endet, spielt im neuen Situationsraum. Sind die Korrespondenzen zwischen Aichinger und Dürrenmatt in einem ähnlichen existentialistischen Erzählmodell begründet, gibt es bei Der gute Gott von Manhattan auch eine direkte Verbindung zu Aichinger. Bachmann nimmt auf das letzte Kapitel von Die größere Hoffnung Bezug, indem sie ihr Paar in die Nachfolge von Ellen und Jan stellt, der Halbjüdin und dem Besat­ zungssoldaten, die unmittelbar vor dem Ende des Krieges in der brennenden Stadt über die Kriegsfront hinweg zusammenfinden. Auch bei Bach­mann heißt der männliche Protagonist Jan. „Ellen“ heißt die Frau jenes Liebes­ paares, das der Gute Gott, wie in der Eingangsszene der „Richter“ rekapituliert, „vor sechs Jahren“ durch eine Bombe tötete49 – also 1945.

1.4 Lektüre im Sprung  : Der Dialog zwischen Text und Leser Auch wenn die Erzählung eine Verwandlung von Schriftlichkeit in Münd­ lichkeit zeigt, so ist sie doch ein schriftlicher Text. Ihre eigene Verwandlung nach dem Vorbild der erzählten Geschichte wird möglich, wenn sie gelesen wird. Insbesondere zwei strukturelle Merkmale befördern diesen Prozess  : Zum einen hat die Erzählung eine latent szenische Struktur, die in der Lektüre aktiviert wird und damit über die Vermittlung des Lesers den schriftlichen Text auf eine imaginäre Thea­terbühne bringt. Zum anderen bewirkt die spezifische sprachliche Gestaltung von Anfang und Ende aller Abschnitte, dass auch in der Interaktion zwischen Text und Leser die asymmetrische Situation der Lektüre zur direkten Begegnung wird. 47 Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan, S. 314. 48 Bachmann  : Der gute Gott von Manhattan, S. 323. 49 Bachmann  : Der gute Gott von Manhatten, S. 272.

Lektüre im Sprung  : Der Dialog zwischen Text und Leser

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Verwandlung der Prosa zum Drama. Die einzelnen Abschnitte des Prosa­textes beginnen analog der Rollenbezeichnung bei dramatischen Texten jeweils mit der Angabe der sprechenden und handelnden Person  : „Der Mann auf der Leiter“ – „Der Junge auf dem Plakat“ – „Die Frau mit dem Kind“ – „Das Kind“ – „Niemand“. Sie enthalten viel direkte Rede, (nicht) ausgesprochene und (nicht) gedachte, sind auch in den erzählenden Passagen rhetorisch durchgeformt und bieten eine detaillierte Beschreibung der Gestik, Mimik und Bewegung im Raum. Aktiviert wird die szenische Struktur, wenn der Leser diese Rollen ab­ wechselnd übernimmt. Indem er sich in der Lektüre die Rede aneignet und die Beschreibungen von Ausdruck und Bewegungen nachvollzieht, verleiht er den Figuren Stimme und Körper. Indem er zwischen den Personen, die abwechselnd handeln, hin und her springt, entsteht auf der inneren Bühne seines Bewusstseins ein Kommunikationsraum, in dem die asymmetrische Konstellation in der Stadt­bahnstation zum wechselseitigen Austausch wird. Der Satz  : „Der Junge hatte keine Macht, den Kopf zu schütteln, er hatte keine Macht, zu sagen  : ‚Nein, das ist es nicht  !‘“ (XIV) zum Beispiel besagt wörtlich, dass der auf dem Plakat erstarrte Junge nicht auf das Kind reagiert, als dieses auf das Plakat zeigt, „als gefiele ihm der weiße Schaum und die See, die zu grün war.“ (XIII) Was der Junge nicht artikulieren und sein Gegenüber nicht verstehen kann, das nimmt der Leser wahr, der deshalb auch die folgende Aktion des Kindes – es faltet die Stirn – auf die Aussage des Jungen bezieht. Über die vermittelnde Position des Lesers wird das unbewusst spielerische Tun des Kindes zur bewussten Antwort auf den Appell des Jungen, das unkoordinierte Tun der Kinder zum Dialog. Und was nirgends als in der Vorstellung des Lesers geschehen kann, das hat doch Auswirkungen auf den Gang der Handlung, in der das negierte Gespräch zunehmend zur direkten Kommunikation wird. Der Lektüreprozess ist auf die Erzählung zurückgekoppelt. Bei jedem Rollenwechsel des Lesers, der in der Stadtbahnstation auch meist einen Sprung über die Schienen bedeutet, ereignet sich der Wechsel zwischen Sprecher und Hörer, Hier und Dort, Figur und Grund, der für den Dialog charak­teristisch ist. Der Leser wechselt außerdem zwischen Plakat und Bahnsteig hin und her. Ersterer ist als negierter, der zweite als potentieller Situationsraum dargestellt  : Die Menschen auf den Plakaten sind festgehalten oder freiwillig erstarrt, in negierter Wahrnehmung, Bewegung und Kommuni­kation. Bei den Menschen in der Station ist, was auf ein Geschehen im Situationsraum verweist, durch das modifizierende Verb „schien“, eine konjunk­tivische „als ob“-Konstruktion oder wie-Vergleiche als (bloß) subjek-

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Springen, um nicht überklebt zu werden

tive Wahrnehmung gekennzeichnet.50 In der Wende im Moment des Sprungs wird bei den Plakaten die Negation in positive Anwesenheit umschlagen und in der Stadtbahnstation der Schein in Wirklichkeit  : Dann begegnen sich alle Figuren in einem gemein­samen Situationsraum. Plötzliche Ansprache, Aufforderung zur Antwort  : Die Kommunikation zwischen Text und Leser. In der erzählten Geschichte ist die Kommunikation zwischen dem Plakat und seinen Betrachtern zweimal direkt und symmetrisch  : Im Moment ihrer ersten Begegnung, als der Mann auf der Leiter den Jungen auf dem Plakat unversehens anspricht, und am Ende, als das Kind und der Junge springen und der Mann von der Leiter gestoßen wird. Die formale Struktur der einzelnen Abschnitte der Erzählung führt zu einer analogen Dynamik zwischen Text und Leser  : Die Abschnitte beginnen entweder mit der Nennung einer Person oder mit einem Satz in direkter Rede. Wird eine neue Figur als Subjekt gesetzt, schon bei der ersten Nennung mit bestimmtem Artikel, dann sehen wir uns unversehens in eine neue und unbekannte Position versetzt, deren Verhältnis zum Vorherge­henden vorerst alles andere als klar ist. Das ist ebenso überraschend und irritie­rend, wie wenn wir zu Beginn eines neuen Abschnitts mit einem Satz konfrontiert werden, der sich an ein Du wendet, ohne dass er vorerst einen anderen Adressaten hätte als uns selbst  : „Du wirst nicht sterben  !“ (I) „Du wirst nicht sterben  !“ (II) Komm mit uns – komm mit uns – komm mit uns  ! (IX) „Was meinst du  ?“ (XVII) „Komm  !“ (XX) ‚Ich sterbe‘ (XXII)

50 Am Anfang erschrickt der Mann „über seine Stimme, als wäre ihm in der flirrenden Hitze sein eigener Geist erschienen“, und die Mittagsstille liegt „wie eine schwere Hand über der Station“ (I). Während die Züge so selten fahren, „als verwechselten sie Mittag und Mitternacht“ (VI), stimmen die Pas­santinnen in das Gespräch über die Hitze ein, „als wüßten sie endlich den Grund für ihre Freude und für ihre Traurigkeit“ (XII). Als der Zug einfährt, greift die Frau „nach dem Saum eines Kleides, als wollte sie den Himmel greifen“ (XX), und der Mann springt von der Leiter, „als stieße ihn jemand zurück“ (XXI). Hervorhebungen S. F.

Lektüre im Sprung  : Der Dialog zwischen Text und Leser

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Nicht weil sie eine mündliche Rede darstellen, aber durch die Unmittelbarkeit ihres Auftretens sind wir von den Sätzen direkt angesprochen. Am Ende einiger Abschnitte steht eine Geste, die, während sie eine Bewe­ gung abschließt, gleichzeitig einen neuen Anfang setzt. Zum Beispiel  : Er fiel mit dem Rücken gegen die Mauer, hatte aber gleich darauf den Schwindel überwunden, nahm die Leiter über die Schulter und ging. (II) – beschließt die vertikal orientierte Phase auf der Leiter und öffnet den Raum in die Horizontale. Und keiner wußte weiter. (IX) – beendet das Lied und die Fahrt der Kinder und wirft die Frage auf nach einer möglichen Fortsetzung. Ist das sterben, wenn der Wind endlich weht  ? Was ist das  : Sterben  ? (XIV) – schlägt eine Antwort vor und stellt die Frage neu. Dann lachte es wieder zu dem Jungen hinüber, um ihm das Spiel zu erleichtern. (XVI) – spielt den Ball dem Kommunikationspartner zu. „Ich sterbe  ! Wer will mit mir tanzen  ?“ (XXII) – bietet der Junge, sein Ende vor Augen, die Hand.

Am Ende der einzelnen Abschnitte ist der Leser zum Handeln aufgefordert, erst denkend, dann sprechend und zuletzt in körperlicher Bewegung  : Wenn „keiner“ weiter weiß (IX), ist es an ihm, sich eine Fortsetzung auszudenken. Wenn die Frage offen bleibt (XIV), ist er zum Antworten aufgefordert. Wenn der Junge im Moment seines Sprunges nach einem Tanzpartner sucht (XXII), ist er als Gegenüber gefragt, der sich auf ihn zu bewegt und ihm die Hände reicht. Eine zweite Gruppe von Schlusssätzen hat die selbe Funktion. Sie setzen, wie wir bereits am Beispiel der Coda gesehen haben, zu einer rückblickenden Auflö­sung an, um dann unversehens zu einer Argumentation zu wechseln, die im Refe­renzsystem der rationalen Erklärung völlig absurd ist  : Es war kein Wunder, daß nur wenige Leute um diese Zeit mit der Stadtbahn fuhren, vielleicht hatten sie Angst, zu Gespenstern zu werden und sich selbst zu erscheinen. (I) Sie verkehrten um diese Zeit manchmal so selten, als verwechselten sie Mittag und Mitternacht. (VI) – jetzt wußte er es –, sterben mußte man, um nicht überklebt zu werden. (X)

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Springen, um nicht überklebt zu werden

Wie sollte er mit dem Mädchen tanzen, wenn das Betreten der Schienen verboten war  ? (XVII)

Diese Begründungen bekommen erst dann Sinn, wenn man sie, selbst den Sprung wagend, in die Logik von Aichingers existentialistischem Lebens- und Lektüre­modell übersetzt  : „Sterben“ und „überklebt werden“ bilden einen Gegensatz als zwei Varianten des Endes, einmal als Subjekt im Situationsraum und einmal als Objekt im Positionsraum. „Tanzen“ setzt für den Jungen das Betreten der Schienen voraus, eine Grenzüberschreitung, die nicht deshalb verboten ist, weil eine Abbildung nicht selbständig handeln kann, sondern weil die Konvention dies nicht zulässt. In der Abfolge aller Abschnitte entsteht damit einerseits eine Struktur der Wiederholung der immer gleichen Bewegung. Veränderung und Fortschritt er­geben sich andererseits daraus, dass jeder Anfang inhaltlich wie räumlich in eine neue Dimension führt. Der Text hält den Dialog mit dem Leser aufrecht, indem er immer wieder eine Opposition schafft, die einen neuen Aspekt ins Spiel und die Erkenntnis einen Schritt weiterbringt. Dadurch entsteht das zyklisch fortschrei­tende Muster der existentiellen Wiederholung im Sinn Kierkegaards  : Die existen­tielle Wiederholung ist weder ein Verhältnis der Nachträglichkeit und der Dif­ferenz, wie dies im Positionsraum der Fall ist, noch ein Verhältnis der Identität wie im Situationsraum der Kindheit. Sie aktualisiert das Vergangene unter neuen Voraussetzungen und vereint damit Identität und Veränderung. Die Identität gewährleistet die bei jeder Wiederholung identische Bewegung des Sprungs. Dass dieser jedes Mal in einer neuen Dimension geschieht, von immer neuen zeitlichen und örtlichen Standpunkten aus, vor einem stets veränderten Hintergrund von Wissen und Erfahrung, ermöglicht Veränderung und Erkenntnisfortschritt. Solche existentielle Wiederholung gewährleistet die Verbindung mit der eigenen Geschichte und die Kontinuität der Existenz ohne Erstarrung, indem sie das Vergangene immer wieder in die Gegenwart hineinnimmt und in den auf die Zukunft zielenden Entwurf überträgt. Bei Kierke­gaard ist die existentielle Wiederholung ein Modell für die offene Identität einer Person. Bei Aichinger steht sie auch für den Text und, wie sich im Folgenden bei den Wien-Texten zeigen wird, die immer neu die selben Orte vergegenwärtigen, für das Schreiben und Erinnern.

Kapitel 2

„Es war alles ein einziger Anlauf “ Die größere Hoffnung als Lektüre der Wiener Topographie

2.1 „Eine Fliege kroch von Dover nach Calais“  : Die Lektüre der Welt­k arte Unmittelbar nach Kriegsende begann Ilse Aichinger ihren einzigen Roman zu schreiben  : Die größere Hoffnung. 1948 erschien er in einer ersten Fassung, 1960 entstand die zweite verknappte, verdichtete und stärker an die Figurenperspektive gebundene Fassung, der bis heute alle Ausgaben folgen. Am Anfang des Romans steht, bevor mit der Einführung der Protagonistin die Hand­lung in Gang kommt, die Lektüre einer Weltkarte. Sie stellt den Roman unter das Vorzeichen der topographischen Poetologie, die Aichinger hier erstmals aus­ führlich formuliert und umsetzt  : Rund um das Kap der Guten Hoffnung wurde das Meer dunkel. Die Schiffahrtslinien leuchteten noch einmal auf und erloschen. Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit. Ängstlich sam­melten sich die Inselgruppen. Das Meer überflutete alle Längen- und Breitengrade. Es verlachte das Wissen der Welt, schmiegte sich wie schwere Seide gegen das helle Land und ließ die Süd­spitze von Afrika nur wie eine Ahnung im Dämmern. Es nahm den Küstenlinien die Begründung und milderte ihre Zerrissenheit. (DgH 9)

Der Eingangssatz verortet das Geschehen durch eine erste räumliche Marke, das „Kap der Guten Hoffnung“, in der uns bekannten Geographie. Mit der Nennung der „Schiffahrtslinien“, „Fluglinien“, „Längen- und Breitengrade“ müssen wir die erste Raumvorstellung bereits revidieren. Sie transferieren den benannten Ort von der Wirklichkeit auf die Landkarte, welche Afrika, die Inseln und das Meer in zeitlos abstrahierter Gesamtsicht zeigt. Diese Karte nun setzt der Text im selben Moment, wie er sie installiert, einer Bewegung aus, die die konstituierenden Grenzen verwischt, löscht, überflutet.1 Der objektive, 1 Ratmann deutet die Eingangspassage als schrittweise Zurücknahme der Genesis, die mit der

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„Es war alles ein einziger Anlauf “

zeitlose Positionsraum der Karte wird in einen subjektiven, zeitlichen Situationsraum übergeführt, taktil wahrgenommen („schmiegte sich wie schwere Seide“) und anthropomorphisiert (die Inselgruppen sind „ängstlich“, das Meer „verlacht“). Das dem Positionsraum zugeordnete „Wissen der Welt“ weicht der vieldeutigen „Ahnung“, auch in der Sprache  : „Die Fluglinien sanken wie eine Vermessenheit.“ Der wie-Vergleich setzt ohne evidentes tertium comparationis in einen anderen Bildbereich über. Erst wenn man die „Vermessenheit“ auf die beiden Raumqualitäten bezieht, bekommt sie Sinn, und zwar zweifachen  : Die Welt in Maß und Zahl zu „vermessen“, er­scheint als Anmaßung. Der erste Abschnitt des Romans schafft einen Positionsraum und entgrenzt diesen gleichzeitig zum Situationsraum. Dasselbe geschieht in der Sprache, wo jede Setzung durch mehrfache Bezüge in Vieldeutigkeit übergeführt wird. Die folgenden Abschnitte bringen zur Wirklichkeit und deren Abbild auf der Karte noch einen weiteren Raum ins Spiel  : Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. Wie eine große Karawane zog sie die Wüste hinauf, breit und unaufhaltsam. Ellen schob die Matrosenmütze aus dem Gesicht und zog die Stirne hoch. Plötzlich legte sie die Hand auf das Mittelmeer, eine heiße kleine Hand. Aber es half nichts mehr. Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen. Schwere Schatten sanken durch die weißen Fensterrahmen. Im Hof rauschte ein Brunnen. Irgend­wo verebbte ein Lachen. Eine Fliege kroch von Dover nach Calais. (DgH 9)

Die Karte wird in eine Lektüresituation eingefügt  : Sie befindet sich an der Wand eines Zimmers, in dem sie von einem Subjekt betrachtet und gelesen wird. Damit identifiziert der Text die Eingangspassage rückblickend als Ellens Lektüre, in der sich ihre gegenwärtige Situation abzeichnet  : Mit Kriegsbeginn ist es nicht mehr möglich, per Schiff oder Flug den Kontinent zu verlassen. Ellens vergeblicher Versuch, mit der Hand auf der Karte die Dunkelheit aufzuhalten, rückt die Dif­ferenz ins Blickfeld zwischen dem abgebildeten Signifié und dem materiell anwesenden Signifiant – um die Gegensätze gleich wieder zueinander in Bezug zu setzen  : Der Satz, „Eine Fliege kroch von Dover nach Calais“, ist nur verständlich, wenn man gedanklich vom einen zum anderen wechselt. Führt der Text im ersten Abschnitt die Verwandlung des PositionsTren­nung von Licht und Dunkel, Himmel und Erde, Land und Wasser die Grundlage legt für alle weiteren Differenzierungen. Ratmann  : Spiegelungen, ein Tanz, S. 47ff.

„Eine Fliege kroch von Dover nach Calais“  : Die Lektüre der Welt­karte

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raums in einen Situationsraum vor, thematisiert er in den folgenden deren Bedingung. Anstelle der verlöschten Flug­linien kriecht auf der Karte eine Fliege übers Meer  : Die neue Bewegung vollzieht sich nicht in jenem Raum, den die Karte abbildet, sondern da, wo die festge­schriebene Welt betrachtet wird. Mit der einleitenden Lektüre der Weltkarte bestimmt Aichinger das Verhältnis des Romans zu seinem biographischen, historischen und lokaltopographischen Hintergrund  : ihren eigenen Erfahrungen als Jugendliche, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Mischling ersten Grades“ galt, während des Zweiten Weltkrieges in Wien. So wie es in seinen Fakten greifbar ist, soll das Geschehene sowohl be­nannt als auch durch eine entgrenzende Lektüre gekontert werden. In Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist (1952), einem kurzen Text über die eigene Person, formuliert Aichinger diesen Gedanken anhand des Bildes eines Spiegels, der auch ein wichtiges Motiv des Romans ist  : Es ist nicht leicht, über sich selbst zu reden, es ist so, als würde man in den Spiegel schauen  ; man macht dann nicht das richtige Gesicht. Aber wenn das Spiegelbild auch irreführend ist, so haben wird doch kein anderes und müssen uns darin durchschauen und müssen den Spiegel zum Fenster machen. Ich habe es in meinem ersten Buch Die größere Hoffnung versucht.2

Die Wirklichkeit im Spiegel ist ein Abbild im zweidimensionalen Positionsraum. Als erster Schritt ist dieses Bild mangels Alternative unabdingbar. Im zweiten Schritt dann soll der reflektierende Spiegel zum Fenster werden, durchlässig auf die andere Seite hin. Aichinger will durch Betrachtung („durchschauen“ umfasst das konkrete Hindurchschauen genauso wie das entlarvende Durchschauen mit dem geistigen Auge) das Bild jenseits des Positionsraumes in einen neuen, tiefen Situationsraum überführen. Dem Leser wird dabei der Spiegel- und der Fenster­blick zugleich dargeboten. Er hat die Aufgabe, beide Räume parallel zu konstruie­ren und immer wieder ineinander zu übersetzen. Obwohl mit der Karte am Anfang die ganze Welt im Blick ist, ist der Roman­beginn eine Absage an jene Allgemeingültigkeit und Universalisierung, die die Abstraktion erst einmal mit sich bringt  : Der Akt der Lektüre 2 Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist (1952). In  : Freude an Büchern 3 (1952), H. 2, S. 276–279. Wieder in  : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Hrsg. v. Samuel Moser. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2003, S. 29f., hier S. 30.

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„Es war alles ein einziger Anlauf “

soll das Geschehen wieder lokal verorten. Ellens Lektüre findet in der Botschaft statt. Die Botschaft steht in der Mitte der Großstadt, in deren verschlossenen Grenzen der Roman handelt. Und diese Stadt ist, unverkennbar, auch wenn ihr Name nicht genannt wird, Wien. Es ist die Topographie von Wien, auf deren Verwandlung durch ent­grenzende Lektüre der Roman hinzielt, denn in diese sind die Geschehnisse einge­schrieben, die es zu vergegenwärtigen gilt. In der Topographie von Wien manifestiert sich die Abwesenheit derer, für die es nach der anonymen Ermordung im KZ einen positiven Gedenkort nicht gibt.3 Die Schwedenbrücke, auf der Aichinger ihre jüdischen Angehörigen zum letzten Mal gesehen hat, ist der Fluchtpunkt des Romans und seine Keimzelle. Ellens Weg durch die Stadt führt als „ein einziger Anlauf “ (DgH 268) auf den Sprung zu über die gesprengte Brücke hinaus, mit dem der Roman endet. In einem Tage­buchblatt vom 28. April 1944 beschreibt Aichinger ein Jahr vor Kriegsende (und der Sprengung der Brücke  !) einen Weg durch die Stadt, die sie lieben muss, weil sie durch sie geformt und verletzt wurde. Aus den „alten Gassen“ ruft es ihr unaufhörlich zu  : „Du darfst niemals vergessen  !“ Auf der Schwedenbrücke kommt es in einem hier noch eindeutig religiös bestimmten Moment von „Ewigkeit“ zur Wiederbegegnung mit den Angehörigen  : Noch immer lieb ich diese Stadt  ! Das ist sehr merkwürdig. Aber ich kann mir nicht helfen. Je mehr ich sie erlitten habe, umso mehr muß ich sie lieben und je mehr sie mir wehgetan hat, desto mehr hat sie mich geformt. Ja – wenn auch jede Gasse tiefe, halbvernarbte Wunden aufreißt, so muß ich doch durch sie hindurchgehen. Und wenn auch in meinen Träumen über die Schweden­brücke unentwegt Lastwagen mit verlorenen Menschen rollen werden – seit damals, so laufe ich doch mit offenem Haar und einem wilden glücklichen Gesicht über sie hinweg und meine Augen strahlen über die hellgrünen, zitternden Pappeln hin zu den blauen, dämmrigen Bergen. Und dann sind alle Versunkenen und alle Verlorenen wieder da  ! Und dann kommt über den grau­grünen Donaukanal das brennende, tiefe Leben auf mich zu, segnet mich und sagt  : „Werde – werde – werde  !“ und aus allen dämmrigen, alten Gassen kommt es und sagt  : „Du darfst niemals vergessen  !“ und auf dem Heimweg geht es neben mir her  : „Ich bin bei dir.“

3 Dazu auch Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“, S. 220ff.

„Eine Fliege kroch von Dover nach Calais“  : Die Lektüre der Welt­karte

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Und nun ist es nicht mehr Zukunft, nicht mehr Vergangenheit und nicht mehr Gegenwart, nicht mehr Traum, nicht mehr Erinnerung und nicht mehr Körper. Nun ist es Ewigkeit geworden, dieses Leben und diese Stadt. Und alle, die ich liebe und jemals lieben werde, stehen auf der windigen, verlassenen Brücke neben mir und wenn ich jetzt sterben müßte, so hätt ich trotzdem mein ganzes Leben in diesem einen Augenblick schon gelebt und wenn ich jetzt leben darf, will ich nur mehr lieben und danken für das Wunder dieser durchkämpften, zitternden Jugend auf der Brücke zu Gott  !4

Der Roman Die größere Hoffnung ist das Projekt, die Brücke schreibend in einen Ort der Anwesenheit zu verwandeln. Die sich über den ganzen Roman erstreckende Lektüre der Wiener Topogra­phie bildet auch die übergreifende Struktur, die die zehn thematisch wie räumlich und zeitlich diskontinuierlichen Kapitel zu einem Ganzen integ­ riert. Die Struktur ist geprägt durch das zyklische Muster der Begrenzung und Entgren­zung, das immer wieder mit einer polarisierenden Schließung des Raumes einsetzt und in einer entgrenzenden Öffnung endet.5 Dem Muster folgen sowohl die einzelnen Kapitel als auch der Roman als Ganzes, in dessen repetitiver Struk­tur damit durchaus eine Entwicklung zu beobachten ist.6 4 Deutsches Literaturarchiv, Marbach, D  : Ilse Aichinger. Tagebuchblätter 1943/44, Eintrag  : 28. April 1944. 5 Vgl. Kap. 1.3. 6 Die Frage, ob in der Handlung eine Veränderung und Entwicklung feststellbar ist oder eher Wieder­holung des Gleichen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Die These der Entwick­lung vertritt in jüngerer Zeit Kaiser. Sie teilt den Roman in drei Teile  : Das 1. Kapitel führt in die Grundproblematik ein und beschreibt Ellens Ausgangssituation, Kapitel 2–6 sind bestimmt von Ellens Begegnung mit der jüdischen Kindergruppe und deren immer aussichtsloser werdenden Situation bis zur Deportation. Das 6. Kapitel bildet mit dem Christgeburtsspiel der Kinder im Angesicht der bevorstehenden Deportation die Mitte des Romans. Die Kapitel 7–10 führen un­aufhaltsam Untergang und Tod entgegen. Kontrapunktisch dazu geben die einzelnen Kapitel Sta­tionen der inneren Wandlung Ellens wieder, die im Schlusskapitel, im Tod, den Höhepunkt er­reicht. Hedi Kaiser  : Ilse Aichinger  : Die größere Hoffnung. In  : Erzählen, Erin­ nern  : Deutsche Prosa der Gegenwart  : Interpretationen. Hrsg. v. Herbert Kaiser und Gerhard Köpf. Frankfurt/M. 1992, S. 18–38, hier S. 22f. Für die Gegenposition steht Herwig, für die die zehn Kapitel „die Gleichzeitigkeit heterogener Antworten auf die existentielle Bedrohung“ zeigen. Henriette Her­wig  : „Entsetzt floh der Sinn aus den Worten“. Sprache und Dichtungsverständnis in Ilse Aichin­gers Roman ‚Die größere Hoffnung‘. In  : Sprachkunst 28 (1998), S. 55–69, hier S. 59. Ähnlich Schmidt-Dengler  : „Die Sukzession der einzelnen Szenen spielt kaum eine Rolle. […] Die Episoden bedingen einander durch keinen realen Zusammenhang  ; sie werden assoziativ verknüpft.“ Wendelin Schmidt-Dengler  : Bruchlinien. Vorlesung zur österreichischen Literatur 1945–1990. Salz-

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„Es war alles ein einziger Anlauf “

Es wird anhand der Ana­lyse des 1., 5. und 10. Kapitels nachgezeichnet, die ‚Anfang‘, ‚Mitte‘ und ‚Ende‘ der übergreifenden Bewegung darstellen (Kap. 2.2–2.4). Stellenweise wird dazu auch die Erstfassung des Romans beigezogen, die bezüglich der Konstruktionsprinzipien viel expliziter ist.7 Im Vordergrund steht die Frage nach Ellens Entwicklung sowie der damit einhergehenden Veränderung der Raum­struktur und der Zeichenrelation. Alle drei Aspekte vereinen sich im Motiv des Spiegels, der in jedem Kapitel sowohl Element des Raumes als auch Metapher für Ellens Bewusstseinsstufe und Verbildlichung der entsprechenden Zeichenrelation ist. Im 1. Kapitel bricht der Krieg aus, und Ellen ist Schulanfängerin. Beim Blick in einen Spiegel erwacht ihr Bewusstsein und tritt sie in den Positionsraum ein. Im 5. Kapitel beginnt in der Stadt die Deportation der Juden, Ellen und ihr Freund Georg feiern den 15. Geburtstag. Zwischen zwei Spiegeln stehend, wird ihnen mit dem reflexiven Bewusstsein in der Vorstellung der Situationsraum zugänglich. Im 10. Kapitel, wo die Stadt durch die Alliierten befreit wird, erlebt Ellen ihre erste Liebe. Der Sprung durch den Spiegel hindurch führt in der gewaltsamen Zerstö­rung des Bildes wie der eigenen Person in einen neuen Situationsraum. Durch sämtliche Kapitel hindurch wird die übergreifende Bewegung dann anhand der Lokalisierung von Ellens Weg durch Wien nachgezeichnet, in dem sich die Romanstruktur spiegelt (Kap. 2.5). Sie führt in den ersten drei Kapiteln in zentrifugalen Bewegungen immer weiter an die Peripherie, verburg 1995, S. 45. Rosenberger geht in psychologisierender Argumentation davon aus, dass Ellen des­halb von Anfang bis Schluss unverändert dem kindlichen Realismus verhaftet bleibt, weil sämt­liche sozialisierenden Instanzen fehlen. Da auch der Erzähler eine kindliche Sicht der Welt inszeniere, spricht sie sich vehement gegen eine interpretatorisch hergestellte Linearisierung aus. Rosenberger  : Poetik des Ungefügten, S. 8f., 14f., 108f. Dass die Annahme einer Entwicklung nicht zwangsläufig zu einem linearen Muster führt, zeigt Ratmann, die die Dynamik des Romans aus der gegenseitigen Durchkreuzung der Prinzipien von Steigerung und Wiederholung bestimmt  : „Bremst die Wiederholung die Hierarchie der Steige­rung, so dyna­misiert die Steigerung die Monotonie der Wiederholung  ; gewinnt die Wiederholung der Stei­gerung immer neue Bedeutungsdimensionen ab, so ermöglicht die Steigerung den Zusam­menhang der einzelnen Variationen.“ Ratmann  : Spiegelungen, ein Tanz, S. 35. 7 Zum Vergleich der beiden Fassungen vgl. Ratmann  : Spiegelungen, ein Tanz, S. 19f.  ; Seidler  : „Sind wir denn noch Kinder  ?“, S. 17–58  ; Berbig  : „Die größere Hoffnung“ 1948, 1960 – zwei Seiten einer Medaille   ? Zum frühen Werkverständnis von Ilse Aichinger unter Einbe­zug ihrer Tagebücher. In  : Ilse Aichinger. Text + Kritik 175 (2007), S. 19–28. In den Grundzügen entspricht die Tendenz der Überarbeitung den Ergebnissen des Vergleichs von Die größere Hoff­nung und Das Plakat, das zeitlich zwischen den beiden Fassungen entstanden ist. Vgl. Kap. 2.7, insbesondere S. 135ff.

Der erste Blick in den Spiegel  : Die große Hoffnung

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harrt in den mitt­leren Kapiteln auf der Insel jenseits des Donaukanals und bewegt sich in den letzten drei Kapiteln in zentripetalen Bewegungen wieder auf die Mitte der Stadt zu. Eine Kreisbewegung entsteht auch in der Zeit, wo in der Anordnung der Ereignisse der Kriegsjahre ein Jahreslauf durchschritten wird. Durch die Bewe­gung des Erzählens entsteht über der fragmentierten Struktur der Geschichte ent­täuschter Hoffnungen, in der jedes Kapitel an einer verschlossenen Grenze endet, eine zweite Struktur, die die Kapitel zu einer zyklisch fortschreitenden Bewegung verbindet und eine Geschichte sich erfüllender Hoffnungen erzählt. Nebst der Wiener Topographie haben auch die Protagonistin Ellen und die Erzählstimme, die über alle Brüche und Sprünge der Handlung hinweg durch­gehend präsent sind, für den Roman integrierende Funktion. Aus der Bestimmung von deren ebenfalls dialogischem Verhältnis ergeben sich neue Antworten auf die viel diskutierten Fragen der Erzählperspektive und der Beurteilung von Ellens Tod (Kap. 2.6). Die Erzählperspektive, die nach den Mustern (auto-)biographischen Erzählens nicht zu fassen ist, wird als Doppelperspektive beschrieben, in der wir einerseits die Welt mit den Augen der Protagonistin sehen und erleben und an­dererseits von Anfang an um ihre letzte Einsicht wissen, die ein allwissender Erzähler vorwegnimmt. Bei der Beurteilung von Ellens Tod ist zu beachten, dass Ellen nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, sondern die Bewegung des Erzählens verkörpert. Mit Ellen, die ihren Freunden vergeblich ins Lager zu folgen versucht, erörtert Aichinger die Möglichkeit, den Toten mittels Erzählen und Schreiben nachzufolgen. Zuletzt wird der Roman mit der Erzählung Das Plakat verglichen, um aus den geringfügigen, aber weitreichenden Verschiebungen auf Entwicklungstendenzen in Aichingers frühem Werk zu schließen (Kap. 2.7)  : Die Texte werden kürzer und formal stärker konturiert. Zentrale Elemente werden von der diskursiven auf die strukturelle Ebene verschoben. An die Stelle des Ziels im Tod tritt eine im Leben unabschließbare Prozessualität.

2.2 Der erste Blick in den Spiegel  : Die große Hoffnung Das erste Kapitel des Romans besteht aus zwei Teilen, die im Verhältnis von Wiederholung und Umkehrung stehen  : Die erste Hälfte dauert vom Abend bis zum Morgen und spielt in der Botschaft, von wo Ellen zum Schluss im Auto des Konsuls nach Hause gefahren wird. Die zweite Hälfte dauert vom

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Morgen bis zum nächsten Abend und beginnt zu Hause, von wo Ellen den Rückweg in die Bot­schaft sucht, von ihrem blinden Führer aber in die entgegengesetzte Richtung geführt wird. Im ersten Teil verlangt Ellen vom Konsul ein Visum, das sie sich dann nach seiner Anleitung selbst ausstellt. Im zweiten Teil will sie das Visum vom Konsul bestätigen lassen, weil ihr klar geworden ist, dass es in dieser Form keine Ausreise ermög­licht. Zuletzt wird sie auch dies selbst besorgen, in einer Kirche, die in einer anderen Weise eine „Botschaft“ ist als ihr erster Aufent­haltsort. Die beiden Kapitelhälften bestehen ihrerseits jeweils aus zwei durch Leer­ zeilen getrennten Teilen,8 die dem zyklischen Muster der Be- und Entgrenzung folgen  : Die Figuren sind zuerst jeweils allein in geschlossenen Räumen. In der Mitte dann – um Mitternacht, beziehungsweise auf der „steinernen Insel“ in der „Mitte der Kreuzung“ (DgH 27) – kommt es zur Begegnung in einem gemein­samen Raum. Es entsteht ein Dialog mit sich steigernder Intensität, an dessen Ende der Raum sich öffnet und die Figuren verschwinden. Bereits das eine Kapi­tel und seine einzelnen Teile folgen damit dem zyklischen Muster der Be- und Ent­grenzung. Hier stellt sich nun die Frage, inwiefern das 1. Kapitel auch den Anfang eines zyklischen Bogens darstellt, der sich über den ganzen Roman hinzieht. In der Botschaft  : der Visumsantrag. Zu Beginn des Romans befindet sich Ellen in der Botschaft. Die Botschaft ist sowohl der erste Schauplatz der Handlung als auch Verbildlichung einer Zeichenrelation  : Topographisch ist die Botschaft eine diplomatische Vertretung, die innerhalb eines Landes ein anderes vertritt, dem es rechtlich und territorial zugehört. Semiotisch stellt sie damit einen Signi­fiant dar, der am Signifié Teil hat. Dem entspricht die wörtliche Bedeutung der „Botschaft“ als einer von einem Boten überbrachten, für den Empfänger bedeu­tungsvollen Nachricht, die als ‚frohe Botschaft‘ auch eine (christlich) transzen­dente sein kann. Vieles weist darauf hin, dass Ellen sich zu Beginn in der Botschaft in jenem Stadium der Entwicklung befindet, dem Aichinger jene magisch-mythische Zeichenbeziehung zuordnet, für die die Botschaft steht  : Sie ist ein Vorschulkind, das sich unbewusst im Situationsraum bewegt  : ein Kind mit 8 In der ersten Fassung sind die vier Teile jeweils typographisch durch eine Leerzeile mit Stern ge­trennt. Innerhalb des ersten Teils teilt zusätzlich eine einfache Leerzeile Ellens Partie von jener des Konsuls. In der überarbeiteten Fassung gibt es nur noch einfache Leerzeilen, wodurch diese Ab­stufung wegfällt.

Der erste Blick in den Spiegel  : Die große Hoffnung

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einer Matro­senmütze über den Pony-Fransen und einem Schülerausweis in der Tasche, dem die Mutter das Haar bürstet, das vom Konsul auf den Armen getragen wird und im Lehnstuhl sitzend die Knie nicht beugen kann.9 Ellen ist eine Schulanfän­gerin, die mit Buntstiften ein Visum zeichnet, auf das sie mit „großen, unge­schickten Buchstaben“ (DgH 17) ihren Namen schreibt. Wirklichkeit geht fließend in Spiel über, wenn sie aus der Fahrkarte, mit der sie zum Konsulat gefahren ist, ein weißes Papierschiff faltet, das auf der Landkarte Kinder, „für die niemand bürgen konnte“ (DgH 10), von Hamburg gegen Westen führt. Und der Übergang zwischen dem Spiel im Wachzustand und dem Traum von den Kindern, die in der Nacht heimlich die Überfahrt versuchen, ist so fließend, dass wir ihn auch rück­blickend nicht lokalisieren können, wenn der Satz „Ellen schrie im Schlaf “ (DgH 11) dieses Geschehen als Alptraum identifiziert. Der Tatsache, dass ihr die Welt nur noch als Landkarte zugänglich ist, auf der die Dunkelheit bedrohlich ansteigt, begegnet Ellen durch spontanes Handeln. Sie ebnet die vertikale Differenz ein, indem sie die Karte von der Wand auf den Boden holt. Ihr Körper, der sich im Schlaf auf dieser Karte hin und her „wälzt“, verbindet und vermittelt die Extrempole und rundet damit die flache Kartenwelt wieder zur Kugel  : Ellen schrie im Schlaf. Sie lag quer über der Landkarte und wälzte sich unruhig zwischen Europa und Amerika hin und her. Mit ihren ausgestreckten Armen erreichte sie Sibirien und Hawaii. In der Faust hielt sie das kleine Papierschiff und sie hielt es fest. […] Ellen weinte. Ihre Tränen be­feuchteten den Pazifischen Ozean. Ihre Matrosenmütze war vom Kopf gefallen und bedeckte einen Teil des Südlichen Eismeers. (DgH, 11)

Liegt Ellens Kopf am Südpol, zeigen die Füße gegen Norden. Während der Rumpf sich zwischen Europa und Amerika ost- und westwärts bewegt, reichen die Arme über diese Kontinente hinaus ins kalte Sibirien und heiße Hawaii. An den Rändern, wo sich der Pazifische Ozean auf den eurozentrischen Weltkarten be­findet, befeuchten Ellens Tränen das abgebildete Meer. Damit tendiert die Ab­bildung dazu, sich zu materialisieren. Parallel dazu sollte der Name des Pazifik seine wörtliche Bedeutung wiedererlangen  : Die flache Welt wieder zu runden, ist gleichbedeutend mit ihrer Befriedung. 9 „Sie saß tief im Winkel, und ihre geflickten Schuhsohlen starrten ihm flehend ins Gesicht.“ (DgH 16)

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Für Ellen ist die Botschaft die Vertretung der ganzen Welt, deren Karte im Vorzimmer hängt, und der Konsul Bürge der Schöpfung, hatte der Schuster ihr doch gesagt  : „‚Geh zum Konsul, der Konsul ist ein guter Mann, der Konsul bürgt für den Wind und die Haifische, der Konsul bürgt auch für dich  !‘“ (DgH 17) Ellen betritt mit der Botschaft, in die sie gegen einen Apfel Einlass bekam,10 das Paradies. Und sie wird im selben Moment daraus verstoßen, denn die Bedin­gungen haben sich verändert  : Es ist Nacht, die Sonne, das „strahlende Gestirn der Kinderzeit“ (DgH 105), scheint nicht mehr. Anders als der Wind und der Haifisch, das bewegte Element und die unbewusste Kreatur, braucht Ellen zur Überquerung der See ein Visum. Dass ihr Visum „verweigert“ ist, bedeutet für sie sowohl die Schließung der Grenze als auch die Trennung von der Mutter. Es ist „die letzte Nacht“ (DgH 18). Während Ellen auf der Schwelle zwischen unbewusster Kindheit und erwa­chendem Realitätssinn ist, befindet sich der Konsul aus anderen Gründen in einem ähnlichen Zustand  : Um Mitternacht verliert der Erwachsene am Schreibtisch die zeitliche Orientierung  : „Seine Uhr war stehengeblieben und er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es mußte auf Mitternacht gehen. Nicht mehr heute und noch nicht morgen, soviel war sicher.“ (DgH 11) Während Ellen träumend auf der Karte liegt, gerät der Konsul unfreiwillig in die selbe Stellung und einen ähnli­chen Zustand, als er in der Dunkelheit über sie stolpert. Unter diesen Umständen begegnen sich im Warteraum der Botschaft zwei Menschen, die sich normaler­weise an verschiedenen Orten und in qualitativ unterschiedlichen Räumen be­finden  : Ellen, das Kind, das aus dem Nichts auf einmal da ist, und der Konsul, der Erwachsene aus dem bereits unerreichbar gewordenen Land. Im Dialog erscheinen ihre beiden Positionen erst in Opposition  : Ellen erzählt, singt, schreit, lacht, flüstert, steigt über Möbel und stößt mit den Füßen nach ihrem Gegenüber. Sie will von ihm die Unterschrift bekommen auf dem Visum, das sie selbst gemalt hat und sich auf jenes Sehnsuchtsland bezieht, das sie zeich­nerisch durch „Sterne, Vögel und bunte Blumen“ (DgH 21) darstellt und mit Worten als „dort, wo alles blau wird, wo der Wind sich schlafen legt und die Delphine um die Freiheitsstatue springen“ (DgH 17), beschreibt  : Das totali­sierende „alles“, das Blau als Farbe von Himmel und Wasser, das Fliegen, Schwimmen und Springen als jene Elemente durchquerende Bewegungen charakterisieren es als Situationsraum. Das Paradies der Kindheit, dem die 10 „‚Wie bist du hier hereingekommen  ?‘ fragte der Konsul schärfer. ‚Ich habe dem Portier einen Apfel gegeben.‘“ (DgH 17)

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Wirk­lichkeit nicht mehr entspricht, soll wiederhergestellt werden, indem der Konsul seine Unterschrift in die ausgesparte Mitte setzt, in einem performativen Schreib­akt, der nicht ein amtlicher, sondern ein magisch-ritueller ist, welcher die Grenzen zwischen Repräsentation und Wirklichkeit überschreitet. Der Konsul dagegen versucht, mittels Vernunftargumenten die Grenze zu ziehen zwischen Spiel und Wirklichkeit („Wollen wir jetzt sprechen wie vernünftige Leute  ?“ DgH 16), Traum und Wachen („Wäre es nicht möglich, daß du alles geträumt hast  ?“ DgH 16). Er will Ellen den Unterschied zwischen dem lieben Gott und einem Kon­sulatsbeamten erklären  : „Ja, der für den Wind und die Haifische bürgt, der bürgt auch für dich. Aber der bin nicht ich.“ (DgH 18) Solange der Konsul Ellen in die Wirklichkeit zwingen will, weigert sie sich, ihm zu glauben, selbst als ihr keine Argumente mehr bleiben. Ihr leidenschaft­ liches Beharren auf der kindlichen Sicht bringt den Konsul auf die entscheidende Idee. Indem er auf die existentielle Ebene wechselt, Visum und Bürgschaft, Frei­heit und Gefangenschaft als Frage der inneren Haltung definiert, kann er ihre Argumentation aufnehmen, ohne die Wirklichkeit zu verleugnen. Was die Men­schen in seinem Wartezimmer erhoffen, kann er nicht bieten  : „Alle die vielen, denen ich das Visum ausgestellt habe, alle diese vielen werden enttäuscht sein. Der Wind geht nirgends schlafen.“ (DgH 20) Es ist nur für denjenigen zu finden, der für sich selbst einsteht  : „Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei.“ (ebd.) Als Ellen verwundert und begeistert unterschreibt, formuliert er seine Botschaft an sie  : „Diese Unterschrift bedeutet ein Versprechen, das du dir gibst  : Du wirst nicht weinen, wenn du von deiner Mutter Abschied nimmst, ganz im Gegenteil  : du wirst deine Großmutter trösten, die wird das nötig haben. Du wirst auf keinen Fall mehr Äpfel stehlen. Und was auch geschieht, du wirst immer daran glauben, daß irgendwo alles blau wird  ! Was auch immer geschieht.“ (DgH 20)

Der Konsul fordert von Ellen, sich der Wirklichkeit zu stellen, die er ohne Be­ schönigung benennt. Und dann in wachem Zustand und mit Wissen an das Un­denkbare zu glauben und Kind zu bleiben. Als Ellen unterschreibt, feurig entschlossen, aber ohne die Konsequenzen zu bedenken, bedient sie sich erstmals der Schrift. Durch ihre „große, steile Unter­schrift“ (DgH 21) mit einem Rotstift schreibt sie sich vertikal im Positionsraum fest. Indem sie akzeptiert, kein rechtsgültiges Visum zu bekommen, verschließt sich ihr mit den Landesgrenzen der äußere Raum. Zugleich öffnet sich jener in­nere Raum, in dem die grenzüberschreitende Bewegung künftig

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allein möglich sein wird  : die Vorstellung. Damit sie sich in dieser bewege, gibt der Konsul ihr die Landkarte zurück, von der er die Schlafende aufgehoben hatte. Ein Weg an die Peripherie  : die Bestätigung des Visums. In der zweiten Hälfte des Kapitels ist Ellen anfangs wieder allein. Obwohl bei sich zu Hause, erwacht sie in einem gänzlich veränderten Raum. In der Morgendämmerung greift sie nach dem, was sie hier bisher stets vorgefunden hat  : Ellen griff nach dem Gesicht ihrer Mutter. […] Nach diesem Gesicht, das die Welt wahr und warm gemacht hatte, nach diesem Gesicht von Anfang an, nach diesem einen Gesicht. Noch einmal griff Ellen flehend nach dem Allerersten, nach dem Hort der Geheimnisse, aber das Gesicht ihrer Mutter war unerreichbar geworden, wich zurück und wurde blaß wie der Mond am dämmernden Morgen. (DgH 22)

Die Mutter, die für die Wahrheit und Wärme der Welt gebürgt hatte, ist nicht mehr zu fassen. Und mit ihr der „Anfang“, das „Allererste“ und das Zuhause („Zuhause“, hatte Ellen dem Konsul erklärt, „das ist immer dort, wo meine Mutter ist.“ DgH 17). Ins Leere greifend, erfährt Ellen den Sündenfall der Be­ wusstwerdung im Wortsinn einer konkreten Bewegung  : „Ellen fiel durch die Arme aller ihrer Puppen und aller ihrer Teddybären. Wie ein Ball durch den Reifen fiel sie durch den Kreis der Kinder im Hof, die sie nicht mitspielen ließen. Ellen fiel durch die Arme ihrer Mutter.“ (DgH 22) Der Kreis, in dem die Kindheit sich zeitlos bewegt, wird aufgebrochen. Weder die Spielsachen geben Halt, noch die Kinder im Hof, welche mit dem Mädchen nichts zu tun haben wollen, das mit „zwei richtigen und zwei falschen Großeltern“ (DgH 39) nirgends dazugehört. In der Wohnung der Großmutter an der „Verbindungsbahn“ haben sich alle sozialen Bindungen aufgelöst. Genauso verhält es sich mit Raum und Zeit  : Der halbe Mond fing sie auf, kippte heimtückisch wie alle Kinderwiegen und schleuderte sie wieder von sich. Keine Spur davon, dass die Wolken Federbetten waren und der Himmel ein blaues Gewölbe. Der Himmel war offen, tödlich offen, und es wurde Ellen im Fallen deutlich, daß Oben und Unten aufgehört hatten. (DgH 22)

Als die Kinderwiege kippt, wird das schützend gerundete „Gewölbe“ des Himmels der kindlichen Welt zum tödlich offenen Nichts. Im Positionsraum

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gibt es keinen qualitativen Unterschied mehr zwischen verschiedenen Richtungen. Kein Wunder, wird Ellen, die „über Nacht gewachsen“ ist, „schwindlig“, als sie in der leeren und stillen Wohnung die Augen öffnet. Auch die Zeit ist verändert, „etwas war nicht in Ordnung mit diesem Frühlingsmorgen. Vielleicht – vielleicht war es Herbst. Und vielleicht ging es gegen Abend“ (DgH 23)  : Nach ihrer Unter­schrift in der exakten Mitte des Kapitels hat sich Ellens Leben, obwohl noch fast am Anfang, ein erstes Mal auf ein Ende hin orientiert. Noch einmal wehrt sich Ellen verzweifelt, droht und wird gar handgreiflich gegen den übermächtigen Gegner  : das Bewusstsein, die Wirklichkeit, den Spiegel, der nun zum ersten Mal im Text auftaucht  : Sie warf die Polster von der Couch, riß das Tischtuch vom Tisch und schleuderte den Papierkorb gegen den Spiegel wie David seinen Stein gegen Goliath. Wie David gegen Goliath kämpfte sie gegen das Grauen der Verlassenheit, gegen das neue furchtbare Bewußtsein, das seinen Kopf wie ein häßlicher Wassermann aus den Fluten der Träume hob. […] Sie mußte es widerlegen, genau das Gegenteil mußte sie beweisen, der Wirklichkeit wollte sie den aufgerissenen Rachen stopfen, ihre Mutter mußte sie finden  ! (DgH 25f.)

Würde sie mit ihrer Mutter Verstecken spielen, wäre diese leicht zu finden, indem Ellen das Spiel beendet  : „‚Es gilt nichts  !‘“ (DgH 26) Nicht auf die Mutter aber fällt ihr Blick, als sie sich umdreht, sondern auf das Visum, auf das ihr Ausruf in anderer Weise zutrifft. Wie Ellen auf der Suche nach einer Bürgschaft von einem zum nächsten verwiesen wird – „Der Schuster hatte gesagt  : der Konsul – aber der Konsul schob es wieder auf einen andern.“ (DgH 18) – ist die Sprache mit dem Sündenfall ein Verweissystem ohne Referenz geworden und die Zeichen inter­pretationsbedürftig. Deshalb will Ellen zurück zum Konsul, „fragen, was mein Visum bedeutet“ und das Visum „bestätigen lassen“ (DgH 29). Während Ellen als unbewusstes Kind im Schlaf in das Zimmer des Konsuls getragen wurde, muss sie nun, als Jugendliche mit Realitätsbewusstsein, den Weg suchen von der leeren Wohnung zur bewohnten Botschaft. Der Weg führt durch den Positionsraum Stadt  : Ausgehend von der „großen Kreuzung“ mit der „steinernen Insel“ (DgH 27), dann auf einem Weg zwischen einer Mauer, „stillen Häusern“ und „fremden Botschaften, die ihre Botschaft verbargen“ (DgH 28). Ein Blinder, der anderes und mehr zu sehen scheint als die Sehenden, weist Ellen den Weg in die der Botschaft entgegengesetzte Richtung, statt hinunter ins Zentrum zurück hinauf an die Peripherie  :

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ein Zurück zum Anfang gibt es nur noch über das Weitergehen bis zum Ende. Auf dem Weg spricht der Blinde Klartext  : Ein offizielles Visum, das zur Mutter (zurück-)führen würde, ist nicht mehr zu bekommen. „Es ist Krieg […] und es gehen nur mehr wenige Personendampfer.“ (DgH 29) Das selbst unterschriebene Visum bleibt die einzige Option. Der Raum orientiert sich wieder vertikal, als Ellen und der Blinde sich dem Ende der Gasse nähern  : „Wo die Gasse zu Ende ging, war der Himmel. Zwei Türme tauchten wie Grenzposten aus den Botschaften.“ (DgH 30) Bei der Kirche sind die Pole der Vertikalen verbunden durch eine Treppe, einen Pfeiler und einsetzenden Regen. Ellen betritt die Kirche, um sich über den Blinden zu beschweren. Weil diese menschenleer ist, wendet sie sich an einem Seitenaltar an den heiligen Franz Xaver. Es ist ein anderes Gespräch als mit dem Konsul, denn der Heilige ist bloß durch das Gemälde des „alten Malers“ repräsentiert. Es ist ein Gespräch, wie man es als Betrachter mit einem Bild, als Leser mit dem Text führt. Der Heilige sieht „weit über sie hinweg“, geht nicht auf Ellen ein, wirft sie, stumm auf seiner Posi­tion beharrend, auf sich selbst zurück. Was er von Ellen verlangt, ist, übersetzt in die kindlich-konkrete Vorstellungswelt, der Kierkegaardsche paradoxe Sprung in den Glauben  : Vor einem Jahr hatte sie Kopfspringen gelernt, und es ging ähnlich. Man mußte auf ein hohes Sprungbrett steigen, um tief hinunter zu kommen. Und dann war es immer noch ein Entschluß, zu springen, es hinzunehmen, daß Franz Xaver nicht hersah, und sich zu vergessen. (DgH 31)

Erst versucht Ellen kindlich, im Muster der Volksfrömmigkeit, gegen ein Gelöbnis ein Wunder zu erhandeln  : „Könntest nicht du jemandem eingeben, daß er für mich bürgt  ? Ich würde dich auch nicht enttäu­schen, wenn ich erst einmal in der Freiheit bin  !“ (DgH 32) Auf das Schweigen des Heiligen reagiert sie in immer neuen Anläufen, ihr Anliegen zu erklären, jedes Mal ein Stück mehr beiseite schiebend, „was sie von sich selbst trennte“. Als die „letzte Tür“ zurückweicht, sagt sie  : „Ich bitte dich  : Was auch immer geschieht, hilf mir, daran zu glauben, daß irgendwo alles blau wird. Hilf mir, über das Wasser zu gehen, auch wenn ich hierbleiben muß  !“ (DgH 32)

Es ist der Wortlaut des Visums, das sie beim Konsul unterschrieben hat, ergänzt durch die Einsicht, dass sie das Land nicht mehr verlassen können wird.

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Es ist die Übersetzung der Hoffnung auf Ausreise mit der Mutter in die „große Hoffnung“ auf Transzendierung im einzig verbleibenden Raum der Vorstellung, die dem ersten Kapitel den Titel gibt. Damit weiß Ellen auch, was ihr Visum bedeutet, das sie dadurch selbst bestätigt hat. Sie selbst hat nun die leere Mitte in ihrem Visum ausgefüllt. Nicht als leibliches Kreuz wie am Anfang auf der Landkarte, sondern indem sie jenseits der steinernen Straßenkreuzung, auf der ihr zweiter Weg be­gann, im Blick auf das Kreuz des Heiligen, die Opposition von Bleiben und Gehen sprachlich überschreitend vermittelte. „Das Gespräch mit dem Heiligen war zu Ende. Alle Türen standen offen“ (DgH 32), endet das Kapitel. Nicht in der Botschaft, sondern in einer Kirche an der Peripherie, nicht vom Konsul bestätigt, sondern selbst formuliert im Dialog mit dem schweigenden Heiligen hat Ellen, ohne die Stadt zu verlassen, die Grenze überschritten. Nicht zur Mutter nach Amerika, sondern zu sich selbst, nicht zurück in die Kindheit, sondern hin zu neuem Bewusstsein und Wissen. Der ‚Anfang‘  : Fazit. Auf die Frage nach dem Bewusstsein und der Ent­ wicklung der Protagonistin kann nun eine erste Antwort gegeben werden  : Zu Beginn des Romans befindet sich Ellen bereits auf der Schwelle zum Positions­raum. Ihre Kindheit im Situationsraum gibt es im Roman nur als Erinnerung der Großmutter  : [Die Großmutter] blätterte das zerfallende Album ihrer Erinnerungen zurück. Da fand sie Ellen dreijährig auf einem weißen, glänzenden Schemel, den Mund fragend aufgerissen. „Großmutter, was ist ein Spatz  ?“ […] Dann schwieg Ellen meistens einige Sekunden, ehe sie wieder von vorn anfing. (DgH 169)

Diese Zeit einer taghellen („weiß“, „glänzend“), angstfreien Existenz, die zeitlos ist im Muster identischer Wiederholung (Ellens Fragespiel beginnt immer wieder von vorne), ist in weite Ferne gerückt  : „Der weiße Schemel war längst verbrannt und das Bild war vergilbt.“ (DgH 170) Im ersten Kapitel, im Moment des Kriegsausbruchs, Schuleintritts und Romananfangs, tritt Ellen aus dem Situations­raum von Kindheit, Friede und Mündlichkeit in den Positionsraum von Schulalter, Krieg, Schrift. Sie verliert die Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten und gewinnt sie ein erstes Mal zurück, indem sie lernt, mit Bewusstsein durch Sprache Türen zu öffnen. Und der Heilige hat ihr zu einer Antwort verholfen, auch wenn er selbst nicht so viel Präsenz gewonnen hat, eine eigene Stimme zu bekommen.

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Weit weg ist die junge Ellen noch von jenen Älteren und Alten, welche, dem ‚Ende‘ nahe, sie leiten. Alle ihre Sentenzen, die existentielle Erkenntnis voraus­setzen, stammen aus zweiter Hand  : „‚Aber für wen kann man schon bürgen, […] wenn er lebendig ist  ?‘“ (DgH 16), zitiert Ellen ihre Großmutter, die andererseits auch die Konditionen für ein politisches Visum kennt  : „‚Das ist eine Geldfrage‘“ (DgH 15). Den Weg zeigen ihr Autoritätspersonen, welche wirkliche Grenz­überschreiter sind  : Der Konsul, der „tschechische Schuster“, der Blinde, der keine Differenzen sieht. Feuer und Wasser, das brennende und das flutende Element, die wie in Das Plakat den Sprung in die Existenz anzeigen, sind im 1. Kapitel als Abbildungen präsent  : auf der Karte die See, der Heilige auf einem „glühenden Gipfel“ (DgH 31). Sie verwirklichen sich aber fast nur im körperlichen Ausdruck und kaum als eigenständige Elemente  : Ellens Wangen „brennen“ (DgH 18), als sie mit dem Konsul streitet (der sich währenddessen eine Zigarre an der andern anzündet, DgH 13). „Fiebernd“ (DgH 20) unterschreibt sie ihr Visum. Das auf der Karte reprä­sentierte Meer wird von ihren Tränen benetzt. Zum Schluss, als der Blinde am Kirchenpfeiler lehnt, setzt Regen ein.

2.3 Zwischen zwei Spiegeln  : Die Angst vor der Angst Mit dem 5. Kapitel, Die Angst vor der Angst, mündet der Roman in die ‚Mitte‘ ein. Das Geschehen läuft auf einen ersten Höhe- und Wendepunkt zu  : Die Freude wie die Angst der Kinder ist groß wie nie zuvor, denn Georg – und in der Erstfassung des Romans auch Ellen – feiert seinen fünfzehnten Geburtstag. Die adoleszenten Kinder stehen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der Ge­burtstag soll das letzte Kinderfest mit Spielen und Kuchen sein11 und das erste Erwachsenenfest, zu dem Georg im Anzug seines Vaters eine „große Rede“ (DgH 108) halten will. Auch Ellen ist ihr Mantel viel zu kurz geworden. In der Erstfas­sung erblickt sie im Spiegel im Kinderkleid gar die Umrisse eines veränderten Körpers  : „Undeutlich hoben sich die Umrisse ihres wachsenden, ungelenken Körpers, die das Kinderkleid machtlos zu verhüllen suchte, aus der halben Dämmerung.“ (DgH-E 151) Die „Entwicklung“ bringt sie auf neue

11 In der ersten Fassung des Romans ist explizit von der Vorfreude auf die „letzte Kinderjause“ die Rede  : „Auf die letzte Kinderjause, wie sie sagten, denn nächstes Jahr waren sie jedenfalls schon zu groß.“ (DgH-E 159)

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Gedanken.12 Gleichzeitig beginnt die Polizei in der Stadt mit der Deportation von Juden. Im ersten Kapitel geht der Sündenfall, mit dem das Bewusstsein erwacht und Ellen aus dem Situationsraum in den Positionsraum wechselt, mit der Schließung der Landesgrenzen bei Kriegsausbruch einher. Der flache Spiegel, der die Wirk­lichkeit als immaterielles zweidimensionales Abbild wiederholt, verbildlicht die zugehörige Zeichenrelation. Auch im fünften Kapitel gehen die individuelle Schwellensituation und das historische Ereignis mit der Umstrukturierung des Raumes einher  : In der Vorstellung wird den Kindern der neue Situationsraum zugänglich. Auch diesmal ist ein Spiegel im Spiel  : Der zweite Sündenfall der individuellen Entwicklung, der zum Bewusstsein der Begrenzung der eigenen Existenz führt, ereignet sich zwischen zwei Spiegeln. Zwischen zwei Spiegeln  : die Allegorie. In der überarbeiteten Fassung des Romans erscheint der doppelte Spiegel bloß in einem kommentierenden Satz zu der Absicht der Großmutter, „Näheres zu erfahren“ bezüglich der „unbestimmten Gerüchte“ über Deportationen  : „Die Großmutter wollte Gewißheit haben. Zwischen zwei Spiegeln.“ (DgH 100)13 In der ersten Fassung ist dieser Satz je­doch eine rückverweisende Anspielung auf eine breit ausgeführte Allegorie der verlebten Frau Welt vor dem Spiegel am Anfang des Kapitels.14 Der Beginn dieser ursprünglichen Eingangspassage bezieht sich, in allgemein unpersönlicher Formulierung, auf Ellen  : Man steht zwischen zwei Spiegeln. Und man versucht eine neue Frisur. Man wird fünfzehn Jahre alt. Der Lippenstift ist zu dunkel. Man wendet sein Gesicht ein wenig seitwärts und versucht, seine Nasenspitze zu sehen – sein Profil. Es ist schwieriger als man dachte. (DgH-E 149)

12 „‚Merkwürdige Gedanken hast du, Ellen  ! Das kommt, glaube ich, von der Entwicklung‘“, sagt Julia, die nach Amerika auswandern kann, auf Ellens Idee, das Schiff könnte untergehen. Und Ellen antwortet  : ‚„Die meisten Gedanken kommen von der Entwicklung.‘“ (DgH 114) 13 Ähnlich diskret und unkommentiert erscheint der doppelte Spiegel in Das Plakat auf der Wer­ bung für den Spiegelsaal eines Tanzlokals. 14 Indem Aichinger die Passage in der Überarbeitung gestrichen hat, eliminierte sie die explizite Verknüpfung zwischen individuellem Entwicklungsschritt, historischer Situation, Sündenfall, doppeltem Spiegel und der Potenzierung im Titel Die Angst vor der Angst, auf die im Lauf des Kapitels immer wieder Bezug genommen wird. Damit weist sie dem Leser eine andere Rolle zu, der im Kapitel nicht die Ausführung einer vorgängigen These vorfindet, sondern diese im Lauf der Lektüre erst zu erschließen hat.

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Dann erfolgt ein Wechsel zur verlebten Frau Welt, die sich als „Frau entre deux âges“ ebenfalls in einem Zwischenzustand befindet.15 Entsetzt über ihr leeres Ge­sicht, hält ihr Gott einen zweiten Spiegel in den Nacken  : Entsetzt flieht sie zum Spiegel wie jede verwirrte, zweifelnde Frau. Sie wendet ihr Gesicht seit­wärts und versucht, wenigstens eine Linie zu erkennen, doch der große Verfolger hält ihr den zweiten Spiegel in den Nacken, so daß sie plötzlich in Millionen und Millionen von Variationen ihre verzerrte, geängstigte Fratze sieht – wieder und immer wieder – bis in den Schatten, bis ins Nichts  ! Angst  ! Angst fällt peitschend über sie her  ! Jedes ihrer Spiegelbilder fürchtet das nächste, jede ihrer Larven fürchtet den Tod  ! Und alle ihre Kinder, die Schuldigen und die Unschuldigen, die Kleinen und die Großen, leiden stöhnend mit ihr. Angst vor der Angst  ! Gott, nimm die Spiegel weg  ! Und sie erkannten, daß sie nackt waren  ! (DgH-E 150f.)

In einem doppelten Spiegel weitet sich der geschlossene Raum optisch nach vorne und hinten ins Unendliche. Damit bekommt das wahrnehmende Subjekt die Grenze der eigenen Existenz in den Blick  : „Jedes ihrer Spiegelbilder fürchtet das nächste, jede ihrer Larven fürchtet den Tod  !“ (DgH-E 151) Am 15. Geburtstag im 5. Kapitel des Buches kommen Ellen und Georg zum Bewusstsein ihrer Kreatür­lichkeit  : „Und sie erkannten, dass sie nackt waren  !“ (DgH-E 151) Geburt und Tod sind die einzigen Gewissheiten im Leben. Zur analogen Veränderung des poli­tischgeographischen Raumes führt in diesem Kapitel die „Verordnung“ (DgH 104), welche alle Juden zum Tragen des gelben Sterns verpflichtet  : Das Bewusst­sein der Möglichkeit der Deportation öffnet in der Vorstellung die geschlossenen Landesgrenzen auf Polen hin. Die räumliche Entsprechung zu der Situation zwischen zwei Spiegeln ist die durchlässige ‚Mitte‘. Ihre Merkmale prägen das 5. Kapitel, in dem Nebel und Dämmerung vorherrschen, „Schleier“ durch die matten Fensterscheiben 15 „Auch die Welt ist auf der Suche nach ihrem Profil. Zwar ist sie zum Unterschied von Ellen nicht fünfzehn Jahre alt, sondern immerhin schon eine Frau entre deux âges. Und zum Unterschied von Ellen hatte sie schon ein Profil. Sie hat es verloren  ! Ja, sie hatte sogar schon mehrere. Eines nach dem andern streifte sie ab. Das suchende der Urzeit schien ihr zu kindlich, das klassische des römischen Weltreiches zu wenig rätselhaft, das beseligte des Frühchristentums zu naiv, das lüsterne des Barock zu offen und das nüchterne der Vernunft zu leer  ! Angewidert schleuderte sie es von sich, griff nach dem nächsten – und fand keines mehr.“ (DgH-E 149)

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„sinken“ (DgH 106, 109) und allenthalben Stimmen durch die Wände hindurch hörbar werden.16 Der Schauplatz der Handlung ist die „Insel“  : In der Topographie von Wien bezeichnet sie die Leopoldstadt, den jüdisch geprägten zweiten Bezirk auf der Insel zwischen Donau und Donaukanal. In ihrer Form ist sie ein Ort bewusster Begrenzung,17 wie Aichinger es in Bezug auf England formuliert  : Vielleicht ist es mir deshalb gleich vertraut gewesen, weil das Meer dort überall nahe ist, weil einen das Bewußtsein, auf einer Insel zu sein, das Gefühl der Küstennähe dort nie verläßt. Das spiegelt den Abschied im Raum wieder und gibt zugleich die Kontur.18

Das Bewusstsein der Grenze macht diese durchlässig auf das außerhalb Befindliche, das damit auch innerhalb der Grenze eine gewisse Präsenz bekommt. Die zugehörige Bedeutungsbeziehung ist die allegorische,19 wie Benjamin sie anhand des barocken Trauerspiels bestimmt, das – wie die zwei Spiegel – die Zeit im Raum vergegenwärtigt, in der Hoffnung, dass aus der Feststellung reiner Immanenz das andere Extrem, die verlorene Transzendenz, hervorspringe.20 Die Allegorie bekennt sich zur Krise des Bedeutens, indem sie durch die Themati­sierung von Vergänglichkeit, Bruchstückhaftigkeit und Begrenzung die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem offenlegt. Und bleibt, indem sie die Distanz zu ihrem Ursprung bezeichnet, auf diesen bezogen. Die Allegorie hat in dialektischer Spannung von Todesverfallenheit und Ewigkeit, Bruchstück und Totalität immer zweifache Bedeutung. Was bedeutet der Stern  ? Auf der Handlungsebene sind die individuelle und die historische Schwellensituation über den Judenstern verbunden, den 16 Dies geschieht sowohl in Ellens (DgH 101) als auch in Georgs Zimmer (DgH 107). 17 Das Motiv tritt auch im 1. Kapitel schon auf  : Im Anfangsbild sammeln sich die „Inselgruppen“ ängst­lich im flutenden Meer (DgH 9). Die „steinerne Insel inmitten der großen Kreuzung“ (DgH 27) mar­kiert die Mitte von Ellens Weg in diesem Kapitel. 18 Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist, S. 30. 19 Zu Aichingers allegorischer Textpraxis an der Grenze des Darstellbaren vgl. Thums  : „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“, S. 23–59. 20 Walter Benjamin  : Ursprung des deutschen Trauerspiels. In  : Gesammelte Schriften. Bd. I/1. Unter Mitwir­kung v. Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 203–430.

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Georg und Ellen an ihrem Geburtstag erstmals am Mantel tragen. Die Frage, was der Stern bedeutet, treibt alle Figuren um und ist Movens des Kapitels selbst. In der dialek­tischen Erörterung, Ausweitung und Umwertung der Bedeutung des Sterns zeigt, thematisiert und vollzieht der Roman exemplarisch sein literarisches Verfahren, das aus der vorgefundenen Begriffssprache, oft der nationalsozialistischen Amts­sprache, diese durchstoßend eine neue Sprache zu gewinnen versucht, die in ihrem Fluchtpunkt wieder mit der ursprünglichen Namenssprache zusammen­fällt.21 Das fünfte Kapitel hat eine ähnliche Struktur wie das erste  : Es besteht aus zwei, in der Erstfassung durch Asterix getrennte, gleich lange Teile. Die erste Hälfte enthält zwei kontrastive Parallelszenen. Die eine fokussiert Ellen, die den Stern als Halbjüdin nicht tragen muss, aber nichts sehnlicher wünscht, da sie in ihm ein geheimnisvolles Zeichen der Zugehörigkeit sieht. Die andere zeigt Georg, der den Stern tragen muss, dies aber nicht möchte, weil er für ihn ein Zeichen der Ausgrenzung ist. In der zweiten Hälfte führt der Stern Ellen statt zu ihren Freunden in eine Richtung, „die entgegengesetzt war allen anderen Rich­tungen, indem sie sie vereinte“ (DgH 112)  : Die anfänglichen Positionen werden überschreitend vermittelt durch den Wechsel zur existentiellen Deutung  : „Der Stern führte Ellen gegen sich selbst.“ (ebd.) Ellen gelangt zum Haus von zwei Mädchen, welche sich altersmäßig bereits jenseits der Schwelle des 15. Geburts­tags befinden  : Julia ist sechzehn, Anna, von Ellen gesiezt, ist „älter als Julia“ (DgH 116). Beide haben die Ausreise in Aussicht, aber in unterschiedlichen Richtungen  : Julia, welche sich immer weigerte, den Stern zu tragen, ins Exil nach Amerika. Anna, die sich zum Stern bekennt, hat die Aufforderung für Polen erhalten. Zuletzt holt Ellen ihre Freunde in dieses Haus hinüber, wo sie unter Annas Lei­tung lernen, die negative Bedeutung des Sterns anzunehmen und die Bedeutung mit diesem Akt zugleich in ihr Gegenteil verwandeln. Das Kapitel beginnt mit einer er­füllten ‚Mitte‘, wenn Ellen im Spiegel ihren Stern erblickt  : „Dieser Stern in der Mitte.“ (DgH 100) Diese Mitte wird leer, als Ellen in der Konditorei erfährt, dass der Stern in der Öffentlichkeit eine andere Bedeutung hat. Es folgt die leere ‚Mitte‘ von Georgs Stern, in dessen Mitte „Jude“ steht (DgH 106). Im Verlauf des Gesprächs 21 Andere Beispiele sind das „Geheimnis“, das die „geheime Polizei“ mit dem „Anderen“, das sie durch eine „Verordnung“ auszuschließen versucht, verbindet  : „[Der Stern] war seit langem die geheimnisvollste Idee der geheimen Polizei gewesen.‘“ (DgH 100) Die „Aufforderung“ kann ein Polizeibefehl sein oder ein Appell zur existentiellen Entscheidung. Das „Verschwinden“ be­ zeichnet sowohl die Verhaftung als auch den Wechsel über die Grenze in den Situationsraum.

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um die Bedeutung des Sterns wird die leere Mitte neu gefüllt in Gestalt des Schiffskoffers, um den die Kinder sitzen und springen. Am Anfang steht ein Bild uneingeschränkter Gewissheit. Ellen hat den Stern heimlich aus der Nähschachtel geholt und vor dem Spiegel probehalber ange­steckt  : Wie ein großes dunkles Wappen war der Spiegel. Mitten darin stand der Stern. Ellen lachte glück­lich. Sie hob sich auf die Fußspitzen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dieser wunder­bare Stern. Dieser Stern in der Mitte. (DgH 100)

Und der Spiegel zeigt im Dämmerlicht nicht die flache Verdoppelung ihrer Per­son, sondern mitten im Dunkel den leuchtenden Stern  : Wenn sie sich bewegte, bewegte sich auch der Stern im Spiegel. Wenn sie sprang, sprang der Stern und sie durfte sich etwas wünschen. Wenn sie zurückwich, wich der Stern mit ihr. Sie legte vor Glück die Hände an die Wangen und schloß die Augen. Der Stern blieb. (DgH 100)

Der Spiegel ist ein „Wappen“  : Mit dem Anstecken des Sterns hat Ellen eine Identität gewählt und sich damit im existentialistischen Sinn selbst entworfen. Der Stern bewegt sich mit Ellen, wie auch die chiastische Syntax zeigt, und bleibt auch dann anwesend, wenn sie die Augen schließt  : Er ist mit seiner Trägerin iden­tisch. Was Ellen hier erstmals erblickt, ist ihre eigene Mitte  : das Hier und Jetzt, in dem der Situationsraum entspringt. Ellen schreibt dem Stern, der für sie Glück, Geheimnis und Wunder bedeutet und Wünsche erfüllt, die Kraft eines mythischen Zeichens zu. Da ist es nahe­liegend, dass sie mit ihm für Georg die Torte kaufen will, auf der „Herzlicher Glückwunsch“ steht. Die weiß glänzende Torte soll sich dem verbrannten Kuchen zugesellen, der bei den Kindern auf dem Tisch steht, und da nicht bloß an den Tag der Geburt erinnern, sondern den damit verbundenen Anfang erneuern. Doch in der Konditorei erfährt Ellen, dass ihr Wappen in der Öffentlichkeit eine andere Bedeutung hat. Die Verkäuferin verweist sie unter Drohung der Verhaftung aus dem Laden. Nachdem Ellen dreimal ihr Preisgebot erhöht hat, erkennt sie beim Blick auf ihren Stern  : Plötzlich wußte sie den Preis für die Torte. Sie hatte ihn vergessen. Sie hatte vergessen, daß die Leute mit dem Stern Geschäfte nicht betreten durften, noch weniger eine Konditorei. Der Preis für die Torte war der Stern.

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„Nein“, sagte Ellen, „nein, danke  !“ (DgH 104)

Ellens anfängliche subjektive Interpretation des Sterns wird ersetzt durch die offi­zielle Bedeutungsdefinition, die Ellen ohne eigene Erfahrung nicht verstanden hatte. Der Schlusssatz, „Der Preis für die Torte war der Stern“, deutet diese aber bereits wieder um  : Die Torte, die die Verkäuferin verkauft, bekommt nur, wer den Judenstern nicht trägt. Die Torte aber, die Ellen meint, kriegt sie eben gerade mit dem Stern. Im Moment ihres entschiedenen „Nein  !“ ereignet sich die Umsprung­bewegung, mit der der Raum sich öffnet  : „Die Verkäuferin packte sie am Kragen. Jemand stieß die Glastür auf. In der halbhellen Auslage stand die Torte. Sie war der Friede selbst.“ (DgH 104) In der Geburtstagstorte manifestieren sich Friede und Anfang. Und der Stern wird zu ihrem Gegenstück  : „Seit die Verordnung in Kraft war, hatte sie um den Stern gekämpft, aber nun brannte er wie glühendes Metall durch Kleid und Mantel bis auf die Haut.“ (DgH 104) Das arbiträre, reprä­sentierende Zeichen verbindet sich auf der anderen Seite des Stoffes mit einem neuen Signifikanten  : Ellens Leiblichkeit, die sie im brennenden Schmerz erfährt. Jetzt weiß Ellen, was ihr Stern bedeutet  : Der Preis für das Leben ist das Sterben. ‚Stern‘ und ‚Sterben‘ sind nicht nur (zumal in österreichischem Deutsch) homo­phon, sondern nähern sich auch semantisch an. In der kontrastiven Parallelszene sitzt Georg im Zimmer, das er mit seinem Vater bewohnt. Er befindet sich nicht zwischen zwei Spiegeln, trägt aber einen „doppelreihigen“ (DgH 105) Anzug und hat den Tisch für die Geburtstagsfeier „nach beiden Seiten hin ausgezogen“ (DgH 104). Obwohl er sich auf diesen Tag unsinnig gefreut hat, sitzt er nun steif und einsam da  : „Wäre der Stern nicht gewesen, der große gelbe Stern an dem schönen Rock  ! Er verdarb Georg alle Freude.“ (DgH 105) Der Stern, den Georg gemäß der „Verordnung“ tragen muss, hat die Bedeutung, welche die „geheime Polizei“ ihm gesetzlich zugeschrieben hat. Er legt Georg fest auf eine fremddefinierte Identität. Als seine Freunde eintreffen, versucht Georg die Frage nach der Bedeutung des Sterns von seinem Fest fernzuhalten. Doch die Wände sind durchlässig ge­worden  : Im Zimmer nebenan weint der junge Mann, „den man vor kurzem hier eingewiesen hatte“ (DgH 107). Obwohl Georg Hanna die Tür versperrt, als sie beim Nachbarn nachfragen will, ist das Wissen auf einmal da, erst als Geheimnis geflüstert, dann laut ausgesprochen  : „Der Stern bedeutet den Tod.“ (DgH 110) Die ihn tragen, werden deportiert und ermordet. Im Moment dieser Erkenntnis sehen die Kinder keinen anderen Ausweg als den Sprung aus dem Fenster  : „Die Kinder schlossen die Augen, sie sahen

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sich deutlich, eines nach dem andern. Schwarz und schnell und gerade, als sprängen sie ins Wasser.“ (DgH 111) Das ist kein Sprung, der im Glauben auf das Ungewisse setzt, geschwungen und leuch­tend wie Ellens Stern. Es ist der schwarze, gerade Sprung der Verzweiflung. Ellen definiert ihren Stern selbst, verdoppelt damit den Stern in ihrem Gesicht mit jenem auf dem Kleid, scheitert damit aber an der Wirklichkeit. Georg, der den Stern tragen muss, übernimmt die Fremddefinition und verzweifelt daran. Den Weg, der beide Positionen vermittelnd überschreitet, findet Ellen, indem sie von der Konditorei nicht zu den Kindern zurückläuft, sondern in die Gegenrichtung zu den zwei jungen Frauen, die die Schwelle des 15. Geburtstags bereits über­schritten haben. Julia will den Stern weder auf dem Kleid noch im Gesicht tragen. Deshalb hat sie, seit die „Verordnung“ in Kraft ist, die Straße nicht mehr betreten. Damit gewinnt sie als Erwachsene Bürgschaft und Visum für Amerika. Dieses Amerika ist aber nicht Ellens Sehnsuchtsland, in dem die Delphine um die Freiheitsstatue springen. Julia spricht von College und Golf, und in ihrem Gepäck ist eine Sonnenbrille  : jene portable Wand, die auch im offenen Raum auf dem Wasser vor der Vergäng­lichkeit schützt, was viel expliziter als der Roman die 1952 entstandene Erzählung Seegeister ausführt, die von einer Frau erzählt, die eines Tages bemerkt, dass sie „vergeht, sobald sie ihre Sonnenbrille abnimmt“ (DG, 88). Julia tauscht die erzwungene Einschränkung durch das Terrorregime gegen die frei­willige Unterordnung unter die Konvention. Sie setzt sich, als die Grenzen sich zum Tod hin öffnen, aus freien Stücken noch engere Grenzen. Der Preis dafür ist die Existenz  : Ohne Sterben gibt es kein Leben. Und die stete Bedrohung durch das Ausgeschlossene  : Als Ellen beim Blick auf die Sonnenbrille den Gedanken äußert, das Schiff könnte untergehen, erstarrt Julia erschrocken. Julia hat objek­tive Gewissheit, aber keine subjektive. Als Ellen ihren Neid auf Julia überwunden hat, öffnet sich der Raum, und in der Tür steht Anna. Anna ist durch ihren spiegelbildlichen Namen dem ‚Ende‘ zugeordnet, das die Gegensätze umfasst  : „Anna, das war wie ein Atemzug. Wie Hinnehmen und Hingeben in einem.“ (DgH 120) Anna trägt den Stern, der den Tod bedeutet, doppelt  : Jenen auf dem Mantel hat sie frisch gewaschen. Der zweite steht ihr im Gesicht. Als Anna nach dem Ziel ihrer Fahrt gefragt wird, zeigt sich unter dem glücklichen Leuchten für einen Moment tödliche Angst  : „Ich – ich habe die Aufforderung für Polen.“

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Das war es, was sie nicht auszusprechen wagten – die Großmutter, Tante Sonja, alle, alle. Das war es, wovor sie zitterten. Ellen hörte es jetzt zum erstenmal laut. Alle Angst der Welt war für sie darin beschlossen. (DgH 119)

Ohne Umschweife spricht Anna die konkrete Bedeutung des Judensterns aus, den sie am Mantel trägt. Das ermöglicht ihr, diese im Gesicht in ihr Gegenteil zu verwandeln. Auf Julias Frage, was sie erhoffe, antwortet sie  : „‚Alles‘ […] Und der Glanz einer größeren Hoffnung überflutete wieder die Angst in ihrem Gesicht.“ (DgH 119) Während Julia gerade dadurch, dass sie den Stern zu tragen verwei­gert, die fremddefinierte Identität übernimmt, verwandelt Anna, indem sie sich zum Stern bekennt, fremddefinierte Identität in selbstgewählte, objektive Gewiss­heit in subjektive, Angst in Glück, Tod in Leben. In der ersten Hälfte des Kapitels fächern die Kinder um Georg je ihrem Alter gemäß die möglichen Bedeutungen des Sterns auf  :22 Herbert, der Jüngste, der oft unwissend existentielle Wahrheiten formuliert, ist es, der den Satz, „Der Stern bedeutet den Tod  !“, laut ausspricht. Er hat ihn von Bibi gehört, die ihn, ohne sich etwas zu denken, „glücklich, wenn sie Geheimnisse haben konnte“ (DgH 109), Kurt zuflüstert. Kurt, die realitätsbezogen skeptische, manchmal zynische Stimme, vereitelt den letzten Versuch der Kinder, beim Geburtstagsfest ein Spiel zu beginnen, mit dem Kommentar  : „‚Spielt doch gleich um den Stern  !‘“ (DgH 110). Er schlägt vor, sich der Deportation durch den Sprung aus dem Fenster zu entziehen. Die sozial denkende Hanna will den Nachbarn um den Grund seines Weinens fragen, die spirituell ausgerichtete Ruth interpretiert den Stern als Geschenk des Lebens  : „Was man zum Geburtstag geschenkt bekommt, das wirft man nicht weg.“ (DgH 112) Von Leon, dem ältesten, stammen die existentiellen Sentenzen, oft mit einer veränderten Stimme ausgesprochen, „als spräche er ein Geheimnis aus, das er 22 Im 2. Kapitel stellt Georg Ellen alle Kinder vor (DgH 35f.). Anhand ihres Alters und ihrer Attri­ bute sind auch sie den verschiedenen Phasen des zyklischen Musters der Be- und Entgrenzung zugeordnet, die sie in ihrem Handeln und Sprechen während des ganzen Romans vertreten. Her­bert, der „Allerjüngste“ hat den Wasserball  : Wasser, runde Form und Bewegungsspiel verbinden ihn mit dem Anfang. Bibi charakterisieren ihr „heller“ Lippenstift und ihre Lust zu tanzen als die zweitjüngste. Kurt, „der dritte“, ist „Tormann“  : Er steht auf der Grenze zum geschlossenen Raum. Georg bildet die Mitte der Reihe. Es folgen die beiden Mädchen, die, oft zweistimmig singend, das Spiel in Sprache und Stimme vollziehen. Hanna wünscht sich ein Haus an der Schwedischen Küste (Kontur), näht stets an einem Vorhang (durchlässige Begrenzung). Ruths Wünsche richten sich auf eine Wohnung im Jenseits. Der Älteste, Leon, will Regisseur werden  : den Worten im neuen Situationsraum des Theaters wieder einen Körper geben.

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besser ver­schwiegen hätte“ (DgH 111). Er sagt  : „Ergib dich in das Ungewisse, damit du gewiß wirst.“ (ebd.) Unter der Leitung von Anna, die die Kinder „alle auf einmal“ (DgH 121) an­schaut, werden die davor aufgefächerten Positionen, die nicht mehr einzelnen Kindern zugeordnet sind, nun in eins geführt  : „Die geheime Polizei hat Angst  !“ „Und wir haben Angst vor ihnen  !“ „Angst vor der Angst, das hebt sich auf  !“ […] „Die geheime Polizei hat ihren Stern verloren.“ „Die geheime Polizei geht einem fremden nach.“ „Aber den sie verloren haben und den wir tragen, das ist alles ein und derselbe  !“ (DgH 122)

Der Stern wird zu einem Zeichen, das über die Grenze zwischen Polizei und Ver­folgten hinweg alle betrifft und über die Grenzen des festgelegten Zeichens hinaus sowohl Dunkelheit, Unsicherheit, Angst, Tod bedeutet als auch Licht, Glaube, Gewissheit, Identität. Die Kinder entdecken die Angst als Motiv des Handelns der Anderen und den Stern, den sie zu tragen gezwungen sind, als den von allen gesuchten. Damit ist in einem existentialistischen, vom religiösen Kontext los­gelösten Sinn die ursprüngliche Bedeutung des Davidsterns reaktiviert als Zeichen der Auserwähltheit des Volkes Israel. Damit ein Zeichen in dieser Weise in Bewegung geraten kann, muss es durch den Hinweis auf seine Begrenztheit über sich hinaus auf das Ganze weisen  : Es muss eine allegorische Struktur haben. In Aichingers Roman wird der gelbe Judenstern, der für die Ausgrenzung steht, zu einem selbstreferentiellen Zeichen, das auch in seinem Inhalt diese Struktur bezeichnet. Die ‚Mitte‘  : Fazit. In der Mitte des Romans, wo Georg und Ellen­­ihren 15. Geburtstag feiern und die Deportation der Juden einsetzt, öffnet sich der Raum potentiell wieder nach außen  : Sichtbar wird für die Figuren an der Schwelle zum Erwachsensein die Begrenzung der eigenen Existenz durch den Tod. Gewissheit wird abgelöst durch das Wissen um das Ungewisse. Leben gibt es nur um den Preis des Sterbens. Im Verhältnis zwischen dem ersten und dem fünften Kapitel ist nebst der strukturellen Ähnlichkeit eine Steigerung festzustellen sowie eine qualitative Ver­änderung, die einer Umkehrung gleichkommt  :

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Die Steigerung  : Ellen ist älter und selbständiger geworden und wird nicht mehr durch Erwachsene geführt. Mit Anna existiert gleichwohl noch eine Person, die mehr weiß als Ellen. Ihre Position als Aufklärende kommt ihr durch ihre Nähe zum Ende zu, zu Abschied und Tod. Von hier aus formuliert sie, was Ellen als das von ihr Gesuchte erkennt  : „‚Das habe ich gemeint. Das bedeutet der Stern  : alles  !‘“ (DgH 119)  ; „Der Stern der Weisen, das habe ich gewußt  !“ (DgH 123) Steht Anna für das Ziel, so verkörpert Ellen, die sich nicht ohne Fehleinschätzun­gen, Anfälle von Wut und Neid und handfeste Zweikämpfe zur Entscheidung für den Stern durchringt, den Weg. Ellen wird in der Mitte des Romans zum Katalysator der Vermittlung, der Bewegung des Übersetzens. Eine Steigerung ist auch bezüglich der Elemente von Feuer und Wasser zu beobachten. Nachdem sich diese im 1. Kapitel fast nur in Ellens Verhalten mani­festierten, drängen sie hier zu materieller Anwesenheit, die aber begrenzt bleibt  : Es herrscht feuchtes Wetter (DgH 100). Bei Georgs Geburtstag wird Tee einge­schenkt und in der Aufregung der Diskussion um den Stern verschüttet (DgH 108). Der Stoffstern tendiert zur feurigen Materialisierung seiner Bedeutung, als er Ellen „wie glühendes Metall durch Kleid und Mantel bis auf die Haut“ brennt (DgH 104). Die Umkehrung  : Mit der Erkenntnis zwischen den Spiegeln, dass man auch im Positionsraum nicht vor dem Ende gefeit ist, ist das Problem von Ellen und ihren Freunden nicht mehr, bleiben zu müssen, obwohl sie gehen möchten, son­dern gehen zu müssen, obwohl sie bleiben möchten. Erstmals taucht an dieser Stelle der Begriff der „größeren Hoffnung“ auf, die in der Mitte des Romans die „große Hoffnung“ ersetzt.23 Die „große Hoffnung“ definierte Ellen am Ende des ersten Kapitels als innere Grenzüberschreitung bei festgehaltenem Zustand  : übers Wasser zu gehen, auch wenn sie bleiben muss. Die „größere Hoffnung“ setzt im Moment, wo für die „große Hoffnung“ kein Spielraum mehr bleibt, auf „alles“. Die „größere Hoffnung“ ist die Hoffnung zu bleiben, auch wenn man gehen muss, zu leben im Sterben. 23 In der Forschungsliteratur ist das Gegensatzpaar „große Hoffnung“ – „größere Hoffnung“ stets korreliert mit der Hoffnung auf reale Ausreise und jener, die aus der eigenen Mitte kommt und über alle Grenzen hinweg das Getrennte verbindet (z. B. Herwig  : „Entsetzt floh der Sinn aus den Worten“, S. 59  ; Ratmann  : Spiegelungen, ein Tanz, S. 32f.). Gegen die erste Gleichsetzung spricht, dass der Roman das Attribut ‚groß‘ (wie auch ‚alt‘ und ‚fremd‘) stets mit dem Wechsel auf die existentielle Ebene verbindet (die „große Kreuzung“, das „große Wasser“, das „große Spiel“, das „große Fest“ etc.). Gegen die zweite Gleichsetzung spricht, dass die „größere Hoffnung“ erst in der Mitte des Romans ins Spiel kommt.

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2.4 Durch den Spiegel hindurch  : Die größere Hoffnung Der Apfel rollte über den Rand. Finster und erwartungsvoll lächelte der Liftschacht. Er wußte vieles zu schätzen. Bereitwillig verbarg er die Entscheidung zwischen gut und böse. Armer Apfel. Gekostet und verfault. Gekostet und nie zu Ende gegessen. Adam und Eva sind schuld, die Fäulnis nimmt zu. Und der Abfall wiegt schwerer als alle Festmähler. (DgH 215)

Am Ende des Romans, im 10. Kapitel, taucht noch einmal der Sündenfallmythos auf. In Aichingers Variante wird er dadurch aufgehoben, dass ein Apfel „zu Ende gegessen“ wird, welcher zum faulenden „Abfall“ geworden ist – mit dem „Apfel“ klanglich und mit dem Sündenfall durch die Bewegung assoziiert. Im finsteren Liftschacht soll der Apfel versenkt werden, im vertikal orientierten ‚Ende‘, das die Differenz aufhebt, die der Biss in den Apfel begründete. In der fremden Wohnung, in der sich Ellen im Mittelteil des Schlusskapitels aufhält, gibt es nicht nur einen Liftschacht, sondern auch einen „gesprungenen Spiegel“ (DgH 255). Im gesprungenen Spiegel erkennt sich das Subjekt als ein Geteiltes  : „Der Sprung im Spiegel teilte ihr Gesicht wie ein Schwertstreich“ (DgH 258). Die selbe räumliche Struktur hat im 10. Kapitel die Stadt  : Die Grenze ist nun nicht mehr außen, sondern innen. Die „Front“ teilt die Stadt, da die alli­ierten Truppen bis zum Kanal vorgedrungen sind, und sie ist unpassierbar, da die Brücken über den Kanal gesprengt sind. Umkämpft von beiden Seiten, steht der gewaltsame Durchbruch jedoch unmittelbar bevor. Auch Ellens letzter Weg zielt über den Kanal hinweg. Auf die „Insel“ überzusetzen, ist für sie gleichbedeutend mit der Vereinigung der beiden Gesichtshälften, der Einswerdung mit sich selbst. Das Durchstoßen des Spiegels zerstört die Logik von Signifiant und Signifié und befreit damit den Leib vom Bild. Dies allerdings um den Preis seiner gewalt­samen Zerstörung, wie Aichinger in den Aufzeichnungen schreibt  : In der Kindheit hat es auch schon Spiegel gegeben, aber in größerer Entfernung. Allmählich kommen wir uns immer näher, es bleibt nur wenig Raum mehr um uns, bis wir uns ganz nahe sind. Der nächste Schritt heißt  : den Spiegel mit der Faust zertrümmern, bluten, sich zerschneiden. Oder wir bleiben stehen. (1952, KMF 54)

Der Roman setzt den Sprung durch den Spiegel mit dem Wechsel vom „Bild“ zum „Sinnbild“ gleich  : „Das Spiegelbild war zerbrochen. Das Bild muß Sinnbild sein“ (DgH 268), heißt es im Moment, wo Ellen das Haus mit dem Spie-

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gel verlas­sen hat und auf die zerstörte Brücke zuläuft. Aus dem Abbild, das zum Original im Verhältnis der Nachträglichkeit steht, wird eine Metapher, die Sinn produziert „und damit in gewisser Weise das Dargestellte auch allererst zu einer bestimmten Existenz ‚erweckt‘“.24 Im Moment ihrer Entgrenzung schafft die Sprache Wirklich­keit. Ellens letzter Weg. Alles weist im letzten Kapitel auf den apokalyptischen Zustand des ‚Endes‘ hin  : Einschlagende Geschosse versetzen die Stadt in an­dauernde Erschütterung. Die Wände öffnen sich  : „Man sah den Himmel gut. Das Haus gegenüber war weggerissen.“ (DgH 242) Bombentrichter und Trümmer­berge verwandeln die Stadtfläche in eine Hügellandschaft. Von Beginn weg ist hier überall Feuer. Wasser und Blut fließen, Geschosse und Sirenen verursachen einen ohrenbetäubenden Lärm. Befreiend und zerstörend dringt das Andere in die Stadt ein  : die Befreiungsarmee und der Frühling. „‚Es bleibt immer ein Rest‘“ (DgH 252), beklagt sich Ellen und befindet sich dabei bereits auf dem Weg zum finalen Sprung vom ‚Ende‘ an den ‚Anfang‘  : Von der Nacht in den Morgen, von der Peripherie ins Zentrum. Nie ist Ellen so schnell gelaufen. Nie führte ihr Weg so tief hinunter und so hoch hinauf, in einem Keller beginnend und bis auf ein Haus­dach, von dem sie über die ganze Stadt sieht. Nie war sie so beweglich und wendig wie in dieser Landschaft des Todes und der Zerstörung. Auch der Weg durch die letzte Nacht, der als Ganzes unter dem Vorzeichen des ‚Endes‘ steht, besteht aus zwei Hälften, in deren Mitte der gesprungene Spiegel steht (DgH 255).25 Die erste Hälfte beginnt auf dem offenen Gelände, im Stadtpark, wo Ellen den Offizier Jan kennen lernt, mit dem sie den letzten Teil des Weges zu der Brücke zurücklegen will, und führt in einen geschlossenen Raum, ein verlassenes Haus, in dem die beiden Zuflucht finden, nachdem Jan verletzt wurde. Die zweite Hälfte führt wieder hinaus, Ellen geht mit Jans Botschaft in der Hand zu den Brücken, wo sie im Sprung von einer Granate zerfetzt wird. Am Anfang streckt am Rand eines Bombentrichters „eine Schlüsselblume ihre frischen Blüten ahnungslos aus der zerwühlten Erde“ (DgH 242)  : Die 24 Winfried Menninghaus  : Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt/M. 1980, S. 170. 25 In der Erstfassung ist dieses Kapitel nicht in durch Leerzeilen getrennte Abschnitte unterteilt, was die Einheit von Ellens letztem Weg unterstreicht. Nur der allerletzte Satz ist abgesetzt, das Vorher und das Nachher des Sprunges trennend. In der überarbeiteten Fassung ist die einzige Ab­setzung S.  261, bevor Ellen und Jan von der Wohnung aufs Dach hinaufgehen.

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Schlüs­selblume, ‚primula‘, Frühlingsbotin,26 öffnet das Himmelstor. Unweit davon ist das Gitter des Parks „zerborsten“, in den Ellen von der Hand eines fremden Soldaten hereingerissen wird. Der Park, die grünende, hügelige Natur innerhalb der Stadt, war während des Krieges verschlossenes Territorium  : den Juden ver­boten.27 Nun ist er wieder offen. Das Paradies der Kindheit ist darin als Abwe­sendes, Zerstörtes präsent  : Als hinter Ellen eine Granate einschlägt, treffen sie Steinbrocken, „als hätte ein Rudel kleiner Jungen hinter einem Busch hervor nach ihr geworfen“ (DgH 244). Und auf dem Spielplatz liegen Soldaten in der Sand­kiste, „als hätten sie zu lange gespielt“ (ebd.). Sie liegen „kreuz und quer“ wie zu Beginn des Romans, als Ellen auf der Landkarte lag, aber sie sind tot. Der Musikpavillon ist verwaist, gegenüber singen nun dafür die fremden Soldaten, „ihr Lied klang tief und verborgen“ (DgH 247). Ein Offizier muss mit einer Nachricht zu den umkämpften Brücken. Wenn Ellen ihm den Weg zeige, verspricht er, versuche er sie nach Hause zu bringen. Der Offizier ist Parallel- und Gegenfigur zum Konsul im ersten Kapitel  : Wie der Konsul ist er Vertreter eines fernen Landes, das für Ellen Freiheit bedeutet. Er kommt aber aus der anderen Himmelsrichtung, wovon sein „harter“ Akzent zeugt sowie das osteuropäisch konnotierte Repertoire der Sehnsuchtsorte  : „Nach Hause“ bedeutet bei ihm nicht die Freiheitsstatue, der Präsident, Delphine und Orangen, sondern die Ebene, kleine Städte an unsichtbaren Grenzen und schiefe Bahnstationen (DgH 259). Während der Konsul in einer „Botschaft“ anwesend ist, ist Jan mit einer „Botschaft“ unterwegs, welche erst noch an ihr Ziel zu brin­gen ist. Der Konsul verschließt Ellen die Stadt, Jan gehört zu der Armee, die die Grenze von außen her öffnet, durch Zerstörung die Differenzen einebnet, durch Belagerung den leeren Raum wieder füllt. Der Konsul ist eine (Gott-)väterliche Figur, der Offizier hingegen wird Ellen zum ebenbürtigen Partner, ihrer ersten Liebe. Ellen gleich ist er nicht. Er ist ein Erwachsener, aber er wagt den Weg durch das fremde umkämpfte Territorium und lässt sich trotz Ungeduld, Skepsis und Zweifeln so weit auf Ellen ein wie niemand sonst.28 26 Die Schlüsselblume im letzten Kapitel steht in Opposition zu den „ersten Herbstblumen“ im ersten Kapitel, die in den Parks aus dem Nebel tauchen, nachdem Ellen ihr Visum unter­ schrieben hat. (DgH 21) 27 Im Roman ist das Verbot im dritten Kapitel, Das heilige Land, thematisiert  : „Wenn ihr uns ver­ boten habt, im Stadtpark zu spielen, so spielen wir auf dem Friedhof.“ (DgH 53) 28 Die Beziehung von Ellen und Jan fand bisher vor allem bei Autorinnen Beachtung, die den Ro­man aus einer Gender-Perspektive betrachten und für die das vernichtende Urteil über den männlichen Part im Voraus feststeht. Weigel führt gegen das scheinbare Glück den Satz an  :

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Das gegenseitige Weiterhelfen ist konstitutiv für die Beziehung zwischen Ellen und Jan und das Wissen, nirgends bleiben zu dürfen. „Komm  !“, fordern sie einander wechselweise auf.29 Kurz bevor sie im geborgten Auto ihr Ziel erreichen, wird Jan „getroffen“  : im konkreten Sinn und im existentiellen. „Seine Füße tasteten an den Schalthebeln, seine Hände umfaßten das Lenkrad, als hätte es die Macht, ihn zu lenken. […] Er verzog den Mund, lachte ein wenig und hatte gerade noch die Kraft, den Wagen in einer Seitengasse zum Stehen zu bringen. Blut sicherte durch seinen Rock.“ (DgH 254) Im Augenblick des Umschwenkens und der Verwundung kehrt sich die Relation um zwischen Subjekt und Objekt  : Die Schalthebel des Autos steuern den Fahrer und führen ihn auf die komplementäre Rückseite des lauten Kampfgeschehens  : „Die letzte kleine Gasse, so schien es, übergangen und fast verschont, gesammelt in einem Schweigen, das allem Lärm im Umkreis gerecht wurde.“ (DgH 254) Da Jan verletzt ist, suchen sie Schutz in einer fremden Wohnung. Ellen verbindet Jans Wunde. Liebe erwacht und erfüllt – auch dies in Umkehrung zum 1. Kapitel, wo Ellen in der leer gewordenen Wohnung erwacht – die Wohnung, die von ihren Bewohnern verlassen worden ist. Mit dem Bewusstsein, gleich weiter zu müssen, verwirklicht sich hier für einen Moment die Utopie eines Lebens im neuen Situationsraum als Erwachsene. Die einzige Liebesszene in Aichingers Werk ist von großem Ernst, behutsam und leidenschaftlich, wobei letzteres weniger im Handeln der Protagonisten zum Ausdruck kommt denn im sie umgebenden Raum, dem wild und üppig wachsen­den Flieder, den Flammen, die um Hingabe werben und Untergang  : „Feuer warb wie ein ungeduldiger Freier um das stille Dach  : Nimm mich  ! Nimm mich  ! Ein goldenes Kleid wirst du haben  ! Kein Kies mehr, keine Bretter, kein Mörtel, nur mehr Licht  ! Nimm mich  !“ (DgH 261) Am Anfang „Der du mein Schöpfer bist, warum läßt du es zu  ? Warum schaffst du dieses Geschlecht, das mich zerbrechen muß, um zu erkennen  ?“ (DgH 255f.) – ohne zu beachten, dass die „Stille“ diesen Satz spricht, welche mit dem „Geschlecht“ die Menschen meint, also sowohl Jan als auch Ellen. Sigrid Weigel  : Schreibarbeit und Phantasie  : Ilse Aichinger. In  : Inge Stephan, Regula Venske, Sigrid Weigel  : Frauenliteratur ohne Tradition  ? Neun Autorinnenportraits. Frankfurt 1987, S.11–37, hier S. 24. Für Lorenz bleibt Jan auch in seiner vorübergehenden Schwäche, die Ellen fälschlich als Sensiti­vität auslege, Mitglied eines Männerverbandes. Weil Ellen, die eigentlich Freie, sich als Botin für seinen Brief benutzen lasse, eines Textes von Männern für Männer, verliere sie mit ihrer Auto­nomie auch ihr Leben. Lorenz  : Ilse Aichinger, S. 26. 29 „‚Komm‘, sagte er ungeduldig, ‚komm jetzt, wir haben genug Zeit mit dir verloren.‘“ (DgH 251) „Ellen fing ihn auf. ‚Komm‘, sagte sie, ‚komm, Jan  !‘“ (DgH 255) „Er streckte die Arme aus und wollte sie an sich ziehen. ‚Komm‘, sagte er.“ (DgH 259)

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steht die Frage „‚Wie heißt du  ?‘“, die Ellen anders als bei der Personalienaufnahme auf dem Polizeiposten im siebten Kapitel ohne Umwege beantwortet und die dem Offizier als einzigem Er­wachsenen im Roman zu einem Namen verhilft. Ellen nimmt Jan bei der Hand, Jan legt den Arm um sie  : neben der väterlichen Geste, mit welcher der Konsul die schlafende Ellen von der Landkarte weghebt, ist dies die einzige Berührung, die keine kämpferische Auseinandersetzung ist. Jan und Ellen werden sich gegenseitig zur Verkörperung des Du  : „‚Meinst du mich, Jan  ?‘ ‚Ja, dich  !‘ […] Er stand dicht vor ihr und sah ihr ins Gesicht. ‚Du  !‘ sagte er und begann zu lachen.“ (DgH 260) Für Ellen versammelt sich in Jans Gesicht die ganze Welt, nicht als repräsentierende Landkarte, sondern im Einen das Ganze enthaltend  : „Alles Zerrissene fand wie im Spiel zusammen. […] Die weite Welt hatte plötzlich das Gesicht eines jungen fremden Offiziers.“ (DgH 257) Im gleichen Sinn wird die Nachricht, die Jan aufschreibt, für Ellen zur „Botschaft“  : Er zog ein zerknittertes Kuvert aus der Tasche, schrieb einige Worte darauf und schob es Ellen über den Tisch. Da lag es. So still und so wie seit immer. Immer neu entdeckt, immer in der Er­wartung, weitergegeben zu werden. Die Deckung für die Sehnsucht, die Botschaft für die Brücken. Sie wußte es, ohne daß er ihr viel erklärte. (DgH 260)

„Wie seit immer“, „immer neu“ und „immer in der Erwartung, weitergegeben zu werden“  : Die Nachricht ist in existentieller Wiederholung sinnvoll. Deshalb weiß Ellen auch ohne zu lesen, was drin steht. Den Höhepunkt erreicht diese Liebe, als Jan mit Ellen um Mitternacht aufs Dach steigt, um ihr den Weg zu den Brücken zu zeigen. Auf dem Dach wird der Raum noch einmal zur durchlässigen ‚Mitte‘  : „Frühlingswind pfiff durch die zer­splitterten Fenster. In der Mitte des Schachtes steckte der Lift“ (DgH 261)  : Jan und Ellen „beugten sich über das Geländer“ (DgH 262). Anhand der Brände wird das Leben im Raum überblickbar  : „‚Siehst du, Jan, da wo es jetzt einschlägt, da haben wir früher gewohnt. Und wo es brennt, dort drüben, da haben wir zuletzt gewohnt. Und wo der Rauch so weiß ist, da müssen die Friedhöfe sein  !‘“ (DgH 262) Jan zeigt Ellen mit der Fortsetzung dieses Weges die Zukunft. Zurück in der Wohnung wechselt Jan in großer Schwäche bewusstlos in den Situationsraum hinüber  : „Sein Gesicht war ernst, hingegeben an das ganz Andere, von dem er nicht wußte, wenn er wach war.“ (DgH 264) Für Ellen wird die Stunde der fortgeschrittenen Nacht zur Versuchung  :

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Bleiben – dachte sie – bleiben. […] Wie einfach, gelähmt zu sein. Betäubt zu werden gegen das Geheimnis und die Schmerzen abzustreifen wie den Schaum vom Glas. Hinter mir, vor mir, rechts von mir, links von mir gilt nichts  ! Eine Teekanne ist eine Teekanne, eine Kanone ist eine Kanone und Jan ist Jan. (DgH 264f.)

Jans Bewegung im Schlaf begleitet und lenkt Ellens Entscheidungsfindung. Ellen hört seinen Atem  : „Wie selten hört ihr euch atmen  ! Und wie ungern hört ihr euch. Entweder – oder, entweder – oder  !“ (DgH 265) Der Atem, die Grundbewegung der Existenz, verlangt eine Entscheidung. Er verlangt nach der Kierkegaardschen Entscheidung zwischen „entweder“ der ästhetischen Lebensform, die, da dem Genuss unterworfen, sinnlos und unfrei ist, „oder“ der ethischen Existenz, die Sinn und Freiheit gewinnt durch einen Akt autonomer Selbstbestimmung, der die eigene Endlichkeit transzendiert und in sich das Ewige aktualisiert.30 Als Ellen am gemeinsamen Weg festhalten will, erhält sie „keine Antwort“ (DgH 266). Ergreift sie Jans Hand, murmelt er drohend in fremder Sprache. Richtet sie ihre Aufmerk­samkeit nach vorne, „Es ist Frühling, Jan, der Mond nimmt zu  !“ (ebd.), öffnet sich sein Körper  : die Lippen sind „aufgeworfen“, auf der Stirn stehen Schweiß­tropfen. Als ihre Entscheidung gefallen ist, geht der Atem ruhig  : Die Anspannung hat sich gewendet in Gelassenheit. Ellens Weggehen ist keine Abwendung von Jan. Vielmehr setzt der letzte Schritt auf ihn zu das Loslassen voraus  :31 „Wir tref­ fen uns, Jan  !“ (DgH 267), verabschiedet Ellen sich im Morgengrauen. Mit ihrer Entscheidung, allein zu den Brücken zu gehen, hat sie den gesprungenen Spiegel durchstoßen. „Es war ihr, als flöge sie zum letztenmal auf dem alten Ringelspiel“ (DgH 269), wird die Szene am Kanal im zweiten Kapitel zitiert, wo das Ringelspiel für die momentane Aufhebung der Gravitation steht, die den jüdischen Kindern mit den großen Schuhen die Bewegungsfreiheit einschränkt. In dessen Kreisbewegung „nach dem Gesetz der Kraft aus der Mitte“, die mit der Kindheit verbunden ist, zer­fließen Farben und Formen zu Licht, dem Sinnbild für das Unbekannte  :

30 Sören Kierkegaard  : Entweder – Oder. In  : Gesammelte Werke. Bd. 1+2. Hrsg. v. Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes. Düsseldorf 1950ff. 31 Oder wie Aichinger es 1952 in einer Aufzeichnung formuliert  : „Um zu lieben, ist es nötig, nicht zuerst einen großen Schritt vor, sondern einen kleinen zurück zu tun, weil es dann leichter ist, zu springen.“ (KMF 53)

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Die Kinder flogen. Sie flogen gegen das Gesetz ihrer schweren Schuhe und gegen das Gesetz der geheimen Polizei. Sie flogen nach dem Gesetz der Kraft aus der Mitte. Alles Graugrün blieb weit unter ihnen. Die Farben verschmolzen. Rein und grell flirrte des Licht zum Lob des Unbekannten. Das Bild ergab sich dem Sinn. […] In dieser Sekunde hatte [der Budenbesitzer] die Schießbude gegen die ganze Welt vertauscht. (DgH 43)

Für eine Sekunde hatte der Budenbesitzer „die Schießbude gegen die ganze Welt vertauscht“, und die Kinder flogen nur „zur Probe“. Am Ende nun, wo das Ringelspiel zwischen den Fronten steht, wird aus dem Spiel Wirklichkeit  : Die Ketten „waren bereit, Ellen fliegen zu lassen. Sie waren bereit, zu zerreißen“ (DgH 269). Beim Schießstand wird nun auf Menschen geschossen  : „Dort schossen sie dem großen Budenbesitzer alle seine Preise weg“ (DgH 262). Nicht nur die Wahrnehmung macht die Bilder zerfließen, die Stadt selbst brennt. Im Moment der völligen Diffusion – „Blinzelnd nahm sie eine Menge hinund herlaufender Gestalten wahr, Balken und Geschütze und das graugrüne, auf­gewühlte Wasser“ (DgH 269) – springt Ellen über die zerstörte Brücke hinaus in die Front, die die Stadt teilt, und in die offene Mitte zwischen Wasser und Himmel  : Die brennenden Augen auf den zersplitterten Rest der Brücke gerichtet, sprang Ellen über eine aus dem Boden gerissene, emporklaffende Straßenbahnschiene und wurde, noch ehe die Schwerkraft sie wieder zur Erde zog, von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen. Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern. (DgH 269)

Im Brennpunkt der zentripetalen Bewegung ereignet sich eine zentrifugale Explo­sion. Im Moment ihrer Vernichtung holt Ellen sich selbst ein und wird entgrenzt zum Ganzen, das die Gegensätze umfasst  : Tod und Leben, Bleiben und Gehen, den Tod der Juden, welche über die Brücke ins KZ transportiert wurden,32 und den Tod der Uniformierten an der Front. Die Kampfgeschosse und die nächtlichen Gestirne, in denen der Stern, der im fünften Kapitel nur Zeichen war, zum brennend leuchtenden Origi32 Im 6. Kapitel, Das große Spiel, nehmen die Kinder im Gespräch ihre Deportation „auf dem Last­auto und im Waggon“ vorweg  : „‚Hörst du sie denn nicht jetzt schon lachen, wie sie lachen werden, wenn man uns über die Brücken führt  ?‘“ (DgH 135)

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nal wird, stehen zueinander im Verhältnis von Augenblick und Ewigkeit.33 Am Anfang des Kapi­tels, als Ellen im Stadtpark ist, heißt es  : „Wie ein hohes Schrapnell stieg der Abendstern und blieb gegen jede Erwartung am Himmel stehen.“ (DgH 245) Der Vergleich schafft mit dem Bezug auch die Unterscheidung. In der Mitte auf dem Hausdach werden der Mond und das Feuer der Stadt aufeinander durchlässig  : „Sie sahen, daß es tief war, und sie sahen, daß es brannte, und sie sahen den Mond. Es verglomm ineinander“ (DgH 262). Am Ende überführt der Text am höchsten Punkt des Sprungs die Explosion in den Morgenstern, der über den Brücken steht. Das ‚Ende‘  : Fazit. Das 1., 5. und 10. Kapitel des Romans, der als Ganzes dem zyklischen Muster der Be- und Entgrenzung folgt, stehen zueinander in einem Verhältnis von Wiederholung, Steigerung und Umkehrung. Die Protago­nistin erscheint in drei unterschiedlichen Alters- und Bewusstseinsstufen, je in einem Moment des Übergangs. Im ersten Kapitel tritt Ellen als Schulanfängerin in den Positionsraum der Schrift ein. Dies geschieht beim Blick in den Spiegel, mit dem das Bewusstsein erwacht. Zu den Figuren, die sie leiten, besteht ein großer Abstand. Im fünften Kapitel feiert sie ihren 15. Geburtstag. Zwischen zwei Spiegeln erwacht das reflexive Bewusstsein  : Indem Ellen die Begrenztheit ihres Seins erkennt, wird ihr in der Vorstellung der neue Situationsraum zu­gänglich. Nur graduell ist der Abstand noch von Anna, die sie zur Erkenntnis leitet, dass es ein Leben nur im Sterben gibt. Im letzten Kapitel setzt Ellen, inzwi­schen eine junge Erwachsene, dieses Wissen um und gelangt damit auch leiblich in einen neuen Situationsraum. Durch die biblischen Motive von Sündenfall und Apokalypse ist diese individuelle Entwicklung in ein heilsgeschichtliches Muster eingefügt. Die räumliche Analogie zu Ellens Entwicklungsprozess bildet am Anfang die Schließung der Grenzen mit dem Kriegsausbruch und in der Mitte die potentielle Öffnung mit der Aussicht einer Deportation nach Polen. Zum Schluss wird mit der Einnahme der Stadt die Grenze, die nun durch die Mitte

33 Auch in der Liebesbeziehung kündigt sich die Identität von Augenblick und Dauer an  : Als sie noch in der Wohnung unten sind, sind die beiden Prinzipien auf die beiden Personen aufgeteilt. In Bezug auf Jan heißt es, „Es war möglich, sich vorzustellen, daß es immer so gewesen war und daß es immer so bleiben würde.“ Und bei Ellen  : „Es war möglich, sich vorzustellen, daß alles das erste und das letzte Mal war.“ (DgH 256) Als sie auf dem Hausdach sind, heißt es dann  : „Es war wie das erste Mal und es war wie das letzte Mal und es war wie immer. Es war eins und sie waren eins und hinter dem Fluß war ein großes Fest.“ (DgH 262)

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verläuft, von außen geöffnet. Die zugehörigen Signifikationsbeziehungen sind am Anfang das kon­ventionalisierte, schriftliche Zeichen, das nicht für seinen Signifié „bürgt“, in der Mitte die Allegorie, die den Entzug des Signifié betont, am Ende das „Sinnbild“, das Bedeutung produziert und in der Entgrenzung zum existentiellen Zeichen wird, das alles und nichts bedeutet. Ein solches Zeichen ist die „Botschaft“, welche Ellen durch ihren Weg verbürgt und die ihr zuletzt bei den Brücken abge­nommen wird. Feuer und Wasser, die elementaren Kräfte, die im 1. Kapitel nur in Ellens Verhalten Ausdruck finden und im 5. zu begrenzter materieller Anwesenheit kommen, sind im 10. Kapitel mit unbegrenzter elementarer Gewalt präsent. Die ganze Stadt brennt und überall fließt Wasser. In der verlassenen Wohnung werden die Elemente noch einmal auf das lebensdienliche Maß zurückgenommen, als Ellen für Jan Wasser kocht. Sowie sie in Versuchung kommt zu bleiben, geht das Feuer aus  : „‚Unser Feuer  !‘ Das Wasser war verkocht, das Holz war naß ge­worden. Verzweifelt mühte sich Ellen, es wieder zum Brennen zu bringen. […] Feuer, dachte sie wirr, Feuer von den Brücken, das Holz ist zu naß  !“ (DgH 263) Mit ihrem letzten Weg erfolgt der definitive Umschlag ins große, alles vernich­tende Feuer und Wasser. Die „brennenden Augen“ (DgH 269) auf den Rest der Brücke gerichtet, die das „graugrüne, aufgewühlte Wasser“ (ebd.) nicht mehr überspannt, wird Ellen von der explodierenden Granate zerfetzt.

2.5 Gereihte Fragmente, zyklisches Ganzes  : Wientopographie und Romanstruktur Aichingers Roman bildet ein mehrstufiges System, das auf allen Ebenen in je unterschiedlicher Frequenz die zyklische Bewegung der Be- und Entgrenzung, der Polarisierung und überschreitenden Vermittlung vollzieht. Das ebenso ver­schachtelte System der dargestellten Räume bildet diese Struktur ab  : Die Struktur der Kapitel widerspiegelt sich in der Konstellation von Gebäuden, Straßen und Plätzen, die offen oder geschlossen, horizontal oder vertikal orientiert sind. Die Struktur der einzelnen Abschnitte wird in der kleinsten Einheit sichtbar  : in Möbeln und Gegenständen, welche verschlossen, geöffnet, geleert, gefüllt, um­kreist, berührt, überstiegen, umgeworfen werden  ; in Kleidungsstücken wie Mantel, Decke, Hut, die die Menschen anziehen, enger binden, mit Spangen be­festigen, glatt streichen, öffnen, abwerfen  ; und in den Körpern der Menschen selbst, die gehen, stehen, sitzen, liegen, die Knie

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anziehen, sich beugen, die Haare bedecken oder offen im Wind fliegen lassen. Die im Gähnen, Lachen, Schreien den Mund öffnen, in Schlaf, Bewusstlosigkeit, Imagination die Augen schließen, in Gedanken die Stirn falten, im Spiel zwischen den Fingern hindurchschauen. Fragt man nun nach der übergreifenden Struktur des Romans, ist man auf den Raum verwiesen, der hier alle anderen umfasst  : die Stadt. Die Stadt hat im Raumsystem des Romans insofern eine Sonderstellung, als sie eine konkrete Referenz hat  : Wien. Genauer  : das Wien des Zweiten Welt­kriegs, das durch viele historische und topographische Details erkennbar, aber weder durch Ortsnamen noch durch Datierung identifiziert ist. Es ist ein abstra­hiertes Wien, das, da jedes Kapitel ein in sich geschlossenes Territorium hat, in Einzelteile zerfällt. Die Forschungsliteratur interpretierte diese durchgestrichene Referenz in früheren Jahren bevorzugt als universelle Gültigkeit,34 in jüngerer Zeit betont sie eher die Fragmenthaftigkeit als Folge des verlorenen Gesamtüber­blicks.35 Stets aber zieht sie den Schluss, die Wiener Topographie sei für den Roman irrelevant.36 34 Für Niggl beispielsweise bilden die schattenhaften und beiläufigen äußeren Umrisse „nur ein im Grunde austauschbares Gerüst für die Zeichnung der typischen Vorgänge dieser Jahre im Macht­bereich der braunen Diktatur.“ Günter Niggl  : Verwandlung der Zeit in den sinnvollen Au­ genblick. Gedanken zu Ilse Aichingers Roman ‚Die größere Hoffnung‘. In  : Methodisch reflektiertes Inter­ pretieren. Hrsg. v. Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 389–397, hier S. 392. 35 Schmidt-Dengler schließt aus der Tatsache, dass der Ortsname von Wien nicht genannt wird, Aichinger wolle die Handlung aus dem historischen Kontext herauslösen, weil die Ereignisse zu nah, die eigene Betroffenheit zu groß sei (weshalb er dem Roman den „Hang zur Entkonkreti­ sierung“ auch als Schwachpunkt ankreidet), um dann zur fragmentierten Romanform überzu­ gehen  : „Die Figuren agieren in einem Niemandsland. Der Zusammenfall der Gegensätze […] för­dert die indistinkte Erzählweise. Der Blick über das Ganze soll dem Leser verweigert werden, die Autorin ist nicht imstande dazu oder will dies nicht.“ Schmidt-Dengler  : Bruchlinien, S. 44f. Herr­mann sieht im zerbrochenen Spiegelbild die Metapher für das poetologische Verfahren, dessen Verschiebungen und Fragmentierungen die Mimesis zerstören. Britta Herrmann  : Gegen­ worte, Sprachwiderstände. Ilse Aichingers Roman ‚Die größere Hoffnung‘. In  : Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit. Zum Werk Ilse Aichingers. Hrsg. v. Britta Herrmann und Barbara Thums. Würzburg 2001, S. 61–78, hier S. 66. 36 Die einzige Arbeit, die auf die Topographie von Wien eingeht, stammt von Hussong. Sie weist anhand des 2. und 10. Kapitels im Vergleich mit historischen Quellen nach, dass die Beschreibung der Örtlichkeiten den wirklichen historischen und topographischen Gegebenheiten entspricht. Ohne die spezifische Weise dieser durchgestrichenen Referenz zu bestimmen, schließt sie daraus, Die größere Hoffnung sei ein historischer Roman. Marion Hussong  : Ilse Aichinger. In  : Dies.  : Der Natio­nalsozialismus im österreichischen Roman 1945–1969. Tübingen 2000, S. 31–47.

Gereihte Fragmente, zyklisches Ganzes  : Wientopographie und Romanstruktur

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Hier soll dagegen gezeigt werden, dass Die größere Hoffnung eine Lektüre der Wiener Topographie ist. Wien als Ort der Abwesenden und Toten stellt den Ausgangspunkt des Textes dar, der, nach dem Vorbild der Landkarte am Anfang des ersten Kapitels, darauf zielt, Abwesenheit in Anwesenheit zu wenden. Da auch hier der Raum, in dem sich die Handlung abspielt, die Struktur des Textes spiegelt, wird dabei umgekehrt in der Wientopographie des Romans die Struktur des Textes sichtbar. So wie die Bewegung des Erzählens die einzelnen Kapitel zu einem übergreifenden Ganzen integriert, schließt Ellens Weg die diskontinuier­lichen Teile der Stadt zusammen. Um dies zu zeigen, werden die einzelnen Kapi­tel zuerst topographisch und historisch lokalisiert. In einem zweiten Schritt werden die Befunde interpretiert und auf die Romanstruktur bezogen. Vom Stock-im-Eisen-Platz zur Schwedenbrücke  : Lokalisierung der Romankapitel in der Wiener Topographie (vgl. Karte auf den Seiten 110/111). Der Roman beginnt mit dem Kriegsausbruch  : Jene Nacht im „August“ (DgH 13), an deren Ende „die ersten Herbstblumen“ (DgH 21) auftauchen, mündet in den 1. September 1939. Topo­graphisch beginnt der Roman im amerikanischen Konsulat, welches sich damals am Stock-im-Eisen-Platz 3/4 befand, der südwestlichen Verlängerung des Ste­phansplatzes in der Stadtmitte.37 Dann wechselt er in die Wohnung an der „Ver­bindungsbahn“ (DgH 25) unweit der „großen Kreuzung“ (DgH 27). Diese Woh­nung ist als jene von Aichingers Großmutter an der Hohlweggasse 1 unweit der Kreuzung von Ungargasse/Fasangasse und Rennweg im dritten Bezirk zu identifi­ zieren,38 in die auch viele von Aichingers autobiographischen Texte zurück­ kehren.39 Die Gasse, die zwischen „fremden Botschaften“ (DgH 28) und einer 37 Die Informationen zu Wien entnehme ich folgenden Quellen  : Friedrich Achleitner  : Zur Topogra­ phie und (Architektur-)Sprache Wiens. In  : Richard Reichensperger (Hrsg.)  : Vorfreude Wien. Litera­ rische Warnungen 1945–1995. Frankfurt/M. 1995, S. 25–28. – Karl Baedeker  : Wien und Budapest. Handbuch für Reisende mit 8 Karten, 8 Plänen und 19 Grundrissen. Leipzig 1931. – Alfred von Baldass  : Wien. Ein Stadtführer durch die Stadt und ihre Umgebung, ihre Kunst und ihr Wirtschaftsle­ ben. Wien 1925. – Michaela Feurstein  ; Gerhard Milchram  : Jüdisches Wien. Stadt­spaziergänge. Mit einer Einleitung von Klaus Lohrmann. Wien 2001. – Stadtplan jüdisches Wien – einst und jetzt. Hrsg. v. Jüdischen Museum der Stadt Wien. Wien o. J. – www.wien-vienna.at. 38 Im Film Die Kinogängerin sucht Aichinger diese Kreuzung auf, über die auch die Straßenbahn zum Zentralfriedhof fährt, die am 4. Tor nicht hält. Norbert Beilharz  : Die Kinogängerin. Doku­ mentarfilm, D 2001. 39 Der autobiographische Text Kleist, Moos, Fasane von 1959 (KMF 11–18), dessen erster Teil die

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Lokalisierung von Die größere Hoffnung, 1. Kapitel Wien, 1. und 3. Bezirk

1

3

2

4

1 2 3 4

Die Botschaft: Amerikanisches Konsulat, Stock-im-Eisen-Platz 3/4 Zu Hause an der Verbindungsbahn: Hohlweggasse 1 Die große Kreuzung: Kreuzung Ungargasse/Fasangasse – Rennweg Die Kirche am Ende der Gasse: Kirche zur dreimal wunderbaren Muttergottes, Jaquingasse

Karte: Karl Baedeker: Wien und Bundapest. Handbuch mit 8 Karten, 8 Plänen und 19 Grundrissen. Leipzig 1931

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Mauer zur Kirche hinaufführt, ist die Jacquingasse zwischen dem Botschaften­ viertel und der Mauer des Botanischen Gartens im Belvedere, in dessen oberen Ecke am Landstraßer Gürtel die Kirche „Zur dreimal wunderbaren Muttergottes“ steht. Das 2. Kapitel ortet die Überschrift Der Kai am Kanalufer der Inneren Stadt (1. Bezirk). Den Kai entlang fährt die mehrfach erwähnte Stadtbahn. Am Kai war ab 1938 das Hauptquartier der Gestapo, der „geheimen Polizei“ (DgH 46), die die Kinder beim verbotenen Ringelspielfahren fürchten. Die „Gasometer“ (DgH 35) allerdings, vier riesige runde Ziegelbauten von 1899, in deren Schatten der Roman das Ringelspiel projiziert, liegen ein gutes Stück weiter den Kanal hin­unter, am Beginn des Industriebezirks Simmering (11. Bezirk). Noch weiter draußen, am östlichen Stadtrand, liegt der von Straßenbahn und Ostbahn umfasste Zentralfriedhof, wo das 3. Kapitel beginnt, Das heilige Land. Das vierte Tor, an dem die rote Straßenbahn „keine Station machte“ (DgH 57), führt zur neuen israelitischen Abteilung mit der Jugendstil-Zeremonienhalle, die im Roman als „Aufbahrungshalle“ (DgH 56) mit Kuppel erscheint. Der „letzte Friedhof “ (DgH 57), auf dem die Kinder spielen, bildet das östliche Ende des Zentralfriedhofs  : „Wie die letzte Hürde in dem großen Rennen trennte eine schwarze, niedrige Hecke den Friedhof nach Osten hin gegen die Weite der Felder.“ (DgH 57)40 Nachdem Ellen in der Wohnung an der Bahnlinie den Schrank verkauft hat, fährt der Kutscher, der die Kinder über die Grenze zu bringen verspricht, von der Friedhofsmauer „ungefähr in der Richtung der Bahn gegen die Grenze zu“ (DgH 72), dann „den Fluß entlang“ (DgH 73), durch ein Dorf, durch die Auen, bis ein „Zollhaus“ (DgH 79) die Grenze markiert  : Sie folgen der Donau bis zur 60 km entfernten Grenze der nicht von deutschen Truppen besetzten Slowakei. Das 4. bis 7. Kapitel spielen auf der „Insel“ (DgH 100)  : Die Leopoldstadt (2. Bezirk), seit dem Ghetto im 17. Jahrhundert das Zentrum jüdischen Lebens „Küche meiner Großmutter“ erinnert, operiert großenteils mit den selben topographischen Be­stimmungen wie die Romanpassage  : Die Küche läuft „quer auf die Bahnlinie zu“, die kleine (  !) Straßenkreuzung unten erscheint als Kreuzung zwischen den Himmelsrichtungen, als Mittelpunkt der Welt (der Kindheit). 40 Auch die Topographie des Zentralfriedhofs mit den roten Ziegelmauern, die die Gräber nach Bekenntnissen unterteilen, gibt der Roman, aus der Perspektive des „letzten Friedhofs“ betrachtet, präzise wieder  : „Unabsehbar zogen sich nach Westen die Gräber. […] Immer wieder von niedrigen roten Ziegelmauern unterbrochen, nur noch geordnet nach Bekenntnissen, schlossen sich die übrigen Friedhöfe gegen die Stadt zu an den letzten Friedhof an. Auch nach Süden zogen die Reihen wie ein stummes Heer, das von zwei Seiten anzugreifen gedenkt.“ (DgH 56f.)

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in Wien, war vormals außerhalb der Stadtmauern auf einer von Donauarmen umflos­senen Insel angelegt und liegt seit der Donauregulierung zwischen Kanal und Donau. Hier wohnen die jüdischen Kinder und ihre Angehörigen in „Quartieren“ (DgH 68)  : den sogenannten Massenquartieren, in welchen den Juden nach der Enteignung ihrer Wohnung ein Zimmer zugewiesen wurde. Das in die Mitte des Romans mündende 5. Kapitel ist wieder genau datierbar  : Jener Tag im „Spät­herbst“ (DgH 101) in der Mitte des Krieges, an dem kurze Zeit nach dem Erlass der „Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941“ mit dem ersten Transport von Wien ins KZ Lodz/Litzmannstadt der Übergang von der Vertreibungs- zur Vernichtungspolitik erfolgte, ist der 15. Oktober 1941. Da sich die Kinder meist in Zimmern aufhalten, ist die Topogra­phie des zweiten Bezirks wenig ausgestaltet, außer im Weg des kleinen Deserteurs (174ff.), der, aus dem „hohen alten Gebäude der Nordbahn“ stolpernd, „unter dem kleinen Viadukt hindurch“ gegen die Wiesen und den Fluss zu geht, bis zu einer Station der „Kinderbahn“, dann zur Nordbahn zurück und zwischen den Buden des „alten Marktes“ hindurch, über den Platz vor der Kirche mit dem steinernen Heiligen, in die Gasse, in der nun auch Ellen mit ihrer Großmutter wohnt  : Der Deserteur geht vom Nordbahnhof, der Ausgangsbahnhof war zur Front wie für Deportationen, erst unter der Verbindungsbahn hindurch in den Prater hinein bis zur Liliputbahn, dann in der Gegenrichtung über den Marktplatz (heute  : Karmeli­termarkt), der sich auf dem Territorium des ursprünglichen Ghettos befindet,41 und zur Karmeliterkirche. Im Anschluss an den Vorplatz dieser Kirche liegt die Kleine Sperlgasse. An der Kleinen Sperlgasse 2a war 1941–43 ein NS-Sammel­lager für Juden, von dem aus die Deportation in die Vernichtungslager erfolgte, auch jene von Aichingers Verwandten. Hier ist der Raum zu lokalisieren, in dem Ellen ihre Freunde zuletzt gesehen hat, „auf dem Drittel einer Matratze“ (DgH 162) hockend. Der Roman situiert auch das letzte Quartier der Großmutter in dieser Gegend. Der Bahnhof, von dem aus die Juden in die Lager von Opole, Lagow, Lodz, Riga und Minsk deportiert wurden, war der Aspangbahnhof im dritten Bezirk, wenige Straßen östlich der Hohlweggasse. Beim Aspangbahnhof und den gegen­überliegenden Rennweger Kasernen handelt das 8. Kapitel, Flügeltraum. „Unein­holbar waren Last- und Leichenwagen um die letzte Ecke gebogen. Weder Georg noch die Großmutter winkten zurück“ (DgH 192), erinnert sich 41 Das Ghetto lag zwischen Karmeliterkirche, Taborstraße, Augarten und heutiger Malzgasse, Gro­ßer Sperlgasse und Krummbaumgasse.

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Ellen während der Verfolgungsjagd durch die Schuppen und Lagerplätze des Bahnhofs, wo sie sich in einem Munitionszug für die Front versteckt hat, um ihren Angehörigen nachzu­folgen. In der „Wachstube“ (DgH 198) erzählt die eben verhaftete Bibi vom letzten Tag im (Sammel-)„Lager“ (DgH 205), „als wir schon verladen werden sollten“ (DgH 205). Im 9. Kapitel, Wundert euch nicht, wird Wien von den Alliierten bombardiert. Und „am Rand der Stadt“ steigen „kleine runde Rauchwolken“ (DgH 235)  : die Rote Armee steht vor den Toren der Stadt. Die Fabrik, in der das Kapitel beginnt, liegt in einem Industriebezirk außerhalb des Gürtels, von wo Ellen die Stadt unter sich sieht. Ein Flüchtlingswagen bringt sie in die Stadt hinein zum „Zollamt“ (DgH 235), wo die Plünderer eines Weinkellers bei einem Fliegerangriff im Wein den Tod finden. Dann läuft sie wieder hinaus zur Plünderung der ebenfalls im dritten Bezirk befindlichen „Schlachthöfe“ (DgH 238) von St. Marx.42 Hussong datiert die beiden Ereignisse anhand von historischen Quellen zwischen dem 7. und 10. April 1945.43 Das Schlusskapitel ist historisch wie topographisch das genauste  : Nachdem die deutschen Truppen fluchtartig die Bezirke zwischen Gürtel und Donaukanal geräumt hatten, sprengten sie am 10. April die Brücken über den Donaukanal, den die sowjetischen Truppen an diesem Tag erreichten. Die Stadt lag von beiden Seiten unter schwerem Artilleriefeuer, es kam zu zahlreichen Bränden, der Wurstelprater stand in Flammen  : Eben dieses Bild bietet sich Jan und Ellen vom Hausdach. In den frühen Morgenstunden des 11. April setzten Rotarmisten an einigen Stellen über den Donaukanal, noch in der Nacht besetzten Panzer und Infanterie den Großteil der Insel. Der Tag, an dem im Roman „eine Schlüssel­blume ihre frischen Blüten ahnungslos aus der zerwühlten Erde“ (DgH 242) streckt, ist der 10. April. Die Nacht, in der Ellen die Nachricht zu den um­kämpften Brücken bringt, ist die Nacht auf den 11. April 1945.44 Aus einem Keller am Stadtrand „gegen die Stadt zu“ (DgH 42 Von der Plünderung der Schlachthöfe von St. Marx und der „Keller bei den Zollhäusern“ er­ zählt Aichinger später auch im autobiographischen Erinnerungstext Wien 1945, Kriegsende (FuV 56–61). 43 Hussong  : Ilse Aichinger, S. 39ff. 44 Viele weitere historische Details haben Eingang gefunden ins letzte Kapitel  : Die umgekippten Straßenbahnwagen, mit denen SS und Soldaten Barrikaden bauten  : „Werft die Straßenbahnen um und macht Barrikaden daraus  !“ (DgH 265) Die in den Straßen liegenden Pferdekadaver vor allem von der Roten Armee prägten das Bild, mit dem das Kapitel beginnt. Das Begraben von Toten im Stadtpark war in den letzten Kriegstagen an der Tagesordnung (vgl. Hussong  : Ilse Aichinger, S. 42). Nach dem überstürzten Rückzug der Wehrmacht war in großen Teilen Wiens

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243) rennend, gerät Ellen in den Stadtpark, erkennbar an Teich und Bach, Musikpavillon, Wetterhäuschen und Donauweibchenbrunnen 45. „Hinter der niedrigen Mauer dröhnten die Motoren schwerer Wagen. Sie brachten Nachschub gegen den Kanal.“ (DgH 245f.)  : Der Stadtpark liegt an der Ringstraße, als Hauptverkehrsader des Wiener Zentrums Hauptdurchzugsroute der russischen Panzer zum Donaukanal, der wegen seiner strategisch wichtigen Lage eines der am schwersten umkämpften Gebiete der Stadt war.46 Als Ellen mit Jan den Park verlässt, kommen „die Türme der in­neren Stadt“ (DgH 251) in den Blick, die in der ersten Fassung explizit als die „Türme der Jesuitenkirche“ (DgH-E 371) identifiziert sind. Diese ist dem Heiligen Franz Xaver geweiht, dessen Schicksal im 1. Kapitel als Präfiguration der „größeren Hoff­nung“ erscheint. Und sie ist der Ort, wo sich die Jugendgruppe traf, die Vorbild war für die Kindergruppe im Roman.47 Mit dem geliehenen Auto nähern sich Ellen und Jan „von der anderen Seite her den Brücken“ (DgH 253)  : Sie fahren nicht direkt zum Kanal, sondern im Uhrzeigersinn noch einmal um den Ring. Die kleine Gasse, in der sie von einem Hausdach über den Kanal zum brennenden Prater schauen, ist im ersten Bezirk. Die Brücke, auf der Ellens Leben und der Roman enden, ist die Schwedenbrücke, auf der Aichinger ihre Angehö­rigen zum letzten Mal gesehen hat. Die Schwedenbrücke bildete jahrhundertelang die einzige, immer wieder von Hochwasser oder Eisstoß weggeschwemmte, feste Verbindung zur Insel. keine Ordnungsmacht mehr  : „‚Man sollte die Polizei verständigen, aber fragen Sie, welche  !‘“ (DgH 246), sagen im Roman die Erwachsenen im Keller. In der Küche, wo Ellen für Jan Tee kocht, zeigt sich, dass in der Stadt Elektrizität, Gas und Wasser ausgefallen sind. 45 „Unerschütterlich lächelte die Brunnenfigur mit dem zerschossenen Arm über die offenen Gräber. Auf dem Kopf trug sie einen Krug. Er hielt, ohne daß sie ihn hielt, er machte sie wesent­lich.“ (DgH 245) 46 Hussong  : Ilse Aichinger, S. 43. 47 Im autobiographischen Text Hilfsstelle verbindet Aichinger die „beiden Türme auf dem alten Universitätsplatz“ – wo die Jesuitenkirche steht – und die Kirche, die sie in deutlicher Anlehnung an das 1. Kapitel der Größeren Hoffnung als „Schiff “ bezeichnet, „das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden“, mit der „Hilfsstelle“, wo sie mit einer Gruppe von Jugend­lichen, welche das Vorbild der jüdischen Kinder im Roman waren, „heimliche Proben“ zu Festen veranstaltete, „zu denen manchmal der Kardinal kam, als Gastgeber der Hilfe und als ihr Gast“ (KMF 28–31). Die historische Referenz des Erinnerungstexts ist die 1940 von Kardinal Innitzer gegründete, vom Jesuitenpater Ludger Born geleitete „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“, die neben der primären Auswanderungshilfe auch Gesundheits- und Schulbetreuung und Jugendgruppen organisierte. Vgl. Richard Reichensperger  : Orte. Zur Biographie einer Familie. In  : Ilse Aichinger. Hrsg. v. Kurt Bartsch und Gerhard Melzer. Graz  ; Wien 1993, S. 231–247, hier S. 236.

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Von der Mitte über die Peripherie in die Mitte zurück  : Wientopographie und Romanstruktur. Betrachtet man die Wege und Orte des Romans im Über­blick, fällt erstens auf, dass die Topographie von Wien entstellt ist durch die Aus­grenzung und Vernichtung der Juden, mit denen so gut wie alle erwähnten Orte verbunden sind. Es sind die historischen Orte der Verfolgung wie das Warte­zimmer des amerikanischen Konsulats, der Kai mit dem Gestapo-Hauptquartier, die israelitische Abteilung des Zentralfriedhofs, das Sammellager an der Kleinen Sperlgasse, der Aspang- und der Nordbahnhof. Es sind Aichingers persönliche Erinnerungsorte wie die Wohnung der Großmutter an der Hohlweggasse und die Schwedenbrücke, auf der sie die Angehörigen zuletzt gesehen hat. Und es sind assoziativ mit dem KZ verbundene Orte und Objekte wie die Gasometer, der Schlachthof, die Schießbude, die Lagerhalle und Fabrikschornsteine. Das Wien der Größeren Hoff­nung ist eine Topographie des Terrors. Zweitens fällt auf, dass Ellen sich nur in einem Teil der Stadt bewegt  : Der erste Bezirk, wo der Roman beginnt, verschließt sich ihr, nachdem sie das Visum unterschrieben hat. Erst im letzten Kapitel betritt sie ihn wieder. Dazwischen hält sie sich stets in den Bezirken auf, die sich nördlich und östlich davon zu beiden Seiten des Kanals befinden  : im zweiten Bezirk (Leopoldstadt), im dritten (Land­straße) und im elften (Simmering). Dies ist der schon tektonisch benachteiligte Teil der Stadt, die sich auf einer gegen die Donauauen vorgeschobenen Terrasse am Fuße des Wienerwalds entwickelte. 48 Die selbe Differenz weist die soziale Struktur der Stadt auf  : In den nördlichen und östlichen Bezirken brachte man das Ghetto unter, den Tod (Zentralfriedhof ) und große Industrieanlagen wie die Gasometer. Im zweiten und dritten Bezirk, in die sämtliche Verkehrswege aus dem Osten einmünden,49 siedelten sich ungarische Händler, jüdische Einwanderer aus Osteuropa und Arbeiter aus dem Bereich der Habsburger-Monarchie an – zu denen auch Aichingers jüdische Großeltern gehörten.50 Wien erscheint in der Grö­ßeren Hoffnung nur in seinem negativ konnotierten, mit Wasser, Tod und dem Osten ver­bundenen Teil. 48 „Während sich Wien im Westen und Süden in eine sanft bewegte Weinlandschaft ausdehnte, führte es im Norden und Osten einen zähen Kampf mit den Hochwassern der Donau, die, mit der großen Regulierung (1873), wie eine Umfahrungsstraße von der Stadt weggeschoben wurde.“ Achleitner  : Zur Topographie und (Architektur-)Sprache Wiens, S. 25. 49 Insbesondere der 3. Bezirk gilt als Tor zum Osten. Von Metternich stammt der von Aichinger immer wieder zitierte Ausspruch, östlich von seinem Palais beginne Asien. 50 Aichingers Großmutter Gisela Rabinek ist in Mähren geboren, der Großvater Jakob Kremer in Böhmen. Der Hauptmann der k. u. k.-Armee diente erst in Lemberg und Sarajewo und wurde

Die größere Hoffnung – Stadtplan Wien, Baldass 1925 1a 1b 1c 1d

Die Botschaft: Amerikanisches Konsulat, Stock-im-Eisen-Platz 3/4, Stadtmitte Zu Hause an der Verbindungsbahn: Hohlweggasse 1 Die große Kreuzung: Kreuzung Ungargasse/Fasangasse – Rennweg Die Kirche am Ende der Gasse: Kirche zur dreimal wunderbaren Muttergottes

2a 2b

Am Kai: Franz-Josefs-Kai Gasometer: Gasometer, Städtische Werke

3

Der letzte Friedhof: Zentralfriedhof. Neue israelitische Abteilung

7a 7b 7c 7d 7e

Das hohe alte Gebäude der Nordbahn: Nordbahnhof Gegen die Wiesen und an den Fluß hin zur Kinderbahn: Liliputbahn im Prater Die Buden des alten Marktes: Marktplatz (heute: Karmelitermarkt) Die Kirche mit den steinernen Heiligen: Karmeliterkirche Gasse mit dem Quartier: NS-Sammellager für Juden, Kleine Sperlgasse 2a

8a 8b

Bahnhof, Kohlenplatz, Schuppen, Wächterhaus, Hühnerstall: Aspangbahnhof Wachstube: Rennweger Kaserne

9a 9b 9c

Fabrik: Industriebezirk außerhalb des Gürtels, über der Stadt Zollamt: Zollamt Schlachthöfe: Schlachthaus St. Marx

10a Park mit Kinderspielplatz: Stadtpark am Ring 10b Türme der inneren Stadt, Jesuitenkirche: Jesuitenkirche/Universitätskirche 10c Die Brücke am Kai: Schwedenbrücke

II

7a 7c 7d

I 1a

7e 2a 10c

7b 9b

10b

10a

III 1c 8b 1d

9c

1b 8a

2b

XI 9a

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Eine weitere wertmäßige Differenz gibt es in der Wiener Topographie zwischen Zentrum und Peripherie. Wien ist in drei konzentrischen Kreisen ge­ wachsen und gegliedert  : Der historische Stadtkern ist das politische, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum, das seit der Schleifung des Glacis von der Ring­ straße mit gründerzeitlichen Repräsentationsbauten und Grünanlagen umgeben ist. Der mittlere Kreis bis zum früheren Linienwall und heutigen „Gürtel“ ent­stand aus den ehemaligen Vorstädten und ist bürgerlich geprägt. Außerhalb der Linie liegen, zum Wienerwald hin ansteigend, die „Außenbezirke“, Arbeiter­viertel mit dem geringsten Sozialprestige. In dieser Topographie geht Ellen erst von der Stadtmitte zur östlichen Peripherie, befindet sich dann jenseits des Kanals auf der „Insel“ im zweiten Bezirk und läuft zuletzt wieder von der Peripherie ins Zentrum zurück. Zugleich führt sie der Weg vom Außenraum in Innenräume und wieder hinaus, sowie von leiblicher Bewegung über sprachliche zur leiblichen zurück  : Er führt über den ganzen Roman hin vom Situationsraum in den Posi­tionsraum und von da in einen neuen Situationsraum. Aichinger passt ihr abstrak­tes Raumsystem in die Wiener Topographie ein – und muss dazu die Original­topographie nur in wenigen Fällen etwas manipulieren, etwa im 2. Kapitel, wo sie, damit die Kinder den Fluss aufwärts in die Kindheit zurücklaufen können, die Fließrichtung der Donau umdreht. Zuerst, in Kapitel 1 bis 3, geht Ellen in immer weiter außen ansetzender, immer peripherere Grenzen erreichender Zentrifugalbewegung  : Das 1. Kapitel beginnt in der Mitte der Inneren Stadt und führt hinaus bis zur Kirche am Gürtel, der Außen­grenze des mittleren Stadtrings. Der Kai, wo das 2. Kapitel beginnt, liegt an der Außengrenze der Stadtmitte, die Gasometer, bei denen es endet, befinden sich bereits in Simmering, am Anfang des peripheren Ringes. An dessen Ende beginnt, im Zentralfriedhof, das 3. Kapitel, welches die Kinder über den Stadtrand hinaus bis zur Landesgrenze führt. Als die Kinder die äußerste Grenze überschritten haben, erfolgt der Wechsel über den Kanal auf die Insel, aus dem Freien in die Häuser und von der leiblichen zur sprachlichen Bewegung  : Im Englischunterricht, den die Kinder besuchen, obwohl keine Aussicht mehr auf Ausreise besteht, wird die leibliche Bewegung in sprachliche Deklination übersetzt  : „‚Ich werde stehen – du wirst stehen – er wird stehen – ich werde gehen – du wirst gehen – er wird gehen – ich werde liegen – du wirst liegen – er wird liegen –‘“ (DgH 83), steht im Vokabelheft. Auch die sprachliche Bewegung ist zentrifugal, wenn nun die Sprache über

1904/05 nach Wien versetzt. Im Roman wird ein im selben Haus wohnhafter tschechischer Schuster genannt.

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den roten Strich im Vokabelheft hin übersetzt werden soll, der zum blutigen Strom anschwillt, als das Heft in einem Gewitterregen nass wird  : „‚Übersetzen, über einen wilden, tiefen Fluß setzen, und in diesem Augenblick sieht man die Ufer nicht. Übersetzt trotzdem, euch selbst, die andern, übersetzt die Welt.‘“ (DgH 91) Im 5. Kapitel wird dieses Übersetzen, das nicht die Über­ tragung von der Muttersprache in eine Fremdsprache meint, sondern von einer bedeutungstransportierenden zu einer existentiell Sinn konstituierenden Sprache, anhand des Judensterns durchgeführt. Dabei überschreitet auch die sprachliche Bewegung die äußerste Grenze  : Das Zeichen, dem die eigene Begrenzung einge­schrieben ist, bedeutet am Ende „alles“. In der Mitte des Romans erfolgt die Wende zur zentripetal von außen ein­ dringenden, sich in der Zerstörung erfüllenden Gegenbewegung, zur Wieder­ verkörperung der Sprache und zur entgrenzenden Öffnung des Raumes  : Im 6. Kapitel, in dem die Kinder ein Weihnachtsspiel proben, begehrt im Klingeln das Andere Einlass  : die Polizei in die Wohnung, der Messias in die Welt. Im 7. Kapi­tel, wo Ellen den Selbstmord der Großmutter durch das Märchenerzählen erst abzuwenden versucht und dann zur Taufe verwandelt, erhält ihr erzähltes Rot­käppchen eine rote Mütze aus Amerika übers Meer geschickt und sieht im Traum einen Deserteur vom Ostbahnhof nach Hause kommen. Aus dem Traum entsteht wieder die erste leibliche Bewegung unter freiem Himmel  : Wie sich am Schluss herausstellt, ist wirklich ein Deserteur nach Hause gekommen. Im 8. Kapitel ist auch Ellen wieder unter freiem Himmel und auf der anderen Seite des Kanals. In Analogie zur Topographie des 3. Kapitels ist der Bahnhof über die Züge und Geleise mit der Front verbunden. Sie wird sich in den folgenden Kapiteln zuneh­mend der Stadt nähern. Im 9. Kapitel geht Ellen, nachdem sie von außen aus dem verschütteten Keller befreit wurde, von der Fabrik in einem erhöhten Bezirk des peripheren Rings in die Stadt hinunter bis zum Zollamt an der inneren Grenze des dritten Bezirks. In der Peripetie, in der Ellen sich, vom Hunger getrieben, an der Plünderung der Schlachthöfe beteiligt, geht sie noch einmal hinaus. Im 10. Kapitel legt sie den weitesten Weg zurück, von ganz außen bis ins Zentrum. Der Weg umfasst alle früheren und kennzeichnet diese als Anlaufstrecke für den finalen Sprung  : Sie wußte, daß sie bald springen würde. Es war alles ein einziger Anlauf gewesen, Vater und Mutter, der Konsul und Franz Xaver, der Kai und die englische Stunde, die Großmutter, der Oberst und die Einbrecher in dem verschütteten Keller, das tote Pferd, das Feuer am Teich und diese letzte Nacht. (DgH 268)

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Während die Stadt durch die rote Armee eingenommen wird, betritt Ellen alle Orte wieder, die ihr seit der Vertreibung aus dem Paradies und der Inneren Stadt verschlossen waren  : Über den Stadtpark am Ring und eine bürgerliche Wohnung, wie sie die Großmutter an der Verbindungsbahn bewohnt hatte, nähert sie sich dem Fluss, aus dem die Kinder im 2. Kapitel ein Wickelkind retten wollten. Ihr Sprung über die zerstörte Kanalbrücke hinaus zielt in die „Mitte“, in der alles zugleich ist, jenen herausgehobenen Ort und Augenblick, den Ellen als „zu Hause“ bezeichnet  : „‚Von zu Hause nach Hause. Weg von den vielen Wünschen, in die Mitte, Jan, zu den Brücken.‘“ (DgH 266) So wie sich die unzusammenhängenden Raumstücke durch Ellens Weg von der Mitte über die Peripherie in die Mitte zurück zum Kreis fügen, verbinden sich die Zeitmarken, die historische Zeitpunkte innerhalb von sechs Jahren bezeichnen, zu einem Jahreskreis, der über das Ende hinaus zum Neuanfang gelangt  : Der Roman beginnt mit dem Ende des Sommers, passiert in der Mitte Weihnachten und endet in den Ostertagen.51 Die weiteren Kapitel reihen sich dazwischen  : Die Kinder spielen zu Beginn unter der heißen Sonne. Sie hoffen, „der Sommer dauert noch lang“ (DgH 37), während Ruths Eltern „für September gekündigt sind“ (DgH 35) und Ellen über dem vergeblichen Warten auf das ertrinkende Kind den Winter kommen sieht  : „‚Was denkst du  ? Der Sommer dauert noch lang  !‘ […] ‚Ich –‘, schluchzte Ellen, ‚ich dachte nur plötzlich – ich dachte daran, daß es Winter wird.‘“ (DgH 37) Auf dem Friedhof ist dann warmer Spätherbst. Während die Kinder in der Englischstunde sitzen, kommt ein Sturm auf. Durch die Gassen der Insel ziehen „fröstelnd“ (DgH 100) die Gerüchte um Deportationen. Das große Spiel proben die Kinder in der „Weihnachtszeit“ (DgH 130), schon in der Hoff­nung, den grauen Januar nicht mehr zu erleben  : „‚Sie verladen uns sonst, bevor wir fertig sind.‘ ‚Um so besser‘, sagte Josef mürrisch, ‚der Jänner ist so grau. Alle Silberschnüre sind dann schon zerschnitten, und der Magen tut weh.‘“ (DgH 130) Der Tod der Großmutter erfolgt in einer „Vorfrühlingsnacht“ (DgH 174) im März. Die Befreiung der Stadt fällt in die Ostertage. Der Mai liegt bereits jenseits des zeitlichen Horizonts des Romans  : „‚Bis es Mai wird, sind wir schon Kirsch­bäume‘“ (DgH 130), fürchten die jüdischen Kinder. Analog zum Jahr verhält es sich mit dem Tageszyklus  : Die Kapitel 1–5 gehen jeweils vom Tag in die Nacht, die Kapitel 6–10 aus der Dunkelheit zum Licht des neuen Morgens. 51 Ostern fiel 1945 auf den 1. April. Der Roman spielt bei der Errettung der Verschütteten auf Ostern an  : „‚Den Stein vom Grab‘, murmelte Ellen, ‚und am Morgen war er verschwunden – Engel haben es getan.‘“ (DgH 229)

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Auch innerhalb des Romans bilden die 10 Kapitel eine symmetrische Struk­ tur. Motive aus dem Alten und dem Neuen Testament sowie dessen ritueller Ver­gegenwärtigung im christlichen Leben setzen je zwei Kapitel in ein typologisches Verhältnis von Versprechen und Erfüllung  : 1. Schöpfung, Vertreibung aus dem Paradies – 10. Apokalypse 2. Turmbau zu Babel52 und Geburt Mose53 – 9. Letztes Abendmahl, Tod, Auferstehung54 3. Kain und Abel55 – 8. Nikolaus56 4. Sintflut, Noah57 – 7. Taufe58 5. Davidstern

– 6. Weihnachten, Flucht nach Ägypten59

Die beiden Hälften des Romans stehen zueinander im Verhältnis von spielerischer Erprobung und eigenständiger Bewährung  : Was Ellen in den Kapiteln 52 „Der babylonische Turm wankte in dem leisen Zittern ihrer Atemzüge.“ (DgH 49) 53 Die Rettung eines Wickelkindes aus dem Kanal nimmt Bezug auf die Aussetzung und Errettung Mose am Ufer des Nils. 54 Das letzte Abendmahl erscheint in pervertierter (aber auch den Signifiant in den Signifié zurück­führender) Form in der sehr konkreten Verwandlung von Wein in Blut bei dem Angriff auf das Zollamt. Tod und Auferstehung sind in Ellens Verschüttung zitiert (DgH 229). 55 Die Suche nach dem „Nachweis“ geht durch die Generationen und Jahrtausende zurück. „Bis dorthin, wo Kain für Abel und Abel für Kain bürgt, bis dorthin, wo euch schwindlig wird, bis dorthin, wo ihr zu morden beginnt, weil auch ihr nicht mehr weiter wißt.“ (DgH 52) 56 Am Ende des Polizeiverhörs, bei dem Ellen sich durch ihre unkonventionellen Antworten be­freit, ist Kettenklirren zu hören, „Kinder lachten verlegen und ein Bischofsstab schlug gegen das feuchte Pflaster. […] Weiße Mäntel, schwarze Hörner und ein Lied dazwischen. Es wird bald schneien, denn morgen ist Nikolaus.“ (DgH 213) 57 Als die uniformierten Kinder den Englischunterricht der jüdischen Kinder stürmen, erscheint der alte Lehrer, der sich zwischen die Fronten wirft, als Noah  : „Sintflut ergoß sich über das Chaos. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn. […] Noah selbst, die wunde Katze im Arm, starrte schweigend über das Gewühl. ‚Habt ihr ihn jetzt, unsern fremden Sender  ?‘ Auf einen Wink ihres Anführers hatten die in Uniform ihre Messer gezogen. Der Alte warf sich dazwischen. Um der Kinder willen verließ Noah die Arche.“ (DgH 95) 58 Ellen tauft ihre sterbende Großmutter mit dem Rest des Wassers, mit dem diese aus Angst vor der bevorstehenden Deportation das Gift geschluckt hat  : „Ellen sprang, sie packte das halbleere Glas. Drei Schluck fehlten. Und sie goß den Rest des Wassers über die weiße eckige Stirne, über Hals und Brust in die steifen Kissen, und sie sagte mitten in das letzte einsame Röcheln  : ‚Groß­mutter, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.‘“ (DgH 183) 59 Am Anfang der Probe für das Weihnachtsspiel gibt es auch eine Anspielung auf die Flucht nach Ägypten  : „‚Ein versiegelter Waggon trägt auch. Die Frage ist nur, wohin.‘ ‚Vor Ägypten wird gekämpft  !‘ ‚Dann eben nach Polen.‘ ‚Und der König der Juden  ?‘ ‚Fährt mit.‘“ (DgH 125f.)

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des ersten Teils unter der Anleitung von Grenzfiguren wie dem Konsul, dem Blinden, dem Schießbudenbesitzer, den drei Alten, dem Englischlehrer und Anna lernt und mit den Freunden spielt, wendet sie im zweiten Teil in der Auseinandersetzung mit Erwachsenen an. In der ersten Hälfte, wo die Kapitel auf eine relative Begrenzung zulaufen, kompensieren Spiel und Rede der Kinder die Mängel der Wirklichkeit. In der zweiten Hälfte, wo stets der Tod den Horizont bildet, verwandeln sie die Wirklichkeit  : So sind die „drei Alten“, die im 3. Kapitel als die gesuchten Vorfahren zu den Kindern in die Kutsche steigen, nicht leibliche Ahnen, sondern nur lite­rarisch geistige. Mit der Verhaftung am Ende der Probe des Weihnachtsspiels im 6. Kapitel jedoch erscheint an der Tür die Polizei als der leibhaftige Messias.60 Geschichte der enttäuschten, Geschichte der erfüllten Hoffnungen. Die größere Hoffnung hat zwei Topographien und erzählt zwei Geschichten  : Auf der einen Seite gibt es einen Positionsraum  : das auf seine negativ konnotierten Teile begrenzte und in sich fragmentierte Wien. In dieser Topographie, in der jedes der unverbunden aneinander gereihten Kapitel an einer verschlossenen Grenze endet, erzählt der Roman eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen. Er erzählt die Geschichte der sich bewahrheitenden Befürchtung, dass (1. Kapitel) legale Auswanderung mittels Bürgschaft und Visum nicht mehr möglich ist  ; dass es (2.) für die Juden keine Möglichkeit der zivilen Rehabilitierung gibt  ; dass (3.) die Landesgrenze auch illegal nicht mehr überwunden werden kann  ; dass (4.) selbst die innere Emigration, das Erlernen einer Fremdsprache, unterbunden wird  ; dass (5.) der Stern Deportation und Ermordung bedeutet  ; dass (6.) der freundliche Nachbar sich als Häscher entpuppt  ; dass (7.) die Großmutter sich in der Angst vor der Verhaftung das Leben nimmt  ; dass (8.) auch die untergetauchte Bibi aufge­griffen und der junge Polizist an die Front geschickt wird  ; dass (9.) die Befreiung der Stadt in Plünderung umschlägt und (10.) die Liebe zum Feind zum Tod führt. Nun wird diese durch verschlossene Grenzen fragmentierte Struktur beim Erzählen durch eine entgrenzende Bewegung überschrieben  : in einen neuen Situationsraum übersetzt. Dadurch entsteht an jedem Ende über die geschlossene Grenze hinweg eine Öffnung, die sich auf die selbe Grenze bezieht, diese aber auf ein anderes Jenseits hin überschreitet.61 Hinter der Grenze beispiels60 Vgl. S. 118. 61 Diese entgrenzende Öffnung ist in der paradoxen Eigenschaft des Situationsraumes begründet, der gerade durch seine Begrenztheit offen ist.

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weise, auf die die jüdischen Kinder im 3. Kapitel mit der Kutsche zu fahren, liegt in der realen Topographie die Slowakei. Die Kinder wollen eigentlich woanders hin  : ins „heilige Land“ (DgH 59), das wiederum nicht Palästina ist, sondern jener einzige Ort, der sie noch aufnimmt  : „Nicht Osten und nicht Süden, nicht Norden und nicht Westen, nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Der Weg, ein­fach der Weg.“ (DgH 65) Am Ende der Fahrt und des Kapitels erfolgt eine doppelte Grenzkontrolle  : Der Kutscher fordert die Kinder auf, von der Kutsche zu springen, weil der Grenzübertritt unmöglich ist  : „‚Springt ab, springt ab  ! Überall sind Posten, wir sind im Kreis gefahren. […] Alles ist verloren, wir kommen nicht mehr über die Grenze  !‘“ (DgH 80) Schon davor aber haben die Kinder mit einem anderen Sprung die Grenze passiert  : Die „drei Alten“, die während der Fahrt zugestiegen sind, Augustin, David und Kolumbus, sperrten ihnen den Weg. Sie verlangten die Bereitschaft, „das Lied in der Pestgrube zu singen“, „den Goliath in euren Herzen zu erschlagen“, „das heilige Land von neuem zu entdecken“ (DgH 80)  : den Tod zu bedenken, den Feind in sich selbst zu überwinden, das Eigene wie ein Fremdes zu betrachten. Als die Kinder zustimmen, sind sie in ihr ersehntes Land eingelassen  : „‚So kommt über die Grenze, weist euch nach, kommt ins heilige Land  !‘“ (DgH 80) Mit der entgrenzenden Gegenlektüre der historischen Ereignisse entsteht eine zweite Romanstruktur, die die diskontinuierlichen Kapitel zu einer zyklisch fort­schreitenden Bewegung verbindet  : Erzählt wird jeweils jener Teil, der auf ein angst- und hoffnungsvoll erwartetes Ende zu geht,62 in der Lücke folgt der nicht diskursivierbare Sprung in die Existenz und der Umschlag des Endes in einen neuen Anfang. Mit Ellens Bewegung über die östliche Peripherie in die Mitte zurück wird die fragmentierte, auf ihre negativ konnotierten Bezirke beschränkte Topographie Wiens auf die gleiche Weise umgedeutet wie im 5. Kapitel der Judenstern und mit der selben Konsequenz  : Die neu erfüllte ‚Mitte‘ enthält zu­letzt auch das verlorene, verbotene positive Territorium wieder. In dieser zweiten Topographie spielt die Geschichte, in der sich die Hoffnung der Kinder erfüllt, indem das Spiel zur Wirklichkeit wird. Dies macht das grausame Ende der Kapitel, macht Verleugnung, Betrug, Verrat, 62 Alle Kapitel handeln in der Situation unmittelbar vor einem Ende, sei es die Abreise der Mutter im 1. Kapitel – „es war die letzte Nacht“ (DgH 18) –, die Sperrstunde des Friedhofs und die Übersiedlung im 3. Kapitel, die Bestätigung der Gerüchte über die Deportationen im 5., die Verhaftung der Kinder und der Großmutter im 6. und 7. Kapitel oder die Befreiung der Stadt im letzten.

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Zwangsumsiedlung, Abschied, Verhaftung, Deportation und Tod nicht ungeschehen, gibt ihnen aber eine andere Bedeutung als ein im Spielen und Sprechen selbst Gewähltes und Herbeigeführtes. Im 6. Kapitel, Das große Spiel, beispielsweise führen die Kinder gegen die Wirklichkeit der jeden Moment erwarteten Verhaftung ein Weihnachtsspiel auf. Sie proben ein ihrer historischen Situation gemäß aktualisiertes, existentialistisch akzentuiertes Weihnachtsspiel, in dem drei „Landstreicher“ und die „Welt“ so lange vergeblich nach dem Frieden suchen, bis sie, ihrem inneren Stern folgend, sich gegen den Krieg für das (Christus-)Kind entscheiden, womit sich die Land­streicher in Könige verwandeln und der Krieg in den Frieden. Am Anfang des Kapitels stehen Fiktion und Wirklichkeit in Opposition  : Obwohl die Kinder eben am Ende des Spiels angelangt sind, kann die Verwandlung nicht stattfinden, da es in diesem Moment an der Wohnungstür läutet. Als die Kinder, anstatt zu öffnen, gegen das Läuten zu spielen beginnen, werden die beiden Spiele – jenes, das mit ihnen gespielt wird, und jenes, das sie selbst spielen – aufeinander durchlässig  : Das Läuten befeuert das Spiel. Und der Nachbar, erst „der Herr“, dann „der Fremde“ genannt, spricht die Worte der biblischen Verkündigung  : „‚Fürchtet euch nicht  !‘“ (DgH 149). Als es zum dritten Mal läutet, stürzen die Kinder, eben wieder zum Ende des Spiels gekommen, zur Tür. Sie öffnen nicht der Polizei, sondern dem Messias, den Marias leeres „Bündel“ nicht enthielt  : „Spielen sollst du vor meinem Angesicht  !“ (DgH 134) Im „großen Spiel“ heben sich im Ange­sicht des Todes die Differenzen auf zwischen Probe und Aufführung, Schau­spielern und Zuschauern, Fiktion und Wirklichkeit. Als die Kinder selbst zu der Entscheidung bereit sind, die sie in ihren Rollen fällen, verwirklicht sich das alle­gorische Weihnachtsspiel im historischen Geschehen. Damit verwandeln sich nicht nur die Landstreicher, sondern auch die Kinder und die „Welt“, deren Rolle Ellen im Spiel übernommen hat. Die größere Hoffnung im Kontext der literarischen Wientopographie  : ein kleiner Exkurs. Nach den oben stehenden Ausführungen ist man versucht, in der Wientopographie von Die größere Hoffnung in erster Linie die Adaption von Aichingers abstraktem Raumschema zu sehen. Tatsächlich jedoch nimmt der Roman vielfach Bezug auf gängige Wientopoi und positioniert sich im Verhältnis zu anderen literarischen Darstellungen der Stadt.63 63 Jede Darstellung der Stadt bezieht sich sowohl auf Elemente der Stadt als auch auf vorgängige literarische Muster von ihr. Die Stadterfahrung und deren Darstellung stehen stets in Wechsel­

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Durch die Topoi der Nek­ropole, in der die Vergangenheit in besonderem Maß präsent ist, und der katholischen Barockstadt mit Affinität zu Allegorie und Welt­theater bezieht sich der Roman auf die Tradition. Das Wasser als das amorphe Andere, das die gestaltete Form der Stadt bedroht, ist eine Konstante in der Wien-Literatur.64 In der Gestaltung des Verhältnisses von Stadt und Wasser positioniert Aichinger sich gegenüber der Wien-Literatur von Stifter, Grillparzer, Hofmannsthal, die später in den Feuilletons selbst Bestandteil ihrer literarischen Wientopographie werden. Ingeborg Bachmanns Gedicht Große Landschaft bei Wien, das 1953 mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet wurde, akzentuiert den Bezug zur Tradition wiederum anders. Ein Vergleich verdeutlicht den Unterschied zwischen den beiden Autorinnen der selben Generation. Adalbert Stifter bändigt und ordnet die wogende Stadt, das Häusermeer und die Menschenströme von deren fester, hochragenden Mitte aus, der Spitze des Stephansdoms, der dem Eingangstext der Bilderfolge Aus dem alten Wien von 1844 den Titel gibt  : Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephans­turmes. Auch wenn dem Fremden beim ersten Betreten der Stadt „die Wogen“ über dem Kopf „zusammenschlagen“ und eine endlose Gasse ihn aufnimmt als „ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt“,65 so weiß er doch um den Stephansturm, der ihm aus der Ferne als „schlanke zarte luftige Pappel“66 die Stadt angezeigt hat. Von dessen Spitze strukturiert, benennt und erläutert am fol­genden Morgen ein kundiger Führer die Stadt in allen Himmelsrichtungen und von den fernen Bergen bis zur Stadtmitte herein. Stifters Text legt sich als geo­metrisches Ordnungsnetz über die Stadtrealität. Wenn ihm diese zuletzt doch zu entgleiten droht, dann wegen seines Willens zur Vollständigkeit, der die Fülle der Details unübersehbar macht. Auch bei Stifter ist von den verheerenden Überschwemmungen durch Eis­ stöße die Rede, welche im Jahr 1830 die Bezirke an der Donau verwüsteten. wirkung  : „Die komplexe Stadterfahrung setzt Darstellung voraus. Sie ist immer zugleich bezogen auf die Phänomene der Stadt und zurückbezogen auf artikulierte, an Darstellung gebundene Seh­weisen. Der Stadt selbst sind gleichsam schon diskursive Physiognomien eingeprägt, die die Dar­stellung isoliert und freilegt.“ Stierle  : Der Mythos von Paris, S. 46. 64 Vgl. Richard Reichensperger  : Literarisches Stadtporträt  : Wien. In  : Herbert van Uffelen (Hrsg.)  : Amsterdam – Wien. Literarische Städte. Wien 1997, S. 32–44. 65 Adalbert Stifter  : Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes (1844). In  : Sämt­ liche Werke  : Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe. München 1954, S. 281–301, hier S. 282. 66 Stifter  : Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, S. 282.

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Franz Grillparzers in der Leopoldstadt – auf Aichingers „Insel“ – wohnender Armer Spielmann (1847) verliert in dieser Flut sein Leben. Das Wasser macht vor dem Kreidestrich, mit dem der alte Mann seine Ordnung vor der Unordnung des Zimmermitbewohners abgegrenzt hat, nicht Halt. Beziehungsweise er selbst ist es, der seine sichere Kammer unter dem Dach verlässt um zu helfen und sich im Wasser eine tödliche Erkältung holt. Während die beiden Autoren des Biedermeier die Ordnung der gebauten Stadt und die zerstörende Flut in eine klare Opposition stellen, sieht Hugo von Hof­mannsthal die Zerstörung und die Auflösung der Kultur in Natur in einer lust­vol­len Angstphantasie. Das gegenwärtige Wien erscheint als ein schon Vergan­genes. Wie Wasser fluten Orient und mythische Vorzeit in die Stadt herein, die von ihren vitalen Ursprüngen eingeholt wird. In einem der beiden Trajanstürme vor der Karls­kirche, wohl dem einzigen noch stehenden Turm der Stadt, befindet sich ein letzter Mensch, dem sich im Augenblick ihres Untergangs das Wesen der Stadt offenbart  : Wie merkwürdig auch das wieder ist, daß wir vielleicht in Wien die letzten denkenden, die letzten ganzen, beseelten Menschen überhaupt sind, daß dann vielleicht eine große Barbarei kommt, eine slavisch-jüdische, eine sinnliche Welt. Das zerstörte Wien zu denken  : alle Mauern verfallen, der innere Leib der Stadt bloßgelegt, die Wunden mit unendlichem Schlingkraut übersponnen, überall lichtgrüne Baumwipfel, Stille, plätscherndes Wasser, alles Leben tot  ; welch wundervolle Fern- und Durchsichten  ! Und Wächter zu sein in einem der Trajanstürme vor der Karlskirche, der noch aufrecht steht und mit Gedanken, die hier keiner mehr versteht, zwischen den Ruinen herumzu­gehen.67

Georg Streim identifiziert in dem Bild „das Bewußtsein einer doppelten Krise der Wiener Intelligenz um 1900 […], die zum einen durch den herannahen­ den, unab­wendbaren Untergang des Habsburgerreiches und zum anderen durch die Idee von der ‚Unrettbarkeit des Ich‘ hervorgerufen wurde“. 68 Bei Hofmannsthal ist Wien auch das Eingangstor zu den Tiefen des Unbewussten,

67 Hugo von Hofmannsthal  : Aufzeichnung von 1894. In  : Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III. Hrsg. v. Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert. Frankfurt/M. 1980, S. 383. Zu Hofmannsthal und Wien vgl. Gregor Streim  : Wien als Seelenlandschaft. Wien-Bilder in Texten der Wiener Moderne. In  : Peter Sprengel  ; Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne  : Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien 1998, S. 329–360. 68 Streim  : Wien als Seelenlandschaft, S. 342.

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ist die Stadt- auch Seelen­landschaft. Deren zerstörende Flutung wird ebenso gefürchtet wie herbeibe­schworen. Aichingers Roman lässt, obwohl er in der Mitte der Stadt beginnt, den zent­ralen Orientierungspunkt des Stephansdoms aus. Erst am Ende ihres Weges über­blickt Ellen die Stadt  : Im letzten Kapitel identifiziert sie, während die Stadt bombardiert wird, auf dem Hausdach anhand der Brände die Orte, an denen sie „früher“ und „zuletzt“ gewohnt hat, die Friedhöfe an der Peripherie und die Brücke in der Mitte (DgH 262). Den Blick über das Ganze gibt es bei Aichinger nurmehr im Angesicht des Endes. Struktur entsteht erst im Moment ihrer entgren­zenden Vernichtung  : „Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden, sondern immer im Angesicht des Endes.“ (Das Erzählen in dieser Zeit, DG 10) Davon ist auch das Subjekt nicht ausgenommen  : Anders als Hofmannsthals Wächter entschließt sich Ellen, das Haus zu verlassen und ihren Weg zu den Brücken zu beenden  : auf das Wasser zu, das allerorten in die zerstörte Stadt eindringt. Ingeborg Bachmanns monumentales Gedicht Große Landschaft bei Wien, das „die bekannten Sinnbilder eines zweitausendjährigen Wien-Mythos als verdor­bene Bilder aufruft“,69 zitiert im Zuge unzähliger Anklänge an literarische Wien­bilder auch Hofmannsthal und Aichinger. Hofmannsthal wird durchgestrichen  : In Hofmannsthals Terzine Über Vergänglichkeit bleibt das unwiederbringlich Verlorene als körperliche Erin­nerung präsent  : „Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen  : / Wie kann das sein, daß diese nahen Tage / Fort sind, für immer fort […]  ?“70 Für Bachmann ist jeglicher Bezug gekappt  : „Wir spielen die Tänze nicht mehr. […] (Und ihren Atem spür ich nicht mehr auf den Wangen  !)“71 Aichinger wird von Bachmann positiv zitiert, mit der Utopie einer Umkehrung, die vorwärts zum Ausgangspunkt zu­rückgelangt. Der Satz, „Nirgends gewährt man, wie hier, vor den ersten Küssen die letzten“, erklärt sich aus der Logik der Spiegel­ geschichte, wo eine Lebens- und Liebesgeschichte im Rückwärtsgang noch einmal abläuft und somit nicht in Abschiedsschmerz und Tod, sondern im Aufbruch endet.72 69 Weigel  : Ingeborg Bachmann, S. 245. 70 Hofmannsthal  : Terzinen. In  : Gesammelte Werke. Gedichte und Dramen I, S. 21. 71 Ingeborg Bachmann  : Große Landschaft bei Wien. In: Werke, Bd. 1, S. 59–61. 72 In der Spiegelgeschichte heißt es etwa  : „Ein Tag wird kommen, da siehst du ihn zum erstenmal. Und er sieht dich. Zum erstenmal, das heißt  : Nie wieder. Aber erschreckt nicht  ! Ihr müßt nicht voneinander Abschied nehmen, das habt ihr längst getan. Wie gut es ist, daß ihr es schon getan habt  !“ (DG 71) Im intertextuellen Bezug zu Aichinger ist Bachmanns Vers auch als Utopie zu

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In Bachmanns Gedicht erscheinen in den letzten Zeilen mehrere Türme, das Subjekt aber steigt nicht hinauf, im Gegenteil  : „Die Türme der Ebene rühmen uns nach, / daß wir willenlos kamen und auf den Stufen / der Schwermut fielen und tiefer fielen, / mit dem scharfen Gehör für den Fall.“ Das Wasser wird zu Beginn in die Stadt hereinbeschworen  : „Geister der Ebene, Geister des wachsenden Stroms, / zu unsrem Ende gerufen, haltet nicht vor der Stadt  !“ In der Stadt gibt es dann „Brunnen“, „flache Gewässer“ mit Schilf, „weicheres Wasser“ hinter der Böschung. Am Schluss wird in Umkehrung und Erfüllung des Anfangs der Tod im großen Wasser in Aussicht gestellt  : „So sind auch die Fische tot und treiben / den schwarzen Meeren zu, die uns erwarten.“ Anders als in Aichingers Roman erfüllt sich hier jedoch auch diese Hoffnung nicht  : „Wir aber mündeten längst, vom Sog / anderer Ströme ergriffen, wo die Welt / ausblieb und wenig Heiterkeit war.“ Bachmanns Gedicht negiert zum Schluss die Möglichkeit der Verortung in einem neuen Situationsraum. Hier liegt eine zentrale Differenz zwischen den beiden Auto­rinnen  : Für Aichinger bleibt in der Wiener Topographie mit den traumatischen Erfahrungen auch das Glück der Kindheit vorhanden. Ihre Texte gehen zur Peripherie, damit diese umschlage in die Mitte. Dagegen erscheint Bachmann als die Heimatlose. In der Erzählung Das dreißigste Jahr beschreibt sie den Versuch des Protagonisten, nach Wien zurückzukehren, „in die Stadt, die er am meisten geliebt hatte“, „an den Ausgangspunkt“,73 als ver­ geblich. Große Land­schaft bei Wien ist eine zwiespältig dialektische Hommage an einen (litera­rischen) Ort, aus dem schon der Titel wegdrängt. Indem sie den Ort als negativen Bezugspunkt setzt, bleibt sie jedoch, sowohl in der Form als auch in den zitierten Topoi, weit mehr als Aichingers Wien-Texte der Tradition verhaftet.

2.6 Vom Ende und vom Anfang her erzählen  : Die Erzählstimme und Ellen Nebst der Topographie haben die Protagonistin und die Erzählstimme für den Roman integrierende Funktion. Aus dem Verhältnis der beiden durchgehend anwesenden Instanzen bestimmt sich die Erzählsituation. Da Ellen und die lesen und nicht nur, wie Weigel dies tut, negativ im Sinn von Liebesgeschichten, die „immer schon von Verfehlungen und vom Ende gezeichnet“ sind. Weigel  : Ingeborg Bachmann, S. 245. 73 Ingeborg Bachmann  : Das dreißigste Jahr. In  : Werke, Bd. 2, S. 94–137, hier S. 118.

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Er­zählstimme in ihrem spezifischen Blick auf die Geschehnisse wie in ihren sprach­lichen Strategien verwandt sind, ist es naheliegend, sie miteinander zu identifizieren, auch wenn der Roman nicht in der Ich-Form geschrieben ist. Die Muster (auto-)biographischen Erzählens jedoch greifen hier nicht. Rückt man die Erzählstimme an die Figur heran und sieht das Geschehen aus deren kindlicher Sicht erzählt, kann man die offensichtlichen Differenzen in Wissen und Bewusst­sein der zwei Instanzen nicht erklären.74 Ordnet man umgekehrt die Figur der Er­zählinstanz unter und deutet Die größere Hoffnung als kommentierten Erin­nerungsprozess eines erwachsenen Ichs, muss man Ellens Tod wegerklären und eine Gegenwartsebene des Erinnerns setzen, die im Roman nirgends fassbar ist.75 Die Erzählsituation der Größeren Hoffnung ist durch eine „eigentümliche Doppelperspektive“76 geprägt, in der wir einerseits die Welt mit den Augen Ellens sehen und erleben und andererseits von Anfang an um ihre letzte Einsicht wissen, die ein allwissender Erzähler durch seine Bildersprache und seine Deutung der Vorgänge vorwegnimmt  : „Auf diese Weise wird um alle Begeg74 Mit der Bestimmung der ‚Kinderperspektive‘ des Romans beschäftigen sich mehrere Arbeiten, die alle nur in Teilaspekten überzeugen. Seidler definiert die Kinderperspektive als „Versuch eines erwachsenen Autors, sich in das Erleben eines Kindes hineinzuversetzen und eine bestimmte Zeit ganz aus der Wahrnehmungsweise eines Kindes zu schildern“. Sie stellt fest, dass der Roman diese Anforderung nicht immer erfüllt, da Wissensstand und Abstraktionsniveau von Rede und Gedanken oft zu hoch sind, und schließt daraus, dass die Kinderperspektive nur eine sei unter anderen. Seidler  : „Sind wir denn noch Kinder  ?“, S. 89f., 91f., hier S. 91f. Rosenberger bestimmt die Kinderperspektive reflektierter als Nachkonstruktion durch Kunstsprache, geht dann aber auch davon aus, dass die Autorin eine plausible Kindersicht intendierte. Aus der strukturellen Analogie des Textes mit kindlichem Denken, Traum, Spiel und Phantasie folgert sie, dass kindliches Be­wusstsein in der Größeren Hoffnung unverfälscht sichtbar werde. Bei der Bestimmung der Erzähl­stimme führt sie dann allerdings doch zwei, durch unterschiedliche Bewusstseinszustände begrün­dete Reden ein  : eine einem auktorialen, wachen Ich zugeordnete „epische Rede“ und eine einem träumenden Ich zugeschriebene „mythische Rede“, welche sie zuletzt noch ergänzt durch eine „reale Rede“, die, auf alle Stimmen verteilt, die außertextliche Realität des Nationalsozialismus einbringt. Rosenberger  : Poetik des Ungefügten, S. 12–15, 96–103, hier S. 8. 75 Diesen Weg wählt Razboynikova-Frateva  : „Erinnerungsstücke von damals, dargestellt als Erleb­ nisse einer jugendlichen Heldin, Ellen, brechen sich an Verstehensversuchen des Heute einer erwachsenen Ellen, die als Erzählerin auftritt oder vielmehr versteckt bleibt.“ Maja Razboynikova-Frateva  : Ilse Aichinger  : ‚Die größere Hoffnung‘. Die Überwindung von Realitäten im Schweigen der Erinnerung. In  : „Uns selbst mussten wir misstrauen.“ Die ‚junge Generation‘ in der deutsch­sprachigen Nachkriegsliteratur. Hrsg. v. Hans-Gerd Winter. Hamburg 2002, S. 292–307, hier S. 300. 76 Niggl  : Verwandlung der Zeit in den sinnvollen Augenblick, S. 393.

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nungen und Auseinandersetzungen von vornherein ein weitester Horizont geschlagen, in den die Beteiligten umso rascher hineinwachsen“.77 Dies ist möglich, da Erzähl­stimme und Protagonistin nicht durch lebensgeschichtliche Zeit getrennt sind, sondern sich durch ihre unterschiedliche Positionierung im Verhältnis zum Text unterscheiden  : Ellen, die unterwegs ist, solange der Roman dauert, sucht von dessen Anfang her Schritt für Schritt ihren Weg. Die Erzählstimme blickt von dessen Ende her auf das Geschehen. Vom Ende her und auf das Ende hin  : Die Erzählstimme. Der These, Die größere Hoffnung sei aus Ellens naiver Kinderperspektive erzählt, ist schon des­halb zu widersprechen, weil auch Ellen dieser Blick nicht mehr zugänglich ist. Mit dem Dialog zwischen Ellen und dem Konsul, in dem Ellen erst so leiden­schaftlich wie vergeblich an der kindlichen Perspektive festzuhalten versucht, um diese zuletzt im Wissen um den Unterschied von Phantasie und Wirklichkeit neu zu installieren, thematisiert und klärt der Roman die Frage nach der Kinder­per­spektive bereits auf den ersten Seiten  : Die Perspektive des Kindes, das alles zum ersten Mal sieht, ist in der Begriffssprache eines schriftlichen Textes nicht ein­holbar. Vielmehr beginnt das Schreiben eben an dem Punkt, wo das Bewusst­sein einsetzt, die Kindheit verloren zu haben.78 Was der Text kann, ist die Wirk­lichkeit neu erfahrbar machen, indem er sich bewusst kindlicher Wahrnehmungs- und Denkmuster bedient.79 Gerade im 1. Kapitel zeigt sich außerdem eine deutliche Differenz zwischen Ellen und der Erzählstimme. Wenn da steht, dass Ellen nicht wisse, „weshalb sie sich mit ihrer Bitte gerade an diesen Heiligen wandte, von dem 77 Niggl  : Verwandlung der Zeit in den sinnvollen Augenblick, S. 393. 78 Dies gilt, wie Berbig in seinem Aufsatz zum frühesten Tagebuch zeigt, auch für Aichinger selbst  : „Sobald dieses Wahrnehmen [des Verlusts von ‚Kindheit‘] Bewusstheit gewinnt, setzt der Zwang zum Schreiben ein.“ Roland Berbig  : „Kind sein gewesen sein“. Ilse Aichingers frühes Tagebuch (1938 bis 1941). In  : Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 9 (2010), S. 15–31, Zitat S. 19. Im Alter von noch nicht 17 Jahren schreibt Aichinger  : „Mir ist heute erst richtig zum Bewußtsein gekommen, daß meine Kindheit endgültig vorbei ist. […] Nur eines will ich festhalten, wie mein größtes Kleinod, das Andenken an diese Zeit, die versunken ist, das Andenken besonders an diese letzte Zeit, an mein letztes Schuljahr, von dem ich nicht ahnte, daß es mein letztes werden sollte.“ Deutsches Literaturarchiv, Marbach, D  : Ilse Aichinger. Tagebuch 1938–41, undatierter Eintrag (vor 13. Sep­tember 1938). Zitiert nach Berbig  : „Kind sein gewesen sein“, S. 18. 79 Rosenberger gruppiert diese Wahrnehmungs- und Denkmuster unter den Kategorien „Ver­ mischung der Bewusstseinsebenen“, „fehlende Zentralperspektive“, „Eröffnung eines SpielRaumes von Bedeutungen“. Rosenberger  : Poetik des Ungefügten, S. 75ff.

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in dem alten Buch stand, daß er zwar viele Länder bereist hätte, angesichts des ersehntesten aber gestorben war“ (DgH 31f.), so bedeutet dies, dass die Erzählstimme von Anfang an über das Wissen verfügt, das Ellen erst in der Mitte des Romans erlangen und am Ende umsetzen wird  : Das Wissen, dass im Moment des Todes das Sehn­suchtsland wieder betretbar sein wird. Während Ellen am Anfang steht, spricht die Erzählstimme vom Ende her. In dieser Grundkonstellation entspricht das Verhältnis von Erzählstimme und Protagonistin dem traditionellen Modell auktorialen Erzählens, in dem ein souve­räner Erzähler aus zeitlichem Abstand rückblickend im epischen Präteritum von einer in ihrem Wissen beschränkten Figur erzählt, welche im Fall autobiogra­phischen Erzählens auch die eigene Person sein kann. Aichinger modifiziert diese Konstellation ihrer Poetik entsprechend  : Erstens ist der allwissende Blick ‚vom Ende her‘ nicht ein abgeklärt objektiver, sondern radikal subjektiv. Zweitens ist dieser der beschränkten Figurenperspektive eingeschrieben bis in die erlebte und sogar in die direkte Rede hinein. Damit sind die Figuren, die noch am Anfang stehen, „vom Ende her und auf das Ende hin“ erzählt, wie Aichinger es in Das Erzählen in dieser Zeit formuliert  : „Wenn wir es richtig nehmen, können wir, was gegen uns gerichtet scheint, wenden, wir können gerade vom Ende her und auf das Ende hin zu erzählen beginnen, und die Welt geht uns wieder auf.“ (DG, 10) Leicht erkennbar ist dies bei Figuren, deren Position jener der Erzählstimme entgegengesetzt ist, wie dem Oberst im Kapitel Flügeltraum  : „Nehmt alle Vernunft zusammen. Schaut nicht links und nicht rechts, nicht hinauf und nicht hinunter. Fragt nicht, woher ihr kommt, und fragt nicht, wohin ihr geht, denn es führt zu weit. […] Hört und seht“, sagte der Oberst, „aber horcht nicht und schaut nicht, dazu habt ihr nicht Zeit. Gebt euch zufrieden mit Namen und Adresse, hört ihr, es ist genug. Wißt ihr nicht mehr, wieviel es bedeutet, ordnungsgemäß gemeldet zu sein  ? Wißt ihr nicht alle, wie wohl es tut, in Reih und Glied zu gehen  ?“ (DgH 210)

Obwohl in direkter Rede und in seinem Sinn gesprochen, kann dies keinesfalls der originale Wortlaut des Oberst sein. Es ist die Position der Erzählstimme unter negativem Vorzeichen. Analog hat Ellens Rede auch da, wo sie noch kindlich naiv ist, für den Konsul wie für den Leser bereits existentielle Bedeutung. Und die Reden von allen Figuren und gar Objekten können biblische Motive, philoso­phische Argumentationen und intertextuelle Bezüge enthalten, die diese nicht kennen können.

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In diesem Erzählen drängt auf der einen Seite die Erzählstimme zur Verkör­ perung in den Figuren, und auf der anderen Seite wird das beschränkte Bewusst­sein der Figuren auf das stets präsente Ende hin transzendiert. Damit entsteht auch im Verhältnis zwischen der Erzählstimme und den Figuren eine dialogische Dynamik. Wie diese sich innerhalb einzelner Absätze manifestiert, sei am Bei­spiel der Szene des 1. Kapitels gezeigt, in welcher der Konsul, Ellens Weinen folgend, das er für das Schreien einer Katze hält, durch die dunklen Räume der Botschaft geht  : Der Konsul beugte sich noch einmal aus dem Fenster und sah hinunter. Da war niemand. Er schloß hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Mit großen Schritten durchquerte er die Vorräume. Mehr Vorräume als Räume, wenn man alles zusammennahm. Mehr Hoffnung, als man erfüllen konnte. Viel zuviel Hoffnung. Wirklich, zuviel  ? (DgH 12)

Der Anfangssatz ist extern fokalisiert, wir sehen den Konsul von außen ohne Einblick in seine Gedanken. Auch beim dritten und vierten Satz steht ihm die Erzählstimme auf diese Weise in deutlichem Abstand gegenüber. Der zweite Satz, „Da war niemand“, könnte demgegenüber auch intern fokalisiert sein. Auch den fünften Satz mit der mündlichen Redewendung „wenn man alles zusammen­nahm“, deren „man“ nicht entscheidet zwischen 1. und 3. Person, ist möglicher­weise der Figurenperspektive zuzuordnen. Mit Bestimmtheit als erlebte Rede zu identifizieren sind die folgenden Sätze, die einen sich selbst korrigierenden Ge­dankengang wiedergeben  : „Mehr Hoffnung, als man erfüllen konnte. Viel zuviel Hoffnung.“ Bis hierher gibt es einen fließenden Übergang von externer Fokali­sierung, die die Differenz zwischen Erzähler und Figur betont, zu interner Fokali­sierung, die diese Differenz minimiert, aber, indem sie die 3. Person und das epische Präteritum beibehält, nicht aufhebt. Doch aus wessen Perspektive ist „Wirklich, zuviel  ?“ formuliert, der abschließende fragende Einwand, der ohne Subjekt und Prädikat keiner Person und Zeitebene mehr zugeordnet ist  ? Wer spricht hier und an wen ist die Frage gerichtet  ? Im folgenden Absatz bekommt diese Rede noch mehr Raum  : „Und doch tat die Stille weh. Schwarz in schwarz war die Nacht. Warm und dicht ineinander­gewebt wie ein Trauerkleid. Hofft, ihr Leute, hofft  ! Webt helle Fäden dazwi­schen  ! Ein neues Muster muß werden auf der anderen Seite.“ (DgH 12) Durch die Schmerzempfindung, die – „und doch“ – als Einwand erscheint, ist der erste Satz noch als interne Fokalisierung zu identifizieren. Es folgen

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zwei Sätze, die nicht eindeutig zugeordnet werden können, wobei die Metaphorik weder zu der sach­lichen Erzählstimme noch zu dem vernünftigen Konsul passt. Dann kommen Ausrufesätze ohne Anführungszeichen im Präsens  : „Hofft, ihr Leute, hofft  ! Webt helle Fäden dazwischen  !“, und ein Schluss, der eine Zukunft engagiert mit einer erhofften oder befohlenen Wende  : „Ein neues Muster muß werden auf der ande­ren Seite.“ Mit dem Wechsel ins Präsens und zu expressiv appellativem Sprechen werden die räumlichen und zeitlichen Grenzen aufgehoben, die für den schrift­lichen Text konstitutiv sind  : Jene zwischen Erzählstimme und erzählter Figur und jene zwischen Erzähler und Leser. Die in der 2. Person Plural formulierten Sätze sprechen Personen an, die eben noch abwesend waren  : Die, die am Tag im Warte­zimmer sitzen, und den Leser. Und wer spricht die Sätze  ? Die Erzählstimme arti­kuliert sich im Medium des Konsuls in mündlicher Sprache. Oder vielmehr sind die Sätze an keine der beiden Personen mehr gebunden, weil an ihrer Stelle, in der Umkehrung von Vorder- und Hintergrund, die Nacht und die Stille sprechend geworden sind. In Übereinstimmung mit der existentialistischen These, dass es Wahrheit nur im Subjektiven gibt, entgrenzt sich die Perspektive über die interne Fokalisierung ins Überpersönliche. Auf der Ebene einzelner Absätze tritt die Erzählstimme auf diese Weise mit der personalen Perspektive sämtlicher Figuren ins Zwiegespräch. Auf den über­geordneten Ebenen der Kapitel und des ganzen Romans ist Ellen ihre Partnerin. Auch die Positionen von Erzählstimme und Protagonistin werden erst als Oppo­sition gesetzt und dann zunehmend aufeinander durchlässig. Zu Beginn der einzelnen Kapitel sind die Positionen jeweils noch nicht ausdifferenziert  : Die Eingangspassage des Romans wird zwar rückblickend als Ellens Lesart identifi­ziert, dies ist aber vorerst alles andere als klar und geht rückblickend nur teilweise auf. Das 2. Kapitel, Der Kai, beginnt mit einem Dialog ohne Identifizierung der einzelnen Sprecher  : „Laßt mich mitspielen  !“ „Schau, daß du wegkommst.“ „Laßt mich mitspielen  !“ „Geh endlich  !“ „Laßt mich mitspielen  !“ „Wir spielen gar nicht.“ (DgH 33)

Das 3. Kapitel, Das heilige Land, beginnt mit Fragen und Aufforderungen in unspezifisch alle umfassender wir-Form  : „Wer den Nachweis nicht bringen

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kann, ist verloren, wer den Nachweis nicht bringen kann, ist ausgeliefert. Wohin sollen wir gehen  ? Wer gibt uns den großen Nachweis  ? Wer hilft uns zu uns selbst  ?“ (DgH 52)80 Solange die Positionen von Erzählstimme und Ellen nicht getrennt und räumlich und zeitlich verortet sind, kann sich auch der Leser dem Geschehen gegenüber nicht als Außenstehender positionieren. Im selben diffusen Raum befindlich, ist er vom Text mit gemeint und mit angesprochen. Am Ende kommt es jeweils zur Vereinigung von Protagonistin und Erzähl­ stimme  : Am Ende des 1. Kapitels formuliert Ellen erstmals selbst eine jener Sentenzen, die im Paradox eine existentielle Einsicht fassen  : „‚Hilf mir, über das Wasser zu gehen, auch wenn ich hierbleiben muß  !‘“ (DgH 32) Damit hat sie nicht nur die Position jener Autoritätspersonen ein erstes Mal eingeholt, die innerhalb ihres Lebens dem Ende nahe sind, sondern auch jene der Erzählstimme. Während die Identität am Kapitelende jeweils dadurch wieder relativiert wird, dass das darauf folgende Kapitel Figurenperspektive und Erzählstimme in eine neue Opposition bringt, wird die Differenz zwischen beiden Instanzen doch immer kleiner. Ellen nähert sich dem Ende, wo die Erzählstimme lokalisiert ist, sowohl räumlich und zeitlich als auch durch das zunehmende Bewusstsein an. Einholen wird sie sie mit ihrem finalen Sprung über die Brücke hinaus und auf das Ende des Textes zu. In Aichingers Roman gibt es viele Stimmen, aber keine Vielstimmigkeit.81 Die einzelnen Figuren repräsentieren unterschiedliche Positionen, haben aber keinen individuellen Ton. Stattdessen ist der Roman durchgehend durch die Erzählstimme geprägt, die sich aber mit der zyklischen Dynamik des Erzählens verändert  : Im Verlauf der Zyklen sind die Sätze darstellend, knapp und präzise, und die Figurenreden, welche aus ebensolchen Sätzen bestehen, sind klar zuge­ordnet. Am Anfang und Ende der Zyklen wechselt die Erzählstimme in den hohen Ton einer rhetorisch durchgeformten, bildreichen Sprache, 80 An ähnlicher Stelle wird sogar die mögliche Antwort des Lesers aufgenommen  : „Habt ihr nicht Wachtposten an alle Grenzen eures Raumes gestellt, bewaffnet bis an die Zähne  ? So stellt auch Wachtposten an die Grenzen eurer Zeit, bewaffnet die Ahnen und die Urahnen, bewaffnet die Toten  ! […] Was sagt ihr  ? Es nützt nichts  ? Sprecht leiser. Irgendwo ist die geheime Polizei. Was sagt ihr  ? Eure Wachtposten stehen nicht still  ? Sie sind übergelaufen in ein anderes Land, in das Land, in das auch die Tage überlaufen  ?“ (DgH 71) 81 ‚Vielstimmigkeit‘ im Sinne Bachtins als Vielfalt selbständiger Stimmen und Bewußtseine, Sprachund Registerebenen, Werte und Normen. Rosenberger vertritt die These, der Roman sei vielstimmig erzählt, da sie aus dem häufigen Wechsel des Redegestus ableitet, dass die Position des Erzählers „zersplittert“ sei. Rosenberger  : Poetik des Ungefügten, S. 96f.

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die sich auch vor den großen Begriffen des Existentialismus nicht scheut. Sie wird im Duktus der bibli­schen Propheten appellativ und expressiv und überschreitet damit die Gattungs­grenze der Prosa zu Lyrik und Drama hin. Dann sprechen Personen aus, was sie selbst nicht wussten oder wissen wollten. Es erscheinen Sätze mit Anführungs­zeichen, ohne dass klar ist, wer gesprochen hat.82 Es gibt Sätze in direkter Rede ohne Anführungszeichen. Die Stille wird sprechend und sogar Gegenstände wie die Tür, an der die uniformierten Kinder den Englischunterricht der anderen belauschen  : „Die Tür zitterte. Bin ich nicht hier, um geöffnet zu werden  ? Bin ich nicht ein großer Widerspruch zwischen dem Gedachten und dem Gewordenen, zwischen denen im Weltall und denen in Uniform  ? Reißt mich auf, denkt mich weg, hebt mich aus den Angeln  !“ (DgH 88) Ellen als Bewegung des Erzählens. Ellen, die zweite Instanz, die durch den ganzen Roman hin anwesend ist, ist als Protagonistin Teil der dargestellten Welt, existiert aber unter anderen Bedingungen als die übrigen Figuren des Romans. Während die anderen vergeblich dem Tod zu entgehen versuchen, hat Ellen das gegenteilige Problem  : Sie darf den Stern nicht tragen. Sie kann ihren jüdischen Freunden nicht in den Tod folgen, sondern wird nach der Verhaftung, gerade weil sie darum bittet, mitgehen zu können, wieder freigelassen. Ellen ist physisch unverletzlich  : Während Jan in der Mitte des Weges zu den Brücken „getroffen“ wird, sieht Ellen sich in der analogen Situation „gerufen“.83 Und im letzten Kapi­tel, wo sonst so viel Blut fließt, wird Ellen „in Stücke gerissen“ (DgH 269), ohne dass eine physische Verwundung oder sterbliche Überreste sichtbar würden. Ellen, die unterwegs ist, solange der Roman dauert, Ellen, die durch ihre Wege und Kommunikationsstrategien von Abschnitt zu Abschnitt und von Kapitel zu Kapitel Gegensätze überschreitend vermittelt, verkörpert die Bewegung des Erzählens. Ellen als das Erzählen  : vielleicht klingt dies auch in ihrem Namen an. Am deutlichsten zeigt sich dies am Anfang und Ende des Romans. Während Ellen im 2. und 9. Kapitel innerhalb der Fiktion geboren wird und stirbt, erscheint und verschwindet sie in den Randkapiteln 1 und 10 in der Interaktion mit zwei von außen kommenden Figuren nach der Gesetzlichkeit eines 82 Zum Beispiel: „‚Man behält nur das, was man hergibt.‘ Niemals wurde es klar, wer das gesagt hatte.“ (DgH 139) 83 „Weiß und wund leuchtete das Holz aus der gesprengten Rinde. Als Ellen die Mitte der Wiese erreicht hatte, hörte sie sich gerufen.“ (DgH 245)

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sprachlichen Zei­chens in einem schriftlichen Text. In Bezug auf Ellens arischen Vater, der sie gebeten hat, ihn zu vergessen, heißt es im Roman  : „Aber kann das Wort den Mund vergessen, der es gesprochen hat  ?“ (DgH 49) In der metaphorischen Beschrei­bung der Vaterschaft erscheint Ellen als gesprochenes Wort. Als Ellen im 1. Kapitel aus dem Nichts in der Botschaft erscheint, sitzt der Konsul am Schreib­tisch. Er verschließt Ellen die Grenze, indem er die Welt in der Fiktion verdop­pelt, die Schlafende von der ersten weghebt und der Erwachten die zweite über­gibt mit der Aufgabe, „übers Wasser zu gehen, auch wenn ich hierbleiben muss“. Im 1. Kapitel gerät das im Situationsraum der Kindheit gesprochene Wort in den Positionsraum des schriftlichen Textes und erhält die Aufgabe, in diesem zu gehen, auch wenn es festgehalten ist  : im schriftlichen Text die Bewegung mündli­chen Sprechens zu vollziehen. Daraufhin bewirkt Ellen auf eben diesem Weg ihre Geburt als Romanfigur  : Als die jüdischen Kinder im 2. Kapitel ihre Rehabilitation durch die Rettung eines Kindes aus dem Kanal spielen, gibt Ellen in der Rolle des Bürgermeisters dem Kind eine Geschichte und Identität  : „Halt, was soll ich mit dem Kind  ?“ „Sie dürfen es behalten.“ „Aber ich will es nicht behalten“, schrie Ellen verzweifelt, „es ist ein unnützes Kind. Seine Mutter ist ausgewandert und sein Vater ist eingerückt. […] Halt – und da stimmt auch etwas mit den Großeltern nicht  : Zwei sind richtig und zwei sind falsch  ! Unentschieden, das ist das Ärgste, das wird mir zuviel  !“ „Was redest du da  ?“ „Dieses Kind gehört nirgends hin, es ist unnütz, weshalb habt ihr es gerettet  ? Nehmt es euch, nehmt es euch nur wieder  ! Und wenn es mit euch spielen will, dann laßt es, in Gottes Namen, laßt es  !“ (DgH 34)

Als „Bürgermeister“ für sich selbst bürgend, schafft Ellen mit ihren Worten aus dem amorphen Element des Wassers das Wickelkind Ellen  : ein „unnützes“ Zwischenwesen, das jenen gehört, die es sich erfunden haben. Im 9. Kapitel wird Ellen verschüttet und anschließend gerettet  : Das ist ihr Tod innerhalb der Fiktion. Der Raum schließt sich so eng um sie, dass ihr die Luft auszugehen droht, und wird von außen her wieder geöffnet. Im Gespräch der beiden Einbrecher, die mit ihr verschüttet sind, erscheint die Szene als Tod und Geburt  : „‚Sie stirbt‘, sagte er erschrocken. ‚Himmel, sie stirbt  !‘ Der andere schob ihn beiseite. ‚Hallo Baby, bleib da  !‘“ (DgH 224) Die Rettung wird zur Aufer­stehung  : „‚Wir müssen den Stein wegwälzen  !‘ […] ‚Den

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Stein vom Grab‘, mur­melte Ellen, ‚und am Morgen war er verschwunden – Engel haben es getan.‘“ (DgH 229) Im 10. Kapitel wiederholt sich die selbe Bewegungsfigur wieder mit einem Dialogpartner, der von außerhalb kommt  : mit Jan, dem Offizier der Befrei­ungsarmee. In Ellens Interaktion mit Jan wird sichtbar, wie und unter welcher Bedingung der schriftliche Text sich in der Interaktion mit einem Leser neu ver­körpern kann. Jan erobert Ellens Welt, lässt sich trotz Skepsis auf sie ein, nimmt sie mit zu den Brücken, damit sie ihm den Weg zeige. Im Moment, als er „hinge­geben“ ist „an das ganz Andere, von dem er nicht wußte, wenn er wach war“ (DgH 264), im Moment, da er sich als Leser in die Fiktion hinein begibt, kann Ellen zu seinem Atem zu sprechen beginnen. In seinem Mantel neu verkörpert, überschreitet sie die Grenze, die der Konsul ihr verschlossen hat. Was sie als zu überbringenden Brief mit sich trägt, ist die „Botschaft“, die sie gemeint hat, die aber nur Jan in der konkreten Situation so aktualisieren konnte, dass sie Ellen zuletzt „abgenommen“ wird. Das Erzählen braucht, um sein Ziel zu erreichen, das Medium des Lesers. Es ist Jan, der es Ellen ermöglicht, die Brücke zu Georg zu bauen, der nach seiner Deportation und Ermordung weiter von ihr entfernt ist als je. Nachdem Ellen der Brief abgenommen wird, den sie als „Schild“ vor sich her trägt, Erkennungszeichen, Schutzwaffe und letzte Begrenzung in einem, springt sie ins offene Ende. Damit wird das Unsichtbare sichtbar – Georgs Gesicht wird „heller und durchsichtiger, als es jemals gewesen war“ (DgH 269) – und das Verstummte wird hörbar. Im Dialog wird die Botschaft formuliert  : „Georg, die Brücke steht nicht mehr  !“ „Wir bauen sie neu  !“ „Wie soll sie heißen  ?“ „Die größere Hoffnung, unsere Hoffnung  !“ „Georg, Georg, ich sehe den Stern  !“ (DgH 269)

Dies ist sehr viel mehr als das dialogische Selbstgespräch im Angesicht des gemalten Heiligen oder des schlafenden Offiziers, denn Georg antwortet auf Ellens Ansprache. Gemeinsam projektieren sie die Brücke, die Ellen und Georg, Lebende und Tote, Fiktion und Wirklichkeit vereint. Sie soll heißen  : „Die größere Hoffnung“. Die Brücke, die diesen Titel trägt, ist der Roman. Für das Erzählen bedeutet das Ende des Romans die Erfüllung und Vernichtung. 84 84 Bisher wurde die Frage, ob Ellens Tod während der Befreiung der Stadt sinnvoll oder sinnlos sei, Scheitern oder Gelingen bedeute, immer unter der Annahme beurteilt, dass es sich bei der

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Während für Jan das Leben auf jeden Fall weiter­geht – „‚Wenn du aufwachst, scheint dir die Sonne ins Gesicht‘“ (DgH 266), hat Ellen ihm den Tag versprochen, der sich mit dem Morgenstern am Ende des Romans erst ankündigt –, wird Ellen „in Stücke gerissen“, „bevor die Schwer­kraft sie wieder zur Erde zieht“ (DgH 269) und damit das Ende in einen neuen Anfang überführt. Mit Ellens Weg durch den Roman, der mit dem Übergang von Mündlichkeit in Schriftlichkeit (und mithin dem Eintritt in den Positionsraum) beginnt und mit einer neuen Verkörperung und Verstimmlichung der Sprache (also  : dem Sprung in einen neuen Situationsraum) endet, thematisiert Aichinger die Bedingungen, unter denen das Erzählen dem Schicksal der ermordeten Verwandten und Freunde folgen kann. Nicht möglich ist dies auf dem Weg direkter Nachfolge, wie Ellens vergebliche Versuche, in den Tod mitzugehen, zeigen. Möglich dagegen ist die immer neue erzählende Vergegenwärtigung, an deren sich entgrenzendem Ende Abwesenheit in Anwesenheit umschlägt. Auf diese Weise wird der Roman, über den Umweg der Abstraktion von der eigenen Biographie sowie der Themati­sierung und Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen einer Nachfolge durch Schreiben, zu Aichingers erstem großen Erinnerungstext.

Prota­gonistin um eine reale Person handelt  : Puff-Trojans Argumentation, der Tod sei objektiv sinnvoll, da Ellen mit der Überbringung der Order an die alliierte Truppe ihren Beitrag geleis­tet habe zur Befreiung vom totalitären Regime, ist entgegenzuhalten, dass Ellen für diesen Dienst nach der Übergabe nicht auf die zerstörte Brücke laufen müsste. Andreas Puff-Trojan  : Die Chiff­ ren des Krieges und die Welt als Kryptogramm. Ilse Aichingers Roman ‚Die größere Hoffnung‘. In  : Étu­ des Germaniques 50 (1995), H. 2, S. 261–282, hier S. 281. Für Friedrichs ist der Tod subjektiv sinn­ voll, da Ellen in ihrer bewussten Entscheidung für den Tod von ihrer letzten Freiheit Gebrauch mache, alle irdischen Grenzen und Ordnungen hinter sich zu lassen, an deren Veränderbarkeit sie nicht mehr glaubt. Diese These wird dadurch relativiert, dass Ellens Sprung nicht wie der Selbst­mord der Großmutter in auswegloser Situation erfolgt. Friedrichs  : Untersuchungen zur Prosa Ilse Aichingers, S. 228. Rosenberger argumentiert, Ellens Tod sei weder logische Folge der Geschehnisse noch Orientierungsmarke ihrer vorhergehenden Handlungen, sondern trete so un­vermittelt auf wie alle anderen Ereignisse und verweise auf nichts als auf sich selbst. Dem ist ent­gegenzuhalten, dass Ellen seit der Mitte des Romans kein anderes Ziel verfolgt als zu sterben und den Tod zuletzt findet, nachdem sie sich fürs Gehen entschieden hat. Rosenberger  : Poetik des Ungefügten, S. 108. Dasselbe gilt für Weigel, die vorschlägt, den Schluss nicht als realen Schritt in den Tod zu sehen, sondern mit Aichingers Bemühen in Zusammenhang zu bringen, das Ende ihres Romans nicht mit dem Ende einer Entwicklung zur Deckung zu bringen, damit das notwen­dige Ende eines Textes nicht die Bedeutung eines angestrebten Zieles enthält und zum Sinn des vorausgegangenen Geschehens wird. Weigel  : Schreibarbeit und Phantasie, S. 25.

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2.7 Morgenstern und Sandfleck  : Die größere Hoffnung und Das Plakat im Vergleich Aichingers frühe Texte, das hat die Analyse von Die größere Hoffnung und Das Plakat gezeigt, basieren stets auf dem selben zyklischen Muster der Be- und Entgrenzung, das ihre Mikro- und Makrostruktur gleichermaßen prägt. Es ist die hohe Kunst der Autorin, es ist das Wunder dieser Texte, dass gerade aus der stren­gen Vorgabe so detaillierte Situationsschilderungen, intensive Atmosphären und expressive Bilder entstehen. Der Vergleich von beiden Texten macht das gemein­same Muster kenntlich und lässt in den Differenzen auf Entwicklungstendenzen in Aichingers frühem Werk schließen, das mit dem Roman einsetzt, auf den der Erzählband Der Gefesselte folgt, zu dem Das Plakat gehört. Es gibt in der Erzählung kein Motiv, das nicht schon im Roman zu finden ist. Von Leiter und Stadtbahn bis zum Giftgrün, der durch Vereindeutigung perver­tierten Variante des Grüns der See  : Im Plakat ist der „täuschende Streifen“ (DG 41) giftgrün, der auf dem Papier die See repräsentiert, im Roman sind es die Uni­formen der Wachleute (DgH 208). Und sogar die Kritik des Konsums ist in Julias Amerika bereits vorhanden. Auch Das Plakat stellt über zwei zentrale Motive den Bezug zur Schwedenbrücke als Erinnerungsort her  :85 das beworbene Ferien-„Lager“, in das der Zug die Kinder bringt, und die „Brücke“, auf der die Menschen, obwohl sie nur über die Hitze sprechen, stets an den Tod denken. Die Erzählung ist eine Erinnerung an den Holocaust unter der Bedingung der Zeit des Wiederaufbaus und des anbrechenden Wirtschaftswunders, die das „Lager“ und die „Brücke“ auf eine neue, positiv verharmlosende Bedeutung festschreibt. Vor allem aber haben die beiden auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Geschichten die selbe Grundstruktur. Beide Texte zeigen und thematisieren selbstreferentiell die Dynamik ihrer Interaktion mit dem Leser. In Roman wie Erzählung geht die zweifache qualitative Veränderung des Raumes mit Entwick­lungsschritten der Protagonisten einher. Die erste, die vom Situationsraum der Kindheit in den Positionsraum der Erwachsenen führt, ereignet sich im Moment, wo die Protagonisten im Text erscheinen. Mit der Kindheit verlieren sie ihre Bewegungsfreiheit und werden zum schriftlichen Zeichen  : Der Junge ist am höchsten Punkt seines Sprunges mit aufgerissenen Augen und hochgeworfenen Armen in maximaler vertikaler Differenz auf dem Plakat 85 Für Aichinger spielt, wie sie mir erzählte, Das Plakat in der Stadtbahnstation am Schwedenplatz.

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festgehalten. Auch der Roman beginnt an einem solchen räumlichen Umschlagspunkt  : am Kap der guten Hoffnung. Ellen, die wie der Plakatjunge auf dem Weg zur See ist, gerät in der Botschaft auf die Landkarte und schreibt sich auf dem selbstgemalten Visum mit steilen Buchstaben vertikal fest. Seines Zustands inne wird der Junge, als der Mann auf der Leiter ihn an­ spricht  : „‚Du wirst nicht sterben.‘“ (DG 39) Die gleiche Funktion hat im Roman die Ermahnung der Großmutter bezüglich des Sterns  : „‚Sei froh, daß er dir erspart bleibt, daß du ihn nicht tragen mußt wie die andern  !‘“ (DgH 100) Was sterben heißt, will der Junge fortan wissen  ; was der Stern bedeutet, Ellen. Zur Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit kommt der Junge durch die Variation des Werbespruchs „Komm mit uns  !“  ; Ellen und ihre jüdischen Freunde, indem sie den Stern durch all seine Bedeutungsmöglichkeiten durchdeklinieren. Nachdem sich die Figuren ihrer Endlichkeit bewusst geworden sind, gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu ihr zu verhalten  : Entweder sie erstarren freiwillig ein zweites Mal, wie es auf dem Werbeplakat die Tänzer im Spiegelsaal tun und im Roman Julia, die, um den Stern nicht tragen zu müssen, das Haus nicht mehr verlässt. Als Plakatmensch wird man in diesem Fall am Ende „überklebt“. Im 9. Kapitel des Romans werden analog bei einem Luftangriff alle Menschen lebend begraben, die im vermeintlich sicheren Bunker Zuflucht gesucht haben. Um nicht überklebt zu werden, muss man sterben, ist die Erkenntnis des Plakatjungen. Ellen wird aus dem verschütteten Keller gerettet, den sie aufgesucht hat, um ihre letzte Habe wegzugeben. Zuletzt erfolgt, nach Zweifel und Versuchung, die Entscheidung zum Sprung in den neuen Situationsraum. Der Junge auf dem Plakat springt dem Kind ent­gegen, von der Außenwand in die offene Mitte der Station, während von beiden Seiten ein Zug einfährt. Ellen läuft aus einem Keller an der Peripherie in die offene Mitte der Stadt. Der Weg in die See führt für den Jungen auf dem Plakat über die Schienen  : Indem er sich der objektiven Zeit aussetzt, erreicht ihn auch der subjektive Zeitfluss wieder, der nun allerdings tödlich ist. Auch im Roman findet sich dieses Motiv immer wieder  : Im 2. Kapitel, Am Kai, läuft die Stadtbahn parallel zum Kanal, der in der Topographie die Ausgrenzung der Juden be­zeichnet. Um diese Trennung wieder aufzuheben, müssen die Kinder nicht, wie sie erst meinen, ein Wickelkind aus dem Kanal retten, sondern selbst ins Wasser hineingehen. Während sie verbotenerweise mit dem Ringelspiel fahren, das mit der Kindheit assoziiert ist und die Wahrnehmung entgrenzt, holt am Ufer ein Kind ein Baby aus dem Kinderwagen und bringt es aufs Boot, das im Gegensatz zur Stadtbahn nur einen trägt und nie hält  :

Morgenstern und Sandfleck  : Die größere Hoffnung und Das Plakat im Vergleich

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Steif und schwarz stand der Kinderwagen gegen den Dunst. „Willst du wirklich damit weiterfahren  ?“ fragte das Kind. „Ist es nicht viel zu langsam  ? […] Spä­ter steigst du dann auf die Stadtbahn um. Aber die macht viel zu viele Haltestellen  ! […] Nein, nein, das willst du auch nicht  ! Du  ! Da unten steht ein Boot. Das bleibt nicht stehen, wenn du einmal drin liegst  ! Das fährt, solange du willst. Da mußt du nie mehr umsteigen, niemand wickelt dich um. Willst du  ? Komm  !“ (DgH 45)

Im 3. Kapitel, Das heilige Land, hören die Kinder zuerst jenseits der Friedhofs­ mauer Straßenbahn und Zug. Mit der Trauerkutsche fahren sie in der Richtung der Bahn, dann den Fluss entlang, bis die Geschwindigkeit der Fahrt ins Fließen des Wassers übergeht  : „Der Wagen fuhr schneller, immer schneller, schneller als schnell, aber diese Schnelligkeit löste sich auf, wurde gelassen und unmerklich wie die von Fluß und Weg.“ (DgH 79) Im letzten Kapitel springt Ellen „über eine aus dem Boden gerissene, emporklaffende Straßenbahnschiene“ über den Brückenstumpf hinaus, der das „graugrüne, aufgewühlte Wasser“ (DgH 269) nicht mehr überspannt. Das Plakat wird „zerfetzt“, Ellen „zerrissen“. Was nach dem Verschwinden der Protagonisten zurück bleibt, ist einmal ein Stern und einmal ein Sandfleck. In den beiden hellen Punkten, die die neu erfüllte Mitte anzeigen, wird nun auch die Differenz zwischen Roman und Erzählung sichtbar  : Der Morgenstern am östli­chen Himmel transzendiert Ellens Sprung und lädt ihn auf mit religiöser und kos­mischer Bedeutung. Demgegenüber ist der Fleck Sand, der auf dem Boden liegt, irdisch-diesseitig und von greifbarer Materialität. Ein „Fleck“ ist klein, undeutlich geformt, zufällig platziert. In der Erzählung löst Aichinger die Erfüllung im sich entgrenzenden Ende vom religiösen Überbau und ersetzt den Sprung in den Glauben durch die Wirklichkeitserfahrung in unmittelbarer Wahrnehmung und Bewegung. Damit gewinnt die Erzählung, die erst einmal als der abstraktere Text erscheint, gegenüber dem Roman an Welthaltigkeit. Zwar öffnet sich der Roman am Ende, wenn Ellen und Georg die neue Brücke, die sie bauen wollen, „Die größere Hoffnung“ nennen und damit auch den Roman als Projekt bezeichnen. Dennoch zeigt der Stern dieses Ziel als er­reichtes. Im Plakat dagegen folgen nach dem Sprung noch zwei weitere Absätze, die zwar nicht für die verschwundenen Akteure, aber doch für den Leser den finalen Sprung wieder relativieren. Das Danach, auf das in der Grö­ ßeren Hoff­nung nur Ellens Ausblick auf Jans Erwachen am nächsten Morgen verweist, wird Teil des Texts. Darin zeichnet sich eine Entwicklung ab, mit der

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Aichinger den Fokus zunehmend verlegt vom Ziel der intentionalen Bewegung im Tod auf deren im Leben unabschließbare Prozessualität. Inhaltlich zeigt sich diese Entwicklung darin, dass die Person, die in den Tod springt, erst nicht mehr Hauptakteurin ist und dann gar nicht mehr vorkommt  : Die beiden frühesten Erzählungen, Das Plakat und Spiegelgeschichte, beide von 1948, laufen noch auf den Tod der Protagonisten zu. In Engel in der Nacht (1949) ist der Sprung des Mädchens aus dem Fenster aus der Sicht ihres kleinen Bruders ge­schildert. In allen weiteren Erzählungen des Bandes wird das Überleben und Weiterleben thematisiert, oft verbunden mit der Sicht von erwachsenen Protago­nisten. Am ausgeprägtesten in der Rede unter dem Galgen, der programmatischen, zuerst auch titelgebenden86 Erzählung am Ende des Bandes, wo ein Brandstifter, der sich unter dem Galgen am Ende angekommen wähnt, durch Begnadigung zum Weiterleben verurteilt wird. Kein deutliches Ziel vor Augen zu haben, führt zu Verunsicherung, falschen Einschätzungen und Fehldeutungen. In vielen Erzählungen von Der Gefesselte erscheinen Szenen des Romans wieder, neu erzählt unter der Bedingung von Undeutlichkeit und Ungewissheit, die für Aichinger Kennzeichen der Nachkriegs­zeit sind  :87 Im Roman funktioniert die Kommunikation aus den Fenstern zweier gegenüberliegender Häuser, zwischen denen die Verbindungsbahn durchfährt, tadellos, obwohl Ellen gerade bemerkt hat, dass die Mutter nicht mehr da ist  : „Ellen presste die Wangen an die kalten, glatten Scheiben. Drüben, in dem alten Haus, jenseits der Verbindungsbahn, hielt die alte Frau das Kind ans Fenster. Ellen winkte. Das Kind winkte zurück. Die alte Frau führte seine Hand.“ (DgH 24f.) In der Erzählung Das Fenster-Theater ist eine analoge Szene aus der Per­spektive einer Frau „mit dem starren Blick

86 Durch das Entgegenkommen von Gottfried Bermann Fischer konnte ein Teil der Erzählungen bereits 1952 unter dem Titel Rede unter dem Galgen im Wiener Jungbrunnenverlag erscheinen. 1953 erschien der Band bei Fischer unter dem Titel Der Gefesselte. 87 Während der Krieg „den Augenblick wieder in sein Recht setzte“ (KMF 21), indem die Nähe des Endes jedes Mal zum letzten Mal und damit die Wiederholung singulär machte, erscheint Aichinger in der relativen Sicherheit des Friedens alles undeutlicher  : „Heute muß man sich zu­nächst einmal klarmachen, was es für eine Katastrophe ist, ohne Katastrophe zu leben. Daß das Leben, das ich an sich für eine Katastrophe halte, nicht deutlich wird. Man hat das Gefühl, die Umwelt ist undeutlich und man selbst wird undeutlich. Man sieht seinen eigenen Umriß nicht mehr.“ Iris Radisch  : „Ich will verschwinden.“ Ein ‚Zeit‘-Gespräch mit der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger über das Glück im Krieg, das Gehen im Nebel, die lebenden Toten und das Schweigen. In  : Die Zeit, 1. 11. 1996. Wieder in  : Ilse Aichinger  : Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. Frankfurt/M. 1997, S. 53–64, hier S. 58.

Morgenstern und Sandfleck  : Die größere Hoffnung und Das Plakat im Vergleich

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neugieriger Leute“ (DG 83) geschil­dert, welche die Faxen des alten Mannes im gegenüberliegenden Fenster falsch deutet, weil sie nicht weiß, dass er mit einem kleinen Knaben kommuni­ziert, der über ihr am Fenster steht. Die ge­ öffnete Order variiert Jan und Ellens Fahrt im 10. Kapitel. Auch in der Erzählung wird ein Soldat mit einer Nachricht auf der Rückfahrt zur Front am Fluss „getroffen“. Im Unterschied zum Roman handelt es sich aber um einen Stellungskrieg, bei dem der Gegner nicht fassbar wird. Und der Soldat, der ohne Führung durch eine Ellen unterwegs ist, verzweifelt an der Ungewissheit der zu überbringenden Botschaft. Auf der formalen Ebene kontert Aichinger die Undeutlichkeit durch stärkere Konturierung. Sie reduziert die üppige Metaphorik auf eine einfache, elementare Bildsprache, schreibt kurze Texte mit deutlich erkennbarer Konstruktion und rückt die selbstreferentielle Ebene noch stärker in den Vordergrund. In diesem Prozess verlagern sich zunehmend Elemente von der diskursiven auf die strukturelle Ebene, Explizites wird implizit, Gesagtes gezeigt.88 Besonders augen­fällig ist dies beim Vergleich der Makrostruktur der beiden Bände, von Roman­form und Erzählzyklus. Die Komposition des Erzählbandes ist jener des Romans sehr ähnlich  : In seiner ursprünglichen Form umfasst Der Gefesselte zehn Erzählungen,89 die von ähnlicher Länge und Struktur sind wie die zehn lose aneinandergereihten, in sich geschlossenen Romankapitel. Zwar haben die Erzählungen keine gemein­same Topographie mehr, keinen gemeinsamen Zeitrahmen und keine durch­gehend präsente Protagonistin. Ihre Komposition folgt aber genauso dem zyk­lischen Muster der Be- und Entgrenzung. Spiegelgeschichte und die Weihnachts­geschichte Engel in der Nacht stehen, mit dem Spiegel und mit Weihnachten den räumlichen und zeitlichen Umschlagspunkt bezeichnend, in 88 In den Grundzügen können die Ergebnisse des Vergleichs von Die größere Hoffnung und Das Pla­ kat auch auf die Tendenz der Bearbeitung des Romans übertragen werden, dessen zweite Fassung nach dem Plakat entstanden ist  : Sprachliche wie bildliche Verknappung und Verdichtung, stärkere Bindung an die Figurenperspektive bei Einschränkung der expliziten Erklärung und Didaxe, Verlagerung inhaltlicher Elemente in die Struktur, größere Eigenaktivität des Lesers. Im Gegensatz zur Erzählung gilt dies beim Roman allerdings nur für die Mikrostruktur. Unverändert bleibt das Grundkonzept, die Charakterisierung der Protagonistin zum Beispiel und deren Tod am Ende, der die zentralen Motive von Brücke, Sprung und Stern engführt. 89 In dem Band der Werkausgabe wurde zusätzlich die Erzählung Wo ich wohne aufgenommen, die laut der editorischen Nachbemerkung von Reichensperger an zweitletzter Stelle eingefügt wurde, um die „Kreisstruktur“ zwischen Der Gefesselte am Anfang und Rede unter dem Galgen am Schluss nicht zu zerstören. (DG 111)

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der Mitte. Der Gefes­selte, die erste Erzählung, ist eine Geschichte des Anfangs  : Sie beginnt im Moment, als sich der Protagonist eines Morgens „gefesselt“ findet – festgehalten. Die Differenzen sind hier akzentuiert  : Der Gefesselte ist eine parabolische Geschichte, die klar unterscheidet zwischen Erzähler und Figur, Darstellung und Bedeutung. Das Gegenstück einer Geschichte, die als ganze am ‚Ende‘ spielt, und in der alle Grenzen zur Auflösung tendieren, bildet am Schluss des Bandes die Rede unter dem Galgen. Die mit allen Mitteln der Rhetorik gestaltete Ansprache vom Ende her wendet sich an ein Publikum, das auch die Leser mitenthält, und überschreitet die Grenzen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Auch im Roman entsteht der Zusammenhang des Ganzen nicht durch die dar­gestellte Welt, sondern durch die Bewegung des Erzählens. Diese ist aber personi­fiziert in der fiktionalen Figur Ellen und als solche doch Teil der Geschichte. In den Erzählungen ist dieser Bogen nun ausschließlich formal. Er ist, wie Aichinger es in der Vorrede Das Erzählen in dieser Zeit formuliert, in der Erzählperspektive begründet  : Wenn die folgenden Geschichten auch scheinbar wenig Verbindendes haben, so ist ihnen doch gemeinsam, daß sie fast alle unter diesem Gesichtspunkt geschrieben sind. Ob sie heute oder in hundert Jahren, im Krieg oder im Frieden, auf dem Mond oder in einer Stadt­bahnstation einer großen Stadt spielen, sie spielen alle deutlich vom Ende her und auf das Ende zu. (DG 10)

Im Roman wird das Geschehen vom Tod her und auf den Tod hin erzählt. In Der Gefesselte dagegen wird das „Ende“, das für das Erzählen konstitutiv ist, zur for­malen Kategorie.

Kapitel 3

„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“ Die szenischen Dialoge Zu keiner Stunde

3.1 Orte als Ausgangspunkt und Ziel der Dialoge 1952 erhielt Ilse Aichinger für die Spiegelgeschichte mit einem „sonst nicht üblichen Beifall“ den Preis der Gruppe 47 für die „seltsamste, zarteste deutsche Prosa der Nachkriegszeit“.1 Als sie 1957 szenische Dialoge las, entzündete sich an ihren Texten der große Streit zwischen den „Ästheten“ und den „Realisten“.2 Von der Literaturkritik wurde Zu keiner Stunde vorsichtig gelobt,3 in der Literatur­wissenschaft, wo Die größere Hoffnung und Spiegelgeschichte mittler­weile zu jeder Darstellung der Literatur nach 1945 gehören und Knöpfe als eines der herausragenden Hörspiele der 50er-Jahre gilt, haben die Dialoge bisher sehr wenig Beachtung gefunden.4 1 Hans Georg Brenner  : Kritisches und Selbstkritisches. Zur Tagung der „Gruppe 47“ und Ilse Aichin­ ger – Preisträger der Gruppe 47. In  : Die Literatur 1 (1952), H. 6, S. 1–2. Wieder in  : Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Hrsg. v. Rein­hard Lettau. Neuwied  ; Berlin 1967, S. 72–77, hier S. 77. 2 Als die „Realisten“ die Tagung zu verlassen drohten, besänftigte Hans Werner Richter den Streit mit der Verlautbarung, „auch er könne mit diesen surrealistischen Texten nichts anfangen, aber da es um sie ein Pro und Contra gebe, müsse doch etwas dran sein.“ Heinz Ludwig Arnold  : Die Gruppe 47. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 88. 3 Ausgewählte Rezensionen finden sich im Materialienband Ilse Aichinger, hrsg. v. Moser, S. 194– 199. 4 Die Forschungsliteratur zu Zu keiner Stunde ist schnell aufgezählt  : In den Aichinger-Mono­ graphien von Fleming und Lorenz ist den Dialogen je ein Kapitel gewidmet, das die einzelnen Dialoge kurz kommentiert. Marianna E. Fleming  : Ilse Aichinger. „Die Sicht der Entfremdung“ – ein Versuch, die Symbolik ihres Werkes von dessen Gesamtstruktur her zu erschließen. Maryland 1974, S. 92– 125. Lorenz  : Ilse Aichinger, S. 104–118. Die Aufsätze von Ratych und Müller be­schreiben die Dialektik von Hermetik und Entgrenzung bzw. Verwandlung und Entwandlung. Joanna M. Ratych  : Zeitenthobenheit und Welterfahrung. Gedanken zum Hermetikbegriff in Ilse Aichingers Dialogen. In  : Modern Austrian Literature 12 (1979), H. 3/4, S. 423–436. Heidy M. Müller  : Verwandlung und Entwandlung. Zur Dialektik der Selbstaufhebung in „Knöpfe“ und „Zu keiner Stunde“. In  : Verschwiege­ nes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hrsg. v. Heidy M. Müller. Bielefeld 1999, S. 121–136. Die Dissertation von De Felip paraphrasiert sämt­liche Dialoge je auf wenigen Seiten.

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„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“

Die Irritation, die von Aichingers szenischen Dialogen ausgeht, hat mindestes drei Gründe  : Erstens ist die – gleichbleibende – Thematik der Gefahr der Erstar­rung und der Möglichkeit, diese zu überwinden, nun nicht mehr an große Themen wie Krieg und Verfolgung (Roman), Abtreibung und Tod (Spiegelgeschichte) oder kapitalistische Ausbeutung (Hörspiel Knöpfe) gebunden, sondern ganz ins Alltägliche zurückgenommen  : Ein Polizist und ein Dienstmädchen treffen sich auf der Straße, unterhalten sich über das Wetter und gehen dann wieder auseinander. Zweitens ist die Übersetzung dieses Geschehens in die existentielle und selbst­re­ferentielle Bedeutungsebene nicht mehr durch eine Erzählinstanz vollzogen oder zumindest angedeutet. Eine Erzählinstanz erscheint in den Dialogen nur noch als Arrangeurin der Reden, die einen übertragenen Sinn haben, der den Figuren meist nicht bewusst ist. Dadurch bekommt die vordergründige Geschichte ein stärkeres Eigengewicht. Und der Leser, der nun die Übersetzung selbst zu vollziehen hat, wird zum unmittelbaren Dialogpartner des Textes. Drittens haben die Dialoge eine Form, die sich in keine der gängigen Gattungskonventionen einordnen lässt. Ob es sich dabei um Lesetexte, Hörspielszenen oder Miniaturdramen handelt, ist durchaus unklar. Indessen stellen die Dialoge eine konsequente Weiterentwicklung jener Ten­denz dar, die bereits im Vergleich von Die größere Hoffnung und Das Plakat festgestellt wurde  :5 Inhaltliche Elemente verlagern sich in die Struktur. Die Struk­tur ist weniger auf ein passgenaues Ende ausgerichtet, denn als offener Prozess angelegt. Die Erzählinstanz wird zurückgenommen, die Eigenaktivität des Leser erhöht. Die Selbstreferentialität wird zunehmend zum eigentlichen Thema. Unter diesen Prämissen wird das früher Erzählte transformiert, auf das die neuen Texte bezogen bleiben. Neu ist bei den szenischen Dialogen (1954–1956) und den Prosagedichten Kurzschlüsse. Wien (1953–1954) die explizite Lokalisierung in der Topographie von Wien durch Titel  : Stadtmitte, Judengasse, Philippshof, Park­ring, Schwar­ zenbergplatz, Rennweg, Verbindungsbahn, Landstraße, Im Werd, Bei der Roßau­ erkaserne, Seegasse, Josefstadt, Nußberg, Hungerberg lauten Über­schriften der Prosagedichte, Französische Botschaft, Belvedere, Hohe Warte heißen drei der Dialoge. Damit werden Orte, die in den Texten selbst meist nicht mehr genannt De Felip  : Die Zumutung einer Sprache ohne alle Gewähr. Erhart deutet die Dialoge als Versuche, das Erzählen stillzulegen. Walter Erhart  : Erzählen zu keiner Stunde. Ilse Aichingers Experimente mit kalten und heißen Gesellschaften. In  : Ilse Aichinger. Text + Kritik 175 (2007), S. 29–41. 5 Vgl. Kap. 2.7, insb. S. 135ff.

Orte als Ausgangspunkt und Ziel der Dialoge

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werden, zu deren übergeordnetem Thema. In einer Notiz zur Insze­nierung der Dialoge Französische Botschaft und Pfingstrosen6 im Bayrischen Rund­funk schreibt Aichinger  : Die beiden szenischen Dialoge Pfingstrosen und Französische Botschaft nehmen ihre Orte nicht als Umgebung, sondern machen sie zur Voraussetzung und zum eigentlichen Thema  : In dem einen Fall eine verlassene Hafeninsel, im anderen einen Platz in Wien. Die Orte sind die Träger der Handlung und erfinden sich ihre Gestalten selbst, aus den Orten ergibt sich, was geschieht  : sei es real wie in dem Dialog Pfingstrosen, in dem ein entsprungener Sträfling auf einer Hafeninsel nicht die Freiheit, aber zwei alte Frauen findet, die ihn für einen Nachmittag ahnungslos zu Gast nehmen  ; oder an der Grenze zum Märchen, wie in dem Dialog Französische Botschaft, in dem ein junger Polizist vor der Botschaft ein vorübergehendes Dienstmädchen zum Bleiben auffordert. Aber die Konsequenz dieses Bleibens ist, Abbild zu werden, Versteinerung auf einer Säule, und das Mädchen geht nicht darauf ein. Sie entschließt sich, ihr Leben weiterzuführen, das so gewöhn­lich bleibt wie es war. Daß es sich um den Entschluß verändert hat, wird ihr selbst nicht deutlich, vielleicht aber den Propheten, von denen die Rede ist. – Die Dialoge sind nicht weiter auszulegen. Da der Ort ihr Thema ist, liegt das Ziel darin, daß das Thema wieder zum Ort wird, zu einer ver­lassenen Hafeninsel, zu einem Platz in Wien.7

Die Orte stehen an Anfang und Ende der Texte  : Sie sind ihre „Voraussetzung“ und ihr „eigentliches Thema“, „Träger der Handlung“ und Erfinder der Gestalten. Und sie sollen das Ziel sein, auf das die Texte zulaufen. Damit wird hier das Ver­fahren, das als Strukturprinzip bereits der Größeren Hoffnung zugrunde liegt, zum Thema der Texte  : Eine abstrakte Stelle im Positionsraum der Stadt wird schrei­bend verwandelt in ein Hier und Jetzt des Situationsraums. Die Orte werden aus der Ortlosigkeit gehoben, wie Aichinger es im poetologischen Text Der Ort des Gedichts wird definiert durch Schweigen nennt.8 Auf welche Weise Orte die Figu­renkonstellation und Handlung der Dialoge bestimmen und wie diese Orte durch den Dialog dieser Figuren verwandelt

6 Pfingstrosen, ein Dialog, der in der Werkausgabe nicht abgedruckt und in der Bibliographie von Moser nicht verzeichnet ist, wurde 1959 vom Bayerischen Rundfunk als 14–minütiges Hörspiel produziert. 7 Zitiert unter den bibliographischen Hinweisen in ZkS 179f. Erstsendung am 20. 5. 1960. 8 Der Ort des Gedichts wird definiert durch Schweigen, S. 1. Vgl. Einleitung, Kartographie des Uner­ forschten.

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„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“

werden, dies soll hier anhand der Dialoge Französische Botschaft (Kap. 3.2) und Belvedere (Kap. 3.3) gezeigt werden. Aus der Sequenz der Dialoge, die sich je auf einen Ort beziehen, ergibt sich sodann eine weitere Lektüre der Wiener Topographie. Sie unterscheidet sich von jener der Größeren Hoffnung, indem der Weg nun genau in der entgegengesetzten Richtung der Donau entlang führt und am Schluss nicht in die Mitte zurückkehrt, sondern über die Stadtgrenze hinaus bis nach Linz geht. Schauplatz der Handlung sind nicht mehr die Orte der Abwesenheit, sondern Orte der Kunst und vor allem des Gedenkens wie Monumente und Grabmäler. Diese Befunde werden in Kapitel 3.4 interpretiert. Zum Schluss (Kap. 3.5) wird der Frage nach der Gattung der szenischen Dialoge nachgegangen. Sie werden auf der einen Seite von dem schriftlichen literarisch-philosophischen Dialog abgegrenzt und auf der anderen Seite von der neuen mündlichen Gattung des Hörspiels, das durch Sprache den Raum schafft, in dem es spielt, und sich damit für die Umsetzung der topogra­phi­schen Poetologie in besonderer Weise empfiehlt. Aichingers Dialoge sind Lese­texte, die sich während der Lektüre erst in Hörspiele und dann gar in Schau­stücke verwandeln.

3.2 Auf die Säule oder um den Brunnen  : Französische Botschaft Im Dialog Französische Botschaft (ZkS 11–14) begegnen sich an einem schönen Herbsttag kurz vor Mittag ein Polizist, der vor der Botschaft Wache steht, und ein Dienstmädchen, das mit den Hunden seiner Herrschaft unterwegs ist. Der Polizist ist so angetan von der Situation, dass er sie festhalten möchte  : Auf einer Kirchensäule, so hat ihm im Traum der Kirchbaumeister gesagt, sei dafür grad noch ein Platz frei. Dem Mädchen aber ist nicht nach Bleiben zumute, lieber geht es weiter und holt ihren jüngsten Schützling, der im Park mit dem Dreirad um den Brunnen fährt. Der Dialog endet mit einem plötzlichen Ortswechsel zu dem Jungen im Park, der anstelle des Polizisten die letzte Replik spricht, während am Himmel in einem roten Wagen der Prophet Elias vorbeifährt. Nimmt man Aichingers Behauptung beim Wort, Personenkonstellation und Handlung der Dialoge gingen aus ihrem Ort hervor, so ist man hier erst einmal auf die Französische Botschaft in Wien verwiesen  : einen Bau des Art nouveau, der 1906–09 am Schwarzenbergplatz von dem renommierten französischen Archi­tek­ten Georges Chedanne erbaut wurde als „Symbol für die Macht und Größe Frank­reichs während der III. Republik und als Zeichen der

Auf die Säule oder um den Brunnen  : Französische Botschaft

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Wertschätzung der öster­reichisch-ungarischen Monarchie“.9 Die Französische Botschaft hat in zweifacher Hinsicht die Struktur eines Dialogs  : Sie ist eine Institution in Wien, die rechtlich zu Frankreich gehört, womit zwei in Wirklichkeit weit auseinanderliegende Räume übereinander geschoben werden.10 Auf den vergoldeten Fassadenreliefs des Botschaftsgebäudes erscheint diese poli­tisch-territoriale Beziehung als zwischenmenschliche Begegnung  : Als Allegorie der Freundschaft zwischen Österreich und Frankreich erweisen sich zwei Frauen gegenseitig ihre Referenz. Dies entspricht präzise der räumlichen Struktur von Aichingers Dialogen, wo sich in einem Moment des ‚Zwischen‘ („zu keiner Stunde“  : nicht zum Glocken­schlag, sondern dazwischen) zwei Figuren über eine räumliche Distanz hin be­gegnen, die, wie in Sonntagsdienst, auch den dämmrigen Gang einer Nervenklinik und ein Passagierflugzeug auf dem Weg von London nach Johannesburg umfassen kann. In Französische Botschaft begegnen sich zwei Figuren, die bei der ersten Nennung in der dramatis personae durch ihre räumliche Relation zur Botschaft definiert sind  : „der polizist an der botschaft“ und „das dienstmädchen von gegenüber“.11 Die räumliche Relation legt nicht nur ihren jeweiligen Standort fest, sondern ordnet die Figuren auch den beiden Ordnungen von Positions- und Situationsraum zu  : Die Bezeichnung des Polizisten, die all­tagssprachlich seine Zugehörigkeit zur Botschaft benennt, positioniert den männ­lichen Dialogpartner, der nicht „vor“ oder „bei“, sondern „an“ der Botschaft steht, im zweidimensionalen Positionsraum. Die Bezeichnung der weiblichen Rolle benennt nicht nur ihre Anstellung im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sondern definiert sie auch in ihrer Bewegung auf den Polizisten zu. Sie ist ein „vorübergehendes Dienstmädchen“ (ZkS 180), wie Aichinger in der Notiz zur Inszenierung im Bayerischen Rundfunk schreibt, nicht nur räum­lich, sondern auch zeitlich. Sie bewegt sich im Situationsraum.   9 Darstellung auf der Homepage der Französischen Botschaft in Wien  : www.ambafrance-at.org 10 Eine weitere räumliche Überblendung gibt es bei der Französischen Botschaft durch das Ge­ rücht, die Pläne für die Botschaft in Wien seien mit jenen für Konstantinopel verwechselt worden. Wird die Geschichte der Verwechslung heute nur noch als Anekdote angeführt, berichtet Baldass’ Wien-Reiseführer von 1925 mit ernsthaftem Bedauern  : „An der Westseite des Platzes erhebt sich die Französische Gesandtschaft, 1909 von Chédanne erbaut, die für das goldene Horn, für das sie bestimmt war, sicher sehr gut gepasst hätte  ; das Barockpalais, das für Wien geplant war, wurde infolge einer Verwechslung bei Versendung der Pläne zur selben Zeit in Konstantinopel gebaut.“ Baldass  : Wien, S. 277. 11 Danach steht nur noch „mädchen“ und „polizist“.

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„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“

Es bleibt den beiden nur wenig Zeit  : Es ist „elf vorbei“, also die zwölfte Stunde angebrochen, „bald zum Eislaufen Zeit“, also schon fast Winter. Die Ziele, die der Polizist und das Dienstmädchen am Ende erreichen möchten, Kir­chensäule und Brunnen, unterscheiden sich auch entsprechend der beiden Raum- und Zeitqualitäten und sind, obwohl nicht explizit benannt, ebenfalls in der Wiener Topographie lokalisierbar  : Westlich der Französischen Botschaft befindet sich die Karlskirche mit den beiden von einem Spiralrelief umgebenen Triumph­säulen. In der entgegengesetzten Richtung geht es zum Hochstrahlbrunnen, einer 30 Meter hohen Fontäne in einem weiten runden Becken, die 1873 anlässlich der Vollendung der ersten Hochquellenleitung angelegt wurde. Auch bei Kirchensäule und Hochstrahlbrunnen ist die architektonische Struktur für Aichingers Dialog das ausschlaggebende Element  : Beide bilden jene vertikale Verbindung zwischen Himmel und Erde, die in Aichingers zyklischer Raum­dynamik das Ende kennzeichnet, jedoch in ganz unterschiedlicher Weise  : Die Kirchensäule ist starr, die Wassersäule in beidseitiger fließender Bewegung. Im Dialog sind auf den Säulen die alten Propheten „mitten im Reden“ in Stein gehauen, der Brunnen im Park wird von dem „Jüngsten“ mit dem Dreirad um­rundet  : Stein steht gegen Wasser, erstarrte Mitte gegen Kreisbewegung, die Alten gegen das Kind. Die Erstarrung auf der Säule ermöglicht die Verewigung des le­bendigen Augenblicks der Begegnung gerade nicht. Beim Brunnen jedoch kann dieser sich im Vergehen laufend erneuern. Als Produkt des im Titel genannten Ortes sind die Figuren nicht Personen mit individuellen Beweggründen, sondern Repräsentanten der beiden Prinzipien, in deren Spannungsfeld sich der Text bewegt. Vom Positions- und Situationsraum sowie den zugehörigen Zeit- und Sprachkonzepten leiten sich ihre Berufe ab als Gebäude- und Gesetzeswächter, beziehungsweise Kinder- und Hundebetreuerin, ihr Denken und ihre Sprache  : Der Polizist überblickt die durch Wiederholung strukturierte Zeit  : „Wieder mit den Hunden spazieren  ?“, spricht er das Mädchen an. Er blickt in die Vergangenheit  : „heute nacht“ erschien ihm im Traum der Kirchbaumeister, „heute früh“ sah er das Mädchen über die Straßen gehen. Und er nimmt eine Zukunft vorweg, die er nicht zu erleben hofft  : „Kein Mittag mehr, Marie, kein Abend, keine Nacht.“ Den gegenwärtigen Zeitpunkt benennt er mit der Uhrzeit „elf vorbei“. Er möchte ihn so erhalten, dass die Zukunft dessen immerwährende Fortsetzung ist  : „immer elf vorbei“. Demgegenüber gibt es für das Mädchen nur das „jetzt“, mit dem sie immer wieder ihren subjektiven Standpunkt markiert, der laufend in Zukunft hinübergleitet  : „Jetzt kommt bald Wind auf.“ „Es wird bald zum Eislaufen Zeit.“ Der Polizist verbannt die Zeit aus seinen Sätzen, indem er ohne

Auf die Säule oder um den Brunnen  : Französische Botschaft

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Prädikate spricht, und aus der Welt, indem er Ort, Zeit, Wetter, Menschen und Tiere als gleichartige Elemente im Raum des Bildes anordnet  : „Sie und ich – […] Der blaue Himmel – […] Der Tag, die Hunde, das Eck hier an der Botschaft – […] Die Tauben  !“ Das Mädchen hingegen verwendet die Bewegungsverben „kommen“, „gehen“, „holen“, „bringen“, die den Raum von ihrem Standpunkt aus situativ orientieren. Ihre Sätze sind nicht darstellende, sondern performative Sprechakte. Sie befiehlt den Hunden („Komm, Josias  !“) oder leitet redend eigenes Handeln ein („Den hol ich jetzt.“). Die Handlung des Dialogs ergibt sich nun aus der Auseinandersetzung der beiden Positionen. Ob sie auf der Säule oder beim Brunnen endet, ist dabei die entscheidende Frage. Ja ist Nein und Nein wird Ja  : die Dynamik des Dialogs. Die Dialog­ handlung ist von zwei Seiten zu betrachten, wo sie eine je ganz andere Dynamik hat  : Einmal im Bewusstseinshorizont der Figuren und in der konven­ tionellen Bedeutung ihrer Rede. Und einmal in der Kommunikation des Textes, der durch eine Regieinstanz arrangiert ist, mit dem Leser. Im Bewusstseinshorizont der Figuren betrachtet, treffen sich bei der Botschaft zwei Typen aus dem Wiener Volksstück, wie man sie von Nestroy, Schnitzler oder Horváth kennt  : Kleine Leute mit beschränktem Horizont, wenig Bewusst­sein, diffusen Wünschen und ausgeprägtem Trieb. Sie führen ein unbeholfenes, formelhaftes Gespräch, in dem es bis zum Schluss keine Verständigung gibt. Der Polizist dominiert das Gespräch dadurch, dass er das Thema vorgibt. Seine um­ständlichen Überredungsversuche bleiben trotzdem erfolglos. Das Mädchen ver­sucht immer wieder, das Gespräch zu beenden, indem es die gesprächsinitiie­renden Fragen mit monotonem „ja“ beantwortet, ihre Hunde zum Weitergehen mahnt und alle Vorschläge ablehnt. Es ist eine redundante Kommunikation, bei der sich die beiden Gesprächspartner gegenseitig unterbrechen, stets am eigenen Thema festhalten und auch, was sie aus der Gegenrede aufnehmen, sofort ins eigene Fahrwasser ziehen. Sie sprechen eine defiziente Sprache aus Einwort­sätzen, Ellipsen, vorgefertigten Floskeln, die sich nur selten zu vollständigen Sätzen und kohärenten Zusammenhängen entwickeln. Hier tendiert der Dialog am Ende zur Säule  : Die Hunde erstarren, und die Hände des Mädchens sind schon kalt. In der Kommunikation des Textes mit dem Leser dagegen haben Ja und Nein, Zu­stimmung und Ablehnung genau gegenteilige Bedeutung und Wirkung wie im Alltagsgespräch. Am Anfang bejaht das Mädchen immerfort. Das Ja, die vorder­gründige Zustimmung, bringt weder das Gespräch in Gang noch

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„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“

die Annäherung der beiden Personen. Die Positionen stehen sich unversöhnlich gegen­über  : polizist Wieder mit den Hunden spazieren  ? mädchen Ja. polizist Schöner Tag heute  ! mädchen O ja. polizist Oder vielleicht nicht  ? mädchen Ein sehr schöner Tag. polizist Die Windhunde von der Gnädigen nehmen sich dann gleich besser aus  : gegen den blauen Himmel. mädchen Freilich.

Anders ist es mit dem Nein  : Als der Polizist erstmals vom Stehenbleiben spricht – „Als blieb der Vormittag stehen.“ –, wechselt das Mädchen zur Negation, die in der deutlichen Absage an seinen Wunsch kulminiert  : „Der bleibt nicht stehen.“ – „Wüßt nicht wofür.“ – „Sonst nichts  ?“ – „Ich weiß nicht, was die bedeuten.“ – „So heiß ich nicht.“ – „Da wär mir keiner lind genug.“ – „schüttelt den Kopf “ – „Ich will auf keine Säulen.“ Der Widerspruch belebt den Dialog und verbindet die Personen  : Während der Polizist das Mädchen von seinem Standpunkt zu über­ zeugen versucht, nähert er sich ihrer Position unmerklich an, indem er, was er als Drohung meint, in ihrer Sprache ausspricht und mit ihren Bildern  : mädchen polizist

Jetzt kommt bald Wind auf. Der bringt den Schnee. Sie gehen dann mit dem Kleinen, der nicht der Ihre ist, im Kalten spazieren.

Sprach er davor im Konjunktiv von Möglichkeit und erwünschter Zukunft („Als blieb der Vormittag stehen  !“  ; „Wir kämen gut ins Bild.“  ; „Dem Kirchbaumeister wär geholfen.“), tut er es jetzt im Indikativ. Und bekommt just hier die Zusage des Mädchens  : „Das kann schon sein.“ Was alltagssprachlich ‚schon möglich, aber interessiert mich nicht‘ meint, heißt im übertragenen Sinn, der zugleich der wörtliche ist  : ‚Es darf eintreffen.‘ Und dann trifft es auch ein  : Während der Polizist das Mädchen entkörperli­ chend in sein Bild einzuzeichnen versucht, geschieht im Text das Gegenteil. Ihrer Rede vorangestellt erscheinen zunehmend Regieanweisungen. Diese geben erst den Worten eine emotionale Färbung  : „unsicher Ich muß den Kleinen holen“  ; „erschrocken Josias, Rosendorn  !“. Dann kommen Bewegung und

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Wahrnehmung hinzu  : „schaut auf den Himmel“, Gestik, die das sprachliche Nein ersetzt  : „schüttelt den Kopf“, und eine Umgebung, die unabhängig von der Figurenrede existiert  : Der „Himmel“, die „erstarrenden Hunde“. Mit der Entscheidung des Mädchens kommt Zeit in diese Umgebung, der Himmel verändert sich  : „Ich seh schon Wolken.“ Der Schluss des Dialogs lautet  : polizist Ein Wort, Marie, und nichts – mädchen schüttelt den Kopf polizist Wir bleiben dann für immer zusammen  ! Das Wort  ! mädchen beharrlich auf den Himmel schauend Ich seh schon Wolken. polizist Bevor sie über uns sind  ! mädchen zu den erstarrenden Hunden Wir gehen jetzt. polizist Marie  ! mädchen Ich will auf keine Säulen. der kleine im park Du hast kalte Hände, Marie  ! mädchen Es wird bald zum Eislaufen Zeit. Der Prophet Elias fährt in einem roten Wagen am Himmel über ihnen vorbei.

„Bevor sie über uns sind“  : Nun eilt es dem Polizisten, denn gleich schließt sich der Himmel. Er dringt auf das (Ja-)„Wort“, doch das Mädchen entscheidet sich gegen die Säule. Im nächsten Augenblick ist ihre Situation verändert. Der Spre­cher hat gewechselt und sogar der Ort, an dem der Dialog stattfindet  : An Stelle des Polizisten steht als Rollenbezeichnung auf einmal „der kleine im park“. Ihr Sprechakt, „Wir gehen jetzt“, hat sich verwirklicht. Und wir, die wir anfänglich beim Polizisten an der Botschaft positioniert waren, sind mit dem Mädchen auf die andere Seite der Botschaft hinübergewechselt. Der Kleine berührt die Hände des Mädchens  : So hat es mit ihrer Entscheidung auch physisch ihr Gegenüber erreicht. Mit dem Kleinen ist der neue Anfang da. Und die Hände des Mädchens sind deshalb kalt, weil die Zeit nun wieder weiterläuft, auf den Abend und Winter zu. Das Eislaufen, das in der Erstarrung eine Bewe­gung ermöglicht, verbindet das weit Auseinanderliegende.12 12 In diesem Sinn ist Erhart unbedingt zu widersprechen, der aus der Position des Polizisten und den steinernen Säulen an Anfang und Ende des Bandes auf die Poetik der Dialoge schließt und diese als „Versuch“ liest, „das Erzählen stillzulegen und die Zivilisation poetisch einzufrieren“. Erhart  : Erzählen zu keiner Stunde, S. 39.

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In diesem Dialog zwischen Text und Leser, dessen Dynamik sich auf das Ge­schehen im Text zurückkoppelt, wird der leere (Positions-)Raum der abstra­hierten Struktur von Französischer Botschaft, Kirchensäule und Brunnen verwandelt in einen „Ort“, in den der Text an seinem Ende umspringt – so wie innerhalb des Texts das Mädchen erst Stimme, Körper und Außenwelt bekommt, um zuletzt ganz plötzlich den Raum zu wechseln, von der Botschaft zum Brunnen, von der Sprache in die Bewegung. Die englische Botschaft auf Französisch  : Französische Botschaft als Kontrafaktur der biblischen Verkündigungsszene. In Die größere Hoffnung sorgen Ellen und die Erzählstimme dafür, dass das Geschehen der Romanhand­lung immer auch als Auseinandersetzung zwischen den zwei Prinzipien von er­starrter Ewigkeit und lebendiger Zeitlichkeit sowie selbstreferentiell gelesen wird. Im Roman rufen nicht nur die Wörter im Vokabelheft  : „Übersetz mich, übersetz mich  !“ (DgH 81) Auch in Das Plakat nimmt die Erzählinstanz diese übersetzende Funktion wahr, wenn sie dem Smalltalk der Figuren das Unausgesprochene hinzufügt  : „Dort wechselte er wieder einige Worte über die Hitze und keines über das Sterben.“ (DG 41) In Französische Botschaft nun haben wir dem immer wieder bekräftigten „schönen Tag“ die nicht ausgespro­chene Angst selbst hinzuzufügen, bleiben dabei aber nicht ohne Hilfe. Der Text drängt den Leser auf Schritt und Tritt zum Übersetzen  : Das beginnt damit, dass der Polizist nicht das erotische Abenteuer sucht, das wir aufgrund des Gesprächsmusters erwarten, sondern danach strebt, mit dem Mädchen in einem ewig währenden Augenblick angehaltener Zeit auf der steiner­nen Säule zu bleiben. Dieses Ziel erscheint reichlich sonderbar, außer man über­setzt es in den Wunsch, den Augenblick festzuhalten, in die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Und man wechselt von den Kausalgesetzen der Wirklichkeit zu jenen der Kunst, in denen der eigenartige Wunsch des Polizisten sowohl plausibel als auch erfüllbar ist. Sodann verweist der Text indirekt auf andere Bedeutungsmöglichkeiten. Zuerst bei den Namen der Hunde  : polizist Josias  ? mädchen Ein Phantasiename. polizist Und der andere  ? mädchen Rosendorn. polizist Josias und Rosendorn.

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mädchen Alles Phantasie. polizist Das ist auch viel wert. mädchen Ja.

Während der Polizist auch mit dieser Frage das Gespräch nicht in Gang bringt, hat die Gesprächsverweigerung des Mädchens für den Leser höchst kommunikative Wirkung. Wir begnügen uns mit der Erklärung nicht. Wir vermuten jüdische oder biblische Namen, bringen in Erfahrung, dass Josias ein alttestamentlicher König ist und erkennen in „Rosendorn“ Attribute der Gottesmutter. Und vielleicht sogar eine Anspielung auf Franz Rosenzweig, einem wichtigen Vertreter der Dialog­philosophie  ? Noch expliziter verweisen die Elemente des Bildes, zu dem der Poli­zist werden möchte, auf die Möglichkeiten übertragener Bedeutungen  : polizist mädchen polizist mädchen

Die Tauben  ! Ich weiß nicht, was die bedeuten. Marie  ! Und was Sie reden.

Die Taube ist das religiöse Symbol des Heiligen Geistes. Vom Heiligen Geist erfüllt zu sein, bedeutet Wissen um transzendente Bedeutung – womit der Dialog selbstreferentiell eben jenes Wissen von übertragener existentieller Bedeutung thematisiert, auf das er zielt. Auf der übertragenen Ebene bildet Französische Botschaft eine Kontrafaktur auf die Englische Botschaft des Neuen Testaments  :13 Da sind die Propheten und die Erscheinung im Traum, das Ewigkeitsversprechen,14 Marias Erschrecken15 und ihre Einwilligung  : „Siehe, ich bin des Herrn Magd  ; mir geschehe nach deinem Wort  !“ (Lk 1,37) Ins alltäglich Profane gewendet erscheinen in Maries Umkreis viele Elemente der Weihnachtsgeschichte  : das „Dienstmäd13 Mit dem doppelten Sinn der „englischen Botschaft“ als Botschaft in Englisch und Botschaft des Engels spielt schon das 4. Kapitel von Die größere Hoffnung, wo der alte Mann die Kinder im Englischunterricht dazu auffordert, die eigene Sprache neu zu lernen, „wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt“ (DgH 90). 14 „Er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und seines Königtums wird kein Ende sein.“ (Lk 1,33) 15 „Sie aber erschrak über das Wort und sann darüber nach, was das für ein Gruß sei“ (Lk 1,29). In Aichingers Dialog erscheint die Regieanweisung „erschrocken“, als der Polizist dem Mädchen Ewigkeit ver­spricht, „immer elf vorbei und Sie und ich.“

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chen“, die „Gnädige“, der „Herr“, die „Tauben“, der „Kleine“. Auch die Hundenamen ver­weisen auf diesen Kontext. Der entscheidende Unterschied ist nun, dass die Botschaft des Polizisten, die nicht eine englische, sondern eine galant-französische und vor allem eine daseins­ängstlich diesseitige ist, nicht das Leben, sondern tödliche Erstarrung bedeutet.16 Diese Botschaft schlägt Aichingers Marie aus. In diesem Sinn ist Aichingers Text eine „Anti-Botschaft“,17 wehrt sich das Mädchen „gegen den Namen und die Rolle, die von einem männlichen Polizisten für sie entworfen werden“,18 ist sie weniger eine biblische Maria als eine französische MarieAnne, das Symbol der Freiheit, das der französische Part auf dem Relief der Botschaft in Wien darstellen dürfte. Dennoch ist Aichingers Text nicht eine Absage an die biblische Geschichte. Denn gerade mit Maries Nein, mit ihrer Entscheidung für die Zeit (den Winter, die Wolken) und die Differenz (den „Kleinen, der nicht der Ihre ist“) ereignet sich der Umschlag, mit dem sich die biblische Prophezeiung auf andere Art doch er­füllt. Mit dem „Das kann schon sein“ spricht sie ohne ihr Wissen das biblische „fiat“ aus, „es geschehe“. Als sie anstelle des verlangten Wortes den Kopf schüt­telt, ereignet sich die Inkarnation  : ein Wort wird Körper. Indem sich das Mäd­chen, wie Aichinger in der Rundfunknotiz betont, der Tragweite ihrer Entschei­dung nicht bewusst ist, handelt es sich auch um eine jungfräuliche Empfängnis. Im nächsten Moment ist das Kind, das bisher nur in ihrer Rede existierte, anwe­send. Durch das Kind als „Marie“ angesprochen, ist das Mädchen mit dem Namen einverstanden. Das Dienstmädchen ist Marie geworden und der Kleine der ihre.

16 Dass der Wunsch des Polizisten auf den Tod hinausläuft, darauf verweist ein weiterer Dialog, der in Französische Botschaft mitklingt  : Die Mordszene in Büchners Woyzeck. Auch hier gibt es eine „Marie“, ihr Gegenüber ist nicht Polizist, aber Soldat und handelt aus ähnlichen Motiven  : Lebensangst, Eifersucht. Auch dieses Paar verhandelt über Bleiben oder Gehen  : „Du sollst noch bleiben“, eröffnet Woyzeck den Dialog. „Aber ich muß fort“, antwortet Marie. Hitze und Kälte stehen für Leben, Sinnlichkeit und Tod  : „Friert’s dich Marie  ? und doch bist du warm. Was du heiße Lippen hast  ! […] Und wenn man kalt ist so friert man nicht mehr.“ Bei Woyzeck geht der Mond rot auf, hier fährt am Ende der rote Wagen über den Himmel. Georg Büchner  : Woyzeck. In  : Werke und Briefe, München 1980, S. 176–177. 17 Lorenz interpretiert die „Französische Botschaft“ als Anti-Botschaft mit einer aufsässigen Maria als Heldin, die, obwohl sie als Domestike angestellt ist, keineswegs domestiziert sei wie die reine Jungfrau des Christentums. Lorenz  : Ilse Aichinger, S. 106. 18 Müller  : Verwandlung und Entwandlung, S. 130.

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Am Ende fährt über den beiden am Himmel in einem roten Wagen der Pro­phet Elias vorbei. Lorenz und Müller interpretieren das Vorbeifahren als Scheitern der Heilsgeschichte.19 Aber ist das Erstaunliche nicht eher, dass der Prophet als Mittler zwischen Himmel und Erde hier überhaupt erscheint  ? Anstatt dass Marie bei den Propheten auf der Säule festgehalten wird, bewegt sich Elias, durch die Regieanweisung als objektiv vorhanden gesetzt, die Bewegung des Dreirads des Kleinen transzendierend, über den Himmel. Im Feuerwagen, mit dem er in der biblischen Geschichte am Ende seines Lebens in den Himmel geholt wird. Mit dem „roten Wagen“, der an die rote Straßenbahn denken lässt, die in Die größere Hoffnung immer wieder den Sprung in die objektive Zeit markiert, der zum Fluss der subjektiven Zeit zurückführt. 20 Fahren ist wie das Eislaufen eine verbindende Bewegung in erstarrtem Zustand. Die Erneuerung des Heilsgeschehens wird möglich durch die dezidierte Abweichung von dem vorgegebenen Muster  : Ableh­nung statt Einwilligung sowie die Entscheidung gegen das Ewigkeitsversprechen und für ein gewöhnliches, marginales Leben.21 Um die Erfüllung des christlichen Heilsgeschehens geht es in Aichingers Dialog allerdings nicht. In dessen Muster wird die selbstreferentielle Frage nach den Bedingungen des Textes verhandelt. Ist dem Polizisten doch im Traum nicht Gott erschienen, sondern der Kirchbaumeister, ein Künstler. Er träumt, was die Propheten sich nicht hätten träumen lassen, woran sie nicht dachten  : dass sie mit­ten im Reden in Stein gehauen werden. Und Josias, den 19 „[Marie] verhindert, daß das Alte Testament sich durch sie erfüllt. Der Prophet Elias, oft wegen seiner Wundertaten und Heilungen als Präfiguration Christi verstanden, muß an ihr vorbeifahren.“ Lorenz  : Ilse Aichinger, S. 106. „Daraufhin fährt der Feuerwagen mit dem zum Himmel entrückten Propheten Elia (2. Kön., 92) in großer Höhe an den Gesprächspartnern vorbei. Dies kann als (poly­valentes) Zeichen dafür gedeutet werden, dass beiden Figuren die Verwandlung in Gestalten von zeitloser Bedeutsamkeit vorenthalten bleibt.“ Müller  : Verwand­ lung und Entwandlung, S. 130. 20 Vgl. Kap. 2.7, S. 134f. 21 In einem Interview mit Heinz F. Schafroth charakterisiert Aichinger mit dem Bild vom „Wagen des Elias“ die sinnerfüllte Sprache  : „Die Sprache ist immer verdächtig, weil sie im Aufbruch ist, weil sie in Frage stellt. ‚Es geht mir gut‘, ein wie wunderbarer Satz muß das einmal gewesen sein, als auch er aus Auflehnung entstand. Eingesetzt, legitimiert, benützt, abgenützt, wie leer und schwach kann der Satz werden, eine Chiffre, die man sich über zu weite Entfernung zuruft, dem, der genau hinhört, kaum mehr hörbar. Der Wagen des Elias über diesem Satz ist verschwunden, nur graue Hügel und Hütten sind geblieben, Irrtümer.“ Heinz F. Schafroth  : Meine Sprache und ich. In  : Zürcher Woche, 16. / 17. 1. 1971. Wieder in  : Ilse Aichinger, hrsg. v. Moser, S. 31f., hier S. 32.

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das Mädchen mit dem Hundenamen anruft, ist in der Bibel kein Prophet, bezüglich der Sprachthematik aber sehr wohl  : Der judäische König duldete keine Bildnisse und ließ die Säulen­heiligen und Baalsaltäre zerstören.22 Im Modell von Prophezeiung und Erfüllung, Überlieferung und Erneuerung des Heilsgeschehens in der Kirche zeigt der Text auf, wie Schrift aktualisiert und wirksam werden kann zu einer neuen Zeit an einem neuen Ort  : Es gelingt nicht nach dem Vorbild des Polizisten, der von der horizontal verweisenden weltlichen Botschaft zur vertikal verweisenden ‚diplo­matischen Vertretung‘ eines christlichen oder ästhetischen Anderen wechseln möchte und zum Hüter der ewigen Gesetze und Botschaften zu werden glaubt, indem er in Stein gehauen im vertikal orientierten Raum verharrt. Aber es ist möglich durch eine Neulektüre, wie Aichingers Text selbst eine ist, welche die veränderten Bedingungen der Gegenwart mit einbezieht und damit die Überlie­ferung kontert.

3.3 Schöne und unschöne Aussichten  : Belvedere Im Dialog Belvedere (ZkS 33–45) bekommt der Direktor der Galerien im Bel­ vedere Besuch vom Direktor des städtischen Zoos, der ihm eröffnet, dass im fran­zösischen Garten zwischen den beiden Schlössern weiße ägyptische Stiere ein­quartiert werden sollen. Sie ertrügen kein Grün, kein Wasser und keine Glocken und vermehrten sich rasch. Bei Regen würden die Tiere in die Schlösser einge­trieben werden müssen. In die umliegenden Häuser sollten bald Hüter und Treiber einquartiert werden. Der Galeriedirektor bekommt die Oberaufsicht über das ganze Unternehmen anvertraut. Wird sich der Kunstfreund dem Plan fügen  ? Er tritt ans Fenster und sagt zum Himmel  : „Werde grün  !“ Kein anderer Wiener Ort erscheint in Aichingers szenischen Dialogen so detailliert wie das Schloss Belvedere mit der „Österreichischen Galerie“ – wie­ derum aber nur als von allem Spezifischen abstrahierte Struktur  : Es gibt in Belve­dere ein „unteres Schloss“ mit „Plastiken“ und ein oberes mit „Gemälden“, dazwischen einen „ansteigenden französischen Garten“ mit breiten Wegen, Steintreppen, Kies, frischem Rasen, flachen steinernen Wasserbecken, „Bosket­ten“ und „Sphinxen“. Östlich schließt ein „Klostergarten“ an (der ehemalige Garten des Salesianerinnenklosters) und westlich Gärten „in privatem 22 Ratych  : Zeitenthobenheit und Welterfahrung, S. 426.

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Besitz“ (der Garten des Palais Schwarzenberg). Weiter außen folgen Wohnhäuser, Dä­cher, Türme und Kuppeln (vgl. Karte S. 161). Wiederum hat der im Titel genannte Ort eine dialogische Struktur  : Wie zwei Gesprächspartner stehen sich in der barocken Anlage die beiden Schlösser gegen­über, die jeweilige Schaufassade einander zugewandt und verbunden über den an­steigenden Weg. Um die Nutzung, um die Beschaffenheit und räumliche Qualität dieses Zwischenbereichs wird im Dialog verhandelt zwischen dem „dir ektor der ga ler ien im ober en u nd u nter en schloss“ und dem „direktor des städtischen zoos“. Die beiden Herren vertreten wiederum die Prinzipien von Situations- und Positionsraum, als Direktoren jedoch mit Wis­sen, Bewusstsein und viel mehr Handlungsmacht als die kleinen Angestellten in Französische Botschaft. Aus der Konstellation der zwei Schlösser entsteht das auratische ‚Zwischen‘, für das der „direktor der galerien im oberen und unteren schloss“ steht und im Gespräch Partei nimmt  : Es geht aus der Wahrneh­ mungsweise offenen Betrachtens hervor, das die Dinge nicht klassifiziert, sondern über Ähnlichkeiten verbindet  : Der Galeriedirektor hat, wie mehrfach betont wird, „Freude an Schattierungen“ und am Vergleichen. Er lässt seinen Blick „durch das halboffene Fenster schweifen“, über „Morgendunst und Wasser­glanz“, den frischen Rasen und die glänzenden Kieswege. Bevor er abends das Schloss verlässt, mustert er jeweils „einen stillen Augenblick lang“ die Schätze.23 Der Garten ist der Ort dieses ‚Zwischen‘, das sich in durchlässigen Raumstruk­turen manifestiert, in denen die Gegensätze sich mildern und Fernes andeutungs­weise präsent ist  : Die Galeriebesucher brauchen die Ruhe der Sonntagvormittage, von denen man nicht weiß, „ob es die Sonne oder der Schatten war, der spielte“, um von den Gemälden im oberen Schloss zu den Plastiken im unteren „hinüber­zuwechseln“. Die Großmütter erinnern sich hier an längst Vergangenes, den Enkelkindern steigt „die Erinnerung an die Zukunft“ auf. Von den fernsten Kirchtür­men der Dörfer jenseits des Flusses ist hier das Läuten zu hören. In eben diesem Garten will nun der „direktor des städtischen zoos“ die Stierherde einquartieren. Die topographische Beziehung zwischen dem 23 Ein Verwandter des Galeriedirektors ist der Zwerg mit der grünen Mütze, der im Dialog Zu keiner Stunde am Fenster eines Dachbodens steht  : „Ich schaue über die Stadt. Zur grünen Kuppel des Schlosses hinüber. Deutet auf seine Mütze Ich ziehe Vergleiche zwischen grün und grün. Das nimmt kein Ende. Um so mehr als diese Gegend auch noch von Gärten überzogen ist.“ (ZkS 15)

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Wiener Belvedere und dem Zoo ist folgende  : 1716 gründete Prinz Eugen im Park von Schloss Belvedere eine europaweit berühmte Menagerie, die nach seinem Tod vom Kaiserhaus gekauft wurde a­ls wichtiger Baustein für die 1752 fertig gestellte Menagerie in Schönbrunn, einer ebenfalls barocken Anlage, die bis heute den Kern des dortigen Tiergartens bildet.24 Somit befanden sich die beiden in der Stadt relativ weit auseinanderliegenden Institutionen einst auf dem selben Territorium. Im Text begründet der Zoodirektor die Beziehung durch die ur­sprüngliche Verwendung des unteren Schlosses  : „Die Galerien für Plastik sind, wie Sie besser als ich wissen, in den ehemaligen Stallungen untergebracht. Fast alles, was heute das untere Schloß genannt wird –“. Im Moment, in dem der Dialog spielt, sind die getrennten Bereiche wieder aufeinander durchlässig, sodass die Direktoren einander begegnen. Durch die „ägyptischen“ Stiere gibt es – viel­leicht über die steinernen Sphinxen im Garten  ? – zudem noch eine räumliche Überblendung über eine sehr viel weitere Distanz hin. Weiße ägyptische Stiere mit roten Augen will der Zoodirektor im Belvedere­garten einquartieren, die sich rasant vermehren. Der Individualität der Kunst wird die Masse der identischen Tiere entgegengestellt, die ohne Zwischenraum „Kopf an Kopf “ im Garten stünden. Die indirekte Verweisbeziehung sollte ersetzt werden durch Anwesenheit  : „Niemand, der auch nur einen Blick auf diese weißen Rücken wirft, wird sich der Macht entziehen können, zu sehen, wonach er aus war, es endlich zu sehen“, und  : „Die Herdenglocken werden alles ersetzen. In reichem Maß. Und man wird endlich wissen, woher der Klang kommt.“ Die Stiere brauchen pure Sonne  : separierende Trockenheit statt verbindendes Nass, eindeutige Ausleuchtung statt vieldeutige Schattierungen. Die rotäugigen Tiere ertragen nur die Primärfarben,25 nicht aber Grün, die Sekundärfarbe des ‚Zwischen‘, des Grases und des Wassers, des Wachstums, des Lebens und der Vergänglichkeit.26 Mit der Folge, dass der Betrachter die Wahrnehmungsfähigkeit verliert, wie der Zoodirektor ausführt  : „Alle, die das belebende Weiß der Herde Jahre hindurch betrachten, erblinden mit der Zeit.“ Mit der Eintreibung der Stiere soll

24 Alle Informationen zur Geschichte des Belvedere stammen aus den Internetseiten des 3. Wiener Gemeindebezirks  : www.ki3.at 25 „galeriedirektor  : Um nochmals auf das Grün zurückzukommen, welche Farben sollen es ersetzen  ? zoodirektor  : Rot, schwarz, blau oder gelb, ich sagte schon –“ 26 Der Zwerg in Zu keiner Stunde vergleicht mit dem Grün seiner Mütze auch jenes der Patina der Dächer, der Auen, des Horizonts, des Tangs, der Algen und des Meeresgrundes.

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der Raum zwischen den Schlössern homogenisiert werden und genauso die Gegend drum herum. Die ägyptischen Stiere stehen für gewaltsame Expansion, nicht nur der sich vermehrenden Herde, sondern auch der Forderungen des Zoo­direktors, der erst den Garten für die Stiere reklamiert, dann das untere Schloss und das obere, die Wohnungen der umliegenden Häuser für die „Hüter und Trei­ber“ und zuletzt sogar die Übermalung der grünen Dächer verlangt und die Still­legung sämtlicher Glocken. Belvedere, der Titel des Dialogs, nennt einen Ort, der selbst Kunstwerk ist und seit je Kunstsammlungen beherbergt, sodass seine wörtliche Bedeutung nicht nur auf eine schöne Aussicht, sondern auch auf ästhetische Betrachtung verweist. Das offene Schauen steht auf dem Spiel, wenn der Zoodirektor mit dem Galerie­direktor um die Einquartierung der weißen Stiere im Schloss verhandelt. Die Zwischentöne und die Vieldeutigkeit stehen auf dem Spiel  : jene des Gartens, aber auch die des Textes selbst. Durch die explizite Verbindung mit Kunst und Kunst­betrachtung ist die selbstreferentielle Dimension in Bel­ vedere noch weit deutli­cher als in Französische Botschaft, wo das selbe Thema anhand heilsgeschicht­licher Muster verhandelt wird. Gleichzeitig hat der groteske Dialog aber auch einen konkreten historischen Hintergrund  : Im Dritten Reich brauchte Hitler das Belvedere für Staatsakte, die so expansiv waren wie das Ansinnen des Zoo­direktors. Im Oberen Belvedere fanden die beiden „Wiener Schiedssprüche“ statt, die willkürlich neue Grenzen setzten zwischen Ungarn, der Slowakei und Rumä­nien, und die Beitrittserklärungen Ungarns, Bulgariens und Jugoslawiens zum Dreimächtepakt. Nach dem Ausbruch des Krieges lagerte man die Kunstsamm­lungen aus, baute unter dem Bassin vor dem oberen Schloss einen Bunker, der Hitler und die übrige Naziführung bei Luftangriffen schützen sollte. Schließlich zog die „Zentrale LuftschutzpolizeiBefehlsstelle für den Reichsgau Wien“ in diesen Bunker ein und nahm bald auch das Schloss in Anspruch. Der Protest der Galerieleitung gegen diese zusätzliche Gefährdung des Belvedere blieb ungehört. Durch Bombardierungen wurde die Schlossanlage vollständig verwüstet. Die Arbeiten zur Wiederherstellung dauerten nahezu zehn Jahre, dürften also bei der Entstehung des Dialogs gerade im Abschluss gewesen sein. In diesem Sinn ist der Dialog Parabel des politischen Missbrauchs des Belvedere während des Zweiten Weltkriegs oder, allgemeiner gefasst, der Bedrohung des „Gartens der österreichi­schen Kultur“ durch Totalitarismus und eine formlose, gewalttätige, ‚stiere‘ Masse. „Werde grün  !“  : Die Dynamik des Dialogs. Wenn der Streitpunkt der beiden Kontrahenten auch die Bedingungen des Textes selbst betrifft, so stellt

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sich umso dringender die Frage, ob der Galeriedirektor dem Kollegen vom Zoo nichts entge­genzuhalten hat. Welche Dynamik hat der Dialog, und wie endet er  ?27 Die Rede­strategien der beiden Kontrahenten in leitender Position sind ganz anders als jene des Polizisten und des Mädchens im ersten Dialog. Beide sind beredt, argumen­tieren bewusst und mit Berechnung. Im Gebaren des Zoodirektors kann man die Rhetorik der Macht studieren, die nur scheinbar darauf angewiesen ist, das Ge­genüber zu überzeugen, das in Wirklichkeit keine Entscheidungsfreiheit hat  : Der Beginn der Verhandlungen und die grundsätzliche Zustimmung wird in die Zeit vor der eigenen Verantwortlichkeit zurückverlegt  : „Es war vor meiner Zeit, aber zu Beginn der Ihren. Sie verhandelten mit meinem Vorgänger.“ Die fremdbe­stimmte Entscheidung soll zur eigenen werden durch Machtübertragung  : „Während Sie selbst die Oberaufsicht –“. Kann keine Lösung angeboten werden, wird die Fähigkeit des Anderen gelobt  : „Niemand anderer als Sie wird das den Pfarrern und Mesnern auch noch der fernsten Dörfer erklären können.“ Die Rede­strategie des Zoodirektors ist massiv und invasiv. So wie die Stiere den Garten lückenlos füllen sollen, so verschließt er sofort jeden Ausweg, den sich sein Gegenüber mit einem neuen Argument oder einer neuen Strategie öffnet. Der Galeriedirektor ist von Beginn weg in die Defensive gedrängt. Doch nach den anfänglichen Höflichkeitsfloskeln folgen immerhin schon Nachfragen, die ihm selbst und uns Lesern die Implikationen der Forderungen des Zoodirektors vor Augen führen. Als er erkannt hat, was der Andere im Schilde führt, beginnt er deutlich auszusprechen, was jener verharmlosend andeutet  :

27 Die Forschungsliteratur meint übereinstimmend, in Belvedere werde ein einseitiges Machtspiel gezeigt, in dem der Galeriedirektor bedingungslos unterliege. Lorenz kommt zum Schluss  : „Im Dialog Belvedere versagt sogar die Verweigerung. Dort prallt intellektueller und rhetorischer Widerstand auf ein totalitäres Sprachgebaren, dessen Manipulationsgewalt Argumenten überhaupt nicht zugänglich ist.“ Lorenz  : Ilse Aichinger, S. 109. Ähnlich Müller  : „Das resolute Auftreten des Zoodirektors schließt Widerspruch aus und überrennt die Einwände des anderen. Der zögernde, unentschlossene Galeriedirektor hat in seiner Höflichkeit dem anderen keinen Widerstand entge­genzusetzen. […] Die Unterlegenheit einer besonnenen, rationalen Haltung einer fanatischen gegenüber ist offenbar.“ Müller  : Verwandlung und Entwandlung, S. 128f. Und De Felip  : „Belve­dere handelt vom Einbruch der Urgewalt in eine Oase der Künste, der Ruhe, der Schönheit der Natur, von der brutalen Vereinnahmung des Schönen durch eine totalitäre Macht, deren Über­legenheit auf stumpfer, physischer Kraft und verbaler Manipulationsgewalt beruht.“ De Felip  : Die Zumutung einer Sprache ohne Gewähr, S. 68.

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zoodirektor

Sollte sich die Herde bei Ihnen hier vermehren – galeriedirektor Ich wußte, daß Sie nichts anderes im Sinn hatten  ! zoodirektor Ihr Bestes und das Beste der Besucher. Es wäre auch nur im Notfall. galeriedirektor Der sicher eintritt. Es ist – soviel ich sehe – alles auf diesen Notfall angelegt.

Gegen Ende scheint er einzulenken  : „Sie verständigen mich  ?“ Doch der Schluss ist wiederum mehrdeutig. Als der Zoodirektor, im Begriff zu gehen, schon in der Tür steht, übernimmt erstmals der Galeriedirektor die Initiative  : galeriedirektor Um noch ein letztes Mal von dem Grün zu reden  : es gibt gewisse Augenblicke wie manchmal vor Gewittern, in denen der Himmel eine leichte grünliche Färbung annimmt. Und seltener auch abends, ich sprach davon. zoodirektor Es wäre ein großer Schrecken für die Herde, vielleicht ein Zeichen, alles im Umkreis zu stürmen. galeriedirektor Aber wie – zoodirektor Sie werden es zu verhindern wissen  ! galeriedirektor Ich glaube nicht, daß meine Freude an Schattierungen in einem solchen Fall – zoodirektor ist gegangen galeriedirektor Mein langjähriger Umgang mit Gemälden – tritt ans Fenster, schaut zum Himmel auf. Werde grün  ! Ein Kind ruft nach einem andern. Vögel zwitschern. Der Himmel ist blau, mit weißen Wolken darin.

Die Umfärbung der Dächer wäre vielleicht noch zu bewerkstelligen, die Farbe des Himmels jedoch kann der Galeriedirektor nicht beeinflussen. Das bedeutet, dass die Stürmung der Umgebung durch die eingetriebenen Stiere in keiner Weise auf­zuhalten ist. Auf nichts anderes als diese Zerstörung, so scheint es, war das Projekt des Zoodirektors angelegt. – Doch warum appelliert der Galeriedirektor dann mit dem letzten Satz an den Himmel  : „Werde grün  !“  ? Weil sich hier ein Ausweg andeutet  : Das Grün bedeutet gegenüber dem starren Weiß und Rot Bewegung, Zeitlichkeit, Leben. Der Appell unterläuft das Gefüge sprachlicher Festlegungen des Zoodirektors.

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Belvedere beginnt mit den Worten „Schönen guten Morgen“, dauert über das Mittagsläuten hin und geht auf den Abend zu, von dem zuletzt zunehmend die Rede ist. Einmal mehr geht es darum, das ‚Ende‘ – den Abend, den erlösenden Regen – zu gewinnen, damit es in einen neuen ‚Anfang‘ umschlagen kann. Dazu ist nicht die Gelassenheit gefragt, die die Stiere ruhig hält,28 sondern im Gegenteil  : Ein dezidierter Einspruch tut Not und der Entschluss, bis zum Letzten zu gehen und auch die persönlichen Arbeitsräume im unteren Schloss aufzugeben, die dem Galeriedirektor die ganze Zeit zugesichert bleiben.29 Nur wenn die Stiere, die ehe­maligen Stallungen wieder einnehmend, das Schloss stürmen, kann es zu der Ent­grenzung kommen, die die Situation wendet. Mit seiner Entscheidung gegen die Besitzstandswahrung und mit dem Sprech­akt „werde grün“ kommt der Galeriedirektor wieder in die Zeit – wie in Französi­sche Botschaft das Mädchen mit ihrer endgültigen Absage. Der Garten wird hör­bar lebendig  ; ein paradiesisches Idyll mit einer vorbegrifflichen Sprache von Kinderrufen und Vogelzwitschern künden von einem neuen ‚Anfang‘ – wie in Französische Botschaft der Kleine, der um den Brunnen fährt. Im Himmel sieht der Galeriedirektor „weiße Wolken“ – wie sie im ersten Dialog das Mädchen im beharrlichen Blick auf den Himmel herbeiredet. Es könnten durchaus jene „ersten Regenzeichen“ und „gewissen Wolkenbildungen“ sein, bei denen die Stiere nicht ‚rot‘, sondern ‚grün sehen‘. Unsere Lektüre, die unter den Hinweisen des Galeriedirektors die Argumen­tation des Zoodirektors durchschaut und im Hin- und Herspringen zwischen den beiden Positionen den Dialog dynamisiert, polarisiert und situiert diesen Raum neu. Auch hier koppelt sich die Lektüredynamik auf den Verlauf des Dialogs zurück und wendet die zum Positionsraum erstarrten Verhältnisse, die auf den ersten Blick unhintergehbar scheinen. Das Belvedere wird gegen die invasive Rede und die Stierherde des Zoodirektors verteidigt. Und mit dem Ende des Textes entsteht, jenseits von ihm, aber in ihm noch abgebildet, ein neuer Ort als Situationsraum und Paradiesgarten.

28 „Es ist wichtig, daß sie Ruhe über sich fühlen. Daß ihre Gelassenheit erwidert wird.“ 29 „Und zuletzt  ? Wenn alle Glocken verstummt und alle Gärten kahlgefressen sind  ?“, fragt der Gale­riedirektor kurz vorher und bekommt zur Antwort  : „Sollen die Fenster hier wie eben jetzt noch immer halb offen stehen.“

Donau aufwärts  : Die Sequenz der szenischen Dialoge

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3.4 Donau aufwärts  : Die Sequenz der szenischen Dialoge Die szenischen Dialoge sind, was Personal und Handlung betrifft, so hetero­ gen wie die Erzählungen von Der Gefesselte, anders als diese aber wieder durch eine gemeinsame Lokalisierung in Wien untereinander verbunden. Ein Vergleich mit der Wientopographie der Größeren Hoffnung ist aufschlussreich für die Kon­tinuitäten und Akzentverschiebungen zwischen den beiden Werken. Erscheint die Wiener Topographie in den Romankapiteln immer abstrahiert, sind einige Dialoge explizit in der Stadt lokalisiert, indem sie im Titel oder im Text Orte nennen. Es sind dies die ersten beiden Dialoge des Zyklus,30 Französi­sche Botschaft und Zu keiner Stunde, und die zwei letzten, Hohe Warte und Das neue Lied (und Belvedere an 6. Stelle). Die übrigen Dialoge sind zwar für Aichin­ger persönlich in Wien verortet, nicht aber durch die Texte.31 Daraus ergibt sich über die ganze Reihe hin, die zwischen den festen Klammern von Anfang und Ende weniger streng komponiert ist als im Roman, eine Bewegung vom konkreten Ort über abstrakte Schauplätze zu neuer Konkretisierung. Sie wiederholt die Bewegung der einzelnen Texte, die aus einem Ort hervorgehen und am Ende wieder in einen Ort münden. Im Vergleich mit dem Roman ist dabei wiederum eine Verlagerung von der diskursiven Ebene in die Struktur festzustellen  : In der Größeren Hoffnung zeigt sich diese Dynamik nur auf der inhaltlichen Ebene, im Wechsel zwischen körperlicher Bewegung unter freiem Himmel und sprachlicher Bewegung in Innenräumen. Die konkrete Verortung der einzelnen Dialoge in der Stadt ergibt folgendes Bild  : Die ersten Dialoge sind alle im dritten Bezirk angesiedelt  : Fran­ zösische Botschaft zwischen Karlskirche, Französischer Bot­schaft und Hochstrahlbrunnen, Belvedere im unteren Schloss, mit Aussicht auf das Licht- und 30 Zum Zyklus gehören die 18 Dialoge, die in der Erstausgabe von 1957 publiziert wurden. Die sechs Dialoge, die Reichensperger in der Werkausgabe nach Das neue Lied angefügt hat, sind wesentlich später entstanden und nicht in Wien lokalisiert. 31 So verbindet sie die Kinokassierin in Gute See mit jener Kassierin eines Kinos in der Josefstadt, die einige Monate nach der Deportation ihrer Großmutter zu ihr sagte  : „‚Sie wissen doch, was mit ihren Angehörigen geschehen ist  ?‘“ (FuV 20). Möwen spielt im Philippshof im 1. Bezirk, wo eine Freundin wohnte, die einen Plattenspieler besaß, Schweres Wasser bei dem 1912 ge­ gründeten „Realgymnasium für Mädchen“ in der Albertgasse im 8. Bezirk. Das Dorotheum gibt den Schauplatz von Die Auktion ab, wo ein Stück „Himmelblau von vorgestern gegen elf “ (ZkS 62) versteigert wird, das Restaurant „Drei Husaren“ im 1. Bezirk ist Vorbild für jenes Restaurant, in dem in Auf verlorenem Posten der Spielzeugdragoner aufgestellt werden soll. (Diese Informa­ tionen stammen alle aus Gesprächen mit der Autorin.)

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Schattenspiel des barocken Gartens. Zu keiner Stunde handelt auf einem Dachboden ganz in der Nähe  : Während der „Student“, der für Schrift, Planung, Abstraktion steht, in einem Korb ein „Skript“ sucht, schaut der „Zwerg“, der Vergleiche zieht „zwischen grün und grün“, durch eine Luke „halb über die Stadt“. Sein Blick schweift über den „von Gärten überzogenen“ dritten Bezirk, der bei Aichinger immer der von Grün beherrschte Bezirk des ‚Zwischen‘ ist. Er sieht die grüne „Kuppel des Schlosses“  : das Belvedere, den „Turm der Polnischen Kirche“  : die polnische Kirche der Resurrektionisten zu Ehren des gekreuzigten Heilands am Rennweg, einen „Zwiebelturm“  : die russisch-ortho­doxe Kirche an der Jaurèsgasse, und die „Wipfel um das Waffenarsenal“, wo sich die Gärten jenseits des Gürtels stadtauswärts fortsetzen. Dies ist die Aussicht von den Häusern an der Prinz-Eugen-Straße, die westlich des Belvedere der Mauer des Schwarzenberggartens entlang hochführt. In der dazu entgegengesetzten Richtung befindet sich die „Technik“, wo der Student studiert und deren Dachpatina der Zwerg ebenfalls sieht  : Das Hauptgebäude der Technischen Universität am Karls­platz. Vor dem klassizistischen Gebäude steht auf einem imposanten Sockel Joseph Ressel, der Erfinder der Schiffsschraube  : Von ihm dürfte sich die Figur des SchiffbauStudenten ableiten. Mit Hohe Warte (ZkS 99–102), dem zweitletzten Dialog, erfolgt der Wechsel in eine ganz andere Gegend. Hier gibt es eine „Gartenmauer“, eine „Kirchen­ mauer“, gestapelte Flaschen und vorjähriges Laub, „Villenbesitzer“, eine „Wet­ terwarte“, eine „Leihbibliothek“, ein „Polizeipräsidium“, „Sektkellereien“, „Färbereien“, „Weinberge“. Die Wiener „Hohe Warte“ befindet sich auf einem dem Wienerwald vorgelagerten Hügel im nordwestlichen Außenbezirk Döbling (19.), der von alten Weindörfern, etwas Industrie und neueren Villenquartieren geprägt und durch die Zentralanstalt für Meteorologie bekannt ist, die den öster­reichischen Wetterbericht herausgibt. Das neue Lied (ZkS 103–121), der letzte Dialog, verlässt die Wiener Topographie. Er beginnt im „Vorgarten des Gast­hauses Zur ewigen Ruh gegenüber dem Hauptfriedhof einer Provinzstadt“, wo der Wirtin der Dichter aus dem Grab „unter dem Obelisken neben der Aufbahrungs­halle“ begegnet. Die Provinzstadt in Sichtweite des „Pfennigbergs“ ist Linz  ; die „Werke“, die regelmäßig die Erde beben machen, sind die Industrieanlagen der VOEST, die 1938 als „Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten ‚Hermann Göring‘“ in Linz angesiedelt wurden, einem der größten Konzerne im Dritten Reich. Der Dichter mit „dunkelblauem Gehrock“ und „Halsbinde“, der seit „achtzig Jahren“ auf dem Friedhof liegt, ist der 1868 in Linz verstorbene Adalbert Stifter. Sein Grab mit einem Granitobelisk

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Lokalisierung von Französische Botschaft, Belvedere, Zu keiner Stunde Wien, 3. und 4. Bezirk

1a 3d

3b 1b

1c

3e

2

3a 3c

3f

1a 1b 1c 2

Französische Botschaft Kirchensäule: Karlskirche Brunnen im Park: Hochstrahlbrunnen Schloss Belvedere

3a 3b 3c 3d 3e

Dachboden: Prinz-Eugen-Straße 3f Waffenarsenal: Arsenal Technik: Technische Universität, Karlsplatz Kuppel des Schlosses: Belvedere Turm der Polnischen Kirche: Polnische Kirche am Rennweg Zwiebelturm: Russisch-Orthodoxe Kirche, Jaurèsgasse

Karte: Karl Baedeker: Wien und Bundapest. Handbuch mit 8 Karten, 8 Plänen und 19 Grundrissen. Leipzig 1931

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ist auf dem Linzer St.-Bar­bara-Friedhof zu finden, an dessen Seite bis heute das Gasthaus „Zur ewigen Ruh“ steht. Die Dialoge sind in den Gegenden lokalisiert, in denen sich Aichingers Leben in den ersten Nachkriegsjahren abspielte  : An der Prinz-Eugen-Straße 42, Tür 16 hat Aichingers Mutter, und vorerst auch die Tochter, ab 1948 als Untermieterin einer Freundin gewohnt.32 In Döbling fand die Mutter 1947 nach langer Arbeits­losigkeit eine Stelle als Ärztin in einem Pflegeheim für Unheilbare, in dessen Dienstzimmer die Tochter die Erzählungen Die geöffnete Order, Das Plakat, Spie­gelgeschichte, Der Gefesselte, Rede unter dem Galgen schrieb.33 Linz ist für sie die Stadt ihres Vaters, wo dieser nach der Scheidung der Eltern bis zu seinem Tod 1957 lebte. Damit beziehen sich die Erinnerungen, die die Dialoge mit ihren Orten vergegenwärtigen, ohne sie je explizit zu machen, nicht mehr auf die Kriegsjahre, sondern auf die Nachkriegszeit – in der natürlich auch die Topographie des Terrors nach wie vor präsent ist. Diese These unterstreicht auch die veränderte Route in der Wiener Topographie  : Die Reihe der Dialoge beschreibt, wie jene der Romankapitel, einen Weg der Donau entlang vom Zentrum zur Peripherie. Dieser Weg führt aber in die entge­gengesetzte Richtung, die Donau hinauf bis nach Linz. Orte der Handlung sind die Gärten und die westliche Hälfte der Stadt, die den jüdischen Kindern und dem Roman überhaupt verbotenes Territorium waren. Der Roman ging vom defizien­ten Teil der Stadt aus, mit dem Ziel, über die Begrenzung hinweg die andere Hälfte wieder zu gewinnen. Nun ist das Wiedergewonnene der Ausgangspunkt, und es stellt sich die Frage, wie dieses erhalten werden kann. Dreht sich der Roman um die Möglichkeit, Erinnerung zu gewinnen, so verlagert sich nun der Akzent zur Frage, wie Erinnerung lebendig bleibt. Thema­tisiert wird dies vor allem im ersten und letzten Dialog, die von Denkmälern und Erinnerungsstätten ausgehen – der Allegorie an der französischen Botschaft, den Triumphsäulen der Karlskirche, dem Hochstrahlbrunnen, dem Obelisken auf Stifters Grab – und danach fragen, wie diese steinerne Erinnerung und erstarrte Kunst neues Leben erhalten kann.34

32 In Aichingers persönlichem Archiv gibt es größtenteils von ihr gedrehte Super-8–Filme aus den 70er-Jahren. Auf einem dieser Filme ist die Wohnung der Mutter an der Prinz-Eugen-Straße und insbesondere auch der Ausblick aus dem Fenster festgehalten. 33 Reichensperger  : Orte, S. 239. 34 Orte der Kunst sind auch die beiden anderen titelgebenden Wiener Orte, das Belvedere und die Hohe Warte, wo Josef Hoffmann zwischen 1900 und 1911 für Freunde aus der Wiener Secession eine Künstlerkolonie baute.

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Das neue Lied, der letzte Dialog, der hier gleich noch ausführlicher betrachtet wird, ist noch aus einem weiteren Grund interessant  : Wie im Roman gibt es auch im Zyklus der Dialoge parallel zur räumlichen Bewegung einen lebenszeitlichen Bogen von der Geburt zum Tod und einen heilsgeschichtlichen von der Inkarna­tion zur Apokalypse  : Die Reihe beginnt in Französische Botschaft mit dem „Kleinen im Park“ und der Kontrafaktur auf die Verkündigungsszene und endet in Das neue Lied am Friedhof, mit dem Gespräch zwischen einer alten Wirtin und einem bereits lange Zeit toten Dichter in einem apokalyptischen Szenario, in dem alles Geschlossene aufspringt und zu fließen beginnt. Am Ende des Romans, bei der Bombardierung der Stadt, heißt es  : „Im Keller beginnen die Fässer zu rinnen, in der Hauswand sind Sprünge entstanden.“ (DgH 118) Hier sagt die Wirtin  : „Es kann leicht sein, daß etwas explodiert ist drüben. Oder daß die Erdstöß Gründe haben, von denen unsereins gar nichts ahnt.“ Worauf der Dichter antwortet  : „Die wissen dann nur die Engel am Jüngsten Tag.“ (ZkS 119) „Trompeten“ (ZkS 111) erschallen, „Feuer“ (ZkS 115) bricht aus. Ist Ellen zu Beginn „in“ einer Botschaft und unterhält sich mit dem Konsul und Gott persönlich, so spielt der erste Dialog bloß „vor“ der Botschaft, und der Gesprächspartner des Mädchens ist ein kleiner Polizist mit beschränktem Horizont. Am Ende führt der Weg weit über die Stadt und den Tod hinaus, während der alles in eins setzende Sprung in die Mitte zurück, den Ellen am Ende des Romans ohne Rücksicht auf Verluste vollzieht, ausbleibt, obwohl er durchaus erwogen wird. Damit ist die Bewegung an Anfang wie Ende aus den Mittelachsen hinaus verschoben. Ein erschütterndes Werk  : Das neue Lied. In Das neue Lied (ZkS 103– 121)35 erscheint ein verstorbener Dichter im Gasthaus „Zur ewigen Ruh“, das am Rand des Friedhofs steht, auf dem er gewöhnlich liegt. Da heftige Erdstöße die Stadt erschüttern, will die Wirtin nach ihren Enkeln schauen. Der Dichter ver­spricht, sie in der Wirtschaft zu vertreten. Dann überkommt ihn aber die Lust zu schreiben, und als zwei Gäste erscheinen – ein Mann, der bei der bevorstehenden Gedächtnisveranstaltung für den Dichter die Ansprache halten soll, mit seinem Sohn –, öffnet er nicht. Während der Dichter den Stift ansetzt zu seinem neuen und „endgültigen“ (ZkS 114) Lied, wird das Beben so stark, dass die Erde sich öffnet und die beiden Gäste aufnimmt. Als die Wirtin, die ihr Ziel in der Stadt nicht mehr erreichen konnte, zurückkommt, 35 Da dieser Dialog fast 20 Seiten umfasst, werden die Zitate im Folgenden einzeln ausgewiesen.

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beschließt der Dichter, sich ins Grab zurückzulegen, den Enkeln, den Häusern und der Stadt zuliebe. Wie er ver­schwunden ist, steigen Vater und Knabe wieder aus der Grube und der Kleine bekommt sein Himbeerwasser doch noch. Der letzte Dialog des Zyklus sprengt schon durch seinen Umfang – er ist mehr als doppelt so lang wie die anderen – und zwei zusätzliche Figuren den Rahmen der bisheri­gen. Der Titel Das neue Lied deklariert ihn als poetologischen Text. Er themati­siert, vom Stiftergrab ausgehend, die Bedingungen einer lebendigen Gedächtnis­kultur und fragt in der umgekehrten Blickrichtung nach der Möglichkeit, an die Tradition anzuschließen, Tradition zu erneuern oder gar zu vollenden. Das neue Lied geht noch einmal aus einer ‚gegenüber‘-Struktur hervor  : Als „zwischen“ den leeren Flaschen auf den Tischen des Gastgartens die Spatzen lärmen, erscheint der verstorbene Dichter über die Grenze des Todes hinweg im Gasthaus, dessen Name auf den Friedhof weist. Die Erinnerung an den Dichter und die Erinnerung des Dichters selbst sind parallel geführt. Der Dichter meint, früher sei die Erde auf dem Friedhof durchlässig gewesen für Erinnerung  : dichter Die Erde war noch anders, Frau Wirtin, die Erde  ! Krümeliger und doch haltbarer für die gespreizten Finger, fester und doch viel lockerer auf der Brust, und für den ganzen Dichter da unten eine finstere Landkarte von den hellen Feldern. Eine bessere Hilfe für die Erinnerung. (ZkS 110)

Früher war die Erde dem Dichter „eine finstere Landkarte von den hellen Fel­dern“  : Sie war lesbar und verwies ex negativo auf das nicht Anwesende. In der Gegenwart dagegen ist der Boden versiegelt wie eine Schachtel „ohne Luftloch“ (ZkS 109). Das dürfte mit der Erinnerungskultur der Lebenden zu tun haben, die dem Dichter einen Obelisken aufs Grab gestellt und sein Bild an die Wand ge­hängt haben. Wenn der „Gedächtnisverein“ zweimal im Jahr die Kränze auf dem Grab erneuert und sich zu einer „Gedächtnisfeier“ versammelt, so wird der Dichter nicht zum Leben erweckt, sondern sein Tod besiegelt  : „Der tote Dichter“ ist der Titel der Ansprache, die der Vater für die nächste Feier vorbereitet hat. Nun aber, an dem Tag Ende März, an dem der Dialog spielt, beginnt der dichte Boden gewaltsam aufzubrechen. Nicht nur die Erinnerung, sondern der Tote selbst steht aus dem Grab auf, bevor der Vater seine Rede halten

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kann  : „dichter Die werden staunen, die von der Gedächtnisfeier, die mit den frischen Blumen. Setzt sich hinter einen der Tische. Die auf Mitte Mai  ! Aber ich hätte mirs auch nicht gedacht, daß ich auf Ende März schon unsterblich werde.“ (ZkS 115) Ende März statt Mitte Mai  : die erstarrte ‚Mitte‘ soll in ein ‚Ende‘ über­führt werden, das zum Neuanfang wird. Im ersten Dialog, Franzö­ sische Botschaft, geschieht dies in aller Unschuld und wie nebenbei  : Die Säule wird zum Brunnen, die alten Propheten werden durch den „Jüngsten“ abgelöst, die Botschaft verkör­pert sich. Hier, am Ende, ist dafür ein hoher Preis zu bezahlen  : Für den Dichter bedeutet, seine Erinnerung wieder zu finden, dass er ein Werk schreiben kann, das gerade nicht von der Erinnerung lebt, „oder gar, was wir so heißen  : von der Erinnerung an die Erinnerung.“ (ZkS 114) Das Lied, „das vom gegenwärtigen Augenblick lebt“, wäre ein Werk ohne Nachträglichkeit, ohne Dif­ferenz zum Sein des Dichters und deshalb auch „das endgültige“ (ZkS 114). Es wäre das Lied „gegen die Unwissenheit“, „gegen die Traurigkeit“ und „gegen alles“ (ZkS 118). Mit dem neuen Lied meint der Dichter, im Zustand umfassen­den Bewusstseins von der anderen Seite wieder ins Paradies gelangen zu können  : „Hier also, hier soll ich meine Unschuld wiederbekommen, hier soll ich wahrhaft unsterblich werden  !“ (ZkS 115) Als der Dichter mit einer Geste zum Schreiben ansetzt, die dazu angetan ist, das Papier zu zerstören („Stoß zu  ! Er setzt die Feder wieder an.“ (ZkS 116), holt er auf seine Weise aus zu dem alles in eins setzenden Sprung durch den gesprungenen Spiegel hindurch, wie Ellen ihn in der Größeren Hoffnung zuletzt vollzieht. Doch mit dem Schreiben – „Jetzt hab ichs  ! […] Jetzt schreib ichs.“ (ZkS 118) – werden die Erdstöße noch heftiger. Die Erschütterungen kommen, wie die Wirtin meint, nicht vom „Werk“, sondern vom „Fluß“,36 Aichingers Chiffre der subjektiven Zeit. Sie kommen nicht vom Industrie-, sondern vom dichterischen Werk. Der Preis für das „neue Lied“ wäre die Zerstörung der Stadt und der Tod der Lebenden. Da besinnt sich der Dichter und legt sich ins Grab zurück. In einer gewissen Resignation  : Als die Wirtin ihn zum Bleiben überreden will, „Der Gedächtnisverein könnt auch zum Andenken an die Lebendigen zusammen­kommen – –“ (ZkS 120), winkt er ab. Weil die Lebenden nicht

36 „wirtin Ich glaube, daß es heute wieder oben vom Fluß kommt und nicht vom Werk.“ (ZkS 108) „wirtin Vielleicht liegts gar nicht an ihm, vielleicht hat das alles eine ganz andere Ursach, vielleicht kommt es vom Werk  !“ (ZkS 119)

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lebendig sind.37 Und in der Einsicht, dass es im Leben den finalen Sprung auch in der Kunst nicht gibt. Die resignative Einsicht des Dichters hat eine konkret historische Dimension und eine allgemeinere poetologische. Historisch gesehen bewegt sich die Erinne­rung in der Stadt, die Hitler als seine Heimatstadt bezeichnete und zur Industrie- und Kulturmetropole mit der größten Gemäldegalerie der Welt ausersehen hatte, auf einem besonders kontaminierten Gelände. Das „Werk“ ist hier nicht nur das Œuvre des Dichters, sondern auch der Rüstungsbetrieb der „Reichswerke Hermann Göring“. Unter dem Boden der Stadt liegt nicht nur der Nationaldichter, da sind auch die Toten des KZ Mauthausen und seiner Außenstellen. Als Aichin­ger Das neue Lied schrieb, lebte hier noch ihr Vater, der während des National­sozialismus auch das Parteiabzeichen trug.38 Bei so viel nationalsozialistischer Vergangenheit bedeutet in den 50er-Jahren kollektive wie individuelle Erinnerung eine Erschütterung, die die eigene Lebensgrundlage zerstört. Und als Poetologie gelesen  : Der neue ‚Ort‘ entsteht in der Zerstörung des Bodens des Vorhandenen. Gedenkkultur wie Anschluss an die Tradition sind nur möglich unter der Bedingung von aufbrechender Erschütterung – auch und ge­rade, wenn es sich bei dem Vorbild um Stifter handelt, den auf Totalität bedachten Dichter des „sanften Gesetzes“.39 Solches Gedenken geschieht bis zum jüngsten Tag nie ein für allemal, sondern nur in einem Prozess immer neuer Aktualisie­rungen. So bleibt auch der letzte, jenseits der Stadt und des Lebens angesiedelte Dialog in Zu keiner Stunde nur intentional auf das „neue Lied“ gerichtet und ist dieses, auch wenn der Titel das nahelegt, nicht selbst. Die Intention auf den alles in eins vereinenden Sprung bleibt erhalten. Anders als im Roman wird er aber innerhalb des Textes nicht mehr als bereits vollzo37 „wirtin Nur da und dort ein Glas, damit sie merken, daß er sich ihresgleichen fühlt, der Herr  ! dichter Das merken sie leichter, wenn ich meine Knochen zwischen die ihren leg.“ (ZkS 121) 38 Am 13. September 1938 schreibt Aichinger ins Tagebuch  : „Heut war der Papa da. Mit Ab­ zeichen besteckt (er ist politischer Leiter) aber groß und täppisch, wie ein Bär, willensschwach wie ein Kind und doch wieder gutmütig und voll Mitleid für uns (auf das ich von jeder anderen Seite her verzichte), er hat aber geweint, wie er uns gesehen hat. (Da habe ich ihn verachtet und doch wieder lieb gehabt, weil er mir leid getan hat.)“ Tagebuch 1938–1941. Eintrag  : 13. September 1938. Zitiert nach Berbig  : „Kind sein gewesen sein“, S. 23. 39 Mit Stifter hat sich Aichinger immer wieder auseinandergesetzt, z. B. im Rundfunkfeuilleton Über Adalbert Stifter (1957). In  : Ilse Aichinger. Text + Kritik 175 (2007), S. 42–48. Und in Wei­ terlesen. Zu Adalbert Stifter (1979), KMF 93–97.

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gen dargestellt. Analog ist der Zyklus der Dialoge auf ein geschlossenes Ende hin gerichtet, bleibt aber offen.

3.5 Die literarische Gattung der Dialoge  : Spiel- oder Lesetexte  ? Sind Aichingers Dialoge Lesetexte,40 Hörspielszenen41 oder gehören sie gar auf eine Bühne  ? Die Dialoge, die Aichinger im Buchtitel als „Szenen und Dia­loge“42 und in der Rundfunknotiz als „szenische Dialoge“ (ZkS 179) bezeichnet, rufen gleichzeitig zwei Gattungskonventionen auf  : Auf der einen Seite den ein mündliches Gespräch inszenierenden, aber lesend zu rezipierenden literarisch-philosophischen Dialog, dessen Tradition in die Antike und Aufklärung zurück­reicht, in der Moderne aber als literarische Gattung marginal ist. Und auf der anderen Seite das junge, im akustischen Medium des Rundfunks inszenierte Hör­spiel, das in den 50er-Jahren seine erste Blüte erlebt. Zur Bestimmung ihrer litera­ rischen Gattung muss man sich den Dialogen von beiden Seiten nähern. Dies soll hier anhand von Französische Botschaft geschehen, dem eröffnenden Dialog, der als Stellungnahme zur Gattungsfrage gelesen werden kann. Auch wenn man es angesichts der kleinen Welt von Polizist und Dienst­ mädchen nicht vermutet, stehen Aichingers Dialoge in der Tradition des sokrati­schen Dialogs, der „die Abwicklung von Denkvorgängen veranschaulicht und in geistvoller Frage, Einwurf und Widerlegung des Gesprächspartners zur Klärung seiner Vorstellungen, Aufgabe von Vorurteilen und zur Erkenntnis führt“.43 Der literarisch-philosophische Dialog konfrontiert zwei philoso­phische Grundpositionen und bringt aus der dialektischen Kon­ stellation neues Wissen hervor. Der literarisch-philosophische Dialog ist ein Lese­dialog, er stützt sich, in Opposition gegen die autoritäre Macht mündlich 40 Von „Lesestücken“ spricht Reichensperger in der editorischen Nachbemerkung des Bandes (ZkS 175). 41 Es existieren vier Rundfunkinszenierungen von Dialogen  : Französische Botschaft. Dialog. Bayeri­ scher Rundfunk, 20. 5. 1960. Weiße Chrysanthemen. Dialog. NDR, 4. 1. 1961. Belvedere. Dialog. ORF, 1. 4. 1995 (Regie  : Klaus Gmeiner). Zu keiner Stunde. SFB, 30. 10. 2001 (Regie  : Christine Nagel). 42 In der Erstausgabe von 1957 steht der Titel noch ohne Gattungsbezeichnung, welche in der erweiterten Neuausgabe von 1980 hinzukam und dann für den Band der Werkausgabe von 1991 beibehalten wurde. 43 Fleming  : Ilse Aichinger, S. 108.

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überlie­ferter Glaubensinhalte, auf das Speichermedium der Schrift und deren objektive Untersuchbarkeit.44 Für Aichingers Dialog, in dem der Leser, nur durch implizite didaktische Impulse angeleitet, die beiden philosophischen Positionen erst durch Übersetzung des Alltagsgesprächs erschließen muss, gilt dies in noch höherem Maß. Nur wenn er in schriftlicher Form der mehrfachen Lektüre zugänglich ist, entfaltet er seine auf philosophische Erkenntnis bauende und Selbsterkenntnis befördernde Kraft. Nun enthält Aichingers Dialog aber auch Regieanweisungen zum stimmlichen Ausdruck, die ihn als Hörtext deklarieren. Ohne das Hörspiel der 50er-Jahre, ohne ihr eigenes erstes Hörspiel Knöpfe sind Aichingers szenische Dialoge nicht zu denken. Knöpfe entstand im Sommer 1953, vor und nach Aichingers Heirat mit Günter Eich, der das Hörspiel der 50er-Jahre entscheidend prägte. Die ersten szeni­schen Dialoge stammen von 1954. Insbesondere Französische Botschaft ist Knöpfe inhaltlich und sprachlich verwandt, sodass teilweise identische Sätze ge­sprochen werden  : In dem sozialkritisch akzentuierten Hörspiel müssen Mädchen in einer Fabrik so lange Knöpfe sortieren, bis sie, ihres Denkens und Wollens beraubt, selbst zu Knöpfen werden, die ihren Namen tragen, vervielfältigt und in Fächer einsortiert werden. Da alle anderen Betriebe unter einer wirtschaftlichen Krise leiden, wird ihnen die „immer“ währende Nachfrage nach den Knöpfen als besonderer Vorteil, das „Bleiben“ als Privileg dargestellt. Die Verführung zum Bleiben geschieht auch hier jeweils durch einen „Vertreter“ („Vertreter“ als Ver­käufer, aber auch als Stellvertreter der Ordnung) nach dem Muster des erotischen Dialogs. Ann, das einzige Mädchen, das sich widersetzt, tut dies mit den selben sprachlichen Strategien wie Marie in Französische Botschaft. Sie verneint („Ich wüßte nicht, weshalb. […] Ich wüßte nicht, was an mir wert zu feiern wäre.“ Au 37), lehnt ab und beharrt auf dem Gehen („Ich möchte heute nichts trinken, Bill. Ich muß gehen. […] Ich gehe jetzt.“ Au 31f.). Vergleicht man die Gestaltung des Raumes, zeigen sich jedoch signifikante Unterschiede zwischen Hörspiel und Dialog  : Das obligate Geräusch, mit dem

44 Kleihues wendet sich gegen die These, die fiktionale Mündlichkeit des Dialogs sei als nostal­ gische Rückwendung zur Unmittelbarkeit des mündlichen Gesprächs zu verstehen  : „Vielmehr beruht insbesondere die Säkularisierungstendenz der Philosophie auf einer Oralitäts­kritik zum Zwecke der Aufklärung über die fragwürdige Macht mündlich überlieferter Glaubens­inhalte einerseits und der Chance zu wissenschaftlicher Kritik an der Heiligen Schrift anderer­seits.“ Alexandra Kleihues  : Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame D’Epinay und Voltaire. Würzburg 2002, S. 42.

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in Knöpfe der Hörspielkonvention gemäß Raum und sogar Zeit aufgebaut und bezeichnet werden, gibt es im Dialog nicht. Das Geräusch hinter der Wand der Fabrik, nach dem niemand fragen darf, ist bereits im ersten Satz des Hörspiels Thema  : „Hast du es heute wieder gehört, Ann  ?“ (Au 13) Als Antipode dazu erscheint im Außenraum das natürliche Geräusch des Regens. Zur Ankün­ digung und Lokalisierung von Figuren wird das Geräusch von Schritten einge­ setzt. Stundenschläge markieren die Zeit. In Französische Botschaft ziehen auch Wolken auf, es rauscht aber kein Regen. Das Gehen spielt auch hier eine wichtige Rolle, Schritte sind aber keine zu hören. Die Regieanweisungen, die sich beim Hörspiel im Rahmen des akustisch Umsetzbaren bewegen, fehlen in der ersten Hälfte des Dialogs gänzlich, erscheinen dann im zweiten Teil in der erwarteten Weise („unsicher“, „erschrocken“) und überschreiten zuletzt, mit Maries Blick auf den Himmel, ihrem Kopfschütteln und der Rede „zu den erstarrenden Hunden“, den akustischen Bereich hin zum Körperlich-Gestischen. Am Ende steht der rein optische Auftritt des Propheten. Von der Möglichkeit des Hörspiels, „die Kontinuen von Ort und Zeit beliebig zu wechseln“,45 macht Französische Botschaft dagegen viel radikaler Gebrauch als Knöpfe. Im Hörspiel wird durch die Ge­räusche und sprachlichen Hinweise ein – aus dem Innen und Außen der Fabrik, zwei Gasthäusern und einem Verkaufsladen bestehender – Raum geschaffen, den der Hörer leicht zu einem konsistenten Zusammenhang integrieren kann. In den Dialogen werden jeweils zwei Räume übereinandergeblendet, wodurch sich zwei unter Umständen weit voneinander entfernte Personen begegnen. Heinz Schwitzke, der einflussreichste Förderer und Theoretiker des Hörspiels der 50er-Jahre, bezeichnet diesen „Vorgang des Gegeneinander- und Zusammensehens von verschiedenen Raum-, Zeit- und Wirklichkeitsebenen“46 als wesentliches Merk­mal des Hörspiels  : „eine Vorstellungswelt durchdringt mit ihrer vielleicht sogar gegensätzlichen Bedingtheit die andere.“47 Am Ende des Dialogs führt das Dienst­mädchen, ohne sich wegzubewegen, das Gespräch auf einmal an einem anderen Ort mit einem anderen Partner weiter. Auch diese Möglichkeit des Raum­wechsels durch Sprechen ist für Schwitzke eine Besonderheit des Hörspiels  : Das Wort „kann uns zwischen den verschiedenen Zeitabschnitten 45 Gerhard Prager  : Das Hörspiel in sieben Kapiteln. Verständnisse und Mißverständnisse. In  : Ak­zente 6 (1954), S. 514–523, hier S. 518. 46 Heinz Schwitzke  : Das Hörspiel  : Form und Bedeutung. In  : Merkur 15 (1961), S. 815–833, hier S. 825. 47 Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 825.

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mit der Blitzge­schwindigkeit des Gedankens hin- und hertragen, ja, in mehreren zugleich ver­weilen lassen“.48 So führt der Vergleich von Hörspiel und Dialog zu einem paradoxen Befund  : Französische Botschaft schöpft einerseits die Möglichkeiten des Hörspiels viel weiter aus als Knöpfe, das in der Raumdarstellung wie in der breiteren Darstellung und expliziteren Erklärung des Geschehens Konzessionen macht an die Anfor­derungen des Massenmediums. Anderseits ist der Dialog ohne Abstriche nicht zu inszenieren, weder als Hörspiel noch als Drama. Der szenische Dialog funktio­niert nur als Lesetext. Das Hörspiel der 50er-Jahre, wie Schwitzke es darstellt, müsste sich als litera­rische Gattung für Aichingers Poetik in besonderer Weise anbieten. Der leere Raum zu Beginn – „Die Stadt ist heut so still, als wär gar niemand drin“ (ZkS 11), sagt das Mädchen in Französische Botschaft – ist hier plausibel  : Es ist der Moment, wo eine Blende geöffnet, aber noch kein Wort gesprochen wird  : „Ein Nichts, ein akustischer Raum, der leer ist, den man aber gleichwohl mit den Ohren wahr­nehmen kann, ist da – und damit ein potentieller Raum für Stimmen und Spra­che.“49 Das Hörspiel, so Schwitzke, konfrontiert den Hörer mit sich selbst  : Das Hörspiel hat nichts Kollektives. […] Immer verweist es den einzelnen auf sich selbst und auf die Auseinandersetzung mit sich selbst. Innere Handlung, innerer Monolog, imaginärer Dialog, Dialog mit sich selber  : das sind einige Begriffe, von denen aus man die Form verstehen muß. Und von daher ist das Hörspiel denn auch als diese intensiv individualistische und als typisch modern empfundene Kunstgattung zu verstehen.50

Es lebt durch das gesprochene Wort, das auf der „inneren Bühne“ der Vorstellung des Hörers Welt schafft,51 und erlaubt die direkte Ansprache des Hörers,52 wie Eich sie 1951 im Hörspiel Träume etabliert  : „Sieh, was es gibt  : Gefängnis und Folterung, Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt.“53 48 Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 819. 49 Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 824. 50 Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 829. 51 „Der Anruf des dichterischen Worts bringt in unserer Phantasie Welten und Wirklichkeiten her­ vor.“ Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 819. 52 „Es ist ein Unterschied, ob jemand über die Rampe des Theaters hinweg angesprochen wird, oder ob ein Unsichtbarer aus dem Lautsprecher das Wort an ihn richtet.“ Prager  : Das Hörspiel in sieben Kapiteln, S. 516. 53 Günter Eich  : Träume. In  : Werke, Bd. 2, S. 351.

Die literarische Gattung der Dialoge  : Spiel- oder Lesetexte  ?

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Gleichwohl nähert sich Aichinger dem Hörspiel nur zögernd. Als Ernst Schnabel, der Intendant des NWDR, ihr 1951 gegen eine monatliche Pauschale ein Hörspiel in Auftrag geben will, lehnt sie ab. 54 Knöpfe ist das einzige Hörspiel, das der Gattungskonvention des traditionellen Hörspiels folgt. Die fünf weiteren Hörspiele entstanden in den 60er- und 70er-Jahren, als das „neue Hörspiel“ die Gattung umdefinierte. Es ist die Unmittelbarkeit, welche das Hörspiel suggeriert und Schwitzke emphatisch betont, die Aichinger problematisch erscheint, denn sie glaubt nicht an die magische Zeugungskraft der technisch reproduzierten Stim­men. Schon in Die größere Hoffnung stellt sie die – im Dienst der Machthaber sprechende – Radiostimme als gleichgeschaltete dar, die erst durch die Stimme einer anwesenden Person übersetzt werden muss, um zu jenem „fremden Sender“ zu werden, der die Zuhörer existentiell anspricht  : Aus der Tiefe dröhnte ein Lautsprecher. Der Ansager hatte soeben seine Meldung beendet. Zum Abschluß sagte er  : „Wer fremde Sender hört, ist ein Verräter, wer fremde Sender hört, verdient den Tod.“ Man hörte es bis in das allerletzte Stockwerk, es war deutlich zu verstehen. Gleich darauf setzte Musik ein, schnell und fröhlich, als gäbe es nichts Lustigeres auf der Welt  : Wer fremde Sender hört, verdient den Tod. Eine herrliche Idee, den Tod zum Verdienst zu erheben, diesen Unabschaltbaren, diesen fremdesten von allen fremden Sendern. Die Musik brach plötzlich ab. Das Verstummen wurde aufgegriffen von einer neuen Stimme. Diese Stimme war sanft und unerschütterlich. Sie schien von hoch oben zu kommen. „Wer könnte den Tod verdienen  ?“ sagte der alte Mann. „Wer verdient das Leben  ?“ (DgH 90)

Im Hörspiel Knöpfe vermeidet Aichinger die direkte Ansprache an den Hörer, der sie sich in Erzählung und Roman reichlich bediente. Dafür thematisiert sie die Problematik der Gattung in der auch selbstreferentiell zu lesenden Geschichte der Mädchen, deren Name als massenhaft produzierter Knopf in alle Welt verschickt wird, während die Bemühungen des dissidenten Paares erfolglos bleiben, die Knöpfe wieder einzusammeln, um sie in das leibliche Mädchen zurückzuver­wandeln. Stimmen, die durch technische Aufzeichnung von ihrem Körper gelöst und vervielfacht versendet werden, sind nicht leicht wieder zu verkörpern.

54 Bibliographiser Hinweis in Auckland, Au 327.

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„Aus den Orten ergibt sich, was geschieht“

Der szenische Dialog Französische Botschaft ist Aichingers Kommentar zur zeitgenössischen Hörspieltheorie  : Traumvision, Verkündigung und Inkarnation als Schöpfung durch das Wort, die zentralen Motive des Dialogs, sind eben die leitenden Bilder von Schwitzkes Theorie, die das Hörspiel theologisiert, während sie die technische Grundlage des Massenmediums weitgehend ausblendet und alle Sprachskepsis in den Wind schlägt. Durch seine Beschränkung auf Sprache und Sprechen schaffe das Hörspiel im unmittelbaren Zugang zum Rezipienten durch das Ohr, dem nächsten „Weg an die menschliche Seele“,55 Welt – wie Gottes Wort bei der Schöpfung  : Seit dem ersten Schöpfungstag, an dem Gott das erste Substantivum „Licht  !“ aussprach und damit die Realität Licht erzeugte, liegt im Wort, vor allem im gesprochenen, dieser Werde-Befehl. Der Anruf des dichterischen Worts bringt in unserer Phantasie Welten und Wirklichkeiten hervor.56

Aichingers Dialog erteilt diesem Unmittelbarkeitspathos eine Absage. Das Beispiel des Polizisten, dem im Traum der Kirchbaumeister erschienen ist, zeigt  : Befolgt der Angesprochene – der Hörer also – den eingeflüsterten Plan unreflek­tiert, so erstarrt er selbst als Teil des Kunstwerks, anstatt dass sich das Kunstwerk im Rezipienten verkörpern kann. Da unterscheidet sich das technisch reprodu­zierte gesprochene Wort für Aichinger nicht vom schriftlich festgehaltenen. Die Alternative zeigt das Beispiel des Mädchens  : Die Inkarnation der Botschaft ist auch bei einem Hörspiel höchstens auf indirektem Weg, über die Negation, möglich. Deshalb kehrt Aichinger zum Lesestück zurück, dem schriftlich-mittel­baren Text. Und gestaltet ihn so, dass er aus dieser offensichtlichen Distanz heraus auf die Unmittelbarkeit des Hörspiels hin tendiert – ähnlich wie Das Plakat als Erzählung im Prozess der Lektüre zum Drama wird. Die Schöpfung durch das gesprochene Wort, der „Werde-Befehl“, wird von Aichinger nicht vorausgesetzt, sondern als erst in Zukunft zu Verwirklichendes postuliert. „Werde grün  !“ (ZkS 45), beschwört am Ende von Belvedere der Galeriedirektor den Himmel.

55 Erwin Wickert: Die innere Bühne. In: Akzente 6 (1954), S. 505–514, hier S. 513. 56 Schwitzke  : Das Hörspiel, S. 819.

Kapitel 4

„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“ Kurzschlüsse. Wien und Kleist, Moos, Fasane

4.1 Autobiographisches Schreiben 1943–2005  : Von der ‚Hoffnung‘ zum ‚Erinnern‘ Es gibt in Aichingers Werk eine Reihe von Texten, die insofern als autobio­ graphisch zu bezeichnen sind, als sie Szenen aus ihrer Lebensgeschichte erzählen, der Kindheit und Jugend in Wien vor und während des Zweiten Weltkriegs vor allem. Die Texte blicken aus ganz unterschiedlicher zeitlicher Distanz auf diese Ereignisse  : Zuerst, im Tagebuch mit Eintragungen aus den Jahren 1943–45, ganz unmittelbar, zuletzt mit einem Abstand von 60 Jahren. Mit der Perspektive ver­ändert sich auch die zeitliche Orientierung der Texte  : Zu Beginn stehen sie unter dem Vorzeichen der nach vorne gerichteten „Hoffnung“, in den späteren Jahren dominiert das zurückblickende „Erinnern“. Das unpublizierte Tagebuch 1944/45 mit den eingelegten Tagebuchblättern aus den Jahren 1943/44, das Aichingers früheste noch vorhandenen Texte mit lite­rarischem Anspruch enthält,1 blickt ganz ohne zeitliche Distanz auf die Ereignisse der letzten Kriegsmonate und ohne Wissen um ihren Ausgang. Das präsentische „ich hoffe“ ist die Grundfigur eines Denkens, das die bedrängte Gegenwart als Anfang und Ausgangspunkt zu verstehen versucht  :

1 Im Gegensatz zum ersten im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrten Tagebuch aus dem Zeit­ raum 1938 bis 1941, das noch sehr heterogen ist, ist das Tagebuch 1944/45 „über weite Strecken geprägt von einem literarischen Gestaltungswillen, der das eigene Alltagsleben überfüh­ren will in einen literarischen Wortraum, der um einen eigenen Kunstcharakter bemüht ist.“ Berbig  : ‚Die größere Hoffnung‘ 1948, 1960 – zwei Seiten einer Medaille  ?, S. 24. Auch hat Aichinger dieses Tagebuch über alle Jahre hin aufgehoben, während sie jenes, in dem sie während der Kriegsjahre für die Zwillingsschwester in England die Ereignisse dokumentierte, später ver­nichten wollte. (Was mit dem Tagebuch, das heute unauffindbar ist, tatsächlich geschehen ist, ist unklar. Mirjam Eich berich­tet, dass das Tagebuch in ihrer Jugend im Haus in Großgmain stand. Aus einem Brief von Helga Michie an ihre Mutter geht hervor, dass es zwischen den Schwestern einen Streit gab, ob das Tagebuch der Verfasserin oder der Empfängerin gehöre.)

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

15. Jänner 1944 Es ist unausdenkbar – was ich hoffe. Davon nehme ich kein Wort zurück  ! Ich hoffe in jedem Herzen das Geheimnis – in jedem Menschen die Güte – und in jedem Gesicht das Wunder – – – – Und wenn sie auch alle in die dunklen, schmutzigen Mäntel ihrer Unerlöstheit gehüllt wären – ich möchte sie alle mit dem Zauberstab berühren – ist’s wahr  ? und alle werfen die Mäntel ab – und stehen leuchtend vor ihrem Gott  ! Denn mein Zauberstab ist strömende Liebe … Werft Eure Mäntel ab  !2

Die Hoffnung, der Zauberstab, der die Menschen und die Welt in der Verwand­lung zu sich selbst bringen soll, bleibt für Aichinger stets mit der Kriegszeit ver­bunden. Noch 1996 sagt sie  : „Der Krieg war meine glücklichste Zeit. […] Der Krieg war voller Hoffnung. Man wußte sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute nicht mehr weiß. Der Krieg hat die Dinge geklärt.“3 In der Hoffnung erfuhr Aichinger während des Krieges als junge Frau noch einmal die Einmaligkeit des Erlebens der frühen Kindheit  : „Ich erinnere mich, daß es mir außer in der frühesten Kindheit nur mehr vor dem Krieg und im Krieg gelungen ist. Damals, als die äußere Bedrängnis der inneren zu Hilfe kam und beide zusammen wie zwei Engel den Augenblick wieder in sein Recht setzten.“ (Vor der langen Zeit, KMF 21) Solche Hoffnung peilt nicht eine Zukunft an, welche die Gegenwart ablösen sollte, sondern gibt dem Augenblick sein Recht  : „In der Zeit der Verfolgung gab es kein Später. Jeder konnte jeden Augenblick von unserer Seite gerissen werden, jede Stimme war so neu und so kostbar wie die eines unerwartet Wiedergefundenen.“4 Im Raum schafft Hoffnung „Heimat“ und Orientierung, indem sie dem Subjekt einen Boden unter die Füße gibt und einen „Rahmen“, in dem die Welt erst wahrnehmbar wird  : 21. März 1943 […] Wenn ein Mensch keine Heimat hat, schwankt alles um ihn, wird kühl und verloren wie sein zitterndes Herz. Und immer kommt man zu demselben Schluß  : Die

2 Tagebuch 1944/45, Eintrag 15. Jänner (1944). 3 Aichinger im Interview mit Radisch, „Ich will verschwinden“, S. 53f. 4 Rede an die Jugend (1988). Rede zur Verleihung des „Weilheimer Literaturpreises“, 10. 5. 1988. Hrsg. v. den Deutschlehrern des Gymnasiums Weilheim. Weilheim 1988. Wieder in: Ilse Aichinger, hrsg. v. Moser, S. 20–22, hier S. 21f.

Autobiographisches Schreiben 1943–2005  : Von der ‚Hoffnung‘ zum ‚Erinnern‘

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Hoffnung ist alles, diese größere Hoffnung, die die Dinge aus dem Schwankenden hinaufreißt in die brennende Existenz des guten Willens. Wenn dann einmal aus dem Feuer dieser Hoffnung der Rahmen einer Heimat geschmiedet wird, ist er reines, leuchtendes Gold5

Die Hoffnung verortet das Subjekt im Situationsraum. Nur im Situationsraum gibt es Hoffnung. Die Erinnerung ist der Hoffnung, trotz der umgekehrten zeitlichen Orien­ tie­rung, nicht konträr. Erstens hat auch die Hoffnung, indem sie sich auf die Restitu­tion eines verlorenen Zustands richtet, eine Erinnerungsstruktur. Zweitens zielt die Erinnerung auf die Erneuerung der einst erlebten Hoffnung zu einem späteren Zeitpunkt. Eine Aufzeichnung von 1977 lautet  : „Die Erinnerung an den Augen­blick ist der Hoffnung des Augenblicks gleichzusetzen.“ (KMF 84) Erin­nerung wie Hoffnung sind an den Augenblick gebunden, wo im Raum die Zeit zugäng­lich wird. Aichingers Erinnerungsprojekt ist der Versuch, die Hoffnung in die Bedingungen der Nachkriegszeit zu übersetzen, in ein Leben mit unwieder­bring­lichen Verlusten und realen Zukunftsperspektiven  : Der Krieg ging zu Ende. Und in dem Kreis junger Leute, mit denen ich damals umging und von denen fast alle auf die eine oder andere Weise bedroht waren, gab es einige, die dieses Ende, selbst wenn es für sie rettend war, fürchteten. Vielleicht fürchteten sie das Ende der Hoffnung, die ver­drängt, überdeckt und enttäuscht werden konnte, nicht zuletzt von jedem von uns. Aber es war soweit. Wir begannen zu studieren, Berufe zu ergreifen, wir begannen mit dem Ver­such, unsere Hoffnung in Zukunft zu übersetzen. (Nach der weißen Rose, KMF 32)

Vom oben zitierten Tagebucheintrag des 15. Jänner 1944 führt ein direkter Weg zum in den ersten Nachkriegsjahren verfassten Roman Die größere Hoff­ nung  : Der Tagebucheintrag bezieht sich auf ein Weihnachtsspiel, in dem sich die Landstreicher in den „schmutzigen Mänteln ihrer Unerlöstheit“ 6 zu Königen ver­wandeln. Dieses Stück, bei dem Ilse Aichinger selbst als Jugendliche mitspielte, üben im 6. Kapitel des Romans auch die jüdischen Kinder ein. Inhaltlich steht der Roman noch ganz unter dem Vorzeichen der Hoffnung. Er nennt sie im Titel und in der Überschrift des ersten und letzten Kapitels, 5 Tagebuchblätter 1943/44, Eintrag 21. März 1943. 6 Tagebuch 1944/45, Eintrag 15. Jänner 1944.

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

Die große Hoffnung, Die grö­ßere Hoffnung. Seine Handlung erörtert diese Hoffnung unter der Bedingung von Verfolgung und Krieg. Formal aber markiert er eine mehrfache Distanz zu den Ereignissen, entsprechend dem zeitlichen Abstand seiner Entstehung zum darge­stellten Geschehen, der zwar nur einige Monate beträgt, aber den entscheidenden Schnitt umfasst zwischen Krieg und Frieden, Jugend und Erwachsenenleben und eben Hoffnung und Erinnerung  : Das Geschehen, die Schauplätze und die eigene Person sind abstrahiert und stehen als Fiktion im epischen Präteritum. Das Subjekt des Tagebuchs ist hier aufgespalten in die „vom Ende her“ sprechende Erzähl­stimme und die „auf das Ende zu“ laufende Figur. Zwar hat diese Konstellation eine gewisse Verwandtschaft mit dem erzählenden und erlebenden Ich eines Ich-Erzählers, zwar haben diese beiden unübersehbare Gemeinsamkeiten mit der Autorin, doch verbindet der in der 3. Person erzählte Roman diese drei Instanzen, die das autobiographische Erzählen gleichsetzt, gerade nicht. In der Tendenz der Erzählstimme, das Vergangene im Erzählen zu vergegenwärtigen, deutet sich ein Erinnerungsmuster an. Thema wird das Erinnern aber nicht, und eine Inszenierung des Erinnerungsprozesses gibt es ebenso wenig. Die Erzählstimme des Romans spricht vom absoluten Ende her, dem Sprung in den Tod, allwissend und allbe­wusst. Bei einem Erinnerungstext aber befindet sich das erinnernde Subjekt selbst in Bewegung. Die Ebene des Erinnerns wird zum eigentlichen Schauplatz des Ge­schehens, auf welchem das Erinnerte als Versprachlichtes neu und anders er­scheint und wiederum zu weiterer Transformation bereit steht. Die erste Darstellung eines Erinnerungsvorganges gibt es in der hier betrach­teten Textreihe bei Das Plakat  : Der Mann mit der Leiter, der im Gegensatz zum Jungen auf dem Plakat wiederholt zu der existentiellen Einsicht seiner Endlichkeit kommt, wird wider Willen von der Erinnerung eingeholt  :7 „Der Mann auf der Lei­ter hatte seine Worte längst vergessen. Und wenn es einer Fliege auf dem Rücken seiner Hand eingefallen wäre, ihn daran zu erinnern, so hätte er sie abge­leugnet.“ (DG 43) Dabei erscheint das zyklische Muster der Be- und Entgrenzung als Erinnerungsvorgang, bei dem ein Vergessenes über die Markierung seiner Abwesenheit wieder Zugang zum Bewusstsein erhält. Da es sich dabei um ein existentielles Erlebnis handelt, ist die Erinnerung mit dem Erinnerten identisch. Die ersten auch als solche markierten Erinnerungen eines Ich finden sich in Kurzschlüsse. Wien. Der Text Stadtmitte beginnt mit dem Satz  : „Etwas kommt 7 Vgl. Kap. 1.3.

Autobiographisches Schreiben 1943–2005  : Von der ‚Hoffnung‘ zum ‚Erinnern‘

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in den Sinn.“ (KW 11), Landstraße mit  : „Wenn ich das Kuvert mit der alten Schrift in die Hand nehme, werde ich an die Unzulänglichkeit einer Gasse im dritten Bezirk erinnert, die unverständlicher ist als das Vollkommene.“ (KW 23) In dieser lyrisch verdichteten Kurzprosa ist nun die Ebene des Erinnerns jener des Erinnerten vorgeordnet  : Die Texte stellen nicht dar, wie ein Vergangenes sich vergegenwärtigt, sondern setzen in einer Gegenwart des Erinnerns (und Schrei­bens) an und finden von da aus Wege in die Vergangenheit. In der grammatischen Struktur der verdichteten Texte wird eine komplexe Erinnerungsdynamik sichtbar mit zwei Subjekten  : das Ich schafft durch offene Bereitschaft die Voraus­setzun­gen, auf Grund derer die Erinnerung dann selbsttätig in Gang kommt. „Die Toten müssen sich an uns erinnern, darauf kommt es an“,8 formuliert es Aichinger zugespitzt im Interview mit Esser. Erinnerung ereignet sich als Richtungs­wechsel zum Abseitigen und dem Detail, und sie reicht über das individuelle Ge­dächtnis hinaus bis in historische und mythische Vergangenheit. Wie die Texte diese Erin­nerungsdynamik gestalten, wird in Kapitel 4.2 anhand von Stadtmitte, Parkring und Landstraße analysiert. In der zeitlichen Folge der Texte kommen als nächstes die 1957 erschienenen szenischen Dialoge Zu keiner Stunde, die wiederum keine explizit autobiogra­phi­schen Texte sind, aber das Erinnern ebenfalls thematisieren. Mit der Verkündi­gungsszene und den Propheten im Eingangstext Französische Bot­ schaft und dem Gedenken an einen Dichter im letzten Text Das neue Lied wird über den Zyklus hin das Paradigma der Hoffnung in jenes der Erinnerung überführt. Zwischen 1959 und 1982 gibt es dann explizit autobiographische Prosa  : sechs über einen weiten Zeitraum entstandene, in ihrem Gestus aber einheitliche und im Band Kleist, Moos, Fasane (1987) gemeinsam veröffentlichte Erin­ne­rungstexte   : Kleist, Moos, Fasane (1959), Vor der langen Zeit (1964), Der 1. September 1939 (1969), Hilfsstelle (1966), Nach der weißen Rose (1977/78), In das Land Salzburg ziehen (1982). Drei dieser Texte, Kleist, Moos, Fasane, Hilfs­ stelle und Der 1. September 1939, werden in den Kapiteln 4.3 und 4.4 betrachtet. Während die Hoffnung als Thema immer noch viel Platz einnimmt (als Begriff aber nur noch je einmal fällt), wird das Erinnern zum dominierenden und auch reflektierten Erzählgestus. Durch die gleichzeitige Präsenz der beiden Ebenen von Erinnern und Erinnertem entstehen neue Muster der Raum- und 8 Manuel Esser  : „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. Auszug aus einem Ge­spräch mit Ilse Aichinger im Anschluss an eine Neueinspielung des Hörspiels ‚Die Schwestern Jouet‘. In  : Ilse Aichin­ ger, hrsg. v. Moser, S. 47–57, hier S. 56.

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

Zeit­gestaltung. Kleist, Moos, Fasane besteht aus drei je mit der Wendung „Ich erin­nere mich“ beginnenden Teilen  : herausgehobenen Momenten aus Kindheit und Schulzeit vor dem Krieg, die in der Erinnerung zusammenfinden. Der Text ent­wickelt das Konzept einer Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift und gerade dadurch der „Unaufhörlichkeit der frühen Zeit“ (KMF 18) gerecht wird. In Hilfs­stelle findet das erinnernde Ich über eine Baulücke, auf die es auf der Suche nach der ehemaligen Wohnung einer verstorbenen Freundin trifft, zur Erinnerung. Das Gesuchte erscheint an einem ganz anderen Ort, als es gesucht wurde. In Der 1. September 1939 beschreibt die Erinnerung in Raum und Zeit eine nahezu kontinuierliche Kreis­be­wegung, die durch diskontinuierliche Sprünge zu nahen und fernen Punkten aller Richtungen unterminiert wird. Der epochale Schritt, der sich mit den Erinnerungstexten von Kleist, Moos, Fasane vollzieht, ist der Wechsel von der erzählenden Verwandlung zum verge­genwärtigenden Erinnern. Dabei löst sich Aichinger zunehmend vom Schema von Verlust und Wiederherstellung und damit auch von der Dichotomie von Kindheit und Erwachsenenleben, Positionsraum und Situationsraum, Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Was bleibt, ist das zyklische Muster von Be- und Entgrenzung mit abwechselnd vertikaler und horizontaler Orientierung, in dem sich Erinnerung immer wieder neu und anders vergegenwärtigt. Der dialogische Prozess von Pola­risierung und überschreitender Vermittlung betrifft nun die Dynamik der Erin­nerung zwischen den beiden Zeitebenen und Orten von Erinnern und Erinnertem. Im Umschlag, der sich am Ende ereignet, bekommt das Vergangene neue Präsenz. Gesprochen wird nun nicht mehr von der absoluten Position des Endes aus, son­dern es artikuliert sich ein Ich, das zum Erinnerten in relativer Differenz steht und selbst in Bewegung ist – auch wenn es jeweils am Ende des Textes doch noch zum eigenen Tod vorläuft und aus dieser Position die Erinnerung totalisiert. Im Spätwerk dann, das nach einer langen Schreibpause im Wesentlichen zwischen 2000 und 2005 entstand und in den drei Bänden Film und Verhängnis (2001), Unglaubwürdige Reisen (2005) und Subtexte (2006) versammelt ist, er­ scheint das Schreiben als offenes, unabschließbares Erinnerungsprojekt, das in der Betrachtung und Lektüre von Filmen, Fotografien, literarischen Texten, Reise­führern und Werbeprospekten Absprungspunkte in die Erinnerung sucht. Hier wird das Erinnern zunehmend mit dem Schreiben der Texte assoziiert, mit dem der Erinnerungsprozess erst in Gang kommt. Damit wird Erinnern nicht mehr inszeniert, sondern mit zu Beginn des Textes völlig offenem Ausgang vollzogen. Die Ebene des Erinnerns nimmt im Verhältnis zum Erinnerten entsprechend viel Raum ein, ist im Extremfall, wenn der Absprung

„Die Orte, die wir sahen, sehen uns an“  : Kurzschlüsse. Wien

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in die Erinnerung nicht gelingt, gar allein präsent. Das erinnernde Ich dagegen ist in den Texten zunehmend abwesend. Bezüglich der Ermordung ihrer Angehörigen distanziert sich Aichinger hier vom Konzept der „größeren Hoffnung“, das den gewaltsamen Tod in einen selbstbestimmten Weg verwandelt, wenn sie im ersten Text schreibt  : „Es bleibt die Hoffnung, daß es Minsk war, oder die größere Hoffnung, daß sie unterwegs erschossen wurden.“ (Film und Verhängnis, FuV 20) Bezüglich des Erinnerns im Kino jedoch gibt es im Jahr 2001 mehr Hoffnung als bei Kriegsende, wie es im letzten Texts des Bandes heißt  : „Immerhin besser als vor einem halben Jahr­hundert, ohne die Hoffnung aufs Kino.“ (Der dritte Mann, FuV 202) Viel öfter als von „Hoffnung“ ist hier nun aber von „Sucht“ die Rede, präferiert Aichinger den negativ konnotierten, die Möglichkeit der Selbstbestimmung negierenden Begriff  : „Hochsee  : das ist die einzige Sucht, die meiner Sucht nach dem Kino gewachsen ist  : ein Ort ohne Heimatort.“ (Hochsee mitten in Wien, UR 49) Die Kino-Sucht und die in deren Fahrwasser entstandenen Erinnerungstexte werden im Kapitel 5 Thema sein.

4.2 „Die Orte, die wir sahen, sehen uns an“  : Kurzschlüsse. Wien Prosa oder Lyrik  ? Lyrisch verdichtete Prosa oder in Prosa gesetzte Lyrik  ? Die kurzen Texte über Orte in Wien, die im Band Kurzschlüsse versammelt sind, changieren zwischen den Gattungen. Es klingt in ihnen der hohe Ton der ins Lyri­sche tendierenden Passagen der Größeren Hoffnung nach. Es artikuliert sich ein lyrisches Ich, das dem der noch kürzeren und stärker verdichteten Gedichte von Verschenkter Rat verwandt ist, während die Präsentation in fortlaufenden Zeilen mehr den erzählerischen Gestus betont.9 Wird im Folgenden von „Prosage­dichten“ gesprochen, so soll damit dieser Zwischenstatus bezeichnet werden. Den Titel Kurzschlüsse. Wien setzte Ilse Aichinger erst 2001 über ihre 1953/1954 entstandenen Texte, als diese gesammelt in Buchform erschienen. Der Arbeitstitel war Maulwürfe. Bei der Erstveröffentlichung setzte Aichinger, von der ländlichen Metapher zum städtischen Bildbereich wechselnd,

9 Wie viel die Art der Präsentation ausmacht, sieht man an dem Text Gonzagagasse, der mit dem gleichen Wortlaut in Kurzschlüsse in fortlaufenden Zeilen steht (KW 16) und in Verschenkter Rat in Versen (VR 58).

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

den Titel Stra­ßen und Plätze.10 Die drei Titel heben unterschiedliche Aspekte der Texte hervor  : Straßen und Plätze betont die städtische Topographie, die durch die einzelnen Titel spezifiziert wird  : Stadtmitte, Judengasse, Philippshof, Parkring, Schwarzen­bergplatz, Rennweg, Verbindungsbahn, Landstraße, Im Werd, Bei der Roßauer­kaserne, Seegasse, Josefstadt, Nußberg, Hungerberg. Die Prosagedichte porträ­tieren und evozieren diese Orte, sind von diesen Orten her und auf diese Orte hin geschrieben. Der Titel Maulwürfe, den später Günter Eich für seine anarchische Kurzprosa verwendete,11 weist auf die Struktur des Textzyklus  : Die Hügel des Maulwurfs sind ohne sichtbare Verbindungen in der Wiese verteilt. Die Prosa­stücke fokussieren Orte der Stadt, ohne sie über ­einen Weg zu verbinden. Das immer neue, punktuelle Ansetzen der Erinnerung wirft einzelne Maulwurfshügel auf im Raum des Vergessenen. Ein elektrischer Kurzschluss ereignet sich, wenn zwischen dem Plus- und dem MinusPol e­ iner Spannungsquelle eine direkte Ver­bindung entsteht. Die Energie, die dadurch frei wird, zerstört den Stromkreis. Der Titel Kurzschlüsse verweist auf das Muster der ineinander umschlagenden Gegen­sätze und der Erfüllung in der zerstörenden Entgrenzung, das auch diesen Texten wieder zugrundeliegt. Zugleich ist er Metapher eines Bewusstseinsvorgangs  : Im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erinnerung können sich weit aus­e inan­derliegende Zeiten und Orte augenblicksweise kurzschließen. 2001, als ihr das Erinnern zum zentralen Movens und Thema des Schreibens geworden ist, setzt Aichinger diesen Titel über die frühen Texte und benennt damit dessen Anfänge. Die Kurzschlüsse sind den kurze Zeit später entstandenen szenischen Dialo­ gen Zu keiner Stunde nah verwandt. Sie sind wie jene mit Wiener Straßen und Plätzen betitelt und beziehen sich teilweise gar auf die selben Orte.12 In den

10 Zur Publikation der Prosagedichte in unterschiedlicher Zusammenstellung vgl. S. 192f. 11 In einem Interview legt Eich diesen Bezug offen  : „Das Wort ‚Maulwürfe‘ ist ein Wort aus der Familiensprache. Sie wissen ja, es gibt in jeder Familie ein gewisses Vokabular, was man außer­halb dieser Familie überhaupt nicht versteht. Dieses Wort ‚Maulwürfe‘ hat also meine Frau vor etwa zwölf, dreizehn Jahren zum erstenmal verwendet für kurze Prosastücke. Es war ganz üblich, daß wir alle kurze Prosa ‚Maulwürfe‘ nannten. Das Wort stammt von einem wirklichen Maulwurf, der vor unserm Fenster herumlief und zwar meistens über der Erde, nicht unter der Erde. Es war also ein ganz besonders auffälliges Tier, was uns angeregt hat, ihn als Symbol für unsere Produk­tionen zu wählen.“ Günter Eich  : Das Wort ‚Maulwürfe‘ ist ein Wort aus der Familiensprache (1968). Interview von Johannes Poethen. In  : Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 515–518, hier S. 515. 12 Den Bezug auf den selben Ort, verbunden mit ähnlichen Figuren und teilweise übereinstim­ menden Motiven, gibt es insbesondere in Am Kanal (KW 29) und Tauben und Wölfe (ZkS 91–98) sowie in Ende der Silbergasse (KW 46) und Hohe Warte (ZkS 99–102).

„Die Orte, die wir sahen, sehen uns an“  : Kurzschlüsse. Wien

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Dialo­gen ist die Struktur dieser Orte dramatisiert zur Begegnung zwischen meist zwei Figuren. Bei den Prosagedichten, die von einer benennenden, beschwörenden, appellierenden, fragenden, jubelnden Stimme artikuliert sind, entsteht die dialo­gische Struktur aus der Begegnung zwischen dieser Stimme und dem Ort, den sie verwandelnd vergegenwärtigt und dadurch neu erschafft. Zweimal erscheint diese Stimme, die sich sonst in einem kollektiven Plural artikuliert („wir“/„uns“) oder ganz hinter das Gesehene oder Erinnerte zurücknimmt, als „ich“, und zwar just in jenen Momenten, in denen erstmals das Erinnern thematisiert wird  : Ich weiß von den Schokoladekuchen, von der Hochzeit des Joachim und der Anna, die sie ver­gessen haben, von der Judengasse, in die der Wind weht. (Stadtmitte, KW 11) Wenn ich das Kuvert mit der alten Schrift in die Hand nehme, werde ich an die Unzulänglichkeit einer Gasse im dritten Bezirk erinnert, die unverständlicher ist als das Vollkommene. (Landstraße, KW 23)

Erstmals positioniert sich ein Ich in zeitlicher Relation zu dem zu vergegen­ wärtigenden Ort und etabliert damit die (Gegenwarts-)Ebene des Erinnerns. Wie dies geschieht, soll hier anhand von Parkring, Landstraße und Stadtmitte gezeigt werden. Die Abfolge ist entgegen der Anordnung im Buch so gewählt, weil sich daraus eine Reihe mit zunehmender Komplexität ergibt. Die Bilder stehen auf  : Parkring. Parkring ist insofern ein Erinnerungstext, als er in seinem Kern autobiographisch ist. Eine Stimme berichtet rückblickend von einem Ereignis, das anhand des Einmarsches der deutschen Truppen in Paris auf den 14. Juni 1940 datierbar ist  : PARKRING Als die Einnahme von Paris im Radio gemeldet wurde, lachten wir, weil der Kater mit einem Ruck vom Schrank sprang. Damals war der Stadtpark grün, und wir saßen einander gegenüber. Jedes Staubkorn schien wie ein Teil der Luft. Drei Stöcke tiefer war die Sprachschule, da strömte es aus und ein. Noch tiefer waren die Keller, wo die Kohle den Winter erwartete. Die Nachricht war schlecht, aber jede Weltgegend hatte noch ihre Verheißung, der Kompaß war gedeckt. Schräg gegenüber hießen alle Straßen wie Philosophen, geradeaus hießen sie wie Klöster, und nach links hinunter breiteten sich die Gärten. Die Trauer über den Brücken trug noch zur Freude bei, es war Hoffnung in der Er-

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

wartung der Furcht, die Baumwipfel waren zu berühren. Von oben gesehen fuhren die Wagen allmählich den Kreuzungen zu. Aber wer die Hoffenster öffnete, konnte die Luft gegen die graugelben Mauern hin zittern sehen. Jetzt standen die Bilder auf und begannen zu spiegeln. Jetzt, während die Rufe der Tennisspieler sich noch gleichmäßig am Himmel verteilten, erhob sich die Wüste und holte ihre Stadt. (KW 14)

In Parkring ist die Ebene des Erinnerns noch nicht etabliert. Explizit präsent ist nur das Erinnerte, das im Prozess seiner Rekapitulation eine Umdeutung er­fährt. Die drei Abschnitte folgen erneut dem Muster von ‚Anfang‘, ‚Mitte‘ und ‚Ende‘, in dem sich erst ein Raum schließt und polarisiert, dann durchlässig wird und zuletzt, im Kurzschluss der Extrempole, wieder öffnet  : Am Anfang steht eine Radiomeldung, die für die Hörer eine schlechte Nach­richt bedeutet. Dem historischen Ereignis in der Ferne korrespondieren im priva­ten Raum am Wiener Parkring der Sprung des Katers und der Sprung im Be­wusstsein der Anwesenden  : der Schreck über die Nachricht, der sich im Lachen über den Kater entlädt. Im Windschatten des fernen historischen Ereignisses ent­steht im Privaten ein geschlossener Raum, der sich vertikal bis zur drei Stock­werke tiefer liegenden Sprachschule und dem Keller erstreckt und in dem die Anwesenden einander „gegenüber“ sitzen. In der Folge wird die Wohnung am Parkring zum Mittelpunkt der Welt, durchlässig auf und verbunden mit Nähe und Ferne  : Von hier aus bestimmen sich die Himmelsrichtungen, und sie führen nicht ins Leere  : der Kompass ist „gedeckt“. In umgekehrter Richtung fahren die Wagen „allmählich den Kreuzungen zu“. Es gibt Verbindungen zu den Straßen, die nach Philosophen und Klöstern benannt sind (vom Parkring in Richtung Stadtmitte gibt es die Kant-, Fichte-, Schelling- und Hegelgasse sowie die Himmelpfort-, Weih­burg-, Johannes- und Annagasse) sowie zu Gärten und Brücken, die ebenfalls für das verbindende ‚Zwischen‘ stehen. Die Baumwipfel sind zu berühren. Die schwierige Situation wird auf ihr positives Gegenstück hin durchlässig  : „Die Trauer über den Brücken trug noch zur Freude bei, es war Hoffnung in der Er­wartung der Furcht“. Im dritten Abschnitt öffnet sich der Raum vertikal zum Himmel. Der Privatraum, der sich zu Beginn ausgekapselt hat, vereint sich wieder mit dem Außenraum. Es ist aber ein anderes Außen als zu Beginn, nicht eine militärische, sondern eine elementare „Einnahme“ findet statt  : In allseitiger zen­ tripetaler Bewegung zur Mitte hin zittert erst – im Kleinen – die Luft gegen die Mauern hin, und dann holt – umschlagend ins Große – die Wüste „ihre“ Stadt  : in Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses definiert die amorphe

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Peripherie das gestaltete Zentrum. Die Wüste bemächtigt sich der Stadt, sie zugleich (er-)füllend und auslöschend. Was hier dargestellt und zugleich vollzogen wird, ist die Verwandlung der (objektiv) schlechten Nachricht in eine sich (subjektiv) erfüllende Verheißung – eines Positionsraumes in einen neuen Situationsraum. Das Verfahren ist das selbe wie in Die größere Hoffnung, auf die Parkring sich mit dem Stadtpark, der Sprachschule, den Kreuzungen und der „Trauer über den Brücken“ motivlich und topographisch bezieht. Zur Erinnerung wird der Text durch die Sprech­ situation, die nicht wie im Roman in einen fiktionalen Rahmen eingebettet ist, sondern von einem Hier und Jetzt aus das Geschehen vergegenwärtigt, zu dem es im Verhältnis einer zeitlichen Differenz und personellen Identität steht, wie Pro­nomen und Tempus des ersten Satzes markieren  : „Als die Einnahme von Paris im Radio gemeldet wurde, lachten wir“. In der zeitlichen Gestaltung des Textes manifestiert sich die zunehmende Annäherung der beiden Ebenen, die zur Vergegenwärtigung des Vergangenen führt  : Die Temporaladverbien des ersten Abschnitts, „als“ und „damals“, markie­ren einen Schritt vom Standpunkt des Erzählens weg in die Vergangenheit. Damit werden zwei Zeitebenen voneinander abgehoben, wird dem Hier und Jetzt des Erinnerns ein Erinnertes gegenübergestellt. Das zweifache „noch“ im zweiten Abschnitt sodann („jede Weltgegend hatte noch ihre Verheißung“, „die Trauer über den Brücken trug noch zur Freude bei“) betont zwar die Kluft zur Gegen­wart, wo es die Verheißung und Freude nicht mehr gibt, verschränkt aber zugleich die beiden Zeitebenen, indem es der erinnerten Zeit die künftige Veränderung ein­schreibt. Das Temporaladverb des dritten Abschnitts ist „jetzt“  : „Jetzt standen die Bilder auf und begannen zu spiegeln. Jetzt […] erhob sich die Wüste und holte ihre Stadt.“ Es betont die augenblickliche Gegenwärtigkeit des früheren Gesche­hens, das in die Gegenwart eindringt oder in dieser neu entsteht, womit die beiden Zeit­ ebenen sich vereinen. Zugleich bleiben die Verben jedoch, auf der zeitlichen Distanz beharrend, im Präteritum. Die Kombination von deiktischem Zeitadverb und Vergangenheitstempus, die in faktischen Texten logisch unmöglich ist, kenn­zeichnet das epische Präteritum, das nicht zeitliche Distanzierung markiert, sondern Fiktionalität.13 So ist die Gegenwart, die sich in diesem Erinnerungsvor­gang einstellt, als fiktional gekennzeichnet. Die Vergegenwärtigung des früheren Geschehens geschieht im Bewusstsein, dass es sich nicht um Wirklichkeit handelt, sondern um Erinnerung als (literarische) Fiktion. 13 Käthe Hamburger  : Das epische Präteritum. In  : DVjs 27 (1953), S. 329–357.

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Der selben Dynamik der Vergegenwärtigung unterliegen die Signifikations­ beziehungen. Wenn zum Schluss „Bilder“ „aufstehen“, kann darauf rückge­ schlossen werden, dass der Text von einem Bild ausgeht  : von jenem Bild, das die Radiomeldung von den historischen Fakten vermittelt. Im Verlauf des Textes wird dem Radio, das Nachrichtenstimmen nur in Einwegkommunikation empfängt, dann die Sprachschule entgegengesetzt, in der „es“ ein- und ausströmt und Sprache nicht zur propagandistischen Informationsverbreitung missbraucht, sondern gelernt, geübt, erprobt und übersetzt wird. Wenn die Straßen wie Philo­sophen und Klöster „heißen“, ist dies hier nicht Konvention, sondern eine „Ver­heißung“  : Die Sprache wird zum Versprechen. Stehen zuletzt die Bilder auf und spiegeln, so bedeutet dies räumlich, dass sie aus der zweidimensionalen Fläche des Positionsraumes in die Dreidimensionalität des Situationsraumes wechseln. Die „Auferstehung“ konnotiert ein neues Leben nach dem Tod, die Verleben­di­gung der toten Nachricht. Beginnen die Bilder zu „spiegeln“, so wird das zeit­liche Nachher der Repräsentation ersetzt durch die Gleichzeitigkeit der Spie­gelung. Was die Spiegel zeigen und ob auf ihnen überhaupt etwas sichtbar wird, ist aller­dings nicht bekannt. So wie auch die Rufe der Tennisspieler, die sich am Himmel vereinzeln, nicht mehr bezeichnen und damit nichts und alles bedeuten. Damit endet der Erinnerungsvorgang im „Jetzt“ nicht bei der fertig gebildeten Erinne­rung, sondern, sich öffnend, im Amorphen, das alles sowohl umfasst als auch löscht und künftig neues, anderes Erinnern ermöglicht. Ein Ich, das das Verhältnis der beiden Zeitebenen stabilisiert, konstituiert der Text erst recht nicht. Er markiert nur die Position des sich erinnernden Subjekts. Diese bleibt damit auch für jene Instanz offen, die sich noch in ganz anderer Weise in der Gegenwart befindet als das sich erinnernde Ich des Textes  : den Leser. Ihm fällt die Rolle zu, das vergangene Ereignis, das nicht seiner persön­lichen Erinnerung angehört, zu vergegenwärtigen  : Während der erste Abschnitt „wir“ als Subjekt der Handlungen ausweist, ist im zweiten nicht klar, wer die Verheißung, Freude und Hoffung empfindet, von denen die Rede ist, von wem die Baumwipfel zu berühren sind und wer die Wagen von oben den Kreuzungen zufahren sieht. In der Tendenz zu inhaltlicher Kohärenz schließt man auf das selbe Subjekt wie im ersten Abschnitt, die sprachlichen Formulierungen sind aber für uns genauso offen. Der dritte Abschnitt beginnt mit dem Satz  : „Aber wer die Hoffenster öffnete, konnte die Luft gegen die graugelben Mauern hin zittern sehen.“ Zum Subjekt dieser Handlung werden wir, wenn wir, diesen Satz lesend, die Luft gegen die Mauern hin zittern sehen. Das letzte Subjekt allerdings ist die Wüste. Sie „holt“ nicht nur die Stadt, sondern

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auch das Subjekt am offenen Fenster. Wer von der Erinnerung heimgesucht wird, ist in diesem Augenblick als Person ausgelöscht, in dieser Entgrenzung aber auch ungeschieden vom Subjekt des einstigen Erlebnisses. Unverständlicher als das Vollkommene  : Landstraße. Während Parkring trotz der autobiographischen Ausgangssituation nur in seiner Struktur als Erin­ne­rung erkennbar ist, vollzieht Aichinger mit Landstraße und Stadt­ mitte die Wende zu jenem expliziten Erinnern, das nicht mehr Orte und Ereignisse umdeu­tend ver­gegenwärtigt, sondern in umgekehrter Richtung das gegenwärtig Vorge­fundene zum Ausgangspunkt nimmt, um es auf die Tiefe der Zeit hin durchlässig zu machen. Landstraße beginnt mit einer Erinnerungssituation, die alles Weitere als Erin­nertes deklariert. Die Erinnerung wird durch ein Kuvert ausgelöst, das wohl an die titelgebende Gasse adressiert oder von da abgeschickt worden ist, vor langer Zeit, wie die „alte Schrift“ nahelegt. Das Kuvert enthält die Adresse der Erinnerung  : LANDSTRASSE Wenn ich das Kuvert mit der alten Schrift in die Hand nehme, werde ich an die Unzulänglichkeit einer Gasse im dritten Bezirk erinnert, die unverständlicher ist als das Vollkommene. Wie zufällig sie vom Zollamt hinaufgeht und bei dem Gasthaus mit der grünen Aufschrift abbiegt. Alles, auch das neueröffnete Espresso mit den hellen Ledersitzen und billigen Torten, wartet vormittags und nachmittags darauf, dichter zusammengepreßt zu werden, überall ist Luft und Kühle dazwischen und nichts stimmt zueinander. Nicht weit, auf einer Gasse, die gleichläuft, wurde Mozart im Dunkeln auf den Friedhof gefahren, und in der dritten Quergasse nach unten, wo die Gleise unter den Brücken hinführen, wurden die Juden nach Polen gebracht. Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel. Die Stunden rücken lang­sam, während die Kinder im Stadtpark Pfauen und Schwäne füttern. Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf und gibt sich als Ordnung aus. Aber der grauende Tag beruft sich auf den großen Fluß mit seinen Auen, der nicht weit sein soll. (KW 23)

Der Text setzt auf der Gegenwartsebene ein mit der Handlung eines Ich. Es initiiert das Erinnern, das zur Begegnung mit dem Abwesenden führt, indem es zu einem sowohl schriftlichen als auch materiellen Zeugnis der vergangenen Zeit greift, das mit jener nicht nur durch ein abbildendes Verhältnis

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verbunden ist  : Die Adresse bezeichnet den Ort, an den der Brief befördert werden soll. Sowie das Erinnern in Gang kommt, verändert sich das Verhältnis von Ich und Erinnerung  : Im zweiten Teilsatz – „werde ich an die Unzulänglichkeit einer Gasse im dritten Bezirk erinnert“ – ist das Ich nur noch passives Subjekt, im dritten – „die unver­ständlicher ist als das Vollkommene“ – ist es nur noch indirekt präsent als jene Instanz, die den erinnerten Inhalt zu verstehen versucht. Das initiierte Erinnern vollzieht von der Gegenwartsebene aus erst einmal noch keinen Zeit-, sondern nur einen Ortswechsel. Der Text schildert im Präsens die titelgebende Gasse mit dem für die 50er-Jahre typischen „Espresso“. Die Gasse erscheint „unzulänglich“, „unverständlich“, „zufällig“, und sie bildet ein nur locker gefügtes Ganzes  : „überall ist Luft und Kühle dazwischen und nichts stimmt zueinander“. Dadurch ist sie mehr als das „Vollkommene“ interpretierbar, interpretationsbedürftig und für Erinnerung offen. Der mittlere Abschnitt dann hat eine doppelte Tempusstruktur  : Zweimal ist eine Gasse, von der im Präsens gesprochen wird, kombiniert mit einem vergan­genen, im Präteritum berichteten Ereignis  : „Nicht weit, auf einer Gasse, die gleichläuft, wurde Mozart im Dunkeln auf den Friedhof gefahren, und in der drit­ten Quergasse nach unten, wo die Gleise unter den Brücken hinführen, wurden die Juden nach Polen gebracht.“ Die Gegenwart wird mit einer Vergangenheit kon­frontiert, zu der die von Aichinger erlebten Judendeportationen ebenso ge­hören wie Mozart, der jenseits von ihrem persönlichen Horizont dem kollektiven Gedächtnis der Stadt angehört. Im weiteren Verlauf vermindert sich die Differenz zwischen den beiden Zeitebenen  : „Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel.“ Das Vögelfüttern der Kinder im Park umfasst beide in der Dauer  : „Die Stunden rücken langsam, während die Kinder im Stadtpark Pfauen und Schwäne füttern“. Der dritte Abschnitt überschreitet das System der zwei Zeitebenen auf die Zukunft und das Ende hin  : „Jede Nacht steigt neue Finsternis herauf und gibt sich als Ord­nung aus. Aber der grauende Tag beruft sich auf den großen Fluß mit seinen Auen, der nicht weit sein soll.“ Dasselbe gilt für die Stimme, die hier spricht  : Sie ist innerhalb des Systems nicht zu lokalisieren. Die Sätze sind durch die Zeit des anbrechenden Tages, durch die Geste des sich Berufens und durch die zu überprü­fende Vermutung, dass der Fluss nicht weit sei, auf die Zukunft gerichtet. Sie fordern dazu auf, jene Entgrenzung zu vollziehen, die in Parkring noch innerhalb des Textes dargestellt ist  : Jede Nacht wieder in einen Tag überzuführen, auch wenn dieser mit „Grauen“ verbunden ist, und die „Ordnung“, welche die Topo­graphie geschaffen hat, in den „großen Fluss“. Es ist die Aufforderung zur

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Wie­derholung und Vollendung des Erinnerns, womit auch hier die Aufgabe der Ver­gegenwärtigung zuletzt an den Leser weitergegeben wird. Es geht um ein Erinnern, das nicht auf Rekonstruktion und Konservierung aus ist, sondern das scheinbar Gege­bene immer wieder der Zeit ausliefert und damit auf das noch unbekannte Andere hin öffnet. Mit der Thematisierung des Erinnerns wird die Wiener Topographie zur Metapher und Materialisierung des Gedächtnisses. In diesem sind die irreversibel vergangenen Zeiten in räumlicher Gleichzeitigkeit zugänglich, „zusammenge­presst“, wie die Dinge es im ersten Abschnitt erwarten. Wenn die Gasse, durch die Mozart zum Friedhof St. Marx am äußeren Rand des Bezirks gefahren wurde, „nicht weit“ ist, dann ist seither auch „nicht viel“ Zeit vergangen. Und was sich in den „quer“ und „gleich laufenden“ Gassen abspielt, ist durch gedankliche Asso­ziation verbunden. Wenn sowohl Mozart als auch die Juden in dunkler Zeit auf den zur östlichen Peripherie der Stadt führenden Straßen zu einem anonymen Grab gefahren wurden, dann ist nicht auszuschließen, dass auch jene unverständ­liche Gasse dereinst dahin führen wird, die heute so zu­fällig „vom Zollamt hinaufgeht“ und dann „abbiegt“  : das eigene Leben. Was die drei Ereignisse verbindet, ist ihre Ausrichtung auf den Tod. In der Ordnung und Logik der Erin­nerung gehören sie damit zusammen und werden im Moment der Entgrenzung identisch. Das Erinnern, das das Prosagedicht Landstraße praktiziert, setzt ein Ich voraus. Der zyklischen Dynamik der Be- und Entgrenzung folgend, löst sich dieses zum Schluss auf. Damit entwickelt Aichinger ein Modell autobiogra­ phischen Schreibens, das weniger auf die Stabilisierung des Ich zielt, wie es der Gattungskonvention entspricht,14 als auf dessen Verschwinden. Eine Stiege, mit Gras bewachsen  : Stadtmitte. In Stadtmitte, dem pro­ gram­­­matischen Eröffnungstext von Kurzschlüsse. Wien, fällt das Wort „erinnern“ nicht, aber „vergessen“. Vergessen ist nicht nur das Gegenteil des Erinnerns, sondern auch seine Voraussetzung. Nur im dialektischen Widerspiel mit dem Vergessen kann Erinnerung sich immer wieder erneuern.15 Im Inhalt der selbstrefe­rentiellen Erinnerung zeigt sich die Dynamik des Erinnerns. Der 14 Zu Aichingers Auseinandersetzung mit der Gattungskonvention der Autobiographie vgl. Kap. 5.5 Die Feuilletons als Buch  : Autobiographie ohne Ich. 15 Zur Dialektik von Erinnern und Vergessen bei Aichinger vgl. auch Barbara Thums  : Poetik des Vergessens. In  : „Was wir einsetzen können ist Nüchternheit.“ Zum Werk Ilse Aichingers. Hrsg. v. Britta Herrmann und Barbara Thums. Würzburg 2001, S. 108–123.

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abge­setzte Schlusssatz bringt die Beziehung von Stadt, Wahrnehmung und Erinnerung verallgemeinernd auf den Punkt. STADTMITTE Etwas kommt in den Sinn. Jagt nicht und biegt nicht ein wie Wagen, die vom Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst, hat Knopfgeschäfte und Kaffee­häuser in sich, öffnet und verbirgt vieles, zeigt die Schaufenster und alles, was vorne liegt, und läßt die Magazine im Dunkel. Ich weiß von den Schokoladekuchen, von der Hochzeit des Joachim und der Anna, die sie verges­sen haben, von der Judengasse, in die der Wind weht. So hilft uns der Himmel. Laßt doch die Sonne ruhig matter werden  ! Es gibt Wolle und Schuhe zu kaufen in den Seitengas­sen. Und eine Stiege, mit Gras bewachsen, führt hinunter. Die Orte, die wir sahen, sehen uns an. (KW 11)

Die Schlusszeile nimmt Bezug auf die Philosophie des Flaneurs von Franz Hessel und Walter Benjamin. „Nur was uns anschaut sehen wir“,16 schreibt Hessel in der Vorschule des Journalismus. Benjamin fundiert diese Beobachtung in Über einige Motive bei Baudelaire in einer Wahrnehmungstheorie  : Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung er­fahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.17

Wie Hessel betont Aichinger in einem Chiasmus die Gegenseitigkeit des Verhält­nisses von Betrachter und Gegenstand. In der längeren Ausführung von Benjamin wird deutlich, dass dabei Subjekt und Objekt der Wahrnehmung nicht einfach die Rollen tauschen. Die Erscheinung wird durch das wahrnehmende Subjekt mit dem Vermögen „belehnt“, den Blick aufzuschlagen. Bei Aichinger „sehen“ die Orte nicht, sondern sie „sehen uns an“  : Wir haben den Eindruck, angeblickt zu werden. Die Orte erhalten für uns eine 16 Franz Hessel  : Vorschule des Journalismus. Ein Pariser Tagebuch. In  : Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Hartmut Vollmer und Bernd Witte. Oldenburg 1999, Bd. 2, S. 292–329, hier S. 318. 17 Walter Benjamin  : Über einige Motive bei Baudelaire. In  : Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 605–653, hier S. 646f.

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Physiognomie, ein Gesicht. Voraussetzung dafür ist eine Wahrnehmung, die die Gegenstände nicht instrumentalisiert oder auf ihren Zeichencharakter reduziert, sondern in ihrer momentanen Präsenz und Materialität als Gegenüber wahrnimmt. Der Parallelen sind noch mehr  : Auch bei Hessel und Benjamin ereignet sich diese auratische Wahrnehmung vornehmlich in Zeiten und an Orten des ‚Zwi­schen‘,18 in der Stadt der eigenen Kindheit, wo die Wege nicht in die Ferne führen, sondern in die Tiefe,19 in die Tiefe einer Vergangenheit, die mehr umfasst als das persönlich Erlebte.20 In einem Punkt aber weicht Aichingers Konzept ab  : In Relation zu Hessels Satz „Nur was uns anschaut sehen wir“ kehrt sie erstens die Reihenfolge um von ‚anschauen‘ und ‚gesehen werden‘. Und zweitens führt sie, betont durch den Tempuswechsel zwischen den unmittelbar aufeinanderfol­genden Verben „sahen“ und „sehen“, eine zeitliche Differenz ein. Aichinger ist keine Flaneurin. Das Ich, das sich in ihren Prosagedichten immer nur vorüber­gehend konstituiert, ist nicht in der Stadt unterwegs auf der Suche nach Erin­nerungen. Es sieht sich dann von den Dingen angesehen, wenn es sich unver­sehens früherer Wahrnehmungen erinnert.21 Die Kurzschlüsse kennen nicht nur im Erinnerten, sondern auch in der Gegenwart des Erinnerns keine kontinuierlichen Wege. Im Verlauf der Abschnitte 1–3 von Stadtmitte wird, während sich Erinnerung einstellt, die Dynamik dieses Erinnerns sichtbar  : Die Erinnerung ist von Anfang an der Stadt vorgeordnet, wenn der Text mit dem Satz beginnt  : „Et18 „[Hessel] geht einmal durch Paris und da sind die Conciergefrauen, die nachmittags in kühlen Hauseingängen sitzen und nähen, von denen fühlt er sich angesehen wie von seiner Amme.“ Walter Ben­jamin  : Die Wiederkehr des Flaneurs. In  : Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 194–199, hier S. 198. 19 „Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, der Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt.“ Benjamin  : Die Wiederkehr des Flaneurs, S. 194. 20 „[Die Erinnerung] geht die Straßen voran, und eine jede ist ihr abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann, als sie nicht nur des Autors eigene, private ist. Im Asphalt, über den er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz. Das Gaslicht, das auf das Pflaster herunterscheint, wirft ein zweideutiges Licht über diesen doppelten Boden. Die Stadt als mnemotechnischer Behelf des einsam Spazie­renden, sie ruft mehr herauf als dessen Kindheit und Jugend, mehr als ihre eigene Geschichte.“ Benjamin  : Die Wiederkehr des Flaneurs, S. 194. 21 Aichinger hat die Prosagedichte auch nicht in Wien geschrieben, sondern in Oberbayern, wo sie seit 1953 mit Günter Eich lebte.

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was kommt in den Sinn.“ „Sinn“ in Einzahl meint das Bewusstsein, es wird etwas erinnert. Das Wort verweist aber auch auf die Sinnlichkeit des Eindrucks, der sich, auch wenn er nicht von außen in die Sinne kommt, bis zur Intensität einer Wahrnehmung verdeutlichen kann. Das „etwas“, das in den Sinn kommt, hat großes Gewicht als erstes Wort und syntaktisches Subjekt des ganzen Abschnitts, ist aber vorerst gänzlich unbestimmt. Im Verlauf der nun folgenden vielteiligen Satzperiode spe­zifiziert es sich. Allmählich nimmt die Stadtmitte Form an und gewinnt an Präsenz  : Zuerst erscheint sie als Vergleichsbild für die Dynamik der Erinnerung  : „Jagt nicht und biegt nicht ein wie Wagen, die vom Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst“. Dann werden, unter Suspen­dierung des vergleichenden „wie“, Erinnerungsvorgang und Stadt parallel ge­führt  : „hat Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser in sich.“ Das „etwas“, das in den Sinn kommt, wird zuerst in seiner Bewegung und Wirkung bestimmt  : Es ist kein Jagen, kein Wollen, wie bei den vom Stephans­ platz in die Seitengasse biegenden Wagen, es ist nicht intentional. Stattdessen biegt es ein „wie die Straße selbst“, zugleich statisch und dynamisch, in anhal­tender Bewegung. Dass es Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser mit sich bringt, erscheint in einer städtischen Topographie unlogisch, nicht aber als Erinnerungs­dynamik. Der Weg zur Erinnerung führt vom Zentrum der Stadt in Nebengassen und um die Ecke. Erinnern ist ein Weg zum Abseitigen, zum Detail, und es er­eignet sich als Wende und Richtungswechsel. Erinnern perspektiviert  : Es öffnet und verbirgt, zeigt die Schaufenster, lässt die Magazine im Dunkeln. Es posi­tioniert das sich erinnernde Subjekt so, dass vor einem unsichtbaren Hintergrund etwas sichtbar wird. Der lange Satz des zweiten Abschnitts hängt ab vom einleitenden „Ich weiß von“. Nun verfügt das Ich, das im ersten Abschnitt bloß als Lücke erscheint („Etwas kommt mir in den Sinn“, müsste der Eingangssatz korrekt und erwar­tungsgemäß lauten), über ein Stück Erinnerung. Das Ich sieht mittels der Ver­weisbeziehungen der vorgefundenen Dinge unterschiedliche Orte und Zeiten zusammen  : In der Topographie führt der Weg vom Stephansplatz in nördlicher Richtung erst zum Hohen Markt, wo der barocke Vermählungsbrunnen steht, der in Wirklichkeit allerdings nicht die Hochzeit des Joachim und der Anna darstellt, sondern jene von Maria und Joseph. Dann geht es in die Judengasse, in die tat­sächlich oft der Wind weht, da die Geländestufe, in der sie endet, seit 1945 unver­baut ist, und zuletzt zur Stiege, die über diese Stufe hinunterführt. In der zeitlichen Dimension führt der Weg in die Kriegsjahre, aber auch in ferne historische Ver­gangenheit und mythische Vorzeit  :

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Der berühmteste „Schokoladekuchen“, die Sachertorte, bewahrt den Duft der k. u. k.-Zeit. Der Vermählungsbrunnen reicht in mehrere Zeitschichten. „Vergessen“ wurde er historisch insofern, als er bei den Bombardierungen am Ende des Zweiten Weltkriegs als einziges Bauwerk auf dem Hohen Markt nicht zerstört wurde – und also durch das Vergessenwerden erhalten blieb. Errichtet wurde das Monument 1706, nachdem Josef I. heil aus dem Spani­schen Erbfolgekrieg zurückgekehrt war. Mit der Darstellung der Hochzeit von Maria und Josef stellt es einen Bezug her von der Habsburger-Dynastie zur Hei­ligen Familie. Die Judengasse weist noch weiter in die mythische Zeit zurück  : ins Alte Testament. Ihren Namen bekam sie 1862, in einer Zeit relativer Duldung, nach den in der Straße ansässigen jüdischen Händlern. In der Gegenwart steht der Name für deren Abwesenheit. Zu welchem Ziel führen dieser Weg und diese Erinnerung  ? Das Ziel in der Wiener Topographie lässt der Text offen. Die Treppe führt nur „hinunter“. Aichinger und der wienkundige Leser wissen allerdings, wohin die Treppe führt  : zum Morzinplatz, dem ehemaligen Hauptsitz der Wiener Gestapo, und zum Kanal. Das Ziel ist mit dem gewaltsamen Tod assoziiert und mit der Entgrenzung im Wasser. Der Text formuliert dieses Ziel als Aufforderung und Versprechen, das wiederum auch den Leser einbezieht  : „Laßt doch die Sonne ruhig matter werden  !“ Das Sinken und Erlöschen der Sonne führt wie die hinunterführende Treppe auf das Ende zu, das es zu wagen gilt, damit ein neuer Anfang werden kann. Wenn zuletzt Gras die Steinstufen überzieht, so bedeutet dies, dass der Positionsraum der Stadt durch einen neuen Situationsraum überschrieben ist. Das Gras hat aber auch einen Bezug zur Erinnerungsthematik  : „Gras drüber wachsen lassen“ heißt Vergessen nicht nur im negativen Sinn des Verdrängens, sondern auch im positiven des Loslassens, damit sich Erinnerung neu formieren kann. Mit der Entgrenzung der Erinnerung kündigt sich auch ihre Verwirklichung in neuer körperlicher Wahrnehmung an  : Auf das gedankliche „in den Sinn kommen“ zu Beginn folgt im mittleren Abschnitt das Wissen um den Schokoladekuchen, das über die Erinnerung Sinneseindrücke aktiviert. Am Ende gibt es nebst dem Gras auch Wolle und Schuhe  : am Körper zu tragende, taktil wahrnehmbare Materia­lien. Dass sie „zu kaufen“ sind, verweist bei Aichinger, wo oft Arten von Waren­tausch mit unterschiedlichen Signifikationsbeziehungen korreliert sind,22 auf die Möglichkeit, dass die Verweisbeziehungen in Anwesenheit umschlagen. 22 Im 5. Kapitel der Größeren Hoffung beispielsweise feiert Georg, für den der Stern vorerst nur

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Vom geschlossenen Zyklus zu freier Konstellierung. Ob diese einzelnen Inseln im Meer des Vergessenen sich als Textzyklus zu einer alles punktuelle Erinnern übergreifenden Bewegung zusammenfügen, darauf gibt es keine eindeutige Antwort. In Buchform sind die Prosagedichte erst 2001 er­ schienen, und da zwar mit dem Einverständnis der Autorin, aber nicht von ihr selbst komponiert, sondern von mir als Herausgeberin.23 In den Jahren 1954 und 1955 hat Aichigner sie dreimal in unterschiedlicher Auswahl und Reihenfolge in Zeitschriften und Anthologien publiziert. Bei der ersten Publikation 1954 heißt die Sammlung Straßen und Plätze 24 und umfasst fünf durch Leerzeilen getrennte Ab­schnitte ohne Titel. Am Anfang steht der Text, der später den Titel Stadtmitte trägt, gefolgt von Bei der Roßauerkaserne, Am Kanal verbunden mit Schwarzen­bergplatz, Parkring und zuletzt Hungerberg, hier noch verbunden mit Landstraße. Der Titel Straßen und Plätze betont die Tatsache, dass hier Orte im Zentrum stehen, ohne dass diese durch Benennung spezifiziert werden. Damit ist der Weg zu einer Konkretisierung der Topographie angezeigt, aber erst in Ansätzen auch vollzogen. Anfang und Ende des Zyklus markieren eine Bewegung vom Stadt­zentrum zur von Hügeln, Gärten und Wein geprägten Peripherie der Stadt  : „Hügelzüge mit Tagen verbündet, abgegrenzte Gärten mit Jahren, Weinstöcke mit Augenblicken“, beginnt Hungerberg (KW 47). Das Ende wendet sich mit Land­straße in die Stadt zurück, in den Bezirk der Kindheit, und zwar über den Weg der Erinnerung  : mit dem Kuvert mit der alten Schrift. Damit überträgt Aichinger die Erzählpoetik der Größeren Hoffnung in die Erinnerungspoetik der Prosagedichte  : Während Ellen und mit ihr die Bewegung des Erzählens zuletzt mit der „Nach­richt“ zu den Brücken läuft, legt hier die Erinnerung den Weg zurück, der diesmal nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Distanz umfasst. An Anfang und Ende des Zyklus wird das Erinnern thematisiert mit der Darstellung eines voraussetzungslosen, unwillkürlichen ersten Erinnerns in Stadtmitte und eines bewusst initiierten, immer weiter zu wiederholenden in Landstraße.



symbolisch für den Tod steht, seinen Geburtstag mit einem geliehenen Anzug und Tischtuch. Als Ellen die Torte zu kaufen versucht, brennt sich ihr der Stern durch die Kleider hindurch in die Haut ein und wird damit mit ihrem Sein identisch. 23 In Kurzschlüsse. Wien sind die Texte nach dem Vorbild der zweiten Publikation von 1955 nach Bezirken geordnet, ergänzt durch alle weiteren mit Wiener Orten überschriebenen Prosagedichte, die bis 1970 an unterschiedlichen Orten publiziert wurden. 24 Straßen und Plätze. In  : Akzente 1 (1954), H. 3, S. 276–279.

Erinnerung in Blechkannen sammeln  : Kleist, Moos, Fasane

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Bei der zweiten Publikation 1955, wiederum unter dem Titel Straßen und Plätze,25 erwei­terte Aichinger den Zyklus auf 14 Texte, die sie jeweils mit einem Titel versah. Der Zyklus bewegt sich nun in der Reihenfolge der Bezirksnummern vom 1. zum 19. Bezirk.26 Was dabei wegfällt, ist der Sprung in die Mitte zurück  : Der letzte Text ist nun Hungerberg, während Landstraße bei den Texten zum dritten Bezirk eingereiht wird. Dies bedeutet im Vergleich mit der ersten Publikation eine Öff­nung  : Die einzelnen Texte zeigen die alles in eins setzende Gegenbewegung noch, mit der von außen her die Wüste oder das Wasser die Grenze überschreitet und aufhebt. In der übergreifenden Bewegung ist diese aber noch ausstehend. In der dritten Publikation, die ebenfalls 1955 erschien, sind unter dem Titel Döbling die Texte Hungerberg, Nußberg und Tor zu den Rothschildgärten mit den ebenfalls im 19. Bezirk lokalisierten Dialogen Ende der Silbergasse und Hohe Warte kombiniert.27 Hier wird das Potential der Texte sichtbar, sich in ganz unter­schiedlichen Konstellationen zu verbinden. In Kleist, Moos, Fasane wird dieses Prinzip zu einem wichtigen Element von Aichingers Erinnerungspoetik werden.

4.3 Erinnerung in Blechkannen sammeln  : Kleist, Moos, Fasane Kleist, Moos, Fasane von 1959 (KMF 11–18), Aichingers erste explizit auto­ biographische Prosa, ist erneut mit Namen aus der Wiener Topographie betitelt, mit drei Straßennamen. Diese sind ohne die Ergänzung „-gasse“ vorerst aber nicht als solche erkennbar. Der Titel gibt uns den Zusammenhang von „Kleist“, „Moos“ und „Fasanen“ als Rätsel auf. Der Text liefert dann eine Begründung, die in zwei unterschiedliche Richtungen weist  : […] gegen die Kleistgasse zu, die vielleicht deshalb so hieß, weil nichts darin an Kleist erinnerte oder weil niemand, der dort wohnte, etwas von ihm wußte. Und das wäre ja Grund genug. Daß Kleist mit Fasanen zusammenhing, mit Moos und

25 Straßen und Plätze. In  : Lebendige Stadt. Literarischer Almanach 1955. Hrsg. v. Amt für Kultur und Volkskunde der Stadt Wien. Wien 1955, S. 191–198. 26 Die Reihenfolge ist  : Stadtmitte (1. Bezirk), Judengasse (1.), Philippshof (1.), Parkring (1.), Schwar­ zenbergplatz (1.), Im Werd (2.), Rennweg (3.), Verbindungsbahn (3.), Landstraße (3.), Josefstadt (8.), Bei der Roßauerkaserne (9.), Seegasse (9.), Nußberg (19.), Hungerberg (19.). 27 Döbling. In  : Neue Rundschau, 66 (1955), H. 4, S. 663–666.

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mit der Bahn, wer hätte es sich träumen lassen, wenn nicht er selber und die Kinder dieser Gegend, die in der Moosgasse wohnten, in der Fasan­gasse, in der rechten und linken Bahngasse.

Als Straßennamen des dritten Wiener Bezirks bilden „Kleist“, „Moos“ und „Fasane“ zusammen mit der Bahngasse ein Karree, das die Hohlweggasse ein­ rahmt, an der sich die Wohnung von Aichingers Großmutter befand. Doch auch das traumartige Denken der Kinder und des Dichters bringt die disparaten Elemente zusammen. Das Kind wählte aus den Straßennamen jene, die es mit einer konkreten Vorstellung verband, wobei es, des Lesens noch nicht kundig, aus der nach dem Mineralogen Friedrich Mohs (1773– 1839) benannten „Mohs-“ eine – homonyme – „Moosgasse“ machte. Es nahm die Straßennamen beim Wort und verstand sie als zusammengehörig. Die Autorin betreibt das selbe Spiel mit Absicht. Sie ersetzt die Arbitrarität der Straßenbe­zeichnungen, um die sie sehr wohl weiß, durch eine negative Beziehung zwischen dem Signifiant und dem ursprünglichen Signifié  : Weil nichts an ihn erinnert, weil niemand von ihm weiß, heiße die Straße nach Kleist. Indem sie darauf hinweist, dass der Name des Dichters in dem Stadtviertel unmotiviert auftaucht, stellt sie ex negativo den Bezug zu ihm her. Damit springt die Abwesenheit in der Topographie der Stadt um zur Anwesenheit im Text. Im Assoziationsfeld des Textes gibt es für die Titelworte viele Bedeutungs­ möglichkeiten. Schmid-Bortenschlager sieht darin die Trias „Menschwelt – Pflanzen – Tiere“.28 Der Bezug auf Kleist ist sicher auch als literarische Referenz zu verstehen. Der Autor steht für eine Dichtung, die ex negativo das kindliche, paradiesische Erleben wieder aufruft, auch über den Weg der Erinnerung. In einem Brief an Adolfine von Werdeck schreibt Kleist  : „Und doch ist die Erinne­rung selbst an das Bitterste noch süß. Ja, es ist kein Unglück, das Glück verloren zu haben, das erst ist ein Unglück, sich seiner nicht mehr zu erinnern. So lange wir noch die Trümmer der Vergangenheit besuchen können, so lange hat das Leben auch immer noch eine Farbe.“29 Moos, das organische Grün, das wie im Großen die Gärten in den Zwischenräumen der Stadt

28 Sigrid Schmid-Bortenschlager  : Der Ort der Sprache. Zu Ilse Aichinger. In  : Das Schreiben der Frauen in Österreich seit 1950. Hrsg. v. der Walter-Buchebner-Gesellschaft. Wien  ; Köln 1991, S. 86–94, hier S. 88. 29 Heinrich von Kleist  : Brief an Adolfine von Werdeck, 28. (und 29.) Juli 1801. In  : Sämtli­che Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 4. Hrsg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt/M. 1997, S. 248–254, hier S. 249.

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Lokalisierung von Kleist, Moos, Fasane Wien, 3. Bezirk

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1 Hohlweggasse 1 2 Kleistgasse, Mohsgasse, Fasangasse Karte: Karl Baedeker: Wien und Bundapest. Handbuch mit 8 Karten, 8 Plänen und 19 Grundrissen. Leipzig 1931

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wächst, und die Fasane als geflügelte Wesen,30 gehören bei Aichinger wie das Erinnern zum Motivkreis des ‚Zwischen‘. Wie der Titel ist auch der nun folgende Text auf der Dreizahl aufgebaut. Er besteht aus drei durch Leerzeilen getrennten Erinnerungen, die je mit der Formel „Ich erinnere mich“ eingeleitet sind und mit der Formulierung eines Erinnerungs­konzepts enden. Abgeschlossen wird der Text durch eine kurze Coda. Die drei Teile der Erinnerung folgen noch einmal dem Schema von Präsenz, Verlust und temporärer Restitution der Kindheit. Sie sind aber alle in der Zeit vor dem Krieg lokalisiert, die Aichinger hier erstmals darstellt, und beziehen sich entsprechend nicht auf Trennung, Abschied und Tod, sondern vergegenwärtigen Glücksmo­mente, die sich über Gerüche, Geräusche, Wärme-, Licht- und Luftempfindungen eingeprägt haben. Die dritte erinnerte Szene beinhaltet selbst schon eine Erin­ne­rungssituation, wenn abends das mittägliche Beerensuchen noch einmal verge­genwärtigt wird. Der Krieg, von dem in der Coda die Rede ist, erscheint im Ver­gleich als längere Nacht, die die Erinnerung an die Kindheit in besonderem Maß befördert. Das gegenwärtige Erinnern, das der Text inszeniert, erinnert früheres Erinnern. Damit sind Vorkriegszeit, Krieg und die Jahrzehnte danach nicht mehr durch epochale Umbrüche getrennt, sondern in der zyklischen Dynamik des Erin­nerns korrespondierend verbunden. Kindheit – Schulzeit – Ferien  : drei Raumstrukturen, drei Erinnerungs-konzepte. Der erste Teil von Kleist, Moos, Fasane (KMF 11–13) erinnert die frühe Kindheit bei der Großmutter in der Hohlweggasse. Zwei Ele­ mente, ein ruhendes und ein bewegtes, prägen diesen Ort, der die Merkmale des kindlichen Situationsraumes hat, im kommunikativen Zusammenspiel wie „ein altes Liebes­paar“  : die Küche und die Verbindungsbahn. Die Küche ist der Mittel­punkt einer geborgenen Welt  : „Die Kräfte der Kindheit hielten die Welt zusam­men. Und die Küche meiner Großmutter lag mitten darinnen.“ Sie ist ein Ort des Übergangs  : „Kein Land war hier zu Ende, keine Stadt, und nicht einmal ein Bezirk. Aber die Hügel fielen nieder und die Steppe begann, ein Atemzug lief aus und ein anderer erhob sich. Wie verlassen wäre der Osten ohne den Westen gewe­sen, wie leer der Westen ohne den Osten.“ Und sie ist Ausgangspunkt  : „Die Küche kam allen Plänen entgegen, ihr Licht schmeichelte ihnen und ließ sie wachsen.“ Die Bahn, das dynamische Element („die 30 Im Prosagedicht Am Kanal, das bei einer Geflügelfarm spielt, sind die Fasane Schattenspender  : „Wo das Vordach zu Ende ist, spenden die Fasane mit den braunen Flügeln Schatten.“ (KW 29)

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Bahn bewegte alles“), ver­bindet – es handelt sich einmal mehr um die Wiener „Verbindungsbahn“ – nah und fern  : „Fuhr dann unten ein Güterzug vorbei und der Rauch drang plötzlich herein und füllte die Augen, so war es, als wäre man heimgekehrt aus vielen Erd­teilen“. Die Küche, die „quer auf die Bahnlinie zu“ läuft, verhält sich zur Bahn wie der gedehnte, herausgehobene Augenblick zum Lauf der Zeit. Die erste Erinnerung ist geprägt von der magischen Weltsicht des Kindes, in der unbelebte Gegenstände wie die „Küche“ und Abstrakta wie die „Freude“ Handlungssubjekte sind.31 Im unbewussten Situationsraum der Kindheit sind innen und außen, nah und fern ungetrennt und Ausdehnungen stimmungsab­hängig  : „An ihren guten Tagen“ setzte sich die Küche über die Bahnlinie hinaus fort „in den stillen, östlichen Himmel hinein. An ihren schlechten Tagen zog sie sich in sich selbst zurück.“ Veränderungen sind zyklisch und damit auch reversi­bel. Der erste Teil von Kleist, Moos, Fasane mündet in ein einfaches Erinnerungs­ konzept  : „Wie man sich des Lichts der Träume auch am Tage noch erinnert, erin­nere ich mich ihres Lichtes heute, wenn es mir als ein Streifen Sonne auf einem fremden Meer erscheint.“ Die äußeren Umstände haben sich ins Gegenteil ge­wendet, der ‚Anfang‘ in der Mitte wird in einem Moment des ‚Endes‘ an der Peri­pherie erinnert  : Statt im traumähnlichen Zustand der Kindheit in der heimischen Küche befindet sich das Ich erwacht an einem fremden Meer. Das Erinnern, das die gegenteiligen Zustände verbindet, funktioniert über eine einfache Analogie  : ein Sonnenstreif ruft das frühere Licht auf. Die zweite Erinnerung (KMF 13–15) bezieht sich auf die Schulzeit. Nun sind die Tage zweigeteilt in Vor- und Nachmittag, getrennt durch einen „Sprung“, der die beiden Hälften so weit auseinanderrückt, „als wären dreißig Jahre vergangen“. Vormittags werden die klassischen Schulfächer unterrichtet. Latein, wo die Texte so kriegerisch sind wie unverrückbar  : „das Feuer knisterte im Kanonenofen und verband sich mit den aufgeschlagenen Texten, mit Cäsar und Tacitus zu einer Macht, der nicht zu widersprechen und in die nicht einzudringen war.“ Nach dem Mittag folgt einmal jede Woche der Nachmittagsunterricht. „Turnen, Handarbeit oder Gesang“  : nach den starren schriftlichen Texten stimmliche Artikulation und leibliche Bewegung. Ist der Vormittag in einem strengen Stundenplan festgefügt, kennzeichnet den Nachmittag die Auflösung der Zusammenhänge  : die Welt ist „zu Welten zerfallen“, das Schulhaus „gesprungen, verloren, liebebedürftig“, von den Schülerinnen 31 Die Küche „lief quer auf die Bahnlinie zu.“ Die Freude „sammelte […] sich in der Küche“.

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fehlen immer einige. Die Konturen verschwimmen  : „Auf dem Weg die steinernen Tiere an den Portalen der alten Häuser schon in leichten Nebel gehüllt“, die Lehrer sind „ihrer Konturen nicht mehr so sicher, die Klosterfrauen verlassener, kühner, den Vögeln ähnlicher als am Vormittag.“ Im Schulhaus drin gibt es Luft von draußen  : Die Schülerinnen „brachten mit den Bällen, die sie noch in Netzen über den Schultern trugen, die Parkluft mit, die Nachmittagsluft, die Luft der Elternhäuser, sie bewegten sich freier“. „Am Vormittag war es leicht gewesen, ein Kind zu bleiben. Aber ein Kind zu werden, wie die Bibel es wollte, das war Sache des Nachmittags“  : Am Nachmit­tag entsteht der verlorene Zustand der Kindheit noch einmal, aber nur auf Zeit, aus eigenen Kräften hergestellt und mit dem Wissen um das Fehlen des Zusam­menhangs  : Einmal jede Woche Turnen, Handarbeit oder Gesang, drei Dinge, die nur, solange die Schule dauerte, zusammenhingen wie noch viel früher Kleist mit Moos und Fasanen. Es war uns wohl, als müßten wir selbst zusammenhalten, was sonst zerfiel, die zarten Grenzen unserer Welt  : Turnen, Handarbeit und Gesang.

Über das Erinnern heißt es am Ende des zweiten Teils  : „Vielleicht hat [der Nachmittag] zuletzt die Sprünge im Bild der Erinnerung geschaffen, die es uns süß machen.“ Hier kommt wieder – wie beim gesprungenen Spiegel im letzten Kapitel der Größeren Hoffnung (DgH 255) – der zweite Sinn des ‚Sprungs‘ ins Spiel  : Der Sprung als Lücke, als Riss im Zeichenträger, der den Durchgang hinter das Bild freigibt. Was die Erinnerung kostbar macht, ist nicht das sichtbare Bild, sondern dessen „Sprünge“, ist nicht, was es zeigt, sondern worauf es indirekt verweist. In die gleiche Richtung weist, was unmittelbar vor dem verallgemei­nernden Satz berichtet wird  : Gegenüber der Macht der Texte von Cäsar und Tacitus, „der nicht zu widersprechen und in die nicht einzudringen war“, er­scheint der Nachmittag „schwerer zu entziffern, zweifels- und geheimnisvoller“. Seine Lektüre führt ins Ungewisse, in den „Sprung“ hinein. Damit formuliert Aichinger das Konzept einer Gegenerinnerung, die auf die Lücken der objektiven Berichterstattung von Krieg und Politik zielt, für die die Analysen des Feldherrn und Geschichtsschreibers Tacitus stehen. Die dritte Erinnerung von Kleist, Moos, Fasane (KMF 15–17) handelt in einem zeitlichen und räumlichen Anderswo  : Die Kinder befinden sich nicht in Wien, sondern auf dem Land, „irgendwo im Oberösterreichischen“, nicht im Schulalltag, sondern in den Ferien. Sie sind vorübergehend aus dem Zug der

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Zeit ausgestiegen  : „Daß wir selber dort gefahren waren und wieder dort fahren wür­den, dachten wir nicht mehr“, heißt es in Bezug auf eine in der Nähe vorbeifah­rende Bahn. Ort der Handlung ist ein „Schlag“, eine Lichtung, in der sich der Wald nach oben öffnet  : ein vertikal orientierter Situationsraum.32 Es ist Sommer, Mittag, heiß und hell  : es ist der – existentielle – Moment des Stillstands im Zenit, der für den Moment den Charakter des Immerwährenden hat  : „Der Schlag ist heute längst zugewachsen, aber damals schien es uns, als bliebe er immer. So wie es uns im Grunde schien, daß wir immer Kinder sein würden.“ Nun befinden sich die Kinder in jenem Sprung drin, der den Tag und das Jahr zerteilt. Im dritten Teil potenziert sich das Erinnern  : Das erinnerte Beerensammeln ist gleichgesetzt mit dem Sammeln von Eindrücken, die später erinnert werden. Und das Ende der erinnerten Szene ist selbst eine Erinnerungsszene  : Nachts im Bett haben die Kinder den Tag noch einmal vor Augen. Erinnert wird nicht nur eine bestimmte Situation, sondern auch das Erinnern selbst. Entsprechend sind Dar­stellung der Erinnerung und Reflexion über das Erinnern nicht mehr getrennt. Erst sammeln sich die Eindrücke in den Beeren, die gleich einem Brennglas die räum­lichen und zeitlichen Gegensätze vereinen, in die die Welt auseinandergefallen ist, Höhe und Tiefe, Morgen und Abend  : Baumränder und Vögel hoch oben, Morgen- und Abendfarben, wir brauchten nun nicht mehr nach ihnen auszuschauen, sie hatten sich in den Beeren gesammelt und wir sammelten die Beeren, Tag und Nacht sammelten wir in die verbeulten Kannen, den Mittagsgeruch der Marktplätze tief unten, die Höhe und die Breite der leeren Schulhäuser, die Tiefe der tiefsten Stellen aller Seen im Um­kreis.

In den Milchkannen bilden die Beeren einen Schatten, der die flüchtigen Erschei­nungen bleibend aufnimmt  : kam […] einmal jemand daher, eine alte Frau mit einer Henkeltasche oder ein Mann, dessen Stock kurz aufschlug, so waren sie beim zweiten Mal Aufschauen

32 Die „Lichtung“, bei Heidegger Metapher für den grellen Augenblick des existentiellen Erlebnisses, wo kein Sinn mehr ist, nur noch die Gewissheit der beschränkten eigenen Existenz, erscheint bei Aichinger bereits in der Erzählung Die geöffnete Order (1949) als – vertikal orientierter, nach oben geöffneter – Ort der Handlung  : „Der Weg lief quer über die Lichtung und verlor sich spielerisch zwischen den Haselsträuchern.“ (DG 30) Auch Ingeborg Bachmanns Undine geht (1961) handelt in einer Lichtung.

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schon wieder verschwunden, […] und auch davon blieb der Schatten in den Kannen und wurde immer rosiger und schwerer.

Am Abend dann entsteht Erinnerung als Umkehrbild des Tages  : Die Nacht als ihr „Gegenspieler und Bewahrer“ wird zur „Hohlform“, die von der Mittagsstunde ausgefüllt wird  : Waren wir wieder zu Hause und sahen durch die dunkelgefaßten Fenster der guten Stube, in der wir schliefen, […] so war der Mittag für uns noch lange nicht vorbei, er blieb beim nächtlichen Scharren der Tiere, beim Rascheln der Blätter draußen, die die Sternbilder zu bewegen schienen, bei dem Auftappen der Katzen in den Scheunen und unten im Gras. Sie alle waren jetzt Gegen­spieler und Bewahrer der heißen, stillen Stunde, Hohlformen, die sie füllte.

Voraussetzung ist die Übersetzung der Mittagsstunde von der Zeit in den Raum der Erinnerung, wo sie in einem späteren herausgehobenen Augenblick wieder vorgefunden werden kann  : „Das Beerensuchen hatte sie aus der Zeit gehoben, schon damals mitten in den Raum der Erinnerung hinein.“ In der Erinnerung hat die Vergangenheit Dauer, wie mehrfach betont wird, wenn von „bleiben“ die Rede ist, von „bewahren“ und der „Unaufhörlichkeit der frühen Zeit“. Starr ist sie trotzdem nicht, denn sie formiert sich aus dem indiffe­renten Halbdunkel des Schattens heraus in immer neuen Varianten. Der Text the­matisiert dies in zwei Bildern  : Das erste bezieht sich auf den Schatten in den Milchkannen  : „Die Welt war darin geordnet wie auf den Tafelbildern der verlas­senen Kirchen in den Tälern, Spinnen und Heilige hatten Platz darauf, und alle vertrugen sich.“ Die friedliche Koexistenz von Heiligen und Spinnen impliziert, dass das Tafelbild keine Hierarchie bildet zwischen dem Großartigen und dem Winzigen, dem Heiligen und dem Ekligen, sowie zwischen dem Überlieferten und dessen Rezeption.33 Ohne das Original unkenntlich zu machen, bilden die Spinnen­fäden über diesem neue Verbindungen  : ein Bild auch für Aichingers lite­rarische Erinnerungsarbeit. Das spätmittelalterliche

33 Die Spinnen auf den Bildern erinnern an die Eingangsszene von Die größere Hoffnung, wo auf der Landkarte eine Fliege von Dover nach Calais krabbelt (DgH 9). Günter Eich nimmt es auf im Gedicht Ungültige Landkarte, das 1964 in der Sammlung Zu den Akten erschien  : „Meine lieben Spinnen / haben darübergewebt, / ein zweites Muster, / dem ich zustimmte, / als ich fortging“. Eich  : Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 133. Der Hinweis auf das Gedicht findet sich in  : Eleonore Frey  : Ilse Aichinger  : Ihr Spielraum. In  : Ilse Aichinger, hrsg. v. Bartsch und Melzer, S. 36–54.

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Tafelbild ist meist mit weite­ren Bildern in einem beweglichen Ensemble – des Flügelaltars beispielsweise – zu einem ikonologischen Zusammenhang konstelliert.34 Auf eine ähnliche Struktur ver­weist im Text das Bild des Mobiles oder Kaleidoskops  : „Die Beeren begannen in unseren Träumen Muster zu bilden, sie verschoben sich lautlos und ohne sich zu berühren gegeneinander, jedes Muster war ein Glück“. Wenige Elemente werden immer neu konstelliert  : So funktionieren bei Aichinger Schreiben wie Erinnern. Und jede neue Konstellation erneuert das erinnerte Glückserleben. Unabschließbare Erinnerung an die unaufhörliche Vergangenheit  : Coda. Die Reihe der drei Erinnerungen führt zu einem Ende, das den Anfang wiederholt und umkehrt  : von der hellen Großmutterküche zur Erinnerung an den hellen Tag in der dunklen Schlafstube, von der Mitte der Welt in die Mitte der Erinnerung. Die Bewegung des Erinnerns verbindet die drei Erinnerungen zu einem Ganzen, das nun statt durch die Kräfte der Kindheit durch jene des Erinnerns zusammen­gehalten wird. Der Text überschreitet und öffnet dieses Ganze mittels einer kurzen, noch einmal durch eine Leerzeile abgesetzten Coda (KMF 18), die die Erinnerungen auf die Gegenwart des Erinnerns bezieht und zum Schluss, als Konklusion aus allem Vorhergehenden und doch nur unter dem relativierenden Vorzeichen des „viel­leicht“, das Konzept einer unabschließbaren Erinnerung formuliert. „Es sind dann viele Jahre gekommen, in denen es kein Beerensuchen mehr für uns gab, keine guten Stuben und keine Hügel mehr“  : Als erstes rückt die Coda die zuvor erinnerten Szenen in die Ferne, hinter die Kriegsjahre zurück, womit rück­blickend ein anderes Licht auf das erinnerte Glück fällt. Mit dem Waffenarsenal, dem Güterzug auf der Verbindungsbahn, dem Tod der Klosterfrauen, den fehlen­den Schülerinnen, der lateinischen Kriegsherrenliteratur und den Fliegern über den Bergen sind ihm die späteren Bedrohungen schon eingeschrieben.35 Umge­kehrt wird betont, dass die Erinnerung auch dieser „viel längeren Nacht“ des Krieges standhielt  : 34 Als Triptychon erscheint nicht nur der Erinnerungstext mit dem Titel Kleist, Moos, Fasane, sondern auch der gleich betitelte Band, der seinerseits drei Teile umfasst, die in unterschiedlicher Weise autobiographisch sind  : Erst die nach der Chronologie des erinnerten Inhalts sortierten auto­biographischen Erinnerungstexte, in der Mitte die nach der Zeit ihrer Entstehung geordneten Auf­zeichnungen 1950–1985, zuletzt poetologische Texte, in denen sich Aichinger über die Beschäf­tigung mit anderen Autoren mit dem eigenen Schreiben auseinandersetzt. 35 Vgl. auch Schmid-Bortenschlager, Der Ort der Sprache, S. 88.

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Aber der Geruch der Beeren, der schon in dieser ersten Nacht durch die Ritzen der Kellertür und die hölzernen Treppen hinaufdrang, in die sich verwirrenden Gedanken hinein, die dem Schlaf vo­rangehen, hielt auch der Wirrnis und dem Schrecken einer viel längeren Nacht stand.

Wie die Nähe des Schlafes begünstigte die „Wirrnis“ jener Zeit das Erinnern. Wie die Kellerritzen dem Beerengeruch bot sie den Kindheitserinnerungen in der Tiefe der Person Zugang zum Bewusstsein. Der Krieg ermöglichte ein Erinnern, das mitten im Schrecken das Glück der Kindheit erneuerte. Im Moment, wo die Coda die Erinnerung mit der Gegenwart des Erinnerns und Schreibens verbindet, fällt das einzige Mal im Text das Wort „Hoffnung“  : „Manchmal habe ich die Hoffnung, daß [der Geruch der Beeren] auch diejenigen zuletzt umgab, die diese Nacht nicht überlebt haben. Daß die Dunkelheit, die sie nach allen Schrecken aufnahm, dem wunderbaren Schatten in den Kannen ähnlich ist.“ Es ist die Erinnerung, welche für die Überlebende die Hoffnung, die sich wie in Die größere Hoffnung auf den Tod der Deportierten bezieht, über die Jahre hin immer wieder erneuert. Die Ähnlichkeit des Schattens der Erinnerung mit der Dunkelheit des Todes verweist auf die Möglichkeit, im Erinnern den Toten nach­zufolgen. Am Schluss der Coda folgt das vierte Erinnerungskonzept  : Erinnerung begreift sich nicht zu Ende. Aber vielleicht, daß die Beeren ein geheimes Verhältnis zu ihr haben, das so offenbar und so undurchsichtig vor uns liegt wie sie selber mit dem Blau und Rot ihrer Kinderfarben, eingebettet in den warmen Schatten, in die Unaufhörlichkeit der frühen Zeit.

Am Anfang steht die Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift, am Ende die „Unaufhörlichkeit der frühen Zeit“  : Der Erinnerungsprozesses, der keinen fixen Außenstandpunkt besitzt, kann sich weder definitiv und erschöpfend ausgestalten noch reflexiv verstehen. Gerade in diesem Prozess des Zeigens und Verbergens schafft er aber auch Präsenz  : „so offenbar und so undurchsichtig“ wie zuletzt die Beeren vor uns liegen „mit dem Blau und Rot ihrer Kinderfarben“. In Kleist, Moos, Fasane entwickelt und expliziert Aichinger ihre Erinne­ rungspoetik. Sie stellt damit ein Postulat auf, das der Text selbst erst ansatzweise erfüllt. Die Dynamik des Erinnerns bekommt innerhalb des Textes nur wenig Raum, das Verhältnis von Ich und Erinnerung bleibt statisch. Dies zeigt sich ins­besondere im Vergleich mit den bereits einige Jahre früher entstandenen Kurz­schlüssen. In der Anlage ist Aichingers erster explizit autobiographi-

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scher Text den Prosagedichten vergleichbar  : Die Ebene des Erinnerns steht immer im Prä­sens, das erinnernde Ich erscheint in der ersten Person Singular. Sie tritt hervor in der Eingangsformel „Ich erinnere mich“, die während der Erinnerung wenige Male wieder aufgenommen wird mit Formulierungen wie „Heute glaube ich“ und „ich erinnere mich ihrer“. Davon deutlich abgesetzt ist die Ebene des Erin­nerten, die den Großteil des Textes ausmacht. Hier stehen die Verben in einem Vergangenheitstempus, und von der eigenen Person ist nur in Partizipialkon­struktionen ohne Subjekt die Rede, in unpersönlichen „man“-Konstruktionen und kollektiven „wir“-Formulierungen.36 Die beiden Ebenen des Erinnerns und des Er­innerten überlagern sich insofern, als das Bewusstsein des erinnernden Ich die Darstellung des Erinnerten prägt. Nicht nur im „heute glaube ich“, das die Neu­interpretation unterstreicht, sondern auch in der Spekulation über die Namen der Gasse, im Wissen über den Verlust von Zusammenhängen oder im Arrangement der Erinnerungen. In der Erinnerung wird das frühere Glück im Bewusstsein eines hoch bewussten Ich erneuert. Was in Kleist, Moos, Fasane allerdings nicht geschieht, ist die Vergegenwärtigung der Erinne­rung im Text  : Das Erinnerte bleibt im Vergangenheitstempus, grammatisch streng getrennt von dem sich erinnernden Subjekt, das über den ganzen Text hin stabil bleibt, obwohl oder gerade weil es wenig Kontur hat. Bezeichnend ist die Formel „Ich erinnere mich“ im Gegensatz zum „Etwas kommt in den Sinn“, mit dem Stadtmitte beginnt. War dort das Ich erst einmal – entgegen der korrekten Gram­matik – als aktiver Part aus dem Vorgang ausgeschlossen, ist es hier sowohl Sub­jekt als auch Medium seiner Erinnerung, die ihrerseits im ganzen Text nie zum grammati­schen Subjekt wird.

4.4 Erinnerung aus Steinen schlagen  : Hilfsstelle und Der 1. Sep­tember 1939 Nach Kleist, Moos, Fasane (1959) führt Aichinger das vorerst nur punktuell be­ triebene Erinnerungsprojekt mit Hilfsstelle (1966) und Der 1. September 1939 36 Der Wechsel von den unpersönlichen „man“- zu den kollektiven „wir“-Konstruktionen, der die eigene Person aus der Allverbundenheit herauslöst und einer Gruppe zuordnet, geschieht in der exakten Mitte des Textes, die mit der Mitte der zweiten Erinnerung identisch ist, wo in einem Sündenfall der Bewusstwerdung eine Zweiteilung der Gruppe der Schülerinnen geschieht, bei der die Externen, die den Mittag außerhalb verbracht haben, sich von den Halbinternen zu unterschei­den beginnen  : „Sie hatten das Vormittagslicht noch in den Augen, von dem wir jetzt wußten, wie zerbrechlich es war.“

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(1969) fort. Die beiden Texte, die im Umkreis der abstrakten Erzählungen von Eliza Eliza (1962–1968) entstanden, nennen im Titel einmal einen Ort und einmal ein Datum und sind in Benennung und Beschreibung von Orten und Ereignissen konkret wie kein Text zuvor. Indem darin die Ebenen von Erinnern und Erinnerung gleichermaßen präsent sind, entstehen neue Muster der Raum- und Zeit­gestaltung. Aus diesen lässt sich das Erinnerungskonzept ablesen, das den Texten zugrunde liegt und in ihnen reflektiert wird. Im Vergleich zu Kleist, Moos, Fasane fällt vor allem noch einmal eine deutliche Veränderung der Position des erinnern­den Ich auf  : Auf das konstatierende „Ich erinnere mich“ von Kleist, Moos, Fasane folgt in Hilfsstelle ein Muster des Suchens und Findens, Der 1. September 1939 relativiert die Gewissheit jeglichen Erinnerns. Erinnerung einer Lücke  : Hilfsstelle. Hilfsstelle (KMF 28–31) ist eine Erin­ nerung an die „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“, die der Erzbischof und Kardinal Theodor Innitzer gegründet hat. Dass Aichinger von dieser Hilfsstelle spricht, in der sie selbst verkehrte, nicht aber von Innitzers zwie­spältiger Rolle in seiner anfänglichen Kooperation mit dem NS-Regime, ist be­zeichnend für diese Erinnerungen, die das erfahrene Glück fokussieren – ganz im Gegensatz zu den späten Erinnerungstexten, die rückblickend manches Urteil revidieren und gegenüber Institutionen grundsätzlich skeptisch sind. Die Eingangspassage situiert uns in einer nur schwer lokalisierbaren Zeit, die zugleich ein Raum ist und sowohl in der Gegenwart lokalisiert ist („heute“) als auch der Vergangenheit angehört („das war Donners­tag“)  : Heute, das war Donnerstag. Die anderen Tage hießen gestern, vorgestern, vorvorgestern oder auch morgen, übermorgen, überübermorgen, sie teilten die alten Lasten unter sich, Vergangenheit und Zukunft, sie teilten unter sich Unsicherheit, Furcht vor Bomben und Staatspolizei, Gerüchte, Deportationsmöglichkeiten, schlechte Nachrichten. Sie waren ein finsterer Vorhang, und vielleicht wären manche von uns fortgegangen aus diesem Raum, der sich unsere Welt, unser Leben nannte, wäre nicht der blitzende Streifen gewesen, der uns das Licht hinter dem Vorhang bewies, die Möglichkeit der anderen Existenz, der Wärme, der Geborgenheit, des Spiels. Des sinnvollen und unaufhebbaren Augenblicks.

Donnerstag war der Tag, an dem die Treffen in der Hilfsstelle jeweils stattfanden. Als „heute“ markiert er den Standpunkt eines Subjekts, perspektiviert die Zeit in Vergangenheit und Zukunft, die mit je drei Tagen davor und danach die zyklische Einheit einer Woche umfasst. Dazwischen steht, von Vorhängen

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verdunkelt, die Gegenwart, aus der sich in einer dritten, räumlichen Dimension ein Licht erahnen lässt. Der zweite Abschnitt ergänzt diese zeitliche Lokalisierung durch eine topographische  : „Daß es einen Ort gab wie den Universitätsplatz oder den kleinen Anbau im zweiten Hof des erzbischöflichen Palais  : ich weiß viele, für die das der einzige, und genug, für die es der letzte Beweis dieser anderen Existenz war.“ Donnerstag, Universitätsplatz, erzbischöfliches Palais  : Das sind die Koordinaten eines Ortes, der einst aus der Zeit in den Raum des „sinnvollen und unaufhebbaren Augenblicks“ führte. Zu diesem Jahre später wieder Zugang zu finden, ist das Ziel der Erinnerung, die nun mit dem dritten Abschnitt einsetzt. Zuerst kommt die Ebene des Erinnerns ins Spiel, nicht als Gegenwart ausge­geben allerdings, sondern in eine kurz zurückliegende Vergangenheit gesetzt  : „Unlängst ging ich an einem heißen Spätsommertag durch den zweiten Bezirk.“ Erstmals geht in einem Erinnerungstext von Aichinger ein Ich auf der Suche nach einer Erinnerung durch die Stadt  : „Ich suchte in diesem Bezirk nach einer Straße, in der Straße nach einem Haus, in dem Haus nach einer Wohnung.“ Dies aber nur mit halbem Erfolg  : Die Straße ist zu finden, an Stelle der Wohnung gibt es jedoch nur eine Lücke. „Sie konnte dort gewesen sein, wo eine fast symmetrische Lücke den Durchblick noch immer freigab.“ Nicht, was einst hier war, sondern allein dessen Abwesenheit ist überdauernd. Und auch dies ohne Gewähr  : Das frisch ver­putzte Haus scheint „ohne diesen weggerissenen Teil ganz gut auszukommen“, die befragte Hausbesorgerin ist erst später hergezogen. So kommen auch dem erinnernden Ich Zweifel  : Hatten sie jemals existiert, diese Bewohner  ? […] Wo waren sie bewiesen, nicht durch Urkunden, durch Geburt und Ahnen (wie sehr man dadurch unbewiesen blieb, hatten wir erfahren), sondern lebendig und sinnvoll sich selbst und mir bewiesen, aus welchem Stein konnte ich die Funken wieder schlagen, konnte ich sie zurückholen in die Erinnerung und damit in die Gegenwart  ?

Diese Szene zitiert die Stelle aus dem 3. Kapitel der Größeren Hoffnung, wo ohne den (Arier-)„Nachweis“ die Existenz der Kinder in Frage gestellt ist  : Wer den Nachweis nicht bringen kann, ist verloren, wer den Nachweis nicht bringen kann, ist aus­geliefert. (DgH 52) Wir haben keine Toten, die uns beweisen. Unsere Großeltern sind verächtlich, unsere Urgroß­eltern bürgen nicht für uns. (DgH 55)

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Hier kommt hinzu, dass die Nachzuweisende seit 30 Jahren tot ist. Im autobiogra­phischen Erinnerungstext geht es nicht um die – amtliche wie existentielle – Verbürgung des eigenen Seins, sondern darum, der Toten in der Erinnerung neue Existenz und Gegenwart zu geben. Diesen Funken muss die Erinnernde aus dem richtigen Stein schlagen, und dieser Stein befindet sich anderswo als an deren ehemaligem Wohnort  : „Ich wußte es jetzt. Es waren wieder die beiden Türme auf dem alten Universitätsplatz, es war wieder der zweite Hof des erzbischöflichen Palais in Wien. Wo sie Hilfe und im inneren Sinn Rettung gefunden hatten, fand sie auch die Erinnerung.“ Ohne dass die Erinnernde ihren Weg durch die Stadt fortsetzt, springt die Situation um von der Ungewissheit zum Wissen, von der Lücke im zweiten Bezirk zu zwei Orten im ersten Bezirk  : den Türmen auf dem Universitätsplatz, wo sich in einem Raum oberhalb der Sakristei der Universitäts­kirche jeden Donnerstag die von der Hilfsstelle organisierte Mädchengruppe traf, und dem erzbischöflichen Palais am Stephansplatz, in dem die Hilfsstelle einge­richtet war. Die Verschwundene ist da zu finden, wo die Kinder Rettung fanden „im inneren Sinn“. Das „Innere“ der Kirche ist denn auch sein Ort  : „ein Schiff, das uns aufnahm, das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden“. Das KirchenSchiff ist ein Raum der Geborgenheit und der innerlichen Bewegung. Die Erinnerung, die sich nun im 4. Abschnitt entfaltet, konkretisiert jene Be­wegung, die im Vorspann als Gang hinter den Vorhang erschien  : Die Kirche ist ein keiner Himmelsrichtung zuzuordnender, sich in eine andere Dimension er­streckender Raum, in dem den Wegen der Jugendlichen im Gegensatz zu draußen keine Grenzen gesetzt sind  : „Nie war die Tür verschlossen, die Treppe versperrt, die uns weiterführte.“37 Die Ebene des Erinnerns tritt währenddessen in den Hinter­grund und ist nur noch im wiederholten „Ich sah uns wieder“ und „Ich hörte uns wieder“ gegenwärtig, das das Erinnerte als erneute Wahrnehmung aus­weist. 37 An dieser Stelle gibt es weitere Parallelen zum Roman: In dessen 1. Kapitel wird Ellen zum Schluss zur Kirche geführt, die ihr die Ausreise mit dem Schiff, zu der ihr das Visum fehlt, ersetzt. Hier betreten die Kinder das »Kirchenschiff«. Im 3. Kapitel wird der Weg durch den Friedhof zum Weg in jenes »heilige Land«, das in einer anderen Dimension liegt als die vier Himmelsrichtungen: „Nicht Osten und nicht Süden, nicht Norden und nicht Westen, nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Der Weg, einfach der Weg.“ (DgH 65) Hilfsstelle beschreibt die Kirche als Schiff, „das uns aufnahm, das uns in ein Land trug, wo keine Bürgschaften verlangt wurden, […] ein Land, das sich umsomehr als Heimat erwies, je fremder es vielen von uns zuerst schien. Der Westen und der Osten – unnütz, die aufzuzählen, die uns allein mit unseren Verfolgern gelassen hatten. Aber hier war ein Land.“

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Bevor die Erinnerung zu ihrem Kern gelangt, kommt im 5. Abschnitt „Gretl“ ins Bild, das Mädchen, das die Erinnernde zu Beginn vergeblich suchte. Nicht nur ihr Erscheinen und Wegbleiben in der Hilfsstelle wird sichtbar, das von der Erin­nerung umgekehrt wird, sondern auch ihre Wohnung im zweiten Bezirk  : „Von uns kommt keiner zurück. Manchmal sagte sie es fast triumphierend, wenn ich sie in der engen, immer etwas dumpfen Wohnung besuchte. Dann war es, als ver­wandelte sich diese Wohnung schon damals in die helle Lücke von später, die den Durchblick freigab.“ In der Erinnerung verwandelt sich die Enge und Dumpfheit in Weite und Helligkeit, die Wohnung in die spätere Lücke, die nun als „Durchblick“ positiv konnotiert ist. Damit geschieht in der Erinnerung eine Inversion  : Nicht nur die spätere Zeit ist durchlässig auf die frühere, sondern auch umgekehrt. Der 6. Abschnitt schließt an den 4. an, mit einer entscheidenden Änderung  : Die Wahrnehmungen der Erinnernden stehen jetzt im Präsens  : „Ich sehe uns in der halbdunklen Kapelle stehen, ich höre die Stimme wieder, die erklärte […]“. Damit ist der zeitliche Abstand zwischen dem Erzählen und der „unlängst“ unter­nommenen Suche nach der Erinnerung aufgehoben. Das frühere Erinnern verge­genwärtigt sich. Im erinnerten Geschehen ereignet sich ein analoger Prozess bei einem eigenartigen Taufritual ohne Kind im Steckkissen und ohne Taufgesell­schaft. Die Textstelle zitiert zwei Szenen aus Die größere Hoffnung  : Das Weih­nachtsspiel mit dem leeren Bündel im Kapitel Das große Spiel und Ellens Taufe der Großmutter im Moment von deren Tod in Der Tod der Großmutter. In einer sinnleeren Welt wird in einem performativen Ritual in der Sprache und mit­tels Sprache Abwesenheit in Anwesenheit und Tod in Leben verwandelt  : Die vertrauten Bilder waren dahin. Aber die Kerzen brannten und die Stimme von vorhin sagte jetzt die alten Worte, als sagte sie sie zum ersten Mal. Mit dem neuen Namen hob sie das Märchen auf. Keine Enten, die über die östlichen Flüsse trugen, Minsk, Lodz oder Riga, keine Orte für Vaterhäuser. Aber es war nicht mehr nötig, aus den Wäldern heimzufinden, die Wälder selbst führten heim. Die Finsternis war verwandelt worden.

In der rituellen Wiederholung werden die althergebrachten, aber fremd gewor­denen Worte neu und einmalig. Benannt wird hier kein Kind, getauft werden Orte  : Minsk, Lodz, Riga, Zielorte von Deportationen, Orte des Todes. Sie werden ver­wandelt, aber nicht wie im Märchen, wo zuletzt die Ordnung, deren Störung die Handlung in Gang setzte, wiederhergestellt wird. Wenn keine Enten über die östlichen Flüsse tragen, dann werden die Toten nicht

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wieder lebendig. Dafür führen die Wälder selbst heim  : Der Tod ist der Ort des neuen Lebens. Die rituelle Erneuerung geschieht durch eine körperlose Stimme  : „nie war die Stimme ungeduldig, die uns empfing“ steht im 4. Abschnitt, „ich höre die Stimme wieder, die erklärte, was ein Taufpate hier zu tun hätte“ und „die Stimme von vorhin sagte jetzt die alten Worte, als sagte sie sie zum ersten Mal“, heißt es hier. Die Stimme, die „das Kontinuum der Zeit durchschlägt und im Topos des Gesprächs die Vorstellung einer Unmittelbarkeit zur Vergangenheit evo­ziert“,38 ist das Medium, in dem die Toten überleben und Vergangenheit andauert. Um erklingen zu können, muss sie sich in einer erinnernden Person verkörpern. Im dargestellten Erinnern geschieht dies, wenn das erinnernde Ich betont  : „ich höre wieder“. Bezüglich des Textes geschieht es, wenn sich dieses Hören auch bei einem Leser einstellt. Damit überträgt Aichinger hier auch ihr Konzept eines Schrei­bens, das darauf zielt, in Mündlichkeit umzuschlagen, in die Erinnerungspoetik. Neben dem akustischen Erinnern – „ich höre wieder“ – schafft auch das visu­elle – „ich sehe“ – Kontinuität  : „Diese Art zu fragen, ist manchen von uns geblie­ben. Wenn sie sich zu verlieren droht, kommen uns die Bilder von damals zu Hilfe.“ Mit diesen Bildern verändert sich im 7. Abschnitt das Verhältnis zwischen Erinnern und Erinnertem noch einmal  : Erst hat das erinnernde Ich die Vergangen­heit wiedererweckt, nun kommen die Bilder von damals der Gegenwart zu Hilfe. Die erinnerte Vergangenheit wirkt in der Gegenwart, die auf die Erinnerung an­gewiesen ist, damit sie eine Zukunft hat. Diese Zukunft, die bis zum eigenen Tod reicht, öffnet sich dem Erinnern im letzten Abschnitt  : Aber bis zuletzt werden wir Dächer und Türme der Hilfsstelle von damals über uns fühlen, werden die Helfer von damals schützend in unseren Türen stehen, um die Schrecken abzuwenden oder wo das unmöglich ist, sie zu teilen. Bis zuletzt werden uns die Stimmen von damals glaubwürdig ver­sichern, daß uns nichts geschehen kann.

Im Moment des Sterbens, der genauso dem Raum der Erinnerung angehört wie die existentiellen Momente der Vergangenheit, werden die Stimmen noch einmal erklingen  : Bei diesem Ende ist nun aber weder die Erzählstimme 38 Sigrid Weigel  : Die Stimme der Toten. Schnittpunkte zwischen Mythos, Literatur und Kulturwissen­ schaft. In  : Zwischen Rauschen und Offenbarung  : zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hrsg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel. Berlin 2002, S. 73–92. hier S. 79.

Erinnerung aus Steinen schlagen  : Hilfsstelle und Der 1. Sep­tember 1939

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schon angelangt (wie in Die größere Hoffnung) noch die erinnerten Personen (wie in Kleist, Moos, Fasane). Die finale, das ganze Leben umfassende Erinnerung steht noch aus, mit unhinterfragbarer Gewissheit zwar, aber in einem offenen Zeithorizont. Im Gegensatz zu Kleist, Moos, Fasane enthält Hilfsstelle nur eine implizite Erinnerungspoetik. Dafür ist deren literarische Umsetzung viel differenzierter. Die Ebene des Erinnerns wird zu einer eigenständigen Wirklichkeit ausgestaltet, die Erinnerung zum aktiven Partner des erinnernden Subjekts. Im Verlauf des Textes geschieht eine Inversion des Verhältnisses zwischen der erst vorherrschenden Ebene des Erinnerns und der dann entfalteten Ebene des Erinnerten, wie auch zwischen dem Subjekt, das nach seiner Erinnerung sucht, und der Erinnerung, die dem Subjekt beispringt. Dabei kommt es zur Vergegenwärtigung, die nicht den erinnerten Inhalt betrifft, sondern den Moment von dessen Erinnerung, der dem Schreiben kurze Zeit vorausgegangen ist. Erinnerung im Kreis und in Sprüngen  : Der 1. September 1939. Der 1. September 1939 (KMF 23–27) entstand 1969, 30 Jahre nach Kriegsbeginn. In der Reihe von Aichingers Erinnerungstexten markiert er nach den sich frei konstellie­renden Erinnerungen in Kleist, Moos, Fasane und dem Erinnern ex negativo in Hilfsstelle, bei dem die Lücke umschlägt in ihr positives Gegenstück, eine dritte Position  : Ein assoziatives, suchendes Erinnern, das erstaunliche Details zu Tage fördert wie das Verzeichnis der wichtigsten kulturellen Veranstaltungen des 1. September 1939, aber auch stets ungewiss bleibt. „Ich glaube, ich war im Kino“, beginnt der Text, in dem erstmals auch auf der Ebene des Erinnerten ein Ich erscheint. Die Syntax des Eingangssatzes setzt es dem erinnernden Ich parallel, während das verbum credendi Distanz markiert, wodurch zwischen den beiden kein stabiles Verhältnis etabliert wird. Im Weiteren ist von partiellem Wissen die Rede, von Vermutungen, Hörensagen und den Grenzen der eigenen Erinnerungs­fähigkeit  : Ich weiß nicht, was [die Verbindungsbahn] eigentlich verband, ich weiß nur, daß hauptsächlich Lasten auf ihr transportiert wurden und in diesen Tagen vermutlich mehr als sonst. Viel früher soll auch meine Großtante manchmal dort gefahren sein, um uns zu besuchen. An den hellgrauen, damals schon etwas schäbigen Mauern des Sascha-Palastes waren jedenfalls die Schilder mit dem Wort Judenverbot, soweit ich mich erinnere, unauffälliger angebracht.

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Ich weiß nicht, was ich ihm darauf sagte, aber ich weiß, daß er auf meine Antwort hin aufstand und eine Weile zum Fenster hinaussah. Aber es scheint mir immer noch, als wüßte [der Koffer] mehr als ich. Über den 1., 2. und 3. September 1939 und alle anderen Tage. (Hervorhebungen S. F.)

Die Autorin thematisiert in Der 1. September 1939 die Grenzen des Erinnerns. Sie kalkuliert die Veränderlichkeit des Erinnerten mit ein. Und geht deshalb freier um mit ihrem Stoff. Aufgebaut ist der Text jedoch über einem strengen Gerüst  : Er umfasst vier Abschnitte, die, je an einem anderen Schauplatz, chronologisch rückwärts durch den 1. September gehen  : Vom Kinobesuch im „Sascha-Palast“ oberhalb der Ver­bindungsbahn, der abends stattgefunden haben dürfte, zum Englischunterricht an der ehemaligen Schule am Nachmittag, zum Kinderhüten im Stadtpark am Vor­mittag und zuletzt in die Wohnung der Großmutter, wo am frühen Morgen der Schiffskoffer geliefert wurde. Diese Reihe rückwärts geht nicht nur durch den Tag, sondern auch durch verschiedene Lebensalter, von der Erwachsenen im Kino, über die Schülerin im Englisch zum Kind im Park und dem frühen Glück bei der Großmutter  : „der Tag begann glücklich“. In ihrer Anlage hat diese Erinne­rung damit eine Verwandtschaft zur Spiegelge­ schichte  : Ohne ungeschehen zu machen, was später kam, mit dem Wissen um alles Spätere, führt die Erinnerung ins Glück der Kindheit zurück. Das Betreten des Stadtparks mit dem Spielplatz bedeutet wie in Die größere Hoffnung die Rückkehr ins Paradies  :39 Vor dem Park stehen Obststände, „mit Äpfeln und Birnen beladen“, die „bald verschwinden sollten“. Vorwärts blickend bedeutet „verschwinden“, dass der Krieg sie eliminie­ren wird, im Rückwärtslauf aber, dass der Sündenfall, für den der Apfel steht, rückgängig gemacht wird. Im Park sitzt ein Mädchen mit weißen Socken und weißen Handschuhen auf einer Bank  : ein Bild der Reinheit und Unschuld. Seine Lektüre weist allerdings wieder auf die Vertreibung aus dem Paradies  : sie liest Lederstrumpf. In der Spiegelgeschichte geschieht der sich vorwärts vollziehende Rück­ wärtslauf im Moment des Todes, der zuletzt mit der Geburt zusammenfällt. Der Erinnerungstext endet beim Schiffskoffer, der das „Meer“ nie sehen wird, aber „mehr“ weiß als die Erinnernde. Auch diesen gibt es bereits in der Grö­ ßeren Hoffnung  : Am Ende des 5. Kapitels sitzen die Kinder um einen Schiffskoffer herum und lernen, dass der Stern „alles“ bedeutet (DgH 120–123). Der 39 Vgl. Kap. 2.4.

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Koffer, der für eine Seereise gedacht ist, steht für ein Zeichen, das in der Entgrenzung die Gegensätze vereint. In Der 1. September 1939 markiert der Schiffskoffer als Ende der Rückwärtsbewegung die Potentialität des Anfangs. Als Fluchtpunkt der Erin­nerung öffnet er den Text auf alles, was die Erinnernde nicht weiß, und auf „alle anderen Tage“ hin. Die räumlich, zeitlich und formal geschlossene Struktur, die das systematisch rückwärts konstruierende Erinnern bildet, wird nun ergänzt und unterminiert durch ein nicht steuerbares, an kein Kontinuum gebundenes assoziatives Erinnern, das in Raum und Zeit vor- und zurückspringt  : Mit der Verbindungsbahn ist „viel früher“ die Großtante manchmal zu Besuch gekommen, und „nur wenig später“ wurde die Großmutter dort in einen Güterwaggon verladen. Englisch zu lernen, wurde „später“ zu „einer Art von Disziplin, die bis vor die Türen der KZs und der Gaskammern anhielt“. Die Obststände vor dem Stadtpark sollten „bald“ ver­schwinden. Das weiße Mädchen mit dem Lederstrumpf im Stadtpark stand der Erinnernden „später“ in der grauen, trüben und kriegerischen Luft oft vor Augen. Und der Großonkel, der den Koffer schickte, entging „zwei Jahre später“ der Deportation, weil er starb. Diese zeitlichen Sprünge gehen mehrheitlich in die Zukunft und konfrontieren das damalige heitere Unwissen mit den Folgen dieses 1. Septembers, ohne die das erinnernde Ich den Kriegsbeginn nicht denken kann. Der 3. Teil liefert in ungewöhnlicher Zeitlogik die Vorgeschichte dieses Tages  : Der 1. September erscheint der Erinnernden als der letzte Friedens­tag, „obwohl der Krieg für uns und viele andere, als er begann, schon eine Weile begonnen hatte“. Der Krieg begann schleichend, als die Mutter ihre Stellung als Schulärztin verlor, Wohnung und Praxis aufgeben und mit den Kindern zur Großmutter ziehen musste. Am 4. Juli reiste die Schwester mit einem Transport für bedrohte Kinder nach England ab. Dieser Tag „mit seiner flimmernden Hitze, seiner Hoffnung, nachzukommen, auch auszuwandern, uns wieder zu treffen in England oder Amerika“, scheint der Erinnernden „viel länger gedauert zu haben, als ein Tag dauern kann“. Er verdüsterte sich „an einem der letzten Augusttage“, als die Zurückbleibende für ihre Ausreisegenehmigung die Hitlerjugend auf­ suchen musste, und ging „während der ersten Septembertage“ zu Ende. Während die Sprünge in die Zukunft den Bruch betonen, den dieser Tag bedeutete, öffnet sich vor dem 1. September ein weiter Raum der Hoffnung, der der Erinnerung bis in die Gegenwart zugänglich ist. Die räumliche Struktur des Erinnerungstextes ist der zeitlichen analog  : Der Hauptstrang der Erinnerung führt in einem Kreis durch den dritten und ersten Bezirk, der sich schließt, obwohl er nicht am selben Ort aufhört, wie er begon-

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„Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“

nen hat. Er führt vom Sascha-Palast an der Verbindungsbahn (Ungargasse 60) über das Ursulinenkloster an der Ecke Johannesgasse/Seilerstätte im ersten Bezirk und den Stadtpark in die Wohnung der Großmutter an der Hohlweggasse 1, an der wiederum die Verbindungsbahn vorbeifährt. Von diesem Kreis aus springt die Erinnerung dann zu vielen weiteren Orten  : vom Sascha-Palast über die Ver­bindungsbahn und den Aspangbahnhof zu den KZs und Gaskammern und in der Gegenrichtung vom Westbahnhof ins Exil nach England und Amerika. Hinzu kommen Theater und Kino mit ihrem aktuellen Programm sowie Orte der Lek­türe. In der Volksoper soll am 1. September 1939 Martha gespielt worden sein, im Burgtheater Don Carlos und im Opern-Kino Frau ohne Vergangenheit. Das erin­nerte Ich übersetzt im Englischunterricht Oscar Wildes Lady Windermeres Fächer, das Mädchen im Park liest Lederstrumpf. Die Stadt wird zu einer Topographie von Literatur und Film. Mit dem ersten Satz von Der 1. September 1939, „Ich glaube, ich war im Kino“, ersetzt Aichinger in ihrer Wientopographie die Kirchen durch die Kinos, markiert die Unsicherheit und Veränderlichkeit des Erinnerns und lockert das Abhängigkeitsverhältnis zwischen erinnerndem und erinnertem Ich. Damit be­gründet sie die Poetik des Spätwerks – das, wohlgemerkt, erst 30 Jahre später ent­stehen wird.

Kapitel 5

Eine f lüchtige Autobiographie Film und Verhängnis und Unglaubwürdige Reisen

5.1 Flüchtige Texte  : Schreiben fürs Feuilleton Mit den sieben Erinnerungstexten von Kleist, Moos, Fasane vergewisserte sich Aichinger zwischen 1959 und 1982 in Abständen von jeweils mehreren Jah­ ren punktuell ihres Erinnerungsschatzes. Dagegen folgte in den Jahren 2000 bis 2005, als sie, wieder in der Stadt ihrer Kindheit wohnhaft, für die Wiener Tages­zeitung Der Standard eine Kolumne verfasste, ein wahrer Erinnerungssturm. Fast jeder Text in den beiden Viennale-Tagebüchern und dem Journal des Verschwin­dens, praktisch alle Unglaubwürdigen Reisen und Schattenspiele fördern kleine Spuren oder große Fetzen von Erinnerung zu Tage.1 Dazu formulieren sie, in im­mer neuen Anläufen, aus immer wieder anderer Perspektive, eine offene Erin­nerungspoetik. Die neue Textgattung definiert Aichinger am Anfang der Vorbemerkung zum „Journal des Verschwindens“ folgendermaßen  : Weshalb „Journal“, weshalb „Verschwinden“, weshalb „Blitzlichter auf ein Leben“  ? – Weil mir vor allem an der Flüchtigkeit liegt. Und selbst bei der Notiz, der kurzen Feststellung, dem Journal  : nur als Anlaufstrecken für die Freiheit wegzubleiben. Als Kontrapunkt, mit dem das Verschwin­den erst einsetzen kann. (FuV 65)

Der Text als „Anlaufstrecke“ zum „Verschwinden“  : wiederum entwickelt Aichinger eine neue Textform aus Konzepten, die sie schon seit der Größeren Hoffnung verwendet, indem sie diese zum Strukturprinzip macht. Ellens Weg durch den Roman erscheint zum Schluss als „ein einziger Anlauf “ (DgH 268) 1 Das Viennale-Tagebuch erschien vom 16. bis zum 25. 10. 2000 und vom 22. bis zum 31. 10. 2001 täglich. Dazwischen erschien jeweils Freitags das Journal des Verschwindens (3. 11. 2000–19. 10. 2001), gefolgt von den Unglaubwürdigen Reisen (30. 11. 2001–8. 8. 2003). Die Schattenspiele wurden vom 14. 11. 2003 bis zum 8. 10. 2004 im Standard abgedruckt und vom 24. 12. 2004 bis zum 18. 6. 2005 im Spectrum, der Wochenendbeilage von Die Presse.

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Eine flüchtige Autobiographie

zum Sprung über die zerstörte Brücke. Das Journal des Verschwindens ist ein täglich neu ansetzendes Protokoll von Aichingers Verschwinden im Kino, das selbst auf das Verschwinden zielt. Als gattungsmäßige Referenzen dienen, in einer offenen, bei keinem ein­ zelnen Konzept verharrenden Reihung, die einen Gedanken vorläufig festhaltende „Notiz“, die „kurze Feststellung“ ohne absichernde Argumentation und eben das „Journal“, das sowohl als ‚Tagebuch‘ wie als ‚Zeitung‘ an den Tag gebunden ist. Die Texte des Journals des Verschwindens sind in mehrfacher Hinsicht flüchtig  : fliehend, oberflächlich und ephemer. Das subjektivistische, aus dem Moment ent­stehende und für den Moment geschriebene Zeitungsfeuilleton2 bringt eine wei­tere Dimension der Zeitlichkeit in die Texte und verankert sie in neuer Weise in der Wiener Topographie  : Die Texte entstehen im Café, ausgehend von medialen Erzeugnissen, die Aichinger hier vorfindet oder mitgebracht hat  : Bildbänden, Gedichtsammlungen, Boulevardzeitungen, dem Kinoprogramm oder der Speise­karte. Bereits am nächsten Tag liegen die Texte ebenda in der Zeitung gedruckt zur Lektüre auf. Damit werden auch die Prozesse des Schreibens und der Lektüre, die in Aichingers Texten immer schon mitbedacht sind, in Wien verortet. Dynamik und Offenheit der Texte nehmen im Vergleich zu den früheren autobiographischen Erinnerungstexten noch einmal zu. Das von Woche zu Woche weitergeführte Projekt als Ganzes ist offen, und jeder einzelne Text wird ohne Wissen um seinen Ausgang begonnen. Indem die Gegenwarts­ ebene des Erinnerns mit dem Prozess des Schreibens identisch wird, gibt es nun definitiv keine Er­zählinstanz mit Außenstandpunkt mehr. Im Schreiben entsteht Erinnerung, die es anders nicht geben würde. Entsprechend gibt es in den Manuskripten kaum nach­trägliche Korrekturen und Überarbeitungen. Setzte die Autorin an einem späteren Tag noch einmal zum Schreiben an, so entstand ein neuer Text, der die Erinne­rung wieder in eine ganz andere Richtung führte. Ist Aichingers frühes Werk durch die eine vom Ende her sprechende Stimme geprägt, werden die Erinnerungsfeuilletons nun über Zitate von Texten und ge­sprochenen Sätzen aus Kino und Alltag vielstimmig. Indem Selbstzitate und Motive frühere Texte aufrufen, wird der Erinnerungsgehalt der Texte immer größer, während die einzelnen Gegenstände der Erinnerung 2 Die Tatsache der Publikation in der Zeitung ist konstitutiv für die Textsorte, im Journal des Ver­ schwindens aber kaum Thema, außer in der Vorbemerkung, die gerade nicht für die Zeitung, sondern für die Publikation in Buchform geschrieben ist.

Flüchtige Texte  : Schreiben fürs Feuilleton

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zunehmend weniger feststellbar sind. Obwohl hier aus einer dezidiert subjektiven Perspektive ge­schrieben wird, taucht in den Texten nur selten ein „ich“ auf. Als dargestellte ver­schwindet die eigene Person hinter anderen Leben und Gegenständen. Die Erinnerungspoetik des Spätwerks entwickelt Aichinger anhand des Kinos  : Kinos werden zu den Orientierungspunkten in der Wiener Topographie, in welcher Funktion sie die Kirchen ersetzen. Im Kinogehen übt sie sich im Ver­schwinden, das Kinogehen wird zur neuen Möglichkeit einer – wenn auch „stüm­perhaften“ (FuV 71) – Nachfolge der Verstorbenen. Im Kino, beim Wiedersehen von Filmen, die in jener Zeit gedreht wurden oder spielen, vergegenwärtigen sich in der Erinnerung vergangene Momente. Im Kapitel 5.2 wird Aichingers Konzept des Verschwindens und Erinnerns im Kino anhand der beiden programmatischen Texte im Band Film und Verhäng­ nis nachgezeichnet  : Film und Verhängnis und Vorbemerkung zum „Journal des Verschwindens“. Kapitel 5.3 betrachtet die Praxis des Erinnerns im Journal des Verschwindens an drei Beispielen, die alle ins Kino und in die Erinnerung führen, vom Erinnern im Kino berichten und, von gesehenen Filmen ausgehend, Erinnerung hervorbringen  : Lya de Putti in der Hohlweggasse, Das Erinnerungsbild und Der dritte Mann. Während die drei Texte über das Ganze hin immer noch der zyklischen Dynamik der Be- und Entgrenzung folgen, unterwandern sie dieses Schema gleichzeitig durch extreme Sprünge und Richtungswechsel, präzise Abweichungen und offensichtliche Übertreibungen. Im Text Das Erinnerungs­ bild, der sich auf Jean-Luc Godards Film Histoire(s) du cinéma bezieht, formuliert Aichinger ihr Konzept einer „Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“, in sich abgrenzender Bezugnahme auf Kleist, Moos, Fasane noch einmal neu, indem sie deren mediale Vermittlung einbezieht. In den Unglaubwürdigen Reisen, Schattenspielen und Subtexten wird das Café zum Ort des Erinnerns. Gibt es im Journal des Verschwindens immer noch eine Differenz zwischen dem Kino, in dem die Autorin verschwindet und sich erinnert, und der Gegenwart des Schreibens, die ausgehend von den gesehenen Filmen neue Erinnerung generiert, fallen im Café Schreiben und Erinnern gänz­lich in eins. Mit einem Espresso auf dem Tisch und der Kuchenauswahl im Blick bekommt diese Gegenwart sinnliche Präsenz. Das Kapitel 5.4 nimmt das Café als Ort des Erinnerns in den Blick und je einen Erinnerungstext aus den Unglaubwür­digen Reisen und den Schattenspielen. Der erste, Im Auge des Tai­ funs  : Das „Demel“, beginnt mit einem „unglaubwürdigen Frühstück“ beim k. u. k.-Hof­zuckerbäcker Demel und begibt sich in Erinnerungsstreik. Der zweite,

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Eine flüchtige Autobiographie

Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit, ist eine Weihnachtsgeschichte, die sich schon im Entstehen verflüchtigt. Zum Schluss, in Kapitel 5.5, wird die Frage gestellt, inwiefern bei der Sammlung der Feuilletons in Buchform von einer Autobiographie gesprochen werden kann. Film und Verhängnis bezieht sich durch den Untertitel Blitzlichter auf ein Leben auf die Gattung. Die Vorbemerkung zum „Journal des Ver­schwindens“ setzt sich mit deren diskursiven Normen auseinander. Die Sammlung der Journaltexte, die Aichinger für die Buchfassung neu anordnete, erweist sich als eine so konsequente wie ungewöhnliche Weiterentwicklung der avantgardisti­schen Autobiographie der Moderne, eine vielstimmige und dezentrierte Autobiographie, die ihre Einheit aus der Bewegung des Erinnerns erhält und das Ich verschwinden lässt.

5.2 Im Kino verschwinden, im Kino erinnern In der Zeit, als die beiden Viennale-Tagebücher und das Journal des Ver­schwindens entstanden, aus denen das Journal des Verschwindens im Band Film und Ver­ hängnis zusammengesetzt ist,3 ging Aichinger täglich am späteren Nach­mittag ins Kino, nicht selten für zwei Filme nacheinander. In Leben wie Schreiben wurde das Kino zur zentralen Referenz  : das „Kino“ als konkreter Ort in der Stadt, das „Kino“ als Institution mit einer spezifischen Raumstruktur und das „Kino“ als Oberbegriff für den Film und seine Geschichte. Immer wieder in einzelnen Zeitungstexten, vor allem aber in den zwei pro­grammatischen Texten, die am Anfang der beiden Teile von Film und Ver­ hängnis stehen und eigens für die Buchpublikation verfasst worden sind, hat Aichinger anhand des Kinos ihre Erinnerungspoetologie neu formuliert  : Im Titeltext Film und Ver­hängnis 4 und in der Vorbemerkung zum „Journal des Ver­ schwindens“. Beide Texte verknüpfen das Schicksal ihrer Familie und die Erinnerung daran systema­tisch mit dem Kino.

3 Für das Journal des Verschwindens in Film und Verhängnis hat Aichinger Texte aus dem ersten Viennale-Tagebuch und dem im Standard publizierten Journal des Verschwindens ausgewählt und mit einer Vorbemerkung ergänzt. 4 Vorstufen zum Titeltext von Film und Verhängnis bilden die Rede zur Eröffnung der Viennale von 1995 (Absprung zur Weiterbesinnung. Rede zur Eröffnung der Viennale 1995. In  : Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic, S. 9–16) sowie Spaziergänge vor dem Ende aus dem selben Jahr (Spaziergänge vor dem Ende. In  : Literatur und Kritik 299/300 (1995), S. 23–27).

Im Kino verschwinden, im Kino erinnern

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Drei Aspekte sollen hier fokussiert werden  : Kinos ersetzen erstens – wie es sich bereits in der Erinnerungsprosa Der 1. September 1939 angekündigt hat – in der Wiener Topographie die Kirchen als Orientierungspunkte und Zielorte. Diese Funk­tion kommt ihnen aufgrund der Raumstruktur zu, in der sich die Wirklichkeit zu einem Anderen hin öffnet. Zweitens wird der Gang ins Kino als Weg an die Peri­pherie inszeniert, als Einübung ins Verschwinden und ins Sterben. Indem Aichin­ger die Tante, die im KZ ermordet wurde, als Kinogeherin erinnert, wird das eigene Kinogehen zu einer Art Nachfolge. In der Gegenbewegung dazu wird das Kino drittens zum Ort des „Wiedersehens“  : Das Kino ist, da die Filme frühere Zeiten wiederholen und wieder herholen, ein Ort, der Erinnern in besonderer Weise ermöglicht. Die stets identisch reproduzierten Filme initiieren bei der Zuschauerin eine sich immer neu und anders konkretisierende Erinnerung. Kinos als Orientierungspunkte in der Wiener Topographie. Aichin­ger ergänzt ihre Wientopographie um die Kinos. Zu der Gegend rund um die Hohl­weggasse, seit Die größere Hoffnung das Epizentrum des erinnerten Wien, gehören nun auch zwei Kinos – selbst wenn es sie in der erinnerten Zeit noch gar nicht gab  : „Man konnte den Sascha-Palast aus keinem Fenster im zweiten Stock des Hauses Hohlweggasse 1 sehen – wie das Fasankino an der Ecke zur Mohs­gasse  : weil er damals noch nicht existierte. Aber der Platz, auf dem er stehen sollte, glänzte um so stärker herüber.“ (Vorbemerkung, FuV 67f.)5 Tatsächlich ist der dritte Bezirk nicht nur reich an Kirchen und Gärten, sondern war mit nicht weniger als 14 Lichtspieltheatern auch der kinoreichste von allen Wiener Be­zirken.6 Als Orientierungspunkte und Zielorte ersetzen die Kinos die Kirchen, die, obwohl Aichinger sich längst von der religiösen Haltung der frühen Texte distan­zierte, immer noch für jene vertikal orientierten „Orte“ standen, wo Sinn an­wesend ist. Die Vorbemerkung zum „Journal des Verschwindens“ folgt noch ein5 Ähnlich in Einübung in Abschiede  : „Ich erinnere mich an die ersten Kinos  : das Fasankino schräg gegenüber einem unserer ersten Wohnorte, vielleicht dem glücklichsten, in der Hohlweggasse, die es noch immer gibt, Hohlweggasse 1. Ab 1938 wohnten nur noch Parteimitglieder dort. Etwas mehr in Richtung Stadt entstand später der Sascha-Palast aus einer ehemaligen k. u. k. Reitschule.“ (FuV 73f.) 6 Nach dem großen Kinosterben in den 60er-Jahren sind davon nur mehr zwei übrig – womit sich die Kinos auch als weitaus flüchtigere Institutionen als die Kirchen erweisen. Zu den verschwundenen Wiener Kinos vgl. Dieter Klein  ; Martin Kupf  ; Robert Schediwy  : Stadtbildverluste Wien. Ein Rückblick auf fünf Jahrzehnte. Wien 2005, S. 82ff.

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Eine flüchtige Autobiographie

mal dem Weg, den Ellen am Ende des 1. Kapitels von Die größere Hoffnung geht, eine Gasse hinauf an der Mauer der Gärten entlang zu der Kirche mit zwei Türmen, die als Jacqingasse, Botanischer Garten und Kirche „Zur dreimal wun­dertätigen Muttergottes“ identifiziert werden können  :7 Von der Fasangasse glänzten die nur leicht mißlungene Fassade eines Klostergebäudes und die dazugehörige Kirche „Zur dreimal wundertätigen Muttergottes“ herüber. An Kirchen war kein Mangel. Weiter oben hörten wir öfter den „Töchtern der göttlichen Liebe“ bei der Abendandacht zu. Eine von ihnen leierte weniger und sah immer wieder kurz ins Leere, ich vergaß sie nicht. Daß Kaiser Franz Joseph I. den Botanischen Garten um das Grundstück von Kirche und Kloster verkleinert hatte, nahmen wir ihm weniger übel als andere architektonische Absurditäten. Der Botanische Garten, von Parkwächtern, die täglich zu zweit wie Polizisten die Frühbeete der tropi­schen Pflanzen bewachten, die schon während der ersten Maifröste verkümmerten, war ohnehin nur Erwachsenen zugänglich. Aber die helle Villa von Richard Strauss am Ende der Jacquingasse ermutigte uns. Auch sie war unerreichbar. Sehr viel erreichbarer war schräg gegenüber das Fasankino. Von dort griff ein Fieber über, das bis heute nicht nachläßt. Kinokarten sind auch im Hinblick auf die Ein- oder Ausreisemöglichkeiten, die sie nicht immer bieten, oft zu billig. (FuV, 68f.)

Die Kirche, die das Ziel von Ellens Weg ist, wird gleich zu Beginn gestreift, überhaupt ist an Kirchen „kein Mangel“. Sie gehören nach wie vor ins Bild des dritten Bezirks, haben aber viel von ihrem Glanz eingebüßt, mit einer „leicht mißlungenen Fassade“, „architektonischen Absurditäten“ und leiernden Nonnen. Der unzugängliche Botanische Garten mit den erfrorenen tropischen Pflanzen ist nicht ein verschlossenes Paradies, sondern selbst ein erlösungsbedürftiges Stück Erde. Zum Ziel, das immerhin dann und wann jene Art von geistigen „Ein- und Ausreisemöglichkeiten“ bietet, die Ellen im Gespräch mit dem weit gereisten heiligen Franz Xaver findet, wird nun das Fasankino „schräg gegenüber“.8 Die Kirche am Ende der Gasse war im Roman ein vertikal orientierter, Himmel und Erde verbindender Raum, in dem sich Ellen über die Abbildung des heiligen Franz Xaver das verschlossene Land in eine andere Dimension öffnete. Die weltlich-mediale Institution des Kinos hat eine analoge räumliche Struktur  : „Das Kino ist als Ort darauf angelegt, zugleich Nicht-Ort zu 7 Vgl. Kap. 2.5., S. 105ff. 8 Das Fasankino befand sich an der Ecke Hegergasse/Hohlweggasse.

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sein, Zugangstor zu einer jenseits der Raumgrenzen liegenden Welt. Die Saalverkleidung schließt den Kino­raum von der Außenwelt ab, während die Leinwand ihn virtuell öffnet.“9 Aichin­ger überträgt Struktur und Funktion der Kirchen systematisch auf das Kino. Damit vollzieht sie auch in ihrer Wiener Topographie den Wechsel, der sich im Schrei­ben schon lange ankündigte  : vom christlich-romantischen Denkmuster einer Restitution des paradiesischen Zustands in der Kunst zu einem medialen Modell der Vergegenwärtigung durch Aufführung. Sie tut es mit einiger Polemik in der Distanzierung von der Kirche als Institution, hält dabei aber am Konzept des herausgehobenen Ortes und seiner Funktion in der Topographie unbedingt fest, womit sie in der Abgrenzung auch die Kontinuität wahrt. Im Journaltext Einübung in Abschiede weist sie die Bezeichnung „halb­ jüdisch“, aus der sie die Protagonistin ihres Romans definierte, nach beiden Seiten zurück und definiert sich stattdessen über das Kino, wo nun die „Erlösung“ zu finden ist  : „Ich identifizierte mich auch weder mit dem Judentum noch mit dem Christentum, beide erschienen mir gleich fremd, von Angst geprägt und Angst auslösend. Die Erlösung war das Kino.“ (FuV 73) In Kar­ freitag ohne Kino über­trägt sie in einer eigensinnigen Allegorese ein Gedicht von Angelus Silesius auf das Kino  : „Wer seine Sinne hat / ins Innere gebracht, / der hört, was man nicht red’t / und siehet bei der Nacht“ (Angelus Silesius). – Wer ins Filmmuseum geht, kann bei ­e inigem Glück hören, was man nicht red’t. Und nicht nur im Filmmuseum sieht man bei der Nacht. Wenn man dort auch mit Recht auf gewisse Kasteiungen gefaßt sein muß. Bis zum Jüngsten Tag wird dort niemand die Sitze verändern. (Karfreitag ohne Kino, FuV 197)

Dass sich die Parallelsetzung zum Schluss ins Komische wendet, ändert nichts daran, dass das Stummfilmkino Strukturen der Mystik konkretisiert, die wiederum Aichingers Muster der ineinander umschlagenden Gegensätze entsprechen  : Mit der Filmprojektion entsteht Helligkeit aus dem Dunkel. Durch Mimik und Gestik der Schauspieler wird das Schweigen beredt. Zum mystischen Erlebnis gehört aber vor allem auch die Auslöschung des Selbst  : das Verschwinden.

9 Daniel Morat: Das Kino. In: Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Alexa Geisthövel und Habbo Knoch. Frankfurt/M 2005, S. 228–237, hier 228.

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Eine flüchtige Autobiographie

Das Kino als Ort zum Verschwinden. Das Verschwinden ist das Ziel von Aichingers Kinobesuchen. In einem Interview antwortet sie 2001 auf die Frage, was sie tue, um zu verschwinden  : Ich gehe ins Kino. Oft komme ich zu spät. So bin ich gleich nicht da. Endlich ein Privileg. Der Ehrgeiz, wenigstens kurz nicht zu existieren, hat ein Ziel gefunden. Ich halte es noch immer für ein Privileg, nicht zu existieren. Ich gehe ins Kino, der Vorhang öffnet sich, der Film beginnt, und ich bin für zwei Stunden nicht mehr da. Ich bin verschwunden. Ich bin im Film.10

Und im Journaltext Einübung in Abschiede formuliert sie verallgemeinernd  : „Im Kino wird das Verschwinden geübt. Die Filmlandschaft ist zugleich Zuflucht und Ort der Distanz zur eigenen Person, der Trennung von ihr.“ (FuV 74) Im dunklen Kinosaal, wo beim Fimschauen die leibhafte Körperwelt zeitweilig zugunsten der virtuellen Bilderwelt aufgehoben wird,11 konkretisiert sich Aichingers Konzept des Verschwindens im Sprung in die Existenz. Im „Herz der Finsternis“,12 einer ‚Mitte‘, wo innerhalb der Stadt das unzivilisierte Andere anwesend ist, findet Aichinger selbst den Zustand aktiver Abwesenheit. Das Kinogehen wird für Aichinger zu einer neuen, zwar mangelhaften, aber doch gültigen Variante der Nachfolge ihrer Angehörigen  : „Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stüm­perhaft nach  : ich gehe ins Kino“ (FuV 71), schreibt sie am Ende der Vorbe­merkung. Die Gemeinsamkeit zwischen den ungleichen Bereichen von tödlicher Gewalterfahrung und einer medialen Alltagsbeschäftigung besteht im „Ver­schwinden“, jenem Konzept, das Aichinger bereits 50 Jahre früher in Die größere Hoffnung entwickelte. Unter anderem im 10 Richard Reichensperger  ; Uwe Wittstock  : „Ich bin im Film“. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger über ihr neues Buch, ihre Begegnung mit Mengele, ihre Leidenschaft für das Kino sowie die Möglichkeit, darin zu verschwinden. In  : Die Welt, 25. 8. 2001. 11 „Der archetypische Kinomoment ist der Augenblick zwischen Verlöschen der Saalbeleuchtung und Beginn der Leinwandprojektion. Dieser Augenblick des Dunkels und der Stille ist ein Moment des Übergangs, des Umschlags, in dem der reale Zuschauerraum vom aufbrechenden Bildraum überlagert und ausgefüllt wird  : Die leibhafte Körperwelt wird zugunsten der virtuellen Bilderwelt zeitweilig aufgehoben. Das Ende der Vorführung ist zugleich eine Rückkehr aus diesen jenseitigen Bilderwelten.“ Morat  : Das Kino, S. 229. 12 Das Joseph-Conrad-Zitat beschließt den Journaltext Einübung in Abschiede  : „Noch einmal  : Lebensarten, Sterbensarten, aber vor allem Kinoarten, Kinoplakate, Kinoeingänge – dorthin, wo man immer hinwollte  : ins Herz der Finsternis.“ (FuV 75)

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Zusammenhang mit eben jener Schwester ihrer Mutter, die Pianistin war und leidenschaftliche Kinogängerin, welche im Spätwerk zur zentralen Referenz wird in Sachen Kino, Tod und Ver­schwinden. Im Roman heißt sie Tante Sonja und ist von Anfang an nur als Ab­wesende präsent  : „Verschwunden“, sagen die Leute, „verschwunden“, sagt auch Ellen, die ihnen widerspricht  : Tante Sonja, die erst vor kurzem weggegangen war, um ihren Hut umformen zu lassen. Aber sie war nicht wiedergekommen. „Verschwunden“, sagten die Leute, und tatsächlich war Tante Sonja verschwunden wie eine glänzende Münze in einem rostigen Kanalgitter. Der Hut blieb ungeformt. Viele ihrer Bekannten suchten nach Erklärungen  : Sie hat sich versteckt oder man hat sie bei Freunden verhaftet. Aber Ellen wußte es besser. Sie wußte von Tante Sonjas wunderbarer Fähig­keit, sich zu verkleiden und Leute nachzuahmen, von ihrer Sehnsucht nach einer einzigen Him­melsrichtung, dem Osten, von ihrer Liebe zum Horizont und von ihrer Art, Schläge hinzunehmen wie Glücksfälle und Glücksfälle wie Schläge. Sie wußte, daß Tante Sonja auch imstande war, den Tod zu genießen wie ein fremdes Land. (DgH 163f.)

Die primäre Bedeutung von „verschwinden“ ist die euphemistische Sprachre­ gelung der Täter wie der Opfer für die Deportation. Ellen deutet das passive Ver­schwinden um in eine dem Modus des Verbs entsprechende aktive Handlung. Sie schreibt ihrer Tante die Fähigkeit zu, den gewaltsamen Tod in Glück zu ver­wandeln, die Deportation in einen Weg an den Horizont, den Tod in ein fremdes Land. Das Bild der glänzenden Münze, die in ein Kanalgitter fällt, mit dem sie das Verschwinden der Tante beschreibt, stammt aus dem Bereich der städtischen Straßen, passt aber durchaus aufs Kino, von dem die Rede ist, als Ellen die Ab­wesenheit der Tante das erste Mal bemerkt  : „Das Klavier stand offen. Tante Sonja mußte eben noch geübt haben. Vielleicht war sie ins Kino gegangen. Seit es ver­boten war, ging sie viel öfter ins Kino.“ (DgH 24) Mit ihren Wegen ins Kino, die sie umso häufiger unternahm, je bedrohlicher ihre Lage war, übte die Tante, deren Beruf das Üben war, das Sterben ein. In Film und Verhängnis macht Aichinger diesen Zusammenhang explizit  : Die Erinnerung an die jüngste Schwester der Mutter, die „lang und leidenschaftlich“ (FuV 13) übte, „täglich sieben Stunden, ehe sie ins Kino ging“ (FuV 90), erscheint in dem dreiteiligen Text in zwei Varianten. Zuerst im ersten Teil mit dem Titel Stadtauswärts  : Die Klavierspie­lerin.

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Eine flüchtige Autobiographie

Sie war die jüngste Schwester meiner Mutter. Sie lebte, wie wir alle, in der Wohnung meiner Großmutter in der Hohlweggasse, nahe dem Gürtel, stadtauswärts. Sie unterrichtete zwei Jahre lang, bis zum März 1938, Klavier an der Musikakademie in Wien. Die lag stadteinwärts. Aber wenn auch die letzten Privatschüler (Stefan Schick im blauen Anzug oder Fräulein Peterka) gegangen waren, drängte es sie fort. Sie wollte ins Kino, aber nicht in irgendeines. Das Fasankino war so zugig wie der Gürtel. Auf dem Weg dorthin war es noch geschlossen. Aber vorerst einmal das Studium des heutigen, morgigen und übermorgigen Programms. Auch des gestrigen. Dann weiter zum Arsenal, aber die sehr vielfältigen Waffen und die blutbefleckte, zer­fetzte Uniform des ermordeten Thronfolgers, schon oft genug intensiv oder zerstreut betrachtet. Der windige, schäbige Außenring um die Stadt Wien war nahe, hieß auch nicht Ring, sondern Gürtel, Gürtellinie wie aus einer armseligen Maßschneiderei, dort war es leicht möglich, sich eine Verkühlung zu holen oder die Angst davor. Oder sich den zweiten Geiger der Philharmoniker vor­ zustellen, eine entfernte Liebe. […] Der Nachmittag brach an, die bessere Tageszeit. Das Fasankino hatte jetzt sicher seine Türen schon geöffnet, der Wind fuhr durch sie hinein. Im Fasankino herrschte immer Zugwind, auch während der Vorstellungen. (FuV 11f.)

Hier ist nicht von Deportation die Rede und nicht vom Tod. Die Gänge der Tante „stadtauswärts“ zur schäbigen Peripherie am Gürtel führen ins Fasankino. Den­noch sind sie von Anfang an nicht nur mit der Sehnsucht verbunden, sondern auch mit dem Tod  : Ein Ziel der Spaziergänge ist das Heeresgeschichtliche Museum im Arsenal, in dem nicht nur eine Sammlung von Schiffsmodellen zu betrachten ist, die für Aufbruch und Entgrenzung stehen, sondern auch „die blutbefleckte, zer­fetzte Uniform des ermordeten Thronfolgers“, die an den Anfang des Ersten Weltkriegs erinnert. In unmittelbarer Nachbarschaft des Arsenals befindet sich außerdem der Aspangbahnhof, der Ausgangsbahnhof der Deportationen, der hier nicht erwähnt, durch die topographische Nachbarschaft aber miterinnert ist. Das Kino selbst ermöglicht der Besucherin Gedanken an eine „entfernte Liebe“, droht aber auch mit dem Tod. Die Bemerkung der Tante zur Zugluft und der möglichen Verkühlung wird in der zweiten Variante, die im Mittelteil II Absprung zur Weiterbesinnung erscheint, durch die Redensart ergänzt, „man könne sich dort den Tod holen“  : Einige Jahre später – ich ging schon zur Schule – sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu unserer Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späteren Nachmittag  : „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino.“

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Sie war Pianistin, unterrichtete kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasankino, es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich dort den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. (FuV 13f., Hervorhebungen S. F.)

Inhaltlich sagt der Text, dass der Tod die Tante nicht im Kino, sondern im Ver­ nichtungslager geholt habe. In der Art und Weise, wie er dies sagt, zielt er darauf, den Tod im Vernichtungslager durch den erwünschteren Tod im Kino zu ersetzen  : In den letzten fünf Sätzen verflicht er in der wechselnden Nennung das Fasankino mit dem Tod. Parallel dazu tendiert im Kino die Repräsentation des Todes dazu, in diesen selbst umzuschlagen  : Was in der Zwischenzeit des Sonntagnachmittags – in der Gegenbewegung zum zentrifugalen Weg dahin – ins Fasankino „hineinfährt“, sind nicht die Filmbilder, die den Kinoraum über die Leinwand symbolisch öff­nen, sondern der Wind, der konkret durch die geöffneten Türen kommt. Die Gefahr einer Erkältung wird zur Todesdrohung. Das eigene Kinogehen stellt Aichinger in Analogie zu jenem der Tante dar. Auch bei ihr führt der Weg ins Kino an die Peripherie, wie sie im Journaltext Das Gasthaus an der Themse schreibt  : „Wer schon aus unnötigen Schulfächern gerne fortgeblieben und am liebsten schon vor der Geburt verschwunden wäre, wird froh sein, wenn ihn, wie mich heute, ein Drogensüchtiger ins Imperialkino be­gleitet, exterritoriales und unversnobtes Gebiet.“ (FuV 185) Das Thema der im Kino gezeigten Filme ist für Aichinger stets der Tod  : „Der Film beschäftigt sich unaufhörlich mit dem Tod, der Tod ist sein Axiom.“ (Ein­ übung in Abschiede, FuV 74) Und dieser droht und verspricht auch hier von der Leinwand auf den Körper der Zuschauerin überzugreifen. Beim Stichwort „Tod im Kino“ denkt Aichinger vor den toten Helden auf der Leinwand an die Möglichkeit, im Kinositz zu sterben  : „Der Tod im Kino  : eigentlich etwas Anzustrebendes. Besser als Tod im Krankenhaus.“ (Kein zusätzlicher Horror­ film, FuV 175) Und immer wieder kommt sie auf die mörderisch unbequeme Bestuhlung des Wiener Filmmuseums zu sprechen  : „während man im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt besonders bequem Platz findet, bietet die Albertina hier seit Jahrzehnten nur die schlechtes­ten Sitze, man hängt drin wie ein Todeskandidat in der Todeszelle.“ (Die Geburt der Leiche, FuV 160)

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Eine flüchtige Autobiographie

Aichinger verbindet die beiden Varianten des Verschwindens, das Kinogehen und das Sterben, und verkleinert die – im Leben zuletzt immer unüberbrückbare – Kluft zwischen dem Verschwinden der ermordeten Angehörigen und dem eigenen Verschwinden im Kino, indem sie auf der einen Seite auch das Verschwinden der Tante mit dem Kinogehen zusammenbringt und andererseits die eigenen Kinobesuche auf den Tod hin denkt. „Stümperhaft“ kann diese Nachfolge im Leben gelingen, gänzlich wiederum nur dann, wenn sie selbst im Kino stürbe. Das Kino als Ort des Wiedersehens. „Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe lieber bis zu sechs- oder siebenmal in den­selben Film“ (FuV 14), schreibt Aichinger ebenfalls in Film und Verhäng­ nis. Im wiederholten Ansehen eines Filmes wird deutlich, dass auch der Film Wieder­holung ist  : Er repetiert jedes Mal die selben Bilder, und er „holt“ eine vergangene Zeit „wieder“ her, ermöglicht Begegnungen durch die Zeit hindurch.13 Bei dem Film, auf den Aichinger anschließend zu sprechen kommt, weist sogar der Titel auf die Wiederholung hin  : „Auf Wiedersehen, Kinder von Louis Malle war einer der Filme, den ich am öftesten sah, nicht nur wegen des vergleichbaren Schicksals meiner Angehörigen.“ (FuV 14) „Deutlich und unvergeßlich“ sind Aichinger in dem Film die beiden Szenen, in denen das Wiederkommen thematisiert und das „Auf Wiedersehen“ ausgesprochen wird  : „Heute ist der 17. Januar 1944“, sagt ein Junge in diesem Film, „der 17. Januar 1944, und er wird nie mehr wiederkommen.“ Er bedenkt damit den Tod und zugleich, fast ohne es zu bemerken, an einem von Trostlosigkeit und Angst geschüttelten Tag die Hoffnung. Satz und Szene sind deutlich und unvergeßlich. Wenige Szenen später werden seine als christliche Internatszöglinge getarnten jüdischen Freunde und der Mann, der das alles gewagt hatte, von den Häschern der Gestapo aus dem Klassenzimmer geholt. Für immer. „Auf Wiedersehen, Pater Jean“, rufen die Jungen ihrem Lehrer nach. „Auf Wiedersehen, Kinder“, sagt Pater Jean gelassen, ehe man ihn wegzerrt. Am Ende des Films wird das tatsächliche Schicksal der Hauptbeteiligten berichtet, der ehemaligen Mitschüler Louis Malles und das seines Lehrers. Mauthausen, Auschwitz oder ein anderes der vielen Todeslager. (FuV 14f.)

13 „Ob viel zu offenherzig wie manche Altmeister oder verschlossen wie Fritz Lang […] – es ergab die Möglichkeit, ihnen wieder zu begegnen, in den Filmen, die gerade liefen und jede Chronologie aufbrachen“ (FuV 70), schreibt Aichinger in der Vorbemerkung.

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Der Lehrer und seine Schüler sagen sich „auf Wiedersehen“, obwohl sie wissen, dass es ein solches nicht geben wird, und behaupten damit wie der Satz des Jungen über den 17. Januar, der „nie mehr wiederkommen“ wird, in der ausweg­losen Situation die (größere) Hoffnung. Was es in der Wirklichkeit nicht gibt, gibt es in gewisser Weise im Film, der nicht in seinem Inhalt, aber durch seine Eigen­schaft als Medium sowohl das Wiedersehen als auch die Wiederholung eines ver­gangenen Tages ermöglicht. Und diese mediale Wiederholung ermöglicht der Zuschauerin, die den Film „nicht nur“ wegen des vergleichbaren Schicksals ihrer Angehörigen ansieht, aber doch auch deswegen, die Wiederholung der eigenen Vergangenheit in einer persönlichen Erinnerung. Aichinger trennt und verbindet die beiden Wiederholungs- und Erinnerungs­vorgänge, indem sie den Begriff der „Vorstellung“ sowohl für die Filmvor­führung als auch für die Imagination der Zuschauerin gebraucht  : Im Zusammen­hang mit der Klavierspielerin sagt sie einerseits, dass es am windigen Außenring leicht möglich war, sich „den zweiten Geiger der Philharmoniker vorzustellen, eine entfernte Liebe“ (FuV 11), und andererseits, dass im Fasankino „auch während der Vorstellungen“ (FuV 12) Zugwind herrschte. In der Szene am Ende des dritten Teils, der dem ebenfalls deportierten Bruder der Mutter gewidmet ist, werden, nachdem im erinnerten Geschehen erneut ein „Auf Wiedersehen“ ausgesprochen wurde, die beiden Bedeutungen enggeführt in einer Erinnerung an das eigene Erinnern im Kino  : Für den Jüngsten, seine wenig ältere Schwester und seine Mutter endete [der Transport über die Schwedenbrücke] mit dem Umzug in ein Todeslager. […] „Auf Wiedersehen“, sagte ein Ordner, „unter besseren Auspizien.“ Einige Monate später sah die Kassierin eines Kinos, in das ich öfter ging, als sie das Billet abriß, kurz auf und sagte  : „Die Vorstellung hat schon begonnen, aber Sie kommen noch hinein.“ Und fügte etwas leiser hinzu  : „Sie wissen doch, was mit Ihren Angehörigen geschehen ist  ?“ Ich er­widerte  : „Ich kann es mir vorstellen.“ „Man kann sich nichts vorstellen“, sagte die Frau. „Man erfährt es immer neu.“ In diese Vorstellung kam ich knapp zurecht. Aber der Film, auf den es ankam, war gerissen. (FuV 20)

Wie und unter welchen Bedingungen also ist im Kino ein Wiedersehen „unter besseren Auspizien“ möglich  ? In der Schlusspassage stehen Filmvorstellung und gedankliche Vorstellung in einem Gegensatz, den der Text gleichzeitig unter­wandert. Da ist auf der einen Seite die Filmvorstellung, die zuverlässig

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abläuft, unabhängig von der Zuschauerin. Und auf der anderen Seite der persönliche Film­riss, die Unmöglichkeit, sich von dem Geschehenen, von der Ermordung der eigenen Angehörigen, eine Vorstellung zu machen. Doch in welche „Vorstellung“ kam die Ich-Erzählerin „knapp zurecht“  : In den Film, der doch schon begonnen hatte, oder zu der Einsicht, dass man das, was man sich nicht vor­stellen kann, immer neu „erfährt“, im doppelten Wortsinn von ‚Kunde erhalten‘ und ‚erleben‘  ? In Film und Verhängnis entwickelt Aichinger ihr Konzept des Erinnerns im Kino anhand der einschneidenden Ereignisse, die immer Grund und Ausgangs­punkt ihres schreibenden Erinnerns sind. In der Erinnerungspoetik, die sie in der Vorbemerkung und einzelnen Journaltexten entwirft, bestimmt sie es allgemein als sich komplementär ergänzendes Gegenspiel  :14 Der Film bietet eine ausgedehnte Erzählung, in deren Lücken sich augenblicksweise einzelne Erinnerungen ein­stellen. Während die Wiederholung des Films jedes Mal identisch ist, erscheinen in der Erinnerung immer neue und andere Inhalte. In Viscontis Il Gattopardo beispielsweise  : So informiert dieser Film, und das schadet keiner Erinnerung, selbst der nicht, die man nie gehabt hat. Wir leben von nie bewußt gewordenen Erinnerungen. Bei Visconti kann man – während sich eine untergehende Gesellschaft um 1860 in blauen Uniformröcken und weißen Kleidern mit rosa Bändern zu Verdis Walzer dreht – selbst ein oder zwei Erinnerungen einsetzen, die bisher noch nie auftauchten. (Die Farben des Erinnerns, FuV 109)

Indem der Film die Aufmerksamkeit der Zuschauerin bindet, ermöglicht er jenes Vergessen, das die Voraussetzung für jedes neue Erinnern ist  : „Man sollte es dem Vergessen anvertrauen und der Erinnerung freistellen, was sie zuläßt und was nicht.“ (Der arme Thomas, UR 168) Denn nur wenn sie erst losgelassen wird, kann die Erinnerung erhalten werden  : „Sie muß alles und darf doch nichts be­halten wollen  : wie einer, der Steine dem Wasser anvertraut, damit sie darauf springen.“ (Vorbemerkung, FuV 70) Die auf dem Wasser springenden Steine weisen auf den Sprung, der in die Erinnerung führt, und auf die Sprunghaftigkeit der Erinnerung selbst. Die Vorstellung einer mehrfachen Berührung der Wasser­oberfläche steht im Gegensatz zum Konzept vom „Spiegel“ und 14 Zu Aichingers Erinnerungspoetik s. auch mein Aufsatz Erinnerung auf dem Sprung. „Film und Verhängnis“ und „Unglaubwürdige Reisen“ – Ilse Aichingers Spätwerk. In  : Ilse Aichinger. Text + Kritik, S. 91–98.

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„Grund“ eines Sees, mit dem Aichinger im Selbstporträt Die Vögel beginnen zu singen von 1952 ihr Schreiben als Übersetzung in die Tiefe definierte.15 Die Vertikale wird durch die Horizontale ersetzt, die Tiefe durch die Oberfläche. Anstelle der Übersetzung in eine andere Dimension steht nun ein mehrfaches Springen  : Erinnerung wird nicht mehr verwandelnd vergegenwärtigt, sondern in partiellen Anspielungen vielfach aufgerufen. Im Prinzip stimuliert nach diesen Gesetzen jeder Film Erinnerung. Aichinger hat aber eine deutliche Präferenz für Filme, die – wie bei Auf Wiedersehen, Kinder von 1987 – die Zeit, der auch ihre Erinnerungen angehören, thematisieren, oder aus der selben Zeit stammen wie die Erinnerung, selbst oder gerade wenn es monumentale Epen sind wie Das indische Grabmal von Joe May (D 1921) oder Propagandafilme wie Der Gouverneur (D 1939) und Reitet für Deutschland (D 1941)  : „Das Verlangen nach diesen schlechteren, aber viel deutlicheren Zeiten wächst, zugleich und fast identisch damit dasjenige nach dem Kino dieser Zeit und seinen Chiffren.“ (Einübung in Abschiede, FuV 73)16 Eine dritte Kategorie bilden Filme von Regisseuren, die ebenfalls Erinnern praktizieren und darstellen und deren Ästhetik Aichinger als der eigenen verwandt empfindet  : Visconti, der, während er eine verschwindende Welt zeigt, Siziliens Farben und Licht bewahrt (Die Farben des Erinnerns, FuV 108f.), Terence Davies, der einen Roman ver­filmt, indem er „die Satzzeichen, das Unausgesprochene, die dunklen Flächen zwischen den Zeilen“ ins Bild bringt (Augenblicke von Entschluß und Untergang, FuV 146), oder Godard, der in seinem Videoessay Histoire(s) du cinéma im Medium des Films dessen eigene Geschichte erzählt. Auch die Gegenstände der Erinnerung sind prinzipiell beliebig. Oft sind die erinnerten Ereignisse aber wiederum an Kinobesuche gebunden, über die 15 „Es war nicht ganz leicht, den Einwänden der anderen aus meiner Gruppe zu begegnen, daß doch vieles anders gewesen sei. Ich mußte ihnen erst erklären, daß ich es nicht erfunden hatte, sondern gefunden hatte, wie etwas, das auf dem Grund liegt. An einem See ist ja auch beides wirklich, der Spiegel und der Grund.“ Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist, S. 30. 16 Solches Wiedersehen mit alten Zeiten praktiziert auch das bejahrte Publikum des Bellaria-Kinos, das am Nachmittag und Vorabend ausschließlich solche Filme zeigt und im Film Bellaria – so lange wir leben (Regie  : Douglas Wolfsperger, D/Ö 2001) zu einiger Berühmtheit gelangte. Bei Aichinger sind die „Bellaria-Eingeborenen“ immer wieder Thema, von deren affirmativer Nostal­gie sie sich distanziert, auch wenn sie selbst oft da ist  : „Und wenn ich mich danach frage, wer das größere Recht hätte, argwöhnisch zu sein, sie oder ich, dort im Foyer, wo die BellariaEinge­borenen spazieren, so komme ich zuletzt auf die nicht unbedingt salomonische Entscheidung  : sie und ich, nur überwiegt meine Befürchtung, doch nicht dazuzugehören, ihre aggressive Sorge, Fremde hätten sich in den innersten Cercle der Kinowelt eingeschlichen.“ (Einübung in Abschiede, FuV 75)

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sie in Wien verortet sind  : Am Tag des Kriegsbeginns sah Aichinger ihrer Erinnerung nach einen Film  : „Auch an dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, war ich im Kino. Es war nicht das Fasankino, sondern lag in der anderen Richtung, wenn auch ebenso nahe. Es hieß Sascha-Palast, war in den Räumen der ehemaligen k. u. k. Hofreitschule untergebracht, und der Film hieß vermutlich FP 1 antwortet nicht.“ (Film und Verhängnis, FuV 15) Und als die Zwillingsschwester im Juli 1939 nach England ausreisen kann, gehen sie zum Abschied ins Scala im vierten Bezirk  : „Am Abend davor, ehe sie mit ihrer Nummer 202, die auf einer Tafel an einer dünnen Schnur über ihrem dünnen Pullover schwankte, aus dem Waggonfenster winkte, waren wir zuletzt miteinander im Kino gewesen, ich glaube, es hieß Scala und lag im vierten Bezirk.“ (Einübung in Abschiede, FuV 74f.) Damit korrespondieren Gegenwart und Vergangenheit über das Netz der Wiener Kinotopographie.   

5.3 Erinnerungen in Filme einsetzen  : Lya de Putti in der Hohlweggasse  ; Das Erinnerungsbild  ; Der dritte Mann Das Erinnern, das Aichinger in und mit den Journaltexten praktiziert, funk­ tioniert in Analogie zu ihrem Kinogehen. Es ist aber weniger dessen nachträg­ liches Protokoll, als dass es, ausgehend vom davor im Kino gesehenen Film, beim Schreiben in Gang kommt. Dadurch entsteht über dem Grundmuster der sich ver­gegenwärtigenden Erinnerung ein Erinnern über sprachliche Assoziationen, in dem Erinnern und Erinnerung sich gegenseitig Stichworte zuspielen und damit die Dynamik der Erinnerung noch einmal erheblich steigern. Lya de Putti in der Hohlweggasse (FuV 88–91)  : Im Journaltext vom 4. 5. 2001 wird sichtbar, wie über die Wiederholung, die der Film bietet, die persönliche Erinnerung in Gang kommt. Er beginnt mit den Sätzen  : Vor einigen Tagen Das indische Grabmal mit La Jana und Lya de Putti im Imperialkino. Da mein Zweifel an ihrer Existenz dem an der meinigen längst adäquat war, ertrug ich Joe Mays Das indische Grabmal aus dem Jahr 1928, das gleißende indische Licht aus demselben Jahr und die schlechte Filmkopie leichter. Lange vor dem ersten Schultag hatte Lya de Putti mir die Hoffnung auf unanfechtbare Gewiß­heiten verschafft. Ihr Name gehörte zu den ersten Namen in der Wohnung unserer Großmutter.

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Über die melodramatische Handlung des Stummfilms um einen Maharadscha und seinen englischen Architekten verliert Aichinger kein Wort. Wichtig ist ihr nicht die Fiktion des Films, sondern der darin festgehaltene Moment der Wirklichkeit aus dem Drehjahr 1928.17 Wichtig ist ihr, dass im Kino ein Moment der Vergangen­heit erscheint, und zwar in seiner flüchtigsten Dimension, dem Licht. Die identische Wiederholung dieses Moments bei jeder Vorführung des Films überwindet die Distanz zur Gegenwart nicht, da das Flimmern der schlechten Filmkopie die Medialität des Bildes präsent hält. Das Bewusstsein dieser Diffe­renz ermöglicht dann aber jene andere Qualität von Wiederholung, die das sub­jektive Erinnern kennzeichnet  : Über den Stummfilmstar Lya de Putti, an deren Existenz Aichinger ähnlich zweifelt wie an der eigenen, gelangt der Text in jene Zeit zurück, als ihr dieselbe eine „Hoffnung auf unanfechtbare Gewißheiten“ verschaffte – auch ihrer selbst. Die nun erinnerte Szene aus der frühen Kindheit „lange vor dem ersten Schultag“ ist – wir haben es erneut mit einem selbstreferentiellen Text zu tun – selbst schon eine Wiederholungsszene  : Sobald die Chopin-Etüden der Schwester unserer Mutter zugleich mit dem Klirren der Topfdeckel nachließen, fiel definitiv ein für mich bis heute entscheidender Satz oder, falls eine Tür zuschlug und den Beginn löschte, sein präzises Ende  : „… an einem Hühnerknochen erstickt.“ Wieder war eingetreten, was wir atemlos erwartet hatten  : Der Hühnerknochen und Lya de Putti hatten zueinander gefunden. Der Satz hob Verlassenheit und Langeweile auf und fiel kein zweites Mal. Was ihn anderen Sätzen überlegen machte, war sein Tonfall  : Er klang von Sonntag zu Sonn­tag unwahrscheinlicher und amüsanter.

Das „entscheidende“ Satzende über ein (Lebens-)Ende fällt im Moment eines Endes  : jeden Sonntag, wenn die sich steigernden Geräusche umspringen in die Mittagsstille. Der Satz, der im Text stets als syntaktisches Subjekt erscheint, ist in der Wiederholung immer wieder einmalig (er fällt „definitiv“ und „kein zweites Mal“) und sinnstiftend (er hebt in einer „noch nicht von Gott verlassene[n] Mittagsstille“18 „Verlassenheit und Langeweile“ auf ). Es ist 17 Die Jahreszahl, die Aichinger angibt, stimmt nicht. Die zwei Teile des Films wurden bereits am 22. 10. und am 19. 11. 1921 in Berlin uraufgeführt. 18 Nachdem die Wendung von der „noch nicht von Gott verlassenen Mittagsstille“ gefallen ist, wird auch hier Gott durch das Kino ersetzt  : „Kurz darauf wurden wir in der Klosterschule ange­

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ein sprachmagisch ritueller Satz, ein sonntägliches Tischgebet mit kinematografischem Inhalt, an dem der Tonfall das Wichtigste ist. Es ist eben dieser Tonfall, der den Satz und den Moment, in dem er fiel, durch die Zeit hindurch vergegenwärtigt, an der ein­zigen Stelle des Textes, die im Präsens steht und von der unmittelbaren Gegen­wart spricht  : „Bis heute fällt für mich der Satz in eine noch nicht von Gott verlas­sene Mittagsstille. Was ihn noch immer einigen anderen Sätzen überlegen macht, ist sein Tonfall.“ Die beiden Varianten der Wiederholung funktionieren über unterschiedliche Sinne. Die Wiederbegegnung mit dem Stummfilmstar ist visuell, geht über den Fernsinn der Augen, der bei der Wiederholung auch die Differenz wahrnimmt und damit Distanz wahrt. Die Erinnerung an den Satz und das vorangehende Klavier­üben, Topfdeckelklirren und Türschlagen läuft über das akustische Gedächtnis, das Erinnerungen ganz unmittelbar präsentiert. Bei dieser Trennung bleibt es aber nicht. Im Erinnerungsprozess, der sich im Lauf des Textes vollzieht und dem der Kinobesuch genauso angehört wie die Geschichte der Tante, bekommen sie je ihre komplementäre Ergänzung  : Während der Satz von Lya de Putti und dem Hühner­knochen zuerst „fällt“, ohne dass ein sprechendes Subjekt bezeichnet wird, folgt im zweiten Teil des Textes eine lange Passage, welche „die erwähnte Bemerkung über Lya de Putti“ der Tante zuschreibt und diese dann bei ihren Gängen zur Peripherie zeigt  : in einer Erinnerung als Stummfilm. Der Stummfilmstar hingegen kommt über das Ersticken zu Atem und Sprache und beginnt sich zu unterhalten  : „Das verblassende Bild mit den vier weißgekleideten Mädchen im Flur der Hohl­weggasse schien im Kontrast zum schon leicht verdunkelten Fenster weniger absurd, Lya de Putti begann, sich mit ihnen zu unterhalten, und vergaß kurz ihre Panik.“ Dies ist der Schlusssatz des Textes. Er bezeichnet ein ‚Ende‘, in dem sich die Grenzen öffnen, wie die architektonischen Elemente zeigen  : Flur und Fenster. Am Ort der Signifikation taucht das Signifikat auf, an die Stelle der Repräsentation tritt die Kommunikation. Einst fand die „Nachricht“ von Lya de Putti aus New York in die Hohlweggasse  : Wie für Lya de Puttis endgültige Erfahrung das Harbor Sanatorium an der Madison Avenue in New York entschied, konnte meine Schwester und mich die Nachricht meldet, bekamen blaue Uniformen, Schulbücher und Schulhefte und hörten von Gott im Himmel, der uns nicht weiter betraf. Die Nachricht von Lya de Putti war jeder anderen überlegen, sie hatte wenig mit anderen Personen zu tun und noch viel weniger mit göttlichen Personen. Statt dessen mit dem Kino.“

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davon nur an dem Ort erreichen, der ihr gemäß war  : in einem Straßenzug des dritten Wiener Gemeindebezirks, die Nummer 1 links vom Haustor.

Nun taucht, im Zuge der zentripetalen Bewegung, die auf das Ende des Textes hin einsetzt,19 der Filmstar selbst hier auf und beginnt ein Gespräch. Zugleich hebt sich die Differenz auf zwischen den beiden Zeitebenen der Erinnerung. Die ersten zwei Sätze des letzten Abschnitts setzen die beiden Zeitebenen noch einmal nebeneinander  : „Um die Zeit, als Lya de Putti an einem Hühnerknochen erstickte, lasen wir die ersten Bücher. Aber sie haben mich bis heute nicht vom Kino unab­hängig gemacht, noch weniger von Lya de Putti.“ Der Schlusssatz, der weder der Gegenwart des erinnernden Ich zuzuordnen ist noch der Vergangenheit, in der dieses im „wir“ der Zwillingsschwestern aufgeht, vereint die beiden Zeitebenen in einer Wahrnehmung. Doch wem „schien“ das Bild mit den vier weißgekleideten Mädchen „weniger absurd“  ? Dem „schien“ ist kein wahrnehmendes Subjekt mehr zugeordnet, es ist, als Lya de Putti aufgetaucht ist, verschwunden. Das Textende ist Wiederholung und Umkehrung des Anfangs  : Zu Beginn fällt ein Satzende, am Ende beginnt ein Gespräch. Zu Beginn erwacht die Erinnerung an Lya de Putti, am Ende ermöglicht sie dieser ein kurzes Vergessen. Zu Beginn im Kino gibt es eine helle Leinwand mit gleißendem Licht, am Ende in der Hohl­weggasse ein sich verdunkelndes Fenster. Im Kino wird ein Film projiziert, in der Hohlweggasse „scheinen“ die Mädchen anders als davor. Mit dem Verb „scheinen“ kehrt sich die Richtung der Lichtstrahlen um, die nun nicht auf die Leinwand auftreffen, sondern vom Bild ausgehen. Die physikalische Projektion ist durch eine psychische abgelöst, aus dem Film ist Erinnerung geworden. Lya de Putti in der Hohlweggasse ist wie Aichingers frühere Erinnerungstexte durch die Dynamik des Erinnerns strukturiert. Der Text beginnt mit der Gegen­überstellung der beiden Zeitebenen des Erinnerns und der Erinnerung. Im Moment, wo sich diese vereinen, ist er zu Ende. Zu diesem Grundmuster gibt es hier aber deutliche Gegentendenzen. Das zeigt sich schon in der Topographie, die bei Aichinger stets Spiegel der Textstruktur ist. Sie greift geographisch viel weiter aus als in den früheren Erinnerungstexten, in riesigen Sprüngen und zwischen unterschiedlichsten Kategorien 19 Sie setzt ein mit dem drittletzten Abschnitt  : „Gegen den Abend und gegen den Winter zu nahm die Ziellosigkeit ab, wer verreist gewesen war, kehrte zurück, ein großer Holländer, er hieß Wes­ senhoove, tauchte im dunklen Vorzimmer auf, und ein oder zwei Öfen wurden geheizt.“

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von Orten  : Imperialkino, Indien, Wohnung der Großmutter, Harbor Sanatorium an der Madison Avenue in New York, St. Patrick, Atlantik, Mittagstisch in der Hohlweggasse 1, Klosterschule, Himmel, Fasankino, Fasangürtel, Arsenal, Südbahnhalle, Triest, Jesolo, Amalfi, die Salz­burger und oberösterreichischen Seen. Ähnlich verhält es sich beim Personal aus der eigenen Biographie, dem Film, der Biographie Lya de Puttis und dem Leben der Pianistin, das den Text bevölkert. Nebst den Familienmitgliedern und dem Stummfilmstar erscheinen, ohne weitere Erläuterungen als Namen in Klammer eingefügt, die Klavierschüler Stefan Schick, Fräulein Peterka, Else Friedrich. Dann ruft der Maler Friedrich „vom Stockwerk über uns“ „‚Ah, Ha­lali  !‘“, im Vorzimmer der Wohnung in der Hohlweggasse taucht kurz ein Hol­länder namens Wessenhove auf und dann noch die fünf Mädchen auf dem verblassenden Bild.20 Heterogenität entsteht ferner durch die gezielt ungenaue Ausführung des Grundschemas. Der Schluss des Textes vereint nicht nur alle Orte und Menschen in der Hohlweggasse, sondern schafft auch neue Unklarheiten  : Die fünf weißge­kleideten Mädchen stehen, weiß und jung, für die frühe Zeit. Ihre Identität bleibt aber ein Rätsel  : Wer ist abgebildet  ? Warum hängt das Bild im Flur  ? Während Lya de Putti zum Schluss in der Hohlweggasse anwesend ist, bleiben die Mädchen auf dem Bild, auf dem sie bloß ein Stück „weniger absurd“ erscheinen. Die gleiche Relativierung und Nivellierung, gepaart mit einer Verschiebung vom (Tod-)Ernst zum Komischen, gibt es bei dem Satz über Lya de Putti und den Hühnerknochen  : Er klingt „erlöst“, aber nur „zu einem gewissen Grad“. Dafür „amüsant“, gar selbst „amüsiert“ und, in Distanzierung vom Postulat von Glaubhaftigkeit und Plausibilität, „unwahrscheinlich“. Die Vorstellung, dass der Satz „schräg“ im Raum hängt, überträgt das akustische Phänomen in ein räum­liches Bild und schließt es damit an Aichingers räumliches Bedeutungssystem an. Im Spätwerk, wo Aichinger die präzise Abweichung der pass­genauen Form vorzieht, wird „schräg“ zum bevorzugten Positivattribut, immer räumlich gedacht,21 doch auch im übertragenen Sinn als ‚eigen-

20 Ein weiteres fremdes Element bringt jenes Bild hinein, das in Buch und Zeitung neben dem Text steht mit der Bildunterschrift „‚… an einem Hühnerknochen erstickt‘  : Lya de Putti, Stummfilmstar, bei der Ankunft in New York 1926“. Das Foto, das erst von der Redaktion hinzugefügt wurde, Aichinger also beim Schreiben nicht vorlag, bringt nicht nur ein zusätzliches Medium ins Spiel, sondern auch andere Informationen über den Star als der Text. 21 Zum Beispiel  : „das Fasankino schräg gegenüber einem unserer ersten Wohnorte, vielleicht dem glücklichsten, in der Hohlweggasse“ (FuV 74).

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willig‘ und ‚unkon­ventionell‘ verstanden.22 In diesen ungefügten Elementen ist das Hier und Jetzt des schreibenden Erinnerns präsent, das der Text sonst nur deiktisch markiert über die Eingangsformel „Vor einigen Tagen“ und das dreimalige „bis heute“, das das Andauern der frühen Zeit betont. Das Erinnerungsbild. Jean-Luc Godard  : „Histoire(s) du cinéma“ (FuV 105–107)  : Der Haupttitel des am 25. 10. 2000 im ersten Viennale-Tagebuch er­schienenen Textes spricht von einer Form des Erinnerns. Diesem einen Bild setzt der im Untertitel genannte Film die Geschichte aus vielen Geschichten entgegen. Von den Inhalten des Bildes und der Geschichten ist vorderhand nicht die Rede. Dieser Journaltext zeigt und reflektiert primär den Prozess des Erinnerns. Dazu nennt er im ersten Satz zwei Referenzen, eine literarische aus der Zeit von Aichingers Kindheit und eine filmische an einen Regisseur ihrer Generation  : „Mit Proust ist Godard nicht nur entfernt verwandt. Seine Art, in Histoire(s) du cinéma mit Erinnerung umzugehen, läßt ihr wie einer Vertrauten Freiräume und Absprungmöglichkeiten.“ Proust steht im Kontext der Erinnerungsthematik für die „mémoire involontaire“  : Erinnerung (an die Kindheit), die sich unwillkürlich einstellt, wenn man der sinnlichen Erfahrung von Gegenständen wieder begegnet, Erinnerung, die die Linearität der chronologischen Zeit aufbricht und vergangene Zeit wiedererweckt. Proust betont die Rolle der schöpferischen Imagination, ver­schiebt den Fokus vom Erinnerten auf den Moment des Erinnerns, probt ein nichtlineares, unabschließbares Erzählen. Sieht man Godard wie Aichinger in Prousts Nachfolge, so überträgt dieser das Modell der Moderne, das noch gänzlich auf das schwierig zu fassende Ich fixiert ist, welches mit einer überaus umfang­reichen Autobiographie bedacht wird, in die Postmoderne und ins Medienzeit­alter. Godards über vier Stunden dauernder, Hunderte von Filmstunden kompri­mierender achtteiliger Videoessay aus den Jahren 1988–1998, von dem er wiederum jene als Kommentar fungierende 80-minütige Zusammenfassung an­fertigte (Histoire(s) du Cinéma – Moments choisis, F 2000), die bei der Viennale 2000 gezeigt wurde, ist eine Erinnerung des Kinos an sich selbst. Es ist eine fil­mische Filmgeschichte, 22 „Schräg“ blickt in Aichingers Wohnung Richard Reichensperger von der Foto­grafie an der lebensgroßen Pappfigur von Stan Laurel vorbei  : „Aber wenn ich das Radio ein­schalte, hören zumindest zwei in dem kalten Zimmer genau und aufmerksam zu  : Stan Laurel mit Zylinder und Richard Reichensperger, der skeptisch, schräg und still an ihm vorbeisieht.“ (Schat­tenspiel Radio, UR 147)

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die auch Godards eigene Geschichte ist und die Ge­schichte des 20. Jahrhunderts, die sich sowohl im Kino spiegelt als auch selbst durch den Film geprägt ist, in dessen Formen und Bildern wir historische Ereig­nisse denken. Godard sucht nicht mehr nach der authentischen Erinnerung und der einen Geschichte. „Vielmehr überführt er mit den Mitteln der Collage und der Montage die chronologische Geschichte in den Plural, in eine Pluralität  : der Film­ ausschnitte, der Töne, Zeiten, Künste, Assoziationen und Thesen.“23 Auch wenn Aichinger zuletzt immer festhält an der Suche nach der verlorenen Kindheit, so haben ihre späten Texte doch manche Gemeinsamkeit mit Godards Videoessay. Allem voran die Betonung der medialen Vermitteltheit der Erinnerung  : Die „Madeleine“, die der Erinnerung die Tür öffnet, ist der Film, und die Erinnerung, die sie weckt, hat oft auch wieder das Kino zum Inhalt. Auch Aichinger bedient sich des kollektiven Gedächtnisses von anspruchsvoller Kunst wie Populärkultur und verwendet die Technik von Schnitt und Montage, die in der Konfrontation unterschiedlicher Inhalte Neues entstehen lässt und damit Erinne­rung generiert, die es bisher nicht gab. Sie erzählt die eigene Geschichte über den Umweg der Geschichte anderer und ist dafür als sich erinnerndes Ich umso stärker präsent, wie Godard, der in seinem Film an der Schreibmaschine tippend erscheint und die Bilder aus dem Off kommentiert. Aichinger interessiert, wie Godard mit Erinnerung umgeht und welchen Effekt dieses Erinnern auf ihr eigenes hat. Godard lasse der Erinnerung Freiräume und Absprungmöglichkeiten „wie“ einer Vertrauten, schreibt sie  : indem er ihr Vertrauen schenkt, obwohl sie ihm nicht vertraut ist. Und dann  : Keine Umklammerung, Sperren, Grübeleien. Sie lohnt es auf ihre Weise. Aufleuchtende Zwi­schentitel in seiner Filmgeschichte  : La solitude de l’histoire. Les rêves. La naissance du Kitsch. Le temps trouvé. Dazwischen Farben, rasche Bilder – und doch, als hätte man viel Ruhe, sie zu be­trachten, als stünde man irgendwo auf der Welt und ganz ungestört vor einem Veronese, Braque. Godards Ökonomie ist verschwenderisch  : Er nimmt die Möglichkeit wahr, Gedanken untergehen und in immer neuen Bildern wieder auftauchen zu lassen. Das ermöglicht den eigenen Erinne­rungen, es den seinigen gleichzutun, wiederzukommen und wieder zu gehen.

23 Ekkehard Knörer  : Die Bilder geben keine Ruhe. Filmgeschichte als wirbelnde Montage  : Die vierteilige DVD-Edition von Jean-Luc Godards „Histoire(s) du cinéma“. In  : Die Tageszeitung, 21. 6. 2007.

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Die Freiräume entstehen bei Godard nicht durch Verknappung und Aussparung, sondern mit der Überfülle. Aichinger beschreibt den Film als bildlichen Erin­nerungsprozess, bei dem sich die Zwischentitel (deren letzter auf Proust Bezug nimmt) als optische Erinnerungsflashs aus dem Fluss der Farben und Bewegungen herausheben. Dasselbe ermöglicht der Film den eigenen Erinnerungen, die im selben Rhythmus auftauchen und wieder vergehen. Im nun folgenden vierten Abschnitt geht der Text zur eigenen Erinnerung über. Diese bezieht sich vorerst selbstreferentiell auf das eigene literarische Erinnern  : „Erinnerung begreift sich nicht zu Ende“, habe ich vor langer Zeit notiert. Damals dachte ich an das frühe Beerensuchen auf dem Land – und noch lange nicht an die histoire du cinéma um Louis Malle, Carol Reed, Terence Davies oder die Szene aus Pasolinis Matthäuspassion, die bei Godard als Leitmotiv aufflackert.

Das Selbstzitat aus Kleist, Moos, Fasane, das in die große zeitliche Ferne „vor langer Zeit“ gerückt wird, ist sowohl Bestätigung als auch abgrenzende Neu­definition der früheren Position. Es bekräftigt das Bekenntnis zur Unabschließ­barkeit des Erinnerns. Und es grenzt sich ab vom Beerensuchen, das in Kleist, Moos, Fasane sowohl erinnertes Bild ist als auch Bild für das Erinnern  : ein unmittelbar sinnliches – proustsches – Erinnern an die Kindheit. Es wird ersetzt durch das medial vermittelte Erinnern im Kino, die „histoire du cinéma“, die hier ohne eingeklammertes „s“ und Kursivdruck zu Aichingers eigener Geschichte wird mit ihrem persönlichen Filmkanon.24 Erst jetzt, nach fast der Hälfte des Textes, erscheinen zwei „Erinnerungs­ bilder“. Das erste stammt aus der Kindheit und ist extrem ausschnitthaft. Es ver­gegenwärtigt eine Bewegung, eine Stimme, einen Satz  : Das ruckhafte Umwenden eines Kindes mit den Worten „‚Mummi, du lügst‘“, die Stimme „wie ein Peit­schenknall“, als deren Großmutter den anderen Kindern erklärt, weshalb die Kleine unlängst nicht auf den Spielplatz gekommen sei. Es ist ein Moment der Wende, der Richtigstellung, der Wahrheit und ein dezidiertes State-

24 Über Davies schreibt sie wenige Tage zuvor im Viennale-Tagebuch (Augenblicke von Entschluß und Untergang, FuV 145–147). Louis Malles Auf Wiedersehen, Kinder und Carol Reeds Der dritte Mann, in dem Aichingers Zwillingsschwester einen kurzen Auftritt hat als Statistin mit einem halben Satz (vgl. Laudatio auf das Burgkino. In die Burggasse Nummer 19 führt Ilse Aichingers 78. „Unglaubwürdige Reise“. Der Standard, 20. 6. 2003), sind die im Journal des Verschwindens am häufigsten zitierten Filme.

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ment gegen das Verschleiern von schwerwiegenden Ereignissen nicht nur vor Kindern. Wichtig ist die Atmosphäre und Umgebung der kurzen Szene  : Hut und Halstuch der Groß­mutter, die Stille des dritten Bezirks. Wer das Mädchen war, welche Tatsache ver­schleiert werden sollte und welchen Grund die Großmutter angab, bleibt offen. Nur „ein Stück Weg“ hatten sie gemeinsam. Es folgt, im selben Absatz dazu geschnitten, „Ein anderes Erinnerungsbild“. Auf Lesereise in den USA trifft Aichinger in einem leeren Klassenzimmer der New Yorker Bronx einen malenden Jungen. Er sagt ihr, was er malt, „‚Flowers, deers, United States‘“, und seinen Namen  : „‚John Roberts‘“. Auch der Kern dieses Bildes ist Rede, die sich einge­prägt hat, drei gereihte Substantive und ein Name. Für die Erinnernde war es ein Moment des Verstehens  : „In diesem Augenblick glaubte ich eine Sekunde lang, New York zu begreifen.“ Es verbindet die beiden Erinnerungsbilder, dass an einem peripheren Ort in einen Moment der Stille hinein ein Satz gesprochen wurde, der zu einer plötz­ lichen Einsicht führte. Ein Unterschied besteht im Lebensalter des erinnerten Ich, das im ersten Bild Kind ist und als Teil des kollektiven „wir“ erscheint, im zweiten dagegen als Erwachsene einen aktiven Part hat im Dialog mit dem Jungen. Aus dieser inhaltlichen Differenz folgt auch eine des Erinnerungspro­ zesses. Die Erinnerung aus der Kindheit vergegenwärtigt sich beim Schreiben zur Wahrnehmung  : „Während ich das aufschreibe, erinnere ich mich an Hut und Halstuch dieser Großmutter, an den stillen dritten Bezirk. Und an die Stimme der Kleinen.“ Dagegen ist das Erinnern an die spätere Zeit medial vermittelt  : Aichinger schreibt dem Erinnerungsbild rückblickend Bezüge zum eigenen Werk und dem Kino ein  : „Tatsächlich roch es in manchen Klassenzimmern nach Kreide, der Geruch mußte aus Dover kommen, und wie auf dortigen Klippen sah ich in einem leeren Klassenzimmer einen Jungen mit einem Zeichenblatt vor sich.“ Über den Geruch gelangt der Text nicht nur an den englischen Küstenort, sondern auch zu Aichingers mehrere Jahre nach der USA-Reise entstandenem Text Dover,25 von dessen Kreidekliffs her – einem Kipppunkt zwischen See und Land – sie nun den malenden Jungen betrachtet. Die leeren Klassenzimmer er­scheinen ihr als Vorläufer des Kinos, in der „Möglichkeit, Tod oder Leben darin zu finden und einiges dazwischen“. Die Tageszeit bezeichnet sie mit  : „es war wie im Dritten Mann ‚ungefähr two thirty‘“. Der Schlusssatz des Films bezeichnet, nun ins Bedeutungsfeld des Kinos übertragen, jene Zwischenzeit, die Aichinger in Zu keiner Stunde „zwischen drei und vier“ nennt. 25 Die Lesereise in die USA war 1967. Dover datiert Aichingers eigene Werkliste auf 1974.

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Beschlossen wird der Text wieder durch eine reflektierende Passage, diesmal die eigene Erinnerungspoetik betreffend. Sie zitiert, an die Erinnerung an das augenblickliche Begreifen von New York anschließend, noch einmal den Satz von der „Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift“. Sie setzt zwei Arten des Be­greifens nebeneinander, die in einem dialektischen Verhältnis stehen wie im Texttitel das eine Erinnerungsbild und die Geschichte aus den vielen Geschichten  : Auf der einen Seite gibt es die an den Augenblick gebundene subjektive Evidenz, die sich im Moment des Erinnerns erneuern kann. Auf der anderen Seite steht die Unmöglichkeit, diesen Moment diskursiv einzuholen und objektiv festzustellen. Hier bleibt nur die Möglichkeit, die Erinnerung immer neu zu vermessen. Oder, wie dieser Text es praktiziert, dessen Notwendigkeit zu thematisieren  : „Aber Erinnerung  ? Ihre Orte nur kann man immer wieder neu bestimmen.“ – Auf dass sich irgendwann wieder einstelle, was der letzte Abschnitt postuliert  : „Leere Zwischenzeiten kommen zu Hilfe. […] Nichts wird von Zwischenzeiten erwartet. Vielleicht deshalb retten sie, was möglich ist  : Fetzen im Herbstwind, entschei­dende Fetzen von Filmen  : die Erinnerung.“ Eine Zwischenzeit folgt auch auf diesen Text  : bis zur nächsten Viennale oder zumindest der nächsten Buchseite. Der Kern bleibt auch in diesem Journaltext das Erinnerte, zwei ausschnitthafte Erinnerungsbilder in diesem Fall, die von der Qualität des erinnerten Augenblicks her zusammengehören, nicht aber zeitlich und räumlich. Der Weg dahin führt über Godards filmischen Umgang mit Erinnerung und die selbstreferentielle Erin­nerung an das eigene schreibende Erinnern. Und kehrt, damit die Erinnerungs­bilder wieder verschwinden können, zum Schluss auf die Ebene der Reflexion zurück, zur eigenen Erinnerungspoetik nun, einmal mehr die Unabschließbarkeit des Erinnerns postulierend. Anders als in Lya de Putti in der Hohlweggasse ist hier nun die Gegenwarts­ ebene des Erinnerns direkt präsent. Sogar in den Erinnerungsbildern, beim ersten durch die Bemerkung, dass die Erinnerung während des Schreibens entsteht, und beim zweiten, indem die Darstellung auf das eigene Werk und das Kino referiert. Nur ein kleiner Teil dessen, was die Gegenwartsebene ausmacht, fokussiert aber den Erinnerungsprozess selbst, das meiste betrifft dessen verallgemeinernde Reflexion. Und eine Wirklichkeit, die über den Prozess des Schreibens hinaus­geht, bekommt sie auch nicht  : Ort und Umstände der Textproduktion werden nicht sichtbar. Der Film dient Aichinger diesmal zur kulturgeschichtlichen Verortung der eigenen Erinnerungspoetik. Histoire(s) du cinéma ist ihrem literarischen Erin­ nerungsprojekt verwandt in der Vielstimmigkeit, die durch die Techniken von

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Zitat und Montage entsteht, und in der Überkreuzung von Film und Schrift, die die Medialität des Erinnerns hervorhebt und thematisiert. Indem Godards Film durch Montage unterschiedlicher Materialien Erinnerung kreiert, kommt Aichin­gers eigenes Erinnern in Gang. Die Überfülle seiner filmischen Erinnerung regt ihre mémoire involontaire an. Seine Erinnerungstechnik übernimmt Aichinger aber nicht. Vielmehr zeigt ihr Text den Erinnerungsprozess, der durch seinen Film in Gang kommt. Der dritte Mann (FuV 199–202) führt ebenfalls über den Film in die Erin­ nerung, diesmal aber nicht durch einen Kinobesuch, sondern durch die Tatsache, dass The Third Man von Carol Reed (GB 1949) am vorangehenden Sonntag nicht zu sehen war  : Leider gab es letzten Sonntag um 14.45 keinen Third Man im Burgkino. Gegen 17 Uhr war es dann gleichgültig, er wäre ohnehin – wieder einmal von Major Calloway im Kanalnetz nahe dem Stadtpark niedergestreckt – bis zum nächsten Sonntag wieder untergetaucht.

Hier wird deutlich, dass Aichinger, um sich zu erinnern, nicht im Kino sitzen muss. Sie braucht die Filmbilder im Kopf. Und dafür ist die markierte Lücke, das Ausbleiben des Films, der im Burgkino gewöhnlich jeden Sonntag Nachmittag gezeigt wird,26 gerade richtig. Im Journaltext, dessen Titel mit der deutschen Ver­sion des Filmtitels identisch ist, finden beide „Vorstellungen“, Film wie persön­liche Erinnerung, im schreibenden Erinnern statt. Das Ergebnis ist ein wilder Text, voller überraschender Einsichten im Detail, im Ganzen aber schwer zu­gänglich, wenn man nicht vertraut ist mit Aichingers Denkmustern, ihrem Film- und Erinnerungskosmos. Die Kenntnis des Films mitsamt der Rollenbesetzung wird vorausgesetzt. Die Stationen der eigenen Biographie, im Wesentlichen die Reihe der Wohnungen in verschiedenen Wiener Bezirken, die Aichinger mit ihrer Mutter nach 1945 bewohnte, sind ebenfalls von keinen Erklärungen begleitet. Allerdings ist auch nichts darunter, was Aichinger nicht schon anderswo erinnert und festgehalten hat. In Der dritte Mann steht das Wieder- und Weiter­erinnern im Zentrum. Film, Kino und Erinnerung gehören unterschiedlichen Zeitschichten an, haben aber eine gemeinsame Tageszeit  : Two thirty. Der Film endet mit die26 Seit 1980 wird im Burgkino The Third Man zweimal wöchentlich in der englisch-deutschen Originalfassung gezeigt, einmal davon meist Sonntag Nachmittag.

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ser Zeitauskunft. Zu eben jener Zeit wird der Film jeweils Sonntags im Burgkino gezeigt. Im nicht ins Buch aufgenommenen Journaltext Welles in Wien nennt Aichinger „14.30“,27 in der Laudatio auf das Burgkino „zwischen 14 und 15 Uhr“.28 In Der dritte Mann fällt der Filmbeginn in präziser Abweichung auf „14.45“, vielleicht weil die Minutenzahl dann mit dem Jahr korrespondiert, das anschließend erinnert wird und ebenfalls eine Zwischenzeit betrifft  : „1945 gab es kein Kino mehr und noch kein Kino in Wien“. Aichinger bemerkt zur letzten Aussage des Films  : „Für mich bezeichnet sie eine der Tageszeiten, die durch die zeitliche Nähe aller Kinos erträglich wird.“ Indem sie am Ende des Textes das aktuelle Kinoprogramm wiedergibt, den bevorstehenden Kinoabend im Visier, legt sie auch das erinnernde Schreiben auf diese Tageszeit. Der Zeitpunkt der Filmhandlung, der Filmvorführung und des Schreibens ist Sonntag Nachmittag two thirty  : ein aus dem Zeitkontinuum herausgehobenes Zwischen, das Erinnerung befördert und den Absprung möglich macht. Darüber hinaus sind alle Zeit- und Wirklichkeitsebenen in Wien lokalisiert  : Erstens die Gegenwart, wo Aichinger regelmäßig ins Burgkino geht, sich erinnert und schreibt. Zweitens die erinnerte Vergangenheit der Nachkriegs­jahre, wo es kein Kino gab. Drittens die Filmhandlung, die in der selben Zeit im in Besatzungszonen aufgeteilten Wien spielt. Und viertens die Dreharbeit zum Film, die in den Originalkulissen der zerstörten Stadt stattfand. Die gemeinsame Topo­graphie ermöglicht dem Text den spielenden Wechsel zwischen heute und früher, Film und Wirklichkeit. Auch wenn er nicht kontinuierlich verläuft, kann man dem Weg des Textes durch die Wiener Topographie folgen  : Erst geht es (mit der Film­figur Major Calloway) vom Burgkino ins Kanalnetz nahe dem Stadtpark. Dann (mit der jungen Ilse Aichinger) den wechselnden Wohnstädten folgend von der „Marc-Aurel-Straße 9“ über den „Hohen Markt“ quer durch den ersten Bezirk zur „Rathausstraße 8“, „stadtauswärts“ gegen Westen bis „Hernals“ und wieder in der Gegenrichtung „in ein Untermietzimmer in der Prinz-Eugen-Straße“, die während der Zeit der Besatzung in der russischen Zone lag. Von da fährt früher wie heute die Straßenbahn weiter  : „Die Linie D, die auch damals durch die Prinz-Eugen-Straße lief, trifft tiefer un27 „Jeden Sonntag um 14.30 kann, wer Lust dazu hat, zwei Stunden mit [Orson Welles] im Burg­ kino verbringen.“ Welles in Wien. Fast jeder kennt seine Bewegungen aus dem „Dritten Mann“  : „Jour­ nal des Verschwindens“ (XIX). Der Standard, 9. 3. 2001. 28 „Das Burgkino war das erste Kino, in dem fremdsprachige Filme in Wien in Originalfassung zu sehen waren. Nicht nur an jedem Sonntag zwischen 14 und 15 Uhr The Third Man, sondern auch To have and have not und überhaupt ein Humphrey-Bogart-Festival.“ Laudatio auf das Burgkino. In die Burggasse Nummer 19 führt Ilse Aichingers 78. „Unglaubwürdige Reise“. Der Standard, 20. 6. 2003.

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ten auf die Linie 71, eine der beliebtesten Wiener Linien, die Friedhöfe sind in Sicht (1. Tor, 2. Tor, 3. Tor, 4. Tor).“ Mit den Linien D und 71 gelangt der Text zum Zentralfriedhof, wo Aichinger sich während des Krieges oft aufgehalten hat und The Third Man endet. Der Schluss zeigt auf, wohin der Weg am gegenwärtig bevorstehenden Abend weiterführen könnte  : ins Künstlerhauskino, Bellariakino, Kino am Schottentor, nach Penzing oder doch ins Imperialkino. Spielfrei sind an dem Tag dagegen „Deutsch-Wagram, Gmünd und Gföhl“. Der Weg verläuft vom Zentrum zur Peripherie, vom Burgkino am Burgring und der Marc-Aurel-Straße zum Zentralfriedhof  : das ist ein Pfad, den die Erin­nerung schon unzählige Male begangen hat. Über dieser Grundbewegung wech­selt der Text nun laufend zwischen den verschiedenen Zeit- und Wirklich­keitsebenen und verknüpft sie untereinander. Dadurch wird die Wiederholung der Aufführung zum Teil der Filmhandlung, die sich in der Stadt abspielt, in der die Zuschauerin lebt  : Die Kanalnetze und Revolver vervielfachen sich  : „Holly Martins (Joseph Cotten) bleibt ‚born to be murdered‘, gerät in jedes Kanalnetz und vor jeden Revolverlauf.“ Und zuletzt ist der „dritte Mann“ nicht tot, sondern „taucht“ hier und heute „wieder“ für eine Woche „unter“  : „Gegen 17 Uhr war es dann gleichgültig, er wäre ohnehin – wieder einmal von Major Calloway im Kanalnetz nahe dem Stadtpark niedergestreckt – bis zum nächsten Sonntag wieder untergetaucht.“ Die Bemerkung, dass es 1945 kein Kino mehr und noch kein Kino gab, endet mit der Feststellung  : „der Film spielte sich ohne Kino ab.“ Der absurde Satz ist durchaus sinnvoll aus dem Blickwinkel eines Subjekts, dessen Erin­ nerung durch den in jener Zeit spielenden Film so geprägt und überlagert ist, dass ihm dessen Bilder präsenter sind als die vormals erlebte Wirklichkeit. Umgekehrt hat Aichinger den Film von Anfang an unter der Voraussetzung ihrer persönlichen Erlebnisse wahrgenommen  : „Born to be murdered“ und „Leave death to the professionals“, die Sätze, über die Aichinger den Film erinnert, sprechen für sie vom Holocaust und der Ermordung ihrer Verwandten  : Holly Martins (Joseph Cotten) bleibt „born to be murdered“, gerät in jedes Kanalnetz und vor jeden Revolverlauf. „Leave death to the professionals“, rät ihm der britische Major Calloway (Trevor Howard). Aber verstehen nicht gerade die „professionals“, die geübt sind, andere dorthin zu verfrachten, wo sie selbst keinesfalls landen wollen, am wenigsten von den mörderischen Details, die sie erfunden haben  ?

Im Verlauf des Erinnerungstextes kehrt sich das Verhältnis von Kino und persönlich Erlebtem um  : In der ersten Hälfte führt der Text vom Film und Kino

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ausgehend in die eigene Vergangenheit, die zuerst ebenfalls in der Kategorie des Kinos gedacht ist  ; in der zweiten Hälfte aktiviert umgekehrt die Erzählung der eigenen Erlebnisse den Film wieder  : Zuerst geht es vom Sonntag ohne Third Man im Burgkino zur Zeit ohne Kino 1945 und weiter zurück zur Zeit, als Goebbels dafür sorgte, „daß die Filme der Ufa nicht aus der Stadt verschwanden“, während sonst „ziemlich viel“ verschwand, Häuser und Menschen. Der Gedanke, dass es kein Kino gab, führt zum Hinweis auf undurchsichtige Vorgänge und Geschäfte, indem die Lichtverhältnisse des Kinos in eine metaphorische Bedeu­tung übersetzt werden  : „kein Kino mehr. Wenig Halbdunkel, umso mehr Halb­helligkeiten.“ Nach einer längeren Passage über die Wohnodyssee folgt der Richtungswechsel  : Im Moment, wo mit dem Umzug in die Prinz-Eugen-Straße die Kinos zeitlich wie räumlich „wieder nähergerückt“ sind, taucht The Third Man wieder im Text auf, zusammen mit dem 1951 in der Schweiz gedrehten Film von Leopold Lindtberg, der zum Synonym der Besatzung von Wien geworden ist  : „Immerhin fuhren die ‚Vier im Jeep‘ durch die Innere Stadt. Aufrecht und ratlos wie im Dritten Mann. Die Finsternis kam mit wenig Beleuchtung aus.“ Zum Zentralfriedhof schließlich führt sowohl der Gedanke an die „profes­ sionals“, die selbst nicht da landen wollen, wohin sie andere verfrachten, als auch die Filmhandlung. Zuerst erscheint die persönliche Erinnerung  : Während des Krieges landeten wir so oft wie möglich am vierten Tor. Parkbänke und die Bänke am Ring waren „nur für Arier“. Ein jüdischer Ziegenhirte trieb am Friedhof einige, vermutlich auch jüdische Ziegen vorbei. Er trug die blaue Jacke über der Schulter, den Judenstern verdeckt. „An die Haut kann ich ihn nicht heften“, sagte er ganz vergnügt, „die Ziegen tragen auch keinen.“

Die persönliche Erinnerung ruft frühere Erinnerungstexte auf mit dem selben Stoff  : Das vierte Tor, Aichingers erste Veröffentlichung überhaupt, und Das hei­ lige Land, das dritte Kapitel der Größeren Hoffnung, in welches der frühe Text in ver­änderter Form eingegangen ist. Im Vierten Tor findet sich die Episode vom gelben Stern, den man nicht an die Haut heften kann  : Ein Arbeiter geht vorbei, hat den blauen Arbeitsrock mit dem großen, gelben Stern über die nackte Schulter geworfen, trägt in beiden Händen Schaufeln und im Gesicht ein kluges, gleichgültiges Lächeln. Sollten Sie ihm begegnen, so würde er vielleicht sagen  : „An die Haut kann ich ihn leider nicht heften  !“, denn eigentlich ist es ja verboten, den Stern auch nur auf kurze Zeit abzulegen. (DgH 273f.)

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Im Roman gibt es drei Ziegen, die jenseits der den Friedhof begrenzenden Hecke weiden und im Gegensatz zu den jüdischen Kindern keinen „Nachweis“ brauchen und ein richtiges Zuhause haben.29 Die Szenen erscheinen hier kombiniert und in einer neuen Akzentuierung, die für Aichingers Spätwerk charakteristisch ist. Im Roman ist der Mann mit dem Stern die Verkörperung einer Idee, hier ein ver­gnügtes Individuum, das den Satz, den der Roman nur als Möglichkeit nennt, ungeniert ausspricht. Das Wort „jüdisch“, das der Roman umgeht, taucht gleich dreimal in Folge auf. Sind „vermutlich“ auch die Ziegen jüdisch, erscheint die Pflicht, den Stern zu tragen, umso absurder. Der Wechsel zum Film geschieht dann durch eine aberwitzige, in der Parallel­führung von Film und Erinnerung begründete Verbindung  : „Im Dritten Mann sieht man statt der Ziegen Alida Valli von der Beerdigung des Orson Welles dem Tor zugehen, Joseph Cotten als Holly Martins folgt ihr, er geht zögernd an ihr vorbei und wird vermutlich von Trevor Howard mitgenommen, der ihn nach der Zeit fragt.“ Der Satz verschränkt alle Zeit- und Wirklichkeitsebenen des Textes  : Die Gegenwart des Filmsehens („sieht man“), die Filmhandlung mit der Be­erdigung, die Produktion des Films mit den Schauspielern Alida Valli, Orson Welles, Joseph Cotten und Trevor Howard und die persönliche Erinnerung an die Ziegen. Der Text endet aber nicht beim Zentralfriedhof. Über die „zeitliche Nähe aller Kinos“ in der Gegenwart öffnet er sich auf verschiedene Zukunfts­ möglichkeiten hin. Erst mäandert er etwas unschlüssig zwischen Bestattungs­ formen, Grabschmuck und Lokalen für Trauergäste, um dann auf einmal die Frage zu stellen  : „Wie rettend ist das Kino  ?“ Es folgt eine Antwort, die keine ist und doch eine, zusammengesetzt aus Zitaten aus dem aktuellen Kinoprogramm  : You can count on me, verspricht das Künstlerhauskino. Aber wer möchte darauf zählen, Flitter­wochen mit Anni Ondra und Hans Schuber im Bellariakino zu sehen  ? Komm, süßer Tod ist ins Kino am Schottentor übersiedelt, Stan Laurel und Oliver Hardy mit Sons of the Desert nach Penzing. Bleibt das Imperialkino und wieder Fritz Lang um 19 Uhr, While the City Sleeps, und um 21 Uhr Without a Reasonable Doubt.

29 „‚Es wird Zeit für euch, nach Hause zu gehen‘, sagte der alte Mann. Er sagte es zärtlich  ; aber er sagte es zu den Ziegen.“ (DgH 58)

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Der erste und der letzte Filmtitel sprechen für das Kino  : You can count on me, Without a Reasonable Doubt.30 Die Montage von Filmtiteln ist ein Spiel und bringt durch Auswahl und Kombination doch noch einmal eine neue Art von Erinnerung hervor. Die Filme „übersiedeln“ nun in Wien von Kino zu Kino wie davor die Erinnernde selbst von Wohnung zu Wohnung. Wichtige Themen von Aichingers Schreiben tauchen auf  : das Sterben (Komm, süßer Tod), die antago­nistischen Bereiche von Stadt (While the City Sleeps) und Wüste (Sons of the Desert). Am Ende steht ein Fazit, das dann doch noch einmal den Bogen spannt vom Textende zum Anfang zurück, indem es das Heute als Umkehrung der damaligen Situation darstellt  : „Immerhin besser als vor einem halben Jahrhundert, ohne die Hoffnung aufs Kino. Ganz Wien war spielfrei, wie heute Deutsch-Wagram, Gmünd und Gföhl.“ Am Ende ist die Kinowüste an der Peripherie, während die Stadt eine Menge Kino bietet. Und mit ihm „Hoffnung“, die nun wie auch die „Rettung“ nur noch vom Kino erwartet wird. Der Text endet an der Peripherie, die Aussicht auf eine erfüllte ‚Mitte‘ besteht aber durchaus.

5.4 Erinnern mit Espresso  : Im Auge des Taifuns  : Das „Demel“  ; Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit Im Anschluss an das Journal des Verschwindens und das zweite Viennale-Tagebuch erschien Aichingers Kolumne vom 3. 11. 2001 bis zum 8. 8. 2003 unter dem Titel Unglaubwürdige Reisen, vom 14. 11. 2003 bis zum 8. 10. 2004 folgten die Schattenspiele.31 Die beiden Kolumnen, die im Band Unglaubwürdige Reisen versammelt sind, führen das autobiographische Erinnerungsprojekt mit einem wieder etwas anderen Ansatz weiter  : Die Unglaubwürdigen Reisen spielen mit der Konvention der Reiseliteratur und initiieren über das wiederholte Ab­ laufen der immer gleichen Wege in Wien immer neue Varianten von mentalen Ausflügen in nahe und ferne Gegenden und Zeiten der eigenen Biographie und Familiengeschichte. Die Schattenspiele verschieben den Fokus dann von den Wegen und Landschaften zu den Menschen und Begegnungen. Seit langem tote Angehörige und vor kurzem verstorbene Freunde sind in der Erin30 Dabei vereindeutigt Aichinger den Titel des Films von Fritz Lang, der eigentlich Beyond a Reaso­ nable Doubt heißt. 31 14. 11. 2003 – 8. 10. 2004 in Der Standard, 24. 12. 2004 – 18. 6. 2005 in Die Presse.

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nerung als kräftige Schattenrisse lebendig. Zum zentralen Orientierungspunkt und Aufenthaltsort in der Stadt wird nun das Café, auch wenn dies nicht thematisiert und theoretisiert wird. Der Bräunerhof, das Sperl, Korb, Griensteidl, Europe, Traxlmayr, vor allem aber das Demel am Kohlmarkt als nächste Anlaufstelle von der Wohnung in der Herrengasse und das Jelinek unweit der Edition Korrespondenzen in Wien-Gumpendorf werden zu Fixpunkten im Tag und zu Ausgangspunkten von Erinnerung und Schreiben.32 Im Café nun werden die Gegenwartsebene des Erinnerns und der Prozess des Schreibens gänzlich identisch und das Hier und Jetzt konkretisiert. Schauen, Hören, Zeitunglesen, Bücherblättern, Kreuzworträtseln weisen das streunende Denken in immer neue Richtungen. Die Speisekarte und die Kuchenauswahl ver­sprechen die Befriedigung vitaler Bedürfnisse. Der Espresso, das Frühstücksei, ein Cognac wirken ganz unmittelbar auf Grundstimmung und Befind­lichkeit. Zwei Texte, in denen das Café selbst Gegenstand ist, sollen hier als Abschluss der Reihe von Erinnerungstexten betrachtet werden  : Im Auge des Taifuns  : Das „Demel“ aus den Unglaubwürdigen Reisen und Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit aus den Schattenspielen. Erinnerungsstreik  : Im Auge des Taifuns  : Das „Demel“. Das Feuilleton über das Café Demel (UR 93–95), am 9. 5. 2003 als 72. Unglaubwürdige Reise erschienen, ist ein eigenartiger Text. Er ist, gemessen am Maßstab der anderen Erinnerungstexte, misslungen und behauptet sich doch auf seine Weise. Er be­treibt die Destruktion des Verfahrens schreibenden Erinnerns und führt es gerade dadurch mit anderen Mitteln fort. Das räumliche und zeitliche Grundmuster des Erinnerns ist durchaus vor­ handen  : Als „Auge des Taifuns“ wie als „Mittelpunkt eines Herrschaftsgebiets“ erscheint das Demel als einer jener herausgehobenen Orte, an denen Erinnerung sich einstellen kann. Gegen Ende vollzieht der Text denn auch den Sprung, hin zu einem früheren Café am Rennweg, im Kindheitsbezirk  : Mein einziges Café früher hieß „Norma“, öffnete um 9.25 Uhr, schloß um 18 Uhr, lag am Renn­weg, nahe von Hofmannsthals Geburtshaus, und ich kam nie hinein.

32 Während der Jahre, als die Zeitungskolumnen entstanden, wohnte Aichinger in der Herrengasse 6–8, im ersten Bezirk. Als nach Richard Reichenspergers Tod im April 2004 Franz Hammer­ bacher, der Verleger von Edition Korrespondenzen, ihre persönliche und literarische Betreuung übernahm, verbrachte sie oft den Vormittag im Café Jelinek in der Otto-Bauer-Gasse, den Nach­ mittag im Verlag in der Mollardgasse im 6. Bezirk.

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Das untere Belvedere leuch­tete herüber, die Linie 71 ratterte vorbei und verlockte zu Streifzügen, die ausblieben.

Das erinnerte Café hat die räumliche Struktur der erfüllten ‚Mitte‘  : Es ist zur gegenwärtigen Stunde geöffnet, liegt an der von Hofmannsthals Geburtshaus zum Zentralfriedhof führenden Lebens-Linie der 71er Straßenbahn und ist mit Stätten von Literatur (Hofmannsthal) und Kunst (Belvedere) verbunden. Nun schreibt Aichinger jedoch, sie sei in dieses einzige frühere Café gar nie hineingekommen. Weil es – man denkt an die Konditorei-Szene in der Grö­ ßeren Hoffnung – ihr verboten war  ? Weil dazu das Geld fehlte  ? Oder will die Erinnernde sich hier und jetzt nicht in die Erinnerung an dieses Café hinein begeben  ? Und die verlocken­den Streifzüge  : blieben sie vielleicht aus dem selben Grund aus  ? Der Text jeden­falls bricht dann tatsächlich ab, bevor sich die Erinnerung entfalten kann. Im Zusammenhang mit dieser Verweigerungsgeste bekommt ein Satz Bedeutung, der bei der Publikation in Buchform gestrichen wurde, weil er in seinem unmittelbaren Kontext unverständlich ist. Im Buch beginnt der Text  : „Das Frühstücksei um 12.43 oder einfach ‚ein Buttersemmerl, wenn belieben‘ zur Portion heißer Schokolade  : So hilft schon am späten Morgen die Ahnung, im Mittelpunkt eines Herrschaftsgebiets gelandet zu sein. Viel mächtiger als die USA.“ In der Zeitungsvariante folgte darauf noch der Zusatz  : „und auch wenn gerade ringsherum gestreikt wurde, ‚der größte Streik seit 50 Jahren‘, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt.“ Auch der ursprüngliche Untertitel nahm dieses Thema auf  : Der ‚größte Streik seit 50 Jahren‘ lenkte die 72. Unglaubwürdige Reise in den Hofzuckerbäcker zu einem übertriebenen Frühstück. Bei dem zitier­ten Streik handelt es sich um die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich von April bis Juni 2003. Aichinger eignet sich die Schlagzeile an, indem sie selbst in Erinnerungs- und gar Schreibstreik tritt. Dabei sabotiert sie auf der einen Seite das eigene Vorhaben, andererseits emanzipiert sie die Gegenwart des Schreibens von der untergeordneten Rolle der Erinnerungsinitiatorin. Der Text beginnt mit der minutengenauen Bestimmung dieser Gegenwart, verbunden mit einer Handlung, welche das Schreiben erst einmal hinausschiebt, einem Frühstück, das später als „unglaubwürdig und übertrieben“ bezeichnet wird  : wider die Gebote der Mäßigkeit (im Essen) und der Wahr­ scheinlichkeit (beim Schreiben)  : „Das Frühstücksei um 12.34 oder einfach ‚ein Buttersemmerl, wenn belieben‘ zur Portion heißer Schokolade.“ Was dann folgt, ist eine sprachkritisch-existentialistische Lektüre des Frühstücks als Text  : der Speisekarte. „Mit ‚möchten‘ beginnen beim k. u. k. Hofzuckerbä-

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cker die Fragen. Die Freiwilligkeit bleibt im Rahmen. Auch die Wahl  : ‚Feinstes Briochekipferl oder flaumiger Guglhupf ‘ zum ‚Demel-Frühstück‘“. Nach dem Frühstück öffnet die Speisekarte die Aussicht auf den weiteren Tag  : „Nach einem un­glaubwürdigen und übertriebenen Frühstück kann man den Tag mit mehr Zuver­sicht erwarten und überlegen, ob gegen Abend eher ‚Assam‘ oder ‚St. James‘ in Betracht käme.“ Die Teenamen, die gleichzeitig geographische Bezeichnungen sind, gäben Anlass zu einer „unglaubwürdigen Reise“, die mit Leichtigkeit Distanzen bis Indien oder Ceylon überwinden, oder zur Entfaltung eines Namens, wie Aichinger sie in Schlechte Wörter praktizierte  : Dover, Albany, Queens etc. Hier folgt weder das eine noch das andere, kein Teetrinken und auch kein Schreiben  : „Oder keins von beidem, wegen Budgetüberschreitung. Wirkliche Dichter arbeiten ja den ganzen Tag, aber Dichter wollte ich nie werden, lieber warte ich auf den Assam – und auf das Tagesende.“ Ins Leere läuft jedoch auch dieser Text nicht. Der Schlusssatz, der zur existentiellen Sichtweise und Bedeutung wechselt und den Text schließend öffnet, fehlt bei Aichinger nie. Der Erinnerung wird die Entfaltung verweigert, aber die Verweigerungsgeste wird zu Ende geführt. Eine Weihnachtsgeschichte, die sich schon im Entstehen verflüchtigt. Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit, am 19. 12. 2003 als Teil 6 der Schatten­spiele erschienen und im Band Unglaubwürdige Reisen nicht aufgenommen, ist ein enorm vielschichtiger und vor allem auch vielstimmiger Erinnerungstext, in dem mehrere Weihnachtslieder und -texte mitklingen. Nebst der Erinnerung im Schreck über die Begegnung mit einer Ratte an einen ebensolchen Moment zu einem früheren Zeitpunkt kommen über Zitate und Anspielungen an Bibel, Lite­ratur, Film und Weihnachtslieder, vor allem aber über Selbstzitate und Anspie­lungen an das eigene Werk große Komplexe aus der Lebens- und Schreib­geschichte in den Text herein, die indessen als Einzelne kaum mehr fassbar sind. Dieses Feuilleton ist eine vielstimmige Erinnerung, die sich schon im Entstehen verflüchtigt.

Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit Teil 6 von Ilse Aichingers Artikelserie Schattenspiele April ist der grausamste Monat, er treibt / Flieder aus toter Erde, er mischt / Erinnern und Begehren. Winter hielt uns warm, bedeckte / Land in Schnee des Vergessens“ (T. S. Eliot in Das wüste Land, 1922)

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Der kommende Winter hält uns schon vor der Zeit zu warm. Und ob, wie in einem dummen Weihnachtslied, „ein Jäger und ein Häschen, ein Jäger und ein Lämmchen neben dem Tannen­stämmchen“ stehen – frieren werden sie nicht, so wenig wie Ochs und Esel an der Krippe in der Wüstennacht. Der Frost wird in Wetternachrichten täglich erwartet, bleibt aber einfach weg, lässt sich nicht einmal bitten, Weihnachtsgeschichten verflüchtigen sich schon im Entstehen. Den Tieren an der Krippe kann es recht sein. Die kleine Tochter einer Freundin wünschte sich einmal ein Krokodil, bekam es auch und behielt es, bis nicht nur das zu rasch gewachsene und nervöse Krokodil die Wohnung räumen musste. „Fürchtet euch genug“, müsste es bei solchen Versuchen – Krokodil ebenso wie Christi Geburt – heißen. „Fürchtet euch nicht“, hieß es in Bethlehem. Unlängst, nach „two thirty“, wie im Dritten Mann, hatte ich das Fest fast vergessen, saß in einem Kaffeehaus an der Wollzeile und überlegte, wie sich Buster Keaton im Filmmuseum und Mein Leben ohne mich im Cine vereinbaren ließen. „Ubi sunt gaudia“, heißt es im Lied In dulci jubilo. Aber diese Überlegung wurde abrupt und in einem Grad unterbrochen, der mir weitere cineasti­sche Unschlüssigkeiten ersparte  : Eine lange, dünne Ratte rannte fast unbemerkt aus dem halbwegs leeren in den belebteren Teil des Cafés, zwischen Tisch und Menschenbeinen hindurch, an den aufgestapelten Baisers, Buchteln und Sahnehimbeertorten vorbei. Immer mehr Gäste drängten ahnungslos herein und ihr nach. So machten die cineastischen Fragen rasch wieder denen nach den Tieren an der Krippe Platz. Es war meine zweite Ratte. Die erste war fast ein Menschenalter früher vor der Linzer Herz-Jesu-Kirche aufgetaucht, als der Kindergarten eben schloss. Apathisch versuchte sie, auf einem Kanal­deckel etwas Schlaf zu finden. Emma Schrack, das Kindermädchen, zerrte uns an ihr vorbei. Erst viel später, als ich mich in Brehms Tierleben vertiefte, gaben sich der Schrecken und die Übelkeit. Heute, in der Konditorei Demel am Kohlmarkt, schwächt sie sich nach dem dritten Espresso ab. Umso beunruhigender wird die Frage nach den Kröten, Flöhen, Schweinen und Plattfischen, die keinen Platz an der Krippe fanden. Der Standard, 19. 12. 2003

In Aichingers Werk steht Krokodile und Ratten in einer langen Reihe von Weihnachtstexten. Bereits im frühesten erhaltenen Tagebuch mit Aufzeichnungen von 1938 bis 1941 ist, wie Berbig bemerkt, Weihnachten der „Inbegriff einer gewünschten Gegenwelt“  :33 33 Berbig  : „Die größere Hoffnung“ 1948, 1969 – zwei Seiten einer Medaille  ?, S. 23.

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Die Wunden schließen sich für eine kurze Zeit – Märchen steigen auf – […] Ich mache die Augen fest zu, sehe nur Christbaumkerzen und einen verschneiten Winterwald. Fest, wie eine Mauer, steht das Dunkel und lässt sie nicht herein, alle die dunklen Gestalten, die mich packen wollen, Angst, Verzweiflung, Müdigkeit, Ehrlosigkeit […].34

Die winterliche Adventszeit und Weihnachten setzen „unübersehbar Schreib­ intensität und -freude frei. Das Empfinden, mit dem das christliche Fest einher­geht, soll gebannt werden, wieder und wieder.“35 Der erste literarische Weihnachts­text ist das Romankapitel Das große Spiel, gefolgt von der Erzählung Engel in der Nacht (DG), dem Dialog Französische Botschaft (ZkS), der Erin­nerungsprosa Vor der langen Zeit (KMF), Weihnachten 1927, 1937, 1941 (FuV) und vielen Journaltexten, die zu einem Jahresende hin entstanden sind wie Abschied von Weihnachten (UR), Das düstere Weihnachtsspiel (UR), Die gefor­derte Freude (UR). Weihnachten erscheint in Aichingers Raum- und Zeitsystem als Moment, wo im Jahreslauf wie in der biblischen Geschichte ein Ende in einen Anfang übergeht und im Dunkel neues Licht entsteht. Es ist der Moment des Umschwungs, der Erfüllung der Hoffnung, der Inkarnation und Erlösung, der mit dem Fest alljährlich erinnert und erneuert wird. Während das Motiv im frühen Werk durchaus christlich konnotiert ist, tritt später die Funktion der erinnernden Vergegenwärtigung in den Vordergrund, die das Vergangene von neuen Standpunkten aus sowohl erneuert als auch transformierend überschreibt. An Weihnachten erinnert Aichinger frühere Weihnachten, jeder Weihnachtstext ruft die früheren Weihnachtstexte auf, indem er sie neu erzählt. Bei Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit ist dieser Ort der Kaffeehaus­ tisch. Nebst den früheren Weihnachtserlebnissen und -texten kommen über das zu rasch gewachsene nervöse Krokodil, das nicht allein „die Wohnung räumen musste“, in schräger Weise die Erinnerung an die Kriegszeit und deren erstes Erinnern in der Größeren Hoffnung ins Spiel. Mit „two thirty“, dem Dritten Mann und dem Filmtitel Mein Leben ohne mich wird das Verschwinden und Erinnern im Kino aufgerufen und mithin alle Erinnerungen im Journal des Verschwindens. Das Kindermädchen Emma Schrack gehört zur Linzer Kindheit und deren Erinnerung in den Unglaubwürdigen Reisen und Schattenspielen.36 34 Tagebuch 1938–41, undatierter Eintrag. Zitiert nach Berbig  : „Die größere Hoffnung“ 1948, 1960 – zwei Seiten einer Medaille  ?, S. 23. 35 Berbig: „Kind sein gewesen sein“, S. 16. 36 Das Kindermädchen taucht zuerst in der Staatspreisrede Der Boden unter unseren Füßen (FuV)

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Der Ausgangspunkt jener Erinnerungsbewegung, die sich im Verlauf des Textes konkret vollzieht, bildet, typisch für Aichingers Erinnern im Café, das oft von vorgefundenen oder mitgebrachten Texten ausgeht, ein Zitat  : Der Anfang eines Gedichts von T. S. Eliot. Die Wahl des Gedichts leuchtet unmittelbar ein, seine Bilder haben eine große Affinität zu Aichingers eigenen Gedichten, und sein Thema sind Erinnerung und Vergessen. Der zweite Absatz verankert das Gedicht in der Gegenwart der Schreibenden, in der sich Eliots Zuordnung von Schnee, Winter, Vergessen auf der einen Seite und April, Flieder, Erinnern auf der anderen nicht mehr halten lässt  : „Der kommende Winter hält uns schon vor der Zeit zu warm.“ Gibt es im warmen Wetter keinen Schnee, so bricht auch die Erinnerung bereits im Dezember auf. Die erste erscheint in Form des „dummen Weihnachtslieds“  : Aus der Kinderstube von Friedrich Rückert. Dieses spricht zu Beginn von Lücken und Unsicherheit bezüglich der Details beim Erinnern  : Aus der Kinderstub’ ein Märchen. Zu Weihnachten kam ein Pärchen Zuckerwerk gesandt vom Bäschen – war’s ein Jäger und ein Häschen, war’s ein Schäfer und ein Lämmchen neben einem Tannenstämmchen  ? Nicht mehr weiß ich’s, kurz  : ein Männchen und ein Tierchen bei ’nem Tännchen.37

Bei Aichinger geht es über die Tiere im Weihnachtslied zu Ochs und Esel an der Krippe. In der Gegenwart wird allerdings weder Christi Geburt noch deren Fest „erwartet“, sondern bloß der Frost, und selbst dieser bleibt „einfach weg“. Als wäre auch die Haltbarkeit der Weihnachtsgeschichten an niedrige Temperaturen gebunden, „verflüchtigen sich“ diese „schon im Entstehen“. „Den Tieren an der Krippe kann es recht sein“  : Vielleicht weil nur solche flüchtigen Weihnachtsgeschichten sie aus ihrer Statistenrolle befreien können  ?

auf, dann in Weihnachten 1927, 1937, 1941 (FuV), in Die frühen Blicke in Anstaltsgärten (UR), Das Fräulein aus Linz (UR) und in Nobelsonne (UR). Zu der Transformation dieses Stoffes von Text zu Text vgl. meinen Aufsatz Erinnerung auf dem Sprung, S. 95f. 37 Friedrich Rückert  : Aus der Kinderstube. In  : O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit. Die schönsten deutschen Weihnachtslieder und -gedichte von Walther von der Vogelweide bis Wilhelm Busch. Hrsg. v. Anne Schmucke. Zürich 1983, S. 74ff.

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Der vierte Abschnitt bringt zum „heute“ eine weitere Zeitebene ins Spiel  : ein in der persönlich erlebten Vergangenheit liegendes „einmal“. Über das Wünschen und Bekommen sowie über die Ersetzung von „fürchtet euch nicht“ durch „fürchtet euch genug“38 wird auch diese – durchaus „unglaubwürdige“ – Erin­nerung an die kleine Tochter einer Freundin, die ein Krokodil als Haustier hatte, in die flüchtige Weihnachtsgeschichte eingestrickt. Abschnitt fünf springt zu einer Kaffeehaussituation, „unlängst, nach two thirty“. Der Moment, der zum Hier und Jetzt des Schreibens in zeitlicher Nähe liegt, stellt eine Erinnerungssituation dar  : Im Café unerwartet, in der Erinnerung aber durch den Tierreigen von Häschen, Lämmchen, Ochs, Esel und Krokodil vorgebahnt, taucht eine Ratte auf. Das Ich, welches hier erstmals im Text genannt ist, hat das Fest „fast vergessen“, während es überlegt, in welches Kino es gehen soll. „‚Ubi sunt gaudia‘“  : Welcher Film kann die weihnachtliche Freude erneuern  ? Die Ratte unterbricht die Überlegung so „abrupt“, wie sie die Erinnerung aufruft. Die Bewegung des Tiers, das „fast unbemerkt aus dem halbwegs leeren in den belebteren Teil des Cafés, zwischen Tisch und Menschenbeinen hindurch, an den aufgestapelten Baisers, Buchteln und Sahnehimbeertorten vorbei“ rennt, gefolgt von immer mehr hereindrängenden Gästen, verbildlicht die Dynamik einer Erinnerung, die aus dem Bereich des Vergessenen ins Bewusstsein eindringt. Im letzten Abschnitt springt die Erinnerung zu einem analogen Schreck­ moment in früherer Zeit, von der zweiten Ratte zur ersten. Erinnerung an die frühe Kindheit, das war für Aichinger stets gleichbedeutend mit Geborgenheit und Sinn. Diese Erinnerung nun ist das Gegenteil davon  : Die schlaflos apathische Ratte liegt ungeschützt auf dem Kanaldeckel. Das Kindermädchen, das Aichinger in anderen Texten als schizophren bezeichnet und dessen Name ebenfalls an den Schrecken gemahnt, ist eine zwiespältige Figur. Die Weihnachtsgeschichte, die Aichinger hier erzählt, ersetzt Ochs und Esel bei der Krippe durch Krokodil und Ratte und den erfüllten Augenblick durch einen Moment von Ekel und Schrecken. Was gleich bleibt, ist der singuläre Moment von Evidenz und Anwesenheit. Im autobiographischen Erinnerungstext Vor der langen Zeit (1964) erzählt Aichinger, wie Weihnachten für sie als Jugendliche von Jahr zu Jahr auf immer frühere Augenblicke im Jahr fiel  : Erst auf den 23. Dezem­ber kurz nach drei Uhr nachmittags, als sie das Schulhaus ver38 „,Fürchtet euch nicht!‘“ (DgH 149), heißt es noch im Weihnachtsspiel in Die größere Hoffnung, vom in die Wohnung eindringenden Nachbarn auf die gegenwärtige Situation bezogen, von Ellen im Sinn des Bibelzitats fortgeführt.

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ließ  : „Und wenn alles dagegen spräche  : Weihnachten ist jetzt.“ (KMF 19) Das nächste Mal „auf einen Augenblick, in dem wir uns auf einer Truhe im Gang die etwas zu engen Schneeschuhe überzuziehen versuchten“ (KMF 20) und dann auf einen Augen­blick im Oktober, in dem die Großmutter den Wächter des Botanischen Garten ansprach. In Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit ist – „In dulci jubilo“ – in dem Moment Weihnachten, wo das Unerwartete geschieht  : die Ratte auftaucht. Die Vergegenwärtigung eines „unlängst“ vergangenen Momentes des Erin­ nerns, der in eine frühe Erinnerung führt  : das ist das Muster, das dem Erinnern im Kino zugrunde liegt. In diesem Text, wo der Kinobesuch noch erwogen wird, dann aber beim Auftauchen der Ratte aus dem Blickfeld gerät, wird die Ebene des dar­gestellten Erinnerns zum Schluss an die Gegenwart des Schreibens herangeführt. In zwei großen Schritten geht es durch die Zeit hindurch in die Gegenwart  : Der Schreck über die erste Ratte legte sich „viel später“ bei der Lektüre von Brehms Tierleben. Die zweite Übelkeit dauert bis zum Hier und Jetzt des Schreibens, dessen Ort nun benannt wird und mit dem dritten Espresso eine Wirklichkeit bekommt, die mehr als das Schreiben umfasst  : „Heute, in der Konditorei Demel am Kohlmarkt, schwächt sie sich nach dem dritten Espresso ab.“ Ruhe kehrt damit nicht ein  : „Umso beunruhigender wird die Frage nach den Kröten, Flöhen, Schweinen und Plattfischen, die keinen Platz an der Krippe fanden.“ Aber das Hier und Jetzt des schreibenden Erinnerns ist zum konkret ausgestalteten, be­wohnten und auch sinnlich wahrgenommenen Ort geworden.

5.5 Die Feuilletons als Buch  : Eine Autobiographie ohne Ich In der Zeitung erschienen Aichingers Feuilletons immer vereinzelt. Die vor­ hergehenden waren bereits wieder verschwunden, die späteren existierten noch nicht. Der Leser begegnete ihnen unverhofft zwischen Meldungen, Berichten und Rezensionen. Mit der gesammelten Publikation in Buchform verändert sich die Situation  : Die Produktion ist abgeschlossen, die Texte sind alle zugleich verfüg­bar. Der Bezug zum Tagesgeschehen schwächt sich ab, dafür verbinden sich die Texte untereinander zu einem Gewebe sich ergänzender, weiterführender oder widerlegender Inhalte, Motive und Reflexionen. Mit der neuen Form der Prä­sentation kommen Konzept und Begriff der Autobiographie ins Spiel  : Der Unter­titel von Film und Verhängnis nimmt darauf Bezug  : Blitzlichter auf ein Leben. In der für die Buchpublikation verfassten Vorbemer­

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kung zum „Journal des Ver­schwindens“ setzt Aichinger sich mit der Gattungsnorm der Autobiographie auseinander. Im Klappentext bringt Richard Reichensperger, der das Projekt initiiert und begleitet hat, den Begriff explizit ins Spiel  : „Knapp, existentiell – eine ganz andere Autobiographie“. Autobiographischer Stoffe bedient sich Aichinger schon in Die größere Hoff­ nung. Das literarische Erinnern von Szenen aus Kindheit und Jugend praktiziert sie seit Kurzschlüsse. Wien und Kleist, Moos, Fasane. Erst Film und Ver­ hängnis jedoch trägt das Etikett „Autobiographie“. Die Gattungsbezeichnung installiert den „autobiographischen Pakt“,39 mit dem der Leser das „ich“ im Text dem Namen des Autors zuordnet, der auf der Titelseite angegeben ist. Sie verschiebt den Fokus vom auf die Gegenwart bezogenen „Journal“ zu einer rückblickenden Perspektive. Sie postuliert ein wie auch immer geartetes Ganzes sowohl des erzählten Lebens als auch der Darstellung. Und sie bezieht die versammelte Publikation der Feuilletontexte auf eine Gattungsnorm und deren Geschichte. Soll die Autobio­graphie eine „ganz andere“ sein, erhebt sie den Anspruch, diese Norm innovativ zu überschreiten. Dieses Kapitel widmet sich der Frage, wie Film und Verhängnis sich gegen­ über der diskursiven Norm der Autobiographie positioniert. Die Vorbemer­ kung zum „Journal des Verschwindens“ kann als Auseinandersetzung mit deren zentralen Topoi gelesen werden  : der Konstituierung des Ich und dessen Er­ gründung, dem Namen, der Identitätsbildung, frühen Prägungen und ersten Entwicklungsschritten. Über das Verhältnis von erinnerndem und erinnertem Ich sowie über die Art von deren Präsenz lässt sich die autobiographische Erzähl­situation spezifizieren, auch im Verhältnis zu Aichingers früheren Texten mit autobiographischen Stoffen, die in dieser Hinsicht der konventionellen Autobio­graphie viel näher sind. Indem Aichinger die Erinnerungsfeuilletons für die Buch­publikation neu komponiert, integriert sie sie zu einem Ganzen, das jedoch nicht in Chronologie oder Kausalität gründet, sondern in der zyklischen Dynamik des Erinnerns. Der Vergleich mit zwei anderen Autobiographien des 20. Jahr­hunderts, Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehn­ hundert und Ruth Klügers weiterleben, ermöglicht eine literaturgeschichtliche Situierung und Profi­lierung von Aichingers Erinnerungsprojekt.

39 Philippe Lejeune  : Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Hildegard Heyden­ reich. In  : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. v. Günter Niggl. 2. Aufl. Darmstadt 1998, S. 214–257.

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Autobiographie als Geschichte des Verschwindenlernens  : Vor­ bemerkung zum „Journal des Verschwindens“. Das autobiographische Schreiben ist un­lösbar verbunden mit der Bildung des neuzeitlichen Subjektbegriffs. „Die Auto­biographie gilt als Geburtsstätte des neuzeitlichen Individuums, das schreiben­derweise aus der Anonymität heraustritt, sich seiner selbst bewusst wird und auf sich selbst aufmerksam macht.“40 Dass dieser Emanzipationsprozess des Indivi­duums ab dem 19. Jahrhundert begleitet ist „von einem sich […] verschärfenden Krisenbewusstsein des Ichs, das mit Freuds Psychoanalyse endgültig als eine grundsätzlich problematische Instanz wahrnehmbar wird“,41 tut der zentralen Stellung des Ich in der Autobiographie keinen Abbruch. Aichingers Vorbemerkung bezieht sich distanzierend auf dieses Muster der Ich-Bildung. Wenn auch sie mit dem Ich beginnt, dann nur, um es zu sich selbst umgehend in ein Verhältnis der Differenz zu setzen  : „daneben“ nicht nur im Sinn von ‚unangemessen‘, sondern auch von einer räumlichen Distanz  : „Vieles lernte ich langsam, aber ‚ich‘ sagte ich bald und empfand es ebenso bald als daneben.“ (FuV 65) Als nächstes wird der Ergründung des Ich eine Absage erteilt, dem Erbe der Autobiographie von der religiösen Bekenntnisliteratur  : „Zugleich wollte ich nicht zuviel von mir wissen, weder wieviel noch wie wenig dahinter war. Weder dem Vielen noch dem Wenigen gewann ich etwas ab, beide hatten zuviel mit­einander zu tun.“ (FuV 65) Mit der Abwendung von der Tiefendimension (von dem, was „dahinter“ ist) distanziert sich Aichinger auch von der Poetik ihres früheren Werks. Der „Name“ ist nun sogar in der Kindheit nicht mehr Chiffre für Identität von Signifiant und Signifié  : Der „Gruß vom Christkind“, den sie als Stern mit ihrem Namen im allerersten „Journal“ findet, ist nicht identitätsstiftend, sondern eine Festschreibung ihrer Person  : Den „Gruß vom Christkind“, der gegen Ende Dezember im ersten Journal zwei Seiten füllte, nahm ich vorsichtshalber ernst. In seine Mitte war ein goldener Papierstern geklebt. Als ich ihn öffnete, stand mein Name darin. Der Gruß war für mich, und er klebte fest. (FuV 66)42

40 Martina Wagner-Egelhaaf  : Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 10. 41 Wagner-Egelhaaf  : Autobiographie, S. 10. 42 Die Textstelle nimmt auch auf die Größere Hoffnung Bezug, wo Ellen im 1. Kapitel ihren Namen in die Mitte des selbstgemalten Visums schreibt und im 5. Kapitel sich als Zeichen einer selbstgewählten Identität den Judenstern anheftet, den sie nicht tragen muss.

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Lieber sind ihr die Namen der anderen  : „Erst die Schule gefiel mir, die anderen, die andere Namen hatten, fremde Namen wie mein eigener, aber man konnte sie besser aussprechen  : Trude, Lisa, Edith.“ (FuV 65) Die anderen Namen ersetzen den einen durch viele und dezentrieren die Autobiographie. Gleichwohl erzählt Aichinger in der Vorbemerkung von sich, beschreibt sie die Ausbildung einer ersten Identität mit dem Erlernen von Lesen und Schrei­ben.43 Die leitenden Konzepte sind die Flüchtigkeit und das Verschwinden, welche der Tendenz der Autobiographie, die eigene Person abgrenzend hervor­zuheben und festzuschreiben, entgegenlaufen. Aichingers Kurzautobiographie zeigt selbstreferentiell die Entwicklung der Fähigkeit, im Schreiben zu verschwinden. In der frühen Kindheit fehlt dazu noch die Sprache  : „So kam ich auf die Flüchtigkeit, für die mir vorerst noch kein Wort einfiel. Auch für ‚Verschwinden‘ fiel mir keins ein, ich schloß die Augen, aber es reichte nicht.“ (FuV 65) Als sie Schreiben und Lesen lernt, kommt sie dem Verschwinden näher  : „Schreiben lernte ich ganz gern, wenn auch langsam. Das Lesen traute ich mir länger nicht zu. Dann half eins dem andern, plötzlich lernte ich rascher, die Lust an der Flüchtigkeit wuchs.“ (FuV 65f.) Über den Matrosenmantel der Schul­uniform findet das Kind für die Flüchtigkeit ein erstes Bild  : die Seefahrt. Das Konzept des Verschwindens ermöglicht nun sogar Identität und Zugehörigkeit  : Ich hatte eine Identität gefunden und begann, in meinen ersten Büchern nach Booten und Boots­zubehör zu suchen. So entdeckte ich die ersten Rettungsboote, während Lastzüge und Straßen­bahnen vorbeifuhren, und versuchte, sie nachzuzeichnen, zu zählen, abzuhaken. Möglicherweise hing die Affinität zu Schiffen mit ihrer Chance zu versinken zusammen, die mir jede Existenzform begreiflicher machte. Ich zeichnete auch in den höheren Volksschulklassen weiter Bootsdecke, Segel, Flaggen, Schorn­steine, Stewards und Passagiere, mindestens vier Kapitäne und Besatzungen, die auf keinem Zeichenblatt mehr Platz fanden. Und ich gehörte dazu. (FuV 66) 43 Damit steht Aichingers Autobiographie in der Tradition der literarischen Autobiographien des 20. Jahrhunderts, in denen, wie Manfred Schneider darstellt, die Kindheit eine Geschichte des Sprechen- und Schreibenlernens ist. In der Autobiographie des 18. Jahrhunderts dagegen, in der die Rechtfertigung vor dem Gericht im Vordergrund steht, herrscht eine Sprache der Vergehen und des Geständnisses vor und im 19. Jahrhundert, wo das Konzept einer natürlichen Entwicklung in Zentrum steht, ein familialer Code. Manfred Schneider  : Das Geschenk der Lebensgeschichte  : die Norm. Der autobiographische Text/Test um Neunzehnhundert. In  : Michael Wetzel  ; Jean-Michel Rabaté (Hrsg.)  : Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida. Berlin 1993, S. 249–265, hier 263f.

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In der Folge verschwindet dann das „ich“ aus dem Text, das auf der ersten Seite der Vorbemerkung in massiver Häufung präsent ist (z. B. „Vieles lernte ich langsam, aber ‚ich‘ sagte ich bald“) und auch auf der zweiten Seite noch die Syntax prägt. Zum grammatischen Subjekt wird die „Flüchtigkeit“  : „Die Flüch­tigkeit hatte weder Hand noch Fuß gewonnen, sondern die Gestalt eines Bootes, das sie mitnahm, vielleicht auch in den Untergang zog, auf den sie aus war.“ (FuV 67) Anschließend geht der Text zur Geschichte des Kinos über, das im Journal des Verschwindens die Seefahrt als Bild für das Verschwinden ablöst. An Stelle der eigenen Biographie kommt nun jene des Tonfilms in den Vordergrund  : „Als ich ins Kino geriet, war er längst zur Welt gekommen.“ (FuV 67) Als Auto­biographie mit einem verschwindenden oder bereits verschwundenen Ich kann denn auch das ganze Journal des Verschwindens bezeichnet werden, in dem das Pronomen der ersten Person Singular kaum je die Stelle des syntaktischen Subjekts einnimmt und oft überhaupt abwesend ist. Vom Roman über das eigene Leben zur Autobiographie ohne Ich. Der Rückblick auf die Erzählsituation von Die größere Hoffnung und Kleist, Moos, Fasane macht deutlich, wie sich in Aichingers Werk der Subjektbegriff und mit diesem die Form autobiographischen Erzählens verändert. Erstaunlicherweise steht gerade jenes Werk dem traditionellen Muster autobiographischen Erzählens am nächsten, das, bewusst von den konkreten biographischen und historischen Ereignissen abstrahierend, in der dritten Person geschrieben ist und die Gattungs­b ezeichnung „Roman“ trägt  : Die größere Hoffnung. Die Konstellation einer vom Ende her sprechenden Erzählstimme und der auf dieses Ende zu laufenden Pro­tagonistin, die in Denken, Sprechen und Kommunizieren nah verwandt sind, legt die autobiographische Lesart des Romans ebenso nahe wie die Analogien im Lebenslauf von Protagonistin und Autorin.44 Der Vergleich mit den frühen Tage­büchern aus den Jahren 1938–1945 macht deutlich, dass der Roman nicht nur die eigenen Erlebnisse systema­tisiert und objektiviert, sondern auch die mentalen Strategien, mit denen die Jugendliche auf Ausgrenzung, Erniedrigung und Todesgefahr reagierte.45 Dem autobiographischen Muster entspricht außerdem die über alle Diskontinuitäten hinweg existierende Chronologie der erzählten Ge­schehnisse

44 Vgl. die Passage zur Erzählperspektive des Romans, Kap 2.6. 45 Vgl. dazu auch Berbig  : „Die größere Hoffnung“ 1948, 1960 – zwei Seiten einer Me­daille  ?, S. 19–28.

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sowie die Darstellung wichtiger Entwicklungsschritte der Protago­nistin.46 Indem die Erzählstimme am Ende lokalisiert ist, auf welches die Hand­lung als „ein einziger Anlauf “ (DgH 268) zuführt, ist es dem Roman möglich, das Leben in seiner Geburt und Tod umfassenden Totalität zu erzählen. Verbürgt ist diese Totalität durch ein Subjekt, das in existentialistischem Sinn sich selbst entwirft. Mit Kleist, Moos, Fasane erfolgt der Wechsel zum Erinnern einer Ich-Erzählerin und mithin zu einer Erzählsituation, die in dem Band, der aus­schließlich nicht-fiktionale Texte enthält, als autobiographisch wahrgenommen wird.47 Erinnerndes und erinnertes Ich sind in den Texten, die jeweils Einzel­szenen aus Kindheit und Jugend vergegenwärtigen, in einem stabilen System verbunden. Das Erinnern bildet den Rahmen, innerhalb dessen die erinnerten Inhalte Gestalt annehmen. Das erinnernde Ich sieht, hört, weiß, glaubt, hofft und ist damit als Subjekt der Erinnerung gekennzeichnet, in deren Dienst es aus­schließlich steht. Das erinnerte Ich bleibt in Kleist, Moos, Fasane und Hilfsstelle hinter dem unpersönlichen „man“ oder kollektiven „wir“ halb verborgen. Erst in Der 1. Sep­ tember 1939, dem ersten Text, der die Ungewissheit des Erinnerns betont und damit die Position des erinnernden Ich relativiert, tritt es als „ich“ hervor. In den Feuilletons nun erscheint das „ich“ noch vereinzelt in den Erinne­ rungen, fast gar nicht mehr aber als erinnernde Instanz. Und dies obwohl die Gegenwartsebene, die sich zunehmend vom Dienst an der Erinnerung emanzi­piert, immer mehr Raum einnimmt. Das Subjekt dieser Texte lässt sich nicht ein­deutig identifizieren und lokalisieren. Es ist ein dezentriertes, vielstimmiges, flexibles Subjekt, das als erinnerndes wie als erinnertes stets in Bewegung ist. In Lya de Putti in der Hohlweggasse ist das erinnerte Ich ein paar Mal präsent, jedoch wieder nur im Plural gemeinsam mit der Zwillingsschwester. Auch das erinnernde Ich taucht hier und da auf, dabei jedoch nie als syntaktisches Subjekt. Diese Funktion nehmen bevorzugt die sprachlichen und klanglichen Erscheinungen ein  : der „Name“, die „Chopin-Etüden“, die zuschla­gende Tür, der „Tonfall“, „Bücher“ und „Bild“, vor allem aber immer wieder der „Satz“ von Lya de Putti, die an einem Hühnerknochen erstickt ist, und die „Nach­ richt“ von ihrem Tod.48 Wie das Ich zum Schluss zugunsten der Anwesenheit 46 Vgl. Kap. 2.2 – 2.4. 47 Nebst der Erinnerungsprosa enthält der Band die Aufzeichnungen aus den Jahren 1950–1985 und persönliche Texte zu anderen Autoren. 48 „Ihr Name gehörte zu den ersten Namen in der Wohnung unserer Großmutter. Sobald die Cho-

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der Mädchen auf dem Bild und von Lya de Putti verschwindet, wurde bereits be­schrieben.49 Zwar enthält der Text ein paar erinnerte Szenen aus Aichingers Kind­heit, das biographische Muster erscheint aber primär im Zusammenhang mit anderen Personen, die in den entsprechenden Passagen dann auch fast durch­gehend als syntaktisches Subjekt erscheinen  : Lya de Putti und die Schwester der Mutter. Im Verlauf von Der dritte Mann erscheint das erinnerte Ich – auch hier stets im Plural genannt, diesmal zusammen mit der Mutter – zweimal in der Erinnerung an die Wohnodyssee nach Kriegsende. Das erinnernde Ich ist nur ein einziges Mal genannt.50 Sein Ort ist dafür durch zeitliche Deiktika und subjektive Urteile mar­kiert  : So steht am Anfang, dass es „letzten Sonntag“ um 14.45 „leider“ keinen Third Man im Burgkino gab, was gegen 17 Uhr dann wiederum „gleichgültig“ war, da er ohnehin „bis zum nächsten Sonntag“ wieder untergetaucht wäre (FuV 199). Was über den Third Man gesagt wird, gilt auch für das Ich  : Es erscheint als verschwindendes. Die Funktion des syntaktischen Subjekts haben hier bevorzugt die Filme, Filmfiguren und Schauspieler inne. In den Texten des Bandes Unglaubwürdige Reisen entzieht sich das Ich noch radikaler  : Im Auge des Taifuns beginnt nicht nur ohne klares Subjekt, sondern gar ohne Prädikat  : „Das Frühstücksei um 12.43 oder einfach ‚ein Butter­ semmerl, wenn belieben‘ zur Portion heißer Schokolade.“ (UR 93) Zur über­ genauen Zeitangabe kommt nur die Aufzählung der Zutaten des Frühstücks. Die Höflichkeitsformel spart das Pronomen für die angesprochene Person aus. Die weiteren Sätze sind mit Subjekt und Prädikat bestückt, erst im dritten der fünf Abschnitte kristallisiert sich aber über die Vorstufe eines unpersön­lichen „man“ ein „ich“ heraus, das seine Verweigerung von Erinnern und Schreiben

pin-Etüden der Schwester unserer Mutter zugleich mit dem Klirren der Topfdeckel nachließen, fiel definitiv ein für mich bis heute entscheidender Satz oder, falls eine Tür zuschlug und den Beginn löschte, sein präzises Ende.“ (FuV 89) „Der Satz hob Verlassenheit und Langeweile auf und fiel kein zweites Mal. Was ihn anderen Sätzen überlegen machte, war sein Tonfall  : Er klang von Sonntag zu Sonntag unwahrscheinlicher und amüsanter.“ (FuV 89) „[…] konnte meine Schwester und mich die Nachricht davon nur an dem Ort erreichen, der ihr gemäß war.“ (FuV 90) „Bis heute fällt für mich der Satz in eine noch nicht von Gott verlassene Mittagsstille. Was ihn noch immer einigen anderen Sätzen überlegen macht, ist sein Tonfall  : er klang amüsiert, bis zu einem gewissen Grad erlöst und hing schräg im Raum.“ (FuV 90). „Die Nachricht von Lya de Putti war jeder anderen überlegen.“ (FuV 90) Hervorhebungen S. F. 49 Vgl. Kap. 5.3, S. 230f. 50 „Für mich bezeichnet [die letzte Aussage des Films  : ‚two thirty‘] eine der Tageszeiten, die durch die zeitliche Nähe aller Kinos erträglich wird.“ (FuV 210)

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artikuliert und dann unter dem Nachhall zweier weiterer Pro­nomen der ersten Person wieder verschwindet  : Nach einem unglaubwürdigen und übertriebenen Frühstück kann man den Tag mit mehr Zuver­sicht erwarten und überlegen, ob gegen Abend eher „Assam“ oder „St. James“ in Betracht käme. Oder keins von beidem, wegen Budgetüberschreitung. Wirkliche Dichter arbeiten ja den ganzen Tag, aber Dichter wollte ich nie werden, lieber warte ich auf den Assam – und auf das Tagesende, da kommt auch mehr heraus, die Nacht zum Beispiel. Mein einziges Café früher hieß „Norma“, öffnete um 9.25 Uhr, schloß um 18 Uhr, lag am Renn­weg, nahe von Hofmannsthals Geburtshaus, und ich kam nie hinein. (UR 93f., Hervorhebungen S. F.)

Am Ende steht wieder eine Demelsche Höflichkeitsformel  : „‚Haben schon gewählt  ?‘ heißt es bei Demel.“ (UR 95) Aichinger kontert sie mit einer Absage an das existentialistische Subjekt, das sich durch Entscheidung selbst setzt  : „Aber welche Wahl im Leben ist offen  ?“ (UR 95) Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit beginnt mit einem Zitat  : Das erin­ nernde Ich gibt sich nicht einmal mehr durch seine Stimme zu erkennen. Auch im weiteren Verlauf des Textes sind über die zitierten Weihnachtslieder andere Stimmen mit anwesend. Anstelle des erinnerten Ich bekommen unzählige Tiere ihren Auftritt. Das „ich“ erscheint wiederum in der Mitte des Textes, unmittelbar bevor Ratte und Erinnerung seine Überlegungen jäh unterbrechen und die Herr­schaft übernehmen  : Unlängst, nach „two thirty“, wie im Dritten Mann, hatte ich das Fest fast vergessen, saß in einem Kaffeehaus an der Wollzeile und überlegte, wie sich Buster Keaton im Filmmuseum und Mein Leben ohne mich im Cine vereinbaren ließen. […] Aber diese Überlegung wurde abrupt und in einem Grad unterbrochen, der mir weitere cineastische Unschlüssigkeiten ersparte.51

Von der Unsagbarkeit zum immer neuen Benennen  : literaturge­ schicht­l iche Einordnung. Innerhalb der Literaturgeschichte der Autobiographie kann die Erinnerungsprosa von Kleist, Moos, Fasane und Kurzschlüsse. Wien dem Paradigma von Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhun­ 51 Krokodile und Ratten zur Weihnachtszeit. Hervorhebungen S. F.

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dert zuge­ordnet werden  : Wie in diesem epochalen Werk werden auch bei Aichinger einzelne Momente der Hoffnung (bei Benjamin  : der Sehnsucht und Verheißung) vergegenwärtigt. Die Vergangenheit erscheint als verlorener Zustand von Sinn und Ganzheit, der im Erinnern augenblicksweise neue Präsenz erlangt. Über mythische Motive, die bei Aichinger vor allem in Kurzschlüsse präsent sind, wird die individuelle Erinnerung auf ein kollektives Gedächtnis hin transzendiert. Die Autobiographie besteht aus einer Reihe von kurzen Prosatexten, die ohne chronologische Ordnung aneinandergereiht und nur durch die gemeinsame Loka­lisierung in der Stadt der Kindheit verbunden sind. Den Zusammenhang stiftet nicht die Zeit, sondern der Ort, präsentiert wird nicht eine diachrone Erinnerung, sondern ein synchroner Schnitt  : eine Berliner Kindheit „um neunzehnhundert“, eine Wiener Kindheit und Jugend in den 30er- und 40er-Jahren des 20. Jahr­hunderts. Die Gegenwart ist hier insofern der Vergangenheit vorgeordnet, als das Erinnerte durch die Erinnerung geprägt ist. Film und Verhängnis ist dagegen jenen neuen autobiographischen Dar­ stellungen des Holocaust zuzuordnen, als deren Referenztext Wagner-Egelhaaf das 1992 erschienene Buch weiter leben. Eine Jugend von Ruth Klüger nennt,52 aus der Aichin­ger immer wieder den Satz zitiert  : „Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang.“53 Das Autobiographische ist hier, so die These von Wagner-Egelhaaf, nicht mehr Ziel der Darstellung, sondern wird zum Medium, mit dem das mittlerweile weit Zurückliegende vor dem Vergessen bewahrt werden soll. Im Vordergrund steht weniger die objektive Rekonstruktion des Gewesenen und Erlittenen als das Mitteilungsverhältnis zwischen Erzählerin und Leserschaft. Gegen den Unsagbarkeitstopos wird ein Sprechen gesetzt, das die Dinge mittels einfacher und deutlicher Worte beim Namen nennt. Wenn die Sprache auch hier die Schrecklichkeit der Ereignisse nicht erfassen kann, dann deshalb, „weil sie der permanenten Umschrift, sowohl im Bewusstsein wie in der Arbeit des Unbe­wussten, unterliegt und sich nicht in einer stabilen Signifikant-Signifikat-Relation feststellen lässt.“54

52 Wagner-Egelhaaf  : Autobiographie, S. 200. 53 Ruth Klüger  : weiter leben. Eine Jugend. München 1994, S. 35. Aichinger zitiert den Satz z. B. im Interview mit Julia Kospach und Peter Schneeberger  : „Es muss gar nichts bleiben“. Ilse Aichinger über Politik und Literatur, das Alter und den Tod. In  : profil, 28. 10. 1996. Wieder in  : Ilse Aichinger  : Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. Frankfurt/M. 1997, S. 31–38. Umgekehrt gibt es auch mehrere Texte von Klüger über Aichinger, so z. B. ein Nachwort zu Die größere Hoffnung und die Laudatio zum Joseph-Breitbach-Preis 2000. 54 Wagner-Egelhaaf  : Autobiographie, S. 200.

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Aichingers Autobiographie hat mit Klügers Erinnerungsbuch eine Gemein­ samkeit im Ton, der nicht nur von lakonischer Direktheit ist, sondern mitunter auch provokativ aggressiv. Beide schreiben dezidiert ihre gegenwärtige Sicht der Dinge in das Vergangene ein  : Das erinnernde Ich versetzt sich nicht einfühlend in die Gefühlswelt des erinnerten Ich, sondern leiht diesem seinen desillusionierten Blick. Kommunikativ hat Aichingers Autobiographie mehr Register als jene von Klüger, die doch primär in einem aufklärend anklagenden Gestus verharrt  : uner­wartete Wendungen, anekdotische Unterhaltung, satirische Entlarvung und auch die unsentimentale, aber doch ganz und gar zugewandte Hommage. Viel weiter geht sie sodann im permanenten Umschreiben der Erinnerung  : Während Klügers sich selbst kommentierende und reflektierende Autobiographie doch im Großen und Ganzen der Chronologie folgt, erzählt Aichinger einzelne, unverbunden aneinandergereihte Episoden immer wieder neu und anders, in deutlicher Zu­spitzung und – in bewusstem Verstoß gegen das Postulat von „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“, das die Diskussion um die referenzielle Textgattung der Autobio­graphie prägt55 – zunehmend „unglaubwürdiger“. Einzigartig in der deutschen Literatur ist, wie Aichinger unter der Bedingung der von Woche zu Woche fortgeführten Kolumne die Form der modernen Auto­biographie weiterentwickelt. Aichinger schreibt eine Autobiographie als Journal  :56 Der Erinnerungsprozess ist in einem konkreten Alltag verankert, der nicht auf die Funktion der Erinnerungsgenerierung beschränkt ist. In der schreibenden Ausei­nandersetzung mit dem gegenwärtig Vorgefundenen findet die Erinnerung Absprungmöglichkeiten. Erinnerung wird hier nicht inszeniert, sondern im Schreiben hervorgebracht. Die Sprache entfaltet selbst mnemonische Produktivität. Aichinger dezentriert die Autobiographie, indem sie sich mit dem Leben anderer befasst, die, von ihrem Verschwinden her betrachtet, zu schillernden Doppel­gängern und Wahlverwandten der eigenen Person werden. Über wörtliche und sinngemäße Zitate sprechen viele andere Stimmen mit. Die modernen Medien von Reiseführer, Tageszeitung, Film und Fotografie erweitern das persönliche Ge­dächtnis. Der Paradigmenwechsel, den Aichinger mit dem Journal des Verschwindens vollzieht, wird auch in der Topographie sichtbar, in der sich bei ihr stets die Struktur der Texte spiegelt  : Die größere Hoffnung ist durch die fragmentierte 55 Vgl. Wagner-Egelhaaf  : Autobiographie, S. 2. 56 Lejeune unterscheidet Autobiographie und Tagebuch über das Kriterium der rückblickenden Perspektive, die nur im ersten Fall gegeben ist. Lejeune  : Der autobiographische Pakt, S. 216.

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Topographie des Terrors geprägt, die auf das verlorene Ganze bezogen bleibt, das in der zerstörenden Entgrenzung für einen Augenblick auf neue Weise entsteht. Kurzschlüsse und Kleist, Moos, Fasane beschwören vereinzelt herausgehobene Orte, die ausschließlich mit dem fernen und elementaren Anderswo der Wüste oder der See verbunden sind. Im Vergleich dazu gewinnt das Spätwerk an Boden, ohne dass dieser zur kontinuierlichen Landkarte festgeschrieben wird. Den Kern dieser Topographie bilden die immer wieder begangenen Wege zu den bevor­zugten Kinos und Cafés der Wiener Innenstadt. In Film und Verhängnis erklärt Aichinger, dass sie am liebsten „bis zu sechs- oder siebenmal in denselben Film“ (FuV 14) geht, im Initialtext der Unglaubwürdi­ gen Reisen formuliert sie pro­grammatisch  : „Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten.“ (Eine Zigarre mit Churchill, UR 15) Von diesen immer gleichen Wegen aus, in denen sich die Gegenwartsebene des Journals spiegelt, springen Imagination und Erinnerung in weiter und weitest entfernte Gegenden. In der synchronen Betrachtung der Orte, die von den Texten immer einzeln angespielt werden, wird die Biographie der Autorin als Geographie sichtbar  : Wien, wo sie 1927 bis 1950 lebte und seit 1988 wieder wohnt, ist die Stadt der Kindheit, Kriegsund Nachkriegszeit sowie der Ort des schreibenden Erinnerns im Alter. Linz und Oberösterreich sind die Landschaften der Jugend. In England, wohin 1939 die Zwillingsschwester Helga emigrierte, hielt Aichinger sich erstmals 1947/1948 auf und danach immer wieder. Aus dem Gebiet der ehe­maligen k. u. k.-Monarchie stammen die mütterlichen Vorfahren, die jüdischen Verwandten wurden dahin deportiert. Die Umgebung von Salzburg ist die Land­ schaft der Jahre mit Günter Eich und den Kindern. Nach Italien fuhr man in den Urlaub, in die USA führte eine Lesereise. Ganz außen, vereinzelt in großer Ferne, befinden sich jene Orte, die von medialen Gedächtnissen in die Autobiographie hineingespielt werden  : Odessa, Shanghai, Assam etc. Im Rhythmus des Verschwindens  : Die Komposition der Journaltexte. Während das Erinnerungsprojekt bei seiner Entstehung immer nach vorne offen war,57 hat Aichinger die Texte für die Publikation in Buchform 57 Außer bei den kurzen Viennale-Tagebüchern wurde bei den Artikelserien, die immer mit einem programmatischen Text einsetzen, auch nie ein Schlussstein gesetzt  : Nach dem letzten Eintrag ins Journal des Verschwindens am 19. 10. 2001 steht der Vermerk  : „Das Journal des Verschwindens wird nächste Woche kurzfristig wieder durch ein Viennale-Tagebuch von Ilse Aichinger abgelöst

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durch Auswahl58 und Komposition zu einem „Ganzen“ gefügt, wie das die Konvention der Auto­biographie einfordert. Diese Ordnung folgt nun aber nicht dem naheliegenden Kriterium der Chronologie entweder der erinnerten Inhalte oder der Entstehung der Texte, wie sie in der Vorbemerkung erläutert  : Auch die „Standard“-Beiträge sind hier nicht chronologisch geordnet, nicht nach ihrem Er­scheinungsdatum, sondern nach ihren Landschaften, unterteilt von den Bildern des Bill Brandt […]. Eine Klammer ist dabei nicht zufällig  : Das „Journal“ setzt ein im Wien um 1930 – die Ufa und der Stummfilmstar Lya de Putti – und endet im Wien nach 1945, mit dem Dritten Mann. Mit Bill Brandt sollen den Laufbildern auch Standbilder entgegengesetzt werden, die die Be­wegung ordnen. Sie geben ihnen die Möglichkeit, während ihres Verschwindens Luft zu be­kommen. Damit könnte einsetzen, was den meisten Verschwundenen nicht gegönnt war  : ein Maß, das dem Glück, auch dem perfekten Unglück, Haltepunkte gibt. (FuV 70f.)

Drei Kompositionsprinzipien nennt Aichinger  : die Ordnung nach „Landschaften“, die Anfang und Ende aufeinander beziehende Klammer und eine Rhythmisierung durch den Wechsel von Lauf- und Standbildern. Mit den zeitlichen und räumlichen Eckpunkten von Wien um 1930 und nach 1945 schließt Aichinger die Textsammlung an die Größere Hoffnung an, wo sie mehr als 50 Jahre früher erstmals autobiographischen Stoff verarbeitete und dabei Anfang und Ende des Erzählens mit Wendepunkten der Biographie und des histo­rischen Geschehens verknüpfte. Die Grenzen sind im Journal weniger streng gezogen,59 und innerhalb der Klammer geht das heterogene Journal in Vergangen­heit und Zukunft weit über jenen Zeitraum hinaus. An Anfang und Ende bleibt aber das übergreifende zyklische Muster erkennbar, – mit dem im Vorjahr das Journal begann.“ Am 30. 11. 2001 erscheint dann aber statt der Fort­ setzung die erste Unglaubwürdige Reise. Am Ende der 85. Folge dieser Serie steht der Vermerk  : „Der Hitze wegen wird bis Anfang September keine unglaubwürdige Reise mehr angetreten.“ (Der Standard, 8. 8. 2003). Am 14. 11. 2003 meldet Aichinger sich mit dem ersten Schattenspiel zurück. 58 Das Journal des Verschwindens im Buch besteht aus einer Auswahl von Texten von den beiden Viennale-Tagebüchern und dem Journal des Verschwindens im Standard. 59 Das Journal endet mit der kriegsbedingten Wohnodyssee in den Jahren „nach 1945“ und beginnt schon in den Kindheitsjahren um 1930, die aber bereits auf den Krieg hin gedacht sind  : Der erste Text heißt Einübung in Abschiede und erzählt nicht nur von den ersten Kinos, sondern auch vom letzten gemeinsamen Kinobesuch mit der Schwester im Juli 1938.

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das vom Zentrum an die Peripherie führt und mit einem Sprung in die Mitte zurück endet  : Die ersten wie die letzten Texte zeigen eine Wiener Kinotopographie. Der eröffnende Text Ein­übung in Abschiede handelt von den „ersten Kinos“ (FuV 73) in der Jugend. Am Ende steht eine Stadt ohne Kino  : In Kar­ freitag ohne Kino erinnert sich Aichinger, dass in der Zeit vor dem Krieg am Karfreitag alle Kinos zugesperrt waren. In Der dritte Mann folgt eine Erinnerung an die Zeit nach 1945, als keine Kinos mehr existierten. Zuletzt schlägt diese Leere um in Fülle, über den Karfreitag ist dieser Wechsel sogar noch einmal an das Muster von Tod und Auferstehung gebunden. In der Gegenwart ist zwar die Peripherie kinofrei, nicht aber das Zentrum. Der übergreifende Bogen des Journals des Verschwindens führt von den Kinos der Jugend zur Abwesenheit des Kinos bei Kriegsende, die in der Gegenwart, wo ein Kinobesuch in Aussicht steht, in Anwesenheit umschlagen kann. Damit zielt die übergreifende Struktur des Journals darauf, im Kino zu verschwinden und zu erinnern. Das Ganze hat die selbe Struktur wie die einzelnen Teile, und was in dessen Vollzug erinnernd erneuert werden soll, ist der Prozess des Verschwindens und Erinnerns selbst. Die Klammer 1930–1945, die im Band Film und Verhängnis zweimal abge­ schritten wird,60 betont die zyklische Bewegung des Erinnerns. Als rein struk­ turelles Element erscheint diese beim dritten erwähnten Ordnungsprinzip  : Indem den Laufbildern des Kinos die Standbilder der Fotografie „entgegengesetzt werden, die die Bewegung ordnen“, bekommen sie „die Möglichkeit, während ihres Verschwindens Luft zu bekommen“ (FuV 71)  : Durch die Anordnung der Texte folgt die Autobiographie dem Rhythmus des Atems. Damit knüpft Aichin­ger noch einmal an ein frühes Konzept an, um es in die Struktur zu übertragen  : In Die größere Hoffnung vernimmt Ellen, bevor sie sich zum Gehen und Springen ent­scheidet, Jans Atem. In Das Plakat beginnt der Junge auf dem Weg vom Plakat in die Wirklichkeit zu atmen. Hier vollzieht das 60 Im ersten Teil, der wie das ganze Buch und der erste Text Film und Verhängnis heißt, folgen auf den vorangestellten Titeltext (der selbst wieder die Zeitspanne der 30er-Jahre bis nach 1945 abdeckt) und die Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis neun Texte, die im Titel jeweils einen Ort oder eine Person plus eine Jahreszahl zwischen 1930 und 1945 nennen  : Alt-Aussee, 1930  ; Weihnachten 1927, 1937, 1941  ; Die Tochter des Germanisten, 1934  ; Die Tochter des Kohlenhänd­ lers, 1941  ; Die Tochter der Altistin, 1942  ; Heinrich Sablik, Steuerberater, 1942  ; Apothekenbuchstelle, Schwarzenbergplatz  ; Der Kai, 1944  ; Wien 1945, Kriegsende. Innerhalb der Klammer sind die vergleichsweise konventioneller erzählenden Texte des ersten Teils, welche die biographischen Hintergründe mancher Szenen von Die größere Hoffnung aufdecken, nach der Chronologie des Erinnerten geordnet.

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Journal selbst die Grundbewegung der Existenz und bekommt dadurch ein Leben, wie es jene, die erinnert werden, nicht hatten  : „Damit könnte einsetzen, was den meisten Verschwundenen nicht gegönnt war  : ein Maß, das dem Glück, auch dem perfekten Unglück, Haltepunkte gibt.“ (FuV 71) Auch die Verwandlung des Schriftlichen zu neuer Mündlichkeit steht damit noch einmal in Aussicht. Was Aichinger als Anordnung nach „Landschaften“ bezeichnet, folgt ­einem analogen Konzept im Raum  : In der Praxis zu erkennen ist eine Ordnung nach den Themen, von denen die Texte ausgehen. Die Stars und Regisseure der Nazi-Filme sind beieinander, der Hollywoodfilm bildet eine Gruppe, die Beatles und Bob Dylan erscheinen zusammen, die Dichterkollegen Ernst Jandl und H. C. Artmann, die Fernsehkritik, der Dokumentarfilm, der Horrorfilm, das filmfreie Wien. Diese Themen sind Gebieten, Ländern und Kulturkreisen zugeordnet, die wiederum Orte von Aichingers Biographie sind  : Deutschland, England, Amerika, Österreich, Wien. Mit der räumlichen Anordnung der Texte entwirft Aichinger eine thema­tische wie ortsbezogene „Geographie der eigenen Existenz“ (FuV 44), wie sie es in Bezug auf die Biographie einer früheren Freundin nennt. Noch im letzten Band, den sie zusammenstellt, sogar bei diesem durch radi­kale Offenheit geprägten Projekt, verbindet Aichinger also die Texte zu einem übergreifenden offenen Ganzen. Dessen Struktur leitet sich aus der Dynamik des Erinnerns ab, das auf das Verschwinden zielt. Und hier, im Wie des Erinnerns, nicht als sein Gegenstand, wird denn in dieser „anderen Autobiographie“ auch die Person Ilse Aichinger hör- und sichtbar, die nicht durch ihre Lebensstationen unverwechselbar ist, sondern durch ihr Denken, Erinnern, Sprechen, Schreiben. Bei Unglaubwürdige Reisen liegt der Fall etwas anders. Als der Band konzi­ piert wurde, war Aichinger nicht mehr in der Lage, die Reihe der Texte zu über­blicken und zeigte auch kein Interesse daran. Er wurde deshalb mit ihrem Einver­ständnis und in Absprache mit Ursula Köhler, der Lektorin des Fischerverlags, von Franz Hammerbacher und mir als Herausgebern zusammen­ gestellt. Ein Verfahren, das durch Komposition neue Zusammenhänge schafft und zusätzliche Bedeutung generiert, wie Aichinger es bei der neuen Zusammen­stellung des Journals des Verschwindens praktizierte, ist für eine externe Heraus­geberschaft undenkbar. Deshalb hat Unglaubwürdige Reisen eine andere Struktur als alle früheren Bände von Aichingers Werk. Dem Band Unglaubwürdige Reisen ist die Flüchtigkeit dadurch eingeschrieben, dass die Prozessualität und Offenheit des Erinnerungsprojekts im Vor-

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dergrund steht. Die Ebene des Erinnerns ist meist weit stärker präsent als das Erinnerte. Die Ordnung der Texte folgt der Chronologie ihres Erscheinens, in der punktuell zwei Jahre Alltagsleben sichtbar werden. Neben den Texten sind sodann teilweise Aichingers Manuskripte abgebildet, die in besonderer Weise Spuren von Gegen­wart und von der Flüchtigkeit des Schreibens enthalten. Aichinger schrieb ihre Texte am Kaffeehaustisch auf fliegende, fliehende Zettel, die sie auf dem Weg ins Café oder daselbst aufstöberte  : auf Freecards und Briefumschläge ungeöffneter Post, zwischen die Zeilen von Werbematerial und Speisekarten, auf das offizielle Papier des Hotel Imperial, in Schulhefte oder auf die Innenseite einer aufgeris­senen Papiertüte.61 Nebst den Kolumnen stehen auf diesen Zetteln, die selbst wieder zur Inspirationsquelle werden konnten, Notizen zum Tag, Ver­abredungen, die Anzahl verbleibender Tabletten und die konsumierten Getränke. In diesen Alltagsnotizen, die sich auf basale Bedürfnisse und Orientierungspunkte im Tag beziehen, hat das schreibende Erinnern ein Widerlager, das gänzlich im Hier und Jetzt aufgeht.

61 Welche Änderungen diese Texte auf dem Weg in die Zeitung noch erfuhren, wenn Richard Reichensperger und Franz Hammerbacher die fliegenden Zettel nicht nur einsammelten, sortierten und tippten, sondern durchaus auch redigierten, wird noch zu erforschen sein im Vergleich der gedruckten Texte mit den Manuskripten, die sich inzwischen im Deutschen Literaturarchiv Marbach befinden.

gr aphie

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Interviews und Gespräche mit Ilse Aichinger Beilharz, Norbert  : Die Kinogängerin. Ein Film über Ilse Aichinger. D 2001. Esser, Manuel  : „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. Auszug aus einem Gespräch mit Ilse Aichinger im Anschluss an eine Neueinspielung des Hörspiels Die Schwestern Jouet. In  : Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Samuel Moser. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2003, S. 47–57. Kospach, Julia  ; Schneeberger, Peter  : „Es muss gar nichts bleiben“. Ilse Aichinger über Politik und Literatur, das Alter und den Tod. In  : profil, 28. 10. 1996. Wieder in  : Ilse Aichinger  : Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. Frankfurt/M. 1997, S. 31–38. Radisch, Iris  : „Ich will verschwinden.“ Ein Zeit-Gespräch mit der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger über das Glück im Krieg, das Gehen im Nebel, die lebenden Toten und das Schweigen. In  : Die Zeit, 1. 11. 1996. Wieder in  : Ilse Aichinger  : Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. Frankfurt/M. 1997, S. 53–64. Reichensperger, Richard  ; Wittstock, Uwe  : „Ich bin im Film“. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger über ihr neues Buch, ihre Begegnung mit Mengele, ihre Leidenschaft für das Kino sowie die Möglichkeit, darin zu verschwinden. In  : Die Welt, 25. 8. 2001. Schafroth, Heinz F.  : Meine Sprache und ich. In  : Zürcher Woche, 16./17. 1. 1971. Wieder in  : Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Samuel Moser. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2003, S. 31f.

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Bildnachweis Cover  : Wien, Schwedenbrücke © Kilophot, Wien Karten  : Karte 2  : © Compass-Verlag, Wien Karten 1, 3 und 4  : © Verlag Karl Baedecker GmbH, Osfildern-Kemnat

LITER ATURGESCHICHTE IN STUDIEN UND QUELLEN HG. V. KLAUS AMANN, HUBERT LENGAUER, KARL WAGNER

BD. 1: KLAUS AMANN, HUBERT LENGAUER, KARL WAGNER (HG.) LITERARISCHES LEBEN IN ÖSTERREICH 1848–1890 2000. 155 X 235 MM. 920 S., GEB. ISBN 978-3-205-99028-4 BD. 2: WERNER MICHLER DARWINISMUS UND LITERATUR NATURWISSENSCHAFTLICHE UND LITERARISCHE INTELLIGENZ IN ÖSTERREICH 1859–1914 1999. 155 X 235 MM. 560 S. BR. ISBN 978-3-205-98945-5 BD. 3 (VERGRIFFEN): CHRISTIANE ZINTZEN (HG.) DIE ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHE MONARCHIE IN WORT UND BILD AUS DEM KRONPRINZENWERK DES ERZHERZOG RUDOLF 1999. 210 X 270 MM. 312 S., 149 S/W-ABB., GEB. ISBN 978-3-205-99102-1 BD. 4: EBERHARD SAUERMANN LITERARISCHE KRIEGSFÜRSORGE ÖSTERREICHISCHE DICHTER UND PUBLIZISTEN IM ERSTEN WELTKRIEG 2000. 155 X 235 MM. 403 S. 3 S/W-ABB., GEB. ISBN 978-3-205-99210-3 BD. 5: HUBERT LENGAUER, PRIMUS HEINZ KUCHER (HG.) BEWEGUNG IM REICH DER IMMOBILITÄT REVOLUTIONEN IN DER HABSBURGERMONARCHIE 1848-49. LITERARISCH-PUBLIZISTISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN. 2001. 155 X 235 MM. 558 S., GEB. ISBN 978-3-205-99312-4 BD. 6: KARL WAGNER, MAX KAISER, WERNER MICHLER (HG.) PETER ROSEGGER – GUSTAV HECKENAST BRIEFWECHSEL 1869–1878 2003. 155 X 235 MM. 739 S. 16 S. S/W-ABB., GEB. ISBN 978-3-205-99482-4

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LITER ATURGESCHICHTE IN STUDIEN UND QUELLEN HG. V. KLAUS AMANN, HUBERT LENGAUER, KARL WAGNER

BD. 7: WENDELIN SCHMIDT-DENGLER OHNE NOSTALGIE ZUR ÖSTERREICHISCHEN LITERATUR DER Z WISCHENKRIEGSZEIT 2002. 155 X 235 MM. 216 S., GEB. ISBN 978-3-205-77016-9 BD. 8: ALEX ANDER PECHMANN HERMAN MELVILLE LEBEN UND WERK 2003. 155 X 235 MM. 336 + 12 S. 24 S/W-ABB., GEB. ISBN 978-3-205-77091-6 BD. 9: DORIS MOSER DER INGEBORG-BACHMANN-PREIS BÖRSE, SHOW, EVENT 1999. 155 X 235 MM. 550 S., 65 DIAGR., 6 TAB., GEB. ISBN 978-3-205-77188-3 BD. 10: IRENE RANZMAIER GERMANISTIK AN DER UNIVERSITÄT WIEN ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS KARRIEREN, KONFLIKTE UND DIE WISSENSCHAFT 2005. 155 X 235 MM. 215 S. BR. ISBN 978-3-205-77332-0 BD. 11: KLAUS AMANN, FABJAN HAFNER, KARL WAGNER (HG.) PETER HANDKE POESIE DER RÄNDER MIT EINER REDE PETER HANDKES 2006. 155 X 235 MM. CA. 208 S., GEB. ISBN 978-3-205-77379-5 BD. 13: PRIMUS HEINZ KUCHER (HG.) ADOLPH RIT TER VON TSCHABUSCHNIGG (1809–1877) LITERATUR UND POLITIK Z WISCHEN VORMÄRZ UND NEOABSOLUTISMUS 2006. 155 X 235 MM. 304 S. 355 S. 25 S. FAKS. BR. ISBN 978-3-205-77491-4

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BD. 14: ROBERT LEUCHT EXPERIMENT UND ERINNERUNG DER SCHRIFTSTELLER WALTER ABISH 2006. 155 X 235 MM. 348 S. BR. ISBN 978-3-205-77512-6 BD. 15: ANJA POMPE PETER HANDKE POP ALS POETISCHES PRINZIP 2009. 155 X 235 MM. 249 S. 6 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-412-20386-3 BD. 16: ALEX ANDRA KLEINLERCHER Z WISCHEN WAHRHEIT UND DICHTUNG ANTISEMITISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS BEI HEIMITO VON DODERER 2011. 155 X 235 MM. 466 S. 13 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-205-78605-4 BD. 17: IRINA DJASSEMY DIE VERFOLGENDE UNSCHULD ZUR GESCHICHTE DES AUTORITÄREN CHARAKTERS IN DER DARSTELLUNG VON KARL KRAUS 2011. 155 X 235 MM. 266 S. BR. ISBN 978-3-205-78615-3 BD. 19: SONJA OSTERWALDER DÜSTERE AUFKLÄRUNG DIE DETEKTIVLITERATUR VON CONAN DOYLE BIS CORNWELL 2011. 155 X 235 MM. 243 S. BR. ISBN 978-3-205-78602-3

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