Von der "Ordinarienuniversität" zur "Revolutionszentrale"?: Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976 9783486707335, 9783486593990

Reform und Revolte in den Universitäten Die 1960er und 1970er Jahre waren für die Universitäten der Bundesrepublik ein

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Von der "Ordinarienuniversität" zur "Revolutionszentrale"?: Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976
 9783486707335, 9783486593990

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Anne Rohstock Von der „Ordinarienuniversität" zur „Revolutionszentrale"?

Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte Band 78

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Anne Rohstock

Von der „Ordinarienuniversität" zur „Revolutionszentrale'? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen

1957-1976

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Bibliographische

Information

der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Satz: Typodata GmbH, München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-59399-0 ISSN 0481-3545

Inhalt Vorwort

1

Einleitung

3

/.

1. Thema, Fragestellung, Methoden und Aufbau der Arbeit

3

2. Forschungskontext und Forschungsstand

7

3. Quellengrundlage der Arbeit

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Hochschulreform

17

in Bayern und Hessen 1957-1967

1. Das Krisenszenario: „Bildungskatastrophe" a) b) c) d)

17

Rückständigkeit im Bildungswettlauf „Brain drain" und Akademikermangel Die Uberfüllung der Hörsäle Ansehensverlust durch steigende „Ausländerquoten" ?

17 23 25 30

2. Wachsende Kritik und gesellschaftliche Forderungen zur Reform der Hochschulen

33

a) Humboldt und der „Brotstudent": die Universität vor neuen Ansprüchen b) Wider die akademische Freiheit? Gedanken zur Anpassung der Universität an die Erfordernisse der Zeit c) „Ungeduldiger, schärfer, zeitweise sogar aufsässig": Studenten gegen die „Ordinarienuniversität" d) Zwischen „Feudalherrschaft" und „Pfründenerhaltung": Die „Ordinarienuniversität" im Urteil ihrer Kritiker 3. Reaktionen auf Krise und Kritik a) b) c) d)

Der Ausbau der Hochschulen in Bayern und Hessen Die Gründung der Universität Regensburg Die Einführung von Zulassungsbeschränkungen Landeskinder und Wehrdienstleistende rein - Ausländer raus? Die Umsetzung der Zulassungsregelungen e) Wider den „Bummelstudenten": Studienzeitverkürzung und Studienreform 4. Hochschulreform durch Hochschulgesetze? a) Von Reform keine Spur: Die geplante Kodifizierung eines Gewohnheitsrechts b) Hessen vorn: Der Weg in die Hochschulpolitik

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VI

Inhalt

c) „Staatsdirigismus"! Der Widerstand der Hochschulen gegen die hessische Reform d) „Notwendige Demokratisierung"! Studenten, Assistenten und Gewerkschaften auf der Seite der hessischen Landesregierung.. e) „Selten so viel Arbeit gehabt": Parlamentarische Beratung und Verabschiedung des Reformgesetzes f) Zu Reformen nicht bereit? Umsetzungen der Reformen und Eigeninitiative der Hochschulen in Bayern und Hessen

133 140 142 148

II. „ Wartet nicht auf Veränderungen an der Uni, sondern macht sie selbst!" Studentenrevolte und Hochschulreform 1967-1969 155 1. „68" in den Ländern: Das Jahr, das alles veränderte?

155

a) „Wider die Untertanenfabrik!" Hochschulpolitische Zielsetzungen, Strategie und Taktik der Neuen Linken b) Die Politisierung der Studentenschaft nach dem 2. Juni 1967 . . . c) Der Kampf gegen die „autoritäre Hochschule" d) Die hochschulpolitischen Implikationen des Kampfes gegen die Notstandsgesetze 2. Wasser auf die Mühlen der Revolte?

1. Demokratisierung: ja! Revolution: nein! a) Politische Studentengruppen und Gesamtstudentenschaft b) „1968" und die Assistenten c) Gruppenspezifische Weiterentwicklung der Forderungen: die Gewerkschaften 2. Die Parteien und ihre Jugendorganisationen

185 199

a) Linksfaschismus! Hochschullehrer gegen studentische Revolutionäre b) Die Reaktion der politisch Verantwortlichen: überwachen, aufklären, reformieren! c) Zum Eingreifen entschlossen: bayerische und hessische Disziplinierungsversuche d) „Summer of 69": Radikalisierung und Ausweitung der Revolte im Jahr 1969 e) Konzentration der staatlichen Kräfte im Kampf gegen „68": Bund-Länder-Kooperation zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit f) Ein bayerischer Sonderweg? Die Gleichsetzung von Studentenrevolte und NS-Verbrechen

III. „68" annehmen oder ablehnen? Die gesellschaftlichen Reaktionen die studentischen Forderungen

155 171 173

199 207 213 224

231 236

auf 241 241 241 248 250 254

Inhalt 3. Zwischen Abgrenzung und Solidarisierung: die Dozenten a) Marburg - München - Frankfurt: drei Idealtypen der Hochschulreform b) Demokratisierung aus eigener Kraft? Die Reformen der Universitäten

IV. Hochschulreform

in Bayern und Hessen 1968-1976

1. Reformen intensivieren! a) „Der Weg ist frei für überfällige Maßnahmen": die Auswirkungen der Revolte auf die Hochschulreform in Bayern und Hessen b) Effektivierung durch Expertise? Die Einsetzung von Expertenkommissionen und die Vorbilder der Hochschulreform in Hessen und Bayern 2. Bayern und Hessen im Gleichschritt a) Modernisierung und Demokratisierung. Die Entwürfe Hubers und Schüttes b) Krach im Parlament: Hearings zur Beratung der Hochschulgesetze 3. Bayern und Hessen am Scheideweg a) Badischer Liberalismus versus revolutionärer Sozialismus? Hans Maier und Ludwig von Friedeburg b) Rotes Hessen? Die Verabschiedung des hessischen Universitätsgesetzes c) Schwarzes Bayern? Die Verabschiedung des bayerischen Hochschulgesetzes 4. Realisierungen: Die Reformgesetze in den Universitäten a) Ende der „Ordinarienuniversität" ? b) Ausbau und Diversifizierung: die Einführung von Gesamtund Fachhochschulen c) Planung: ein sozialdemokratisches Konzept? 5. Die „konservative Wende" a) Unruhe und kein Ende? Universitäten und Linksaktivisten nach 1970 b) Gegen „rote Kaderschmieden": die „Gegenreformer" formieren sich c) Gescheiterte Reform? Aufbruch und Einbruch hessischer Bildungspolitik nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1973 d) Der lange Weg zum Hochschulrahmengesetz

VII 263 263 269

277 277

277

282 299 299 307 315 315 320 331 341 341 352 356 364 364 378

391 398

VIII

Inhalt

Epilog

405

1. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung

405

2. Von Bonn nach Bologna. Hochschulreform gestern und heute Rückblick und Ausblick

415

Abkürzungsverzeichnis

423

Quellenverzeichnis

427

Literaturverzeichnis

430

Personenregister

459

Vorwort „Gäbe es die letzte Minute nicht, so würde niemals etwas fertig". Dieses Zitat stammt zwar aus dem Munde Mark Twains. Sicher hat es aber auch mein Doktorvater auf den Lippen geführt, als er das fertige Manuskript in den Händen hielt. Herrn Prof. Dr. Udo Wengst gilt deswegen auch mein erster Dank. Er hat mir nicht nur geholfen, eine banale Minute in die letzte zu verwandeln. Sein Vertrauen in mich hat mir darüber hinaus wertvolle Erfahrungen beschert und zahlreiche wichtige Möglichkeiten eröffnet. Dadurch habe ich viel gelernt. Die letzte Minute verdankt die vorliegende Arbeit aber noch einer Reihe weiterer Personen und Institutionen. Das gilt vor allem für das Münchner Institut für Zeitgeschichte, das mir während der letzten vier Jahre nicht nur mein finanzielles Auskommen garantiert, sondern mich auch sonst in jeder Hinsicht großzügig unterstützt hat. Das trifft aber auch auf die zahlreichen Menschen zu, die in Archiven, Bibliotheken, Parteien und Ministerien zum Entstehen der Studie beigetragen haben. Für die Schutzfristverkürzungen und Genehmigungen zur Akteneinsicht bin ich insbesondere dem Bayerischen Innenministerium und der Bayerischen Staatskanzlei, Frau Monika Hohlmeier, Herrn Peter Ramsauer und Herrn Markus Gruber sowie der Archivleiterin der Hanns-Seidel-Stiftung, Frau Höpfinger, und der Leiterin des Archivs des Liberalismus, Frau Fassbender, verpflichtet. Herr Fürmetz vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Herr Bitterhof von der HannsSeidel-Stiftung, Herr Pradier von der Friedrich-Naumann-Stiftung, Herr SchulzLuckenbach vom Landtagsarchiv Wiesbaden sowie Herr Niesen und Frau Lenz vom Archiv der sozialen Demokratie in Bonn haben mich ebenso kompetent beraten wie sie mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen. Herr Lönnendonker und Frau Dombrowsky gewährten mir großzügigen Einblick in das Schriftgut der Sozialen Bewegungen, während ich Herrn Maaser, Herrn Garcia und dem Team vom Universitätsarchiv Frankfurt nicht nur die Einsicht in umfangreiches Aktenmaterial, sondern auch eine herzliche Aufnahme und tolle Bewirtung verdanke. Mein großer Dank gilt schließlich meinen Kollegen, meinen Freunden und meiner Familie. Namentlich Manfred Kittel und Elisabeth Zellmer haben meine Studie in verschiedenen Entstehungsphasen unterstützt, diskutiert und beraten; vor allem Elisabeth hat in jeder Hinsicht Großartiges geleistet. Bastian Hein danke ich für seine Anmerkungen und Hinweise das Schlusskapitel betreffend und Katja Klee für die sorgfältige Korrektur des Manuskripts. Ganz besonders wichtig war mir die Unterstützung meiner Eltern Evelyne und Fritz sowie meiner Geschwister. Sie alle haben das Manuskript ganz oder teilweise gelesen und mühevoll korrigiert. Am meisten verdanke ich aber Patrick Bernhard. Er war in diesen vier Jahren mein erster Leser, wichtigster Kritiker und engster Verbündeter. Widmen möchte ich die Arbeit schließlich Silvio. Er hat mir bis zur letzten Minute den Rücken freigehalten. München, 17. Juni 2009

Einleitung

1. Thema, Fragestellung, Methoden und Aufbau der Arbeit „Unter den Talaren - Muff von Tausend Jahren". Als Studenten der Universität Hamburg 1967 ein Plakat mit eben jener Aufschrift vor den Augen der anwesenden, feierlich im Talar gekleideten Ordinarien ausrollten, ahnten sie nicht, dass ihre Aktion Geschichte schreiben würde. 1 Noch heute, 40 Jahre nach der Revolte, steht dieser wohl bekannteste Slogan der „68er" sinnbildlich für eine vermeintlich Ende der 1960er Jahre urplötzlich kritisch und politisch agierende Studentenschaft, die mit ihrer plakativen „Enthüllungsaktion" erstmals überkommene Traditionen und Hierarchien der alten „Ordinarienuniversität" auf den Prüfstand gestellt und damit nicht nur für einen frischen Geist in den vermeintlich „muffigen" Hochschulen gesorgt habe. Die „68er" hätten auch, so die Vulgata weiter, die groß angelegten Hochschulreformen in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre ursächlich angestoßen und maßgeblich geprägt. 2 Tatsächlich traten parallel zur Studentenrevolte Ende der 1960er Jahre die Bemühungen der Politik um die Reform der Universitäten in ihre entscheidende Phase. Zwischen 1968 und 1973 verabschiedeten fast alle Länder der Bundesrepublik Hochschulgesetze. Auf den ersten Blick schienen diese auch inhaltlich von den Forderungen der radikalen Studenten beeinflusst. Das galt insbesondere für die Reformprogramme der sozialdemokratisch und sozialliberal regierten Länder: Namentlich die sogenannte Drittelparität, mit der die Studierenden die „Demokratisierung" der Universitäten erzwingen wollten und die gleichberechtigte Vertretung von Professoren, Assistenten und Studenten in den Gremien der akademischen Selbstverwaltung forderten, fand nun scheinbar über Nacht Eingang in die politische Diskussion und so manches Reformgesetz von S P D und FDP. Welchen Anteil an den Hochschulreformen der 1960er und 1970er Jahre hatten die studentischen „Revolutionäre" des Jahres 1968 aber tatsächlich? Kam die Hochschulreform wirklich erst durch den Druck, den die Studierenden mit neuen Aktionsformen wie Teach-in, Sit-in und Hunger-in, „Vorlesungssprengungen", Streiks und Universitätsbesetzungen ausübten, in Gang? Und ließ sich die Politik tatsächlich auch inhaltlich auf die Forderungen ein? Oder ist es schlicht ein liebgewordener Mythos, dass es ein paar Tausend Studenten in nur wenigen Jahren gelungen sei, die Hochschulen nach ihren Vorstellungen zu verändern, wie bereits Zeitgenosse Hermann Lübbe argwöhnte? 3 N u n war die Protestbewegung aufgrund ihres geringen organisatorischen Rückhalts und ihrer antiinstitutionellen Ausrichtung zu direkter politischer Lobbyar-

1 1

3

Kraushaar: 1968 als Mythos, S. 196ff. Vgl. Bauß: Studentenbewegung; Fichter/Lönnendonker: Kleine Geschichte des S D S ; Kimmel: Studentenbewegungen. Lübbe: Mythos, S. 17-25.

4

Einleitung

beit aber selbst nicht fähig. Das hat die soziale Bewegungsforschung in den letzten Jahren hinreichend deutlich gemacht. 4 Sie bedurfte hierzu anderer gesellschaftlicher Akteure, Strukturen und Instanzen. 5 U m nachvollziehen zu können, über welche „Mittlerstellen" die Forderungen der Studenten möglicherweise Eingang in die Politik fanden, nimmt die Arbeit eine Vielzahl der in der Hochschulreform engagierten Gruppen in den Blick. Neben Protagonisten der Revolte, wie etwa der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), finden auch andere studentische Zusammenschlüsse, die Assistentenorganisationen, Vereinigungen der Hochschullehrerschaft, die Jugendorganisationen der Parteien sowie die Gewerkschaften Eingang in die Darstellung. Auf diese Weise lassen sich zugleich Aussagen über die gesellschaftliche Breitenwirkung und Eindringtiefe der hochschulpolitischen Forderungen der „68er" treffen. Welche Gruppen nahmen die Forderungen der Radikalen auf, entwickelten sie weiter und passten sie den eigenen Bedürfnissen an? Wer lehnte demgegenüber die Forderungen ab und welche Konsequenzen hatte das? Außerdem ist es erforderlich, einen größeren Zeitraum zu untersuchen. N u r so ist es möglich, voreilige Rückschlüsse zu vermeiden und alle hochschulpolitischen Veränderungen automatisch den radikalen Studenten zuzuschreiben. Ausgangspunkt der Studie ist deswegen die sozialgeschichtliche Zäsur des Jahres 1957/58, das in vielerlei Hinsicht auch einen bildungshistorischen Einschnitt markiert. 6 Im Gefolge von Sputnik-Schock, steigenden Studentenzahlen und Wirtschaftswunder steuerte die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt auf einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel zu, mit dem sich der allmähliche Ubergang vom „Bildungsnotstand" zum „Bildungsboom" vollzog. 7 Der dauerte letztlich etwa zwei Jahrzehnte, in denen die Universitäten in historisch bislang einmaliger Weise ausgebaut, umgebaut und reformiert wurden. Die Studie endet mit der Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes des Bundes im Jahr 1976, mit dem ein vorläufiger Schlusspunkt hinter die qualitativen Reformbemühungen der aus bildungshistorischer Sicht besonders „langen 1960er Jahre" gesetzt wurde. 8 Wie genau aber lässt sich diese Epoche des Bildungsbooms inhaltlich fassen? Welche Leitmotive prägten die Hochschulreform in der Bundesrepublik? Die Debatte über die Neuordnung der Universitäten von den späten 1950er bis in die 1970er Jahre wurde zunächst einmal entscheidend vom Begriff der Modernisierung bestimmt. Darunter verstanden die bildungspolitisch engagierten Zeitgenossen vor allem Bemühungen zur Effektivierung, Rationalisierung und „Ökonomi4 5 6

7

8

Gilcher-Holtey: Protest, Revolte, Kulturrevolution? Ähnlich: Bernhard: Zivildienst. Zur sozialgeschichtlichen wie sozialpolitischen Zäsur des Jahres 1 9 5 7 / 5 8 vgl. Hockerts: Metamorphosen, S. 35-45. Den „Bildungsnotstand" machte zeitgenössisch der Pädagoge und Publizist Georg Picht aus. Vgl. Picht: Bildungskatastrophe. Einen „Bildungsboom" diagnostizierte in den 1970er Jahren der Psychologe und Pädagoge Josef Hitpass. Vgl. Hitpass: Bildungsboom. Dieser Begriff hat heute Eingang in Titel zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen gefunden. Vgl. Rudioff: Bildungsplanung, S. 2 5 9 - 2 8 2 ; ders.: Does science matter?; demnächst auch: Rohstock: Georg Picht. Die Expansion der Hochschulen ging demgegenüber noch bis in die 1980er Jahre weiter. Zum Begriff der „langen 1960er Jahre", die über das kalendarische Jahrzehnt hinausgehen und die erweiterte Dekade zwischen 1958 und 1974 umfassen, vgl. Marwick: The Sixties.

1. Thema, Fragestellung, Methoden und Aufbau der Arbeit

5

sierung" des westdeutschen Hochschulwesens, mit dem man sich in dem durch den Kalten Krieg geprägten Bildungswettlauf zu positionieren versuchte. 9 Welche Rolle, so die daran anschließende Frage, spielte hierbei das westliche Ausland als Modell? Im Zuge der Modernisierungsdiskussion begannen westdeutsche H o c h schulexperten ja immer mehr über den eigenen, nationalen Tellerrand hinauszublicken. Welcher Stellenwert kam darüber hinaus dem Instrument der Planung zu? Ihre Aufgabe war es, wissenschaftliche Prognoseinstrumente zu schaffen, um die zukünftigen Entwicklungen im Hochschulbereich langfristig einschätzen und entsprechende Zielvorgaben entwickeln zu können. Zeitigte der Modernisierungsdiskurs also auch eine Verwissenschaftlichung der Bildungspolitik? 1 0 Wie sind darüber hinaus die Folgen der Planung im Hochschulwesen zu beurteilen?" Gab es etwa Bereiche, in denen die staatliche „Planungseuphorie", die kennzeichnend insbesondere für die Sozialdemokratie in den 1960er und 1970er Jahren war, mit den „Demokratisierungsansprüchen" der Studenten kollidierte? Das leitet über zu dem zweiten Leitmotiv der Hochschulreformen in den 1960er und 1970er Jahren. Neben der Modernisierung stand die Demokratisierung der Universität im Vordergrund der Neuordnungsbemühungen. Die Studie fragt nach dem Verhältnis dieser beiden Leitmotive zueinander und ihrer jeweiligen Gewichtung im Untersuchungszeitraum. Dabei sind insbesondere die unterschiedlichen Zielsetzungen zu berücksichtigen, die sich hinter den jeweiligen Demokratisierungskonzepten verbargen. Sie bewegten sich im Wesentlichen zwischen zwei Polen: Während die Politik mit Demokratisierung zumeist die Verwirklichung von Chancengleichheit beim Zugang zu den Hochschulen durch den Abbau sozialer, regionaler und geschlechtsspezifischer Selektionsmechanismen sowie die Entwertung von traditionellen Hierarchien bei gleichzeitiger Aufwertung individueller Partizipationsmöglichkeiten meinte, verstanden die radikalen Studenten darunter etwas ganz anderes: In der Tradition marxistischer Demokratietheorien argumentierend war für sie „Demokratie" kein Wert an sich, sondern eher ein Instrument des revolutionären Kampfes mit dem Ziel der Überwindung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bzw. der Schaffung einer „staatsfreien", „harmonischen" und „spontanen Gemeinschaft". 1 2 Wie entwickelten sich die unterschiedlichen Demokratisierungskonzepte in den 1960er und 1970er Jahren und wie beeinflussten sie sich möglicherweise gegenseitig? Wie standen schließlich die Hochschulen selbst den Modernisierungsabsichten der Politik und den Demokratisierungsforderungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber? Hier ist auch die Frage nach möglichen kulturellen, habituellen und institutionellen Kontinuitäten in einer Dekade zu stellen, die die jüngere Forschung gemeinhin als „dynamische" Zeit 1 3 , als Periode der „Fundamentalliberalisierung" 1 4 und der „Demokratisierung" 1 5 kennzeichnet.

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Jessen: Bildungsökonomie, S. 2 0 9 - 2 3 1 . Rudioff: D o e s science matter?; Fisch/Rudloff: Experten und Politik. Dieses Desiderat formuliert Metzler: Ende aller Krisen?, S. 5 7 - 1 0 3 . Sartori: T h e o r y of Democracy. Schildt/Siegfried/Lammers: Dynamische Zeiten. Herbert: Liberalisierung. Frese/Paulus/Teppe: Demokratisierung.

6

Einleitung

Während heute weitgehend Konsens darüber herrscht, dass die ambitionierten universitären Neuordnungsversuche der 1960er und 1970er Jahre zumindest teilweise gescheitert sind, ist demgegenüber noch offen, wie es dazu kommen konnte. 16 Das führt zu der Frage nach den Folgewirkungen von „1968". Wie beeinflussten die radikalen Aktionen der Studenten die Durchsetzungsmöglichkeiten von Reformen? Scheiterten Teile der Neuordnungsbemühungen tatsächlich an der Ideologisierung und Politisierung der Universitäten durch die „roten Revolutionäre"? Oder war nicht vielleicht die Hochschulreformdebatte bereits vor „1968" politisch so aufgeladen, dass die Umsetzung von Reformen schon zu Beginn der 1960er Jahre stecken zu bleiben drohte? Diesen Fragen geht die Studie anhand der Hochschulreformen in den Bundesländern Bayern und Hessen in komparativer Perspektive nach. Sinnvoll ist der regionale Vergleich vor allen Dingen deswegen, weil die Hochschulpolitik im Kulturföderalismus der Bundesrepublik primär Sache der Länder ist. Bayern und Hessen sind zudem aufgrund markanter Unterschiede geradezu prädestiniert für eine kontrastierende Darstellung: Zum einen herrschten bei den beiden Nachbarn seit den späten 1950er Jahren entgegengesetzte, klare parteipolitische Verhältnisse. Während im „Sozialdemokratischen Musterland" Hessen die S P D seit 1946 durchgehend in der Regierungsverantwortung stand und schließlich ab 1970 die sozialliberale Koalition auf Bundesebene nachbildete 17 , wurden die 1960er Jahre in Bayern zum unaufhaltsamen Aufstieg der Christlich Sozialen Union unter ihrem Vorsitzenden Franz Josef Strauß. 18 Zum anderen stellte das traditionell tief verwurzelte und an staatliches Sonderbewusstsein grenzende Föderalismusverständnis der Bayern gewissermaßen einen Gegenpol zu den eher unitarisch orientierten hessischen Liberalen dar, die sich seit 1970 in der Regierungsverantwortung befanden. Der synchrone, systematische Vergleich birgt aber noch viel größeres Erkenntnispotenzial als die bloße Herausstellung von Unterschieden. Er kann ein nützliches heuristisches Instrument zur Uberprüfung von tatsächlichen Folgen von Reform und Revolte sein. So lässt sich der von einigen Zeitgenossen ausgemachte Wirkungszusammenhang zwischen den sozialdemokratischen Hochschulreformen und den „Zuständen" an den Universitäten als „ H o t - S p o t s " der Studentenrevolte überprüfen. Das bietet u. a. den Vorteil, besonders schwer nachzuweisende politisch instrumentalisierte Rhetorik gewissermaßen entkleiden und nach ihrem eigentlichen Gehalt bzw. ihren wahren Motiven befragen zu können. Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. U m bestimmen zu können, welche Neuerungen der Politik im Hochschulbereich tatsächlich auf den im Zuge der Revolte prononcierten studentischen Forderungen beruhten, ist es notwendig, die Hochschulreformpolitik und die Hochschulreformdebatte für die gesamten 1960er Jahre - und zwar sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene - nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt dieses ersten Kapitels, das die Zeit von 1957 bis 1967 umfasst, steht der Krisendiskurs um die Zukunftsfähigkeit der Hochschulen in Politik und

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So jüngst wieder Hans Günter Hockerts. Vgl. Hockerts: Rahmenbedingungen, S.3-155. Beier: S P D Hessen; Berding/Eiler: Hessen. Schlemmer: Aufsässige Schwester, S. 287-324.

2. F o r s c h u n g s k o n t e x t und F o r s c h u n g s s t a n d

7

Gesellschaft der Bundesrepublik, der sich Ende der 1950er Jahre entspann. Unter der Druckglocke des Kalten Krieges gewann diese Diskussion bald eine enorme Dynamik und führte bereits vor der Studentenrevolte zu ersten hochschulpolitischen Reformmaßnahmen der Länder. Ein zweites Kapitel umfasst den Zeitraum zwischen 1967 und 1969. Es behandelt die studentische Revolte an den Universitäten beider Länder und fragt sowohl nach ihren hochschulpolitischen Forderungen als auch nach den Reaktionen auf die Aktionen der radikalen Jungakademiker in Bund und Ländern. Wie genau reagierten Bayern, Hessen und die Bundesrepublik insgesamt auf die Herausforderung, die sich ihnen an den Universitäten stellte? In einem dritten Kapitel soll die Frage geklärt werden, welchen Einfluss „1968" auf die Hochschulreformanliegen verschiedener in der Hochschulpolitik engagierter Akteure hatte, die als Mittler der radikalen studentischen Forderungen in die Politik in Frage kommen. Betrachtet werden studentische Zusammenschlüsse, die Gewerkschaften, die Assistenten und die Jugendorganisationen der Parteien. Ein viertes Kapitel widmet sich den Reformen der Politik nach der Revolte. Welche Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten lassen sich im Vergleich zu den hochschulpolitischen Reformmaßnahmen zu Beginn des Jahrzehnts ausmachen und wie sind die möglicherweise hier aufscheinenden Differenzen zu erklären? Zudem setzt sich das Kapitel mit der Formierung einer konservativen Gegenbewegung auseinander. In welchem kausalen Zusammenhang stand das Erstarken einer Koalition der „Konterreformer" mit der Revolte an den Universitäten und welche Folgen hatte das für die Umsetzung der hochschulpolitischen Reformen? Die Arbeit endet schließlich mit einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse und verknüpft in einem Ausblick die Reformperiode der „langen 1960er Jahre" mit heutigen Bestrebungen zur Neuordnung der Universitäten. Indem die Brücke von „Bonn" (dem Zeitpunkt der Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes 1976) nach „Bologna" (Bolognaerklärung der EU-Staaten zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums 1999) geschlagen wird, soll ein Beitrag zur geschichtlichen Einordnung der Hochschulreform in der Bundesrepublik geleistet werden.

2. Forschungskontext und Forschungsstand Die Studie ist Teil eines Projekts des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Udo Wengst. Unter dem Titel Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren geht es der Frage nach den Interdependenzen von politischen Reformen auf der einen und der „68er"-Revolte auf der anderen Seite nach. 1 9 Das 19

In diesem Projekt sind bisher zwei Monografien erschienen, die sich mit der Geschichte des Zivildienstes und der Entwicklungspolitik beschäftigen. Vgl. Bernhard: Zivildienst, und Hein: Westdeutsche. Zwei weitere Studien, die die Kulturpolitik in Frankfurt am Main (Kittel: Marsch durch die Institutionen) und die N e u e Frauenbewegung in München (Zellmer: T ö c h t e r der Revolte) in den Blick nehmen, sind auf dem Wege der Publikation bzw. liegen als Manuskript vor.

8

Einleitung

Projekt widmet sich im Wesentlichen zwei Untersuchungskomplexen: Zum einen ist es ihm um eine Einordnung der „68er"-Revolte in die „langen 1960er Jahre" zu tun. Im Rahmen einer Wirkungsgeschichte der Bewegung soll der Anteil der Revolte sowohl an den auszumachenden Liberalisierungs- und Demokratisierungsphänomenen als auch an dem Erstarken einer Gegenbewegung unter konservativen Auspizien Ende der 1960er Jahre ausgelotet werden. Damit fügt das Projekt zwei von der Forschung bis vor kurzem erstaunlicherweise zumeist voneinander getrennt behandelte Entwicklungslinien - Reform auf der einen, Revolte auf der anderen Seite - zusammen und vermag mit dieser Verschränkung Aussagen über ihr wechselseitiges Antriebs- bzw. Blockadeverhältnis zu treffen. 2 0 Zum anderen geht es um mögliche Kennzeichnungen der „langen 1960er Jahre". In welchem Verhältnis, so die Frage, stehen die zu beobachtenden tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen zu der ebenfalls offenbar werdenden Formierung starker Beharrungskräfte in Teilen von Politik und Gesellschaft als Agenten der „Konterreform" mit deutlich retardierendem Einschlag? Birgt also die Dekade jenseits des vorherrschenden Bildes von einer Periode des beschleunigten politischen und gesellschaftlichen Wandels nicht auch Widersprüche in sich und entzieht sich daher allzu einheitlichen Zuschreibungen wie „Modernisierung", „Westernisierung" und „Liberalisierung"? 2 1 Das Projekt und die vorliegende Studie ordnen sich damit in den seit 1998 zu beobachtenden Forschungsboom zu „1968" ein. Ziemlich punktgenau zum dreißigsten „Dienstjubiläum" war „1968" nicht mehr bloßes „Ereignis", sondern wurde „zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft". 2 2 In der Folge entspann sich eine kontrovers geführte wissenschaftliche Debatte um Stellenwert, Folgen und Wirkungen des Phänomens „68". 2 3 Die Diskussion oszillierte im Wesentlichen zwischen zwei Polen: Während die einen mit Blick auf die Revolte und den sozialliberalen Regierungswechsel von 1969 eine „Umgründung der Bundesrepublik" 2 4 ausmachten, sprachen andere davon, dass die Gestaltungskraft der „kritischen Generation" der „68er" nichts anderes als ein „Mythos" sei, der durch die Bewegten selbst am Leben erhalten werde. 2 5 20

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Dieses Forschungsdesiderat formulierte Rudolph: M e h r als Stagnation und Revolte, S. 141-151, bereits 1990. So auch: Hein: Westdeutsche. Ahnlich Siegfried: Weite Räume. M a n könne, so sein Plädoyer, die Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik nicht als „ungebrochene Modernisierungsgeschichte" schreiben. Vgl. den Literatur- und Forschungsüberblick unter: http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2327 (letzter Zugriff 3 0 . 0 7 . 2 0 0 7 ) . Vgl. zu einem ersten Publikationsschub bereits in den 1970er und 1980er Jahren insbesondere Kraushaar: 1968. Das Jahr, S. 31 I f f . Vgl. G i l c h e r - H o l t e y : 1968. V o m Ereignis zum Gegenstand; Kraushaar: 1968. Das Jahr; ders.: 1968 als Mythos; F i c h t e r / L ö n n e n d o n k e r : Macht und O h n m a c h t ; dies.: Kleine Geschichte des SDS; Koenen: Rotes Jahrzehnt; mit einem Augenzwinkern: Wesel: Verspielte Revolution. I m pulse zur Historisierung der „68er" lieferten auch verschiedene Literatur- und Archivführer, etwa von Gassert/Richter: 1968 in W e s t - G e r m a n y ; Becker/Schröder: Die Studentenproteste der 60er Jahre. Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik, S. 475ff.; den Aufbruch durch den Regierungswechsel betonend: M a r ß o l e k / P o t h o f f : D u r c h b r u c h zum modernen Deutschland? D e n Stellenwert einer tiefen Zäsur - auch in internationaler Perspektive - räumt der „ 6 8 e r " - B e w e g u n g darüber hinaus G i l c h e r - H o l t e y : 1968. V o m Ereignis zum Gegenstand, ein. So Lübbe: M y t h o s der kritischen Generation, S. 17-25. Ähnlich auch Kleßmann: Zwei Staaten; Fels: D e r Aufruhr.

2. F o r s c h u n g s k o n t e x t u n d F o r s c h u n g s s t a n d

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Parallel dazu gerieten seit Ende der 1990er Jahre zunehmend übergreifende Entwicklungslinien der jüngeren Bundesrepublikgeschichte in den Blick. Forschungen zu den „langen 1960er Jahren" erlebten eine wahre Konjunktur. Wichtige Impulse auf diesem Weg lieferten die Beiträge verschiedener Forschergruppen um Ulrich Herbert in Freiburg 2 6 , Axel Schildt in Hamburg 2 7 , Anselm DoeringManteuffel in Tübingen 2 8 und ein von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe herausgegebener Sammelband zu den 1960er Jahren als „Wendezeit" der Bundesrepublik 29 . Darüber hinaus sorgten einzelne Projekte, wie das von Hans Woller und Thomas Schlemmer geleitete IfZ-Projekt Bayern im Bund30 und Forschungsarbeiten des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte 31 für eine Erweiterung der Perspektive um landes- bzw. regionalgeschichtliche Aspekte. Relativ einheitlich stellten diese Beiträge die „langen 1960er" als eigentliche Zäsurzeit der Bundesrepublik heraus und wiesen auf die Bedeutung der Dekade als Periode der „Diversifizierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung" 32 hin. Dadurch relativierten sie - meist ohne explizit auf die „68er" Bezug zu nehmen - implizit die Bedeutung der Ereignisse um 1968 für die Transformationsprozesse in Westdeutschland. Seitdem hat das Interesse an „1968" noch einmal erheblich zugenommen. Die im Vergleich zu früheren Arbeiten wesentlich differenziertere Beurteilung des Phänomens in neueren Forschungsarbeiten hat mehrere Gründe: Zum einen unterliegt die Debatte den Folgen eines Generationswechsels. Zunehmend betreten nun auch jüngere Historiker das Forschungsfeld und beginnen die „Deutungshoheit" der unmittelbar involvierten Zeitgenossen 33 durch einen unverstellteren Blick abzulösen. 34 Zum anderen greift eine fortschreitende Internationalisierung der Forschungsperspektive Platz 3 5 , in deren Zuge nun auch die Ereignisse in Osteuropa in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. 3 6 Drittens stellen neueste Arbeiten die Ereignisse um 1968 bewusst in den Kontext der gesellschaftlichen Wandlungsphänomene der „langen 1960er Jahre". 3 7 Gemein ist diesen Arbeiten,

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Vgl. den erste Ergebnisse zusammenfassenden Sammelband Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Vgl. den von Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers herausgegebenen Sammelband Dynamische Zeiten. Zusammenfassend Doering-Manteuffel: Wie westlich? Frese/Paulus/Teppe: Demokratisierung. Schlemmer/Woller: Bayern im Bund. Band 1-3 und die im Rahmen des Projekts publizierten Monografien von Süß: Kumpel und Genossen; Balear: Politik auf dem Land; Schlemmer: Industriemoderne in der Provinz; Grüner: Geplantes „Wirtschaftswunder"? Vgl. Westfälische Forschungen 48 (1998). Vgl. Siegfried: Weite Räume. Vgl. dazu die Aussagen von Bovenschen: Generation, S. 2 3 2 - 2 3 8 . Vgl. etwa die Dissertation von Kießling: Antiautoritäre Revolte. F ü r den Medien- und Kulturbereich vgl. Klimke/Scharloth: 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte. Vgl. Schmidtke: J u n g e Intelligenz; Etzemüller: 1968; H o r n : T h e spirit of 68; H o r n / K e n n e y : Transnational Moments; Gassert/Steinweis: Coping; Paulus: Vorbild U S A ? ; Kastner/Mayer: Weltwende 1968. Ebbinghaus: Letzte Chance?; François u.a.: 1968; Karner u.a.: Prager Frühling; K u k u k : Prag 68. Speziell für die 60er Jahre in der D D R : Fenemore: Sex, Thugs and R o c k ' n Roll; Liebing: „All Y o u need is beat"; Poiger: J a z z , R o c k and Rebels; Wolle: Traum. Vgl. Siegfried/Hodenberg (Hrsg.): W o „ 1 9 6 8 " liegt; Etzemüller: 1968; H e r m l e / L e p p / O e l k e : Umbrüche.

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Einleitung

dass sie auf breiter empirischer Basis einen geringeren Einfluss der Revolte auf politische Reformen und gesellschaftlichen Wertewandel konstatieren, als das bis vor kurzem gemeinhin angenommen wurde. 3 8 Während allerdings eine als „revisionistisch" zu bezeichnende Forschungsströmung die Anteile der Revolte an den Liberalisierungsprozessen der Dekade fast vollständig negiert, macht eine Gruppe von „Postrevisionisten" dagegen spürbare Wirkungsanteile von „1968" an den vielfältigen Umbrüchen des Jahrzehnts aus. 3 9 Wie etwa die aus dem IfZ-Projekt hervorgegangenen Dissertationen zur Geschichte des Zivildienstes 40 und der Entwicklungshilfepolitik 4 1 zeigen können, musste die sozialliberale Koalition zu Reformen regelrecht gezwungen werden, bzw. traf „1968" gar nicht auf die „fundamentalliberalisierte" Gesellschaft, die Ulrich Herbert und, mit ähnlicher Tendenz, neuerdings Götz A l y ausgemacht haben. 42 Der 40. Jahrestag der Revolte im Jahr 2008 verzeichnete den zu den „Dienstjubiläen" üblichen Anwuchs an Literatur zum Thema. Es dominierten Darstellungen zum Verlauf der Revolte in einzelnen Städten 43 , lesenswerte journalistische Beschreibungen des Geschehens 44 , aus dem zeitgenössischen Kontext kaum gelöste, aber teils interessante Einblicke in Innenleben, Themen und Funktionsweise der Bewegung 4 5 sowie zum Teil gelungene belletristische Verarbeitungen der „1968er" Jahre 4 6 . Einzelne, mit kritischem Anspruch auftretende aber oftmals rein polemische Auseinandersetzungen mit der eigenen bewegten Vergangenheit bestimmten die Debatten in den Feuilletons der Tageszeitungen und den Rezensionsorganen der Geschichtswissenschaft. 47 Auf der wissenschaftlichen Habenseite verbuchte der Geburtstag der Revolte zahlreiche Handbücher und Überblickswerke, die den Stand der Forschung bündeln und gute Einführungen in die Thematik bieten. 48 Neues kam durch all diese Publikationen aber nicht zu Tage, und ohnehin wurden die Buchbeiträge in der öffentlichen Diskussion bald von dem ebenso heftigen wie kurzen Presseecho verdrängt, das die „Enttarnung" von KarlHeinz Kurras, dem Mann, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, als Spitzel der Stasi hervorrief. 49

des ZDF v o m http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/68-Experte unerwartet/760744 ?inPopup=true# (letzter Zugriff Juni 2009).

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2. Forschungskontext und Forschungsstand

W ä h r e n d „ 1 9 6 8 " generell g r o ß e A u f m e r k s a m k e i t zuteil w i r d , s i n d die W e c h s e l wirkungen zwischen R e f o r m und R e v o l t e für den Bereich der Universitäten nach w i e v o r u n t e r b e l i c h t e t . 5 0 D a s ist u m s o e r s t a u n l i c h e r , als dies n i c h t n u r i m m e r w i e d e r als D e s i d e r a t z u k ü n f t i g e r h i s t o r i s c h e r U n t e r s u c h u n g e n f o r m u l i e r t w u r d e . 5 1 D i e b i s herige

Vernachlässigung

dieses T h e m e n k o m p l e x e s

steht

auch

in

diametralem

G e g e n s a t z z u d e m I n t e r e s s e , das H o c h s c h u l r e f o r m u n d H o c h s c h u l r e v o l t e in P o l i tik, Gesellschaft und Öffentlichkeit während der 1960er und 1970er J a h r e erfuhren. S o s c h l ä g t sich die g r o ß e z e i t g e n ö s s i s c h e A u f m e r k s a m k e i t in w a h r h a f t als i n f l a t i o n ä r zu b e z e i c h n e n d e n H o c h s c h u l r e f o r m v o r s c h l ä g e n 5 2

sowie ausuferndem

Schriftgut

z u r H o c h s c h u l r e v o l t e u n d s t u d e n t i s c h e n F o r d e r u n g e n 5 3 n i e d e r u n d zeigt sich an d e m S t e l l e n w e r t , d e n die M e d i e n d e r v e r m e i n t l i c h e n „ K r i s e " d e r d e u t s c h e n A l m a M a t e r u n d d e m A u f b e g e h r e n d e r S t u d e n t e n an d e n U n i v e r s i t ä t e n e i n r ä u m t e n . 5 4 Zahlreiche

Werke

verschreiben

sich

dem

Komplex

Hochschulreform

und

H o c h s c h u l r e v o l t e z w a r d e m T i t e l n a c h . M e i s t e n s s i n d sie j e d o c h e i n s e i t i g a u f d e n V e r l a u f v o n „ 6 8 " a u s g e r i c h t e t 5 5 o d e r b e u r t e i l e n die F o l g e n v o n R e f o r m u n d R e v o l t e aus e i n e m s u b j e k t i v e n , k a u m e m p i r i s c h a b g e s t ü t z t e n B l i c k w i n k e l . 5 6 D i e u n z u r e i c h e n d e Q u e l l e n b a s i s ist g e n e r e l l ein M a n k o s o w o h l e i n e r g a n z e n R e i h e v o n a l l g e m e i n e n D a r s t e l l u n g e n z u r B i l d u n g s - u n d H o c h s c h u l r e f o r m in d e r B u n d e s r e p u b l i k 5 7 als a u c h d e r h i s t o r i s c h e n A n a l y s e d e r S t u d e n t e n r e v o l t e 50

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insbesondere

Diese Forschungslücke haben vor kurzem auch benannt: Bartz: Wissenschaftsrat, und Wolbring/ Franzmann: Einleitung, S. 7-11. Erste Ansätze liefern Gassert: Hochschulreform (Vortrag 2002), und - politikwissenschaftlich ausgerichtet - Keller: Hochschulreform. Zuletzt Schildt: Sozialgeschichte, S. 100; Kroll: Kultur, S.98. Vgl. auch den Tagungsbericht Hochschulen und Politik in Niedersachsen nach 1945 auf: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=1903 (letzter Zugriff 14.2.2008). Zur „Inflation" der zeitgenössischen hochschulbezogenen Reformvorschläge vgl. überblicksartig: Chronologie der Reformdiskussion, S. 154-158. Einen Eindruck vom Umfang der Stellungnahmen zu den Komplexen Hochschulreform, Hochschulgesetzgebung und Studienreform insbesondere in Zeitungen und Zeitschriften der Bundesrepublik vermittelt die 1970 erstmals erschienene Literaturübersicht von Wiegand: Hochschulreform. Hier nur die wichtigsten: Allerbeck: Soziologie; Baier: Studenten; Bauß: Studentenbewegung; Claussen/Dermitzel: Universität; Habermas: Protestbewegung; Hennis: Deutsche Unruhe; Jacobsen/Dollinger: Deutsche Studenten; Leibfried: Wider die Untertanenfabrik; Mager/ Spinnarke: Was wollen die Studenten?; Preuß: Politisches Mandat; Schönbohm u.a.: Herausgeforderte Demokratie. Allein das Wochenmagazin Der Spiegel erhob die Themenkomplexe „Hochschulreform" und „Studentenrevolte" in den Jahren 1967 bis 1969 sechsmal in den Status einer Titelgeschichte. Vgl. Mit dem Latein am Ende. Serie über die deutschen Hochschulen, in: Der Spiegel, Nr. 26-42 (fortlaufend), 23.6.1969-13.10.1969. Zu „68" in den Medien vgl. vor allem: Renz: Studentenproteste; Eichler: Protest im Radio. Koch/Lauterbach/Raue: Die rote Uni; persönliche Eindrücke verschiedener Zeitgenossen zusammenstellend: Schubert: 1968; Dokumente sammelnd, ansonsten apologetisch: Gerstenberg: Hiebe, Liebe und Proteste; für Erlangen-Nürnberg: Bauer: Nachrichten; Ganslandt: Die 68er Jahre, S. 839-870; für Bamberg aus zeitgenössischer Sicht kaum gelöster Perspektive sowie auf die erst später gegründete Hochschule nicht Bezug nehmend: Kohn u.a.: In Bamberg war der Teufel los. Strobel: Drei Jahrzehnte Umbruch; für Marburg: Bilanz einer Reform. Friedeburg: Bildungsreform; die Programmatik der Parteien berücksichtigend, aber kein Archivmaterial auswertend: Hüfner/Naumann: Konjunkturen; Hüfner u.a.: Hochkonjunktur. Nur die Hochschulen in den Blick nehmend, allerdings nicht empirisch fundiert: Oehler: Hochschulentwicklung; Teichler: Hochschulwesen; Turner: Hochschule; für die reformierten Gesamthochschulen: Hermanns/Teichler/Wasser: Integrierte Hochschulmodelle. Verlässlich, aber ebenfalls nicht quellengestützt: Führ/Furck: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte; Führ: Kalkulierbarkeit der Zukunft; ders.: Schulen und Hochschulen; ders.: Unrealistische Wendung, S. 259-281. Seit Neuestem überblicksartig: Koch: Universität.

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Einleitung

was die in ihrem Kontext artikulierten hochschulpolitischen Forderungen angeht. 58 Auch die Hochschulpolitik einzelner Bundesländer ist bislang kaum Gegenstand historischer Forschung gewesen. 59 Bayern und Hessen bilden da keine Ausnahme. 60 Die Bildungsgeschichte setzte ihren Schwerpunkt bisher vor allen Dingen auf die unmittelbare Nachkriegszeit in Westdeutschland und widmete insbesondere der Erforschung der Reeducation-Politik der Besatzungsmächte in ihrer Interaktion mit den jeweiligen Kultusministerien breiten Raum. Das hatte neben der Konzentration des Forschungsinteresses auf die amerikanische und britische Zone zur Folge, dass das allgemeinbildende und höhere Schulwesen viel stärker in den Fokus bildungshistorischer Darstellungen rückte als der tertiäre Sektor des Bildungswesens. 61 Diese Tendenz lässt sich allgemein auch für die 1950er und 1960er Jahre beobachten. Dennoch kann die vorliegende Studie an die Ergebnisse mehrerer, bereits erschienener Studien zur Studentenrevolte anknüpfen. 62 Zudem sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von universitätsgeschichtlichen Darstellungen zu einzelnen Hochschulen entstanden, die zum Teil auch die 1960er und 1970er Jahre in den Blick nehmen, meist allerdings den Charakter bloßer Uberblicksdarstellungen aufweisen. 63 58

So behauptet Schmidtke, dass die zu Beginn der 1960er Jahre erhobenen hochschulpolitischen Demokratisierungsforderungen des SDS Ende der 1960er Jahre erfolgreich in andere gesell1 r 1 '' 1 " ' " '· " ' ' -