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German Pages [565] Year 2018
Johannes Knewitz
Bildung! Aber welche? Bundesdeutsche Bildungskonzeptionen im Zeitalter der Bildungseuphorie (1963–1973) und ihr politischer Niederschlag am Beispiel von Bayern und Hessen
V& R unipress Mainz University Press
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Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0897-6
Meinem Freund Patrick
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der Ruf nach Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Bildung als Gegenstand der Geschichtsschreibung . . . . . . . . . Zum aktuellen Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Eine diskurstheoretische Fragestellung – zur Methodik . . . . . . 1.4. Bildungsdiskurs und Bildungspolitik – Vorbedingungen und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungspolitikgeschichte – der Untersuchungsgegenstand . . . . 1963/64: der Diskurs bricht auf – Beginn des Betrachtungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geburt der Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bildung ist tot, es lebe die Bildung . . . . . . . . . . . . . . Zwischen 1968 und 1973: Verdichtung und Ermattung des Diskurses – Zentrum und Ende des Betrachtungszeitraums . . . . Ein bundesrepublikanischer Diskurs – der räumliche Rahmen . . Die interessierte Teilöffentlichkeit – der personelle Rahmen . . . Ein Nicht-Diskurs zur Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . Die interessierte Teilöffentlichkeit – eine Diskursgesellschaft? . Parlamente, Publikationen, Partizipation – Kommunikationskanäle der interessierten Teilöffentlichkeit . . 1.5. Die Gliederung – ein kurzer Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil 1: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen . . . Sechs Diskursformationen – ein Überblick . . . . . . . . . . . . Teil 2: Hessische und bayerische Bildungspolitik – der Niederschlag der Diskursformationen in verschiedenen Politiken. 1.6. Formalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 20 28 32 39 39 41 45 49 51 55 56 56 58 62 63 63 65 68 71
8 2. Erster Hauptteil: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation . . . . Bildung als Bürgerrecht – Grundlagen der Diskursformation . . Emanzipation als Voraussetzung zu individueller Entscheidungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistung als Möglichkeit des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . Positive Freiheit – Dahrendorfs Dreiteilung des Bürgerrechts auf Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein liberal(er)es Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umbruch im Zustand der Veränderung . . . . . . . . . . Das Individuum als normative Quelle . . . . . . . . . . . . . . Die Kraft des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheitliche Strukturen für emanzipative Bildung . . . . . . . . Demokratische Zurückhaltung als Prinzip politischer Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualisierung und Differenzierung als pädagogisches Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzierungsfragen – Die Struktur des Schulwesens . . . Die kontroverse Frage der Gesamtschule . . . . . . . . . . . Ein früher Beginn, aber kein Ende – das lebenslange Lernen Flexible Inhalte und demokratische Erziehung – die innere Organisation des Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkehr vom Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehung zur Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation . . . . . . . Emanzipation als Integration – Grundlagen der Diskursformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »68er« – Bilder der Revolution, aber kein Reformdiskurs . Hochschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorschulerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein dialektischer Ansatz: Durch die Gesellschaft zum Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht des Konfliktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totale Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das »Erziehungsrecht des Staates« im Grundgesetz . . . . . . Schule zwischen Staat und Familie . . . . . . . . . . . . . . . An der Grenze des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft als Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ziel der kollektiven Emanzipation . . . . . . . . . . . . . Eine ›politische‹ Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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Inhalt
Integrative Strukturen für egalisierende Bildung . . . . . . . Die Gesamtschule als integrative Grundbedingung . . . . . Das Curriculum als Erziehungsmittel . . . . . . . . . . . . Schule als Modell der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die szientistische Diskursformation . . . . . . . . . . . . . . Aktiv betriebene Selbstreferenz – Grundlagen der Diskursformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlichkeit als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlichkeit als Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kern: das Curriculum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bestimmung der Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht als effizienter Lernprozess . . . . . . . . . . . . Lehrer und Materialien – Mittel zum Zweck . . . . . . . . Begaben statt Begabung, Tests statt Prüfungen . . . . . . . Funktionale Strukturen als Forschungsauftrag . . . . . . . . 2.4. Die bedarfsorientierte Diskursformation . . . . . . . . . . . Bildung als Produktionsfaktor – Grundlagen der Diskursformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedarf und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Wettbewerb der Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . Plan oder Elend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stabilisierung der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . Das Individuum als Humankapital . . . . . . . . . . . . . Die Dysfunktionalität von Markt und Demokratie . . . . . Geplante Strukturen als Weg in die Zukunft . . . . . . . . . Der Planungsapparat und seine Methode . . . . . . . . . . Ein hochdifferenziertes und spezialisiertes Bildungswesen Planung unter Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Die neuhumanistische Diskursformation . . . . . . . . . . . »Der Mensch ist das Werk seiner selbst.« . . . . . . . . . . . Radikal subjektive »Menschwerdung« – Grundlagen der Diskursformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geisteswissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . Menschlichkeit durch Vereinzelung . . . . . . . . . . . . . Differenzierung durch Relativismus . . . . . . . . . . . . . Erziehung als Eröffnung des Horizonts . . . . . . . . . . . Holismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine, differenzierte Strukturen ohne Staat . . . . . . Universitätsreform als Rückbesinnung . . . . . . . . . . . Der unmögliche, notwendige Kanon – Unterrichtsinhalte . 2.6. Die werterzieherische Diskursformation . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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3. Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern . . . . . . . . . . . 3.1. Das Beispiel Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorbedingungen hessischer Bildungspolitik . . . . . . . . . . Bildungsplanung in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Große Hessenplan: Bedarfsplanung in Reinform . . . . . . Programmierter Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Planungsgedanke in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Differenzierungsprinzip im Hessenplan . . . . . . . . . . Der zweite Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans – Wandel im Kultusressort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hessen ’80 – der ›Große Hessenplan‹ schrumpft zum Landesentwicklungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schulentwicklungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gesamtschule als Regelschule – zerplatzte Ambitionen . . . . Herantasten durch die Förderstufe . . . . . . . . . . . . . . . . Demokratisierung durch Transparenz und Partizipation – die Herangehensweise Hamm-Brüchers . . . . . . . . . . . . . . Die Grundideen der Gesamtschule in Hessen . . . . . . . . . . . Die Gesamtschule als Ziel- und Ausgangspunkt der Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtschule in der Sackgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umsetzung der Strukturreform . . . . . . . . . . . . . . . . Konjunktur emanzipative Begründungszusammenhänge . . . . Von der Curriculumentwicklung zu den Rahmenrichtlinien – die innere Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Jahr Curriculumentwicklung: Von Robinsohn zu Klafki ohne Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufschlag mit Saul B. Robinsohn . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Klafki statt Robinsohn . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Vorbereitende Kommission« . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der objektive Geist – Grundlagen der Diskursformation Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit . . . . . . . . . Geisteswissenschaftliche Tradition . . . . . . . . . . . Der »objektive Geist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der objektivierte Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staat und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte, Werte und Tugenden . . . . . . . . . . . . . . Erziehung und Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindliche Strukturen für verbindliche Werte . . . . .
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271 274 279 282 284 287 292 299 307 311 314 319 321 321 325 333
Inhalt
Die operative Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ermittlung der Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erarbeitung und Ausformung des Emanzipationsbegriffs . . . Von der Curriculumkommission zur kurzfristigen Curriculumentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderungen im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung der Rahmenrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . Vorläufigkeit und Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftlich-emanzipative Zielsetzungen . . . . . . . . . . Die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre . . . . . . . . . . . . Konflikte? – Der Umgang mit Kritik . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresümee: Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Beispiel Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen bayerischer Bildungspolitik . . . . . . . . . . . Bildungspolitische Grundannahmen zu Beginn des Betrachtungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsplanung in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planung ohne Begeisterung unter Ludwig Huber . . . . . . . . . Maiers Bedarfsplanung unter umgekehrten Vorzeichen . . . . . Die Erhebung der »Begabtenreserven« . . . . . . . . . . . . . . Die Hebung der »Begabtenreserven« . . . . . . . . . . . . . . . Das dreigliedrige Schulsystem – eine Entscheidung zur Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung für ein differenziertes System . . . . . . . . . . . Begabung und Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung für ein durchlässiges System . . . . . . . . . . . . Die »Gegliederte Leistungsschule« als Antwort auf die Gesamtschuldebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechsel auf dem Ministersessel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Volksschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landschulreform und Volksschulreform . . . . . . . . . . . . Die Landschulreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zähe Lockerung der Bekenntnisschule: Das Volksschulgesetz von 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christliches Schulwesen statt Bekenntnisschulen – ein Tausch . Das plötzliche Ende der Bekenntnisschule: die Verfassungsänderung von 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neugliederung der Volksschule und die Einführung des neunten Schuljahrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unterricht der Volksschule . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 340 347 351 359 367 369 371 375 380 389 394 399 400 404 409 409 419 422 426 433 433 435 439 443 456 460 460 460 464 467 470 472 475 479
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Inhalt
Die Richtlinien für die Volksschule von 1966 . . . . . . . . . Das »Lehrgut« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht als Hilfe zur Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrpläne ab 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Höhere Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gymnasium und die Curricularen Lehrpläne . . . . . . . Das Staatsinstitut für Schulpädagogik – bedingte Curriculumforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Wiedergewinnung des Erzieherischen« . . . . . . . . . Das Problem der Lernzielfindung . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Lernziele oder der Lehrer als Mittel der Erziehung? Lehrer statt Lernziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenresümee: Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Länderbeispiele im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 4.2. Der Widerhall der einzelnen Diskursformationen in den Bildungspolitiken Bayerns und Hessens . . . . . . . . . Die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation . . . Die szientistische Diskursformation . . . . . . . . . . . . Die bedarfsorientierte Diskursformation . . . . . . . . . Die neuhumanistische Diskursformation . . . . . . . . . Die werterzieherische Diskursformation . . . . . . . . . 4.3. Conclusio und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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479 481 483 486 490 492
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496 497 502 506 510 511
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519 520 521 521 522 523 524 524
5. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) . . . Bestand Hessische Landesregierung: Hessischer Ministerpräsident – Staatskanzlei . . . . . . . . . . . . . Bestand Hessische Landesregierung: Kultusministerium Bestand Waltraud Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BHStA) . . . . . . . . . . . Bestand Kultusministerium . . . . . . . . . . . . . . . . Bestand Staatskanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptstaatsarchiv Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich einsehbare Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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529 529 529 529
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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
555 559
Vorwort
Bis zum Ende der 1950er Jahre lässt sich der Begriff der »Bildungspolitik« in der Bundesrepublik Deutschland kaum nachweisen, zehn Jahre später war er in aller Munde. Chancengleichheit, Curriculum, Landschulreform, Gesamtschule, Rahmenrichtlinien, Bildungsnotstand, Schulentwicklungsplan, Orientierungsstufe, Qualifizierung, Emanzipation, Integragion, Begabtenreserven, Leistungsschule, Bekenntnisschule, und eine Unzahl weiterer Vokabeln waren damit verbunden, genauso wie berühmte Namen: Ralf Dahrendorf, Hans Maier, Wolfgang Klafki, Ludwig von Friedeburg oder Hildegard Hamm-Brücher, um nur einige zu nennen. Auch dieses rapide hervorbrechen der Bildungspolitik, das den gewählten Zeitraum so spannend macht, wird in dieser Darstellung erörtert. Aber ihr hauptsächlicher Anspruch ist ein anderer : sie setzt erstmals einer weitgehend pauschalen, linearen Erzählung der Bildungsreformen der sechziger und frühen siebziger Jahre eine analytische Differenzierung entgegen, und geht dabei als Objekt ihrer Betrachtung nicht direkt von der Politik aus, sondern zieht zunächst den sie umgebenden Diskurs heran, um erst im nächsten Schritt das politische Handeln darauf zu beziehen. Damit vermag diese Arbeit, ihrem Leser neben einer gehaltvollen Analyse der Wirkmechanismen hinter den einschneidenden bildungspolitischen Maßnahmen jener Zeit noch Einblicke in zwei weitere Bereiche zu öffnen: zum einen allgemein in das Verhältnis zwischen handelnder Politik und Diskurs; zum anderen legt sie fünfzig Jahre nach 1968 eine exemplarische Schnittfläche der breiteren gesellschaftliche Diskurse frei, die bis heute die Wissenschaft faszinieren. Letztlich ergibt die systematische und umfassende Aufbereitung der bildungspolitischen Quellen aber auch eine umfassende Gesamtschau der bundesdeutschen Bildungspolitik für die Zeit vor, während und nach 1968, wie sie bislang in den Geschichtswissenschaften noch nicht vorgelegt wurde. Auch wer dieses Buch bis zum Ende liest, wird keine Antwort auf die im Titel enthaltene Frage bekommen: »Bildung! Aber welche?« Die eine gibt es nicht, und es bedarf gewiss keiner historischen Abhandlung, um das zu verstehen. Aber
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Vorwort
dieses Buch soll zumindest eine Vorstellung davon geben, welche Ideen von Bildung es in einem begrenzten Raum und einer begrenzten Zeit und – die Erwähnung ist der Anlage dieser Arbeit geschuldet – einem begrenzten Diskurs gab, in dem sich in besonderem Maße mit dem Thema beschäftigt wurde, und in dem einige beeindruckende Gedanken dazu gefasst wurden, die bis heute zum Nachsinnen anregen dürfen. Was Bildung also sei, das fragt sich ein Historiker dennoch, der dieses Thema bearbeitet, selbstverständlich auch mit Bezug auf sich selbst. Permanent muss er sich und seine Vorstellungen von seinen Quellen infrage stellen lassen, ohne darauf reagieren zu können. Er darf nicht selbstreferentiell werden und muss selbstkritisch bleiben, darf sich nicht in den untersuchten Diskurs hineinziehen, aber von ihm befruchten lassen. Insofern hat es der Arbeit vielleicht gutgetan, dass sie nicht in den Räumen einer Universität, umgeben von den beobachtbaren Resultaten der untersuchten Bildungspolitik, fertiggestellt wurde, sondern im fernen Burgund, wohin ich meine liebe Verlobte Sophie und unsere kleine Tochter Elise während ihrer Auslandssemester einige Zeit begleiten durfte und trotz gelegentlicher Ablenkung durch die regionalen Annehmlichkeiten die nötige Ruhe fand. Dass sie mir diese gegönnt haben, und für einfach alles, bin ich ihnen unendlich dankbar. Auch meinen Eltern Anne und Horst Knewitz möchte ich herzlich danken, die mir über lange Jahre den Rücken freigehalten haben. Dank gebührt ebenfalls meinem Arbeitgeber NGS Global, namentlich den Herren Müller-Albrecht, Füchtner und Dr. Maier, die mir nicht nur durch großzügige Freistellungen die Fertigstellung dieses Projekts ermöglicht haben, sondern auch stets Motivatoren waren, zwischen Beruf und Familie auch hierfür noch Kraft zu finden. Letztlich konnte diese Arbeit auch nur durch ein Stipendium der Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit entstehen, der ich mich nicht nur aus diesem Grund weiterhin verbunden fühle. Die Hefe bei der Entstehung einer solchen Arbeit ist letztlich aber die geistige Befruchtung des Autors. Es war stets das Oberseminar meines Doktorvaters Prof. Andreas Rödder, in dem die offene Debatte auf Augenhöhe mit einer kleinen Zahl fertiger und werdender Historiker ganze Horizonte eröffnete. Das stete Gefühl der Herausforderung; der Trotz, dennoch in die Diskussion einzusteigen; der Ehrgeiz, standzuhalten; und die Befriedigung, jedes Mal im Denken ein kleines Stück weitergekommen zu sein mündeten in den Wunsch, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen und stützten seine Umsetzung. Für dieses echte Bildungserlebnis, selbstverständlich aber auch für die stete Unterstützung und zugestandene wie eingeforderte Eigenverantwortung während der Promotionszeit, als auch das immer herzliche Miteinander, ein aufrechtes Dankeschön an Andreas Rödder und alle Mitstreiter dieser Runde am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Vorwort
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Ein ganz persönlicher Dank geht an meinen besten Freund Patrick Köppen, mit dem mich schon zu Schulzeiten die Lust am Wesentlichen verband und dem ich daher dieses Buch widmen möchte. Wiesbaden-Erbenheim, im Juli 2018
Johannes Knewitz
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1.1. Der Ruf nach Bildung Es gibt die Momente, die Geschichte schreiben – Momente, die eigene Begriffe gebildet haben, von denen es heißt, jeder könne sich daran erinnern, was er gerade getan habe, als er ihrer gewahr wurde: 9/11 gehört dazu, der Fall der Mauer oder die Ermordung John F. Kennedys. Geschichte wird aber auch geschrieben, ohne dass es unmittelbar offenbar wird. So war es just in der Woche nach der Ermordung jenes amerikanischen Präsidenten im November 1963, als der Pädagoge Georg Picht sich im stillen Kämmerlein anschickte, selbst einen Begriff zu prägen, der zumindest Deutschland verändern sollte: die Bildungskatastrophe. Für eine Artikelserie in der Zeitschrift Christ und Welt fasste er eine Reihe längst bekannter Daten und Fakten über das deutsche Bildungswesen zusammen und spitzte sie auf die These zu, Deutschland stehe »ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können. […] Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand«1 – und das mitten in der Zeit des Wirtschaftswunders. Ob es, wie Picht selbst im Nachhinein mit Bezug auf den Tod Kennedys darstellte, tatsächlich seine »Entschlossenheit, dieser Stunde gerecht zu werden«2 war, die einen Impetus gesetzt hat, dessen Wellen und deren Echo noch über Jahrzehnte zu spüren sein würden, oder ob es einfach nur der letzte Tropfen in einem riesigen Fass war, das längst überzulaufen drohte: Pichts Bildungskatastrophe steht wie sonst nichts für den Anfang einer Epoche der Bildungseuphorie, der Expansion des Bildungswesens, der Reform seiner Strukturen und Inhalte und vor allem der härtesten Debatten um Bildung, ihre Funktionen und ihre Einrichtungen. Ein Ruf ging nun durch die Republik: Bildung! 1963, 1964 – in diesen Jahren hallte er unüberhörbar durchs Land. Es war – so weit wird diese Untersuchung sich der gängigen Geschichtsschreibung anschließen – ein gemeinsamer Ruf. 1 Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 9. 2 Vgl. ebd., S. 136f.
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Einleitung
Aber dieser Ruf war vielstimmig. In Teilen symphonisch, in Teilen dissonant; und oft waren die Stimmen so weit voneinander entfernt, dass sie ganz ohne Bezug zueinander schienen. Hier liegt der Ansatz dieser Studie. Nicht der orchestrierte Schall wird betrachtet, der über die Jahrzehnte noch nachklingt und dabei immer klarer zu werden scheint, sondern die konfuse Anordnung vieler Stimmen, das Geräusch, das die vielen Untertöne, die der Begriff der Bildung hatte, erzeugte. Es soll seziert werden, differenziert, bis die einzelnen, in sich stimmigen Tonfolgen deutlich, die einzelnen Harmonien für sich erkennbar werden. Das fällt umso schwerer, als die bespielte Klaviatur meist die gleiche war, aber die Saiten auf einen ganz anderen Grundton gestimmt waren. Der Handlungsrahmen der Bildungspolitik veränderte sich während dieser Zeit und nur weil der Gesamtdiskurs auch in seinen Begrifflichkeiten darauf reagierte, bedeutet das nicht, dass er gleichzeitig konvergierte – der Diskurs verschob sich lediglich und übersetzte alte Differenzen in neue, schüttete historische Gräben zu, riss aber andere auf. Vor allem verschwammen die Fronten, eine klare Trennung wurde schwierig. Zur Veranschaulichung: Ludwig Huber, der bayerische Kultusminister, formulierte einerseits in völliger Einigkeit mit Georg Picht: »Die große Aufgabe ist nun, alle Kräfte zu mobilisieren, alle Kräfte wach zu rufen, um den Weg in diese Zukunft zu finden. Das bedeutet eine möglichst breite Bildungsbasis, möglichst viele Bildungschancen, für möglichst viele Leute zu schaffen. Das ist die große Aufgabe.«3 – Jener Ludwig Huber lieferte sich andererseits einen förmlichen Schlagabtausch mit Picht, warf ihm vor, dem »verplanten Menschen« das Wort zu reden und »dass über der Bildungsplanung der Mensch vergessen wird«4. Ralf Dahrendorf wiederum nimmt gleich zu Beginn seines Werkes »Bildung ist Bürgerrecht« explizit Bezug auf Picht – und gibt ihm zunächst recht: sowohl in der Analyse, dass Deutschlands Wohlstand durch ausbleibende Bildungsreformen gefährdet sei, als auch in der Forderung nach einer aktiven Bildungspolitik. Aber er verwahrt sich entschieden und in ausgiebiger Darstellung5 dagegen, ebendiese Analyse als Begründung für die Notwendigkeit ebenjener Forderung anzuerkennen. Mit denselben Begriffen wie Huber wendet er sich gegen den Soziologismus sowie dessen »ökonomische Version«6 und lobt neben Huber auch die CDU-Kultusminister Mikat in Nordrhein-Westfalen und Hahn in Baden3 BHStA MK 66163, Münchner Merkur Nr. 241, 07. 10. 1964: Ist der neue Kultusminister in Bayern ein starker Mann? Alle kulturellen Kräfte für die Zukunft. Merkur-Interview mit Dr. Ludwig Huber, von Paul Noack. 4 BHStA MK 66163, Süddeutsche Zeitung vom 28. 10. 1964: SZ-Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister : Gegen den ›verplanten‹ Menschen. Ludwig Huber hält das Wort von der »Bildungskatastrophe« für falsch / Qualität vor Quantität. 5 Vgl. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 13–23. 6 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 17.
Der Ruf nach Bildung
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Württemberg für »neue Anfänge in der Schulpolitik, die zum ersten Mal in der Nachkriegszeit die Zukunft zu greifen und zu prägen suchen, statt entschwindenden Gegenwarten verlegen nachzuwinken«7. Dieser Dahrendorf wiederum musste von seiner späteren Parteifreundin Hildegard Hamm-Brücher (FDP) in einer SPD-Regierung in Hessen aber gegen die CDU-Opposition verteidigt werden, die ihm vorwarf, über die Schule die Gesellschaft steuern zu wollen8. Dahrendorf selbst grenzte sich deutlich von der Zielsetzung ab, über Schulreformen soziale Gleichheit zu antizipieren9, was aber beispielsweise vom Berliner Kultursenator Evers (SPD) gefordert wurde10. Während Hessen ganz bald unter Kultusminister Ludwig von Friedeburg auf das Fernziel der Integrierten Gesamtschule hinsteuerte, bemühte Kultusminister Hans Maier sich in Bayern, das Schulsystem in seinen alten Strukturen zu halten. In einem öffentlichen Schlagabtausch über die ZEIT11 verdeutlichten sie zumal den tiefen Graben zwischen den jeweiligen Vorstellungen einer inneren Reform, bedienten sich dazu aber wiederum gleichzeitig des Begriffs des ›Curriculums‹, der weder in Wiesbaden noch in München viel mit den Ideen der Didaktiker zu tun hatte, die dieses Konzept kurz zuvor entwickelt und über die sechziger Jahre hinweg zu einem wichtigen Bestandteil der Bildungswissenschaften gemacht hatten. Diese, die das Bildungswesen komplett losgelöst von seinen gesellschaftlichen Funktionen betrachteten, sahen sich gleichzeitig als Gegenentwurf gegen hergebrachte und klassische Vorstellungen der Pädagogik, die ebenfalls nicht plötzlich von der Bildfläche verschwunden waren und noch ihre Ideale zu verteidigen oder zu etablieren suchten. Konflikte wurden allenthalben offenbar : Dient das Bildungssystem der Perpetuierung oder der Veränderung des Systems? Soziale Differenzierung oder die klassenlose Gesellschaft? Ist Bildung eine Leistung des Staates oder die Leistung des Einzelnen? Ist sie objektiv oder subjektiv? Wem und welchem Zwecke dient sie? Wenn in den hessischen Quellen der Versuch deutlich wird, mithilfe der Ideen der Frankfurter Schule ein gänzlich neues, horizontal gegliedertes und einheitliches Schulsystem zu entwickeln und in den bayerischen Quellen im selben Jahr dargestellt wird, welche Schwierigkeiten bei »der Neugliederung des Volksschulwesens und der Neubildung der Schulsprengel aufgetreten sind und noch auftreten können« und wie die »jahrhundertelange bekenntnismäßige 7 Ebd., S. 11. 8 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation«. In: DIE ZEIT 38/1968. 9 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 25f. Vgl. auch Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 142. 10 Vgl. Evers, Modelle moderner Bildungspolitik, S. 9. 11 Vgl. Maier, Die Schule ist eine Vor-Gesellschaft. In: Die ZEIT 50/1973 sowie von Friedeburg, Die Schule ist ein Teil der Gesellschaft. In: Die ZEIT 50/1973.
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Gliederung der Volksschule der neuen Verfassungs-, Vertrags- und Gesetzeslage angepasst« werden müsse12, dann liegt auf der Hand, dass diese Bildungspolitiken höchstens sehr abstrakt als eine Einheit beschrieben werden können, auch wenn die Rhetorik überall gleichermaßen die Größe und Bedeutung einer jeweiligen Reform betonte.13
1.2. Bildung als Gegenstand der Geschichtsschreibung Schon diese kurze Gegenüberstellung ist Anlass genug, die gängige Lesart der Bildungsreformen dieser Zeit zu hinterfragen. Bislang wurde die Entwicklung des Bildungswesens in Deutschland zwischen Anfang der sechziger und Mitte der siebziger Jahre üblicherweise einheitlich beschrieben – und dafür gibt es gute Gründe: Bildungsexpansion und Bildungsreformen gab es schließlich überall, auch in den beiden im zweiten Teil der Arbeit zum Vergleich herangezogenen Ländern Hessen und Bayern. Überall wurde früher oder später das 9. Pflichtschuljahr eingeführt, überall gab es verschiedenste Schulversuche, überall expandierte das höhere Schulwesen überproportional, und überall professionalisierte sich die Schulverwaltung. Nicht zu Unrecht nennt Peter Graf Kielmannsegg diese Zeit eine Bildungsrevolution, denn »eine genauere Analyse verschiedener Bildungsindikatoren zeige an, dass die Zeitspanne von 1965 bis 1975 – immer wieder gerät dieses Jahrzehnt in den Blick – die Periode der großen und schnellen Veränderungen gewesen sei«14. Er schießt allerdings weit über das Ziel hinaus, wenn er für diese Zeit für die gesamte Bundesrepublik postuliert: »Das politische Vorzeichen der Öffnung des Bildungssystems war eindeutig der Ruf nach Chancengleichheit. Der begleitende Hinweis auf die Notwendigkeit der Mobilisierung von Begabungsreserven war nicht viel mehr als eine Variation dieses Rufes.«15 Damit steht er exemplarisch für die Interpretation der Bildungsgeschichte als einheitliche, lineare und von äußeren Faktoren determinierte Entwicklung. In dieser Einheitlichkeit findet sich nämlich ein nicht unerhebliches normatives Moment. Denn unterschiedliche Politiken, beispielsweise in den verschiedenen Ländern, werden so an einem einheitlichen Ziel (Chancengleichheit) gemessen, das entweder gar nicht einheitlich formuliert wurde, mit unterschiedlichen Konnotationen und Ausdeutungen versehen war, oder dem eine sehr unterschiedliche Priorität beigemessen wurde; es ist ein nachträglich einheitlich postuliertes Ziel, das zeitgenössisch zwar viel Anklang 12 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 9. 13 Für Hessen ist das offensichtlich, für Bayern vgl. Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 10. 14 Kielmannsegg, nach der Katastrophe, S. 408. 15 Ebd., S. 410.
Bildung als Gegenstand der Geschichtsschreibung
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fand, aber in seiner konkreten Form keinen Konsens formte16, oft schlichtweg Gemeinplatz war. Wird ein solcher Maßstab aber nachträglich angelegt, erscheinen die verschiedenen Beobachtungen in den einzelnen Ländern wie fort- oder rückschrittlichere Entwicklungsstufen auf einem einheitlichen Entwicklungspfad. Gerade bei der Betrachtung eines so weitgegliederten und pluralistischen Bildungswesens wie dem der Bundesrepublik Deutschlands ist aber jede historische Momentaufnahme nicht der Blick auf einen einzigen Punkt auf einem solchen Pfad, sondern kann nur der Querschnitt durch ein Bündel verschiedener Pfade sein und deren Wechselwirkungen und Bezüge offenlegen. Auf pauschale Aussagen wie »Durch den Aufbau größerer, gut gegliederter Einheiten wurde die Grundschulstruktur verbessert«17 soll in dieser Arbeit also verzichtet werden, da für diejenigen, die sich aus verschiedenen Gründen gegen eine solche Gliederung aussprachen, diese eben nicht gut war und eine solche Wertung ohne Benennung des Maßstabs somit normativ ist. Eine solche einheitliche Sicht suggeriert auch, dass die Entwicklung nicht dezidierten politischen Entscheidungen folgt, sondern von äußeren Determinanten abhängt. Trotz der starken Brüche im Bildungswesen, denen jeweils eine deutliche politische Agenda unterlag, beispielsweise durch die preußischen Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts, während des Wilhelminismus, im Nationalsozialismus oder in der Nachkriegszeit, wird auf die gesamte Bildungsgeschichte bezogen regelmäßig die Lesart einer politisch weitgehend unabhängigen Entwicklung verfolgt und nach den maßgeblichen Bestimmungsfaktoren unter Auslassung der politischen Ebene gesucht. Peter Lundgreen stellt gänzlich in Abrede, dass »Bildungspolitik (oder überhaupt politische Maßnahmen) entscheidende Bestimmungsfaktoren für die tatsächliche Entwicklung des Bildungssystems und seiner Benutzung wären.« Stattdessen gebe es »zwei auch für das 20. Jahrhundert gültige Triebkräfte«, nämlich einerseits als progressives Moment der durch die wirtschaftliche Entwicklung bestimmte Bedarf und die Nachfrage nach Bildung infolge des entsprechenden sozialen Wandels sowie andererseits als retardierendes Moment das sich reproduzierende Bildungssystem selbst.18 Günter Behrmann betont die Rolle der Versäumnisse der Nachkriegszeit19, sieht also den Reformschub als Reaktion auf einen Reformstau zuvor. Die Kennzeichnung der Nachkriegszeit als Reformstau blendet allerdings 16 Gerade die Bildungsgeschichte scheint Historiker zur Durchbrechung einer wertungsfreien Wissenschaft zu verleiten, vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 5, S. 197 u. 383f oder Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, S. 19; ebenso Boelcke, Willi, Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800–1989, S. 429. 17 Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800–1989, S. 426. 18 Lundgreen, Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, S. 13. 19 Behrmann, Bildungsexpansion und demokratische Mission, S. 109.
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aus, dass das Ausbleiben von Reformen, beziehungsweise die Restitution des traditionellen Bildungssystems, eine bewusste politische Entscheidung war, die aktiv gegen den Reformdrang der Besatzungsmächte durchgesetzt werden musste. Graf Kielmannsegg vermutet, »dass es die Nachfrage war, also das Bestreben von Eltern, ihren Kindern Chancen des Aufstiegs über die Leitern des Bildungssystems zu eröffnen, die Bildungspropaganda der sechziger und siebziger Jahre, die Reform der Institutionen des Bildungssystems selbst hätten dann eine Bewegung nur aufgenommen, die schon in Gang gekommen war und nun ihre gesellschaftliche Legitimierung fand«20. Hans-Ulrich Wehler erkennt zwar im »Hintergrund mancher Reformpläne […] auch das ominöse Fernziel der ›Chancengleichheit‹«, sieht aber als »ausschlaggebend für die nachdrückliche Förderung der Universität (und auch des Gymnasiums) […] letztlich die Antriebsdynamik der Marktgesellschaft und der von ihr intern, aber auch weltweit entfesselten Konkurrenz«.21 Der politische Wille, das soll hier nicht bestritten werden, konnte auch nicht unabhängig von äußeren Bedingungen Bildungspolitik betreiben. Er musste diese stets integrieren. Aber die Art und Weise, wie er dies tat, konnte denkbar unterschiedlich sein, sie folgte keinen zwingenden Gesetzen und prägte sich, wie zu zeigen sein wird, durchaus unterschiedlich aus. Die Betrachtung des Bildungswesens als abhängig von äußeren Determinanten, dass es sich also quasi von selbst ergibt, trifft sich wiederum weitgehend mit seiner apolitischen Organisation in den Frühjahren der Bundesrepublik, wie sie weiter unten noch erörtert wird. Mit dieser Art der Bildungsgeschichtsschreibung, die Entwicklungen durch nicht dem politischen Willen unterliegende Faktoren begründet, geht eine lineare oder epochale Darstellung einher. Sie wird als Geschichte der Kontinuitäten und Diskontinuitäten, der Abfolgen erzählt, nicht als Geschichte des Widerstreits oder gar eines Nebeneinanders verschiedener Diskurse. Auch für den Zeitraum, der im Titel dieser Arbeit als »Zeit der Bildungseuphorie« paraphrasiert und später noch genauer abgegrenzt wird, sind solche linearen Analysen gängig. Zahlreich vertreten ist die Vorstellung, dass sich über die sechziger Jahre hinweg nach einem ökonomischen Impetus zur Bildungsexpansion gesamtgesellschaftlich Demokratisierungsforderungen Bahn gebrochen hätten22. Auf einer sehr allgemeinen Ebene kann das auch so gesagt werden. Gewiss sprach sich öffentlich niemand dagegen aus, dass die Schule für eine demokratische Gesellschaft zu erziehen habe. Nicht nur in sozialdemokratisch regierten Län20 Kielmannsegg, nach der Katastrophe, S. 408. 21 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 5, S. 382. 22 Vgl. Kielmannsegg, nach der Katastrophe, S. 408.
Bildung als Gegenstand der Geschichtsschreibung
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dern wie Berlin oder Hessen wurde die politische Bildung zum integralen Teil der Lehrerausbildung, ein entsprechender KMK-Beschluss wurde ganz selbstverständlich auch in Bayern umgesetzt23. Allerdings war die Bedeutung hier und dort schlichtweg nicht dieselbe. Hinter Formelkompromissen standen derart unterschiedliche Vorstellungen, dass eine solch einmütige Interpretation nicht haltbar ist. Dennoch liest es sich immer wieder so oder ähnlich: »Im Umfeld der radikalen gesamtgesellschaftlichen Umbrüche setzten sich in der öffentlichen Debatte letztendlich die Demokratisierungsforderungen durch. Recht bald blieb die Notwendigkeit einer weiter reichenden Demokratisierung des Bildungswesens in der bildungspolitischen Diskussion unwidersprochen.«24 Der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube erkannte aber schon zeitgenössisch sehr treffend: »Früher waren Lernziele angegeben wie ›das Absolute‹, ›das Sittliche‹, ›das höhere Selbst‹ usw. Solchen allgemeinen Vorstellungen kann kaum jemand widersprechen. Dies gilt auch für moderne Lernziele wie Selbstbestimmung, Emanzipation, Vernunft u. ä. Selbstverständlich sind alle für Emanzipation oder Vernunft. In dem Augenblick aber, in dem diese Lernziele operationalisiert werden, scheiden sich die politischen Geister. Das weiß jeder, der einmal in einem politischen Gremium tätig war : Um Leute unterschiedlicher Meinung zusammenzubringen, braucht man nur hinreichend vage, um sie zur Auseinandersetzung zu bringen, nur hinreichend konkret zu werden.«25 Dasselbe gilt für die Geschichtsschreibung: je höher der Abstraktionsgrad, desto breiter die Perspektive, und desto einheitlicher wirkt ein Bild. Wird in dieser Art zumeist »Erziehungsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte«26 geschrieben, bezieht sie sich konkret auf eine einzige Gesellschaft. Für die Gesellschaft wie für die Erziehung werden in diesem Moment grundsätzlich gleiche Bezüge angenommen, also ein gemeinsamer Rahmen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. finden alle innerhalb eines Raums, einer Gesellschaft, statt und korrespondieren innerhalb dieses Raums mit der Erziehung – Deutschland, die deutsche Gesellschaft, die deutsche Erziehung. Eine solche nationale Perspektive kann nicht per se angegriffen werden, genauso wenig wie eine Mainzer, rheinland-pfälzische, europäische oder gar globale Perspektive. Jeder dieser Blickwinkel auf Bildung und Erziehung birgt viele Erkenntnisse. Der Entwicklungsstrang der Bildungsgeschichte innerhalb dieser Räume wird so aber als eine einheitliche Geschichte wahrgenommen. Abgrenzungen finden ausschließlich gegenüber anderen Räumen und Zeiträumen statt, aber nicht intern. Dieser einheitliche Blick schlägt sich wiederum in der Auswahl edierter 23 Vgl. BHStA MK 52368, Vormerkung, Betreff: Gespräch über Fragen der politischen Bildung beim Herrn Ministerpräsidenten am 13. März 1964. 24 Neidhardt, Auf dem Weg zur demokratischen Schule, S. 182. 25 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 45. 26 Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 30f.
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Quellen nieder27, was einen sich selbst verstärkenden Effekt innerhalb der Geschichtswissenschaften zur Folge haben dürfte. Heinz-Elmar Tenorth beschreibt in seiner »Geschichte der Erziehung« für jede Epoche Spezifika, grenzt wiederum einzelne Etappen voneinander ab und beschreibt die »epochal jeweils bemerkenswerten Veränderungen« der Erziehungsverhältnisse28. Er benutzt »die Gesamtheit der Erziehungsorganisationen, wie sie in einer dieser modernen Gesellschaften, nämlich der deutschen, […] gegeben sind« als Untersuchungsgegenstand und geht von dessen linearer Entwicklung aus. Dabei nimmt er »eine Pluralität von Normen und Wertorientierungen« in der Moderne lediglich zum Anlass, »einen Konsens in der Bewertung historischer Zustände«29 auszuschließen, bezieht sie aber nicht auf den Gegenstand selbst. Eine solche Herangehensweise muss alle internen Konflikte und Unstimmigkeiten integrieren. Während nach dieser Sichtweise jedes betrachtete Phänomen eine bestimmte Ausprägung der Bildungsgeschichte einer Zeit ist, werden nach der Sichtweise, die in der vorliegenden Arbeit vorgenommen werden soll, Phänomene voneinander abgegrenzt und geordnet, also die andernorts vorgenommene Gesamtschau ausdifferenziert30. Weshalb eine derartige Differenzierung zwischen den verschiedenen Vorstellungen und Entwicklungslinien von Bildung in verschiedenen Epochen bisher kaum stattfand, liegt wahrscheinlich am Gegenstand der Bildung selbst – eine solche Differenzierung wäre an vielen Stellen müßig, würde sie nicht zu viel größeren Erkenntnissen führen als eine einheitlichere Betrachtung. Eine Bildungsinstitution oder gar die Konzeption eines ganzen Bildungswesens gründete eben häufig und lange Zeit tatsächlich auch in einer in sich kohärenten Idee. Das deutsche Gymnasium war beispielsweise eine neuhumanistische Erfindung, und für einen bestimmten Zeitraum vermochte man in einem gewissen Rahmen den Bildungsgedanken und die Institution integral zu betrachten. Als aber irgendwann die Institution blieb, ihre Idee sich aber wandelte, machte sich in der Beschreibung eine Pfadabhängigkeit bemerkbar, die weiter die Einheitlichkeit von Institution und Idee ungeprüft voraussetzte. Gerade für die Mitte der sechziger Jahre, dem Beginn des Betrachtungszeitraums dieser Studie, ist eine verstärkte Abkehr vom klassischen Bildungsbegriff – der einstigen Grundlage von Gymnasium und Universität – zugunsten funktionalerer, auf verschiedene Ziele gerichteter Lesarten von ›Bildung‹ festzustellen31. 27 Vgl. auch Lehning I, S. 10: »[…] seit 1945 werden vorwiegend jene Dokumente ediert, die – sei es durch die KMK oder andere bundesweite Bildungsgremien – Geltung und Wirkung für die gesamte BRD erhalten haben.« 28 Vgl. z. B. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 37. 29 Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 36. 30 Beispielhaft vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 16. 31 Vgl. auch Lehning I, S. 18f.
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Selbst unmittelbar vor Beginn des Betrachtungszeitraums dieser Arbeit, in der Frühphase der bundesrepublikanischen Bildungsexpansion, drängt sich noch nicht die hier geforderte Form zur Differenzierung auf. Ein großer Teil der Bildungsexpansion kann tatsächlich gut und einheitlich durch den Wandel der Sozial- und Wirtschaftsstruktur und eine erhöhte öffentliche Nachfrage nach Bildung in Zeiten des Wirtschaftswunders erklärt werden. Verzögert durch Nationalsozialismus und Wiederaufbau lief sie während der 50er Jahre langsam an. Die Rolle der Politik kann in dieser Zeit vorwiegend als reaktiv aufgefasst werden32. Sie erschöpfte sich maßgeblich in Bedarfsfeststellungen, Investitionsprogrammen und strukturellen Änderungen zur Bewältigung der sich wandelnden Bedingungen, sprich der wachsenden Schüler- und Studierendenzahl in den jeweiligen Bereichen. Solche Maßnahmen, vom Bau zusätzlicher Real- oder Mittelschulen bis hin zur Weiterschreibung der Ordinarienuniversität, bedurften zwar auch der politischen Sanktionierung und hätten theoretisch auch anders behandelt werden können, sind aber selbst noch nicht als genuin politische und nicht nur administrative Maßnahmen zu sehen, solange sie rein reaktiv und meist ohne breitere Behandlung im politischen und vorpolitischen Raum als Fortsetzung eingeübter Muster vonstattengingen. Aber sein Wachstum rückte den Bildungssektor bald in den politischen Fokus, außerdem schlugen die zur passiven Bewältigung erwachsenen Mittel bald in bewusst gewählte, aktive Methoden um. Die Expansion geriet von der Bedingung zum Programm. Auch aus Sicht der Pädagogik, die selbst häufig auf ihre eigene Geschichte zurückschaut und so einen guten Teil bildungshistorischer Werke beisteuert, mag ein linearer Blick vorteilhaft sein, der die Veränderungen des pädagogischen Mainstreams erklärt33. Die Perspektive ist damit auf Tendenzen in der Pädagogik als Fachwissenschaft gerichtet. Zwar gibt es darin Parallelen zu den Diskursformationen, die im ersten Teil dieser Arbeit beschrieben werden, aber letztlich handelt es sich doch um einen ganz anderen Gegenstand, der von einer anderen Wissenschaft betrachtet wird34. Ein großer Teil der in bildungshistorischen Abhandlungen erfassten Literatur fällt unter diese Kategorie. Die beschriebene lineare Sichtweise soll demnach nicht als ungenügend oder gar falsch dargestellt werden. Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die Verläufe und Veränderungen lassen sich mit einem wachsenden Betrachtungszeitraum und mit steigendem Abstraktionsgrad gut als lineare Entwicklung beziehungsweise diachroner Vergleich darstellen. Überblicke über die Bildungsgeschichte wären anders gar nicht möglich. Genauso ist ein einheitlicher 32 Vgl. Von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 335f. 33 Vgl. bspw. Herrmann, Von der Geisteswissenschaftlichen zur Kritischen Pädagogik, S. 168. 34 Vgl. Behrmann, Bildungsexpansion und demokratische Mission, S. 110.
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Blick auf die Bundesebene etwa für internationale Vergleiche angemessen35. Auch enger gefasste Betrachtungen, die sich nicht auf das ganze Land, sondern auf die Beschreibung der historischen Entwicklung bestimmter Institutionen beziehen, müssen sich an deren Funktionen und ihrer Veränderung orientieren, setzen also eine lineare Betrachtungsweise an36. Zur Beschreibung von Bildung und Bildungspolitik wurden bereits viele taugliche Kategorien gefunden, wobei die Systematik sich zumeist an externen Faktoren orientiert. Die Bildungspolitik lässt sich etwa bestens anhand institutioneller Grenzen beschreiben: frühkindliche Bildung, Volksschule, Höhere Schule etwa. Gleiches gilt für die Chronologie als Ordnungsstruktur. Beides erschließt sich ohne weitere Erklärungen. Auch innerhalb der einzelnen Systeme Politik, Bildungswesen, Wissenschaft wurden bereits Kategorien gefunden. In der Politik stehen sich konservative und progressive, sozialistische und liberale Ansätze deutlich gegenüber ; innerhalb des Bildungssystems wird unterschieden zwischen alt und neu, traditionell und fortschrittlich. Die Wissenschaft hingegen differenziert sich mannigfaltig aus, in Pädagogik, Erziehungs37- und (empirische) Bildungswissenschaft, die Didaktik; in geisteswissenschaftliche, kybernetische, curriculare, lehrtheoretische, lerntheoretische, marxistische Ansätze, die Berliner Schule38, die Pädagogische Erneuerung oder die Wiedergewinnung des Erzieherischen39. Wenn eine Kategorisierung über pädagogische Theorien vorgenommen wird, finden diese nicht selten eine chronologische Ordnung. Entsprechend der bereits beschriebenen linearen Darstellung der Bildungsgeschichte wird diese gerne unterteilt in die Abfolge verschiedener Schulen. In Franzjörg Baumgarts »Erziehungs- und Bildungstheorien« etwa werden diese nicht nebeneinander, sondern nacheinander beschrieben – von der Pädagogik der Aufklärung über den Neuhumanismus zur Reformpädagogik, gefolgt von nationalsozialistischer Erziehung und einem auf die Demokratisierungsbewegung verengten »pädagogischen Diskurs in der Geschichte der Bundesrepublik«40. Weiterhin lässt sich Bildung nach ihren Funktionen kategorisieren. Wie weiter oben bereits dargestellt wurde, wurde der Bildung ab Beginn der sechziger Jahre eine größere Zahl von Funktionen beigemessen als zuvor. Zur kul35 Vgl. beispielhaft den Darstellungsteil in Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945– 1990. 36 Vgl. bspw. Lehning I, S. 23. 37 Vgl. von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 70: »Die Erziehungswissenschaft hat […] zwei Gegenstandsbereiche: die Untersuchung gegebener Erziehungsziele auf Widerspruchsfreiheit, Überprüfbarkeit, historische Zusammenhänge etc. und die Entwicklung optimaler Lehrstrategien zur Erreichung gegebener Lernziele.« 38 Vgl. von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 69–74. 39 Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 62. 40 Baumgart, Erziehungs- und Bildungstheorien, S. 217.
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turellen Funktion treten wirtschaftliche, soziale und politische Funktionen. Gerd F. Hepp benennt einerseits Integrationsfunktionen wie die Tradition und Veränderung der Kultur, unter die auch die Persönlichkeitsbildung falle, andererseits als ökonomisch-soziale Funktionen die Qualifikation für den Arbeitsprozess und die Allokation der Menschen auf dem Arbeitsmarkt41. Beherrscht wird diese Art der Kategorisierung im Betrachtungszeitraum allerdings von der Unterscheidung zwischen sozial-ökonomischer und politischer Funktion, welche sich gemeinsam vom tradierten System klassisch-kultureller Bildung abgrenzten. Einem hergebrachten Bildungssystem, dysfunktional und ungerecht, wird dabei eine Bildungsreform gegenüber gestellt, und diese »dünkte gerecht und nützlich zugleich«42. Auf der politischen Seite stehen Begriffe wie Chancengerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung etc. und auf der sozial-ökonomischen Seite Begriffe wie Bedarf, Qualifikation, Begabungsreserven, Bildungsökonomie, internationaler Wettbewerb etc. Diese Kategorisierung ist bislang weithin anerkannt43. Die vorliegende Arbeit widmet sich aber der zeitgenössischen Wahrnehmung, Begründung und Debatte dieser Funktionen. Sie geht nicht von Räumen, Institutionen oder Zeiträumen, nicht von der Gesellschaft oder einer einzelnen Funktion aus, sondern vom politischen Objekt der Bildung in der ganzen Mannigfaltigkeit, in der es im akuten Diskurs erschien. Jeder Aussage in diesem Diskurs liegen bestimmte Grundsätze, eine Weltanschauung, Werte zugrunde, die sich voneinander unterscheiden; und sie begründen unterschiedliche Vorstellungen davon, was Bildung ist und welchem Ziel Bildung und Bildungspolitik dienen – also unterschiedliche Konzeptionen von Bildung. 41 Vgl. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 28–34. 42 Von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 9. 43 Beispielhaft kommt ein Forschungsprojekt zu »Bildungsdiskursen und Institutionenwandel« in Göttingen zu dem Schluss, »dass Bildungsgerechtigkeit keineswegs die zentrale Rolle spielt, die die oben zitierten Autoren [insbesondere Dahrendorf] ihr beigemessen haben«, und verweist als Gegenpol auf die »politische und wirtschaftliche Konkurrenz« bei Picht (Schmidtke, Bildungsgerechtigkeit und Bildungsreform, S. 45f). Ein Kapitel in Norbert Lehnings Monographie trägt den Titel »Der Einbruch der Ökonomen und Soziologen in die Bildungsdiskussion« (Lehning I). Bei Schmidtke, Bildungsgerechtigkeit und Bildungsreform, S. 45 heißt es: »In dieser Thematisierungsphase [der frühen sechziger Jahre] wurde das Bildungssystem von zwei unterschiedlichen Ansatzpunkten als defizitär und reformbedürftig bezeichnet. Der erste Ansatzpunkt war wirtschaftspolitischer Art: Wirtschaftliches Wachstum und internationale Konkurrenzfähigkeit sollten durch ein ›Mehr‹ an Bildung gesichert werden. Der zweite Ansatzpunkt war sozialpolitischer Art: Chancengleichheit sollte durch den Abbau spezifischer Ungleichgewichte bei der Bildungsbeteiligung erreicht werden.« Die beiden Kategorien stehen auch zeitgenössisch oft nebeneinander. Der Deutsche Ausschuss für das Bildungswesen etwa formulierte bereits 1962: »Der steigende Bedarf der modernen Gesellschaft drängt darauf, alle Begabungen zur Entfaltung zu bringen. Auch die soziale Gerechtigkeit gebietet gleiche Bildungschancen für alle.« Deutscher Ausschuss, Empfehlungen, 1966, S. 268.
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Eine einheitliche Betrachtung der Geschichte eines Diskursobjekts bringt auch dessen einheitliche Definition mit sich. Um dabei der ständigen Umdeutung von Begriffen über den Verlauf der Geschichte zu begegnen, benötig diese einheitliche externe Definition eine Konstante, an der sie sich orientiert. Diese Arbeit hingegen versucht im ersten Hauptteil, für den Betrachtungszeitraum zuallererst auseinanderzudividieren, welche verschiedenen Begriffe von dem Abstraktum Bildung, um das es innerhalb des Bildungswesens geht, es überhaupt gab. Es gilt weder eine ex post erklärte Definition des Untersuchungsgegenstandes, noch gilt eine besonders auffällige oder besonders breit vertretene Leitdefinition der damaligen Zeit. Jede Definition, die explizit oder implizit getätigt wurde, ist prinzipiell gültig. Bildungspolitik wird hier also, ob es um die Auflösung der Zwergschulen in Bayern ging oder um die Einführung der Gesellschaftslehre in Hessen, als kontingenter Ausdruck eines politischen Willens gewertet, der unter den gegebenen Bedingungen grundsätzliche Vorstellungen in politisches Handeln bezüglich des Bildungswesens übersetzte.
Zum aktuellen Forschungsstand Nun wurde bereits einiges über die Art und Weise der bisherigen Betrachtungen der Bildungspolitik zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre gesagt. Dem soll noch ein Überblick über den Forschungsstand in den Geschichtswissenschaften hinzugefügt werden. In den Geschichtswissenschaften ist eine Untersuchung der Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre und für die Geschichte der Bundesrepublik überhaupt im Vergleich zu anderen Politikbereichen, wie Wirtschafts-, Kulturoder Sicherheitspolitik, noch gering ausgeprägt. Bei der Erstellung der nach wie vor wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Gesamtschau zum Untersuchungsgegenstand, dem 1998 erschienenen Band VI/1 des Handbuchs der Deutschen Bildungsgeschichte44, ging es noch darum, »erstmals ein ›Handbuchwissen‹ ansatzweise zu sichern«45. Seit nach dem Ablauf der Sperrfristen in den Archiven nun die meisten Quellen aus dem fraglichen Zeitraum für Histo44 Führ, Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI/1. Lundgreen, Datenhandbuch Bildungsgeschichte, Bände 7, 8, 11 sind als rein empirische Sammlungen kaum von Relevanz für diese Arbeit. 45 Führ, Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte, Vorwort. Hierin wird umfassend der zeitliche Verlauf der Entwicklungen im Bildungswesen beschrieben. Bereits hier ist aber die Tendenz erkennbar, diese eher unter pädagogischen als unter politischen Aspekten zu erklären. Eine Verbindung zum politischen Diskurs, der für die Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen und Institutionen verantwortlich war, wird kaum gezogen.
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riker zugänglich sind, finden sich mittlerweile einige Einzeldarstellungen, die sich etwa mit regionalen Entwicklungen46, Bildungsinstitutionen47 oder bestimmten Reformen48 und dabei fast immer mit den Wirkungen der Bildungspolitik beschäftigen und selten mit den Ursachen und Hintergründen. Dabei wird auch stets auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen rekurriert. Im Rahmen breiterer historischer Darstellungen zur Bundesrepublik werden die Entwicklungen im Bildungswesen häufig am Rande mitbehandelt49, mitunter aber auch fast vollkommen unterschlagen50. Die Literatur zur Geschichte des Bildungswesens, insbesondere für den fraglichen Zeitraum, wird mehr von bildungs- denn geschichtswissenschaftlichen Forschungsleistungen bestimmt. Die historische Bildungsforschung stellt dabei eine eigene Disziplin innerhalb der Pädagogik dar – seit über 200 Jahren werden »Geschichten der Pädagogik« in der Lehrerbildung verwendet51. Sie sind institutionen-, ideen- und sozialgeschichtlich orientiert, dabei auch historisch vergleichend, aber ohne starke Berücksichtigung der Politikgeschichte52. Problematisch ist dabei, dass die staatliche Ausgestaltung des Bildungssystems meist in einen Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Stand der Pädagogik gebracht wird, ohne die Rolle der Politik zu berücksichtigen. Die »Verstaatlichung und Verweltlichung des Bildungswesens«53 im 20. Jahrhundert entkoppelte dieses aber zumindest organisatorisch von der Pädagogik. Die Breite und die allgemeine Anerkennung dieser erziehungswissenschaftlichen Geschichtsschreibung mögen mit ein Grund sein, dass diese Perspektive auch in den allgemeingeschichtlichen Werken gerne aufgegriffen wird54, auch wenn sie eigentlich eher der pädagogischen als der historischen Erkenntnis 46 Vgl. Liedtke, Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens. 47 Vgl. Gass-Bolm, das Gymnasium 1945–1980. In diesem Werk werden in diachroner Perspektive bereits verschiedene Konzeptionen des Gymnasiums beschrieben; Hinke, Helga, Staatsinstitute. 48 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen; Böck, Die Änderung des Bayerischen Konkordats 1968. 49 Vgl. Kielmannsegg, nach der Katastrophe, S. 408–410, oder Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 5, S. 373–385. 50 Vgl. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 51 Vgl. Tenorth, Historische Bildungsforschung, S. 137. 52 Vgl. Tenorth, Historische Bildungsforschung, S. 138–141. Beispielhaft Horn, Klaus-Peter, Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert; Hufnagel, Erwin, Pädagogische Theorien im 20. Jahrhundert; Knoop, Einführung in die Geschichte der Pädagogik. Das Standardwerk in diesem Bereich für die gesamte Neuzeit ist Tenorth, Geschichte der Erziehung, die allerdings auch eine Diskursanalyse nur für die Wissenschaft vornimmt, ohne die politischen Entscheidungsträger maßgeblich zu integrieren. 53 Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945. 54 Vgl. Band VI/1, Kapitel 3 des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte: Oelkers, Jürgen, Pädagogische Reform und Wandel der Erziehungswissenschaften. Ein Kapitel zu den Grundlagen der Veränderung politischer Maßgaben existiert nicht.
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dient55. Aktuell läuft etwa in Göttingen ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zu »Bildungsdiskursen und Institutionenwandel: Kindergarten und Vorschule in der Bundesrepublik Deutschland 1965 – 1976«, das eine erziehungswissenschaftliche Warte einnimmt56 und darauf abzielt, »eine theoretisch fundierte Darstellung der sich in diesem Zeitraum verändernden Vorstellungen von Kindheit und (früh-)kindlicher Bildung«57 zu leisten, und sich damit konkret auf aktuelle Debatten bezieht58. Zur Bearbeitung der »Bildungspolitik in Deutschland zwischen 1945 und 1990« wird dann wiederum häufig der Quellenband unter diesem Titel von Anweiler, Fuchs, Dorner, Petermann herangezogen. Die Auswahl der Quellen erfolgte allerdings nicht nach wissenschaftlicher Relevanz, sondern verfolgte »eine praktische Absicht: Dem Benutzer soll eine exemplarische Auswahl von Quellen an die Hand gegeben werden, die die Grundzüge der Bildungspolitik in beiden deutschen Staaten, wichtige Problembereiche und Lösungsversuche transparent werden lassen«59. Dabei zielt er explizit auf die Integration des wiedervereinten Deutschland in der pädagogischen Ausbildung ab. So wird der grundsätzlich politische Charakter der Entwicklungen im Bildungswesen der Bundesrepublik nur in wenigen Werken deutlich60. Stattdessen herrscht ein eher diffuser Konsens, dass ökonomische und sozialpolitische Ziele stärkeren Einfluss auf die Bildungspolitik gewannen, eine Mischung aus Demokratisierungsbestrebungen und besserer Ausbildung zu Expansion und Reformen des Bildungswesens geführt haben und dass all das sich als große Bildungsreform zusammenfassen und auf die Bildungspolitik der Epoche im Allgemeinen anwenden lässt61. Dabei wird bisweilen in Kauf genommen, dass politische Gegner wie die bayerische Oppositionsabgeordnete Hildegard Hamm-Brücher und Kultusminister Ludwig Huber plötzlich als gemeinsame Zeugen dieser Entwicklung angeführt werden62. Angenommen wird, so unhinterfragt wie unwidersprochen, eine »vorübergehende Lockerung der schulpoli55 Vgl. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 10. 56 Vgl. Schmidtke, Bildungsgerechtigkeit und Bildungsreform. 57 Projektbeschreibung auf http://www.uni-goettingen.de/de/projektbeschreibung/134984. html, abgerufen am 11. 8. 2014. 58 Ebd.: »Mit einer solchen Darstellung soll zum einen ein Beitrag zur Analyse der Struktur aktueller Debatten zu dieser Thematik geleistet werden können.« 59 Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 9. 60 Bei Herrlitz, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart, S. 203–207 wird auf die Motive der Bildungsreformen eingegangen. In den fast noch zeitgenössischen Bänden Hüfner, Konjunkturen der Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Der Aufschwung (1960–1967), S. 49–56 und ders., Hochkonjunktur und Flaute: Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1967–1980, S. 63–74 sind dezidierte Betrachtungen der bildungspolitischen Grundsätze der Parteien und Institutionen zu finden. 61 Vgl. Lehning II, S. 652–655. 62 Vgl. ebd., S. 656, bzw. 657.
Bildung als Gegenstand der Geschichtsschreibung
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tischen Gegensätze«63, wenn nicht gar ein »bildungspolitischer Konsens, der ab der Mitte der sechziger Jahre weitgehend vorherrschte«64. Dabei wird wohl zumeist ein herrschender Konsens in der Analyse gemeint, dass die Bildungslandschaft in Veränderung begriffen sei, die Differenzierung der Haltungen dazu erfolgte bislang allerdings kaum. Gleichermaßen verschwimmen geschichtswissenschaftliche Grundsätze, wenn beispielsweise die Bekundungen politischer Akteure ohne quellenkritische Überprüfung als Aussage über politisches Wirken angeführt werden65. Neben den bereits erwähnten Arbeiten aus der Pädagogik wurde ein weiterer Teil der Literatur zeitgenössisch von Politologen66 oder Soziologen67 verfasst. In allen Disziplinen sind auch Werke zu finden, die nicht zuletzt in normativer Absicht entstanden68. Angesichts dieser Aspekte scheint es lohnenswert, den Blick nun auf die Hintergründe und Ursachen der politischen Entscheidungen zu richten. Eine starke Verzerrung in der historischen Wahrnehmung entsteht durch die Behandlung der Entwicklung des Bildungswesens unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Umbrüche. Durch die starke Suche nach Einflüssen der sozialliberalen Koalition im Bund, der neuen Linken in der Gesellschaft oder der kritischen Soziologie auf die Bildung kann der Eindruck entstehen, dass diese die Bildungspolitik in der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusst haben; davon unabhängige oder gar gegenläufige Bewegungen kommen so gar nicht vor69. Verstärkt wird dieser Effekt durch die asymmetrische Verteilung der Quellen. Reformerische Kräfte neigten dazu, ihre Gedanken häufiger zu veröffentlichen und auch politische Prozesse bis ins Detail auch öffentlich zu dokumentieren. Geht man jedoch, wie im zweiten Teil dieser Arbeit, von der Bildungspolitik aus und sucht nach den sie bestimmenden Parametern, stehen die genannten Aspekte neben einer nicht unerheblichen Zahl weiterer wichtiger Faktoren. Das Forschungsvorhaben ergänzt sich mit dem Schwerpunkt Historische Wertewandelsforschung70 der Abteilung für Neueste Geschichte im Historischen 63 Furck, Schulen und Hochschulen, S. 251. 64 Lehning II, S. 665. 65 Vgl. bspw. Neidhardt, Auf dem Weg zur demokratischen Schule, S. 281f. Hier werden die Aspekte, die Hildegard Hamm-Brücher nachträglich als Ziele ihrer Bildungspolitik nannte, ohne weiteres als »Schwerpunkte der hessischen Schulreform unter demokratischer Prämisse« aufgeführt. 66 Vgl. ebd.; Reuter, Politik- und rechtswissenschaftliche Bildungsforschung. 67 Vgl. Geißler, Sozialstruktur Deutschlands. Hier werden die gesellschaftlichen Auswirkungen der Veränderungen im Bildungssystem analysiert. 68 Beispielhaft Klafki, Erfahrungen und Einsichten aus 25 Jahren; Wolf, Curriculare Entwicklungsarbeit; Aktuell aus konservativer Warte: Gauger, Kultur und Schule. 69 Vgl. z. B. Behrmann, Bildungsexpansion und demokratische Mission, S. 108ff. Hier werden die wichtigsten Tendenzen der Soziologie über die Bildungswissenschaften auf die Bildungspolitik untersucht. 70 Zu finden unter http://www.geschichte.uni-mainz.de/neuestegeschichte/244.php.
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Seminar der Universität Mainz. In der Methodik weicht diese Arbeit aber stark ab, da sie sich maßgeblich einer synchronen Betrachtungsweise annimmt und nicht die Entwicklung des Gesamtdiskurses, sondern dessen interne Strukturierung im Vordergrund steht. Dennoch enthält die Arbeit Erkenntnisse über die »Diskurse über Werte anhand der sich selbst als wertsetzend begreifenden Institutionen«71 während der Zeit des Wertwandelschubs72. Dabei scheint interessant, wie in der Bildung ein traditionell bürgerlicher Wert zum Symbol des Wertewandels wurde. Auch mit Bezug auf gegenwärtige Entwicklungen verspricht die Dissertation relevante Erkenntnisse. Anhand der Beschreibung bildungspolitischer Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik als Wert- und Grundsatzdebatten können auch aktuelle Diskussionen besser auf der korrekten Ebene eingeordnet werden.
1.3. Eine diskurstheoretische Fragestellung – zur Methodik Wie an einigen Stellen bereits durchgeklungen ist, ist der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nicht die Bildungspolitik selbst, sondern der Diskurs um diese. Bezugnehmend auf das bisher Gesagte soll nun noch einmal explizit auf die diskursanalytische Methodik der Arbeit eingegangen werden. Letztendlich geht es bei der Frage, welche Perspektive man einnimmt – eine einheitlich-lineare oder eine offene – darum, ob der diskursive Gradient zwischen neuen Positionen und solchen, die sich stärker an der Tradition orientieren, diachron als eine Entwicklung in ihrem Prozess oder aber synchron als Konflikt zwischen Positionen betrachtet wird. Aussagen wie »der Wandel im Begriffsverständnis der Volksschulen zeichnete sich jedoch schon deutlich ab«73 sind beispielhaft für die prozessuale Sichtweise – benannt werden hier die Debatten, die zwischen der Zeit liegen, in der der Begriff der Volksschule noch eindeutig war, und der Zeit, zu der er wieder eindeutig war ; sie werden als Prozess von der einen zur anderen Position dargestellt. Diese Linie ist aber nur im Nachhinein ersichtlich, denn hätte die alte Position sich wieder konsolidieren können, wäre die Interpretation dieses Prozesses eine völlig andere; hätte sich eine dritte Position herausgebildet, gleichfalls. Die Kinderladenbewegung etwa, die mit einer anarchistisch-marxistischen Variante antiautoritärer Erziehung das Konzept der bürgerlichen Familie überwinden wollte, trat in den siebziger Jahren auf und verschwand wenig später wieder. Zeitgenössisch war diese Zukunft aber genauso wenig klar wie die der Gesamtschule und des Gymnasiums. 71 Neuheiser, Wertewandel in historisch-diachroner Perspektive, S. 10. 72 Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987, S. 70. 73 Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 748.
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Dass das Gymnasium überdauern, die Gesamtschule sich etablieren und die Kinderläden wieder verschwinden würden, konnte damals niemand wissen. Daher soll eine solche Auseinandersetzung in dieser Betrachtung nicht ihrem Ergebnis untergeordnet werden, sondern selbst Gegenstand sein. Diese Arbeit stellt also auch keine klassische historische Diskursanalyse dar, die den Verlauf eines Gesamtdiskurses nachvollzieht, sondern eine Strukturanalyse, die die Binnengliederung dieses Diskurses in weitere Diskurse – im Folgenden allgemein Diskursformationen oder bestimmter ›Konzeptionen von Bildung‹ genannt – identifizieren, kategorisieren und voneinander abgrenzen möchte. Zu Diskursen, Diskurstheorie und Diskursanalyse wurde in den letzten Jahrzehnten viel geschrieben. Bei einer Analyse der bildungspolitischen Debatte, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen werden soll, muss zunächst abgesteckt werden, wo die bekannten diskursanalytischen Theorien anwendbar sind, wie sie auf die Fragestellung passen und wo davon abgewichen werden muss. Oftmals steht dabei die Methodik zur Analyse historischer Diskurse im Vordergrund. Den größten Anteil an diskurstheoretischen Schriften haben aber die Sprachwissenschaften. Dabei wird vorwiegend auf die Sprache selbst eingegangen74. Nach strukturalistischer Logik bleiben Diskurse abstrakte, ordnende Systeme von Sprache, durch die die Wirklichkeit konstruiert wird75. Sie finden oberhalb der konkreten inhaltlichen Debatte statt und beschäftigen sich im theoretischen Rahmen damit, wie sich Objekte in Zeichen übersetzen, Kodierungen und Konventionen geschaffen werden. In dieser Definition ist also lediglich der Rahmen dessen zu finden, was allenthalben geschieht – Kommunikation. Ein bildungspolitischer Diskurs würde danach lediglich auf den gemeinsamen, insbesondere sprachlichen Grundkonsens aller daran beteiligten Akteure rekurrieren und auf philosophisch-abstrakter Ebene den Ausschluss respektive die Einbeziehung aller einzelnen möglichen Sprechakte erklären76. Eine Herangehensweise, die näher an der Empirie liegt, findet sich dann im Poststrukturalismus, in dem auch die Foucault’sche Diskursanalyse verortet wird. In der Analyse von Sprache wechselte der Fokus vom synchronen zum diachronen Vergleich. Dabei werden auch Diskontinuitäten in der Geschichte, Wandlungserscheinungen und überhaupt »die tatsächlichen praktischen Gebrauchsweisen der Symbolsysteme«77 zum Analyseobjekt. Diskurs, nach Bochmann nun »die sprachliche Äußerung, die […] unabhängig von den Grenzen des 74 75 76 77
Vgl. Landwehr, Achim, Historische Diskursanalyse, Frankfurt 2008, S. 17. Keller, S. 103. Vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 107.
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Satzes betrachtet werden soll, im Prinzip also von der Einwortäußerung bis zum vollständigen, ausführlichen Text reicht«, eine »sprachlich-kommunikative Tätigkeit, eingebettet in eine Kommunikationssituation mit ihren Hauptelementen Sprecher, Adressat und Referent«78, wird damit ein tatsächlich analysierbares Objekt für sich. Gleichermaßen wendet sich der Blick auf Diskurse neben den linguistischen nun auch den sozial- und geisteswissenschaftlichen Implikationen zu. Dies ändert aber nichts daran, dass als Diskurs immer noch eine jeweils spezifische Art der Kommunikation gilt, die sich zwar nach außen hin abgrenzen kann – zum Beispiel Religion, Wissenschaft oder Alltag –, aber nach innen nicht weiter strukturiert ist. Der Primat der Sprache als Analyseebene bleibt erhalten; die intendierten Aussagen und deren materielle Unterschiede, die einen Konflikt erst möglich machen, werden dadurch eingeebnet, dass sie im gleichen Diskurs stattfinden, sich des gleichen Codes bedienen79. Abweichen ist beispielsweise bei Foucault nur als alternative Diskursformation möglich, die in Konkurrenz zur ursprünglichen tritt, um dann den Diskurs neu zu bestimmen oder auch nicht. Nach Foucault gibt es keine Weltsicht, keine Interessen, die »Gruppierungen von Aussagen« zugrunde liegen80, lediglich Optionen im Umgang mit Diskursobjekten, die als »regulierte Weisen […], Diskursmöglichkeiten anzuwenden« beschrieben werden81. So beeindruckend diese Sichtweise auch sein mag – eine Methodik zur Analyse von Diskursen ist daraus schwer abzuleiten; »Zu verzichten sei auf politische Argumente bzw. ›second order judgements‹ […]. Das Vorgehen habe problem- oder themenorientiert, aber unbedingt nicht-interpretativ zu erfolgen«, folgern beispielsweise Kendall und Wickham aus Foucaults Ansatz82. Dies würde die (Geschichts-)Wissenschaft einer strukturalistischen Beliebigkeit anheimstellen, die jegliche Erklärung historischer Begebenheiten abseits deren sprachlicher und sozialer Konstruktion verböte. Die Herangehensweise unter anderem von Mikhail Baktin und später Thomas Luckman, dass »Sprache in sozialen Interaktionen und Kämpfen entsteht«83, erliegt insofern demselben Problem, als es zwar Konflikte gibt, diese aber formal auf sprachli78 Bochmann, »Analyse de Discours« im Schnittpunkt zwischen Soziolinguistik und Literarischer Semantik. In: Beiträge zur Romanischen Philologie, 17. Jg., Heft 1, S. 197–201; zitiert nach Keller, S. 107f. 79 Vgl. Martschukat, S. 73: »Mithin wird in einem diskursanalytischen Verfahren nicht nach der ›Urheberschaft‹ einer Aussage oder nach einem äußeren Subjekt gespürt, das eine originäre moralische oder geistige Vision zum Ausdruck bringt. Vielmehr stehen die Häufigkeit und Regelhaftigkeit, mit der Aussagen erscheinen, im Zentrum des Interesses, denn sie verleihen einem Diskurs ›Dichte‹ und eine gestaltende Dynamik, wodurch er zu einer tragenden Kraft kultureller Konzepte werden kann.« 80 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 102. 81 Ebd. 82 Keller, Diskursanalyse, S. 135. 83 Ebd., S. 108.
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cher Ebene ausgetragen werden müssen, nicht materiell auf Ebene des Arguments. Ein einheitlicher Diskurs steht somit in einer Art dialektischem Gesetz zwingend am Ende und kann erst dann wieder Objekt neuer Deutungskämpfe werden. Der Streit um Positionen innerhalb eines Diskurses entscheidet sich also mit der Deutungshoheit über die Zeichen. Die Grundlagen und Argumente eines solchen Konflikts rücken dabei aber komplett in den Hintergrund; nicht der Gehalt, sondern die Form ist relevant84. In der wissenschaftlichen Literatur stehen die Termini Diskursanalyse und Diskurstheorie heute für eine »qualitative, hermeneutisch-interpretative Perspektive […] oder werden diesen in Methodenüberblicken zugeordnet«85. Dabei steht neben discourse analysis eine poststrukturalistisch-diskurstheoretische Perspektive, die allerdings auf den Sprachwissenschaften fußt. Wäre die sprachliche Einordnung der Debatte um Bildungspolitik in den 60er und 70er Jahren durchaus interessant (alleine der Begriff der Bildung war sehr stark im Fluss), soll dies nicht das Hauptthema dieser Arbeit sein. Dennoch handelt es sich um die Analyse eines Diskurses, wie noch zu sehen sein wird. Klassischerweise wird eine historische Diskursanalyse diachron vorgenommen. Bei einer solchen Analyse wird untersucht, wie sich ein Diskurs über die Zeit verändert, um dadurch eine Veränderung des Objekts oder des Handelns bezüglich eines Objekts zu erklären. Der von Jürgen Martschukat nach diesem Muster analysierte Diskurs zur Todesstrafe86 wird daraufhin analysiert, wie sich die Todesstrafe über die Jahrhunderte hin verändert hat und wie dem jeweils eine Veränderung des Diskurses vorausgegangen ist. Gleicherweise werden kontroverse Diskurse oftmals nicht gemeinsam gefasst, sondern vorab untereinander abgegrenzt. Achim Landwehr nennt exemplarisch den »fremdenfeindlichen Diskurs«, möchte also nur eine Seite des Gesamtdiskurses zum Objekt Fremde betrachtet wissen. Landwehr geht davon aus, dass »Wissen und Wirklichkeit Ergebnisse sozialer Konstruktionsprozesse« seien, dass »Gesellschaften […] ihre Umwelt mit bestimmten Bedeutungsmustern« ausstatteten und »bestimmte Sichtweisen auf diese Umwelt als Wissen […] und objektivierte Elemente zu einer Wirklichkeit« erkannten. Die historische Diskursanalyse ginge somit der Frage nach, »wie im historischen Prozess solche Formen des Wissens und der Wirklichkeit ausgebildet wurden, warum alternative Entwürfe sich nicht durchsetzen konnten oder nur eine kurze Lebensdauer hatten«87. Es steht also bereits hier eine stark theoretisierte Grundannahme im Ausgang, die keine empirische Offenheit mehr zulässt, etwa unterschiedliche Bedeutungs84 Vgl. ebd., S. 108. 85 Ebd., S. 109. 86 Martschukat, Jürgen, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000. 87 Landwehr, S. 18.
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muster innerhalb einer Gesellschaft und entsprechend der Konflikt, solange Elemente nicht allgemeingültig objektiviert wären. Auf Kontroversen im Grundsatz oder im Detail innerhalb eines Diskurses geht er in seiner als Standardwerk geltenden Monographie nicht ein, sie scheinen nicht existent. Dabei muss zumindest davon ausgegangen werden, dass selbst innerhalb eines im obigen Sinne einheitlichen Diskurses zu den Punkten seiner Weiterentwicklung durchaus zunächst eine kontroverse Aussage in den Diskurs eingeführt wird, bevor er sich wieder homogenisiert. Diese Beispiele von Versuchen, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Diskursen zu operationalisieren, hängen stark miteinander zusammen und sind exemplarisch für den Mainstream der einschlägigen Literatur. Ihnen ist gemein, den Diskurs zur Erklärung zu nutzen; der Diskurs ist hier aber nicht das Untersuchungsobjekt an sich. Es wird also die Frage gestellt, wo im Diskurs eine historische Entwicklung angelegt ist. Dies entspricht Foucaults »rücklaufenden Neueinteilungen, die mehrere Vergangenheiten, mehrere Verkettungsformen, mehrere Hierarchien der Gewichtung, mehrere Determinationsraster, mehrere Teleologien für ein und dieselbe Wissenschaft entsprechend den Veränderungen ihrer Gegenwart erscheinen lassen.«88 Da diese Gegenwart bekannt ist, wird für die Vergangenheit keine Kontingenz mehr angenommen, jeder Punkt in der Geschichte wird als Schritt auf dem Weg zur beobachteten Gegenwart gesehen und nicht mehr unter der Möglichkeit, dass die Geschichte auch hätte anders ausgehen können. Entwicklungen werden als zwingende Entwicklungen beobachtet, weil ihr Ausgang in der Rückschau gewiss ist. So werden die Gründe für die Entwicklung notwendig im Bereich des historisch Sichtbaren verortet. Dass kleinste Änderungen, bis hin zum sprichwörtlichen Flügelschlag eines Schmetterlings, den Lauf der Geschichte ändern, aber in einer rückblickenden Betrachtung nicht berücksichtigt werden können, widerspricht dem. Die diachrone Untersuchung legt zudem eine lineare Beschreibung nahe, wie sie bereits weiter oben problematisiert wurde. Durch das Ausblenden kontingenter Entwicklungsmöglichkeiten des betrachteten Objekts aus zeitgenössischer Perspektive sowie durch den Versuch der Theoretisierung und Verallgemeinerung von Diskursregeln bekommt eine historische Diskursanalyse leicht eine dialektische Tendenz in dem Sinne, dass sich jeder Konflikt stets wieder in einem einheitlichen Diskurs auflösen wird. Bei Bourdieu wiederum wird die Kontroverse im Diskurs deutlich: »[…] Erkenntnis von sozialer Welt und, genauer, die sie ermöglichenden Kategorien: darum geht es letztlich im politischen Kampf, einem untrennbar theoretisch und praktisch geführten Kampf um die Macht zum Erhalt oder zur Veränderung der herrschenden sozialen Welt durch Erhalt oder Veränderung der herrschenden 88 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 11.
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Kategorien zur Wahrnehmung dieser Welt«89. Die Kontroverse innerhalb eines Diskurses wird aber erst im synchronen Querschnitt deutlich. Mag die eine Position eine ›alte‹, die andere eine ›neue‹ sein, mögen sie als traditionell oder fortschrittlich gelten; welche sich durchsetzen würde, konnte vom Zeitgenossen nicht beantwortet werden. Hier muss auch die innere Logik einer linearen Vorgehensweise, also der Betrachtung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, in Frage gestellt werden, denn danach scheint die Kontinuität als logische Entwicklung angelegt, während die Diskontinuität erklärungsbedürftig ist. Erklärungsbedürftig ist aber dann beides, wenn es einen Konflikt gibt, also sowohl eine diskontinuierliche als auch eine kontinuierliche Entwicklung möglich scheinen. Als Prämisse für diese Arbeit kann Foucaults Hypothese gelten: »Die in ihrer Form verschiedenen, in der Zeit verstreuten Aussagen bilden eine Gesamtheit, wenn sie sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen.«90 Man könnte also in diesem Sinne die Entität aller Aussagen, die sich auf ein Objekt beziehen, als einen Diskurs auffassen. Nun stellt sich die Frage nach dem Objekt. Da die explizite Fragestellung des ersten Teils dieser Arbeit die nach einer Kategorisierung von Konzeptionen von Bildung sein wird, die sich voneinander unterscheiden und weiterhin Objekte nach diskurstheoretischer Betrachtung in ihrer Bedeutung konstruiert werden, wäre eine Strukturierung in unterschiedliche, einzeln gleichförmige Bildungsdiskurse angezeigt. Ein emanzipativer Bildungsbegriff wäre somit ein anderes Objekt als einer, der sich an der Befriedigung gesellschaftlicher Bedarfe orientiert. Aufgabe der Arbeit wäre es dann, die einzelnen Diskurse (Diskursformationen) zu identifizieren und in ihrer inneren Kohärenz und ihrer äußeren Abgrenzung zu definieren. Andererseits beschreibt Foucault selbst am Beispiel des Diskurses zur Geisteskrankheit: »Diese Gesamtheit von Aussagen ist weit davon entfernt, sich auf ein einziges Objekt zu beziehen, das ein für allemal gebildet ist, und es unbeschränkt als ihren Horizont unerschöpflicher Idealität zu bewahren; das Objekt, das von den medizinischen Aussagen des 17. oder 18. Jahrhunderts als […] Korrelat [der Geisteskrankheit] gesetzt worden ist, ist nicht identisch mit dem Objekt, das sich durch die juristischen Urteilssprüche und die polizeilichen Maßnahmen hindurch abzeichnet; ebenso sind alle Gegenstände des psychopathologischen Diskurses […] verändert worden. […] Aus dieser Vielfalt der Objekte könnte man, müsste man vielleicht schließen, dass es nicht möglich ist, den ›den Wahnsinn betreffenden Diskurs‹ als eine gültige Einheit für die Konstitu89 Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen, 18f, zitiert nach Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 81. 90 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 49.
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ierung einer Gesamtheit von Aussagen zuzulassen.« Dem hält er wiederum selbst entgegen, »dass seinerseits jeder dieser [einzelnen] Diskurse seinen Gegenstand konstituiert und soweit bearbeitet hat, dass er ihn völlig transformierte.« Er schließt somit, die Einheit eines Diskurses sei gegeben durch »die charakteristische Beziehung, die die Individualisierung einer Menge von [beispielsweise] den Wahnsinn betreffenden Aussagen gestatten würde«. Diese »wäre demnach: Die Regel gleichzeitigen oder sukzessiven Auftauchens verschiedener Objekte, die darin benannt, beschrieben, analysiert, geschätzt oder beurteilt werden.«91 Er schlussfolgert: »Auf paradoxe Weise bestünde die Definition einer Gesamtheit von Aussagen in dem, was sie an Individuellem hat, darin, die Dispersion dieser Objekte zu beschreiben, alle Zwischenräume zu erfassen, die sie trennen, die Abstände zu messen, die zwischen ihnen bestehen – mit anderen Worten darin, ihr Verteilungsgesetz zu formulieren.« Zur Bestimmung des Bildungsdiskurses in den 60er und 70er Jahren soll dieser also nach den unterschiedlichen Auffassungen davon, was Bildung sei, strukturiert und diese Struktur beschrieben werden. Nun sollte man nicht der einfachen Vorstellung unterliegen, diese unterschiedlichen Konzeptionen von Bildung würden von jeweils unterschiedlichen Personen vertreten oder sogar entlang der Grenzen gesellschaftlicher Formationen wie Parteien, Interessenverbände oder entlang sozialer Kategorien wie jung und alt, gebildet und ungebildet, urban und ländlich verlaufen. Man muss sich sogar vorstellen, dass eine bewusste Reflexion dieser Konzeptionen von Bildung häufig nicht stattfand. Gerade wenn es darum ging, eine konkrete Maßnahme zu fordern oder zu begründen, wurden gerne Argumente zusammengezogen, die verschiedenen Konzeptionen von Bildung entsprangen, insofern können sogar in einem Text verschiedene Diskursformationen auftauchen. Das Bemühen dieser Arbeit soll es sein, alle Aussagen in Bezug auf das eine Objekt, die Bildungspolitik, als Diskurs zu bestimmen; die beschriebenen Konzeptionen von Bildung stellen dementsprechend einzelne Diskursformationen dar. Dieser Diskurs soll im ersten Hauptteil als Querschnitt auf einer horizontalen, synchronen Ebene und im zweiten Hauptteil institutionell gebunden auf einer vertikalen, diachronen Ebene beschrieben werden.
91 Ebd., S. 50f.
Bildungsdiskurs und Bildungspolitik – Vorbedingungen und Abgrenzungen
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1.4. Bildungsdiskurs und Bildungspolitik – Vorbedingungen und Abgrenzungen Nachdem nun grundsätzlich auf die Methodik dieser Arbeit eingegangen wurde, soll nun noch ihr Gegenstand genau abgegrenzt werden. In den folgenden Absätzen wird ausgeführt, was der Untersuchungsgegenstand der vorgenommenen Strukturanalyse des Bildungsdiskurses in politischem Denken und politischem Handeln zwischen 1963 und 1973 in der Bundesrepublik Deutschland ist und wie seine zeitlichen und räumlichen Schranken sich ergeben.
Bildungspolitikgeschichte – der Untersuchungsgegenstand Diese Arbeit ist, so viel ist bereits klar geworden, keine Geschichte der Pädagogik. In ihr werden nicht bestimmte pädagogische Konzepte vorgestellt, wie sie damals zahlreich gediehen. Sie wird dann kein Beitrag zur historischen Bildungsforschung oder zur Bildungsgeschichte sein können, wenn damit gemeint ist, die tatsächlichen Inhalte, Lehr- und Lernformen im Unterricht oder bildungswissenschaftliche Erkenntnisse darzulegen. Diese Forschung findet maßgeblich innerhalb der Pädagogik, der Erziehungs- und Bildungswissenschaften statt und ist dort auch gut aufgehoben. Diese Arbeit ist daher auch kein Beitrag zur Lehrplanforschung, einer bildungswissenschaftlichen Disziplin, die einen Großteil der vorhandenen Analysen zur Konzipierung von Lehrplänen in der betreffenden Zeit hervorgebracht hat. Waltraud Schreiber92 oder Ursula Neidhardt93 haben beispielsweise unter diesem Aspekt hervorragende Werke zur Curriculumreform in Hessen verfasst. Ihre Fragestellungen beziehen sich aber letztlich auf eine didaktische Diskussion. Demgegenüber wird in dieser Arbeit der Diskurs um die politische Entscheidungsfindung betrachtet, also im Grunde Bildungspolitikgeschichte. Der Fokus der Arbeit ist auf die Schule gerichtet. Die Debatte um die Vorschulbildung nimmt in der Zeit zwar Fahrt auf, ist aber in weiten Teilen noch unbestimmt und nicht unmittelbar mit Fragen der Schulen und ihrer Reformen verknüpft. Selbst der Primarbereich ist wenig betroffen, die Debatte gilt – von der Trennung der Volksschule in Grund- und Hauptschule über die Orientierungsstufe bis hin zur Gesamtschuldebatte – maßgeblich dem Sekundarbereich. Kindergärten werden überhaupt erst langsam als Bildungseinrichtungen wahrgenommen. Aspekte frühkindlicher und der Grundschulbildung werden selbstverständlich immer integriert, wo sie im Diskurs relevant werden. 92 Schreiber, Schulreform in Hessen. 93 Neidhardt, Auf dem Weg zur demokratischen Schule.
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Mit den Hochschulen wird ähnlich verfahren. Diese wurden zwar viel stärker als die Kindergärten im Zusammenhang mit der Schulbildung behandelt und waren im fraglichen Zeitraum gewiss Objekt einer intensiven Debatte. Im Kontext der Schule ging es aber selten um deren Gestaltung selbst, sondern um das Ziel eines Schulabschlusses, ähnlich wie beim Arbeitsmarkt. Die Hochschulpolitik wird wie die frühkindliche Bildung, aber auch Themen wie Berufsschulen, Sonderschulen, Privatschulen nur dort mitbehandelt, wo sie innerhalb der Schnittmengen zur Schulpolitik für diese Relevanz hat. Darüber hinaus würde es weder dem Umfang noch der Übersichtlichkeit dieser Arbeit guttun, den Gegenstand zu weit zu fassen. Was verwundern wird, ist die Vernachlässigung der großen bundespolitischen Debatten, die andernorts oft die Bildungsgeschichtsschreibung für diese Zeit dominieren. Das Ringen um die Bildungshoheit zwischen Bund und Ländern war nicht nur eine langfristige Konstante, sondern auch ein Kondensationspunkt für zahlreiche Konflikte. Ihre weitgehende Nichtbeachtung folgt aber auch der gerade erläuterten Prioritätensetzung. Zwar wurden die verschiedenen Ansichten zu Fragen des Bildungsföderalismus durchaus grundsätzlich und nicht rein funktionalistisch begründet. Stärkere Bundeskompetenzen im Bildungsbereich bedeuteten für die Befürworter »die Verwirklichung des im Grundgesetz der BRD verbrieften Rechts der Gleichheit – auch der Bildungschancen – für alle Staatsbürger«, der Kulturföderalismus hingegen eine Gefährdung der »freiheitlichen Grundlagen der Bundesrepublik«94. Die Gegner dieser Tendenzen betonten hingegen die horizontale Gewaltenteilung und das Subsidiaritätsprinzip als Teile des demokratischen Fundaments. Diese grundsätzliche Debatte verstetigte sich aber bald in einer endlosen Argumentationsschleife und bestätigte, da ergebnislos, die grundgesetzlich bestimmte Kulturhoheit der Länder. Neben der Fundamentalrhetorik ging es noch um Fragen der Finanzierung von Bildung und organisationstheoretische Fragestellungen. Der Gehalt von Bildungsreformen – gegliederte Schulen oder Gesamtschule, die Ausgestaltung des Unterrichts etc. – war in jedem Fall von dieser Debatte kaum betroffen. Sie wird daher nur dort aufgegriffen, wo sie explizit mit Bildungsfragen verknüpft wurde. Da diese Debatte außer im Bereich der Hochschulen während der fraglichen Zeit nicht entschieden wurde, hatte die Bundespolitik fortwährend keine Macht im Bildungsbereich. Auf dieser Ebene verfasste, letztendlich unverbindliche Schlüsseldokumente95 von Bildungsrat (Strukturplan), Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (Zwischenbericht über den Bildungsgesamtplan) und auch Bundesregierung (Bildungsbericht ’70) finden sich deshalb im ersten Teil 94 Ulshöfer, Grundsätze einer demokratischen Schulverfassung, S. 133. 95 Schultze, Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 8.
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dieser Arbeit als Teil des Diskurses der interessierten Teilöffentlichkeit, nicht als politisch wirksame Entscheidungen im zweiten Teil. Die verbindlichen Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (KMK) und die Abkommen der Länder fixierten hingegen nur den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Kultusministerkonferenz spannte den gemeinsamen Rahmen so eng wie möglich um die verschiedenen Konzepte und nahm somit nur eine passive Rolle ein96. Ihre einstimmigen Beschlüsse bedurften in den Landesregierungen im Vorhinein der Debatte und im Nachhinein der Auslegung. Die gute Dokumentation und personelle Ausstattung und Repräsentation der KMK dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ohne Zustimmung der einzelnen Länder machtlos war. Ihre Funktion war die einer Clearingstelle. In dieser Arbeit soll allerdings auch keine Verengung auf einzelne Aspekte stattfinden. Eine Konzentration auf den Umgang mit der politischen Bildung etwa könnte für sich ganze Bände füllen, dominierte sie doch damals die Diskussion. Der Anspruch dieser Arbeit soll aber sein, Zusammenhänge darzustellen. Deshalb sollen die verschiedenen strukturellen und inhaltlichen Aspekte ausgewogen behandelt werden. Zusammengefasst wird in dieser Arbeit also der Diskurs um die politische Entscheidungsfindung zu Angelegenheiten, die die äußere und innere Organisation von Schule und Unterricht betreffen, betrachtet.
1963/64: der Diskurs bricht auf – Beginn des Betrachtungszeitraums Nachdem nun der Untersuchungsgegenstand definiert ist, soll auch der Untersuchungszeitraum festgelegt werden. Dabei soll noch einmal besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten dieser Zeit gelegt werden, auf die Entwicklungen und Transformationen des Diskurses, auf die Entwicklung der Bildungspolitik als solche und auf den Begriff der Bildung. Durch kaum ein Phänomen hat sich der Wandel der bundesdeutschen Gesellschaft in den sechziger und siebziger Jahren so deutlich manifestiert wie durch Bildungsexpansion und Bildungsreform. War die eine Generation noch fast komplett in der Volksschule Bildungstraditionen des 19. Jahrhunderts gefolgt, strömte die nächste bereits in Massen auf Gymnasien und Hochschulen, diskutierte das Bürgerrecht auf Bildung und dachte (sehr) laut darüber nach, das eben noch expandierte vertikal gegliederte Schulsystem völlig durch ein horizontal gegliedertes zu ersetzen. Innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelte sich nicht nur die Zahl der Abiturienten97, während sich der Anteil der Hauptschüler 96 Vgl. auch Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 17. 97 Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte, S. 15.
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halbierte98 ; auch die Zahl der Hochschulen, mehr noch der Hochschullehrer99 wuchs, und soziale Verzerrungen im Bildungswesen wurden zumindest ansatzweise abgebaut. Zwischen dem allmählichen Beginn der Expansion in den fünfziger Jahren100 und dem langsamen Versiegen der Reformbemühungen bis weit in die achtziger Jahre hinein soll nun ein Betrachtungszeitraum gewählt werden, der den Kern dieser Entwicklung, die eigentliche »Zeit der Bildungseuphorie«101 ausmacht. Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen stellte 1965 nach zwölf Jahren seine Arbeit ein. Wie explosionsartig sich das Thema Bildung seit Pichts Katastrophenruf anderthalb Jahre zuvor ausgebreitet hatte, beschreibt eindrucksvoll der Abschlussbericht des Deutschen Ausschusses vom Juni, der bekennt: »In der Zeit, in der [dieses Werk] entstanden ist, sind die Dinge in Fluss geraten. Zuerst Lehrer und Ökonomen, Forscher und Ingenieure, dann andere Repräsentanten des geistigen Lebens haben erkannt und gesagt, dass unser Bildungswesen erweitert und reformiert werden muss, wenn es der Zukunft standhalten soll. Presse, Rundfunk und Fernsehen haben diesen Appell aufgegriffen, proklamieren Bildung als zentrale und entscheidende Aufgabe unserer Gesellschaft und verlangen für den Zustand der Bildungsinstitutionen das gespannte und aufmerksame Interesse des ganzen Volkes. In bewusster Provokation hat Georg Picht, früher Mitglied dieses Ausschusses, die Unruhe verstärkt und fast alle Betroffenen zur Reaktion gezwungen. Die Parteien wetteifern in Bekenntnissen und Beweisen ihrer Bildungsfreundlichkeit und ihres Willens, die Dinge zu ändern. Die Ministerpräsidenten und die Kultusminister der Länder arbeiten an Reformen, bei denen sie sich der Vorschläge des Ausschusses bedienen. Rektorenkonferenz und Wissenschaftsrat bemühen sich um die Entwicklung der Hochschulen und Forschungsstätten. Bund und Länder suchen neue Formen des Zusammenwirkens. Standesorganisationen beginnen ihre fixierten Positionen zu lockern und mit sich reden zu lassen. Das alles ergibt ein verwirrendes Bild, und die Diskussion ist zum Teil hektisch; man kann noch nicht wissen, ob solche Unruhe zu klarer Einsicht und zu gemeinsamen Entschlüssen finden wird. Hoffnungen und Befürchtungen halten einander die Waage.«102 Der Beginn des Betrachtungszeitraums im Jahr 1963 wurde also schon zeitgenössisch als bil98 Furck, Schulen und Hochschulen, S. 254. 99 Zwischen 1966 und 1972 stieg die Zahl der Professoren um 154 %; Lundgreen, Datenhandbuch Bildungsgeschichte 8, S. 36. 100 Vgl. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 291. 101 Den Begriff der »Bildungseuphorie« verwendete etwa der Ministerpräsident Baden-Württembergs Hans Filbinger bereits 1974 mit negativer Konnotation: »Indessen griff gegen Ende der 60er Jahre in manchen Kreisen eine unkontrollierte Bildungseuphorie mit überspannten, gänzlich unrealistischen Zielsetzungen um sich.«, Filbinger, Vorwort zu: Bildungspolitik mit Ziel und Maß, S. 10. 102 Deutscher Ausschuss, Empfehlungen und Gutachten, S. 17f.
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dungspolitische Zäsur wahrgenommen; und auch in der bisherigen Forschung wird übereinstimmend eine abgrenzbare Periode der Bildungsreformen mit 1963 und 1975 als äußersten Kanten vorgenommen103. Die Folgen der Anstrengungen, die zuvor zur Reform des Bildungswesens vorgenommen worden waren, blieben geringfügig. Der unter den Ergebnissen des Deutschen Ausschusses herausragende Rahmenplan wollte schon 1959 das Schulsystem reformieren104, Durchlässigkeit sollte gefördert und die Differenzierung des Systems nach oben hin verbreitert werden. Angesichts dessen, was nur zehn Jahre später vom Bildungsrat veröffentlicht wurde, können diese Vorschläge nur als bescheiden gelten – und fanden doch zu dieser Zeit kaum positiven Widerhall in Politik und Öffentlichkeit105. Ähnlich erging es dem Bremer Plan der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände von 1960106. Das Hamburger Abkommen von 1961 führte hingegen zu Ergebnissen: eine Angleichung der Schulsysteme der Länder, etwa in der Festlegung des Schuljahres und der Schulformen sowie ihrer Bezeichnungen stellten aber nur minimale Harmonisierungen organisatorischer Natur dar. Bundeskanzler Erhards Ausspruch, »dass die Aufgaben für Bildung und Forschung für unsere Gesellschaft den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert«107, war 1963 noch ein zukunftsgerichteter Appell, der nur ein Jahr später als Gemeinplatz untergegangen wäre. Zu dieser Zeit gab es auch noch keine ausschweifenden Theoretisierungen, keine Forderungen nach Großforschungsprojekten oder riesigen Kommissionen. Auch das Bekanntwerden der empirische Grundlage der später von Picht formulierten »Bildungskatastrophe« änderten noch nichts daran. Bereits 1961 hatte die OECD dargestellt, »that West German schools lagged behind comparable countries in providing qualified manpower«108, die Fakten waren also längst bekannt. Gerade solche internationalen Erhebungen erhöhten aber langsam den Druck von außen auf das deutsche Bildungswesen. Sie wurden zunächst im kleinen Kreis, dann breiter diskutiert und machten das Thema Bildung überhaupt erst zum Politikum. All dies kulminierte in der Zeit um das Jahr 1964. Auch wenn Georg Pichts 103 Vgl. Furck, Schulen und Hochschulen, S. 250f; Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 23; Gut begründet auch bei Schmidtke, Bildungsgerechtigkeit und Bildungsreform, S. 47; Baader, Erziehung und Bildung: übersehene Dimensionen in der 68erRetrospektive, S. 9. 104 Eine zeitgenössische Würdigung bei Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education S. 22f. 105 Vgl. Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 18. 106 Vgl. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 15. 107 Ludwig Erhard in seiner Regierungserklärung, Oktober 1963, zitiert nach Furck, Schulen und Hochschulen, S. 250. 108 Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 18.
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Bildungskatastrophe nicht der Auslöser für eine Epoche der Bildungseuphorie war, so bleibt doch unbestritten, dass diese Artikelserie einen Wendepunkt darstellte, bevor sich der Bildungsdiskurs wie eine Flut über Deutschland ergoss. Ab diesem Zeitpunkt lag nicht mehr nur die Anpassung des Bekannten, sondern die grundlegende Umgestaltung des Bildungswesens im Bereich des Vorstellbaren: Die SPD brachte erstmalig die horizontale Organisation von Bildung ins Gespräch. Anlässlich ihrer 100. Sitzung verabschiedete die Kultusministerkonferenz im März 1964 in ihrer Berliner Erklärung, dass »die deutsche Kulturpolitik nach Abschluss des Wiederaufbaus nunmehr in einen Zeitabschnitt eingetreten ist, in welchem die zunehmende europäische Integration und die in allen Staaten gleichlaufenden Bedürfnisse der modernen Industriegesellschaft verstärkt neue Impulse der Weiterentwicklung der Schul- und Hochschulpolitik geben«, dass »neue Zielvorstellungen entwickelt werden müssen«109, und bekannte sich einheitlich zu dem Ziel, die Zahl der Abiturienten zu erhöhen110. Was noch 1963 als analytische Bedarfsfeststellung der Kultusministerkonferenz begonnen hatte, wurde 1964 als Bildungsplanung zum Programm111. In der Folge wurde im Juli 1965 der Bildungsrat eingerichtet. Dennoch meinte der Kodirektor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Saul B. Robinsohn noch im Jahre 1967, auf »two decades of nonreform in West German education« zurückzublicken. Eine »major dysfunctionality […] in the lag in training qualified personnel and in ›democratizing‹ education« habe sich auch durch einzelne Veränderungen im Schulwesen nicht aufgelöst112. Denn tatsächlich hatten ja – zu Beginn des Betrachtungszeitraums – nicht die greifbaren Reformen eingesetzt, sondern etwas anderes: Viel mehr als ein Bruch in der Realpolitik ist ein Bruch im politischen Diskurs zu verzeichnen; und das ist der eigentliche Grund für die Wahl der Periodisierung in dieser Arbeit. Hier wird eine Diskursanalyse vorgenommen, und der Betrachtungszeitraum beginnt deshalb mit dem Aufwallen der Debatten, mit der Bewegung und Differenzierung des Diskurses. Nicht nur Pichts Bildungskatastrophe machte Furore. Auch Hildegard Hamm-Brücher berichtete ab 1964 in der Wochenzeitung Die ZEIT von ihren Bildungsreisen, die sie zunächst ins Ausland diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs und dann durch die einzelnen 109 Erklärung aus Anlass der 100. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz am 5./6. März 1964 in Berlin. In: Schultze, Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 252. 110 Vgl. Gass-Bolm, Das Gymnasium1945–1980, S. 229. 111 Vgl. Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 22. 112 Robinsohn, TTwo Decades of Non-Reform in West German Education, S. 15. Die Zäsur ›Mitte der 70er‹ wird auch in zahlreichen anderen Arbeiten vorgenommen. Vgl. Ostkämper, Zum Zusammenspiel von antiautoritärer Erziehung und Bildungsreform im Spiegel der Zeitschrift betrifft: erziehung, S. 231.
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Länder der Bundesrepublik führten. Nach ihrer Deutschlandreise resümierte sie: »In einigen Bundesländern hat sich während der letzten achtzehn Monate mehr bewegt als in achtzehn Jahren zuvor. Überall herrscht Tauwetter ; gelegentlich beginnt die Feldbestellung. Wachstum und Reife sind vom kulturpolitischen Klima abhängig.«113 Picht selbst merkte dieses veränderte Klima nicht nur in der starken Nachfrage nach seinem Werk. Während er die erste Ausgabe seines Buches im Februar 1964114 noch mit einer Dokumentation versah, verzichtete er Ende 1965 bereits darauf: Der Versuch, sie auf den neuesten Stand zu bringen, »verbietet sich durch die unübersehbare Menge des in der Zwischenzeit bedruckten Papieres.«115 Die Geburt der Bildungspolitik Dabei hatte seit Bestehen der Bundesrepublik bis zu dieser Zeit Bildungspolitik eigentlich noch gar nicht selbständig existiert. Die Schulorganisation war zuvor an sich kaum politisch, sondern fiel in eine rechtlich-administrative Kategorie. Organisiert war sie maßgeblich als Schulaufsicht116, die fast keine gestaltende Funktion besaß. Die Ausführung des Unterrichts oblag maßgeblich Lehrer, Schule und Gemeinde. Sie füllten den rechtlich vorgegebenen organisatorischen Rahmen mit den kulturell bestimmten Inhalten. Die Politik agierte als den Rahmen bestimmende Instanz, stellte den Bildungskanon zusammen und fasste ihn in lose gefasste Lehrpläne und Schulbücher. Die Kultusministerkonferenz stellte kurz nach ihrer Gründung sogar selbst klar, dass nach ihrer Auffassung das Bildungswesen nicht politisch bestimmt wird, sondern sich von selbst ergibt: »Es bleibt unbeachtet, dass die Eigenart des Schulwesens jeweils von den wirtschaftlichen, sozialen, geographischen, kulturellen und siedlungsgemäßen Gegebenheiten eines Gebiets abhängt. Der Zusammenhang der Schule mit der weltanschaulichen und religiösen Haltung der Bevölkerung und ihre Verflechtung mit rechtlichen Gegebenheiten und finanzieller Lage wird nicht erkannt. Die Schule ist eine Funktion der geistigen, kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung, der sie dient.«117 Damit war klar, dass das Schulwesen kaum politisch disponierbar war, was übrigens auch für die Reformversuche der Besatzungsmächte in Westdeutschland galt. Bildung war lediglich ein Teil der Kulturpolitik und selbst wieder unterteilt in die einzelnen Schul- und Hochschulformen. Das sollte sich radikal ändern. 113 114 115 116 117
Hamm-Brücher, »Bilanz einer Bildungsreise«. In: DIE ZEIT 38/1965. Picht, Bildungskatastrophe (1964). Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 7. Heckel, Seipp, Schulrechtskunde, S. 92. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Zur Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens, S. 5.
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Bildungspolitik würde schon bald unabhängig von der Kulturpolitik und ihren Funktionen gemacht, ihre einzelnen Institutionen hingegen im Zusammenhang behandelt werden. Alleine der Begriff der Bildungspolitik war vor den sechziger Jahren kaum geläufig118. Diese Loslösung der Bildungspolitik von der Kulturpolitik vollzog sich durch eine Neubestimmung der Funktionen von Bildung. Eingebettet in den Kulturbereich hatte die Bildung bislang eine per se traditionsgerichtete Sozialfunktion innegehabt. Bildung war darauf angelegt gewesen, die nächste Generation in die kulturelle Praxis ihrer Gesellschaft einzuüben. Die Erkenntnis, dass diese Funktion des Bildungswesens nicht selbstverständlich ist, und die Erwägung weiterer oder anderer Funktionen von Bildung verlangten dann eine Trennung von Bildung und Kultur. Die Relevanz der Bildung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes band Bildung genauso an die Wirtschaftspolitik, wie ihre Funktion als Ordnungsmechanismus sozialer Differenzierung sie an die Sozialpolitik heftete; und ihre Relevanz für die Errichtung oder den Schutz der Demokratie machte sie zu einem Querschnittsthema, das die Politik als solche betraf. Eine einfache Zuordnung zur Kultur war so nicht mehr denkbar. Gleichzeitig stellte die Disposition seiner Funktionen die Struktur des Bildungswesens in Frage. Je nachdem, wie welche Ziele im Bildungswesen priorisiert würden, müsste es anders organisiert sein. Das Bildungswesen wurde nicht mehr in seinen Teilen einzeln behandelt, also insbesondere als Volksbildung und höhere Bildung, sondern als gesamtes System, in dem sich alle Teile aufeinander bezogen119. Analog zur Neubestimmung der Funktionen von Bildung und ihrer Politisierung änderte sich auch die Herangehensweise. Die politische Entscheidung gründete sich zuvor maßgeblich auf kulturellen Erwägungen, etwa über die Festlegung des Bildungskanons oder die Bedeutung der Volksschule als einen kulturellen Anker einer Gemeinde, über Religion, Tradition und Volkstum. Daneben traten schulorganisatorische Aspekte, also die inneren Mechanismen der Schulverwaltung. Ab den sechziger Jahren traten weitere Faktoren als relevante Entscheidungsgrundlagen hinzu, die insbesondere von der Wissenschaft bestimmt wurden: Ohne Bildungsforschung und Bildungsplanung konnte bald keine bildungspolitische Entscheidung mehr begründet werden120. Der Begriff der Planung war zwar bis in die sechziger Jahre hinein mit einem sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verbunden. Bald weitete sich seine Bedeutung aber so weit, dass jede Politik, die Analysen zu ihrer Grundlage und bestimmte Zielstellungen zu ihrer Perspektive machte, alle notwendigen Krite118 Vgl. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 13. 119 Vgl. ebd., S. 21ff. Alleine eine starke Unterscheidung von Schul- und Hochschulpolitik erinnert noch an diese Aufteilung. 120 Vgl. Schultze, Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 8.
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rien eines Plans erfüllte. Ein Verzicht auf Planung hieß also schlichtweg, sich nicht mit den beobachtbaren Entwicklungen auseinanderzusetzen. Während Planung in ihrer materiellen Form, also als zielgerichtete Veränderung der Gesellschaft, weiter abgelehnt werden konnte, konnte sie als Methode vorausschauender Politik gleichzeitig angewandt werden. Im Zuge dieser allgemeinen Auslegung der Bildungsplanung, die bald fast schon synonym zum Begriff der Bildungspolitik gebraucht wurde und so letztlich zu einem unterschiedlich ausgefüllten Grundbegriff des Gesamtdiskurses wurde, reüssierte dann auch die engere Lesart, die später dann eigens mit dem französischen Begriff der Planification abgegrenzt wurde. Eine mittlere Haltung zu dem Thema findet sich beispielsweise im Bildungsbericht ’70 der Bundesregierung: »Die Durchsetzung bildungspolitischer Reformen setzt eine wirkungsvolle Bildungsplanung voraus. Bis zur Mitte der sechziger Jahre überwog aber in der Bundesrepublik ein unverkennbar antiplanerischer Affekt; er ist auch heute noch nicht überall überwunden. Früher vertraute man überwiegend dem freien Spiel der Kräfte und misstraute allen Ansätzen, künftige Entwicklungen auf der Grundlage langfristiger Zielvorstellungen durchzusetzen.«121 Die beschriebene Herauslösung der Bildung aus dem breiten Feld der Kultuspolitik war vor allem auch eins: die Ausweitung eines staatlichen Gestaltungsanspruchs auf den Bereich der Bildung. Zur Gründung der Bundesrepublik war die Rolle des Staates auf eine reine Aufsichtsfunktion reduziert worden (»Aufsicht des Staates«122). Dies geschah in Abgrenzung zur zentralistischen und komplett politisierten Staatsbildung des Nationalsozialismus, aber auch zu einer etatistischen Bildungstradition, die bis ins preußische Landrecht zurückreicht, nach dem Schulen und Hochschulen »Veranstaltungen des Staats« waren123. Gerade wegen der Erfahrungen des Nationalsozialismus war es eines der »wichtigsten Merkmale und Errungenschaften der demokratischen Entwicklung nach 1945 im westlichen Teil Deutschlands, dass der Staat nur über eine rechtlich begrenzte und nach Erziehungs- und Bildungsbereichen abgestufte politische Gestaltungs- und Einwirkungsmöglichkeit verfügt und daneben die gesellschaftlichen Kräfte einen eigenen Spielraum für ihre pädagogischen Ziele und Aktivitäten besitzen.«124 Die bewusste Entpolitisierung und Verrechtlichung 121 Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 140. 122 Dass das Grundgesetz entgegen der detaillierten Regulierung des Schulwesens durch die Verfassung der Weimarer Republik das Bildungswesen nicht zur »Angelegenheit des Staates« macht, sondern nur unter dessen Aufsicht stellt, wird in der Literatur kaum beachtet. Die Landschulreform in Bayern, die das in Konkordaten verbriefte Recht der Kirchen auf die Konkordatsschulen durchbrechen musste, zeigt nur beispielsweise, dass die Rückeroberung des Bildungswesens ein politischer Kraftakt war und keineswegs Kontinuität, wie vielerorts behauptet. Vgl. Mitter, Continuity and change, S. 47. 123 Von Friedeburg, Bildungsreform, S. 36. 124 Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 12.
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brannte sich tief ins Bewusstsein der Akteure ein. Mit Ausnahme der politischen Bildung betrafen politische Entscheidungen maßgeblich organisatorische Fragen wie die Vergabe von Zensuren, die Schulpflicht, die Vereinheitlichung von Strukturen oder Nomenklaturen ohne Veränderungen an der Substanz. Die Hoheit über die öffentlichen Schulen lag hingegen weitgehend bei den Gemeinden und den Kirchen. Hildegard Hamm-Brücher kritisierte 1965 diese Nachkriegsentwicklung, in der Bildung unter der Trägerschaft der Gemeinden und der Kirchen eingeordnet wurde und die Länder die rechtlich-politische Hoheit hatten, dem Bund hingegen alle Macht über diesen Politikbereich genommen worden war, als »kulturpolitische Restauration«: »Zur gleichen Zeit, als in vielen Teilen der Bundesrepublik unter Missbrauch des Namens Gottes für Millionen und aber Millionen Mark einklassige Dorfschulen gebaut und Lehrer in ein pseudo-akademisches, meist konfessionelles Studium gezwängt wurden, zur gleichen Zeit, als bei uns die kulturpolitische Restauration fröhliche Urständ feierte, der Kulturföderalismus quasi heiliggesprochen und ein einheitlicher Schulaufbau weltanschaulich verketzert wurde, da gingen in Großbritannien, in Frankreich, in Belgien, in den skandinavischen Staaten, ja sogar in einigen Mittelmeerländern große bildungspolitische Mobilmachungspläne in die nationalen Parlamente und von dort in die Verwirklichung.«125 In den Sechzigern wandelte sich dann die Rolle des Staates zum Gestalter der Bildung. Betroffen davon waren die Kirchen, die zuvor von der in vielen Ländern noch vorhandenen Konfessionsgebundenheit der Volksschulen profitierten und nun in staatlichen Einrichtungen nur noch den Religionsunterricht führen durften, außerdem dörfliche Gemeinschaften, deren kulturelles Zentrum neben Pfarrei und Kirche das Schulhaus war, dessen sie nun häufig bar wurden. Diese Verstaatlichung der Bildung eröffnete dem Diskurs über Bildungspolitik den Raum. Da nun die Länder in der Lage waren, das Bildungswesen umfassend zu bestimmen, musste diskutiert werden, wie diese Möglichkeit zu nutzen wäre. Die »two decades of Non-Reform« waren also an sich zwei Jahrzehnte, in denen das Bildungswesen von den Voraussetzungen her erst politisch reformierbar gemacht wurde. Auch verlor die Ablehnung gesellschaftspolitischer Reformen unter der Parole »keine Experimente« erst Mitte der sechziger Jahre ihre Kraft126. Noch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre begleitete die Kritik an Etatismus und Dirigismus diesen allmählichen Wandel127, bevor die Bildungseuphorie losbrechen konnte. Während die Expansion der Schülerzahlen schon in den fünfziger Jahren 125 Hamm-Brücher, »Der Weg zur demokratischen Bildungsgesellschaft«. In: DIE ZEIT, 14/ 1965. 126 Vgl. Phillips, Lessons from Germany? The case of German secondary schools, S. 75. 127 Vgl. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 26.
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einsetzte (und es zwischen 1960 und 1965 sogar zu einem demographisch bedingten Rückgang der Abiturienten kam)128, wurden wirkliche Reformen erst während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf den Weg gebracht. So beginnt mit dem Betrachtungszeitraum also weder die Bildungsexpansion noch die Zeit der Bildungsreformen. Es beginnt – dazwischenliegend – die Zeit eines großen Bildungsdiskurses oder, wie Robinsohn meinte, der »Chances for Change«129. Der Beginn der sechziger Jahre markiert also die Geburt eigentlicher Bildungspolitik überhaupt. Dies wurde auch deutlich in der Art, in der dieses Thema nun politisch bearbeitet wurde. Zuvor gab es zwar die Schulpolitik, aber nur als Segment des Kultusbereichs, wie die staatlichen Theater oder die Bibliotheken und wiederum unterteilt in ihre Bereiche der Volksbildung, der allgemeinen Bildung, der Berufsbildung, der Universitäten etc. Die Bildungspolitik vermochte es nun schon begrifflich, diese Segmentierung wie auch die Abhängigkeit vom Kultusbereich zu überwinden. Andererseits geriet der Begriff der Bildung wegen seiner traditionellen Konnotationen nun in die Defensive. Die Bildung ist tot, es lebe die Bildung Als die Bildungspolitik sich von ihrer kulturpolitischen Funktion emanzipierte, wurde wiederum die Bestimmtheit des Bildungsbegriffes selbst fraglich. Das Wort der Bildung war schließlich noch selbst auf eine bestimmte Funktion hin ausgerichtet, die in einen kulturellen Kontext eingebettet und zudem noch auf ihr subjektives Erleben der Selbst-Bildung gerichtet war. Der Zusammenhang von Bildung mit der Potenzierung von Humankapital oder der Überwindung totalitärer Gesellschaftsmuster erschloss sich nicht und führte dazu, dass der Begriff selbst zeitweise angegriffen wurde130. Für die Betonung der Verwertbarkeit des angeeigneten Wissens und Könnens schien etwa der Begriff der Qualifikation geeigneter131, der vor allem in der Beschreibung der szientistischen Konzeption in dieser Arbeit wieder auftauchen wird. Klassische Unterscheidungen zwischen materieller und formaler Bildung, also Bildung als Wissen und Können oder Bildung als Äußerung im Verhalten132, verloren an Bedeutung. Was Bildung sei oder nicht, war so unklar wie die Suche nach alternativen Termini133. Der Begriff der Erziehung, der auf die gezielte Beein128 129 130 131
Vgl. Behrmann, Bildungsexpansion und demokratische Mission, S. 82f. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 28. Vgl. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 18ff. Vgl. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 18; die Ersetzung der Qualifikation durch den breiteren Begriff der Kompetenz fand erst im Nachgang an den Betrachtungszeitraum statt. 132 Vgl. Schulz, Unterricht – Analyse und Planung, S. 20. 133 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 93f fasst zeitgenössisch zusammen:
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flussung von Menschen hindeutet134, ist um einiges weiter angelegt als der der Bildung, da er alle sozialisierenden Instanzen wie Familie, Umwelt, Gesellschaft und Institutionen umfasst, gleichzeitig aber auch enger, da er die (Selbst-)Bildung an sich sogar ausschließt und wiederum lediglich auf das Verhalten rekurriert. Überlegungen zur Abkehr vom Terminus der Bildung kamen freilich eher in den reformorientierten Diskursformationen vor. Aber selbst im konservativen Bayern schien es zur Vorbereitung neuer Lehrpläne nötig, sich zunächst mittels eines ausführlichen Referats des Bildungsbegriffs und seiner Implikationen zu vergewissern135. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Paul Heimann meinte, auf dem Begriff der Bildung könne man keine »praktische Didaktik« aufbauen, da er ideologisch aufgeladen und daher nur in seiner eigentlichen Bedeutung zu verstehen sei; Bildung sei also abhängiger Teil von dem, was im Unterricht passiere, aber nicht die »zentrale Kategorie«136. Hartmut von Hentig mahnte, man solle vor lauter Unklarheit des Begriffs versuchen, ihn zu vermeiden, und verdeutlichte prägnant, weshalb er ihn unpassend finde: »Freizeit ist Muße, Muße ist schol8, schol8 ist Bildung.« Den »umfassenden und formalen Sinn des Wortes wiederherzustellen, ohne dass die geschärften formalen Unterscheidungen einzelner Funktionen darin untergehen«, befand er zumindest als »nicht so aussichtslos«137. Diesen Sinn verneinte demgegenüber Hermann Giesecke, der insbesondere den Gegensatz zwischen der Suche nach Einheitlichkeit im neuhumanistisch geprägten Bildungsbegriff und der von ihm selbst gewollten Darstellung von Konflikten und Widersprüchen thematisierte138. Wolfgang
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»Tiefe und Schlichtheit des sich hier herausklärenden Begriffes von Bildung werden beispielhaft deutlich, wenn wir bei Erich Weniger die Deutung antreffen, Bildung sei der Zustand, in dem man Verantwortung übernehmen und zugleich dort, wo man sich nicht sachverständig weiß, Vertrauen schenken kann, wenn Johann Dietz sie als die Fähigkeit, im Gespräch der Gesellschaft mündig mitzusprechen, bestimmt oder Hermann Heimpel sie als geistige Bewältigung von Wirklichkeiten – des Koreakrieges nicht weniger als der Bundesverfassung, einer Bach’schen Fuge nicht weniger als eines Radioapparates – zugleich aber als das Schweigen vor dem Unverstandenen auslegt oder wenn sie von Walter Dirks dahin interpretiert wird, dass sie ›in jeder produktiven Existenz, auch im Kleinbauern oder Kleinbürger, auch im kleinen Angestellten, auch im Arbeiter‹ möglich sei, dass sie sowohl persönliche Prägung des Einzelnen als auch Teilhabe am Bewusstsein und Gespräch der Gesellschaft bedeute und dass sie ›kooperationsfähig, handlungsfähig, widerstandsfähig und gegebenenfalls kampffähig‹ mache. Schließlich sei noch Eugen Fink zitiert: ›Bildung ist im ursprünglichen Sinne die geistige Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, das wissentliche und willentliche Selbst- und Weltverhältnis des menschlichen Daseins.‹« Vgl. Schulz, Unterricht – Analyse und Planung, S. 17. Guthmann, Referat über den Erziehungs- und Bildungsbegriff, erfasst in: BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 91f. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 146. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 83f.
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Klafki hielt dem ganz pragmatisch entgegen: »Solange kein Terminus gefunden ist, der den Bildungsbegriff ersetzen und wie er den Zusammenhang mit der Tradition des pädagogischen Denkens zu stiften vermag, sollten wir, so meine ich, an ihm festhalten.«139 Während also eifrig debattiert wurde, ob der Begriff der Bildung überhaupt zu verwenden sei, wurde er in Ermangelung an Alternativen nicht nur weiter gebraucht, sondern gleichzeitig zum Symbol. Niemand wusste mehr, welche Bedeutung Bildung habe – dass diese aber immens sein müsse, wusste jeder. Die Definition wurde so unscharf wie möglich gehalten (»Bildung meint – in der Perspektive der Didaktik – nichts mehr und nichts weniger als den Inbegriff dieses vielfältig gestuften und differenzierten, letztlich aber doch einheitlichen Gesamtauftrages, über den zu reflektieren uns nicht erspart werden kann.«140), ihr Auftrag dafür nahezu metaphysisch, wie hier bei Hellmut Becker : »Bildung entscheidet über den sozialen Aufstieg und über die Sozialchancen; Bildung entscheidet in einer verwissenschaftlichten Welt über die Kraft der Nation in der Auseinandersetzung zwischen den Völkern. Bildung entscheidet über die Möglichkeit der Überwindung von Konflikten durch internationale Kooperation, Bildung entscheidet vor allem über die Frage, ob die Kluft zwischen den Hungernden und den Wohlgenährten, die größte Kluft innerhalb der modernen Welt, überbrückt werden kann. Die Zeit scheint nicht mehr fern, in der die früher üblichen Vereinbarungen über Rüstungsziffern durch Vereinbarungen über Ausbildungskapazitäten ersetzt werden. Schon heute ist die Überwindung des Bildungsgefälles in der Welt die Aufgabe, von deren Gelingen die Schaffung einer Weltordnung abhängt. Bildung entscheidet aber nicht nur über den Platz des Einzelnen in der Gesellschaft, über das Verhältnis der Völker zueinander und über die Chance zur Überwindung explosiver Gefahren in der Völkergemeinschaft; sie entscheidet auch, ob der moderne Mensch diese Welt überhaupt ertragen lernt.«141
Somit verfestigte sich der Bildungsbegriff bald wieder in einer nunmehr sehr allgemeinen Ausdeutung und wird daher in dieser Arbeit ohne weitere Vorbehalte für all das gebraucht, was von der Bildungspolitik behandelt wurde.
Zwischen 1968 und 1973: Verdichtung und Ermattung des Diskurses – Zentrum und Ende des Betrachtungszeitraums Eine erste Zäsur nach Beginn des Betrachtungszeitraums kann während der Jahre 1968/69 vorgenommen werden. Nicht nur die gesellschaftlichen Umbrüche dieses Jahres, die das politische Klima insgesamt veränderten, sprechen dafür. 139 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 91f. 140 Ebd., S. 91f. 141 Becker, Quantität und Qualität, S. 389.
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Es war auch eine Zeit, in der sich der Diskurs zunächst verdichtete und dann begann, sich zu verlagern142. In diesem Zeitfenster gewann die Gesamtschule zumindest in ihrer weitesten Form kurzfristig parteiübergreifende Zustimmung143. Im Bereich der Hochschulen fasste die Kultusministerkonferenz das Konzept der Gruppenuniversität ins Auge144. Das Grundgesetz gestand ab Mai 1969 dem Bund Rahmengesetzgebung im Hochschulbereich und Mitwirkung bei der Bildungsplanung zu. Aber sobald diese gewisse Konvergenz wahrgenommen wurde, barst der Diskurs auch schon wieder auseinander. »Ende der sechziger Jahre fand dann eine Polarisierung der politischen Gruppen von links bis rechts statt. Diese Entfaltung des Pluralismus führte dann zwangsläufig zum Lernzielstreit. Insbesondere linke Gruppen versuchten, ihre Vorstellungen in der Schule verbindlich zu machen – ebenso wie dies christlich-konservative Gruppen nach dem Kriege getan haben.«145 Wilhelm Hahn machte zwischen 1964 und 1967 eine allmähliche bildungspolitische Entwicklung aus, die dann in eine »auch die kühnsten Bildungspläne als unzureichend bewertende Bildungshysterie«146 umschlug. Hildegard HammBrücher, die in dieser Zeit vom hessischen Kultusministerium ins neu geschaffene Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft wechselte, schaute bereits hier mit Ernüchterung auf die vergangenen Jahre zurück: »Das schulpolitische Interesse der Öffentlichkeit ist erloschen, noch ehe es wirklich entbrannt war. […] Einmal hat es dazu einen Ansatz gegeben, als auf der hundertsten Sitzung der westdeutschen Kultusminister im März 1964 Beschlüsse gefasst wurden, in denen von der Notwendigkeit eines horizontalen Schulaufbaus die Rede war, von neuen Zielvorstellungen, von Anpassung an die europäische Entwicklung. Daraus hätte eine Sternstunde der deutschen Bildungspolitik und des Kulturföderalismus werden können: wenn man aus den richtigen Erkenntnissen gemeinsam und Zug um Zug die notwendigen Konsequenzen gezogen hätte. Es wurde eine Sternschnuppenstunde, selbst bei denen vergessen, die sie initiiert hatten.«147 Es kehrte tatsächlich zu dieser Zeit zumindest die Tendenz ein, dass die bildungspolitischen Projekte – nicht zuletzt die von Hamm-Brücher angestoßenen in Hessen – sich stärker an den finanziellen und politischen Rahmenbedingungen als an den zugrundeliegenden Ideen zu orientieren begannen, was gewiss auch damit zusammenhing, dass nach der Unterbrechung des zuvor
142 143 144 145 146 147
Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 22. Vgl. ebd., S. 24. KMK, Grundsätze der Kultusministerkonferenz, S. 195f. Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 45. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 10. Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation«. In: DIE ZEIT 38/1968.
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für selbstverständlich gehaltenen Wirtschaftswachstums 1966/67 auch wieder die Frage der Finanzierbarkeit von Reformen diskursfähig wurde.148 Nichtsdestotrotz wäre dieser Zeitpunkt kein gutes Ende des Betrachtungszeitraums, denn während der Reformeifer wich, brannte die Diskussion um die Bildung erst richtig auf. Für eine Diskursanalyse bleiben also auch die Jahre bis mindestens 1973 relevant. Denn wie schon für den Beginn des Betrachtungszeitraums festgestellt wurde, dass mit dem Jahr 1963 nicht die Zeit der Bildungsreformen, sondern erst der Diskurs darum aufwallte, realisierten sich die Folgen der Zeit um 1968/69 auch erst in den folgenden Jahren. Neue externe Impulse mussten in die Diskurse integriert werden, angestoßene Vorhaben gingen in die Umsetzung, neue Debatten entbrannten. Die großen Erwartungen hatten die Bildungspolitik, die nun immer häufiger ihre Grenzen spürte, allerdings auch in Verlegenheit gebracht. Zu Beginn der siebziger Jahre ermüdete der Bildungsdiskurs. Die intensive Debatte konstruktiver Vorstellungen, wie Bildung auszusehen habe, der Streit der Meinungen und Ansichten, die Gegenseitigkeit von Euphorie und Skepsis wichen einer zähen Pflichtübung derer, die sich unbedingt äußern mussten. Die Bildungspolitik als Ganzes geriet in die Defensive gegenüber anderen politischen Themen, anderen gesellschaftlichen Zielen und ihren eigenen Ansprüchen. Bildungspolitische Schriften versuchten nun stärker, mit Kritik klarzukommen, als neue Ziele zu formulieren, und erweckten den Eindruck eines Stellungs- oder schon Rückzugsgefechts. Jürgen Girgensohn beklagte: »Leider wirft die Kritik oft die verschiedensten Dinge durcheinander«149 und zählte auf, was nicht alles in der Debatte durcheinandergeworfen wird. Hellmut Becker beschrieb in der ZEIT das Lamento aller betroffenen Gruppen und bilanzierte das Scheitern der Reformen150. So wurden auch die Töne in den Ministerien allmählich leiser ; und als mit dem Umschwenken der öffentlichen Aufmerksamkeit spätestens 1973 der Druck von außen wegbrach, begann innerhalb des Bildungswesens endgültig eine Phase der Konsolidierung. Das Aufbrechen neuer wirtschaftspolitischer Fragestellungen durch das Abflauen der Konjunktur ab 1970, die Stagflation und erst recht die Ölkrise 1973, aber auch das plötzliche Bewusstsein für »die Grenzen des Wachstums« durch die gleichnamige Veröffentlichung des Club of Romes lenkten den Fokus von der allmählich auch ausdiskutierten Bildungsdebatte ab151. Carl-Ludwig Furck redet von 1973 als
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Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 12. Girgensohn, Viel zu wissen ist zu wenig, S. 7. Becker, die Bildungsreform geht weiter. Vgl. Führ, deutsche Bildungsgeschichte, S. 20f.
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dem »Beginn einer Phase erneuter bildungspolitischer Stagnation und Konfrontation«152. Der Bildungsgesamtplan etwa, das 1970 fixierte große Ziel von Bund und Ländern, zu einer gemeinsamen Bildungsplanung zu kommen, endete elend. Anfang 1971 zeichnete sich ab, dass eine gemeinsame Lösung schwierig sein werde, 1973 wurde er als zerkochte Lösung in zwei Hälften, einem Mehrheitsund einem Minderheitenvotum von SPD- respektive CDU-regierten Ländern verabschiedet – ein Scheitern153. Das im Plan vorgesehene Finanzvolumen von 350 Mio. DM für Modellversuche wurde in den folgenden Jahren nicht annähernd ausgeschöpft154 – ein Zustand, der vor diesem Zeitraum nicht denkbar gewesen war. Dieser Entwicklung auf oberster Ebene entsprach das Empfinden am untersten Ende der Bildungsreformen, der Praxis, die sich gerade noch im Aufbruch gewähnt hatte und schon Resignation erfuhr : »Als der Schulversuch im Herbst 1972 begann, herrschte ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem die mit großen Erwartungen begonnene Reformarbeit auf allen Ebenen ins Stocken geraten war und die zweite politische Restauration der westdeutschen Nachkriegsgeschichte spürbar ihre Schatten vorauswarf«155, berichtet ein verantwortlicher Pädagoge resigniert vom Ende der Bildungseuphorie. Nicht zuletzt schlug der Bildungsrat im Jahr 1973 vor, den einzelnen Bildungseinrichtungen, jeder Schule, jeder Hochschule, größere Handlungsspielräume zu geben und somit die Verlagerung der Verantwortung von der subsidiären auf die übergeordnete Ebene weiterzudrehen und so wieder ins Gegenteil zu verkehren156. Damit stand sogar die einhellige Grundprämisse des betrachteten Diskurses, nämlich die politische Verfügungsgewalt über die Bildung, wieder zur Disposition. Dem Diskurs schwanden aber auch so die Plattformen in Presse und Öffentlichkeit; unterschiedliche Ansichten prallten so nicht mehr aufeinander, sondern begaben sich in eine stumme Koexistenz ohne einen Rest missionarischen Eifers, in die lediglich noch zuvor angelegte Diskurslinien mehr oder weniger weit hineinragten. 152 Furck, Entwicklungstendenzen, S. 252. Für ähnliche Periodisierungen vgl. Hepp, Bildungspolitik in Deutschland, S. 125: »Der öffentliche Bildungsdiskurs war seit Mitte der siebziger Jahre weitgehend zum Erliegen gekommen, zumal auch aus der Bildungslandschaft selbst so gut wie keine neuen Reformimpulse kamen.« Ebenso Ostkämper, Zum Zusammenspiel von antiautoritärer Erziehung und Bildungsreform im Spiegel der Zeitschrift betrifft: erziehung, S. 228: »Das Abflauen der Bildungsreformeuphorie Mitte der 70er-Jahre, welches sich in der Auflösung des Deutschen Bildungsrates, in dem Auslaufen von Modellprojekten sowie anhand des Absinkens des öffentlichen Interesses an Erziehungs- und Bildungsfragen zeigt, rechtfertigt eine Konzentration auf die späten 60er- und frühen 70erJahre.« 153 Vgl. Furck, Entwicklungstendenzen, S. 252. 154 Vgl. Weishaupt, Schulversuche – Modellversuche, S. 383. 155 Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 97. 156 Vgl. Reuter, Rechtliche Rahmenbedingungen, S. 48.
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Ein bundesrepublikanischer Diskurs – der räumliche Rahmen Nachdem so der Untersuchungszeitraum umrissen wurde, soll nun noch die räumliche Begrenzung auf die Bundesrepublik Deutschland begründet werden. Für diese kann ein eigener Diskurs abgegrenzt werden, der zwar zahlreiche Verbindungen ins Ausland aufweist, aber dennoch in sich geschlossen existierte. Das wird offenbar, wenn man bedenkt, dass die Objekte des Diskurses – die Bildungsinstitutionen und ihre Ausgestaltung – durch den Rechtsrahmen der Bundesrepublik gesetzt werden. So muss auch die DDR als Teil Deutschlands aus dieser Betrachtung herausfallen. Zwar ging dem dortigen Bildungssystem die gleiche Geschichte voraus wie dem westdeutschen; und auch im Verlauf können einige Parallelen nachgezeichnet werden. Die Berührungspunkte blieben aber denkbar gering zwischen einem sozialistischen Bildungssystem, das »einer ideologischen Homogenisierung der Gesellschaft«157 diente, einerseits und dem dezentral organisierten Bildungswesen eines demokratischen Rechtsstaats andererseits158. Manche Bildungsreformer in der BRD warfen zwar immer wieder neugierige Blicke über die Mauer, und manche waren von den Möglichkeiten angetan, die die zentrale Organisation des Schulwesens bot; aber die Grundannahmen über die Aufgaben des Bildungswesens waren doch zu unterschiedlich, um einen gemeinsamen Diskurs zu bilden. Da gab es schon mehr Nähe zu den politischen Partnern in Europa und den USA. Deren Versuche, das deutsche Bildungswesen in der Nachkriegszeit zu reformieren, waren nicht ohne Spuren geblieben; der Sputnik-Schock reichte über den Atlantik, und die folgende Wissenschaftsoffensive, manifest in der NASA, wurde bewundert; der Amerikaner Saul B. Robinsohn holte die Curriculumentwicklung nach Deutschland; Herbert Marcuse war in San Diego wie auch in Berlin Professor der Studentenbewegung, und die Frankfurter Schule hatte nach ihrem New Yorker Exil die Bande in die USA auch nicht gelöst. In der OECD entstand ein internationales Forum über Bildung, das den deutschen Diskurs per Vergleichszahlen und Gutachten stark beeinflusste. Kultusminister schickten Referenten auf internationale Konferenzen; und Begriffe wie Planification, Curriculum oder social demand tauchten im bundesrepublikanischen Diskurs auf. Dennoch blieb dieser in sich geschlossen. Nicht nur der Rechtsrahmen – um dessen Anpassung es ja auch ging –, sondern vor allem die Geschichte war dafür verantwortlich. Ein starkes Argument in jeder bildungspolitischen Debatte war der Hintergrund des Dritten Reichs und darüber hinaus die deutsche Bildungstradition des 19. Jahrhunderts, deren Verantwortung für 157 Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990, S. 13f. 158 Zum Vergleich der Bildungssysteme in beiden deutschen Staaten siehe Anweiler, Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990.
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die deutsche Katastrophe stark diskutiert wurde. So fand ein genuin (west-)deutscher Diskurs über Bildungspolitik statt, in den zwar internationale Debatten einbezogen wurden, dessen Objekt und Hintergrund aber national bestimmt blieben.
Die interessierte Teilöffentlichkeit – der personelle Rahmen Der Diskursrahmen wurde nun räumlich auf die Bundesrepublik und zeitlich auf die Zeit der Bildungseuphorie 1963 bis 1975 abgesteckt, der Gegenstand der Bildung im politischen Kontext wurde erörtert. Der Fokus wird allerdings für den ersten Hauptteil der Arbeit noch einmal verengt auf eine bestimmte Auswahl von Aussagen, die innerhalb einer interessierten Teilöffentlichkeit getätigt wurden. Zunächst wird dazu noch einmal darauf eingegangen, welche Aussagen inhaltlich im Gesamtdiskurs überhaupt möglich waren, dann wird exemplarisch auf die formellen Bedingungen zur Teilnahme am Diskurs einer »interessierten Teilöffentlichkeit« eingegangen. Im Anschluss an diese exklusiven Kriterien wird beschrieben, wie diese »interessierte Teilöffentlichkeit« organisiert war. Ein Nicht-Diskurs zur Bildungspolitik Ein Diskurs zeichnet sich letztendlich auch dadurch aus, dass er bestimmte Aussagen ausschließt. Der untersuchte Gesamtdiskurs ermöglichte all die einzelnen darin liegenden Diskursformationen, die für sich genommen aber wieder einen Teil der Aussagen des Gesamtdiskurses ausschließen konnten. Andere Aussagen waren hingegen aus dem Gesamtdiskurs ausgeschlossen. Dieser grenzt sich also selbst wiederum von einem ihn umfassenden, darüber liegenden Diskurs ab, auch im Hinblick auf sein Objekt. Dieses ist nicht schlichtweg die Bildung, sondern Bildung in politischem Kontext oder Bildungspolitik. Aus dem Diskurs ausgeschlossen waren hingegen Aussagen zur Bildung, die diese per se außerhalb eines politischen Kontextes zu thematisieren versuchten. Am deutlichsten wird dies überall, wo ein Rückzug des Staates aus der Bildung gefordert wurde. Solche Aussagen konnten weder positiv noch negativ in den Diskurs integriert werden, sie wurden letztlich ignoriert. Dabei sind beispielsweise die Gedanken, mit denen sich die »Gesellschaft zur Förderung eines freien öffentlichen Schulwesens« an die Kultusministerien wandte, durchaus elaboriert. Sie argumentierte, genauso wenig wie über die Presse dürfe der Staat über das Schulwesen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen und habe sich im engsten Sinne auf eine Aufsichtsfunktion zu begrenzen159. Bildungspolitik als 159 Vgl. BHStA MK 53214, Vogel, Heinz-Hartmut (Gesellschaft zur Förderung eines freien
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solche wurde damit abgelehnt, die Adressaten aber unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung Teil ebendieser. Solche Forderungen erfuhren keine Würdigung. Ein weiteres Beispiel für den Ausschluss aus dem hier behandelten Diskurs ist der pädagogische Ansatz von A.S. Neill, der seit den zwanziger Jahren in der englischen Schule Summerhill als antiautoritäre Erziehung praktiziert wurde. Von ihm kann nicht gesagt werden, dass er nicht bekannt war : Sein Buch »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung« verkaufte sich innerhalb etwa eines Jahres ab 1969 über 350.000-mal160. Weshalb war er also nicht Teil des behandelten Diskurses? In der interessierten Teilöffentlichkeit wurde Summerhill nicht rezipiert, noch weniger unter den Wissenschaftlern als unter Politikern. Seine Ablehnung eines Bildungswesens, in dem Kinder überhaupt geleitet werden, seine Idee einer Schule, in der nur Freiwilligkeit herrscht, in der weder die Anpassung des Kindes noch die der Gesellschaft an ein gewünschtes Ideal betrieben würden, schied wiederum als maßgebliche Voraussetzung aus, Teil dieses Diskurses zu werden: Sowohl verallgemeinerbare wissenschaftliche Anleitungen als auch die politisch-administrative Organisation von Bildung waren in diesem Konzept nicht vorgesehen161. Neill verwahrte sich gegen jegliche Mission, wollte nicht einmal Ratschläge erteilen und mochte sich offensichtlich überhaupt nicht um eine breitere Implementierung seines Konzeptes kümmern. Er war sogar der Auffassung, dass eine Schule nach Vorbild von Summerhill nicht eingeführt werden könne, wenn nicht alle Eltern einverstanden seien. Ein dermaßen voluntaristischer Ansatz widersprach einem staatlich organisierten Bildungswesen, da er gar nicht politisch wirksam werden konnte162. Solche Gedanken wurden nicht rezipiert, sie fallen also nach den oben genannten »Prozeduren der Klassifikation, Anordnung und Verteilung« aus dem Diskurs heraus, obwohl sie sich auf das weitere Objekt der Bildung beziehen und sind deshalb nicht Grundlage der Analyse. Zu diesem Nicht-Diskurs gehören allerdings keine Aussagen, die abgelehnt, aber dennoch aufgegriffen wurden, denn sie blieben mögliche Aussagen, solange sie nicht eklatant gegen Voraussetzungen des Diskurses wie die eben erwähnten verstießen. Die neuhumanistische Diskursformation existierte beispielsweise nur noch sehr isoliert und könnte als überkommen gewertet werden. Allerdings wurde sie immer wieder öffentlichen Schulwesens) an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Juni 1961. 160 Vgl. Klaus Dieter Thomann-Leonhardt, Summerhill – antiautoritäre Erziehung: Interview mit A.S. Neill, S. 44. 161 Lediglich zur individualrechtlich-emanzipativen Konzeption kann eine gewisse Nähe gefunden werden, die Überbetonung der Freiheit des einzelnen Kindes, dessen Entfaltung und die Offenheit sind Parallelen. Der Emanzipationsgedanke aus demokratischer Räson hingegen kommt bei Neill wiederum nicht vor. 162 Vgl. Klaus Dieter Thomann-Leonhardt, Summerhill – antiautoritäre Erziehung: Interview mit A.S. Neill, S. 44–48.
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als Gegenposition zur Kontrastierung herangezogen. Damit war sie Teil des Diskurses und muss hier als eigene Diskursformation behandelt werden.
Die interessierte Teilöffentlichkeit – eine Diskursgesellschaft? Im Bildungsdiskurs während der sechziger und siebziger Jahre gab es keine Diskursgesellschaften, die entlang bestimmter Grenzen wie der Zugehörigkeit zu einer Fachwissenschaft, einem Berufsstand o.Ä. leicht abgrenzbar wären. Was es aber gab, war eine interessierte Teilöffentlichkeit, die maßgeblich die Debatte bestimmte und so in gewisser Weise als Diskursgesellschaft betrachtet werden kann. Damit eine Aussage innerhalb dieser interessierten Teilöffentlichkeit aufgenommen werden konnte, musste sie die eben erörterten notwendigen Bedingungen erfüllen. Allerdings war das noch nicht hinreichend. Eine Aussage musste eben auch formal so getroffen werden, dass sie überhaupt wahrgenommen und in den relevanten Diskurs eingetragen werden konnte, wozu es notwendig war, dass der Sprecher in seiner Funktion Teil dieser interessierten Teilöffentlichkeit war. Exemplarisch kann hierzu die Studentenbewegung genannt werden, worauf in Kapitel 2.2 noch einmal ausführlicher eingegangen wird. Ihre Vertreter waren in ihren Möglichkeiten beschnitten, am Bildungsdiskurs effektiv teilzunehmen, weil ihnen die institutionelle Anbindung fehlte. Sie wurden nicht zu den entsprechenden Konferenzen geladen, sie konnten nicht in den relevanten Medien publizieren, ihnen fehlten politische oder akademische Meriten, die ihnen die entsprechende Sachautorität zugewiesen hätten. Streiks, Teach-ins und Kommunen konnten in dem Diskurs nur als Objekt betrachtet, nicht aber integriert werden. Nicht ohne Grund trat die Neue Linke später den ›Marsch durch die Institutionen‹ an, denn zuvor fand sie ohne institutionelle Anbindung in den Ordnungsmechanismen dieser interessierten Teilöffentlichkeit und wahrscheinlich auch in anderen wichtigen Teilen des politischen Diskurses keinen Platz. Ähnliches galt für erzkonservative Kräfte, die sich einer Veränderung des Schulwesens per se verschlossen. Sie konnten gegebenenfalls machtpolitisch hervorgebrachte Beschwichtigungen provozieren, aber sie hatten kein Forum innerhalb des Diskurses. Umgekehrt waren Mitglieder der interessierten Teilöffentlichkeit diejenigen, die die nötige institutionelle Anbindung hatten oder über ausreichend öffentliche Anerkennung verfügten, um anderweitig innerhalb dieser Diskursgesellschaft wahrgenommen und rezipiert zu werden. In der ersten Gruppe finden sich beispielsweise Politiker und Bildungswissenschaftler, in der zweiten, weitaus kleineren Gruppe andere gesellschaftliche Eliten. Die Mitglieder der interessierten Teilöffentlichkeit, deren Aussagen in dieser Arbeit speziell betrachtet werden sollen, sind nach ihrer Kompetenz und Autorität sowie ihrer
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allgemeinen Rezeption163 innerhalb wiederum ebendieser interessierten Teilöffentlichkeit festgelegt. Dass die Beschränkung auf diese Gruppe, der weniger als einhundert Akteure wie Wissenschaftler, Publizisten, Politiker, aber auch Verbände angehören, ausreicht, ergibt sich letztendlich wiederum aus der Annahme von Foucaults Hypothese der Ordnung des Diskurses, wie bereits erörtert wurde: Die dort erwähnten Prozeduren der Klassifikation, Anordnung und Verteilung eines Diskurses legen als einen Maßstab für die Relevanz einer Aussage an, ob und wie häufig beziehungsweise wie öffentlich und von wem sie rezipiert (Foucault: kommentiert) wurde. In begrenztem Rahmen konnten so auch Aussagen in den relevanten Diskurs integriert werden, die im Original schon viel älter waren. Neben neu aufgelegter Literatur aus der Vorkriegszeit, etwa aus dem Bereich der Psychoanalyse164, wurden auch die Inhalte des flauen Bildungsdiskurses vor Beginn des Betrachtungszeitraums zuweilen noch rezipiert, was insbesondere für die neuhumanistische Diskursformation gilt. Die interessierte Teilöffentlichkeit gliederte sich intern zu einem guten Teil noch einmal nach den später beschriebenen Diskursformationen, was deren Ausprägung beförderte. Die Flut an Publikationen, neuer Forschung aus Pädagogik, Soziologie, Psychologie und die Zahl der Kongresse führten zu notwendiger Selektion und somit auch zu einer Fokussierung. Wer Adorno las, las auch Habermas, las Giesecke und debattierte im Zweifel mit Leuten, die dasselbe oder Ähnliches gelesen hatten. Deutlich wird das, wo künstlich die Homogenität der Diskursformationen durchstoßen wurde, wie im politisch-repräsentativ konstituierten Bildungsrat: Wilhelm Arnold veröffentlichte ein Sondervotum, in dem er vor allem die wissenschaftliche Selektivität des Gremiums anprangerte. Man habe sich, so Arnold, exklusiv der sozialpsychologischen Sichtweise bedient, die die Sozialisation und nicht individuelle Veranlagung als relevanten Grund für unterschiedliche Begabung veranschlage. Arnold führte dann im Einzelnen die Literatur auf, die diese Position widerlegen und die unzureichende Beschäftigung des Bildungsrates mit den von ihm beachteten wissenschaftlichen Werken belegen sollte.165 Andere Gremien homogenisierten sich allmählich und leise, indem diejenigen, die sich dort nicht aufgehoben fühlten, einfach wortlos wegblieben, was im Kapitel zu Hessen noch einmal exemplarisch dargestellt wird. Ralf Dahrendorf wiederum meinte, dass es eine vor allem im Deutschen Ausschuss einflussreiche Gruppe mit »reformerisch-konservativem Hinter163 Zu den Ordnungsprozeduren des Diskurses s. o. S. 64. 164 Baader, »Seid realistisch, Verlangt das Unmögliche«, Vorwort, S. 7: »Wiederentdeckt und neu aufgelegt wurde pädagogische Literatur aus der Vorkriegszeit, so dass an unterbrochene Traditionen angeknüpft werden konnte. Aus der Sicht der Bildungsgeschichte nach 1945 ist die Neuauflage pädagogischer Texte aus der Zeit vor dem NS ein wichtiger Beitrag der späten 60er- und 70er-Jahre.« 165 Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 27.
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grund« gegeben habe, »deren Bedeutung für die Bundesrepublik […] eine Studie wert wäre« und die vor allem den baden-württembergischen Kultusminister Wilhelm Hahn beriet. Zu dieser »protestantischen Mafia« zählte er neben Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker auch Marion Gräfin Dönhoff, Hellmut Becker und Georg Picht166. Loser organisierte Foren zogen von vornherein weniger kontroverse Ansichten an. Der Leiter des Instituts für Wissenschafts- und Planungstheorie Herbert Stachowiak berichtete etwa von einem Sachverständigengespräch, zu dem er einerseits Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, andererseits die »zuständigen Stellen des politisch-administrativen Systems«167 eingeladen hatte. Die Praktiker hielten sich von dieser Veranstaltung aber fern. Noch weniger Durchmischung konnte auf Veranstaltungen erwartet werden, die a priori schon auf einen nach gleicher Auffassung selektierten Teilnehmerkreis zielten, wie solcher von Parteien, Verbänden oder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), deren Vorsitzender gar eine Konferenz mit den unverblümten Worten schloss: »Meine Damen und Herren, Sie haben sicher nicht erwartet, dass diese Konferenz zu irgendwelchen Erleuchtungen oder Erhellungen führt, die sie vorher nicht gehabt haben.«168 Dennoch gab es innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit übergreifende Verbindungen. Gerade die Auffassungen derjenigen, die nicht nur Meinungen äußern, sondern Tatsachen ändern konnten – also vor allem Politiker –, mussten wahrgenommen und behandelt werden. Innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit spielten erstaunlicherweise Verbände kaum eine Rolle. Sie traten erst in der konkreten Bildungspolitik in Erscheinung. Ihre Stellungnahmen finden sich in den Akten der Ministerien, sowohl als allgemeine Eingaben als auch mit Bezug auf konkrete Projekte. In den Dokumenten, die den Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit belegen, werden sie aber fast gar nicht wahrgenommen. Die GEW, an die zunächst zu denken wäre, setzte sich vornehmlich in Bezug auf die Situation ihrer Mitglieder ein. Sie äußerte sich sehr dezidiert zu »Leitungsfunktionen in Gesamtschulen und Gesamtschulsystemen«, zu Schulaufsicht und Schulverwaltung, zur Besoldung169 und Ähnlichem, meist direkt gegenüber der Exekutive. Eine Tagung der GEW beschäftigte sich eingehend mit dem Thema des Föderalismus, wobei auch hier technische und keine grundsätzlichen Fragen besprochen wurden. Ähnlich agierte der Bayerische Philologenverband, dem Kultusminister Ludwig Huber »quasi als Einstellungsgeschenk […] mitge166 167 168 169
Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 159. Stachowiak, Werte, Ziele und Methoden der Bildungsplanung, Vorwort. Frister (GEW), Gesellschaftlicher Konsensus und politische Entscheidungen, S. 45. Vgl. beispielsweise HHStAW 504/807, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Hessen, Referat B, Drucksache B 16/67: Leitungsfunktionen in Gesamtschulen und Gesamtschulsystemen.
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teilt hatte, dass ein großer Teil der Besoldungsvorstellungen des Verbandes verwirklicht würde«170. Dahinter trat die programmatische Skepsis an einer Ausweitung des Gymnasialwesens zurück171. Die Caritas lehnte »als Dachorganisation der Träger von 40 % aller Kindergärten in der BRD« eine vorgezogene Einschulung zulasten der Kindergartenzeit ab und forderte stattdessen den »Ausbau leistungsfähiger Kindergärten«172. Die Gemeinsame Synode der katholischen Kirche befasste sich ab 1972 mit dem Thema Bildung, das ihr vom öffentlichen Diskurs quasi aufgezwängt wurde173, konnte sich mit der Beschlussfassung 1975 aber nur noch in die Resümees einreihen; um Impulse zu setzen, war es nun zu spät. Auch standen hier »ausgewählte Einzelprobleme« im Vordergrund, die die Kirche tangierten. »Zu Fragen, zu denen Fachleute aus sachlichen Gründen sehr unterschiedliche, vielleicht sogar entgegengesetzte Lösungen vorschlagen können, nimmt [der Text] nicht Stellung.«174 So geht als maßgebliche daraus hervor, dass die Kirche sich des verfassungsrechtlich verankerten Rechts auf den Betrieb von Schulen in freier Trägerschaft versichern möchte, um »monopolistischen und uniformierenden Tendenzen im Bildungswesen entgegenzutreten. Auch durch Planung und Organisation dürfen die freien Bildungseinrichtungen nicht um ihre Selbständigkeit gebracht werden.«175 Insgesamt ist zu vermuten, dass die Kirchen von der schnellen Entwicklung schlichtweg überrollt wurden. Sie waren noch lange beschäftigt mit den Landschulreformen der fünfziger und frühen sechziger Jahre, die die nach Konfession geteilten Kleinstschulen zusammenlegten176. Die langsamen Prozesse zur Entscheidungsfindung dürften auch andere, zumal demokratisch organisierte Verbände zurückgehalten haben. Die Entwicklungen waren zu schnell und zu grundsätzlich, sie konnten letztlich nur noch begleitet werden. Nur zu Beginn des Betrachtungszeitraums war das noch anders, als etwa die GEW Hessen sich in ihrer Darmstädter Erklärung für die Einführung der Gesamtschule aussprach und damit zumindest die Unterstützung der Lehrer für eine reformorientierte Schulpolitik sicherte177.
170 Lehning II, S. 813. 171 Vgl. Lehning II, S. 814. 172 Resolution der Vertreterversammlung des Deutschen Caritasverbandes am 15. Oktober 1970, S. 251. 173 Vgl. Dikow, Joachim, Einleitung zu: Schwerpunkte kirchlicher Verantwortung im Bildungsbereich, S. 512. 174 Schwerpunkte kirchlicher Verantwortung im Bildungsbereich, S. 519. 175 Ebd., S. 522. 176 Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 26. 177 Vgl. Schreiber, Schulreform, S. 80.
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Parlamente, Publikationen, Partizipation – Kommunikationskanäle der interessierten Teilöffentlichkeit Die Teilöffentlichkeit kommunizierte auf verschiedenen Wegen: auf Konferenzen, über die Presse, über eigene Publikationen und natürlich über die institutionalisierten Kanäle im politischen Raum. Viele der relevanten Akteure trafen regelmäßig in politischen Gremien aufeinander. Im Beirat für Bildungsplanung des baden-württembergischen Kultusministers Hahn berieten unter anderem Ralf Dahrendorf und Georg Picht, zum Auftakt der hessischen Curriculumreform kamen bei Hildegard Hamm-Brücher Saul B. Robinsohn, Hartmut von Hentig und Wolfgang Klafki zusammen. Die Mitglieder des Deutschen Bildungsrates müssen gar nicht erst einzeln erwähnt werden. Eine bezeichnende Besonderheit für den Diskurs ist die Redundanz, mit der kommuniziert wurde. Ein Vortrag blieb nicht ein Vortrag, sondern konnte gut und gerne noch in einem Sammelband, als Versatzstück in einer Monographie und als Zeitungsartikel erscheinen. Sowohl Pichts Bildungskatastrophe als auch Dahrendorfs Bürgerrecht auf Bildung als auch Hamm-Brüchers Bildungsreisen erschienen zunächst als Artikelserie, dann als Buch178 ; und Hans Maier verwertete dieselben Versatzstücke in Gastbeiträgen, Reden, Parteiarbeit und Monographien. Darüber hinaus ist die schiere Masse an Veröffentlichungen zu nennen, die zu dieser Zeit zum Thema veröffentlicht wurden. Waltraud Schreiber beschrieb für die Curriculumreform in Hessen zu Recht eine »Flut an zeitgleichen Publikationen«179, die durch die Menge der am dortigen, partizipativ organisierten, Reformprozess Beteiligten zustande kam. Solche Publikationen wurden – anders als die Konferenzen, Tagungen und Gremien – nicht nur im Diskurs der engeren interessierten Teilöffentlichkeit bekannt, sondern erfassten auch diejenigen, die selbst Teil des Bildungssystems waren, also insbesondere Lehrer, Referendare und die Verwaltungsebene. Noch weitere Kreise zog die Presseberichterstattung. Ein Appell von HeinzTheodor Jüchter vom Deutschen Hochschulverband verdeutlicht, dass das plötzliche Interesse der breiten Masse an Themen der Bildungspolitik zwar als Chance gesehen werden konnte, aus Fachkreisen heraus aber auch kritisch beäugt wurde: »Was hilft uns eine solche Tagung wie diese wirklich? Wenn es nicht die Journalisten gäbe, die das hier Gesprochene weitertragen, doch sehr wenig. Uns war der intensive Besuch des Fernsehens heute Morgen lästig. Sollten wir aber nicht dankbar sein? Weshalb wird Herrn Professor Edding vorgeworfen, dass er im ›Stern‹ publiziere? Müssen wir nicht auch der ›Bild-Zeitung‹ außerordentlich dankbar sein, dass sie sich zur Zeit so stark um die Publizierung der Bildungs178 Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 139. 179 Schreiber, Schulreform, S. 27.
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notwendigkeiten kümmert, in entschiedener Verantwortung für Millionen Leser?«180 Die Dimension einer öffentlichen Beschäftigung mit diesen Themen, die nicht nur an der Oberfläche kratzte, verdeutlicht der Erfolg des Funkkollegs Erziehungswissenschaften, in dem die aktuelle Bildungsdebatte intensiv verarbeitet wurde181.
1.5. Die Gliederung – ein kurzer Abriss Aus der dargelegten Einordung des Untersuchungsgegenstands, seiner bisherigen wissenschaftlichen Behandlung sowie den dargelegten diskurstheoretischen Überlegungen ergibt sich ein Erkenntnisinteresse, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Wie war der Bildungsdiskurs der sechziger und frühen siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland strukturiert: welche Diskursformationen prägten sich in der politischen Debatte aus, wie standen sie zueinander und wie setzten sie sich im politischen Handeln durch? Diese Fragestellung soll zweigeteilt behandelt werden. In einem ersten Teil wird der reine Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit betrachtet. In einem zweiten Teil wird an zwei Beispielen dessen Niederschlag in der realen Bildungspolitik betrachtet.
Teil 1: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen Ergebnis des ersten Teils der Arbeit ist die Strukturierung des Diskurses nach einzelnen Diskursformationen. Diese Einteilung der einzelnen Aussagen in sechs verschiedene Gruppen orientiert sich einzig an der Verwandtschaft ihrer Inhalte. Es wird explizit darauf verzichtet, diese Inhalte a priori präjudizierten Formationen zuzurechnen. Eine Beschreibung der bildungspolitischen Konzeptionen der Konservativen oder der Linken, der Politik oder der Wissenschaft, dieser oder jener Person würde zu kurz greifen, müsste sich stark selbst limitieren und würde ungenau – dabei sind natürlich starke Korrelationen vorhanden. Stattdessen werden die einzelnen Aussagen selbst betrachtet. Sie werden auf die Werte und Interessen, die ihnen zugrunde liegen, zurückgeführt. Die Prä180 Jüchter, Bildungsplanung, freie Gesellschaft und Verbände, S. 121f. 181 Behrmann, Die Erziehung kritischer Erzieher als neues Staatsziel, S. 457ff.
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missen, von denen sich dann Aussagen sowie die sich aus ihnen konstituierenden Konzeptionen ableiten, werden so offenbar. Wo beispielsweise eine Aussage die Notwendigkeit eines bestimmten Bildungsstands für zukünftiges Wirtschaftswachstum betont, liegt der Gedanke zugrunde, das Bildungswesen als ökonomische Funktion zu sehen. Solche Kategorisierungen bilden dann die Grundlage der Strukturierung des Bildungsdiskurses. Dadurch lassen sich sowohl die grundlegenden Überlegungen zur Funktion von Bildung, die ihnen unterliegenden Werte und Menschenbilder als auch die daraus gezogenen Schlüsse für die Ausgestaltung des Bildungssystems zusammenfassen. Angesichts der zuvor im Rahmen der interessierten Teilöffentlichkeit angesprochenen Menge an potentiellen Quellen für diesen Teil musste eine klare Auswahl getroffen werden, die sich allerdings an der diskurstheoretischen Methodik der Untersuchung orientiert. Unter Beachtung der These Foucaults, »dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird«182, lässt sich aus dieser Gesamtheit aller Aussagen zum Objekt ›Bildung‹ eine relevante Auswahl zur Untersuchung treffen. Den »Prozeduren der Klassifikation, Anordnung und Verteilung« entsprechend selektiert der Kommentar den Diskurs, also die Wiederholung und wiederholte Rezeption bestimmter Aussagen. Was nicht rezipiert wird, ist nicht relevant, sind Dinge, »die im Auf und Ab des Alltags geäußert werden und mit dem Akt ihres Ausgesprochenwerdens vergehen«183. Die Auswahl der Quellen für den ersten Teil der Arbeit wurde entsprechend diesem methodischen Ansatz durch ein ›Schneeballsystem‹ vorgenommen. Da 182 Foucault, Ordnung des Diskurses, S. 10f. 183 Ebd., S. 18. Dieser Selektionsmechanismus überlagert in diesem Fall weitgehend die anderen von Foucault genannten Ordnungsprozeduren; etwa das Prinzip des Autors, dessen spezifische Situation ihm eine Rolle, Autorität zuschreibt, weshalb einschlägige Institutionen und Politiker in jedem Fall berücksichtigt werden. Die Frage der Disziplinen spielt beim behandelten Bildungsdiskurs hingegen eine untergeordnete Rolle, anders als in der Medizin oder im Recht ist hier schwerlich eine Disziplin relevanter Regeln und Methoden erkennbar, um einen Beitrag leisten zu können, in jedem Fall würde auch das durch das enge Selektionskriterium der Rezeption einer Aussage abgedeckt, wie auch die Mechanismen der Verknappung. Dass fixe Diskursgesellschaften und Doktrinen oder ein Erziehungssystem, das »politische Methode, die Aneignung der Diskurse mitsamt ihrem Wissen und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verändern« wäre, in diesem Zeitraum ja gerade keinen homogenen Diskurs produzieren konnten, mag ein Grund dafür sein, dass er so konfliktreich war. Die Debatte trat aus dem geschlossenen politischen Raum in eine breite Öffentlichkeit. Doktrinen, wie sie noch kurz zuvor in der Frage konfessionell getrennter Schulen oder dem unterschiedlichen Bildungsanspruch von Mann und Frau vorhanden waren, erodierten schlagartig. Der plötzliche Aufwuchs des Bildungssystems selbst, auch die kurze Frist der Umwälzungen, ließen mittelfristig keine wie von Foucault beschriebene – und sich zwangsläufig über längere Zeiträume erstreckende – staatlich-erzieherische Einflussnahme auf die kurzfristigen unvorhersehbaren Entwicklungen innerhalb ebendieses Erziehungssystems zu.
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die Rezeption einer Aussage innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit als relevantes Merkmal für die Bedeutung im Diskurs ausgemacht wurde, eignet sich diese Methode besser als die Auswahl bestimmter Korpora nach anderen Kriterien, wie zum Beispiel bestimmte Zeitungen, Verlage oder Archive heranzuziehen. Merkmal der interessierten Teilöffentlichkeit ist, dass sie nicht geschlossen war, die Quellen also per se öffentlich zugänglich sein mussten. So wurden zur Bestimmung des Quellenstocks zunächst die maßgeblichen Referenzen in der bestehenden Sekundärliteratur aufgegriffen. In diesen Texten wurden dann wiederum die Bezüge zu anderen Texten gesucht, welche dann untersucht wurden. Dabei wurden auch solche Texte, die nur selten oder am Rande erwähnt wurden, ausgelassen, während Texte, die häufiger erwähnt oder genauer besprochen wurden, unbedingt Eingang in die Analyse fanden. Dieser erste Teil stellt für sich schon eine wichtige Forschungsleistung dar, indem er der künftigen Geschichtsschreibung zur Bildungspolitik dieser Zeit im Besonderen und zur Ideen- und Politikgeschichte im Allgemeinen die Möglichkeit gibt, die starken Konflikte zu diesem Thema sinnvoll einzuordnen und in der Gesamtanalyse zu berücksichtigen. Sechs Diskursformationen – ein Überblick Der Diskurs wird in sechs Diskursformationen gegliedert, die sich alle auf das Objekt der ›Bildung‹ und deren politische und soziale Organisation bezogen. Diese sechs Diskursformationen lassen sich in zwei progressive, zwei funktionalistische und zwei konservative Diskursformationen aufteilen. Wer den Blick auf die Entwicklungen der Zeit richtet, wird unweigerlich zunächst einen Diskurs feststellen, der auf eine umfassende Änderung des Bildungswesens drängt. In seiner Neuheit und seiner Mächtigkeit stellt er sich leicht als eine große Bewegung dar, die Freiheit und Chancengleichheit wollte, die das Bildungswesen demokratisieren und die Jugend emanzipieren wollte, eine Bewegung, die sich von der Frankfurter Schule und den 68ern über Ralf Dahrendorf und die sozial-liberale Bundesregierung bis hin zu den CDU-Ministern Hahn und Mikat erstreckt. Diese ›Bewegung‹ ist aber nicht lediglich zu differenzieren, sondern sie ist nicht als einheitliche Bewegung darstellbar, da eine deutliche Linie sie durchtrennt und die Abgrenzungen klar vollzogen wurden184 : 184 Meike S. Baader stellt diese Trennlinie auch beispielsweise innerhalb der Kinderladenbewegung fest: »Die Rekonstruktion einer dominanten Konfliktlinie zwischen sozialistischer und liberaler Ausrichtung sowie um den Status der Kinder- und Frauenfrage trägt auch zur Erforschung des Phänomens 1968 bei, welches in Deutschland ohne die pädagogische Dimension nicht hinreichend beschrieben ist.« Baader, Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen, S. 35.
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1) Auf der einen Seite standen diejenigen, die es dem Einzelnen ermöglichen wollten, sich aus seinen sozialen Zwängen zu befreien, sein Potential zu entfalten und damit emanzipiert autonome Entscheidungen zu treffen. Der Blick auf die Gesellschaft lag lediglich in der Hoffnung oder dem Glauben, dass die Emanzipation des Einzelnen in der Summe zu einer besseren Gesellschaft, zu einer demokratischeren Gesellschaft führen werde. Diese Diskursformation wird als individualrechtlich-emanzipative Konzeption behandelt. Der Begriff spiegelt dabei neben dem Blick auf das den Einzelnen auch wieder, dass die emanzipative Wirkung von Bildung hier als Anspruch, also als Recht des Individuums gefasst ist und keinesfalls als Zwang. 2) Auf der anderen Seite standen diejenigen, die die Gesellschaft direkt betrachteten und sie an einem gesellschaftlichen Ideal maßen. Sie mochten emanzipieren, befreien, aber nicht ohne Richtung, nicht ohne Utopie. Der Staat sollte sich die Gesellschaft ziehen, die seine Konstitution verlangte: eine demokratische. Das Individuum und seine Freiheit sind auch hier von hoher Relevanz, allerdings wird die Herstellung der demokratischen Gesellschaft sowohl in der Teleologik als auch in der Priorisierung vor die Freiheit des Individuums gestellt. Diese Diskursformation wird als gesellschaftlichemanzipative Konzeption behandelt. Dieser Ideologisierung enthoben sich – zumindest vordergründig – wiederum zwei Diskursformationen, die sich nicht oder nur am Rande auf Werte wie Freiheit, Emanzipation, Gerechtigkeit oder Demokratie beriefen. Es war der Glaube an die Wissenschaft und deren Mächte, der zwei Diskursformationen hervorbrachte, die auf der Vorstellung beruhten, dass es etwas aus einer wissenschaftlichen Notwendigkeit entspringend Richtiges zu tun gebe. 3) Im einen Fall handelte es sich um die Planungseuphorie der Zeit, die sich auch auf die Bildungspolitik erstreckte. Mittels Empirie werde feststellbar sein, welches Bildungswesen nötig oder optimal sei – für die Gegenwart und mehr noch für die (auch sehr weite) Zukunft, unter Berücksichtigung wirtschaftlicher wie sozialer Aspekte. Herangezogen wurden also die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Geplant werden sollte nach einem angenommenen gesellschaftlichen Bedarf (nicht nach der individuellen Nachfrage), daher wird diese Diskursformation als Bedarfskonzeption behandelt. 4) Wiederum auf den Einzelnen gerichtet ergab sich eine Diskursformation, die Bildung entlang der feststellbaren Bedürfnisse der Schüler orientierte. Diese sollten in der Schule ausschließlich mit den Kompetenzen ausgestattet werden, die sie zur Bewältigung ihrer Lebensumstände benötigten. Dies sollte wiederum möglichst effizient geschehen, die Schule sollte zur Zentrifuge werden, in der die Schüler mit Wissen und Können angereichert würden, zu ihrem eigenen Nutzen und damit auch zum Nutzen aller. Wissenschaftlichkeit
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spiele hierbei zweierlei Rollen: zum einen die der Kompetenz, die der Schüler brauche, zum anderen die eines Instrumentes zur Programmierung des optimalen Curriculums. Daher wird diese Diskursformation unter dem Namen szientistische Konzeption behandelt. Hinter dem grellen Schein des Betrachtungszeitraums und vor dem blassen Hintergrund dessen Vorgeschichte kaum sichtbar sind zwei Diskursformationen für den Betrachtungszeitraum festzustellen, die man leichtfertig als ›konservativ‹ bezeichnen könnte. 5) Die erste stellte in gewissem Maße auch eine Bewegung dar, nämlich eine Gegenbewegung, die sich der Tradition statt der Zukunft besann und bewahren wollte, was so lebenswert schien – den objektiven Geist einer abendländischen Gesellschaft. Dabei ging es nicht um die Fortführung bekannter Lebensmodelle und auch nicht um die Bewahrung des überbrachten Bildungswesens, sondern darum, Bildung und Lebensführung so anzupassen, dass überzeitliche Werte auch unter den Bedingungen der Zeit Bestand hätten, dass sie nicht für Einzelne, sondern für alle zugänglich wären. Eine wertgebundene Erziehung war demnach das Beste, was das Bildungswesen seinen Schülern bieten könne. Diese Diskursformation wird als werterzieherische Konzeption behandelt. 6) Vor allem in Form der Abgrenzung für die werterzieherischen oder gesellschaftlich-emanzipativen Reformer, aber auch vor allem als Ideal einiger Hochschulprofessoren existierte eine puristische Idee der Bildung fort. Der Neuhumanismus, der in seiner Reinform höchstens den ersten Jahren der Humboldt-Universität zugestanden wurde, sollte endlich Realität werden. In ihrer radikalen Subjektivität libertär, in ihrer Verachtung jeder Verzweckung von Bildung, in ihrer Ablehnung jedes objektivierten Menschenbildes nicht nihilistisch, sondern im eigenen Sinne absolut humanistisch wird diese Diskursformation als neuhumanistische Konzeption behandelt. Es fällt auf, dass die drei Paare sich jeweils auch nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Individuum trennen. Diese Trennung war keineswegs von vornherein gewählt, sondern ergab sich aus der Analyse des Diskurses, in dem die Nähte sich entlang dieser Unterscheidung lösten und entsprechende Formulierungen der bewussten Abgrenzung dienten.
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Teil 2: Hessische und bayerische Bildungspolitik – der Niederschlag der Diskursformationen in verschiedenen Politiken Auf die erörterte Strukturierung des Diskurses folgt ein zweiter Hauptteil, in dem diese mit der real gestalteten Politik abgeglichen werden, wodurch auch der zweite Teil der Fragestellung beantwortet werden soll – welche Diskursformationen setzten sich wie im politischen Handeln durch? Im Fokus stehen dabei die Länder Hessen und Bayern. In beiden Ländern werden die größeren bildungspolitischen Vorhaben während des Betrachtungszeitraums untersucht. Dabei wird jeder dieser Prozesse von seinem Anstoß in einer Regierungserklärung, durch einen Beschluss oder Ähnliches über die allgemeinere öffentliche und interne Beratung bis zur konkreten Ausgestaltung durch die Verwaltung und die Bewältigung der dabei entstehenden Fragen und Probleme begleitet. Zu jedem Zeitpunkt werden die Quellen daraufhin untersucht, welche Motivation ein bestimmtes Vorgehen bestimmte, also aus welcher Diskursformation oder welchen Diskursformationen aus dem ersten Hauptteil es sich speiste – oder ob es auch ganz andere Motivationen gab, die außerhalb des eigentlichen Bildungsdiskurses lagen. Die zuvor getrennten Diskursformationen fließen nun politisch-programmatisch, also funktional zusammen: additiv, wo sie sich nicht gegenseitig ausschließen und so breiteres Einvernehmen geschaffen wird, und subtraktiv, wo Kompromisse geschlossen wurden. Das heißt, dass die diskursiven Sinneinheiten, also die Rückführbarkeit einer Aussage auf ein geschlossenes Konzept, den Kern einer Diskursformation, aufgebrochen und Argumente rein funktional zusammengebracht wurden, die im Grunde unterschiedlichen, teilweise gegenläufigen Konzeptionen von Bildung entsprangen. So ließ sich beispielsweise im politischen Prozess für die Ausweitung von Bildungsinvestitionen sowohl das Bürgerrecht auf Bildung als auch der Bildungsnotstand heranziehen, ohne die Widersprüche zwischen individualrechtlich-emanzipativer und Bedarfskonzeption im Einzelnen adressieren zu müssen, die Argumente unterschiedlicher Konzeptionen addierten sich also auf. Als weiteres Beispiel musste der der Bedarfskonzeption entspringende Anspruch zur Zusammenlegung von Schulen in zentralen Orten gegen die sich aus der werterzieherischen Konzeption ergebende Forderung einer Wohnortnähe abgewogen werden, was zur Idee der Mittelpunktschulen führte, die also als Kompromisslösung von beiden Konzeptionen Eingeständnisse abverlangte185. Somit findet hier eine diachrone Diskursanalyse auf der Mikroebene statt, denn schließlich handelt es sich auch hier um einen Diskurs zwischen den handelnden Personen. Die Daten und Details der einzelnen Politiken stehen 185 S. u. S. 461f.
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nicht im Vordergrund, sondern die Debatten und diskursiven Prozesse zur Entscheidungsfindung. Damit wird ein geschlossener Teildiskurs in seiner Entwicklung innerhalb der Institutionen auf die Einflüsse des beschriebenen Gesamtdiskurses hin untersucht. Für diesen zweiten Teil wurden die Quellen ausgehend von den politischen Entscheidungsprozessen in den Ländern ausgewählt, wie sie in den Akten der entsprechenden Ministerien dokumentiert sind. Ausgehend von den dominanten politischen Themen wurden die entsprechenden Aktenvermerke, Vorlagen, Korrespondenzen, Stellungnahmen, die Entwürfe zu Veröffentlichungen und Pressemeldungen auf die jeweiligen Begründungszusammenhänge und diskursiven Ordnungsmechanismen hin untersucht. Die Quellenlage stellt sich dabei sehr ambivalent dar. Während sie an mancher Stelle unüberschaubar ist, sind an anderer Stelle Dokumente gar nicht auffindbar. Als Beispiele können auf der einen Seite die im hessischen Kultusministerium in den entsprechenden Kommissionen und Unterkommissionen und den angeschlossenen Institutionen produzierten Diskussionspapiere, Protokolle, Manuskripte und Veröffentlichungen zur Curriculumentwicklung dienen, die sich kaum überschauen lassen und deren Abgrenzung zwischen Politik, Pädagogik und Schulpraxis aufgrund der partizipativen Methoden des Ministeriums nie allzu trennscharf ist. Auf der anderen Seite ist etwa der Beirat für Bildungsplanung des badenwürttembergischen Kultusministers Wilhelm Hahn zu nennen186. Die für die Untersuchung des Diskurses zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern in Bayern gewiss hochinteressanten Ministerratsprotokolle sind leider noch unter Verschluss. Ziel des zweiten Hauptteils ist nicht primär der Vergleich von Ländern unterschiedlicher Prägung, sondern die exemplarische Untersuchung des Niederschlags der unterschiedlichen Diskursformationen der interessierten Teilöffentlichkeit innerhalb der Realpolitik. Zur vollständigen Analyse müsste dazu, was in diesem Rahmen unmöglich ist, jede Politik jedes Landes untersucht werden. Um allerdings die Breite der Möglichkeiten zu berücksichtigen, wurden mit Hessen und Bayern zwei Länder gewählt, die nicht nur regelmäßig als direkte polare Konkurrenten im Bereich der Bildungspolitik in Erscheinung traten, sich also gegenseitig stark abgrenzten, sondern auch zwei Länder, die eine sehr dezidierte Bildungspolitik betrieben und daher viele Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Motivationen bieten. Die Unterschiedlichkeit dieser Länder lässt sich schnell daran verdeutlichen, dass 1969 einerseits Hessen als erstes Land Integrierte Gesamtschulen, Bayern hingegen als letztes Land das neunte Pflichtschuljahr einführte. Einige andere Länder nahmen oft mittlere Positionen ein und orientierten sich ›pragmatisch‹ entlang allgemeiner Tendenzen. Dabei 186 S. u. S. 70.
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sind grundsätzliche Begründungen weniger zu erwarten als in den behandelten Ländern. Betrachtenswert wären für die reformerische Seite gewiss auch Länder wie Berlin oder Nordrhein-Westfalen gewesen. Hessen weist aber anders als Nordrhein-Westfalen für den gesamten Betrachtungszeitraum eine sozialdemokratische Regierung, teilweise mit liberalem Koalitionspartner, auf, was eine kontinuierliche Betrachtung gewährleistet. Im Falle Berlins wären die besondere politische Situation und die gerade bildungspolitisch sehr speziellen Bedingungen eines Stadtstaats zu beachten gewesen. Zum CSU-geführten Bayern hingegen wäre kein anderes Land vergleichbar gewesen. Allerdings wäre die Betrachtung eines Landes mit CDU-Regierung durchaus eine Bereicherung gewesen. Paul Mikat – Kultusminister wiederum in Nordrhein-Westfalen – spielte eine bedeutende Rolle in der bundesrepublikanischen Bildungspolitik. Vor allem aber wäre die intensivere Betrachtung Baden-Württembergs eine echte Bereicherung für die Arbeit gewesen. Kultusminister Hahn war entschiedener Vorreiter in der Bildungsplanung, Initiator des Deutschen Bildungsrates und setzte sich sehr intensiv mit den verschiedensten Ansätzen der Bildungsreform auseinander. Allerdings scheiterte eine tiefere Beleuchtung dieses Landes daran, dass die wohl relevantesten Quellen nicht auffindbar sind, nämlich die Protokolle des Beirats für Bildungsplanung, der ab 1964 unter Hahns Vorsitz und unter Mitarbeit von u. a. Ralf Dahrendorf und Georg Picht vierteljährlich im Besprechungsraum des Ministers tagte187. Im Baden-Württembergischen Hauptstaatsarchiv sind weder die Protokolle noch andere Hinweise auffindbar, und auch unter dem Nachlass Wilhelm Hahns findet sich dazu nichts188.
187 Dem Beirat gehörten zu Beginn die Professoren Karl Becker von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, Ralf Dahrendorf von der Universität Tübingen, der Fabrikant Hermann Freudenberg, der Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing Felix Messerschmid, der Leiter des Landesschulrats Schumann sowie Georg Picht selbst. Vgl. BWHStA EA 3/505, I. Bund, Anlage zu M11404/21: Kultusministerium, Bildungsplanung im Kultusministerium Baden-Württemberg, 14. 07. 1964; sowie BWHStA EA 1/106, Bü 801, Stuttgarter Nachrichten 266: Beirat für Bildungsplanung berufen, 12. 11. 1964. 188 Eine mehrtägige Recherche im Baden-Württembergischen Hauptstaatsarchiv im November 2013 blieb ergebnislos. Weder im Bestand EA 3/907, noch in den fraglichen unverzeichnten Beständen in einer Außenstelle des Archivs konnten Protokolle, Beschlüsse, Tischvorlagen oder auch nur Einladungen oder Teilnahmelisten aufgefunden werden. Auch eine entsprechende Anfrage an das baden-württembergische Kultusministerium blieb ergebnislos und laut Auskunft des Archivs für Christlich-Demokratische Politik ist auch im entsprechenden Bestand dort (ACDP, 01-392) nichts dazu zu finden.
Formalia
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1.6. Formalia Da es sich bei dieser Studie um eine Diskursanalyse handelt, nehmen Begrifflichkeiten und Aussagen eine bedeutende Stellung ein, weshalb die Menge der wörtlichen Zitate größer ist als üblich. Um dadurch die Lesbarkeit nicht zu sehr einzuschränken, wurden in eingebauten Zitaten, in denen Adjektive gebeugt werden mussten, die veränderten Endungen nicht in eckige Klammern gesetzt, die Rechtschreibung wurde vereinheitlicht und einzelne zitierte Wörter nicht in Anführungszeichen, sondern ausschließlich kursiv gesetzt, bei der Verwendung des generischen Maskulinums sind beide Geschlechter gemeint189. Die Absicht ist, es nicht dem Deutschen Bildungsrat gleichzutun, der seinen Strukturplan für das Bildungswesen mit der Ankündigung eröffnete: »Texte dieser Art pflegen sich nicht durch Anmut und Schönheit der Sprache auszuzeichnen.«190
189 Gleichzeitig liegt der Entscheidung zur Verwendung des generischen Maskulinums eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik zugrunde. 190 Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen, Vorwort S. 13.
2.
Erster Hauptteil: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen191
2.1. Die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation »Das Recht aller Bürger auf Bildung nach ihren Fähigkeiten bliebe daher unvollständig ohne das Zerbrechen aller ungefragten Bindungen, also den Schritt in eine moderne Welt aufgeklärter Rationalität.«192 Dass die Chancengleichheit der große Ruf der Bildungspolitik der 60er und 70er gewesen sei, ist vielleicht eine ungenaue und gewiss unzureichende Verkürzung – falsch ist sie nicht, war Chancengleichheit zumindest ein Ruf dieser Zeit, ein unüberhörbarer und oft diskutierter zumal. Der Eindruck entsteht zumindest in der damals schon gängigen Interpretation der ›eigentlichen‹ Ziele der Proteste Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre für das Bildungswesen: ein »Kampf gegen die Verplanung des Menschen und die volle Rationalisierung aller Lebensbezüge; den Schrei nach einem Raum absolut freier Entfaltung.«193 Die historisch prominenteste bildungspolitische Antwort darauf war die Idee, dass Bildung ein Bürgerrecht sei, formuliert von dem Soziologen Ralf Dahrendorf194. Dahrendorfs Konzepte waren archetypisch für die individualrechtlichemanzipative Konzeption, weshalb auch im Unterschied zu den anderen Diskursformationen hier öfter auf eine bestimmte Person Bezug genommen werden 191 Die Begriffe Diskursformation und Konzeption bzw. Bildungskonzeption werden synonym gebraucht. Von Diskursformationen statt von Diskursen ist vor allem deshalb die Rede, um deutlich zu machen, dass es sich um einzelne Diskurse innerhalb eines Gesamtdiskurses zur Bildungspolitik handelt. 192 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 24. 193 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 20f. 194 Als »Bürgerrecht auf Bildung« benannte zuvor Andreas Flitner die Aufnahme der staatlichen Erziehungsorganisation in die Bürgerrechtspräambel der belgischen Verfassung von 1831 »und die Unterrichtsfreiheit mit dem charakteristischen Zusatz, Vergehen dürften nur auf gesetzlichem Wege unterdrückt – soll heißen: nicht etwa durch eine staatsgelenkte Erziehung im Voraus verhindert – werden«, Flitner, Die politische Erziehung in Deutschland: Geschichte und Probleme 1750–1880, Tübingen 1957, S. 161.
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kann. Diese Konzepte grenzten sich stark von anderen Konzeptionen ab, die gleichermaßen die Chancengleichheit auf ihren Fahnen führten, wie später zu sehen sein wird. Die – bildungspolitisch machtlose – sozial-liberale Bundesregierung formulierte: »Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit muss durch eine intensive und individuelle Förderung aller Lernenden in allen Stufen des Bildungssystems verwirklicht werden. Bildung soll den Menschen befähigen, sein Leben selbst zu gestalten. Sie soll durch Lernen und Erleben demokratischer Werte eine dauerhafte Grundlage für freiheitliches Zusammenleben schaffen und Freude an selbständig-schöpferischer Arbeit wecken.«195
Bildung als Bürgerrecht – Grundlagen der Diskursformation Der Grundtenor in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption war, dass Bildung ein Anspruchsrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat darstelle, also jeder das Recht besitze, sich nach seinen Fähigkeiten und Neigungen bilden zu können. Bildung sollte dem Individuum und dessen Ansprüchen gerecht werden. Eine Prämisse war dem inhärent: Jeder sollte in der Lage sein, seine individuellen Ansprüche überhaupt erst zu erkennen, und sich seiner Optionen bewusst werden. Bildung musste daher zuvörderst emanzipativ wirken: »Das Recht aller Bürger auf Bildung nach ihren Fähigkeiten bliebe daher unvollständig ohne das Zerbrechen aller ungefragten Bindungen, also den Schritt in eine moderne Welt aufgeklärter Rationalität.«196 Für die individualrechtlich-emanzipative Konzeption bedeutend in dieser Formulierung ist das Wort ›ungefragt‹, das zum Ausdruck bringt, dass Bindung, auch Tradition, auch Einordnung in Bestehendes der Veränderung und Individualisierung durchaus gleichwertig sein sollte, solange die einzelne Person in der Lage sei, sich wirklich zu entscheiden; sie also sowohl die faktische Möglichkeit der Veränderung habe, als auch sich dieser bewusst zu sein und sie in Betracht zu ziehen, oder anders formuliert: »Ob er dann die ›neuen‹ oder die ›alten‹ Werte akzeptiert, ist damit eine Frage der persönlichen Entscheidung und Verantwortung.«197 Chancengleichheit bedeute somit »die Möglichkeit, aus eigener Bestimmung auch ungleich zu sein«198. Das Ziel blieb dabei die Emanzipation des Einzelnen, Bildung galt »als Aufklärung, als Lernen von Freiheit, als Fähigkeit zu Anpassung und
195 196 197 198
Bildungsbericht ’70, S. 9. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 24. Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 49. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8. Vgl. auch Klafki, Bildungstheorie, S. 97.
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Widerstand, als Befähigung zur relativen Distanzierung aus dem Handlungszusammenhang, als Revision von Vorurteilen, kurz als Hilfe zur Mündigkeit«199. Die Frage, wie zu ›emanzipieren‹ sei, ergab sich in der individualrechtlichemanzipativen Konzeption also nicht durch eine Erziehung hin zu a priori festgelegten (vermeintlich als emanzipiert gesehenen) Weltanschauungen, Haltungen, Einstellungen, sondern durch die Ermächtigung des Einzelnen, Herr über seine Entscheidungen zu werden. Aufgabe der Bildungsinstitutionen, letztendlich des Erziehers oder Lehrers, war es also, »das Emanzipationsproblem in dem sich an Rationalität bindenden Bewusstsein zu lokalisieren und auf die empirischen, das heißt aber im Wesentlichen gesellschaftlichen, Bedingungen wenigstens hinzuweisen, sofern sie solches Bewusstsein verhindern oder einschränken«200.
Emanzipation als Voraussetzung zu individueller Entscheidungsfähigkeit Durch diesen Emanzipationsbegriff (»ungefragte Bindungen zerbrechen«) grenzte sich diese Diskursformation trennscharf von dem Ansatz ab, der mit Emanzipation nicht nur die Möglichkeit des Einzelnen zu freier Entscheidung im Bewahren oder Verändern verband, sondern auch bestimmte, als logisch oder folgerichtig angenommene Ziele verfolgte – der emanzipativen Diskursformation. Hildegard Hamm-Brücher spitzte diese Unterscheidung folgendermaßen zu: »Wenn ›emanzipatorische Erziehung‹ im Sprachgebrauch der Linken ›Indoktrination eines sozialistischen Bewusstseins‹ bedeutet […], dann allerdings kann es – meines Erachtens – keinen demokratischen bildungspolitischen Konsens geben. Dann ist ein Trennungsstrich zu ziehen zwischen den Zielsetzungen der ›Schule der Demokratie‹ und der ›Schule des Sozialismus‹. Denn: In der sozial-liberalen Demokratie heißt ›emanzipatorische Erziehung‹ Selbstbestimmung und Mündigkeit auch zu anderen Möglichkeiten als zur revolutionären Praxis. ›Kritikfähigkeit‹ soll nicht bei neo-marxistischen Heilslehren enden müssen, sondern gegen alle totalitären Versuchungen gefeit machen und als Voraussetzung für ›herrschaftsfreies Zusammenleben‹ schließlich ist uns Toleranz ebenso unabdingbar wie Liberalität und Mitmenschlichkeit – Wertbegriffe, die es im Wörterbuch der radikalen Linken allerdings nicht mehr gibt.«201 HammBrücher gebrauchte die Idee des ›ungefragten‹ auch für die Emanzipation selbst: »Ich behaupte ja überhaupt, dass dieser Aufklärungsprozess immer nur soweit geht und dass jeder sich nur soweit aufklärt, wie er selbst es will.« Und sie befand es sogar als gutes Recht jedes Einzelnen, sich gegen weitere Aufklärung zu 199 Furck, Schule für das Jahr 2000, S. 195. 200 Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 10. 201 Hamm-Brücher, Gesamtschule – Schule der Demokratie S. 90.
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entscheiden. Konfrontiert mit der These, »dass jeder einzelne die Pflicht hat, sich zu informieren, […], neugierig zu sein, zu fragen, den anderen zur Rede zu stellen«, fragte sie provokant: »Warum hat er die Pflicht? Warum kann ich nicht ganz anders leben wollen? Ich will mich nun einmal nicht informieren.«202 Sie sah sich der antiautoritären Erziehung verpflichtet, wollte die Verankerung emanzipatorischer Pädagogik bereits für das Vorschulalter und betonte stets die Notwendigkeit, im Bildungswesen autoritäre Strukturen abzubauen. Aber : »Freiheitliche Erziehung ist nicht mit Hemmungslosigkeit oder Zügellosigkeit zu verwechseln. Erziehung zum Hass, zur Intoleranz oder zu einem fiktiven Klassenkampf diskreditieren die demokratischen Prinzipien freiheitlicher Erziehung.«203 Diesen Begriff von Emanzipation eignete sich auch die Regierung Brandt an, für die nicht im Vordergrund stand, dass der Schüler lerne, sich richtig zu entscheiden, sondern dass er überhaupt lerne, zu entscheiden204. Saul B. Robinsohn nannte als wichtiges Element emanzipativer Erziehung die »Bereitschaft zur Veränderung […], immer neue und wechselnde Horizonte der physischen und geistigen Welt aufzunehmen, immer neue Allianzen zu akzeptieren, ohne jegliche Loyalitäten aufzugeben«. Die »Erziehung zur Wahl« in allen Bereichen, also zur »Fähigkeit, Ziele und nicht nur Mittel zu wählen«205, galt ihm als Aufgabe des Bildungssystems. Der Bildungsreformer nach individualrechtlich-emanzipativer Konzeption verstand sich als »kritischen Rationalisten«206. Darin drückte sich gleichermaßen die Ablehnung der Ideologisierung als auch der Zweifel an einer absoluten Ratio aus. Eine weitere Abgrenzung zu ebenjenen gesellschaftlich-emanzipativen Ideen nahm Dahrendorf durch seine Ausführungen zu Fragen der Gleichheit vor : »Bürgerrechte sind notwendig gleiche Bürgerrechte. Doch ist das Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik zur Sicherung der Bürgerrechte kein Plädoyer für soziale Gleichheit.«207 Dahrendorfs Maxime war die freie Gesellschaft, Freiheit und (Ergebnis-)Gleichheit hingegen in klassisch liberaler Interpretation zwei gegensätzliche Pole gesellschaftspolitischer Bestrebungen208.
202 Hamm-Brücher, Becker, Hassenstein, Hentig, Kadelbach, Kogon, Gespräch: Autonomie und Autorität des Menschen – ein Spannungsverhältnis?, S. 22f. 203 Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 78f. 204 Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 18. 205 Robinsohn, Bildungsreform als Revision des Curriculums, S. 16f. 206 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 48. 207 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 25f. Vgl. auch Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 142. 208 Vgl. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 326.
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Leistung als Möglichkeit des Einzelnen Entsprechend verstand sich auch die Auffassung von Leistung. Sollte der Einzelne zwar einen Anspruch gegenüber dem Staat auf ein Bildungsangebot haben, stand er selbst in der Pflicht, dies auch wahrzunehmen; der Anspruchsgedanke erstreckte sich auf Bildungsangebote, nicht auf Abschlüsse209. Leistung sollte dabei zum (Differenzierungs-)Maßstab im Sinne des Pluralismus werden, aber weder sozial selektiv wirken210 noch der sozialen Beurteilung des Individuums dienen und für dieses auch »nicht zum unmenschlichen Stress ausarten«211. Auch die Wahl zu Leistung war frei. Das Leistungsprinzip wurde nicht verallgemeinert, sondern dem Einzelnen müsse »die Möglichkeit eröffnet werden, sich mit der Leistung zu messen«212 ; und »die Forderung von Leistungen steht unter dem pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung«213. Leistung wurde nicht normativ als Kriterium zum sozialen Aufstieg gesetzt, sondern als Realität anerkannt und sollte »nicht verhindert« werden214. Die Anerkennung des Leistungsprinzips ermöglichte nach dieser Sicht erst Chancengleichheit, »denn wer die Chancen gleicher machen will und nicht mehr zusehen möchte, dass wenige privilegierte Kinder fast automatisch die Positionen ihrer Väter erben, der muss den Wettbewerb um hervorgehobene Positionen in der Gesellschaft wollen. Um mehr Wettbewerb heißt: schärferer Wettbewerb; heißt auch: Leistung und Leistungsmessung.«215 Mit der Ermöglichung des Leistungsprinzips für den Einzelnen sollte vor allem soziale Differenzierung nach leistungsfremden Maßstäben unmöglich gemacht werden. Gerade im Hochschulbereich galt der Leistungsmaßstab auch als Notwendigkeit, die Funktion der Wissenschaft – Hochschulen waren schließlich nicht nur Bildungseinrichtungen – zu bewahren. Selbst die sonst stets für Mitbestimmung einstehende Hildegard Hamm-Brücher formulierte radikal: »Das verfassungsmäßig garantierte Prinzip der Freiheit von Forschung und Lehre aber ist unantastbar und darf nicht zum Popanz pseudodemokratischer Mehrheitsentscheidungen werden.«216 Als Gegenpol zur Leistung kann das Prinzip des sozialen Ausgleichs gesehen werden. Die Kompensation ungleicher Startchancen im Elternhaus konnte alleine durchs Bildungssystem erfolgen, wollte man nicht zunehmend mit Mitteln
209 210 211 212 213 214 215 216
Vgl. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 12, 14, insb. 21, 36f. Vgl. Bildungsrat, Strukturplan, S. 36. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 177. Ebd, S. 37. Bildungsrat, Strukturplan, S. 35. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 37. Von Dohnanyi, Wo die Reform Not tut, S. 458. Hamm-Brücher, Verwirklichung liberaler Bildungspolitik, S. 68f. Vgl. auch Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 142.
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der ›Ergebnisgerechtigkeit‹, also Umverteilung, soziale Ungleichgewichte ausbalancieren217. Positive Freiheit – Dahrendorfs Dreiteilung des Bürgerrechts auf Bildung All dies spiegelt sich auch in Dahrendorfs Dreiteilung des Bürgerrechts auf Bildung wider : Als Prämisse galt Bildung als soziales Grundrecht, als notwendige »Ausstattung des Staatsbürgers«218 – gleichzeitig Recht wie auch Pflicht, oder vielmehr Notwendigkeit zur mündigen Mitbestimmung. Willy Brandt sprach von der »Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten«219. Dass nicht mehr wie bei Kiesinger die Armee, sondern »die Schule die Schule der Nation«220 sei, bedeutete die Änderung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat: Nicht mehr das Militär formte einen Staatsbürger, der sich ein- und unterordnete, seinem Staat Gehorsam schuldete, sondern die Schule erzog einen Staatsbürger, der sein Land aktiv formte221. Die Schulpflicht fällt für Dahrendorf unter diesen ersten Aspekt des Bürgerrechts, gleich der Alphabetisierung einer Gesellschaft. Als zweiten Aspekt nennt er die formal-rechtliche Chancengleichheit, die allerdings nicht nur ein Verbot von Diskriminierung durch das Recht, sondern auch anderer faktischer, systematischer Diskriminierung umfasst. Dem dritten Aspekt des Bürgerrechts auf Bildung misst er dessen »umwälzende Kraft« zu: Aus objektiven Möglichkeiten sollten subjektive Chancen gemacht werden – mittels einer »aktiven Bildungspolitik«. Hier kommt Dahrendorfs »assertorischer Freiheitsbegriff« zum Tragen, wonach Freiheit erst verwirklicht sei, »wenn und wo die Chance der Selbstverwirklichung auch wahrgenommen wird und im tatsächlichen Verhalten der Menschen Gestalt annimmt«222 ; dies zu ermöglichen, sei Aufgabe des Staates223. Die Abgrenzung zwischen zweitem und drittem Schritt fasste Hildegard Hamm-Brücher so zusammen: »Chancengleichheit lässt sich weder durch Schulgeld- oder Lernmittelfreiheit noch durch sonstige äußere Maßnahmen 217 Vgl. Hamm-Brücher, Bildungsreform als Teil der Gesellschaftsreform, S. 150. 218 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 25f. 219 Brandt, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, S. 19. Vgl. auch Brandt, Rede des Bundeskanzlers Brandt, in der Evangelischen Akademie in Bad Segeberg, 1. September 1973, S. 456. 220 Brandt, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, S. 19. 221 Wenige Monate zuvor hatte noch Bundeskanzler Kiesinger der Bundeswehr die Rolle als »Schule der Nation« zugedacht. Vgl. »Erzieher und Arzt des Volkes«, Zitate über die »Schule der Nation«. In: DER SPIEGEL 27/1969, S. 33. 222 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 373. 223 Vgl. ebd., S. 373–375.
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herstellen. Chancengleichheit ist ein pädagogisches Prinzip, das buchstäblich von Kinderbeinen an in jeder Stufe des Bildungssystems von neuem eröffnet und gültig werden muss.«224 Hiermit wandelten sich die negativen Freiheiten der grundgesetzlich verankerten Grundrechte in eine positive Freiheit225 um, in den Anspruch des Bürgers auf eine Aktivität des Staates: »Bürgerrechte sind nicht nur einklagbare Verfassungsversprechen, sondern verlangen Politik, Gesellschaftspolitik, wie man heute sagen würde, um sie wirklich zu machen.«226 Attestierte Dahrendorf den ersten beiden Aspekten des Bürgerrechts auf Bildung bei zwar anhaltendem Entwicklungsbedarf eine weitgehende Umsetzung, sah er diesen dritten Aspekt als noch mangelhaft an. Unvollkommen verwirklicht seien die »Modernisierung der Gesellschaft, die Herauslösung der Menschen aus ihren ungefragten Bindungen und Befreiung zur Möglichkeit, ihre Rechte wahrzunehmen.«227 Überhaupt war es der Begriff der Möglichkeit, der den gesellschaftspolitischen Aspekt der individualrechtlichen Konzeption prägte: Eine freie Gesellschaft könne nur Illusion bleiben, sie vermöge es »allenfalls, die Möglichkeit zur Freiheit zu schaffen«228.
Ein liberal(er)es Grundgesetz Die enge Verbindung der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption mit dem Begriff des Bürgerrechts legt nahe, die unterliegenden Begründungen auch auf rechtlicher Ebene zu suchen. Dies geschah auch, vornehmlich mit dem Hinweis, dass das Grundgesetz die einzige unverrückbare Norm sei, auf die sich Gesellschaftspolitik stützen könne229. Carl-Heinz Evers (SPD), Berliner Bildungssenator, sah »das Grundrecht auf Bildung, das jedermann die bestmögliche Entfaltung garantiert und damit Mündigkeit und Selbstbestimmung« als »verfassungsmäßig verankert« an, genauso wie »das Postulat von der Gleichheit der Bildungschancen« unabhängig von sozialen Faktoren; und schlussendlich überhöht er diesen Anspruch sogar zur Freiheit »von materieller und geistiger Not« und der Chance, glücklich zu 224 Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 73. 225 Erläuternd bei Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 139: »Bürgerrechte sind nicht nur einklagbare Verfassungsversprechen, sondern verlangen Politik, Gesellschaftspolitik, wie man heute sagen würde, um sie wirklich zu machen.« 226 Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 139. 227 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 22–24. 228 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 374. 229 Felix von Cube (Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 49f) setzte sich damit auseinander, ob überhaupt dieser minimale normative Wertekanon vorgegeben werden solle, um dies aber schlussendlich zu bestätigen: »[…] auch [die Legitimation durch das Grundgesetz] stellt nur (?) eine Vereinbarung dar, die auf dem Bekenntnis einzelner Menschen beruht.«
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sein230. Eine genaue Herleitung nach Verfassungsartikeln bleibt Evers jedoch schuldig, erinnert die Referenz an das ›Glück‹ doch eher an die amerikanische Verfassung als an das deutsche Grundgesetz. An anderer Stelle fand die rechtliche Herleitung eingehender statt. Aus Sozialstaatsgebot, Demokratiegebot und dem Recht auf Ausbildung, expliziert als »Art. 1 bis 7, dazu Art. 12, 20, 28 und 21 des Grundgesetzes«, schloss Hellmut Becker als Interpretationszusammenhang die »Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen«, die sich »nicht auf eine Erweiterung des Zugangs zu bestehenden Bildungseinrichtungen und die Kompensation sozial ungleicher Startchancen beschränken kann«, sondern »zugleich eine Individualisierung und Differenzierung formaler Bildungsgänge, um die Möglichkeiten personaler Freiheit und Entwicklung zu erweitern.«231 Für Hildegard Hamm-Brücher langten bereits »Art. 2, 3 und 12«232. Der Bildungsrat sah sich schon aus seiner öffentlich-rechtlichen Stellung heraus auf das Grundgesetz angewiesen. Er bediente sich der gleichen Artikel und entschied sich auch in einer bewusst vorgenommenen Abwägung dazu, den individualrechtlichen Aspekt als maßgeblich zu betrachten. »Selbständiges, kritisches und produktives Denken« wurde vom Bildungsrat als bildungspolitische Entscheidung vorausgesetzt233. Er ging dazu davon aus, dass eine ursprüngliche »gesellschaftspolitische Entscheidungsprämisse […], die lautet: Demokratisierung der Schule, Chancengleichheit, individuelle Förderung«234, dies fordern müsse. Diese Annahme galt als Prämisse des Bildungssystems, nicht als Ziel. Es gehe dabei auch um die »Vorbereitung der jungen Menschen auf eine sich besonders rasch ändernde Welt, ohne dass die Richtung dieser Änderung durch Erziehungsmaßnahmen inhaltlich festgelegt werden könnte oder sollte.« Die »Erziehung zum Anerkennen, Bewahren oder Verändern von Werten und Normen« wurde von dem sich unpolitisch haltenden Gremium für seine Arbeit explizit ausgeschlossen235. Das Problem, dass man zwar Prämissen, aber keine Ziele kannte und dabei gleichzeitig davon ausging, dass jeglicher Bildung normative Setzungen vorangehen müssten (ohne Vorschlag, wer diese Entscheidungen wie würde treffen können)236, löste der Bildungsrat durch die konsequente Anwendung des Konjunktivs, von Konditionalsätzen oder durch den Anschein des unverbindlich Beispielhaften bei der Ausformulierung aus dem
230 Evers, Modelle, S. 9. 231 Becker, Bildungsforschung, S. 58. 232 Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform, S. 18. Weiterhin Brandt, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, S. 20. 233 Bergius, Analyse der Begabung, S. 229. 234 Erdmann, Planungen des Deutschen Bildungsrates, S. 26. 235 Bergius, Analyse der Begabung, S. 229f. 236 Vgl. Bildungsrat, Strukturplan, S. 60.
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zeitgenössischen Diskurs entspringender Wertentscheidungen237. Der grundsätzliche Selektionsrahmen des Bildungsrats entspringt aber der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption. Mit keinem Wort etwa wird das bestehende demokratische System in seinen Grundfesten in Frage gestellt. Im Gegenteil sollte darauf hingewirkt werden, »dass die Bereitschaft geweckt wird, sich für den freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat zu engagieren«238. Das Grundgesetz gebiete demnach: »Das umfassende Ziel der Bildung ist die Fähigkeit des einzelnen zu individuellem und gesellschaftlichem Leben, verstanden als seine Fähigkeit, die Freiheit und die Freiheiten zu verwirklichen, die ihm die Verfassung gewährt und auferlegt.«239 Darin lässt sich schon eine gewisse Bildungspflicht erahnen, die an anderer Stelle deutlicher als »Anspruch […] der Gesellschaft« an den Einzelnen dargestellt wird240. Auch für Felix von Cube stand fest, dass Lernziele nicht gefunden würden, sondern »politische oder moralische Wertsetzungen«241 seien. An dieser Stelle wird die Abgrenzung zur szientistischen Konzeption deutlich. Während dort auch eine förmliche politische Entscheidung akzeptiert wurde, aber sowohl deren Vorbereitung als auch deren Entfaltung der Wissenschaft zugedacht wurden, ist in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption auf jeder Ebene eine politische Entscheidung notwendig242. Die Wissenschaft könne zwar Verfahrensweisen zur Entscheidungsfindung bei der Festsetzung von Lernzielen, Strukturen und Methoden validieren; da aber Grundwerte dazu schon vorausgesetzt werden müssten und somit die Ergebnisse davon abgeleitet
237 238 239 240 241
Vgl. ebd., S. 83f u. 218. Ebd., S. 218. Ebd., S. 29. Ebd., S. 31. Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 42 u. 46. 242 Vgl. ebd., S. 45: »Hier bestätigt sich übrigens, dass der Prozess der Operationalisierung keine Ableitung aus allgemeinen Zielen darstellt, sondern in einer fortlaufenden Abfolge von Entscheidungen besteht.« Vor allem die endlosen deduktiven Argumentationsketten der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption werden davon angegriffen, aber eben auch der Szientismus. Von Cube expliziert sogar namentlich zu Blankertz, Mollenhauer und Klafki u. a.: »Diese Autoren wollen einfach nicht darauf verzichten, in Begriffen wie ›Vernunft‹, ›Bildung‹, ›Emanzipation‹ und ähnlichen ein objektives Kriterium zu sehen, mit dem SollWerte bestimmt werden können, d. h.: sie wollen nicht darauf verzichten, als Didaktiker oder Erziehungswissenschaftler maßgeblich an der Zielsetzung mitzuwirken. Dagegen wäre ja an sich nichts einzuwenden – schließlich wollen wir das alle – es ist indessen unredlich, dies unter dem Mantel der Wissenschaft zu tun, statt die politischen Karten auf den Tisch zu legen. Die Wissenschaft ist nun einmal nicht in der Lage, Ziele, Normen oder Werte zu setzen. Gewiss kann sie bestehende Werte kritisieren, sie kann Widersprüche nachweisen oder auch historische und gesellschaftspolitische Zusammenhänge erklären. Das alles kann die Wissenschaft leisten – nicht jedoch die Setzung der Ziele und Normen selbst.«
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seien243, werde die Wissenschaft keinen »Beitrag leisten, den Lernzielstreit in irgendeiner Weise zu regeln oder gar zu lösen«, alleine wegen des im selben liberalen Ordnungssystem verankerten rein positivistischen Wissenschaftsbildes, das keine Wertungen vornehmen könne244 : »Die Wissenschaft kann nicht legitimieren.«245 Diese Grenze zwischen szientistischer und individualrechtlichemanzipativer Konzeption ist derart fließend, dass sich die Frage stellt, ob überhaupt eine Unterscheidung notwendig ist. Deutlich wird das in einer Aussage Hellmut Beckers: »Ich würde sagen, dass die Erziehung heute viel mehr zum Verhalten in der Welt auszustatten hat, als dass sie uns irgendein vorgegebenes Leitbild zu vermitteln hätte« ist der erste Teil einer Aussage, mit der er typisch in die szientistische Konzeption passen würde; den Schritt in die individualrechtlich-emanzipative geht er bereits im nächsten Satz, in dem er die angenommenen notwendigen Qualifikationen ihrer wissenschaftlichen Erarbeitung vorwegnimmt: »Denn schon der immer schneller werdende Wechsel der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert von Individuen Eigenschaften, die sich als Befähigung zur Flexibilität, zum mündigen und kritischen Verhalten, bezeichnen lassen.«246 Für Ralf Dahrendorf selbst begründete die Verfassung noch nicht die Notwendigkeit aktiver Bildungspolitik nach seiner Vorstellung; er malte sich hingegen aus, welche Artikel dafür formuliert werden müssten: »(1) Jeder Mensch hat ein Recht auf eine intensive Grundausbildung, die ihn befähigt, von seinem staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wirksam Gebrauch zu machen. (2) Jeder Mensch hat ein Recht auf eine seiner Leistungsfähigkeit entsprechende weiterführende Ausbildung. (3) Es ist die Pflicht der staatlichen Instanzen, dafür Sorge zu tragen, dass diese Rechte ausgeübt werden können.«247 Dahrendorf forderte aber nicht die Einfügung dieser Artikel ins Grundgesetz, sondern den politischen Willen, aktive Bildungspolitik auch ohne diese durchzusetzen. Für Friedrich Edding wiederum war eher die Konstellation, in der Verfassung und Gesellschaft zueinander standen, ausschlaggebend. Für ihn war es nicht per se verwerflich, Dinge aus einer gewissen Tradition heraus zu tun. Habe sich aber die Gesellschaft – laut Edding schon seit einigen Generationen – in den Prozess der Emanzipation begeben, gebe es diesen Halt nicht mehr. In dieser Gesellschaft könne es dann nur zwei Alternativen geben: »Die Massen zu manipulieren 243 Vgl. von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus (Diskussionsbericht zum Referat von Felix von Cube), S. 51. 244 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 45f: »Lernziele hingegen sind Wertaussagen.« Vgl. auch Lenk, Normenproblematik in der Bildungsplanung. 245 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 48. 246 Becker im Gespräch mit: Adorno, Erziehung – wozu?, S. 106. 247 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 23.
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oder ihnen zu helfen, denkende freie Bürger zu werden.«248 Die Verfassung gebiete dann Letzteres.
Der Umbruch im Zustand der Veränderung Neben der politischen Verfassung wurde so auch die historische Situation der Gesellschaft als Begründung einer emanzipativen Erziehungspolitik einbezogen249. Einerseits waren die zunehmende Industrialisierung – damit einhergehend Arbeitsteilung und Spezialisierung –, ein verändertes Freizeit- und Konsumverhalten, der Zugang zu Medien, die zunehmende Mobilität und die stete Veränderung der Rahmenbedingungen eine konstante externe Herausforderung an die Gesellschaft. Andererseits veränderte sich die Gesellschaft auch aus sich heraus. Um das Jahr 1968 habe sich, so Hamm-Brücher, »in allen Bereichen unseres gesellschaftlich-sozialen und individuell-personalen Lebens, Denkens und Handelns ein Umbruch vollzogen, dessen endgültige kulturgeschichtliche und gesellschaftspolitische Folgen und Wirkungen noch gar nicht abzusehen sind«, es handele sich um nichts weniger als eine »zweite Aufklärung«, die zu einer »Ent-Tabuisierung unserer überlieferten gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen und sexuellen Wertvorstellungen«250 geführt habe. Gab es also vorher einen starken gesellschaftlichen Wertekonsens, der zur Berücksichtigung der Individualrechte zumindest nicht sichtbar den wertneutralen Staat oder gar Emanzipation nötig gemacht hätte, brach dieser nun in eine Vielfalt auf, die nicht mehr klassisch in einen schulisch vermittelbaren Wertekanon gefasst werden konnte. War eine offene Frage der Zeit die nach der Verortung des Systems Bildung innerhalb der Gesamtgesellschaft, war die emanzipative Antwort darauf klar : Wenn Kinder außerhalb der Schule – und mehr noch nach ihrer Schulzeit – »Fernsehen, Sex-Welle, Pornographie, Drogen und [dem] täglichen Anschauungsunterricht des Menschheitsdilemmas: Krieg, Brutalität und Hunger« ausgesetzt sind, müssten diese Themen auch Eingang in die strukturierte Vorbereitung auf ein selbständiges, solcherlei Dinge bewältigendes Leben finden: »Je offener, vernünftiger und verständnisvoller diese kritische Auseinandersetzung zur rechten Zeit geschieht, umso größer sind die Chancen, unserer 248 Edding, Bildung und Politik, S. 19. 249 Vgl. Barzel, Gesichtspunkte eines Deutschen, S. 86: »Vom dynamischen Prozess des Lehrens und Lernens, der alle umfasst, hängt nicht nur unsere materielle Zukunft ab, sondern mehr noch die Qualität unserer Gesellschaft und der Grad der Humanität und der Liberalität unserer öffentlichen Ordnung.« Vgl. auch Bergius, Analyse der »Begabung«, S. 229f. Ebenso Hamm-Brücher, Die vergessene Provokation, S. 22: »Die hessischen Schulreformer halten die Verwirklichung ihrer ›Ideologie‹ für eine existenzielle Grundbedingung der demokratischen Industriegesellschaft.« 250 Hamm-Brücher, Weiterbildung und öffentliche Verantwortung, S. 116.
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Jugend beim Erwachsenwerden besser als bisher beizustehen und damit dem Erziehungsprozess endlich wieder einen aktiven Sinn zu geben.«251 Gesellschaftlicher Wandel war aber nicht zwingend gleichbedeutend mit einer aktiven Veränderung der Gesellschaft. Die Frage der Veränderung der Gesellschaft war hier – wiederum im Gegensatz zur gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption – sehr pikant. Selbstverständlich wurde die Bildungspolitik als Voraussetzung einer Veränderung der Gesellschaft gesehen, die auch unverhohlen als nötig erachtet wurde. Diese Sicht wurde aber weniger vom Ziel einer optimalen Gesellschaft getragen als aus der kritischen Analyse der bestehenden Strukturen. Es ging also um eine Veränderung von etwas weg, nicht zu etwas hin: »Mit dieser Schulreform soll eine der wichtigsten Bedingungen und Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens geschaffen werden: die Möglichkeit der Veränderung und der Mobilität durch ein offenes Schulsystem.«252 Die zeitgenössische Gesellschaft wurde als Ergebnis eines undemokratischen Bildungssystems, als die Fortsetzung archaischer Strukturen über den formalen demokratischen Wandel in Recht und Politik hinweg begriffen253 – einerseits, weil »die Wurzel des Übels […] nicht so sehr an diesem oder jenem Versäumnis der letzten Jahre, als in der geistes- und politgeschichtlichen Tatsache [liegt], dass demokratisches Denken und demokratische Verfassungen in Deutschland bisher noch nie das Ergebnis politischer Reife und Einsicht waren, sondern die mehr oder weniger unfreiwillige Folge nationalstaatlicher Katastrophen und militärischer Niederlagen, deren Ursachen man nicht oder nur ungenau zur Kenntnis zu nehmen bereit war«254 ; andererseits, weil auch die Schulstruktur sich aus vordemokratischen Zeiten tradiert hatte. Durch die »Gebundenheit des Schulsystems an jene Sozialklasse, aus der sich die Lehrerschaft rekrutiert«, würden »typische Mittelstandswerte« wie »Leistungsrivalität statt Kooperation, Autoritätsrespekt, höflich-korrekte Umgangsformen, Sauberkeit, Ordentlichkeit, Bravheit, moralische Bewertung des Misserfolgs als eines Fehltritts (vom Schüler wird Zerknirschtheit und Reue erwartet), gepflegte Ausdrucksweise, fehlerfreie Rechtschreibung, penible Handschrift« belohnt. Dass Kinder aus unteren Schichten sich dem erst anpassen müssten, wurde deutlich problematisiert255. Gleichzeitig galt es, die Teile des bestehenden Systems zu bewahren, die als 251 Hamm-Brücher, Weltbildung in unserer Zeit, S. 136. 252 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation: Hessen sucht einen Ausweg aus der Sackgasse der Bildungspolitik«. In: Die ZEIT 38/1968. 253 Vgl. Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 71f; ebenso dies., »Die vergessene Provokation: Hessen sucht einen Ausweg aus der Sackgasse der Bildungspolitik«. In: Die ZEIT 38/1968. 254 Hamm-Brücher, Demokratisierung – das große Thema unserer Zeit, S. 2. In: BPI 2/1969, S. 1–3. 255 Heckhausen, Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen Tüchtigkeit, S. 210.
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Grundlage von Freiheit und Demokratie, mithin eben auch als Grundlage der Möglichkeit zur (nicht zielgerichteten) Veränderung ausgemacht wurden, dies war insbesondere die Rechtsstaatlichkeit und die Sicherheitsarchitektur nach innen und außen, die Verfasstheit als freiheitlich-demokratische Grundordnung. Deren Bewahrung genoss den Vorzug vor der Veränderung256. Ziel war also die Angleichung der »Staatsform, in der wir leben, und [der] Gesellschaftsform, in der wir zu leben wünschen«257. Bildungsreform sollte also auch »ein Stück Gesellschaftsreform, […] Fortentwicklung der freiheitlich-demokratischen Ordnung zu verantworteter Mündigkeit des einzelnen, gesellschaftlicher Gruppen und der Gemeinschaft aller Bürger und Gruppen und ihr allmähliches Hineinwachsen in ein künftig vereintes Europa«258 sein. Mit einigen unsystematischen Ausnahmen, wie in diesem Fall Europa, wurde jedoch das Entwicklungsziel der Gesellschaft an sich offengelassen. Es ging also darum, über das Bildungssystem und dann wiederum die Menschen eine reformfähige Gesellschaft zu schaffen, »ohne dass die Richtung dieser Änderung durch Erziehungsmaßnahmen inhaltlich festgelegt werden könnte oder sollte«259. Man wandte sich somit gleichermaßen gegen eine Auffassung, nach der die Schule eine tradierte Kultur einzuüben habe, wie auch gegen eine solche, nach der Schule der Veränderung der Zukunft in eine bestimmte Richtung dienen sollte. Die Schüler sollten der Vielzahl ihrer »alternative futures«260 gewahr werden. Während so nicht aktiv eine neue Gesellschaftsform antizipiert wurde, wurde dabei freilich die alte unmöglich gemacht. War die Chancengleichheit für alle die eine Seite der Medaille, stand auf der anderen der Abbau tradierter »Privilegien bestimmter sozialer Schichten und regionaler Standorte«261 und somit durchaus ein – wenn auch passiver – Veränderungsanspruch. Die »mögliche Folge, dass sich die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Kräfteverhältnisse dadurch ändern, dass auf lange Sicht ein großer Prozentsatz von Kindern aus den unteren Schichten durch einen Bildungsaufstieg Zugang zu führenden Positionen erhält«262, bedurfte durchaus einer Begründung.
256 Vgl. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 139f. 257 Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 71. 258 Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform, S. 38. Das Thema Europa taucht an verschiedenen Stellen ohne tiefere Begründung auf, so auch bei Menke-Glückert, Mögliche Zukünfte europäischer Bildungssysteme, S. 244, und an verschiedenen Stellen bei Edding. 259 Bergius, Analyse der »Begabung«, S. 229f. 260 Vgl. Hamm-Brücher, Weltbildung in unserer Zeit, S. 145. 261 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 31. 262 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation: Hessen sucht einen Ausweg aus der Sackgasse der Bildungspolitik«. In: Die ZEIT 38/1968.
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Das Individuum als normative Quelle Bildung war hiernach also eine individuelle Angelegenheit, bezog sich ganz aufs Subjekt, den Schüler, der sich in seiner Autonomie, seiner Mündigkeit schulen sollte. Erziehung »muss auf der Seite des Kindes sein. Dieses ist das erste und wichtigste Prinzip eines Erziehungssystems, das das kleine Menschenkind und keine Staats- oder Gesellschaftsräson in den Mittelpunkt seiner Bemühungen stellt.«263 Wo auch immer von Gesellschaft die Rede war, ging es nicht um deren Gesamtbild, sondern um die Gesellschaft als Bedingung für das Leben des Einzelnen: »Nach unseren Vorstellungen ist die Gesellschaft kein ideologisch begründeter Fetisch, sondern die Summe einzelner Menschenkinder, die in Frieden und größtmöglicher persönlicher Freiheit ihr Leben gestalten wollen, die fähig sein sollen zur Selbstbestimmung und Mitbestimmung, aber auch zur heute oft geschmähten Toleranz, zum Kompromiss und zur Lösung von Konflikten.«264 Bildungspolitik als Gesellschaftspolitik hieß in diesem Sinne nicht, die Gesellschaft auf ein Idealbild ihrer Gesamterscheinung nach außen zu ändern, sondern die Gesellschaft so zu gestalten, dass sie nach innen ein Maximum an Individualität ermöglicht. Die Gesellschaft sollte eine »Gesellschaft des innengeleiteten Menschen« werden. Diese verbinde »ein Maximum an Gleichheit der Bedingungen mit einem Minimum an Gleichheit des Charakters«, in ihr könnten »die Menschen […] sich als Individuen unterscheiden, weil sie als Bürger gleich sind«. Das Gegenbild war eine Gesellschaft außengeleiteter Menschen, mit deren Beschreibung Dahrendorf eine Warnung vor der Demokratie als einzige oder oberste Maßgabe einer Gesellschaft verknüpfte: »Er mag moralisch sein, aber nur in dem Sinne und Maße, in dem andere es sind. Der außengeleitete Mensch will ununterscheidbar werden von seinesgleichen; er ist der vollkommene Demokrat.«265 Der innengeleitete Mensch als Ziel der Bildung hieß, ihn von äußeren Zwängen zu lösen – in einem Wort: Emanzipation. Klaus Mollenhauer formulierte: »Aufklärung [sollte], sofern sie Selbstbestimmung ermöglicht, der Zweck der Bildungs- und Erziehungspraxis sein. Oder anders formuliert: Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, dass Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjekts haben; dem korrespondiert, 263 Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 79. 264 Hamm-Brücher, Weltbildung in unserer Zeit, S. 144f. 265 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 328f und 334. Weiter : »Der außengeleitete Mensch ist der Mitläufer par excellence. Die liberale Demokratie bedroht seinen Wunsch, nicht anders zu sein, sie ist daher nicht der passende Rahmen für seinen Charakter.« Vgl. auch ebd., S. 386: »Wenn die Rechte und Pflichten der Staatsbürger über die Basis der sozialen Existenz hinausgreifen und auch die Weise der menschlichen Selbstentfaltung noch zu regulieren versuchen, werden sie von der notwendigen Bedingung der Freiheit zu deren Zerstörer.«
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dass das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist. […] Sie wendet sich also kritisch gegen all jene Erziehungsverhältnisse, die die Verdinglichung – die Unterdrückung der Vernunft im Dienste empirischer Heteronomien – weiter betreiben, oder auch gegen solche, die ihr nicht entgegenzuwirken vermögen.«266 Emanzipation sollte also die Lücke zwischen dem Rationalen und dem Bewussten schließen, indem durch Kritik diejenigen Umstände offenbar gemacht werden sollten, die das Individuum von rationaler Erkenntnis abhielten267. Als Chiffre für die Mittel der Emanzipation galt die Wissenschaftlichkeit, in dem Sinne, dass Inhalte nicht einfach übernommen, sondern zumindest hinterfragt und nachvollzogen, wenn nicht verworfen und individuell erweitert würden. »Hierzu gehören unter anderem: das rationale Erfassen von Problemen, Kooperationsfähigkeit, geistige Flexibilität.«268 Gleichermaßen folgte die Idee der Subjektivität von Bildung auch aus der weiter unten ausgeführten Delegitimation allgemeingültiger Werte und Normen. »Letztlich geht es darum, dass jeder einzelne seine Ziele durch persönliche Bekenntnisse legitimiert, sofern er das möchte.«269 Damit wandte sich die Konzeption auch dezidiert gegen materialistische Vorstellungen. Ein Mensch, der Alternativen kennenlerne und zu Reflexion und Kritik angeregt werde, könne sich auch zwischen diesen Alternativen entscheiden. Die materiellen Bedingungen, Milieu-, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit hätten zumindest keine unüberwindbare Bedeutung270. Die Konzeption stand also in gewisser Weise auch in der Tradition der Bildungsreformer des 19. Jahrhunderts, die bereits damals das Bildungswesen im Dienste der Aufklärung verortet wissen wollten271. Eine weitere Grundlage der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption war damit die formale Wertneutralität272. Was über die angenommenen Grundwerte der Demokratie oder das Demokratisierungspostulat273 hinausging, sollte nicht das Ziel von Bildungspolitik sein. Unbestritten, dass Pädagogik einen »sozial-normativen Bezugsrahmen«274 brauche, also a priori gesetzte Ziele, focht man jene kommunitaristische Ansicht an, Gesellschaften müssten einen breiten Wertekonsens aufweisen, um zu bestehen: »Dass Gesellschaften durch eine Art Übereinstimmung der Werte zusammengehalten werden, scheint mir entweder 266 267 268 269 270 271 272 273 274
Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 9. Vgl. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 11. Vgl. Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 134f. Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 49. Vgl. von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 49. Vgl. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 156, S. 173. Vgl. Hamm-Brücher, Edding, Reform der Reform, S. 29. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 32. Ebd., S. 29.
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eine Definition von Gesellschaften oder eine Aussage, der empirische Zeugnisse klar widersprechen.«275 Man wandte sich also gegen erzieherische Maßnahmen zur Einübung bestimmter gesellschaftlicher Normen, gegen die Funktionalisierung der Bildung für einen festgelegten Kanon an Verhaltensweisen. Im Sinne des Erhalts der pluralistischen Gesellschaft spricht sich von Cube gegen irgendjemandes »Privileg, die eigenen Werte und Normen auf Kosten des Staates an unmündige Kinder zu vermitteln«, aus276. Es gebe keinen »Anspruch auf absolute Wahrheit«, den sowohl einige Reformisten als auch Traditionalisten mit »metaphysischen Vorstellungen« reklamierten; ob dies aus »objektivem Geist oder Weltgeist« auf der einen Seite oder aus dem »historischen Gesetz« auf der anderen Seite abgeleitet werde, sei egal, beides sei anmaßend und in seinem Objektivitätsanspruch pseudowissenschaftlich277. Die Kraft des Konflikts Klaus Mollenhauer führte die »Dysfunktionalität der Erziehung«278 als Konzept in die Debatte ein, das bereits auf didaktische Instrumente zur Umsetzung der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption im Unterricht hindeutete. Er kritisiert die allein auf ihren Störcharakter279 reduzierte Thematisierung dysfunktionaler Phänomene280 – also letztlich von Konflikten –, in denen sich die Heterogenität einer Gesellschaft ausdrückt. Dahrendorf legte seinen Ideen eine Gesellschaft zugrunde, in der Konflikte die Regel und Voraussetzung eines allgegenwärtigen Wandels seien, aber »Stabilität und Ordnung der pathologische Sonderfall des Lebens«281. Von Cube befand den »Lernzielstreit [als]konstitutiv für eine pluralistische Gesellschaft: Solange wir eine pluralistische Gesellschaft sind, solange wir also unterschiedliche Werte gelten lassen, solange wird es auch den Lernzielstreit geben.«282 Mit den Themen Emanzipation und Subjektivität ist somit der Begriff des Konflikts eng verwoben. Würden Konflikte im gesellschaftlichen Miteinander 275 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 93. 276 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 44. Vgl. auch Girgensohn, Viel zu wissen ist zu wenig, S. 14. 277 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 47f. 278 Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 22ff. 279 Ebd., S. 29. 280 Als Beispiel von Dysfunktionalität nennt Mollenhauer die Abweichung der mittelständischen Sprachnormen, derer sich Lehrer bedienen, von der Sprachfertigkeit von Kindern aus der Unterschicht, die als Konflikt offenbar werde (vgl. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 33). 281 Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 81: »Diese dynamische, offene, mündige und freie Gesellschaft ist das genaue Gegenteil zur statischen, harmonisierten und formierten Idylle.« Vgl. auch ebd., S. 128f. 282 Von Cube, Deutsche Bildungspolitik zwischen Traditionalismus und Reformismus, S. 45.
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als dysfunktional wahrgenommen und somit ausgeschieden, unterdrückt oder nicht zur Kenntnis genommen283, käme einer »realistischen Erziehungswissenschaft«284 die Aufgabe zu, Konflikte aufzunehmen und zu thematisieren, um das rationale Bewusstsein zu fördern. Bestehe keine Übereinstimmung zwischen den Normen, die in der Schule vermittelt würden, und den Normen, die für die gesamte Gesellschaft gälten, könne die Schule nur entweder zu Werten erziehen, hinter denen sie nicht stehe, oder aber »ihre Schüler für den Konflikt vorbereiten«285. Politik sei in der Demokratie und einer pluralistischen Gesellschaft immer als Ergebnis von Konflikten aufzufassen: »Charakteristisch für alle zentralen politischen Entscheidungen – sei es nun die Ostpolitik, die Mitbestimmung oder das Strafrecht – sind die Kontroverse, die Unterschiedlichkeit der Standpunkte, Forderungen und Ziele, der Konflikt.«286 Da der Begriff des ›Konflikts‹ auch sehr stark von der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation besetzt wurde, wurde dieser Standpunkt deutlich als Konflikte, »die der Einzelne beständig austragen und lösen muss« (und keine Klasse, kein Kollektiv, keine soziale Schicht) abgegrenzt: »Das Wort ›Konflikt‹ ist freilich nach dem Verständnis […] nicht wie für den dogmatischen Marxismus ein Synonym für ›Klassenkampf‹.«287 In all dem – im Bild der pluralistischen, dynamischen Gesellschaft, in der Analyse der Gesellschaft als bezogen auf den einzelnen Handelnden, in der Betonung von Dysfunktionalität und Konflikt – spiegelt sich Ralf Dahrendorfs soziologische Theorie, nach der die Beschreibung der Elemente einer Gesellschaft anhand ihrer Funktionalität für eine sie bestimmende und wiederum von ihnen getragenen Struktur keinen beobachtbaren Wandel erklären kann und somit im Umkehrschluss eine Systematik angelegt werden müsse, nach der Konflikte als funktional für die Entwicklung einer Gesellschaft gesehen werden müssten288. Damit baute er die Brücke, die Soziologie aus dem Strukturalismus zu holen und jenseits des Neuhumanismus wieder dem Individuum289 zu öffnen. Die Differenz zum gesellschaftlich-emanzipativen Ansatz, wie noch zu sehen sein wird, liegt in der Betrachtung von Wandel: Dahrendorf verlangt die »galileische Wendung«, Wandel als die Regel anzuerkennen, Stabilität als Ausnahme. Die Beziehung zwischen Konflikt und Wandel ist in diesem Sinne gegenseitig, nicht konsekutiv. Wandel ist nicht politisches Postulat, sondern natürliche Gegebenheit. Der Ausdruck Wandel ist passivisch gemeint. Im gesellschaftlich283 284 285 286 287 288 289
Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, S. 29. Ebd., S. 31. Hamm-Brücher, Edding, Reform der Reform, S. 29. Girgensohn, Viel zu wissen ist zu wenig, S. 9. Ebd., S. 9. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 81. Vgl. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 81.
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emanzipativen Ansatz hingegen werden die Strukturen dahingehend analysiert, dass sie Wandel unterdrücken. Wandel folgt hier aber auf Konflikt, und die – aktivisch ausgedrückte – Veränderung ist normatives Postulat. Wo also die individualrechtlich-emanzipative Konzeption in ihrer Theorie einer Gesellschaft die Möglichkeit zur eigenen Entfaltung (der Konflikte) geben musste, um Raum für Wandel bereitzustellen, also eine weitgehende Passivisierung von Herrschaft forderte, wollte die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption Herrschaft zur Herbeiführung von Konflikten aktivieren, durch die die Gesellschaft hin zu einem höherwertigen Gleichgewicht verändert würde. (Ob in der erwarteten Utopie hingegen noch Konflikte möglich wären, blieb unklar.)290 Diese Vorstellung erinnert, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, an eine marxistisch-teleologische Theorie des Fortschritts per sozialem Konflikt. Noch mehr wandte sich diese theoretische Grundlage gegen funktionalistische Vorstellungen wie in der Bedarfskonzeption: »Im Funktionalismus bleiben Probleme des Konflikts stets schwer zu bewältigende Randerscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, sie stehen aber im Zentrum jeder Analyse im Lichte des hier versuchten theoretischen Ansatzes.«291 Bildung galt zwar als frei vom Zwang gesellschaftlicher Bedarfe; das hieß aber nicht, dass diese Art der Bildung nicht trotzdem eine Antwort auf die veränderte Berufs- und Arbeitswelt geben sollte: »Man akzeptiert noch das Bild, dass man einmal fürs Leben lernt, und zwar ein ›Handwerk‹, und dass die berufliche Ausübung die Anwendung dieses Wissens und Könnens ist. Praxisnahe Interdisziplinarität hingegen würde verlangen, dass schon im Studium problemorientiert gearbeitet wird, dass die Verfolgung eines disziplinären Studienziels höchstens den Charakter einer beispielhaften methodischen Abrundung hat und dass verallgemeinerte Lernziele wie Kooperativität, Suchverhalten, Durchhaltefähigkeit, Flexibilität in den Vordergrund treten.«292 Auch die Wirkung der Berufswelt auf das Individuum wurde thematisiert. Bei allem Nutzen einer effizienten Berufsbildung für die Wirtschaft ließ sich gerade eine qualitätsvolle Berufsausbildung auch emanzipatorisch begründen. Mit Perspektive auf den künftigen Arbeitsplatz sichere die berufliche Bildung nämlich dem Einzelnen die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit293. Dort müsste er dann allerdings nicht reine Funktion, sondern in der Lage sein, seine Tätigkeit auch zu reflektieren. Wo im dualen Ausbildungssystem bislang alleine auf die Funktion hin ausgebildet wurde, sollte ein stärkeres öffentliches Engagement dieselbe emanzipative Bildung integrieren wie in der traditionellen Allgemeinbildung294. Eine »Entspezialisierung der beruflichen Grundbildung« 290 291 292 293 294
Vgl. ebd., S. 126f. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 127. Von Weizsäcker, Gesamthochschule, S. 167. Vgl. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 91. Vgl. Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 10.
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sollte nicht nur die Volatilität des Arbeitsmarktes widerspiegeln, sondern gleichzeitig die Biographien von Nichtakademikern flexibler machen295. Anhand dieser Punkte, des Bezugs auf das Grundgesetz als letztinstanzlichen Deduktionspunkt, der Analyse der Situation der Gesellschaft, der Zielsetzung der Emanzipation bei gleichzeitiger Wertneutralität, damit verknüpft der Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft und daraus abgeleitet dem Prinzip des Konflikts, wurden die der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation zugrundeliegenden Ansichten aufgezeigt. Die Ausgangspunkte dieser Konzeption lagen also in einer liberalen Interpretation der Verfassung und der Bestimmung einer positiven Freiheit zur Bildung als Bürgerrecht. Daher ist der Name dieser Diskursformation auch nicht schlicht individuell oder subjektiv, sondern individualrechtlich-emanzipativ. Begrifflichkeiten wurden aber auch zeitgenössisch unterschiedlich gefüllt, weshalb nicht hinter jeder Formulierung des Bürgerrechts auf Bildung auch ein Konzept stand, das dieser Konzeption entsprang296.
Freiheitliche Strukturen für emanzipative Bildung Mit den Theorien der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation verbanden sich auch praktische Ideen zu ihrer Umsetzung in Struktur und Inhalten von Schule und Unterricht, die in der Folge ausgeführt werden, begonnen mit der obersten, der politischen und administrativen Ebene. Demokratische Zurückhaltung als Prinzip politischer Einflussnahme Die freiheitlichen Ideen individualistischer, emanzipativer Bildung sollten sich im gesamten Bildungsraum fortsetzen, von ganz oben bis ganz unten: »Freiheitliche Bildungsreform verlangt schließlich, dass die strukturelle Entwicklung von Schule und Hochschule freiheitlich angelegt ist.«297 Mit vielen anderen298 forderte Hellmut Becker Freiheit für Schulen299, für Lehrer300, für das Bil295 Ebd., S. 64f. 296 Willy Brandt forderte beispielsweise, dass das Bildungssystem »gleichzeitig das Bürgerrecht auf Bildung sowie den Bedarf der Gesellschaft« berücksichtigen solle. Ralf Dahrendorf, Pate des ›Bürgerrechts‹ hingegen wendete sich gegen jegliche Bedarfsorientierung in der Bildung: Brandt, Willy, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, Bonn 1969, S. 21 und Dahrendorf, Ralf, Bürgerrecht, S. 22. 297 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 36. 298 Vgl. Evers, Modelle, S. 23; Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 36; Ulshöfer, Grundsätze einer demokratischen Schulverfassung, S. 135f. 299 Vgl. Becker, Quantität und Qualität, S. 93 u. 177. Vgl. auch Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform, S. 46.
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dungswesen im Ganzen und die einzelnen Glieder, aus denen es sich zusammensetzte: »Zum rechten Gebrauch der Freiheit erziehen kann eine Schule, der man selbst Freiheit gewährt; zur Selbstverantwortung erziehen kann der Lehrer, der selbst freiwillig Verantwortung übernimmt. Das Prinzip der Freiheit ist konstitutiv für eine demokratische Schulverfassung.«301 Das Credo lautete: »Bildungsarbeit ist nur in Freiheit möglich.«302 Kritik ging im Umkehrschluss an steuernde Schulverwaltungen und Ministerien in den Ländern, die nach dieser Auffassung die Lehrer in ihrer pädagogischen Freiheit einschränkten303. Freiheit, weniger als Bildungsziel als als -mittel, war für Becker der Kern der Reformen. Bildung wurde von ihm konsequent als Teil von Kultur begriffen, allerdings nicht im klassischen Sinne zur Tradierung einer bestehenden Kultur, sondern als Institution, die Kultur verarbeitete und hervorbrachte und dadurch in allen Bereichen der Gesellschaft innovativ wirkte. Ziel war die Selbstverwaltung der Kultur im Allgemeinen, der Schule im Besonderen, um die schöpferischen Kräfte zu entfalten, dazu sei ›Kulturpolitik‹ statt ›Kulturverwaltung‹ vonnöten. Friedrich Edding ging bei der Strukturkritik noch einen Schritt weiter und nannte die »Konzentration bestimmter Funktionen in Schulen und Hochschulen« ein Monopol, das monopoltypische Symptome aufweise: »Selbstüberschätzung, Machtmissbrauch, Separation vom Leben der übrigen Gesellschaft, Vermittlung von Wissen als Selbstwert, Ineffizienz«. Er forderte die Entschulung der Bildung, eine Wiedergewinnung vielfältiger Lernorte304 und das »Lebenslange Intervall-Lernen«, also auch »Flexibilität und Mobilität« in der zeitlichen Dimension305. Allenthalben war Kritik an der »verwalteten Schule« zu vernehmen – sie war das existente Gegenbild einer »pädagogischen Schule«, die ihrem Bildungsauftrag nachkommt. Erstere, geprägt von »Richtlinien, die wie Gesetze beachtet werden, […] Stoff- und Bildungsplänen, […] Verboten und Weisungen der Schulbehörde im Einzelfall«306, konzentrierte sich darauf, zu selektieren, zu regeln, zu kontrollieren: »In der verwalteten Schule muss die schöpferische Phantasie ersticken.«307 Schulbehörden und Schulaufsicht sollten den Schüler aber besser beraten, statt zu steuern, »damit er die Bildungsangebote und Lernmöglichkeiten wählen kann, die die Entfaltung seiner Persönlichkeit fördern und ihm gleichzeitig berufliche und gesellschaftliche Chancen bieten.«308 Nach 300 301 302 303 304 305 306 307 308
Vgl. Becker, Quantität und Qualität, S. 162. Vgl. auch Bildungsrat, Strukturplan S. 218. Ulshöfer, Grundsätze einer demokratischen Schulverfassung, S. 135. Becker, Quantität und Qualität, S. 182. Vgl. Becker, Quantität und Qualität, Kapitel 2: »Die Verwaltete Schule«. Hamm-Brücher, Edding, Reform der Reform, S. 27–30 und 33ff. Ebd., S. 32f. Becker, Quantität und Qualität, S. 176. Evers, Modelle, S. 23. Bildungsrat, Strukturplan, S. 91. Vgl. auch Erdmann, Planungen des Deutschen Bildungsrates, S. 31.
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dieser Perspektive bestimmte die Detailsteuerung der »absolutistischen Schulverwaltung«309 die Ausgestaltung von Schule und Unterricht und nicht die Pädagogik. Dem wurde eine prägnante Lesart des Grundgesetzes entgegengehalten: »Wenn das Grundgesetz im Art. 7 Abs. 1 sagt: ›Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates‹, dann ist damit eine gewisse Eigenständigkeit des Schulwesens angedeutet. Es ist rechtlich ein großer Unterschied, ob eine Angelegenheit Sache des Staates ist oder staatlicher Aufsicht unterliegt. […] Es ist daher wichtig, einmal wieder klarzustellen, dass Aufsicht nur im äußersten Notfall Anweisung und Regelung, grundsätzlich aber nur vorsichtige Überwachung im Sinne der Verhütung von Gefahren bedeuten sollte.«310 Entsprechend schlug der Bildungsrat zunächst eine Organisationsordnung vor, die die Steuerungsfunktion des Staates auf »die Planung des Bildungswesens und die Formulierung von Lernzielen« limitierte und den »Bildungsinstitutionen […] in diesem Rahmen eine begrenzte Selbständigkeit« zumaß311. Damit stellte er sich gegen die bestehende Praxis »staatlicher Herrschaft« und verlangte, die staatliche Macht im Bildungswesen maßgeblich auf die Ausarbeitung von Vorschlägen, die Gewährleistung der Kapazitäten, eine ausreichende Grundfinanzierung und eine weitreichende Aufsicht, die neben der Gewährleistung von Mindeststandards die Leitlinien der Bildung zu setzen hatte, zu begrenzen. Die Frage staatlicher Schulträgerschaft wurde hingegen nicht angefochten, ihre Ausweitung in bestimmten Bereichen wie der Berufsbildung sogar befürwortet312. Als ausschlaggebend für die Legitimität staatlicher Einflussnahme überhaupt wurde gesehen, dass diese als politisches Handeln ihre Begründung in einer darlegbaren »öffentlichen Gesamtverantwortung« finden konnte, also keine partikularen Ziele verfolgte. Diese Forderung betraf insbesondere die Finanzierung der Schulen. Als gängige Praxis wurde eine Art bedingter Finanzierung erkannt, also die Verknüpfung staatlicher Finanzierung mit einer Einflussnahme auf die Inhalte, was kritisiert wurde313. Mehr Selbständigkeit für die Schulen, sowohl für private als auch für staatliche314, waren eine weitreichende Forderung, die im Kern eine maximale Ausdifferenzierung des Schulsystems zum Ziel hatte: »Auf diese Weise entsteht im Rahmen der staatlichen Gesamt309 Becker, Qualität, S. 177. 310 Ebd., S. 166. 311 Bildungsrat, Strukturplan S. 260. Der Gedanke der Schulautonomie wurde 1973 von der Bildungskommission weiterentwickelt und geriet zur Forderung, Schulen sollten selbständig sein, sodass alle Entscheidungen selbst getroffen und lediglich noch in manchen Fällen zu genehmigen seien. Vgl. aus den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen vom 23. Mai 1973, S. 224ff. In: Anweiler et al., Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990. 312 Vgl. Bildungsrat, Strukturplan S. 260f. 313 Vgl. ebd. S. 260f i. V. m. ebd., S. 258. 314 Bildungsrat, Strukturplan S. 262.
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verantwortung ein differenziertes System unterschiedlicher Selbständigkeit, das von der rein staatlichen Bildungseinrichtung über vielfältige Formen der Selbstverwaltung im staatlichen und kommunalen Bereich und die Institutionen der Kirchen und Verbände bis zu privaten Einzeleinrichtungen mit ausgeprägter Selbständigkeit reicht. […] Dabei soll die Ausübung der öffentlichen Gesamtverantwortung die für die Entwicklung des Bildungswesens fruchtbaren Unterschiede nicht einebnen, sondern umgekehrt unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und auch die Rechte von Einzelnen und von Minderheiten respektieren.«315 An dieser Stelle, wo den Schulen selbst ein größerer Entscheidungsspielraum zur Verfügung stehen sollte, bekamen Fragen innerschulischer Demokratie, der Mitbestimmung von Schülern und Eltern sowie der Träger einen ganz anderen, realeren, weil auch materiell wirksamen Stellenwert316. Mit diesen Vorstellungen ging einher, dass auch die innerschulische Demokratie »nicht von außen dekretiert werden, sondern […] von innen her wachsen« müsse. In einer ständigen Reform zu einem möglichst freien Miteinander aller beteiligten Kräfte zu kommen, war das Ziel in der strukturellen Umsetzung der Reformen317. Weiterhin auf struktureller Ebene wurde die Frage der Ebene politischer Verantwortlichkeit kontrovers thematisiert. Sprach Hildegard Hamm-Brücher sich in aller Konsequenz für eine Zentralisierung der Bildungspolitik auf Bundesebene aus, wurde an anderer Stelle die Kultur- beziehungsweise Bildungshoheit der Länder verteidigt. Nach der Prämisse, ein möglichst differenziertes und der individuellen Nachfrage entsprechendes Bildungswesen zu schaffen, wurde – auch im Sinne der oftmals insgesamt liberal eingestellten Vertreter dieser Konzeption – die Alternative eines »privaten Käufermarktes« für Bildungsangebote andiskutiert. Dass dies aber nur ein Gedankenexperiment blieb, war der einhelligen Ansicht geschuldet, »so verlockende Aspekte eine solche extrem liberale Ordnung hätte, sie ist kaum mit dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit durch gleiche Bildungschancen zu vereinen. Sie setzt auch zu viel Vertrauen in Einsicht und Voraussicht des Durchschnittsbürgers bei der Wahl der ihm offenen Bildungsmöglichkeiten.«318 Blieben also als Alternativen die föderale Organisation durch die Bundesländer oder die zentrale Organisation durch den Bund. Hier trugen zumeist funktionale Argumente: Es ging darum, wie die Planung besser zu bewerkstelligen sei, welcher Stellenwert Bildung auf Landesoder Bundesebene zugemessen werden könne, und zuletzt, wie Differenzierung der Bildungsangebote besser darstellbar sei: »Wenn es um das Prinzip geht und 315 Ebd. 316 Vgl. Bildungsrat, Strukturplan S. 263–266. Ähnliche Forderungen bei Ulshöfer, Grundsätze einer demokratischen Schulverfassung, S. 135. 317 Vgl. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 79f. 318 Edding, Bildung und Politik, S. 21.
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nicht um den Buchstaben des Föderalismus, dann ist der bisher in einzelnen Bundesländern praktizierte Zentralismus genauso abzulehnen wie der gesamtstaatliche oder übernationale Zentralismus.«319 Hellmut Becker attestierte dem Zentralismus innerhalb der Länder gar, dass er »die Verwaltungspraxis des Dritten Reiches« noch übertreffe320. Hamm-Brücher argumentierte, leite man aus dem Grundgesetz ein Bürgerrecht auf Bildung ab, so schließe dies mit ein, gleiche Voraussetzungen im gesamten Bundesgebiet zu schaffen. Den Bildungsföderalismus lehnte sie damit ab321.
Individualisierung und Differenzierung als pädagogisches Grundprinzip ›Individualisierung und Differenzierung‹ war die pädagogische Leitlinie der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption. Der Begriff der Individualisierung war dabei auf den Schüler bezogen: »Die Grundsätze der Chancengleichheit und der bestmöglichen Förderung des einzelnen verlangen, dass die unterschiedlichen Interessen, Motivationen und Fähigkeiten der Lernenden von allen Bildungseinrichtungen zu berücksichtigen sind.« Die Differenzierung bezog sich komplementär auf das Bildungssystem: »Deswegen müssen die Lernangebote so vielfältig sein, dass der Lernende seinen Bildungsweg individuell gestalten kann.«322 Das Ideal als unerreichbarer Horizont war ein maßgeschneidertes Bildungsangebot für jeden Einzelnen. Man ging davon aus, dass jedes Individuum spezielle Bedürfnisse hat, die auf seine Neigung und seine Begabungen zurückzuführen seien, jeder habe unterschiedliche Interessen, jeder eine andere Auffassungsgabe, komme mit anderen Methoden besser zurecht etc. Kompensatorische Pädagogik hieß zwar, »Förderung aller statt der Auslese weniger« – aber dennoch nicht die gleiche Pädagogik für alle, sondern »ein vielfältiges Bildungsangebot für alle Begabungen statt einer Überbewertung philologischhistorischer Bildungsgüter«323. Für die Ausgestaltung hieß das, »das künftige deutsche Schulwesen soll so organisiert sein, dass es aus sich selbst heraus fördert und verteilt«324, also dem Einzelfall angemessene Bildungsbiographien von selbst entstünden und kein aktiv steuernder Eingriff des Staates nötig wäre. 319 320 321 322 323
Ebd., S. 23. Becker, Quantität und Qualität, S. 171. Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform, S. 18. Bildungsrat, Strukturplan, S. 36. Vgl. ebd., S. 70. Hamm-Brücher, Bildungsreform als Teil der Gesellschaftsreform, S. 150. Vgl. auch Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 17. 324 Zur Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen, Aus der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates vom 7./8. Februar 1969, S. 166. In: Anweiler et al., Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990.
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Die Frage, wie man diesem Ideal am nächsten komme, spannte sich über zwei Ebenen: einer äußeren, die die Ordnung des Bildungssystem insgesamt betraf, und einer inneren, die Schulleben und Unterricht umfasste. Differenzierungsfragen – Die Struktur des Schulwesens Die kontroverse Frage der Gesamtschule Auf der äußeren Ebene wurde insbesondere die Frage, ob die Gesamtschule oder ein gegliedertes Schulsystem geeigneter wäre, diskutiert und recht unterschiedlich beantwortet. Die Klammer, innerhalb derer die verschiedenen Modelle diskutiert wurden, hieß auch hier ›Individualisierung und Differenzierung‹: »Ein Bildungswesen, das jeden Lernenden entsprechend seinen Fähigkeiten und Interessen bestmöglich fördern will, wird deshalb durch die Wahl- und Leistungsdifferenzierung den Anforderungen der Individualisierung gerecht zu werden versuchen.«325 Die Frage war also, ob ein möglichst vielfältiges Bildungsangebot am besten durch eine möglichst große Vielfalt von Schulen oder durch eine möglichst starke Differenzierung innerhalb ähnlicher Schulen umzusetzen sei – Differenzierung nach innen oder nach außen? Die Wahl eines Bildungsgangs sollte nie die endgültige Entscheidung über die eigene Bildungsbiographie und im Zweifel noch die berufliche Laufbahn werden, sondern so lange wie möglich korrigierbar bleiben326. Der von Dahrendorf beratene327 baden-württembergische Kultusminister Hahn (CDU) deutete den Vorrang der »individuellen Entfaltung« so, dass es um eine erhöhte »Durchlässigkeit zwischen den Schularten« gehe328. Damit nahm er auch die Grundposition derer ein, die zwar die Gesamtschule etablieren wollten, aber bis zur entsprechenden Durchsetzung die Verankerung besagter Prinzipien im gegliederten System befürworteten329. Er stimmte explizit den Gesamtschulbefürwortern in ihren Zielen zu, »Sackgassen und Fehlentscheidungen möglichst zu vermeiden und den Bildungsprozess zu differenzieren und zu individualisieren«. Sein Ziel war auch kein Festhalten am traditionellen System, ihm ging es darum, dieses zu entwickeln. Es befinde sich schließlich schon im »Prozess der Veränderung auf eine differenzierte Stufenschule hin«330. Gerade im 325 Bildungsrat, Strukturplan, S. 36f. 326 Vgl. Bildungsrat, Strukturplan, S. 38. 327 Vgl. Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 139f. Ebenjener Hochschulgesamtplan firmierte später zumeist unter dem Namen »Dahrendorfplan«. Siehe Grüttner et al. (Hrsg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen: Universität und Politik im 20. Jahrhundert, S. 270. 328 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 34. 329 Vgl. Bildungsrat, Strukturplan, S. 38. 330 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 71.
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Sinne der Chancengleichheit sei aber eine Differenzierung »nach Alter, Begabung und Leistung« geboten. Das Postulat prinzipiell gleicher Begabung sei eine längst widerlegte »Zweckbehauptung« zur Legitimation falscher Nivellierungstendenzen331. Den radikalen Umbruch zur Gesamtschule sah er weder als praktikabel, noch als zielführend an332. Vielmehr wollte er »die beruflichen Ausbildungsgänge als gleichwertige Aufstiegswege zu höheren Abschlüssen«333. Auch Hellmut Becker sprach sich gegen die Gesamtschule und für »die besonders vielfältige, die differenzierte Schule«334 aus. Die Idee war ein möglichst vielfältiges Bildungsangebot335. Er ging sogar so weit, zu glauben, »dass jeder Unterricht und jede Prüfung für Mädchen anders aussehen soll als für Jungen« – nicht, weil er jenen eine andere Begabung oder sogar andere Rechte zumaß als diesen, sondern weil er sie für »nicht gleichartig« hielt336 und Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln wollte. Mit dem Prinzip der Individualisierung und Differenzierung außerhalb der Gesamtschule konnten sich weite Kreise auch im bürgerlich-konservativen Spektrum anfreunden, gerade weil damit noch keine weiteren inhaltlichen Festlegungen verbunden waren und der Anschluss an das bestehende System gegeben war. Auch Bernhard Vogel forderte klar die Förderung des Einzelnen durch differenzierte, aber gleichrangige Bildungsbiographien und meinte, »eine solche Differenzierung und Individualisierung der Schullaufbahnen muss durch Übergangsmöglichkeiten ergänzt werden, die die Korrektur einer einmal getroffenen Schullaufbahnentscheidung ermöglichen«337 – nicht, ohne sogleich klarzustellen, dass damit keine Abweichung von inhaltlichen Verbindlichkeiten angestrebt werde. Eine Vielzahl verschiedener Schulformen erschien so weit stichhaltig, jedoch galt selbiges auch für die Einführung einer Gesamtschule. Hildegard Hamm-Brücher, Hartmut von Hentig und einige andere sahen die Gesamtschule338 als das Modell, das die genannten Ziele am ehesten erreichen könne: »Mit Gesamtschulen allein schaffen wir noch keine gesellschaftliche Chancengerechtigkeit, wohl aber die Voraussetzungen für den Abbau der eklatanten Chancenungleichheiten und ein freiheitliches Zusammenleben in einer 331 332 333 334 335 336 337 338
Ebd., S. 12f. Ebd., S. 71. Vgl. auch ebd., S. 87. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 90. Becker, Qualität, S. 225. Ebd., S. 239f. Ebd., S. 265. Vogel, Stand und Weiterentwicklung des Schulwesens in Rheinland-Pfalz, S. 4. Für die Gesamtschule wurden verschiedene Begrifflichkeiten mit unterschiedlichen Konnotationen verwendet. Während die Einheitsschule an das Schulsystem der DDR erinnerte und daher negativ besetzt war, verwandte beispielsweise die FDP den Begriff der offenen Schule, um sich von der Gesamtschule abzusetzen, die immer mehr synonym zu ihrem Unterbegriff der Integrierten Gesamtschule mit egalisierender Funktion verwandt wurde.
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sozialen Demokratie«339, so Hamm-Brücher. Es ging nicht darum, jedem Schüler die gleiche Bildung angedeihen zu lassen; vielmehr war man der Auffassung, die Gliederung in drei Schularten sei zu grob, und statt einer Segmentierung müsse es eine Partikularisierung der Bildung geben: »Stattdessen findet [in der Gesamtschule] eine viel weitergehende Differenzierung und Individualisierung entsprechend der unterschiedlichen Befähigung der vielen Einzelnen statt.« Das gegliederte Schulsystem komme aus einer vordemokratischen Zeit, sei ursprünglich ständisch gegliedert und auch darauf ausgerichtet, eine derartig differenzierte Gesellschaftsordnung fortzuschreiben340. Edding sekundierte, »mannigfache Wahlmöglichkeiten« und ein »unterschiedlich schneller Durchlauf« in einem horizontal gegliederten System würden am besten »individuellen Wünschen und Fähigkeiten Rechnung tragen«341; und auch Hartmut von Hentig schränkte ein, die Gesamtschule wolle die Chancengleichheit ja »nicht allein oder womöglich um den Preis all dessen, was gute Pädagogik sonst noch gewollt hat«342. Carl-Heinz Evers beschrieb die Gesamtschule als »offenes, flexibles System, in dem stets neue Lernmotivationen gesetzt werden und in dem Übergänge ohne Bruch und ohne Verlust an Sozialprestige erfolgen können«. Für ihn stellte die Gesamtschule die »Demokratische Leistungsschule« dar, die sowohl »sozial integrieren« als auch die Leistungsfähigkeit des Einzelnen fördern sollte343. Durch die Auflösung von Milieusperren und die Entlastung der Eltern von der Entscheidung der Wahl einer weiterführenden Schule sollte Chancengleichheit geschaffen werden. Das Bildungssystem nicht nur zu korrigieren, sondern umfassend zu revidieren, schien also logische Konsequenz dieser Bildungskonzeption344. Dem Differenzierungsprinzip sollte in der Gesamtschule einerseits durch Differenzierung innerhalb der Klasse, also individuelle Förderung, andererseits aber auch durch kursbezogene Differenzierung nach Leistung Rechnung getragen werden. Zusätzlich zu dieser Differenzierung des Unterrichts sollte es flexible Förderangebote, befristete Binnendifferenzierungen der Klassen in Lerngruppen mit unterschiedlichem Anspruchsniveau und eine Schaffung zusätzlicher Qualifikationsangebote außerhalb des Curriculums, aber innerhalb der Schule (Wahldifferenzierung) geben345. Der Primat dieser BinnendifferenHamm-Brücher, Gesamtschule – Schule der Demokratie, S. 83. Vgl. Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 71. Hamm-Brücher, Edding, Reform der Reform, S. 18. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8. Evers, Modelle, S. 76f. Vgl. auch Sander, Rolff, Winkler, die Demokratische Leistungsschule, S. 5–7. 344 Vgl. Hamm-Brücher, Gesamtschule – Schule der Demokratie, S. 88. 345 Vgl. Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen vom 23. Mai 1973, S. 263f. In: Anweiler et al., Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990.
339 340 341 342 343
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zierung zur Individualisierung der Bildungsangebote unterschied diesen Gesamtschuldiskurs von dem der gesellschaftlich-emanzipierten Konzeption, wo die Integration vorrangig war. Die Entwicklung hin zur Gesamtschule hätte demnach sich wie folgt darstellen können: »Hauptschule, Realschule und Gymnasium sollen schrittweise zu einem Gesamtschulsystem zusammengefasst werden. Die punktuelle Auslese nach dem vierten Schuljahr soll durch ein gegliedertes System individueller Förderung in den Klassen 5 und 6 (Orientierungsstufe) und eine wachsende Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Pflicht- und Wahlfächern in den Klassen 7 bis 10 der Sekundarstufe I ersetzt werden. Die Integrierte Gesamtschule soll schrittweise erprobt und eingeführt werden. […] Für alle Jugendlichen wird ein erster Sekundarabschluss (Abitur I) nach zehnjähriger Schulzeit angestrebt.«346 In dieser Beschreibung findet sich das wichtigste Prinzip zur Gesamtschulentwicklung, nämlich die Horizontalisierung des Schulsystems: Das bedeutet, dass die vertikale Trennung zwischen den einzelnen Schularten zunächst ergänzt und langfristig ersetzt würde durch eine horizontale Gliederung nach Schulstufen, die eine stärkere Durchlässigkeit gewährleisten würde. Ganz dem – langfristigen – Ziel der Gesamtschule verschrieben war die »Schule für das Jahr 2000« von Carl-Ludwig Furck347, die »diese Vielförmigkeit in der Einheit eines großen Systems«348 abbilden wollte: horizontal gegliedert in Kindergarten, Vorschule, Grundschule, Förderstufe, Hauptschule und dann entweder Studienschule, Studienkolleg und Universität oder Berufsfachschule, Ausbildung, Fachhochschule und dann wiederum Studienkolleg und Universität349. Übergänge sollten dabei halbjährlich möglich sein und nach einzelnen Fächern so flexibel wie möglich gehalten werden350. Ob Gesamtschule oder nicht, hing auch von der jeweiligen Vorstellung der Gesamtschule ab. Für Dahrendorf war nämlich nicht diese selbst das Problem, sondern die gesellschaftliche Entdifferenzierung, mit der die Chancengleichheit zu oft verwechselt wurde: »Sie führte […] nicht mehr zur Herstellung gleicher Chancen für ein ungleiches Angebot von Bildungsgängen, Besoldungsgruppen, Sozialpositionen überhaupt, sondern zur Angleichung dieser Positionen selbst.«351 Die Idee der Gesamtschule konnte also adäquat sein für die individualrechtlich-emanzipative Position; sie war aber zu sehr Teil des gesellschaftlich-emanzipativen Diskurses, als dass sie auch in der Umsetzung der ›Individualisierung und Differenzierung‹ hätte entsprechen können. Eine Kompro346 347 348 349 350 351
Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 10. Furck, Carl-Ludwig, Schule für das Jahr 2000. Ebd., S. 195. Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 145.
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missformel des Bildungsrats, die die beiden Standpunkte wohl überbrücken konnte, lautete: »einerseits bisher gegeneinander isolierte Bildungsinstitute stärker integrieren, andererseits die Bildungswege und Bildungsangebote innerhalb der Bildungsinstitutionen stärker differenzieren«352 – darunter konnten sowohl die stärkere Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schularten in kurzer Frist als auch die Einführung der Gesamtschule in langer Frist gefasst werden, während im anzustrebenden Prozess Einigkeit erzielt werden konnte. Ein früher Beginn, aber kein Ende – das lebenslange Lernen Einheit gab es in der Auffassung, dass ein emanzipatorischer Prozess so früh wie möglich einsetzen müsse. »Nun wissen wir ja, dass sich schon das Ziel der Gleichheit der Bildungschancen nur verwirklichen lässt, wenn wir die Sprachbarriere in einer Zeit, die vor dem heutigen Schulpflichtbeginn liegt, beseitigen.«353 Neben einer Vorverlegung der Einschulung auf das fünfte Lebensjahr nannte die Bundesregierung als besondere Priorität einer Bildungsreform die »Elementarerziehung […] und die [Verdopplung] der Kindergartenplätze«354, was »für die Förderung der individuellen Begabung und die Überwindung sozialbedingter Milieusperren«355 besonders wichtig sei, und entsprach damit auch den Vorschlägen des Bildungsrates356. Eine Ausweitung der Bildungsbiographie sollte auch am anderen Ende der herkömmlichen institutionellen Ausbildungswege stattfinden, in Form des ›lebenslangen Lernens‹. Dieses ergab sich aus der Analyse, dass spezifisch verwertbares Wissen einer sehr kurzen Halbwertszeit unterliege und der Schule eher formale sowie allgemeine Bildungsaufgaben zukamen denn Spezialbildung. Schule und Hochschule sollten den Heranwachsenden vor allem die Fähigkeit vermitteln, sich selbst materielle Bildung anzueignen. Diese gebe es dann in speziellen Kursen nach Bedarf und aktuellstem Stand der Wissenschaft. Darüber hinaus war die stete Weiterbildung aber auch eine Möglichkeit der sozialen und politischen Teilhabe und vor allem als immer vorhandene Option persönlicher Veränderung auch ein integraler Akt emanzipativer Bildung357. Die Reform der Hochschule sollte ähnlichen Mechanismen wie die Schulreform folgen: Die Vielfalt der Bildungsangebote entweder in einer Vielfalt der Hochschulen oder innerhalb einer Gesamthochschule oder aber eine Mischform mit fachlicher wie qualitativer Differenzierung: »Dabei schwebte mir als konkretes Modell etwa die Columbia University in New York vor : mit der Hum352 353 354 355 356 357
Bildungsrat, Strukturplan, S. 70. H. Becker im Gespräch mit: Adorno, Erziehung – wozu?, S. 110. Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 10. Ebd., S. 36. Bildungsrat, Strukturplan, S. 40ff. Vgl. ebd., S. 52f.
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boldt’schen Universität in der Form der Graduate School, aufgepfropft übrigens auf die mittelalterliche Universität in der Form des College, mit Forschungsinstituten, mit einem Mädchen-College (›Kurzstudium‹), mit einer Lehrerbildungsstätte, einer Medical School, kurz, mit einer Fülle von halb- oder viertelautonomen Einrichtungen auf einem Campus und mit einer Identität. Insoweit ist die Gesamthochschule ein Warenhaus, ein qualifiziertes allerdings, also kein Ramschhaus in vier Stockwerken, sondern ein Warenhaus mit Spezialabteilungen, Zwischenstockwerken, Cafeteria und Feinschmecker-Restaurant. Als Begriff für eine solchermaßen differenzierte Hochschule habe ich zunächst an ›Multiversität‹ gedacht, dann aber, im Anschluss an den Begriff der (differenzierten) Gesamtschule, Gesamthochschule vorgezogen.«358 Gemeint war zunächst eine kooperative Gesamthochschule »unter Beibehaltung von Binnenstruktur, Statusdifferenzierung und herkömmlichen Studienabschlüssen«, in der Synergieeffekte genutzt und die Hierarchisierung des Hochschulsystems sowie dessen Durchlässigkeit zugunsten einer stärkeren horizontalen Gliederung gelockert würden, dann aber auch eine integrierte Gesamthochschule, in der praktische und wissenschaftliche, grundständige und Fortbildung, Spezial- und Allgemeinbildung gemeinsam, interdisziplinär, gelehrt würden359. Johannes Rau forderte »ein neues Studiengangsystem […], das die Grenzen der herkömmlichen Hochschularten überwindet« und all diese zu nur einer Organisationseinheit verbinde360. Hintergrund der Idee der integrierten Gesamthochschule war auch der Abbau einer als künstlich empfundenen Hierarchisierung tertiärer Bildung361. Flexible Inhalte und demokratische Erziehung – die innere Organisation des Unterrichts Abkehr vom Kanon Auch die inneren Bildungsreformen zu den Bildungsinhalten sollten vom Grundsatz der Individualisierung und Differenzierung getragen sein. Er bedeute, »dass Curricula angeboten werden, die auf die unterschiedliche Lerngeschwindigkeit, Motivationslage der Lernenden sowie auf deren verschiedene Interessen und Lernvoraussetzungen abgestimmt sind.«362 Bildung als Ermächtigung des Subjekts über seine zukünftige Lebenswelt war etwas prinzipiell anderes als die Vorstellung von Bildung als Tradierung einer überbrachten Kultur. »Bildung ist ein nicht abschließbarer, lebenslanger Prozess. 358 359 360 361 362
Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 155. Von Weizsäcker, Gesamthochschule, S. 166–168. Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 6. Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S.10. Bildungsrat, Strukturplan, S. 36.
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[…] Darum darf Schulbildung nicht satt, sondern sie muss hungrig machen. Und Erziehung muss auf den Weg der Selbsterziehung und Bildung, auf den Weg der mündigen Selbstbildung gebracht werden. Das ist eine der vornehmsten Aufgaben der Schule«363. Kein Bildungskanon sollte mehr das Ziel der Bildung sein. Sowohl stofflich als auch zeitlich ging es darum, Bildung als Prozess zu vergegenwärtigen, der sich dem Individuum erschließt, der auf den Schüler als Subjekt gerichtet wäre statt auf das Objekt der Lehrinhalte. Man fand keine Plausibilität in den hergebrachten Inhalten von Unterricht, die zwar über die Zeit mit modernen Fremdsprachen und Naturwissenschaften angereichert und regelmäßig überarbeitet wurden, aber beispielsweise »den wirtschaftlichen und soziologischen Bereich«364 nicht weiter beachteten. Gerade die Lehrinhalte des humanistischen Gymnasiums gerieten so in die Kritik. Klassische Konzepte wie die Trennung zwischen zwei nicht miteinander vereinbaren Welten, einer inneren und einer äußeren365 und der akademische Elfenbeinturm, in dessen Schatten gymnasiale Lehrpläne geschrieben wurden, sollten der Vergangenheit angehören. Nicht nur die Idealisierung antiker Gesellschaften als Erbe des Humanismus, auch die romantisiert dargestellte Arbeitswelt sollten durch Inhalte aus der Lebenswelt der Schüler ersetzt werden366. Eine »Flucht vor der Wirklichkeit«367 sei dies, dabei sollten die Schüler auf ihre Gegenwart, erst recht ihre Zukunft eingestellt und deshalb in der Schule damit konfrontiert werden. Im Bildungswesen als »einer Institution der Gesellschaft« sollte sich auch deren Zustand wiederfinden. Erziehung zur Demokratie Durch den Verweis auf das Grundgesetz als letzte Instanz gehörte auch die politische Bildung, sprich: Erziehung zur Demokratie, in die Schule. Vom politischen System her befand man sich freilich in einer Demokratie, bezüglich der gesellschaftlichen Konstitution hegte man diesbezüglich jedoch Zweifel. Das deutsche Volk sei lediglich dazu erzogen, »Demokratie zu bejahen, was in keiner Weise gleichbedeutend damit ist, dass das deutsche Volk zur Demokratie erzogen oder gebildet wäre«368. Aus »theoretischen Staatsbürgern« sollten auch praktische Staatsbürger gemacht werden, die sowohl mündig für die Übernahme politischer Verantwortung als auch bereit seien, für Freiheit und Demokratie einzustehen369. Dies hieß einerseits das Erlernen der Demokratie und ihrer 363 364 365 366 367 368 369
Evers, Modelle, S. 49. Ebd., S. 87. Ebd., S. 24. Vgl. Furck, Schule für das Jahr 2000, S. 188. Evers, Modelle, S. 89. Becker, Quantität und Qualität, S. 426. Vgl. ebd.
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Strukturen, aber genauso auch, »das bisher gelehrte und gelernte illusionäre Demokratieverständnis radikal in Frage zu stellen«370, also den Status quo der Bundesrepublik nicht zu überhöhen, sondern die Demokratie in ihrer realen Ausgestaltung auch kritisch zu beleuchten, ihre Schwächen zu diskutieren und vor allem die oft beklagte »Spannung zwischen Demokratie und Gesellschaft«371 zu thematisieren372. Denjenigen, die die bestehende Ordnung verabsolutierten, wurde damit eine Absage erteilt, genauso wie denen, die ein absolutes Ideal postulierten, denn »demokratische Erziehung muss zu der Einsicht führen, dass die Sehnsucht nach Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit niemals absolut, sondern bestenfalls relativ erfüllt werden kann.«373 In diesem Bereich war auch das Thema Mitbestimmung zu verorten. Es wurde allerdings von zwei Seiten betrachtet: einerseits Mitbestimmung als pädagogisches Mittel der Demokratisierung, als Erlernen und Einüben demokratischer Prozesse im eigenen Umfeld und Mitbestimmung als tatsächliche subsidiäre Anwendung von Demokratie, als Recht auf die Gestaltung des eigenen Lebensumfelds374 ; Mitbestimmung aber auch andererseits als Gefahr für die Freiheit, nämlich letztlich als Ausübung von Herrschaft durch bestimmte Interessengruppen, die die demokratische Ordnung unterlaufen könnten375. Es musste also vermittelt werden, »dass es nicht darum gehen kann, die Macht- und Entscheidungsverhältnisse einfach umzudrehen, sondern dass es um einen Emanzipationsprozess geht, der sich im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Kontrolle vollzieht«376. Praktizierte Demokratie verlangte demnach nicht nur die demokratische Übung, sondern auch »die Kenntnisse und Informationen über wirtschaftliche, soziale und politische Strukturen und Prozesse […], damit der einzelne an dem Prozess der gesamtgesellschaftlichen Willens- und Bewusstseinsbildung selbständig und kritisch partizipieren kann«377. Ohne diese, mit dem reinen Ruf nach Hamm-Brücher, Über das Wagnis von Demokratie und Erziehung, S. 20. Becker, Quantität und Qualität, S. 430. Vgl. auch Girgensohn, Viel zu wissen ist zu wenig, S. 8ff. Hamm-Brücher, Über das Wagnis von Demokratie und Erziehung, S. 20. Sehr differenziert bei Hamm-Brücher, Verwirklichung liberaler Bildungspolitik, S. 68f. Einzelne Forschungsprojekte demokratisch abstimmen zu lassen, wurde abgelehnt. Dass die an diesen Forschungsvorhaben direkt beteiligten – also auch die entsprechenden Studenten – dann aber Mitspracherechte erhielten, schien ihr genauso demokratisch geboten wie die Offenlegung aller Projekte. Aber stets sollte gelten: »Im Bereich der Wissenschaft gilt und entscheidet das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und keine noch so geartete politische Mehrheit. Hier ist den Anfängen zu wehren. Der den politischen Bereich beherrschende Grundsatz, Entscheidungen durch Wahlen herbeizuführen, kann und darf deshalb nicht im Forschungsbereich Anwendung finden.« 375 Vgl. Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 35. 376 Hamm-Brücher, Über das Wagnis von Demokratie und Erziehung, S. 21. 377 Hahn, Mehr Bildung, mehr Leistung, mehr Freiheit, S. 154.
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demokratischen oder demokratisierenden Strukturen, so die Auffassung, wäre Demagogie und Instrumentalisierung Tür und Tor geöffnet. Beides musste Hand in Hand gehen und »von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung«378 reichen. Schlussendlich musste sich aber aus politischer Bildung auch politisches Handeln ergeben. »Ein politisches Wissen, das nicht auch die praktische Anwendung zum Ziel hat, ist kein politisches Wissen.«379
2.2. Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation »Individuation kann heute gegen die Umstände nicht mehr durch das Individuum durchgesetzt werden, sie kann sich nur durch bewusste öffentliche Erziehungsanstrengungen behaupten.«380 Wurde mit dem Begriff der Chancengleichheit schon das vorangegangene Kapitel eingeleitet, in dem die individualrechtlich-emanzipative Konzeption besprochen wurde, muss er hier ebenfalls als erstes stehen, vielleicht sogar mit einem zusätzlichen Ausrufezeichen. War die Chancengleichheit nach individualrechtlich-emanzipativer Lesart ein Gebot, das sich aus der Freiheit des Einzelnen ableitete, so war sie in der gesellschaftlich-emanzipativen Teil eines allgemeinen sich auf die Gesamtgesellschaft beziehenden Gleichheitsgebots. War dort das Mittel die Emanzipation des Individuums, das Herausschälen jedes Einzelnen aus den Bedingungen der Gesellschaft, war es hier die Neuordnung der Gesellschaft zum Wohle des Einzelnen – jeweils unter Anwendung des Bildungswesens; es galt die »Einsicht, dass diese Möglichkeit [der Emanzipation] nur in einer entsprechend strukturierten Gesellschaft gegeben ist«381. Die Erziehung sollte über den Einzelnen die Gesellschaft verändern, damit die Gesellschaft die Emanzipation des Einzelnen ermögliche382. Die Grundformel der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption war vielleicht eine Formulierung des Pädagogen Hartmut von Hentig, der sich für die totale Erziehung aussprach: »Die wahre Aussicht, Huxley’s brave new world zu entrinnen, liegt darin, dass die freiesten Personen die öffentliche, institutionalisierte Erziehung und Bildung Hamm-Brücher, Auf der Seite des Kindes sein, S. 71f. Girgensohn, Viel zu wissen ist zu wenig, S. 12. Von Hentig, »Korrektive in der Gesellschaft.« In: DIE ZEIT 30/1964. Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, FunkKolleg 3, S. 265. 382 Vgl. auch Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 16: »Mithin ist die Überwindung des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung dafür, dass die Ziele der Gesamtschule erreicht werden können.«
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übernehmen und dass sie dabei die Mittel anwenden, die in sich die Offenheit gebieten, ja repräsentieren.«383 Bildung und Bildungspolitik, so die Idee der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption, seien Mittel zur Erreichung einer idealdemokratischen Gesellschaft. Anders als in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption stellt Bildung in diesem Sinne nicht auf den Einzelnen ab, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes. Nicht die Möglichkeit zur Veränderung der Gesellschaft, sondern die Veränderung selbst sollte so bewirkt werden. Diese sei noch undemokratisch und es sei Aufgabe eines demokratischen Staates, das zu ändern. Am unverblümtesten drückte es wohl Berlins gerade abgetretener Bildungssenator CarlHeinz Evers (SPD) aus: »Das Grundgesetz verbietet es in keiner Weise, in unseren Schulen für die Ziele des demokratischen Sozialismus zu arbeiten.«384
Emanzipation als Integration – Grundlagen der Diskursformation Der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption liegt ein komplexes Set an Ideen zugrunde, das zunächst mit seinen inneren und äußeren Bezügen ausgeführt werden soll. Zu Beginn stand dabei die Analyse, dass die Gesellschaft einem postulierten Ideal von Demokratie noch nicht entspreche. Unabhängig von der politischen Konstitution sei die deutsche Gesellschaft also noch nicht demokratisch385. Dies sei auch dadurch bedingt, dass das Schulsystem selbst vordemokratisch sei und dadurch »die systematische Privilegierung eines Teils der Gesellschaft«386 perpetuiere, womit die aus der Industrialisierung hervorgegangene Oberschicht gemeint war. Somit sei dieses Bildungssystem lediglich eine »Funktion der kapitalistischen Gesellschaft«387: Durch die Industriegesellschaft habe eine »anonyme Macht« des Wirtschaftssystems Bedeutung gewonnen. Dieses müsse »sich Menschen schaffen«, die für den Systemerhalt produzieren und konsumieren, aber sich gleichzeitig für frei und unabhängig hielten. In der Erziehung werde ebendieses Ergebnis antizipiert und wo vielleicht auch einstiger Zwang bereits weggefallen sei, dort sei er doch nur durch eine »Erziehung durch 383 Von Hentig, die Schule im Regelkreis, S. 28. Die Anlehnung an Platons Idee der Paideia ist nicht zufällig, explizit in von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 239f; vgl. auch ebd., S. 11: »Darum müssen […] die Menschen durch Erziehung gezwungen werden, frei zu sein«. 384 Evers, Versäumen unsere Schulen die Zukunft?, S. 188. 385 Vgl. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 25; auch von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 183. 386 Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 17. 387 Nyssen, Rolff, Perspektiven der Schulreform im Spätkapitalismus, S. 29ff. Vgl. auch Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches lernen in der Gesamtschule, S. 15, ebd. S. 17: »Der Übergang zum Sozialismus ist eine historische Notwendigkeit«.
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Überredung und geheimen Zwang« ersetzt worden. Tatsächlich aber sei der Mensch genauso unfrei wie unter echtem Zwang oder »offen zutage tretender Macht«388. Nach diesem Muster wurden die einzelnen Elemente des ›Systems‹ dekonstruiert. Zu diesen Elementen zählten unter anderem das Leistungsprinzip, bestimmte Umgangsformen und die herrschende Sprache, sogar das Prinzip des sozialen Aufstiegs. Einen großen Teil dieses Diskurses machte die Beschäftigung mit den Bedingungen der Industriegesellschaft aus389. Als maßgeblicher Zwang, der der Selbstbestimmung entgegenstand, galt die Bedingtheit der eigenen Lebensführung durch die Anforderungen der Wirtschaft in der Industriegesellschaft. Diese Situation war durch eine gesamtgesellschaftliche, kollektive Entwicklung zu überwinden: Angelehnt an Platons Utopie der Politeia prophezeite von Hentig, »die Erziehung der Wächter trifft in unserer demokratischen Gesellschaft für uns alle zu und mit unerhörter Radikalität. Gelingt es uns nicht, das Wissen vom Allgemeinwohl, d. h. vom gesellschaftlichen Zusammenhang zu fördern, und gelingt es nicht außerdem, die Balance unter den anderen Korrektiven herzustellen, dann bricht unser System zusammen. ›Krieg‹ wird nicht mehr der rechte Ausdruck für den dann eintretenden Kollaps der Ordnungen sein […].« Die Gesellschaft stand demnach also vor einer Entwicklung zum Guten oder zum Bösen, zur Ordnung oder zum Chaos und entscheidend dafür werde einzig die Erziehung sein, durch die sich dieses Gesamtsystem durch die Erziehung des Einzelnen nach systemischen Vorgaben zum Wohle des Einzelnen entwickeln sollte. Werde alles so bleiben, wie es war, drohe »eine ›größere Bewegung‹, wie Thukydides den alle Ordnungen sprengenden Krieg seiner Zeit nannte – eine Bewegung, in der die ultima ratio das Chaos herstellt, das sie verhindern wollte.«390 Wurde so das existente Bildungssystem als Funktion des Kapitalismus eingeordnet, entsprach das auch der allgemeinen Vorstellung, dass Bildungssysteme zwangsläufig in jeder denkbaren Gesellschaft eine entsprechende Funktion haben müssten: »Die Gründe für eine solche Institutionalisierung [des Sozialisationsprozesses im Bildungssystem] liegen auf der Hand: in allen Gesellschaften erfordert das Interesse der herrschenden Klasse die Sicherstellung der Internalisierung der notwendigen Wertbindungen gegenüber der Gesellschafts-
388 Fromm, Erich, Vorwort zu Neill, Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung, S. 12f. Vgl. auch Evers, Modelle, S. 29. 389 Vgl. etwa Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 306; Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 121f, Fußnote 11; Blankertz, Strategie zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach ›Arbeitslehre‹, S. 386. 390 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 18.
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ordnung.«391 Bildungsreformen dürften also nicht innerhalb der Kategorien »einer historischen westlichen Industriegesellschaft« stehen, sondern müssten »frei gewählte bessere oder beste Alternative«392 sein. In der Demokratie mit ihren wechselnden Mehrheiten und Minderheiten wurde der Schule die Rolle der »philosophischen Minoritäten« zugedacht, die versuchen müssten, die »herrschsüchtigen Minoritäten bei der Majorität auszustechen, indem sie die Vielen aufklären, sie durchschauen lassen, dass sie missbraucht werden, und sie anleiten, wie sie sich selbst davor bewahren können«; eine Schule, die politischer werden müsse393. In dieser Vorstellung muss die grundlegende Differenz zur individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation gesucht werden. Dort war die Vorstellung eines emanzipativen Bildungssystems die, dass es von allen externen Herrschaftsansprüchen befreit werden könnte und tatsächlich den Einzelnen zum Autor seiner eigenen Biographie machen könne; in der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption hingegen ist eine solche individualisierte Gesellschaft gar nicht vorstellbar. Das notwendigerweise als global institutionalisierter Sozialisationsprozess – also die Vermittlung ausgewählter Wertbindungen – errichtete Bildungssystem konnte in diesem Sinne nicht strukturell emanzipativ umgestaltet, sondern nur in seinem Gehalt umgewidmet werden394. Diese Umwidmung lag in der Schaffung einer zukünftigen idealdemokratischen Gesellschaft anstatt der bisher geschehenen Fortsetzung einer überbrachten Gesellschaft. Dies sei die natürliche Aufgabe eines demokratisch verfassten Staates. Darin lag auch die Begründung einer aktiven Gesellschaftspolitik, die eine »sinnvolle Steuerung gesellschaftlicher Entwicklung«395 in eine bestimmte Richtung mit öffentlichen Mitteln legitimiere und sogar fordere. Die Bildungspolitik müsse sich zwangsläufig für eine – »mit den Bedürfnissen der Menschen rückgekoppelte« – gesellschaftliche Utopie entscheiden, auf die hin das Lernen ausgerichtet sei, wenn man nicht den Status quo »für die beste aller Welten«396 halte. Eine andere Lesart der gleichen Vorstellung war es, die Utopie zu einem ursprünglichen Naturzustand zu erklären (und so vom Begriff der Utopie wegzukommen), von dem die Gesellschaft sich über die Geschichte, zumal durch den Kapitalismus, entfernt habe und den es wieder zu erreichen gelte: »Die 391 Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 90. 392 Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 14. 393 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 69f. 394 Vgl. Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 89f. 395 Von Dohnanyi, Warum, und was heißt: Priorität für die Bildung?, S. 16. 396 Evers, Versäumen unsere Schulen die Zukunft?, S. 177. Vgl. auch Furck, Schule für das Jahr 2000, S. 186.
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gesellschaftliche Standardisierung von Verhaltens- und Denkweisen, die sich aus der kapitalistischen Warenproduktion herleitet, schafft eine begrenzte und überschaubare Zahl von Problemlinien in einer Schule. Grundlegend würde sich das erst ändern, wenn die Menschen wirklich freie und autonome Subjekte wären. Dass diese Verlaufsformen unter gesellschaftlichen Normen und Zwängen stehen, ist eine Selbstverständlichkeit; nicht selbstverständlich ist es dagegen, dass das Wesen der Erziehung darin besteht, mit eigens dafür ausgedachten Mitteln diesen Zwang und diese Gewalt fortzusetzen.«397 Währenddessen würden die Kinder, die Lehrer, die Schulen allerdings schon diesen Zwängen unterliegen und könnten nicht von sich aus eine theoretisch existente ursprüngliche »Selbstregulierung« erreichen; die Aufgabe der Schule war demnach also die künstliche Herbeiführung natürlicher ›Selbstregulierung‹, man könnte also sagen, die Imitation angenommener Ergebnisse von Selbstregulierung durch Regulierung398. Dabei ging es vor allem darum, dem Menschen ein kollektives Bewusstsein ›wiederzugeben‹, das ihm durch die Bedingungen der Gesellschaft genommen worden sei. »Diese Autonomie und Erfahrungsfähigkeit, die es im Prozess der Selbstregulierung zu erweitern gilt, bestehen nicht in der Erziehung kindlicher Einzelpersönlichkeiten. Selbstregulierung ist einer Form der bewusst gemachten Vergesellschaftung und damit der Freisetzung und Ausbildung kollektiver Bedürfnisse und Interessen, die in der Entwicklung der Produktivkräfte einer hochindustrialisierten Gesellschaft angelegt, aber im Herrschaftsinteresse auf privatistischem Niveau gehalten werden.«399 Eine aktive Erziehung weg von einer bestehenden Weise, hin zu einer erdachten Weise wurde also als aktiver Abbau extern auferlegter Zwänge, als eigentliche Befreiung gesehen. Das Bildungssystem stellte demnach ein Mittel zur Herbeiführung oder zumindest zum Anstreben einer idealen Gesellschaft dar. Die Funktion der Formierung künftiger Generationen bliebe damit erhalten, der Inhalt würde aber vom Bewahren oder Fortschreiben des Systems zum Verändern des Systems umgekehrt. Die Pädagogik bekam somit eine normative Funktion zugemessen, die weit über den schmalen und sehr grundsätzlichen Wertkanon des Grundgesetzes hinausging400 und eine klare Gesellschaftsordnung postulierte. Es mag verwundern, wie konkret diese Vorstellungen tatsächlich daherkamen und wie selbstverständlich die Verallgemeinerbarkeit dieser Ideen angenommen wurde. So basierte die Grundkonzeption gesellschaftlich-emanzipativer politischer Bildung auf der – aus einer »Analyse unseres historisch gewordenen ›common-
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Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 109. Vgl. Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 109f. Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 109f. Vgl. Evers, Modelle, S. 41.
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sense‹«401 gewonnenen – Annahme gewisser »Werteinstellungen [als] Konsensus der ganzen Gesellschaft«402. Hartmut von Hentig verlangte etwa die »Entlarvung […] des Leistungsprinzips, des Aufstiegsdrucks, des Verhältnisses von Schulchancen zu Lebenschancen, von militärischer Rüstung zu geistiger und gesellschaftlicher Entwicklungsfreiheit, von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zueinander – also der gesellschaftlichen Prioritäten« explizit durch die Pädagogik, also nahezu die verbindliche Vertretung eines politischen Grundsatzprogramms403. Die Schule müsse »mit der Auswahl, Formulierung und Kritik von Zielen zu tun haben«404. Beruhe das bisherige Menschenbild der Schule vor allem auf dem Idealismus, auf »Selbststeigerung, Eigenständigkeit, Abgeschlossenheit« und berücksichtige die »Beziehung zur Gemeinschaft [lediglich] durch ethische Imperative«, habe dieses den Einzelnen nicht davor bewahrt, »anderen Menschen mit einem genagelten Stiefel ins Gesicht [zu] treten, andere Menschen in Gaskammern [zu] schicken«405. Er wollte »zeigen, wie bei zunehmender Komplexheit, Rationalisierung und Funktionalisierung die Korrektive, die sich ein sozialer Organismus gibt, immer weiter auf die Erziehung verlagert werden.«406 Für diese Diskursformation gilt also auch in besonderem Maße, dass das Erziehungssystem nicht nur ein Teilsystem der Gesellschaft ist, sondern dass es zum Angelpunkt der Gesellschaft wird, von dem aus alle Entwicklung zu beurteilen und zu steuern ist407. Gefordert wird die totale Erziehung.
401 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 117. Dabei müsse ›common-sense‹ nicht wirklicher Konsens sein, sondern könne auch »dynamisch« verstanden werden – die Kategorien legitimieren sich aber jedenfalls dadurch, dass sie in nicht-demokratischen Staaten nicht gölten. Sie »repräsentieren also das moralische Potential unserer Gesellschaft, aber in der Weise, dass es nicht in einer abstrakten Gegenüberstellung zum Totalitarismus sozusagen ein für alle Mal festgestellt wird, sondern so, dass es in der konkreten Auseinandersetzung mit konkreten Konfliktstoffen immer wieder zurückermittelt wird.« (Ebd., S. 118). Ähnlich unterscheidet Adorno zwischen Reflexionen im Allgemeinen und »Reflexionen auf durchsichtige, humane Zwecke«. Wenn aus Letzteren Gewalt hervorkomme, sei es dann beispielsweise keine Barbarei, sondern etwa die unreflektierte Reaktion der Polizei. Adorno, Erziehung zur Entbarbarisierung, S. 124f. 402 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 115f, S. 121f. 403 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 13. Vgl. auch ders., die Schule im Regelkreis, S. 10. 404 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 14. 405 Evers, Modelle, S. 15. Vgl. ebd., S. 17. 406 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 17. 407 Von Hentig bedient sich eines Gesellschaftsbildes, das sehr explizit den Einzelnen im Organismus der Gemeinschaft verschwinden lässt. Dieser Organismus brauche zu seiner Balance Korrektive und das umso mehr, je autonomer die Untersysteme, also Individuen, operieren. Diese Komplexität lasse sich offenbar durch eine Erziehung begrenzen, »die die kommende Generation auf die Fülle der übrigen Korrektive vorbereitet, nach denen der soziale Organismus zu leben gewohnt oder gezwungen ist« und erst zur absoluten Balance kommt, »wenn die Erziehung nicht nur eine, sondern die Funktion der Gesellschaft, ein total
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Ziele wie die »Erziehung […] zu öffentlicher Neugier und aufgeklärtem (wissenschaftlichen) Verstehen, Kritisieren und Bestimmen des Produktionsprozesses«408 bedienten nicht nur vom Vokabular her sozialistische Theorien, die die Offenlegung von Herrschaftsstrukturen im Wirtschaftssystem forderten. Leistung409 und Leistungskraft, »Tüchtigkeit und die ihr dienende Pflichterfüllung«410, ja sogar der Aufstieg wurden als Ziele in Zweifel gezogen oder negiert411. Die Gesellschaft, die einzelnen Menschen in ihr, deren Bewusstsein, all das sei bestimmt durch die Logik der Leistungsgesellschaft, des traditionellen Produktionsprozesses, die eine »Kluft zwischen persönlicher und wirtschaftlichgesellschaftlicher Freiheit«412 bedingten. Beispielhaft soll hier auf das Leistungsprinzip eingegangen werden, das kritisiert wurde, aber auch Ursprung eines neuen Konzeptes war. Johannes Rau meinte, das Leistungsprinzip müsse zwar weiterhin gelten, »damit auf Dauer das Engagement der leistungswilligen Mitglieder der Gesellschaft erhalten bleibt. Ein nicht differenzierter, ein pauschaler Leistungsdruck auf alle Leistungswilligen, der die subjektiven Möglichkeiten des einzelnen nicht berücksichtigt, muss ver-
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öffentlicher Akt, die durchgehende alles mit allem verbindende Grundtätigkeit geworden ist«, von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 27f. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 32. Vgl. ebd., S. 103. Ebd., S. 93. Vgl. Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 14; von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 33 u. 40. Die Befassung mit und Propagierung von Aufstieg wird von von Hentig die Antwort der »westlichen Welt« auf das »marxistische Schema von der Notwendigkeit der Revolution und der Diktatur der Arbeiterklasse« gesehen, als Verschüttung der marxistischen Verelendungstheorie, um gleichermaßen die Frage nach »dem Ausbruch der Revolution und […] der Herrschaft des Proletariats« zu unterdrücken. Aufstieg könne nur heißen, als »optische Täuschung« gemeinsam höheren Anforderungen zu genügen, oder als »Affront« das Erreichen von Macht und Herrschaft. Arno Combe erörtert gar, der tatsächliche Aufstieg einzelner, insbesondere vieler Lehrer, mache für diese »eine tatsächliche Aufstiegsmöglichkeit wahrscheinlich […], sie meinen, wer tüchtig ist, kann aufsteigen, jeder habe in dieser Gesellschaft eine echte Mobilitätschance« und sähen somit keine Notwendigkeit für politischen Handlungsbedarf (Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 43) oder sähen gar den Aufstieg von Kindern aus ihrer Ursprungsschicht als Bedrohung ihres eigenen Status und wollten dies verhindern (ebd., S. 45). Bei Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 89 wird dargestellt, wie Aufstieg nur für die möglich ist, die »mit den Interessen der herrschenden Klassen übereinstimmen«, und daher der herkömmliche Aufstiegsgedanke ein Mittel der Anpassung und Bewahrung sei. Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 103f befindet, dass »die Koppelung von Leistung und sozialen Aufstiegschancen […] in entscheidendem Ausmaße die Schulerwartungen von Eltern« bestimme und diese daher die Logik eines Schulsystems stützten, das als »Organisation von schulischen Lernprozessen […], die in ihren Folgen allenfalls eine Qualifizierung für abhängige Lohnarbeit sein kann« und damit dabei hülfen, das System der Unterordnung fortzuschreiben. Selbst Georg Picht schloss sich Anfang der siebziger Jahre dieser Haltung an, Vgl. Führ, Zur deutschen Bildungsgeschichte seit 1945, S. 19. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 93.
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mieden werden.«413 Eine genaue Vorstellung eines subjektivierten Leistungsprinzips konnte Rau aber nicht nennen. Er forderte jedoch, »neue Maßstäbe für eine Differenzierung des Leistungsdrucks zu finden«414. Eine mögliche Konkretisierung der Vorstellung eines subjektivierten Leistungsprinzips sah folgendermaßen aus: »Für ein Kind, das zum Beispiel Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme mit anderen Kindern hat […], ist die Beseitigung dieser Schwierigkeit die fundamentale Leistung, die es erbringen kann und die es erbringen muss, wenn psychische Konflikte nicht zu viele Energien auch von der kognitiven Leistungsfähigkeit abziehen sollen.«415 Dies wäre dann ein »auf die Grundausstattung der Gesamtperson bezogener Leistungs- und Lernbegriff«416, der nicht mehr »innerhalb des Tauschprinzips, der Verwertbarkeit und der objektiven Messung«417 läge. Die Leistung läge somit nur noch relativ zum Selbst und stünde nicht mehr im Wettbewerb nach außen. Dadurch, dass so Kinder nicht einüben würden, sich in der bestehenden Gesellschaft durchzusetzen, würde die Logik dieser kapitalistisch organisierten Gesellschaft auch obsolet. Eine Nähe zum neosozialistischen Diskurs der Neuen Linken wird evident in der Analyse, der Staat sei Agent des Kapitalismus und unterwerfe, während die historischen Umstände seinen immer tieferen Einfluss auf Bildung und Erziehung verlangten, das Bildungssystem und dadurch die ganze Gesellschaft der »Herstellung von allgemeinen Existenzbedingungen des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses«. »Als Organ des Gesamtkapitalisten bezieht der bürgerliche Staat dabei das Ausbildungssystem in vielleicht vorher nie gekannter Öffentlichkeit in die umfassende Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktions-Bedingungen des Kapitals mit ein.«418 Mithin wurde laut, es sei »der Repressions- und Klassencharakter des Staates, der freilich ohne Berücksichtigung der Gesetzmäßigkeiten des ökonomischen Entwicklungsprozesses nicht erklärbar ist«, der eine »antikapitalistische Unterrichtspraxis« nahezu unmöglich mache419.
Die »68er« – Bilder der Revolution, aber kein Reformdiskurs Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation war eng mit den Ideen der ›Neuen Linken‹ verknüpft, die in der Studentenrevolte um 1968 an die Ober413 414 415 416 417 418 419
Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 20. Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 20. Negt, Schule als Erfahrungsprozess (1975), S. 97. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Combe, zur Arbeitssituation des Lehrers, S. 17f. Ebd., S. 118f.
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fläche der Gesellschaft gelangte. Dennoch muss deren Rolle für die Bildungsreformen als gering eingeschätzt werden. Zwar wurde schon in den achtziger Jahren im Hinblick auf die Bildungsreformen die Bewegung der ›68er‹ in den Vordergrund gerückt420, diese Sichtweise vermischt aber eine soziale Bewegung mit parallel stattfindenden politischen Vorgängen. Wenn Meike Sophia Baader schreibt, »medial reproduzierte Bilder sind sowohl an der Konstruktion der Bewegung in den Jahren 1967/68 beteiligt als auch an den jeweiligen retrospektiven Narrativen«421, dann gilt das noch mehr für die Überlagerung einer Ära der Reform durch die Bilder einer Revolution422. Diese Bewegung brachte aus sich heraus keine Texte oder Ansichten hervor, die im Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit aufgegriffen worden wären423. Die Studentenbewegung wird in den Quellen zwar immer wieder erwähnt, jedoch als »kurzlebiger, spektakulärer Ausdruck«, als Protest, als Emotionsäußerung, eigentlich als Chiffre. Die Texte, die in dem Zusammenhang genannt werden, sind entweder die der ›Väter‹ der Revolution, also Habermas, Marcuse etc. oder aber Reden von außenstehenden Politikern und Wissenschaftlern, die die Studentenrevolten zum Anlass hatten. Der damalige Rektor der Frankfurter Universität Walter Rüegg erklärte gar : »Wenn die studentischen Führer behaupten, man hätte während Jahren ihre Vorschläge unbeantwortet gelassen und sie erst jetzt unter dem Eindruck der Krawalle aufgegriffen, so ist das ganz einfach unwahr. Nicht zufälligerweise kostete es mich während der 5 Jahre, in denen ich als Dekan oder Rektor tätig war, bis vor ein bis zwei Jahren ungeheure Mühe, die lokalen Studentenvertreter für Reformfragen zu interessieren. Die Assistenten wurden nur dank der Initiative der Rektoren im neuen Hochschulgesetz vor 2 Jahren überhaupt berücksichtigt. Erst die studentischen Unruhen nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg vor einem Jahr haben die Studenten und die weitere Öffentlichkeit mit den Reformvorschlägen bekannt gemacht, welche mit Ausnahme des pseudodemokratischen Gleichheitsprinzips von Studenten, Assistenten und Dozenten […] in den 50er Jahren entwickelt und in den 60er Jahren in Hochschulneugründungen in die Tat umgesetzt worden sind. Den Studentenunruhen und der daraus hervorgegangenen Revolte verdanken wir freilich das notwendige öffentliche Interesse, um die institutionellen Widerstände in den akademischen wie in den staatlichen Hochschulverwaltungen zu brechen und grundlegende Reformen gemeinsam zu verwirklichen.«424 Die Rolle für die Schule war freilich nicht bedeutender als für die Hochschule. Der Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit inkorporierte weder die 420 421 422 423 424
Vgl. Mitter, Continuity and change, S. 45. Baader, Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen, S. 17. Vgl. Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 202. Vgl. Behrmann, Günter C., Die Erziehung kritischer Erzieher als neues Staatsziel, S. 201f. Rüegg, Die studentische Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft, S. 6.
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Argumente noch das Personal der 68er. Die Entwicklung war an sich genau andersherum425 : Einige Schlagworte, die schon vor 1968 innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit diskutiert wurden, fanden so ihren Weg zu einem breiteren Publikum426. So ist es richtig, dass »von den pädagogischen Aufbrüchen um 1968 doch Impulse […], die die pädagogische Landschaft nachhaltig geprägt haben«, ausgingen – allerdings diente die Protestbewegung nur als Katalysator, der die Debatte bereits in aller Tiefe diskutierter Vorstellungen verbreiterte und veröffentlichte, mithin wohl aber eher polemisierte und polarisierte. Originäre Erfindungen der 68er sind im Gebiet der Pädagogik nicht zu verzeichnen. Die Bewegung orientierte sich in ihren pädagogischen Vorstellungen in weiten Zügen an Schriften aus der Vorkriegszeit, insbesondere an Wilhelm Reich und der Psychoanalyse427, die wiederum im Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit kaum noch Platz fanden. Der Grund dafür ist so einfach wie eingängig: »Weder die Studenten noch die in Bewegung gebrachten oder gekommenen Schüler besaßen 1968 eine Vorstellung von einer Transformation der Schulen und des Schulwesens.«428 Die Programme der Studentenbewegung, der Kommunen, der Kinderladenbewegung kreisten auch vorwiegend um sich selbst. »Selbsterfahrung und Emanzipation aus repressiven Verhältnissen waren an den Universitäten Schlüsselbegriffe der Studierenden zur Interpretation und Verarbeitung von Basisgruppenarbeit und Streiks.«429 Intellektuell orientierte die Studentenbewegung sich maßgeblich an der Frankfurter Schule. Deren Protagonisten hatten wiederum größeren Einfluss auf die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation. Während ihre allgemeinen Schriften ohnehin das Denken der Neuen Linken beeinflusste, fand die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation insbesondere in der Analyse der Industriegesellschaft und ihrer Implikationen einen gemeinsamen Ausgangspunkt mit der Kritischen Theorie. Der Nationalsozialismus wird von einem ähnlichen Ansatz aus betrachtet, Ideen wie Habermas’ »herrschaftsfreier Diskurs« oder Adornos »Erziehung nach Auschwitz« fanden unmittelbaren Eingang in die pädagogischen Vorstellungen, die explizite Hinwendung zu Erziehung und Bildung als Mittel der Gesellschaftspolitik wird in der Kritischen Theorie vertreten430. Die »gemeinsame Frage« von Frankfurter Schule und Studentenbewegung, »die am Anfang der pädagogischen Aufbrüche im Kontext von 1968 425 Genauso bei Carola Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 137f. 426 Vgl. Ostkämper, Zum Zusammenspiel von antiautoritärer Erziehung und Bildungsreform, S. 238f. 427 Vgl. Sager, Die Sexualerziehung der 68er-Bewegung, S. 60. 428 Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 202, Anm. 13. 429 Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 130. 430 Vgl. Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, Funk-Kolleg 3, S. 263f.
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stand, war : Wie lassen sich Erziehungsverhältnisse so gestalten, dass die nachfolgenden Generationen nicht mehr anfällig für ein System wie den Nationalsozialismus sein würden, sondern den Mut, die Kraft und die Ich-Stärke zum Widerstand und Protest aufbringen würde?«431 Fanden aber die linken Professoren der Frankfurter Schule immer wieder Eingang in die gesellschaftlichemanzipative Diskursformation, vermochten dies weder die breite Masse, ihre einzelnen Kollektive und Kommunen oder auch die studentischen Anführer der Revolte. Auch grenzten die rebellierenden Studenten sich aktiv ab: man habe es satt, sich »in Frankfurt zu halbseidenen politischen Linken ausbilden zu lassen, die nach dem Studium das integrierte Alibi des autoritären Staates abgeben.«432 Zum selben Schluss kommt in jedem Fall Andreas Gruschka in seinem Aufsatz zur kritischen Theorie in der Pädagogik: »1968 war demnach nicht ›Das Jahr, das alles verändert hat‹. Und jene kulturellen Veränderungen, die Bestand hatten, lassen sich zum großen Teil nicht allein auf einen ›Umbruch‹ in den späten 60er-Jahren zurückführen. Wenn dies zugestanden wird, kann aber auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass vor allem oder gar ausschließlich Angehörige der 68er-Generation, insbesondere der Studentenbewegung, diese Veränderung herbeigeführt haben. Was bei Einbeziehung der Massenmedien für Wandlungen in der Jugendkultur und deren Einfluss auf die gesamte Massenkultur, auf Kleidung, Haartracht, U-Musik usw. gelten mag, gilt jedenfalls nicht für die politische Kultur und auch nicht für die Transformation pädagogischer Kulturen, soweit damit mehr als etwa die Errichtung von ›Kinderläden‹ oder die Institutionalisierung von Mitsprache- und Mitbestimmungsrechten in Hochschulen und Schulen gemeint ist.«433 Da die sogenannten Achtundsechziger sich intern aber intensiv mit zwei Bereichen des Bildungswesens befassten, sollen diese kurz in den Fokus genommen werden: die frühkindliche und Vorschulerziehung, insbesondere in den Kinderläden, die ihre Kinder besuchten, sowie die Hochschulen, in denen sie selbst studierten434. Dass diese Bewegung ohne ihre pädagogischen Elemente nur ungenügend erklärt werden kann435, ist wahr. Es gilt jedoch nicht der Umkehrschluss, dass bildungspolitische Reformen anhand 1968 erklärt werden können. Die Studentenunruhen hatten allenfalls – ob heilsam oder nicht – einen 431 Baader, »Seid realistisch, Verlangt das Unmögliche«, Vorwort, S. 8. 432 Beschluss einer ›Basisgruppe Soziologie‹, zitiert nach Carola Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 127f. 433 Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 199f. Vgl. auch Carola Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 137f. 434 Vgl. Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 199f. 435 Vgl. Ostkämper, Zum Zusammenspiel von antiautoritärer Erziehung und Bildungsreform, S. 239: »Die Suche danach, ›wie 68 die Pädagogik bewegte‹, muss demnach auch in der umgekehrten Richtung erfolgen: ›Wie die Pädagogik 68 bewegte‹.«
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destruktiven Charakter436, waren sie ja auch als ›Kritik‹ angelegt, nicht als etwas Schöpferisches. Hochschule Die Bemühungen zur Demokratisierung der Bildung waren maßgeblich auf die eigenen Verhältnisse innerhalb der Universitäten gemünzt437, mit wenig Bezug zum davor stehenden Schulsystem und umso mehr Bezug auf die dahinter stehende Gesellschaft und ›das System‹ als Ganzes. Schülergruppen blieben noch allgemeiner und konnten weder politisch noch durch eigene Initiative signifikante Resultate zu verzeichnen. Ludwig von Friedeburg musste gar als Beleg des Einflusses der Studentenbewegung auf die Aufwertung der Ingenieurschulen und Höheren Fachschulen zu Hochschulen zurückgreifen, ein in den bildungspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit doch eher untergeordnetes Unterfangen; und auch hier bleibt der Nachweis echter Kausalität aus, zumal durch diesen vorwiegend administrativen Akt von jetzt auf gleich die Studentenquote der ständig auf internationale Vergleiche schielenden Bundesrepublik signifikant verbessert wurde438. Der Einfluss der ›68er‹ auf das Thema Bildung, der in dieser Arbeit keine Rolle spielen soll, besteht in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft (die auch äußerlich durch häufiges Hinzufügen des Wortes ›kritisch‹ deutlich wird: »kritische Soziologie«, »kritische Psychologie«, kritische Pädagogik etc.) Selbst die äußere Reform der Universität lief in weiten Teilen parallel zur Studentenrevolte, die Schnittmengen waren geringfügig. Waren 1968 grundlegende Reformen der Hochschullandschaft und der Institutionen darin schon lange im Gespräch, mithin bereits im Gange, wurde diese von den Protestlern als »technokratische Hochschulreform« abgetan, »die aus ihrer Sicht nur eine effektivere ›Abrichtung‹ zum Zweck der beruflichen Verwertung zum Ziel hatten. In der Gesellschaftskritik der 68er traf dies auf alle Reformen zu, die nicht im Kern auf eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft zielten, letztlich somit auf alle staatlichen Reformprogramme.«439 Diese Abgrenzung war Ausdruck der Ablehnung, irgendeine Veränderung innerhalb des bestehenden Systems als Fortschritt anzuerkennen. Sie alle dienten ja dazu, dieses System lediglich so zu modifizieren bzw. nur so weit entgegenzukommen, dass es nicht zum Umsturz gezwungen werde. Die Ersetzung des Typenlehrers durch den Stufenlehrer für Grund-, Haupt- und Realschule als Vorbereitung zur Einführung der Gesamtschule wurde in Frankfurt durch einen Studentenstreik behindert, da das 436 Vgl. Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform, S. 21. 437 Vgl. Baader, Herrmann, Einführung zu: 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik, S. 9f. 438 Vgl. auch Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 201. 439 Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 124.
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Gymnasiallehramt auch einbezogen werden sollte; Bildungsminister Schütte (SPD) wurde währenddessen sogar am Verlassen eines ›Teach-ins‹ gehindert, was der Kommunikation untereinander gewiss nicht zuträglich war440. Die Einführung der Gruppenuniversität, bereits 1968 im Hessischen Hochschulgesetz vollzogen, entspringt den zuvor geäußerten Vorstellungen Habermas’ zu herrschaftsfreien Diskursen. Die Studentenbewegung griff diese Gedanken auf. Die Universitätsgründung in Bielefeld beispielsweise, eine der größten Umwälzungen im Bereich der tertiären Bildung, vollzog sich aus intensiver programmatischer Debatte innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit. Die Studenten sträubten sich gegen die Implikationen der Massenuniversität, gegen zusätzliche Verschulung, gegen Zugangsbeschränkungen und gleichermaßen gegen die Ordinarien. Die Uneinheitlichkeit der Studentenbewegung, ihr Fokus auf Formen, nämlich auf Protestformen, auf Satzungen und Satzungsdebatten, auf Kollektive und deren Beschlüsse, schlossen sie weitgehend von dem stark an der Sache und schnell geführten Diskurs aus. Es entstand aber ein beachtlicher Druck, der insbesondere innerhalb der Universitäten wirkte und den Wechsel von der Ordinarien- zur Gruppenuniversität stark beförderte441. Vorschulerziehung Auch die Kinderladenbewegung wurde von der interessierten Teilöffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen, speiste sie sich doch allein aus dem »hohen Engagement und zeitlichen Investment bei der Diskussion pädagogischer Konzepte, die von den Eltern aufgebracht wurden«. Hier etablierte sich ein eigener pädagogischer Diskurs. »Dadurch angestoßen, so unterstreichen Zeitzeugen, wurde überhaupt zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte intensiver, breiter und öffentlich über Erziehung nachgedacht und diskutiert.«442 Die frühkindliche Erziehung war der Bereich, der sich noch am stärksten und längsten außerhalb staatlicher Einflussnahme vollzog. Hier bildeten sich durch die Kinderladenbewegung eine bewusste Bewegung, »den Vorschulbereich der Zuständigkeit der Kirchen zu entziehen«443, und »Selbsthilfeorganisationen von Eltern, die mit den bestehenden Vorschuleinrichtungen nicht einverstanden waren und sich nicht vorstellen konnten, die eigenen Kinder in diese Einrichtungen zu geben«444. Damit existierten also zwei Parallelentwicklungen: eine im privaten, eine im staatlichen Bereich, mit nur sehr wenigen 440 Vgl. Groppe, ›Die Universität gehört uns‹. Veränderte Lehr-, Lern- und Handlungsreformen an der Universität der 68er-Bewegung, S. 129, 132. 441 Vgl. Carola Groppe, ›Die Universität gehört uns‹, S. 127f. 442 Baader, »Seid realistisch, Verlangt das Unmögliche«, Vorwort, S. 10. 443 Ebd., S. 13. 444 Baader, Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen, S. 22.
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Berührungspunkten. Die Kinderladenbewegung war von Eltern getragen, die ihren eigenen Kindern den Status quo ersparen wollten, sie setzte auf pragmatische Alternativlösungen für die akute Situation und war nicht angelegt, das Bestehende zu reformieren445. Die Debatte um die Reform der Vorschulerziehung fand parallel statt, möglicherweise auch befördert durch die Erkenntnis, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr dem bestehenden System anvertrauten446, und in Teilen gewiss inspiriert durch das beobachtete. Dazu passt, »dass es auch während der Phase der so genannten proletarischen Erziehung zahlreiche Kinderläden gab, die nicht primär politisch ausgerichtet waren«447, aber »die politisch ausgerichteten Kinderläden und Projekte dominierten den Diskurs, nicht primär politische existierten gleichwohl«448. Ein dialektischer Ansatz: Durch die Gesellschaft zum Individuum Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation wandte sich gegen die klassisch liberale Idee des Individualismus, ohne einen gleichförmigen Kollektivismus zu fordern. Die Kritik am Individualismus erfuhr eingängige Begründungen. Carl-Heinz Evers forderte eine »anthropologische Neubesinnung« darauf, dass der eine »nur durch den anderen zu [sich] selbst gelange«. Ein »dialogisches Prinzip«, das »Ich–mit-Du-Sein« sei die eigentliche Grundlage des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler449, die autonome Persönlichkeit als Bildungsideal habe den Nationalsozialismus hingegen nicht verhindern können450. War dieser »ein Nachgeben an die Versuchung, aus der beängstigenden sachlichen und moralischen Komplexheit unseres modernen Lebens in die Obhut des Einen auszuweichen: alles der Einen Planung, der Einen Kontrolle, der Einen Verantwortung, der Einen Idee, der Einen Person zu unterwerfen«, ging es nun darum, dieser Komplexität vorher Herr zu werden – allerdings keinesfalls als »umgekehrte Ausflucht ins Laissez-aller, in den bequemen Partikularismus, den Dilettantismus, die Vereinzelung«. Es ging nicht darum, den Individualismus als Alternative zum Faschismus und die Freiheit als Alternative zur Planung zu 445 446 447 448
Vgl. ebd., S. 30f. Vgl. ebd., S. 22–24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Aus der politischen Kinderladenbewegung heraus floss nur ein Buch, das innerhalb der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption geringe Beachtung erfuhr : Breitneichner, Kinderläden. Von der Trennung zeugt auch, dass lediglich von einer einzigen städtischen Kindertagesstätte bekannt ist, dass sie Elemente der Kinderladenbewegung übernommen hat. Vgl. Schmid, Das Frankfurter Modellprojekt Kita 3000, 1972–1978, S. 36. Vgl. auch Baader, Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen, S. 28f. 449 Evers, Modelle moderner Bildungspolitik, S. 16f. 450 Vgl. ebd., S. 15.
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wählen, sondern darum, einen »Funktionszusammenhang [von] Bildungs- und Arbeitswelt« herzustellen, durch den diese Alternative »aufgehoben wird, ja sich als antiquiert erweist«451. Von einem »In-der-Welt-sein« sprach auch Wolfgang Klafki. Dieser befand, ein Eigenrecht oder Eigenwert jedes Individuums sei »untrennbar von der Bezogenheit auf Mitmenschlichkeit, Sozialität, politische Existenz« in zumindest irgendeiner Ausprägung. Daraus folgerte er, Bildung könne »heute nicht mehr individualistisch oder subjektivistisch verstanden, sondern muss von Anfang an als auf die Mitmenschlichkeit, die Sozialität (Gesellschaftlichkeit) und auf die politische Existenz des Menschen bezogen gedacht werden«452. Das Menschenbild von Hentigs, der Mensch sei »nicht nur ein Gesellschaftswesen, er ist auch Gattungswesen und er ist Individuum«453, ist zwar auf den Einzelnen ausgerichtet, beklagt sogar die Kollektivierung oder die Unterordnung des Einzelnen unter die Gruppe. Aber gerade bei ihm wird eine dritte, die dialektische Variante der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv deutlich, die typisch für die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption ist und sich dabei sowohl von einem liberalen Individualismus wie auch von einem konservativen oder sozialistischen Kollektivismus oder Kommunitarismus unterscheidet: Von Hentig fragt nämlich: »Was können Gruppen dazu tun (und lernen), damit es den Individuen gelingt?« und antwortet, Selbstbestimmung sei – auch wenn man sich diesen nicht unterwerfen dürfe – nur mehr »mit Hilfe der Abstraktion und bestimmter Kollektivmaßnahmen« zu finden454. Diese Kollektivmaßnahmen fänden sich als Politik, die zur »Grundbedingung unserer Existenz« unter der Komplexität der Industriegesellschaft werde455. Im Parteiprogramm der SPD heißt dies: »Solidarität beweist sich in der Hilfe der Gemeinschaft für die freie Entwicklung eines jeden und ist Bedingung für die Bewahrung der Freiheit aller.«456 Die Gruppe trägt nach diesen Vorstellungen also die Verantwortung dafür, dass der Einzelne sich entfalten kann. Gemeint ist damit, dass die Gemeinschaft dafür sorgen soll, hemmende »Sachzwänge und noch mehr […] das Bewusstsein von Sachzwängen«457 zu beseitigen. Wo aber einerseits Kollektivismus ausgeschlossen und die Bedeutung des Einzelnen gelobt wurden, andererseits die Rolle der Gruppe zentral sein sollte, 451 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 27. 452 Klafki, Bildungstheorie, S. 94. 453 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 58. Nicht zu übersehen ist auch die Ablehnung des Kollektivismus durch die Frankfurter Schule, vgl. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 96f. 454 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 60. 455 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 10. 456 Vorstand der SPD (Hrsg.), Bildungspolitische Leitsätze, S. 7. 457 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 68. Vgl. auch ders., Die Schule im Regelkreis, S. 7.
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entstand ein Widerspruch. Dieser konnte dadurch gelöst werden, dass die Bedürfnisse des Einzelnen gleichzeitig die der Gruppe wären – ihnen also weder pluralistisch entgegenliefen noch kollektivistisch untergeordnet werden müssten. Tatsächlich wurde das Prinzip des Pluralismus auch kritisiert458. Eine pluralistische Gesellschaft ist »nicht zwingend eine individualistische Gesellschaft, sondern auch eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Menschen unterschiedliche Positionen und Möglichkeiten haben«459. Sie muss nicht gleiche Chancen hervorbringen, sondern lediglich die Akzeptanz von Ungleichheit; schwachen gesellschaftlichen Strukturen komme dabei eine starke Selbstbindung des Individuums an seine gesellschaftliche Rolle entgegen. Diese Aspekte wurden aber abgelehnt. Demgegenüber würde eine stark individualisierte Gesellschaft, in der jeder sein eigenes Interesse verfolgte, starker Strukturen oder Institutionen bedürfen, die die Konflikte zu regeln und dem Gleichheitspostulat zu genügen hätten. Die Vorstellung, dass in einer »pluralistischen Gesellschaft mit einem Nebeneinander einer Vielfalt von Gruppen, Auffassungen und Interessen, die sich gegenseitig begrenzen, kontrollieren, miteinander konkurrieren und sich dadurch bis zu einem gewissen Grade neutralisieren würden«, wurde daher in der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption angezweifelt460. Ein Pluralismus also, der etwa auch den Wettbewerb zwischen Individuen461, somit Aufstieg, Leistungsdruck oder eine Hack-und-Pick-Ordnung beinhaltete, wurde abgelehnt; nicht zuletzt, weil »das Individuum selber, also der stur auf dem Eigeninteresse beharrende individuierte, sich selbst gewissermaßen als letztes Ziel betrachtende Mensch«, zu einer Gesellschaft führe, die das Gegenteil seines Ziels, die Nichtindividuation, prämiere und so fördere462. Stattdessen sollte die Schule »einen Beitrag leisten […] zur kollektiven Wendung der Bedingungen der Vielen«463. Diese Erziehung wäre, »dass man den Menschen abgewöhnt, die Ellenbogen zu gebrauchen« und von wettbewerblichen Formen im Erziehungsbereich abzusehen464. Nicht das Kollektiv stand im Vordergrund, sondern das Individuum, für das die gesellschaftlichen Bedingungen angepasst werden sollten; diese Anpassung konnte aber wiederum nur als Erziehung über das Individuum selbst geschehen. Dieses dialektische Muster war anerkannt: »Die wechselseitige 458 459 460 461
Vgl. Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 176. Knewitz, Werte im Vergleich, S. 101. Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 176. Vgl. Hellmut Becker im Gespräch mit: Adorno, Erziehung zur Entbarbarisierung, S. 126: »Ich möchte die Behauptung aufstellen […], dass der Wettbewerb […] in sich ein Element der Erziehung zur Barbarei darstellt.« 462 Adorno, Erziehung – wozu?, S. 118. 463 Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 14. 464 Adorno, Erziehung zur Entbarbarisierung, S. 127.
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Bedingtheit der in der Erziehung zu vermittelnden Selbstbestimmungsmöglichkeiten des einzelnen und einer politisch zu verwirklichenden Gesellschaftsstruktur, die Selbstbestimmung für alle zulässt, ist die grundlegende Erkenntnis einer kritischen Erziehungstheorie in unserem Verständnis. Bezeichnet man solche wechselseitige Bedingtheit als ›Dialektik‹, so kann man die kritische Theorie in diesem bestimmten Sinne auch ›dialektische Erziehungstheorie‹ nennen.«465 Im Sinne des Individuums wurde die Schule also gesellschaftlichen Zielstellungen unterworfen. Gleichzeitig – oder deswegen – durfte das Individuum nicht zur Individualität erzogen werden, denn die »›Autonome Persönlichkeit‹ ist im Ansatz bereits unverbindlich gegenüber dem Mitmenschen.«466 Von Hentig brachte es auf die Formel: »Individuation kann heute gegen die Umstände nicht mehr durch das Individuum durchgesetzt werden, sie kann sich nur durch bewusste öffentliche Erziehungsanstrengungen behaupten.«467 Adorno nannte dies leicht missverständlich die »Wendung zum Subjekt«. Unter dem Eindruck der Verbrechen des Nationalsozialismus wollte er »die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, dass sie solcher Taten fähig werden«, und dann die Menschen im Bewusstsein dieser Gefahren dazu erziehen, sie zu verhindern. Dabei ging es dezidiert nicht um ›Bildung‹ im Sinne der Aneignung überzeitlicher Werte, Herausbildung einer Persönlichkeit oder eines liberalen Emanzipationsbegriffs, sondern um Erziehung – Die Ursache aller Untaten sei in der frühen Kindheit der Täter zu suchen, und dort gelte es, sie zu verhindern468. Der Schüler wurde in der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption auf der einen Seite radikal als Individuum genommen, auf das die Schule zugeschnitten sein sollte. Andererseits wurde das Erziehungssystem als Gesamtes aber mit einer exklusiv gesellschaftlichen Funktion gesehen. Wo ein Idealbild der Gesellschaft als Ziel des Bildungssystems genannt wurde, konnte – egal, wie sehr der Individualismus in diesem Idealbild enthalten war – das Individuum nicht Ausgangspunkt der Erziehungstätigkeit sein. Der Schüler geriet zum Objekt der Erziehung, der Gesellschaft469. Der Schüler war disponibel, weil er als eigen465 Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, FunkKolleg 3, S. 266. 466 Evers, Modelle, S. 15. 467 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 16. Von Hentig zitiert dazu noch den ›RockefellerReport‹: »So paradox es auch scheinen mag, die ganze Gesellschaft muss heute dem einzelnen zur Hilfe kommen, indem sie seine Unersetzbarkeit erweist und ihn unter seine Mitmenschen eingliedert in einer Weise, die seine Individualität nicht zerstört und nicht behindert.« 468 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 90ff. 469 Vgl. auch Evers, Modelle, S. 89: »Das Bildungswesen ist eine Institution der Gesellschaft. In seiner Struktur und in seinem Inhalt spiegelt sich der Zustand der Gesellschaft. Es gab eine
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ständig nicht lebensfähiger Teil eines Gesamtorganismus gesehen wurde470. Die Erziehung als »Koordination aller anderen Korrektive [der Gesellschaft], indem sie den Menschen darauf vorbereitet«471, ist die Einfügung des Menschen in ein System.
Die Macht des Konfliktes Dieses Verhältnis zwischen Einzelnem und Gruppe prägte auch die Vorstellung von Konflikten. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erörtert wurde, steht der Begriff des Konfliktes zentral in beiden emanzipativen Diskursformationen. In der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation war der Konflikt Ausdruck der fortwährenden Dynamik einer freien Gesellschaft. Im gesellschaftlich-emanzipativen Sinne ist der Konflikt notwendig zum Aufbrechen herrschender gesellschaftlicher Strukturen. Dabei steht allerdings nicht der Konflikt zwischen individuellen Interessen, sondern die Bündelung von Interessen in Gruppen, Solidarisierung und die Unterscheidung zwischen Herrschaft und Beherrschten im Vordergrund. Eng verwoben mit dem Fokus auf den Konflikt als analytische Grundlage der politischen Bildung ist der Begriff des Interesses als »subjektive Seite der Politik«472. Wer seine Interessen nicht kenne, mithin beigebracht bekomme, sie zu unterdrücken, statt durchzusetzen, der unterliege denjenigen, die »ihre Parteiinteressen verabsolutieren und dann als Herrschaft einer einzigen Machtgruppe […] das Gemeinwohl unangefochten deklarieren wollen«473. Auch hier wird aber, ähnlich dem Klassengedanken beim Konflikt, Interesse nicht als Materialisierung subjektiver Motive gedacht, sondern als notwendige Folge äußerer Bedingungen, also objektives Merkmal eines Menschen in seinen individuellen Bedingungen. De facto geht es also um die Interessen, die aus einer »sozialen Stellung« erwachsen (die beim Jugendlichen noch nicht sehr gefestigt sei) und ersatzweise die »politischen und sozialen Interessen ihrer Familien oder auch ihrer sozialen Schicht«474. Entsprechung findet diese Vorstellung weiterhin in der Kategorie der Solidarität. Die zur Durchsetzung dieser Interessen postulierte Notwendigkeit der Formierung gesellschaftlicher Gruppen aus der Entität derer, die aus gleichem sozialen Rang heraus ähnliche oder gleiche Interessen haben, verlange die Loyalität des Einzelnen zu diesen Gruppen: »Er muss
470 471 472 473 474
Zeit, da wurde die Zweckfreiheit überbetont, da flüchtete die Schule an den Stadtrand, in die Wälder.« Vgl. von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 16ff. Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 16. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 107. Sontheimer, S. 76. Zitiert nach Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 107. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 108.
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sich auch mit denjenigen Gruppen identifizieren, denen er jeweils seine Interessen anvertrauen kann.« Diese Solidarität könne in einer Gesellschaft ohne fixe Klassen allerdings auch wechseln475.
Totale Demokratie Ein wichtiges Element zum Verständnis der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption ist deren Verständnis von Demokratie und die daraus resultierenden politischen Befugnisse über das Bildungswesen. Nicht nur die Politik müsse demokratisch organisiert sein. »Das Missverständnis liegt in der Annahme, der Demokratisierungsprozess der Neuzeit habe nur ganz bestimmte Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens erfasst – eben das Politische – und man müsse nun darauf achten, dass die damit verbundene allgemeine Politisierung nicht auch unzulässig in den Bereich von Kultur und Bildung eindringe.« Die Vorstellung, dass Herrschaft, oder Zwang, nicht nur von der Politik ausgeübt werde, sondern durch alles Materielle und insbesondere Wirtschaft und Kultur, mache eine »allgemeine Demokratisierung« nötig, eine »umfassende Politisierung aller Lebensbereiche«476. Carl-Heinz Evers bekannte klar : »Die Gesellschaft hat das Recht, die Inhalte der Erziehung und Bildung mitzugestalten. Bildungsziele können nicht allein von den Ausbildern festgesetzt werden, sondern die ›Abnehmer‹ haben ein gewichtiges Wort mitzureden.«477 Dabei verweist er nicht nur auf Lehrer, sondern auch auf Dozenten und Professoren. Das deutet auf den Umfang dieser Idee hin: Demnach sollte das zu Lehrende, somit auch das zu Lernende, selbst an der Universität, Objekt demokratischer Abstimmung und nicht pädagogische Freiheit sein. Die Wissenschaft habe eine gesellschaftliche Funktion bekommen und müsse daher auch unter gesellschaftlicher Kontrolle stehen: »Der Verwissenschaftlichung der Berufs- und Alltagspraxis entspricht eine Vergesellschaftlichung der in Hochschulen organisierten Lehre und Forschung.«478 Die Kontrolle 475 476 477 478
Ebd., S. 110. Ebd., S. 180. Evers, Modelle, S. 40. Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 306. Ähnliche Gedanken finden sich bei von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 18. Vgl. auch Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 6: »Diese Ziele [der Hochschulreform] sind, dass die Wissenschaft, die in Form von Forschung und Lehre nach dem Grundgesetz frei ist, nicht frei ist von jeglicher Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft. Sie kann der Gesellschaft gegenüber kein ihr gefälliges Eigenleben führen, das etwa so aussähe, dass ihre Tätigkeitsentfaltung vielleicht nur eine Art Mußeabenteuer sein könnte oder aber eine Kaderschmiede für den Umsturz. Diese Wissenschaft schuldet der sie tragenden Gesellschaft einen Beitrag, der sie auf dem Gebiet des technischen Fortschritts und auf dem Weg zu mehr Humanität voranbringt.«
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durch die Politik hemme demnach die Macht der Mitbestimmung nicht, sondern mache sie überhaupt erst möglich. Als Gefahr wurde die politische Unabhängigkeit (und dadurch Nichtkontrollierbarkeit) erkannt, nicht die politische Instrumentalisierung als solche479. Die Demokratisierung der Hochschulen von innen und die politische Kontrolle von außen sollten sich funktional ergänzen, denn »aus der Mitbestimmung von Studenten (und Assistenten) würden Gefahren doch nur erwachsen, wenn die Autonomie der Hochschule unter den gegenwärtigen Umständen alleine durch das liberale Modell der Freiheitssicherung garantiert werden könnte. Dieses Modell […] stützt sich auf individuelle Abwehrrechte privilegierter Wissenschaftler und auf die institutionelle Abschirmung einer entpolitisierten Hochschule gegen interessierte Einwirkung von außen. […] Heute kann die Autonomie von Lehre und Forschung nicht mehr unpolitisch gewahrt werden.«480 Eine Reduzierung der Hochschulautonomie ließ sich so als zu durchbrechendes Tabu darstellen, »das von extrem konservativen wie extrem revolutionären Kräften gleichermaßen gepflegt wird«481, als Beleg galt: »Die unpolitische Hochschule hat sich der akademischen Machtergreifung des Jahres 1933 nicht erwehren können.«482 Die akademischen Freiheiten sollten sich »angesichts der gesellschaftspolitischen Verantwortung der Wissenschaft« auf »die eigentliche Wissenschaftsfreiheit« von Forschung und Lehre, nicht aber auf »eine Autonomie zur Verteilung von Deputaten und zur Ausschmückung der elfenbeinenen Esoterik unserer Hochschulen« beschränken483. Dessen Folge seien nur »lähmender Partikularismus im Innern und die Unfähigkeit, Gesamtinteressen der Hochschule überzeugend zu deklarieren und wirksam nach außen zu vertreten«. Diese Interessen würden die Hochschule zu einer »politisch handlungsfähigen Einheit« machen, die so »in praktisch folgenreichen Fragen einen politischen Willen zu bilden« habe484. Da aber der staatliche Einfluss auf die Hochschule durch die steigenden öffentlichen Mittel und deren Verteilung wuchs, sollte eine politisierte Hochschule in Korrespondenz mit Politik und Gesellschaft treten können: »Die Hochschule
479 Vgl. Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 304: »Jede Regelung produziert ihre eigenen Risiken.« 480 Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 305. Ähnlich argumentierte der SDS, der eine formal autonome Hochschule als manipulierbar ansah. Vgl. Groppe, Generationenverhältnisse und Generationenkonflikte um ›68‹, S. 143. 481 Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 18. Vgl. auch von Dohnanyi, Hochschule im gesellschaftlichen Konflikt, S. 16f. 482 Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 304. 483 Rau, Gesamthochschulen für Nordrhein-Westfalen, S. 18. Vgl. auch von Dohnanyi, Hochschule im gesellschaftlichen Konflikt, S. 16f. 484 Habermas, Demokratisierung der Hochschule – Politisierung der Wissenschaft?, S. 307.
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selbst konstituiert sich als eine auf dieser Ebene politisch handlungsfähige Einheit und vertritt sachverständig ihre legitimierten Ansprüche.«485
Das »Erziehungsrecht des Staates« im Grundgesetz Zur rechtlichen Begründung des staatlichen Erziehungsauftrag wurden die Bezüge in den Artikeln 6 und 7, II GG herangezogen, wonach der Staat über Pflege und Erziehung durch die Eltern wacht und das Schulwesen unter seiner Aufsicht steht. Daraus wurde sogar ein »ursprünglicher Erziehungsanspruch« des Staates neben dem der Eltern abgeleitet486. Auch bis zur Ableitung eines »Erziehungsrechts des Staates«487 war es dann nicht mehr weit. Die Hierarchisierung zwischen Eltern und Staat in der Verfassung wurde dabei komplett ausgeblendet. Anders als in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption wurde als politische Grundlage für bildungspolitische, beziehungsweise -wissenschaftliche Entscheidungen der Wertekanon des Grundgesetzes nicht als restriktive Grenze für die Erziehungsgewalt des Staates begriffen, aus dem höchstens weitere Imperative ableitbar wären. Dieser Kanon sollte stattdessen über demokratische Abstimmung beliebig erweitert werden488. Somit war jedes durch die Politik festgelegte Erziehungsziel, das nicht gegen das Grundgesetz verstieß, legitim und sogar legitimer als alles, was sich aus vordemokratischer Zeit als Teil des tradierten Schulsystems ohne explizite demokratische Setzung überliefert hatte. Selbst eine weit in den Marxismus hineinreichende Ausprägung der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption erfuhr so ihre Legitimation durch das Grundgesetz: »Denn strategisches antikapitalistisches Lernen in der Schule und durch die Schule vollzieht sich im Rahmen des Grundgesetzes, wenn man ›Würde des Menschen‹ nicht nur formal, sondern inhaltlich auffasst, und wenn man seine Artikel 14 und 15 nicht ›als gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet‹ unter den Tisch bügelt. Das Rechtskartell hat es durch jahrelange Meinungsmache verstanden, den Eindruck zu erwecken, als sei das aktuelle Wirtschaftssystem das einzige nach dem Grundgesetz gebotene und mögliche und als sei das Recht des Stärkeren ein Synonym für Freiheit.«489 Hier tritt wieder die Vorstellung zu Tage, dass die Beibehaltung eines politisch isolierten Bildungswesens mit der Unterstützung eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems gleichzusetzen sei. Eine sozialistischere Lesart des Grundgesetzes ergab sich 485 Ebd., S. 306. 486 Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 177: »Man wird also davon ausgehen müssen, dass sowohl die Eltern als auch der Staat einen ursprünglichen Erziehungsanspruch geltend machen dürfen.« 487 Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 178. 488 Evers, Modelle, S. 41. 489 Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 19.
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neben den erwähnten Artikeln aus dem Gleichheitspostulat und dem Sozialstaatsprinzip490.
Schule zwischen Staat und Familie Im Dreieck zwischen Staat, Schule und Familie spielte nach dieser Auffassung Letztere schon in der rechtlichen Interpretation eine geringe, idealerweise sogar eine untergeordnete Rolle. Als »Reproduktionsinstitut der bürgerlichen Gesellschaft« schien die Familie zur Emanzipation ungeeignet, wenn nicht gar kontraproduktiv. Nur selten wurde so radikal argumentiert, wie in der Berliner Kinderladenbewegung, die die bürgerliche Familie gleichzeitig als Spiegelbild und Instrument der zu bekämpfenden Gesellschaft sah491: »In der Familie hat die bürgerliche Gesellschaft das sanfteste, gewaltloseste Instrument, sich störungsfrei zu reproduzieren und das Eindringen des Bewusstseins ihrer Widersprüche in die Köpfe der Massen zu unterbinden.«492 Ähnliche Gedanken wurden etwa auf dem 4. Deutschen Jugendhilfetag 1970 zur Begründung der frühkindlichen Erziehung als Mittel des Klassenkampfes geäußert493. Die Kleinfamilie, so war man überzeugt, erziehe »den Jugendlichen nur noch so, dass er sich als private Person verhält«, bereite ihn »ungenügend auf Aufgaben und Pflichten des öffentlichen Lebens«494 vor und garantiere »die funktionsnotwendige Entpolitisierung breiter Bevölkerungsschichten«495. Die Schule aber müsse zur Verantwortungsbereitschaft erziehen, was die Eltern gar nicht könnten, »weil der junge Mensch heute in mitmenschliche, gesellschaftliche und politische Verantwortungen, die ihm zukünftig auferlegt sein werden, nicht mehr unmittelbar ›hineinwächst‹«496. Insbesondere aber das Milieu der Familie spiele in der Sozialisation eine entscheidende Rolle und führe dazu, dass sich die Gesellschaft in ihrer Form nicht oder kaum ändere, Rollenbilder würden übertragen und ein klassenspezifisches Selbstverständnis verfestigt497. Dadurch war die Rolle der Eltern und anderer sozialer Gruppen in dieser Diskursformation eher eine hinderliche: »Gerade die Praxis der politischen Bildung hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, wie schwer es ist, seitens der Schule gegen die Urteilsmaßstäbe 490 491 492 493 494 495 496 497
Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 25f. Breitneichner, Kinderläden, S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. Cloos, Die Neu-Entdeckung der frühen Kindheit, S. 79ff. Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 166. Ebd., S. 173. Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 70. Vgl. Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 166ff.
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solcher Gruppen – etwa der Familien – anzugehen.«498 Sogar von »ständiger Denunziation bei den Eltern [der Schüler durch die Schule]«499 war die Rede, wenn der Unterricht mit den Familien rückgekoppelt wurde. Bis hin zum aktiven Entgegenwirken der Schule gegen eine »resignative Anpassungshaltung der Eltern« an »präformierte gesellschaftliche Denkweisen«500 gingen die Forderungen. Darüber hinaus galten auch die Bedingungen des Elternhauses, also gerade die Arbeitswelt der Unterschicht, als einflussreiche Faktoren auf die familiären Sozialisationsbedingungen und somit auf den Schulerfolg501. Aus dem Gedanken sozialer Gleichheit konnte also nicht einfach die Förderung des Kindes hin zur schulischen Norm gewünscht sein. Kompensatorische Maßnahmen, die dazu gedacht sind, einen komparativen Mangel auszugleichen, hätten zwangsläufig die Anforderungen des Systems annehmen müssen, das abgelehnt wurde. Dass solche Anpassungen abgelehnt wurden, demonstriert noch einmal deutlich, dass es in dieser Konzeption nicht um den Einzelnen ging, der durch kompensatorische Erziehung bessere Chancen auf dem späteren Arbeitsmarkt gehabt hätte. Dieser konkrete Vorteil wurde einer abstrakten Veränderung der Gesellschaft untergeordnet, in der Hoffnung, dass der Schüler – oder wohl eher die Schüler künftiger Generationen – in dieser veränderten Gesellschaft nicht mehr darauf angewiesen wäre, seine Mängel auszugleichen. Nicht das Kind sollte also den Anforderungen, der Norm angepasst werden. Die Norm musste sich in einer »Veränderung des Ausbildungssystems selber im Sinne einer kritischen Distanz zur etablierten Mittelschichtenkultur« den (Unterschicht-)Kindern anpassen502. Das Gleichheitspostulat galt absolut. Selbst in der Sprache hatte sich die Schule jedem Einzelnen anzupassen. Hochsprache, Niedersprache, Dialekte waren gleichrangig: »Das [unterschiedliche Sprachverhalten] macht einen Unterricht erforderlich, der nicht nur an das jeweilige sprachliche Ausgangsverhalten verschiedener Schüler und Schülergruppen anknüpft, sondern alle Schüler zur Wahrnehmung und Versprachlichung ihrer Spezialerfahrungen befähigt.«503 Neben den Unterschieden in der Sprache mussten auch Unterschiede in den Werten der Schüler integriert werden. Die Auffassung, dass Kinder der Unterschicht in ihrer Intelligenz und Leistungsfähigkeit unterlegen seien, wurde nämlich nicht bestritten. Die festgestellten schlechteren Schulleistungen wurden allerdings nicht auf eine erbliche Veranlagung zurückgeführt, sondern auf »die sozio-ökonomisch bedingte Wertorientierung, die Rollenstruktur und den Er-
498 499 500 501 502 503
Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 145f. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 98f. Combe, zur Arbeitssituation des Lehrers, S. 122. Feldhoff, Schule und soziale Selektion, S. 96. Ebd. HHStAW 504/2940, Folgerungen für den Deutschunterricht, S. 10.
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ziehungsstil der Arbeiterfamilie«504. Die Frage war, wie damit umzugehen sei. Eine Förderung des Einzelnen, eine Individualisierung des Unterrichts, wäre einer Herauslösung der Schüler aus ihrer Klasse gleichgekommen und hätte dem abgelehnten Gedanken des ›sozialen Aufstiegs‹ entsprochen. Daher könne ein Ausgleich nur im System stattfinden505. Der Zusammenhang zwischen »Wertorientierung und Schulleistung« (gemeint waren die bei Mittelschichtkindern anzutreffenden Merkmale »aktivistisch, zukunftsorientiert und individualistisch«506) führte also nicht zu der Schlussfolgerung, genau diese Werte den Kindern in der Schule zu vermitteln. Stattdessen müssten unmittelbar die Sozialisationsbedingungen in den Familien geändert werden, welche über die Arbeitswelt der Eltern vom Produktionssystem bestimmt würden. Somit galt, »dass die Frage nach den für den Schulbesuch bedeutungsvollen Sozialisationsprozessen zugleich eine Frage nach der Demokratisierung der sozialen Institutionen ist«507, gemeint waren damit vor allem die Betriebe. Es bedurfte also des Staates, gesellschaftliche Änderungen auch gegen Familien und soziales Umfeld durchzusetzen. Dabei dachte nicht jeder gleich wie Adorno an »mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen« zur »Entbarbarisierung des Landes«, dessen Bevölkerung ansonsten in einem »Zustand des mit der Kultur nicht ganz Mitgekommenseins« verharre508. Aber es gab auf jeden Fall eine Tendenz, Bildung, Erziehung und Sozialisation weitgehend unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die antizipierte Ausweitung der staatlichen Einflusssphäre betraf besonders die betriebliche Ausbildung, die sich der politischen Einflussnahme ja weitgehend entzog: »Soweit die Marktwirtschaft erhalten bleibt, müsste versucht werden, wenigstens das Lehrlingswesen aus dem ökonomischen Konkurrenzkampf herauszunehmen, der die Ausbildung der Jugendlichen besonders in kleineren Betrieben beeinträchtigt.«509 Der Ausbildungscharakter sollte sich grundlegend wandeln – von der an eine bestimmte Aufgabe gebundenen Fachausbildung hin zu einer »allgemeinen Vorbereitung für den Beruf […]. Die bloße Instrumentalfunktion der Ausbildung, die nur auf direkte Verwendbarkeit am Arbeitsplatz 504 Feldhoff, Schule und soziale Selektion, S. 96. 505 Vgl. Feldhoff, Schule und soziale Selektion, S. 82–96. Vgl. auch Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 167: »Das sich hierbei ergebende schichtspezifische Leistungspotential darf nicht als Fähigkeitsunterschied für realitätsgerechtes Verhalten gedeutet werden, sondern die besondere Sozialisationsproblematik der Unterschicht besteht darin, dass die von ihr entwickelten Fähigkeiten dem von der Gesellschaft in ihren verschiedenen Institutionen verbindlich gemachten Leitbild eines lebens- und funktionstüchtigen Menschen nicht hinreichend nahekommen.« 506 Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, S. 272. 507 Ebd., S. 294. 508 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 94. 509 Lempert, Lehrlingsausbildung und Chancengleichheit, S. 122.
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abzielt, ist überholt.«510 Das »Ausbildungsmonopol der Unternehmer«, deren »Interesse an der Besetzung vorgegebener betrieblicher Hierarchien […] die Entfaltung und das Glück der jungen Generation« gefährde, sollte abgebaut werden. Als Mittel dagegen wurden ein stärkeres öffentliches Engagement in der Berufsausbildung und Angebote außerbetrieblicher Berufsausbildungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Mithin wurde die betriebliche Ausbildung insgesamt in Frage gestellt511. Eine weitere Tendenz zur Ausweitung der staatlichen Erziehungstätigkeit war das Eintreten für die Ganztagsschule. An der Grenze des Sozialismus Die Aufgabe der Schule wurde von der Gesellschaft her gedacht, und zwar im Sinne deren Veränderung von einem kritisierten Status quo aus hin zu einem postulierten Ideal. Dieses hatte, gleichwohl das oft bestritten wurde, sozialistische Züge. Während oft eine formelle Äquidistanz aufrechterhalten wurde und die pädagogischen Grundlagentexte mitunter betont unpolitisch formuliert waren, wuchsen sie auf dem Nährboden gleicher Annahmen wie der zeitgenössische Sozialismus der Neuen Linken. Wolfgang Klafki etwa, der eine Ideologisierung des Unterrichts nach dem »dialektischen Materialismus« ablehnte (»um der utopischen Freiheit der Zukunft willen zerstört man die wirklich mögliche Freiheit der Gegenwart«512) legitimierte sogleich die Einführung objektivierbarer, gesellschaftlich relevanter Werte in den Unterricht. Man brauche »keine wertneutrale ›Anpassung‹ an die Gegenwart; vielmehr heißt es, dass Erziehung und Schule aus der verwirrenden Mannigfaltigkeit der wirkenden Einflüsse der Gegenwart, die mit den Kindern in das Elternhaus und in die Schule strömen, diejenigen Geschehnisse, Kräfte, Werte auswählen, durch deren Aufklärung, Vertiefung, Verstärkung die geistigen Möglichkeiten und Aufgaben sichtbar werden und bewältigt werden können.«513 In diesem Plädoyer gegen Wertneutralität findet sich eine weitere Abgrenzung zur individualrechtlichemanzipativen Diskursformation. Wie bewusst diese Abgrenzung vorgenommen wurde, wird am Lernprozess Carl-Heinz Evers’ deutlich. Er distanzierte sich zusammen mit anderen »sozialistischen Schulreformern« in den siebziger Jahren 510 Leussink, Bildungsreform und Berufswelt, S. 216. 511 Lempert, Lehrlingsausbildung und Chancengleichheit, S. 122–124. Vgl. auch Bundesregierung, Bildungsbericht ’70, S. 9f. 512 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 19. Klafki lehnte ganz im Sinne dieser Äquidistanz diesen Utopismus vor allem gemeinsam mit einem Traditionalismus und dem Aktualismus ab, um ein Ausschlussargument für seine Verortung von Erziehung zu entwickeln, die »um einen ihr eigenen Sinnmittelpunkt: die Verantwortung für das Kind zentriert versteht, ihren Ort im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu wählen habe.« Ebd., S. 20. 513 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 21f.
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klar von seiner Vergangenheit als idealistischem Bildungsreformer. Die Einsichten, die Schule solle »die Ware Arbeitskraft gestuft qualifizieren, und sie soll die Jugendlichen in die Verkehrsformen der kapitalistischen Klassengesellschaft einüben«, lösten seine »Illusionen der sechziger Jahre« ab514. Selbst die Einführung der Gesamtschule von »liberalen Bildungspolitikern und -theoretikern« wurde abgelehnt, da sie lediglich Sicherung von »Massenloyalität und somit [der] Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse« diene515. Wo die Unterschiede zwischen diesen beiden Diskursformationen immer deutlicher hervortraten, verschwommen die Trennlinien an einer ganz anderen Seite. Nicht erst, wenn Klafki auf Pestalozzi rekurriert516, wird deutlich, wie die gesellschaftlich-emanzipativen Bildungsreformer sich argumentativ auf einer ganz ähnlichen Grundlage befanden wie die werterzieherische Diskursformation: Man wollte die Kinder auf den Umgang mit ihrer Lebenswelt vorbereiten; Letztere anhand überzeitlicher Werte, Erstere anhand theoretisch entwickelter Ideen. Jeweils passierte dies in Abgrenzung von einer Anpassung an die als bedrohlich aufgefassten Herausforderungen der Industriegesellschaft517. Die unheimliche Wirklichkeit sollte im einen Fall durch das Erschließen eines objektiven Geistes (Hegel) bewältigt werden, im anderen »in der großartig einfachen Terminologie von Hegel und Marx – [durch] ›Aneignung des sich selbst entfremdeten Geistes‹«518. Inhaltlich kam es zu dem Punkt, an dem sich die Enden berührten, wenn Wolfgang Klafki zur Herstellung einer Bildung, »die sich selbst als dynamisch, wandlungsfähig, offen versteht« die »bewusste Aneignung übergreifender Wertprinzipien« forderte und diese sogar als »Treue und Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft, Tapferkeit und Standhaftigkeit« festlegte519. Hier unterschieden sich die beiden Diskursformationen nur noch hinsichtlich des Diskursrahmens, innerhalb dessen die Aussagen getätigt wurden, also über den rezipierenden Personenkreis und den Kontext, in den diese Aussagen eingeordnet wurden, nicht mehr hinsichtlich der Aussagen selbst. Wolfgang Klafki sah diese Nähe selbst, zog aber eine bemerkenswerte Grenze: »Indessen: ›Emanzipation‹, ›Selbstbestimmung‹, ›Freiheit‹, ›Recht auf individuelles Glück‹ im Sinne unseres Verständnisses von kritischer Theorie gehen über die Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 15f. Nyssen, Rolff, Perspektiven der Schulreform im Spätkapitalismus, S. 34f. Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 21f. Darin findet sich auch das marxistische Motiv der Entfremdung wieder. Adorno beklagt: »Die Kultur, die ihrem Wesen nach den Menschen alles Mögliche verspricht, hat dieses Versprechen gebrochen. Sie hat die Menschen geteilt. Die wichtigste Teilung ist die von körperlicher und geistiger Arbeit. Sie hat damit dem Menschen das Vertrauen auf sich, auf Kultur selber, entzogen.« Adorno Erziehung zur Entbarbarisierung, S. 128. 518 Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 47. 519 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 98.
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Auslegung solcher oder ähnlicher Begriffe in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entscheidend hinaus. Diese Begriffe werden nämlich nicht allein auf den je einzelnen zu erziehenden jungen Menschen bezogen, sondern zugleich auf die Gesellschaft und letztlich – so übersteigert das auf den ersten Blick erscheinen mag – auf die Menschheit als ganze. Die Förderung des einzelnen Kindes zur Entscheidungsfähigkeit oder Mündigkeit hin wird erst möglich, wenn die Beschränkung der pädagogischen Sorge auf das Individuum aufgehoben und die Dialektik individueller und gesellschaftlicher Emanzipation dadurch in den Blick gerät, dass die jeweiligen sozialen Bedingungen sowie die gesellschaftlich-politischen Funktionen der Erziehung untersucht werden.«520 – wiederum das dialektische Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft. Diese Distanzierung von der ›geisteswissenschaftlichen Pädagogik‹ geht auf neuhumanistische, idealistische Bildungsvorstellungen ein, von denen sich allerdings auch die werterzieherische Diskursformation ohne weiteres mit ähnlichen Worten distanziert hätte, wie im entsprechenden Kapitel dieser Studie zu sehen sein wird. Auch in der Ablehnung der Bemessung der Bildung an ihrer Nützlichkeit liegen die beiden Diskursformationen nah beieinander : »Gerade aus einer gründlichen Interpretation der politischen Beteiligung folgt, was konservative Gruppen bei uns mit Recht, aber oft mit falschen Begründungen fordern: Das Bestehen auf der ›Sache‹ in Distanz zu jeder gesellschaftlichen und politischen Nützlichkeit und Brauchbarkeit.«521 Wissenschaft als Theorie Ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption ist seine immerwährende Referenz zur Wissenschaft als Chiffre für Objektivität oder Wahrhaftigkeit und Gegenbild zu Tradition und Willkür522, die »rationalisierte, objektivierte (=intersubjektive) Form« von Wissen523. Wissenschaft als »Habitus« müsse früh, also in der Schule, erlernt werden, denn: »Sinn und Sicherheit unseres Lebens hängen entscheidend davon ab, in welchem Maße alle Mitglieder der Gesellschaft über wissenschaftliche Einstellungen und Verfahren verfügen und sich in einer politischen Wirklichkeit zu behaupten lernen.«524 Würde dies hingegen versäumt, beziehungsweise typischerweise aktivisch formuliert, würden »Menschen am Verstehen […] des die Welt und die Zukunft bestimmenden modernen Wissenschaftsprozesses« gehindert, würde dies »auf 520 Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, FunkKolleg 3, S. 265. 521 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 180. 522 Vgl. von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 183. 523 Von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 240. 524 Vgl. von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8.
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die Oberschicht, die solches unternimmt oder daran festhält, als Revolution zurückschlagen.«525 Dahinter stand auch die Vorstellung Habermas’, zwischen Wissenschaft und Politik eine aufgeklärte Öffentlichkeit schalten zu müssen, um zu rationalen politischen Entscheidungen zu gelangen526. Allerdings ist eine genauere Betrachtung dessen angebracht, wie der Begriff der Wissenschaft gefüllt wurde. Es bleibe »die seit einigen Jahren gängige Vokabel vom ›wissenschaftsorientierten Lernen‹ so lange eine inhaltsleere Worthülse, bis gesagt wird, welche Auffassung von Wissenschaft gemeint ist; denn die Ideologie von deren Zweckfreiheit soll doch die Interessen derer verstecken, die sie erfunden haben.«527 Anders als in der szientistischen Konzeption, in der die Bildungsziele deduktiv aus empirischen Befunden erschlossen werden sollten (denen hier wiederum auch ihre Neutralität abgesprochen wurde), wurde hier die Wissenschaft in den Dienst normativer Gesellschaftspolitik gestellt528. Dem entsprach eine bestimmte Vorstellung von wissenschaftlicher Methodik. Danach betreffe die Wissenschaft lediglich die Beschäftigung mit dem Objekt, also im Falle der Pädagogik die Beschäftigung mit Bildung und Erziehung. Die Wissenschaftlichkeit als solche werde hingegen alleine von der Philosophie behandelt. »Das heißt, die Wissenschaft bestimmt selbst, wie der Beweis erbracht wird. […] Aber : Was ein Beweis ist, das klärt die Philosophie, und zwar mit Hilfe einer Theorie, die kritisierbar, aber selbst nicht eigentlich beweisbar und darum auch nicht widerlegbar ist – außer in sich selbst.«529 Somit konnten in einem geschlossenen theoretischen System, dessen Wissenschaftlichkeit postuliert wurde, auch normative Aussagen gefunden werden, wenn im philosophisch gesetzten Rahmen eine entsprechende Referenz vorzufinden war, ein fixer Bezugspunkt, der die Vorzeichen sowie Maß und Relationen der Wissenschaft bestimmte. Eine Unterscheidung zwischen Normativität und Positivität von Wissenschaft musste so überhaupt nicht mehr getroffen werden, weil lediglich der durch die Philosophie, einer »allgemeinen, setzenden, ordnenden, kritisierenden Vernunft«530 gesetzte Rahmen dies zu beeinflussen hätte, und in seiner fast schon transzendenten Disponibilität schlichtweg einer ihn gültig machenden Akklamation bedurfte531. Diese Offenheit führte bis hin zum Terminus der
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Roth, Stimmen die deutschen Lehrpläne noch?, S. 160. Vgl. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 286. Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 14. Roth, Stimmen die deutschen Lehrpläne noch?, S. 157. Von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 261. Ebd., S. 262. Hier ist eben genau der Unterschied zur szientistischen Konzeption deutlich geworden, die sich dem Objekt nach orientiert und die Erarbeitung ihrer Methodik dem Erkenntnisinteresse unterstellt und nicht einem philosophischen Menschenbild wie von Hentig (Spielraum und Ernstfall, S. 262). Wenn dieser sagt, dass Heinrich Roth die pädagogische Phi-
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»Wissenschaft vom Gemeinwohl«532. So konnte behauptet werden, es gehe – ganz wissenschaftlich – darum, »von den moralischen Voraussetzungen abzusehen und die gleichen schulpolitischen und didaktischen Forderungen aus den Merkmalen der Industriegesellschaft selbst abzuleiten«533. Gleichermaßen konnten etwa die Gegner der Gesamtschule »mit ihrem wissenschaftstheoretischen Instrumentarium« diskreditiert werden, da dieses unter den Maßstäben der eigenen Wissenschaftlichkeit »unter der Ideologie der Wertfreiheit und der Sachzwänge ohnehin nicht für die Interessen der vielen Partei nimmt«534 – so von Hentig. Ähnlich Klafki, der im vielbeachteten Funkkolleg Erziehungswissenschaften seine Vorstellung von Wissenschaft erörterte. Ein doppelt distanzierend in Anführungszeichen und kursiv gesetztes ›positivistisches‹ Verständnis von Wissenschaft sei zwar möglich, offenbar aber nicht erstrebenswert. Demgegenüber stand der »Versuch einer kritischen Erziehungstheorie«535. Zwar sei Wissenschaft generell schon kritisch, aber : »Unser Begriff von kritischer Erziehungswissenschaft geht – wie der einiger anderer zeitgenössischer Erziehungswissenschaftler, etwa Klaus Mollenhauers oder Herwig Blankertz’ – darüber hinaus. […] Kritische Theorie in diesem Sinne schließt ein ganz bestimmtes Erkenntnisinteresse mit ein, nämlich ein auf Gestaltung oder Veränderung der Praxis gerichtetes Interesse. Die besondere Richtung dieses Interesses der Theorie ist von uns häufig durch Begriffe wie ›Mündigkeit‹, ›Selbstbestimmung‹, ›Freiheit‹, ›Demokratisierung‹, ›Emanzipation‹, als Wertungskriterien bezeichnet worden. Wir verstanden Erziehungswissenschaft also als Forschung und Theoriebildung im Hinblick auf die Klärung des Problems der Selbstbestimmung, der Demokratisierung, der Emanzipation in pädagogischer Perspektive.«536 Diese Prämissen als Zielbestimmung von Wissenschaft anzunehmen, verlangte eine ähnliche Argumentation, wie sie von Hentig vorbrachte: »Wir versuchten zugleich zu zeigen, dass in diesem Erkenntnisinteresse so lange keine Beeinträchtigung der Objektivität der Forschung und der Theoriebildung zu liegen braucht, wie man eben dieses eigene Interesse selbst reflektiert, also das Bewusstsein der eigenen Position dauernd wachhält und damit diese Position selbst diskutierbar und kritisierbar macht.«537 Die Wertbestimmungen wurden also zur theoretischphilosophischen Grundlage von Wissenschaft gemünzt, die alleine durch ihre
532 533 534 535 536 537
losophie Theorie nenne (ebd.), verkennt er, dass dies für Roth nicht nur ein anderer Name ist. Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 16 unter Bezug auf Platons Utopia. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8. Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 17. Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, FunkKolleg 3, S. 262f. Ebd., S. 263f. Ebd., S. 264.
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wiederum kritische Hinterfragung den Status der Objektivität (sic!) in Anspruch nehmen könnten. Diese Hintergründigkeit wurde allerdings nicht weiter erörtert538.
Das Ziel der kollektiven Emanzipation Aus diesen Sichtweisen bis hin zu »marxistischer Kritik«539 (von Hentig) auf die Gesellschaft wurde ein Bildungswesen entworfen, in dem Inhalte und Struktur aufeinander abgestimmt waren und zusammen dem aus den aufgeführten theoretischen Anstellungen abgeleiteten – und in ihrem Sinn gedeuteten – obersten Ziel des Bildungs- und Erziehungswesens zu dienen, das selbst wiederum alle aufgezählten Aspekte inkorporierte. Emanzipation war das oberste Lernziel, wodurch sich gesellschaftlich-emanzipative und individualrechtlichemanzipative Konzeption aber nur im Begriff, nicht in dessen Bedeutung vereinten. Der Begriff der Emanzipation ist hier nicht mehr das Zerschlagen ungefragter Bindungen, also alleine das Bewusstsein um die Möglichkeit, sich entscheiden zu können. »Emanzipiert ist m. E. jemand erst dann, wenn er sich als Subjekt seiner eigenen Praxis erweist, d. h. wenn er in der Lage ist, sich von konkreten Zwängen selbst frei zu machen, und wenn er sich davon frei macht. Das Bewusstsein von diesen Zwängen bzw. das Bewusstmachen dieser Zwänge ist zwar eine wichtige Voraussetzung der Emanzipation, genügt aber allein nicht. Kritisches Bewusstsein ohne praktische Konsequenz entspricht sozialgeschichtlich dem frühen Bürgertum. Emanzipation wurde hier nicht wirklich praktiziert, sondern verinnerlicht, etwa im Sinne des Liedes ›die Gedanken sind frei‹. Das kritische Bewusstsein, das nicht auch zur Praxis fortschreitet, muss gegenüber den nicht veränderten Herrschaftsverhältnissen resignieren. Das aber führt in der Regel zu Unterwerfung.«540 Emanzipation wäre somit das Zerschlagen aller Bindungen, denn ein Mensch, der sich für eine Bindung entscheidet, ersetze damit »was die Psychologie Über-Ich nennt, das Gewissen, […] durch äußere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten«. Jede Bindung bedeute Heterono538 Vgl. auch Behrmann, Die Erziehung kritischer Erzieher als neues Staatsziel, S. (208): »Während die ›geisteswissenschaftliche‹ Pädagogik sowie die empirische Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsforschung im Kolleg ausführlich dargestellt und diskutiert wurden, blieb den Hörern und später dann den Lesern des Kollegs der gesellschaftstheoretische Gehalt der so ausgezeichneten Theorie jedoch verborgen. Vermutlich hatte auch Klafki selbst noch keine klare Vorstellung von der Kritischen Theorie.« Ähnliche Gedanken finden sich bei Evers, Ideologisches und Unideologisches in der Bildungsdiskussion: Ein notwendiger Versuch zur Klärung eines unklaren Begriffs, S. 125–128 und 132f. In: Nicklas, Politik. Wissenschaft. Erziehung. Festschrift für Ernst Schütte, S. 125–134. 539 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 98f. 540 Rückriem, Debattenbeitrag, S. 271.
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mie; Autonomie hingegen sei »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen«541, dazwischen gab es nichts. Deutlich wird diese Vorstellung von Emanzipation auch daran, dass sie häufig durch weniger auf das Individuum als auf die Gemeinschaft gerichtete Begriffe konkretisiert wurde: Als »politische Aktivität«542 beziehungsweise »politische Beteiligung« – ein »Sachverhalt, der von den Begriffen ›Bildung‹ und ›Mündigkeit‹ nicht erreicht wird«543, als »Suche nach Möglichkeiten der politischen Aktion, Solidarisierung und Veränderung«544. Emanzipation bekam dadurch eine eindeutige Richtung: Ausgeschrieben ging es – die Wortwahl ist beachtlich – um »kollektiv-emanzipatorische Ziele«545 ; eine affirmative Bindung an die gesellschaftliche Ordnung wurde nicht durch »Eigenständigkeit als formale Unabhängigkeit« ersetzt, sondern durch »verantwortliches und d. h. zugleich als kritisches Bezogensein auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, für die und in der erzogen wird«546. Darin spiegelte sich wieder das materialistische Menschenbild, das stets aus der Relation des Menschen zu seinen aktuellen Existenzbedingungen heraus neu definiert werden müsse und so abhängig von der aktuellen historischen Situation sei547. Der Mensch wurde nicht als selbstbestimmtes, mündiges Wesen gesehen, sondern lediglich als »grundsätzlich […] ein zu eigener Einsicht, zur vernünftigen Handlungen, zu freier Anerkennung seiner Mitmenschen, zur Personalität fähiges Wesen verstanden«548. Diese grundsätzliche Fähigkeit stehe »prinzipiell jedem Menschen als Möglichkeit und als Recht«549 offen. Dem Menschen wurde so das Potenzial zur Mündigkeit zugesprochen, Mündigkeit als Grundannahme für jeden Menschen negiert. Emanzipation waren somit die Einsicht in eine bestimmte Analyse der historischen Situation, die daraus sich ergebende Entscheidung gegen die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse sowie der Beschluss, diese zu ändern: »Die Schule
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546 547 548 549
Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 93. Vgl. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 56ff. Ebd., S. 66. Combe, zur Arbeitssituation des Lehrers, S. 126. Evers, Einführung zu Rolff, strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 15. Vgl. auch: »Hier lernt man, dass die Freiheit des Individuums als eine Funktion des Kollektivs verstanden werden kann, ja dass wir auf erschreckende Weise die statistisch erfassbaren sozialen Mechanismen vollziehen, obwohl wir glauben, als individuelle Person zu handeln – der Organismus ist auf unheimliche Weise primär.« Klafki, Die Einführung in die Arbeits- und Wirtschaftswelt, S. 26. Vgl. Klafki, Rückblick und Selbstkritik – Erziehungswissenschaft als kritische Theorie, Funk-Kolleg 3, S. 264. Ebd., S. 264. Ebd., S. 264. Ähnlich bei Adorno, Erziehung nach Auschwitz, 91f sowie Adorno, Erziehung – wozu?, S. 114.
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nimmt also den Kampf gegen überständige Sozialstrukturen in einer Gesellschaft auf, die noch kein Bewusstsein der Knechtschaft auszeichnet.«550 Das bei aller kontroversen Debatte innerhalb des beschriebenen Rahmens geschlossene Weltbild der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption veranschlagte gerade wegen dieser Debatten für sich Allgemeingültigkeit. Durch die Kontroversen ließ sich die ›Kritik‹ demonstrieren, die zur Voraussetzung gemacht wurde, überhaupt Teil des Diskurses zu sein. Hier griff die Foucaultsche Ordnungsprozedur der Disziplin. So wurde außerhalb dieses Rahmens keine politische Analyse zugelassen, da sie zwangsläufig durch System, Herrschaft und Sachzwang bestimmte und somit per se nicht emanzipiert sei. Emanzipation konnte sich so also am Ergebnis bemessen lassen, denn wenn das Ergebnis nicht der Prognose emanzipierter Entscheidungen entsprach, musste die Entscheidung dazu selbst unemanzipiert gewesen sein. Ein Mensch habe zur eigentlich freien Entscheidung »aus dem Wust der von außen unermüdlich angesonnenen Interessen das, was man nun wirklich will und wünscht, wieder herauszufiltern«551. Das sei schwierig und bedürfe politischer Bildung, Emanzipation vom Ergebnis her. Dazu sollten Jugendliche ihre (objektiven) Interessen kennen und durchsetzen: »Sie haben nämlich sehr wohl politische Interessen, nur merken sie oft nicht, dass sie sie in illusionärer Verkennung in der rein persönlichen Lebensführung für erreichbar halten, dass sie in Wahrheit unentwegt Versagungen leisten, die sie dann auf Befragung für ihre Interessen halten. So personalisieren sie etwa Konflikte am Arbeitsplatz, als ob der jeweilige Vorgesetzte schuld an der objektiven Zwangslage sei, deren Opfer er doch nur in gleicher Weise ist. Oder sie glauben noch uneingeschränkt an den unaufhaltsamen Aufstieg des Tüchtigen.«552 So wurde die Forderung der Darstellung der »sozialen Probleme unserer Gesellschaft« unmittelbar gekoppelt mit dem Anspruch, »zu demonstrieren, wie man diese Probleme gemeinsam verstehen und lösen kann«; zudem sollte in den Schulen »analysiert« werden, wie man für die Chancengleichheit »weiterkämpfen kann und muss«553. Es sei Aufgabe der Schule, den Menschen »gegenüber dem Arbeitsprozess freier, souveräner, politischer zu machen«, indem die »Verengung des allgemeinen Bewusstseinsdurch die Leistungsgesellschaft« auf die »jeweils herrschenden Sachgesetze« gesprengt werde554. Letztlich ergebe sich demnach aus dem obersten Lernziel der Emanzipation zwingend die Opposition zum herrschenden Wirtschaftssystem und die Notwendigkeit einer egalitär organisierten Gesellschaft – als Erkenntnis des Schülers, als Lehrauftrag der Schule, als eigentliches Ziel der Bildungspolitik. 550 551 552 553 554
Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 174. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 108. Ebd., S. 108. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 90f. Ebd., S. 93.
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»Chancengleichheitsversprechen und individualistische Leistungsauslese sind genauso wenig auf einen Nenner zu bringen wie das Ziel einer Erziehung zur Solidarität und das Konkurrenzprinzip.«555 Die Schüler sollten »lernen, wo die Grenzen der Zuständigkeit des herrschenden Leistungsprinzips liegen: dort, wo es die Selbstverwirklichung den verdinglichten Relationen des Systems unterwirft.«556 Auch das sei eben ihr Interesse, von dem sie nur noch nichts wüssten. Eine ›politische‹ Bildung Eine Veränderung des Bildungswesens war notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur gewünschten Veränderung der Gesellschaft. Denn diese müsse sich im Gesamten ändern, weil man »auf eine Änderung der bestehenden Verhältnisse durch Bildungsanstrengungen nicht hoffen [kann]. Bildung liefert keine Macht, sie liefert nur Gedanken. Und bemerkt nicht Marx zu Recht, dass die herrschenden Gedanken immer die Gedanken der Herrschenden sind? Dies sollte uns erinnern, welchem Bereich wir uns zuwenden müssen, wenn wir die Veränderung irgendeines Aspekts der Gesellschaft – etwa Bildung – erreichen wollen: dem Bereich der Politik und den Fragen der Macht.«557 Kern von Bildung nach dieser Zielstellung war die politische Bildung. Der Begriff der Emanzipation geriet, wenn er allein stand, unter den Verdacht, in gewisser Weise den Begriff der Bildung zu ersetzen. Dem individualrechtlichemanzipativen Emanzipationsbegriff war die ideologische Nähe zum Gedanken des Neuhumanismus, dass in der ›Bildung‹ des Menschen die Vervollkommnung als innengeleitete Persönlichkeit und somit ›Menschwerdung‹ liege, durchaus zu unterstellen. In der gesellschaftlich-emanzipativen Sichtweise wurde der Begriff der ›Bildung‹ dafür kritisiert, dass unter ihn alles und nichts subsumiert werde, er Instrument sei, durch »die magische Kraft des Wortes ›Bildung‹ zu einer dem pluralistischen Meinungsstreit entrückten pädagogischen Zielvorstellung zu gelangen«558, er also abstrakt genug sei, um als Konsens zu gelten, aber de facto doch wieder auf nunmehr verdeckte konkrete Inhalte hinauslaufe, die bestimmten Interessen entsprängen. Die gleiche Kritik musste für einen abstrakt gehaltenen Emanzipationsbegriff gelten. Er musste also konkretisiert werden559, das heißt mit realen politischen Situationen, der Gesellschaft, aber auch mit der Lebenswirklichkeit der einzelnen Schüler verknüpft werden. Ein rein materiales Erlernen der Funktionsweise von Demokratie, der 555 Evers, Einführung zu Rolff, Strategisches Lernen in der Gesamtschule, S. 14. 556 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 103. 557 Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 141. 558 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 84. 559 Vgl. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 103f.
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Staatsorganisation sowie der sozialen und ökonomischen Gegebenheiten im Sozialkundeunterricht genügte also nicht als politische Bildung; dies sei nur eine »entpolitisiert neutrale Übermittlung isolierter Tatbestände und formell-demokratischer Verfahrensweisen«560. Diese Art der politischen Bildung galt sogar als kontraproduktiv, da sie die Jugendlichen nicht kritischer werden ließ, sondern sie zur Akzeptanz des politischen Systems erzog. Überhaupt werde Kritik nicht genug gefördert, im Gegenteil: »Die Erfahrung, dass man ohne allzu viel zu fragen weiterkommt und leichter durchs Leben geht […], muss letzten Endes stärker bleiben als der Appell, der Wirklichkeit immer die bessere Möglichkeit entgegenzudenken.«561 Schüler wurden in dieser Vorstellung als unter normalen Bedingungen zwingend politisch Unbeteiligte gesehen, die aktiv zur Beteiligung erzogen werden müssten. Dabei wurde das ›System‹ derart dargestellt, dass es Beteiligung verhindere. Ziel der politischen Bildung sollte somit sein, den Schülern ein Bewusstsein um ihre historische Situation zu vermitteln und sie auf ihre politische Rolle in Beruf, Gesellschaft, Familie ›kritisch‹ vorzubereiten. Sie sollten begreifen, wie Politik sich versteckt durch alle Bereiche des Lebens ziehe, wie Interessenkonflikte zugunsten bestimmter Machtstrukturen unterdrückt würden und so hergebrachte Herrschaftsstrukturen sich fortzögen.562 Da also die politische Bildung sich nicht in der herkömmlichen Sozialkunde erübrigte, sondern das gesamte Schulprogramm politisiert werden sollte, erstreckten sich diese Theorien politischer Bildung über alle Disziplinen. ›Politische Bildung‹ bedeutete nicht mehr eine Teilmenge der Bildung, sondern ›politisch‹ war der Anspruch an die gesamte Bildung. Anschaulich wird dies, wenn selbst die Mathematik unter emanzipatorischen Vorrang gestellt wurde: Der herkömmliche Mathematikunterricht habe, wie das gesamte Schulwesen, eine kapitalistische Funktion inne, nämlich die »Erziehung des Proletariats zu Disziplin und später zu Zuverlässigkeit«. Mit Einführung der Strukturmathematik, bei der das praktische Rechnen durch die theoretische Mathematik ersetzt wurde, also der großen Diskussion um die Mengenlehre563, diene es sogar der 560 Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 175. Vgl. auch Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 22. 561 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 54. 562 Ebd., S. 37f. 563 Die sogenannte ›Neue Mathematik‹, wurde zu dieser Zeit weitgehend unter Gesichtspunkten der Mengenlehre etabliert. Durch sie wurde das Auswendiglernen von Formeln und Rechenoperationen durch ein abstraktes Verständnis von Mathematik ersetzt. Diese Neuerung kam aus internationaler pädagogischer Forschung ohne Umweg über die Politik an die deutschen Schulen und wurde erst politisiert, als es zu Protesten der Eltern kam, die um die Rechenkünste ihrer Kinder fürchteten und selbst nicht mehr verstanden, was in deren Aufgabenheften stand. Allerdings wurde diese Veränderung, die ganz allmählich über die sechziger Jahre ihren Weg an die Schulen fand, beispielsweise von H. Becker als gelungene Reform gelobt, Kinder von autoritärem hin zu autonomem Denken zu erziehen, vgl. Becker hier im Gespräch mit: Adorno, Erziehung – wozu?, S. 113.
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»Vermittlung von Ideologie«, da »das Formale Vorrang vor dem Inhaltlichen« erhalte564. Dass Mathematik »etwas außerhalb des Menschen, der menschlichen Gesellschaft und der gesamten Natur, sozusagen absolut Existierendes«, also eine Ordnung sei, vermittle den Schülern wiederum, dass auch die Ordnung der Gesellschaft zu akzeptieren sei565. Dem wurde ein Modell entgegengestellt, wonach »bestimmte Teilbereiche der gesellschaftlichen Realität auf geeignete mathematische Strukturen abzubilden«566 seien, denn »mathematische Modelle können die Schwachstellen eines gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Systems oft deutlicher zeigen, als es die Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielschichtigkeit vermag.«567 Mit dem Erlernen von Verteilungsfunktionen beispielsweise sollte gleichsam gelernt werden, dass »Verfahren der ›objektivierten Leistungsmessung‹ […] notwendigerweise das Versagen von Schülern voraussetzen, im Mittel für jeden ›guten‹ einen schlechten Schüler erzeuge [und] der Steuerung der formalen Auslese von Schülern dienen.«568 Diese Politisierung der gesamten Schule schloss auch ein, dass Unterricht und Lehrer nicht politisch neutral sein dürften. Zum einen sei Neutralität immer nur vorgeschützt und verdecke die eigentlichen Interessen, sei also ohnehin verdeckte Parteilichkeit, zum anderen sei »Unparteilichkeit des politischen Unterrichts […] in Wahrheit parteilich für diejenigen, die ohnehin an der Macht sind«569. Angegriffen wurde sogar die Einübung demokratischer Formen in der Schule: Ein demokratischer Führungsstil des Lehrers ordne sich lediglich scheindemokratisch in das »Manipulierungsstreben der spätkapitalistischen Gesellschaft und in die Suche nach profitablen Wegen zur Optimierung des kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisses« ein; er habe lediglich »die Funktion, die Heranwachsenden mit den Spielregeln der formierten Gesellschaft vertraut zu machen und sie auf die ›freiwillige Einordnung in die Gemeinschaft‹ vorzube-
564 Neander, Curriculare Perspektiven für den Mathematikunterricht, S. 165. 565 Ebd., S. 168. Die Parallelen zwischen Mathematikunterricht und kapitalistischer Gesellschaft gehen noch weiter, bis hin zu folgender Dekonstruktion einer Textaufgabe (ebd., S. 170): »Der Schüler befindet sich hier durchaus in einer dem Käufer (›Konsumenten‹) gegenüber einem lohnabhängigen Verkäufer (z. B. im Warenhaus) vergleichbaren Lage. Der Schüler (= ^ Käufer) wird durch ›geschickte Motivation‹ (= ^ Gebrauchswertversprechen) seitens des Lehrers (= ^ Verkäufer) zum Erwerb mathematischer Kenntnisse (= ^ Ware) veranlasst – den Lehrer (Verkäufer) interessiert hierbei überhaupt nicht, welchen tatsächlichen Gebrauchswert seine ›Ware‹ für den Schüler (Käufer) besitzt, für ihn ist nur sein ›Verkaufsumsatz‹ wichtig.« Eine Zusammenfassung der durch den Mathematikunterricht »für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft notwendigen Funktionen« ebd., S. 177. 566 Neander, Curriculare Perspektiven für den Mathematikunterricht, S. 179. 567 Ebd., S. 181. 568 Ebd., S. 186. 569 Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 63. Vgl. Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 175f.
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reiten«.570 Ähnliches galt für die Schülermitverwaltung, solange diese lediglich ein bestehendes System einübe. Mitbestimmung musste echt sein, und das nicht nur aus didaktischen Gründen: »Die Mitbestimmung ist Grundsatz des Grundgesetzes. Sie gehört im umfassenden Sinne zu den Postulaten unserer demokratischen Gesellschaft, und zwar für alle Bereiche des politisch-gesellschaftlichen Lebens. […] Insofern alle Erziehungsfelder auch Felder gesellschaftlicher Strukturen sind, gilt auch für sie das Postulat der Mitbestimmung.«571
Integrative Strukturen für egalisierende Bildung Die grundsätzlichen Ideen, die sich in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation herausgebildet hatten, gestalteten sich sehr komplex, da sie immer wieder ein dialektisches Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft überwinden mussten. Da im Ergebnis die Forderungen einer totale Erziehung sowie die klare Zielstellung gesamtgesellschaftlicher Emanzipation standen und letztlich die Notwendigkeit einer kompletten Umgestaltung des Schulsystems gesehen wurde, gestalteten sich die Ideen zur konkreten Ausgestaltung des Bildungswesens einfacher. Die Gesamtschule als integrative Grundbedingung Die Gesamtschule war nach gesellschaftlich-emanzipativer Konzeption ohne Alternative. Sie musste die »sperrige Erbschaft einer Klassengesellschaft in Hauptschule, Realschule und Gymnasium«572 ersetzen. Neben die bereits zur individualrechtlich-emanzipativen Konzeption aufgeführten historischen und sozialen Argumente traten vor allem politisch-theoretische Vorstellungen. Das Argument der »Individualisierung und Differenzierung« wurde hierbei marginalisiert und vom konkurrierenden Ziel der Integration überlagert573. Die Differenzierung sollte sich auf die inhaltliche und die methodische Ebene reduzieren. Die Bildungsziele hingegen sollten integrierend wirken als »gemeinsame
570 571 572 573
Combe, Arno, Kritik der Lehrerrolle, S. 153. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 109. Von Dohnanyi, Warum, und was heißt: Priorität für die Bildung?, S. 17. Vgl. Klafki, Der konsequenteste Schulversuch in der Bundesrepublik: Die Integrierte Gesamtschule, S. 264: »Eine zeitgemäße Schule soll einerseits alle jungen Menschen auf die gemeinsamen Aufgaben in einer modernen Gesellschaft vorbereiten – das ist das Prinzip der Integration; sie soll andererseits den individuellen Möglichkeiten des einzelnen gerecht werden – das ist das Prinzip der Differenzierung.« S. 265: »Das Problem liegt darin, dass beide Prinzipien durchaus miteinander in Konflikt geraten können.«
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Lernerfahrungen, Erkenntnisse, Fähigkeiten«574. Es ging darum, »alle jungen Menschen auf die gemeinsamen Aufgaben in einer modernen Gesellschaft vorzubereiten« anhand differenzierter Methoden und Inhalte575. Mit Differenzierung war somit nicht die Differenzierung nach Eignung und Neigung gemeint, erst recht keine soziale Differenzierung. Der Integrationsgedanke zielte auf die Entwicklung der Gesellschaft ab, nicht des Einzelnen. »Die Vertreter der Gesamtschule vermuten, dass das längere, gemeinsame Lernen von Schülern, die aus verschiedenen sozialen Schichten kommen und unterschiedliche Begabung und Interessen entwickeln, zahlreichere und differenziertere Kontakte zwischen ihnen ermöglicht; man erhofft sich, dass dadurch vorhandene soziale Sperren und Vorurteile zwischen den sozialen Gruppen abgebaut werden oder ihr Entstehen verhindert werden können, und dass auf diesem Wege bis zu einem gewissen Grad auch Sozialgruppen langsam vermindert werden können.«576 Es ging also explizit nicht um die bestmögliche Förderung des Einzelnen, auch nicht um eine kompensatorische Maßnahme, nach der Kindern aus schlechteren Sozialisationsbedingungen bessere Chancen eingeräumt würden (und gegebenenfalls in der Folge um eine Restrukturierung der Gesellschaft). Es ging um die unmittelbare Neuorganisation der Gesellschaft durch das Schulsystem. Für den wahrscheinlichen Fall, dass die Einführung der Integrierten Gesamtschule alleine nicht genügen werde, galt mit Emphase: »Man muss auch in integrierenden Gesamtschulen bewusste sozialerzieherische Maßnahmen und Einrichtungen schaffen!«577 Grundlegend sollte die Schule zu einem »Modell der Gesellschaft«578 gemacht werden, in dem die Schüler lernen könnten, sich auf die gewünschte Art und Weise zurechtzufinden. Diese Formierung einer alle Schichten und alle Konflikte integrierenden Modell-Gesellschaft war das maßgebliche Motiv für die Einführung der Integrierten Gesamtschule. Die Schule könne »sich dann nicht mehr als relativ geschlossener ›Schonraum‹, als Jugendenklave in der wirtschaftlichgesellschaftlich-politischen Wirklichkeit und damit ausschließlich als Raum der reinen theoria – zentriert um ›Lernen‹ und ›Denken‹ –, der freien Musen – zentriert um ›Erleben‹, ›gestaltendes Schaffen‹ und ›Bewegung‹ – und der religiösen Unterweisung – zentriert um ›Hören‹ und ›Auslegung‹ – verstehen.«579 574 Klafki, Der konsequenteste Schulversuch in der Bundesrepublik: Die Integrierte Gesamtschule, S. 264. 575 Vgl. ebd., S. 264. 576 Ebd., S. 266f. 577 Ebd., S. 267. 578 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 13. D.i. »eine elementare, aber nicht verharmlosende Spiegelung der politisch-gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit unserer Zeit und ihrer erkennbaren Zukunftschancen«, Klafki, Der konsequenteste Schulversuch in der Bundesrepublik: Die Integrierte Gesamtschule, S. 266. 579 Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, S. 70.
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Nur, wenn die Schule die »Grundbedingungen der jeweiligen historischen gesellschaftlichen Existenz« genau wiedergebe, könne sie Alternativen aufzeigen580. Das Politische werde als gestaltbare und zu gestaltende Realität sowohl »durch das Verfahren der Schule«, »durch den Gegenstand der Schule«, als auch »durch die Personen der Schule – die Lehrer selbst – repräsentiert«581. Bildungsziele sollten sich bis in jeden Bildungsinhalt jedes Faches fortsetzen, keine Information, keine Übung sollte ohne Bezug zu den obersten Lernzielen, zu dem obersten Lernziel Emanzipation stattfinden. Der Schüler war nicht nur sich bildendes Subjekt, das sich die Welt erschloss, er sollte eben auch »selbst dank der selbst vollzogenen kategorialen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse für diese Wirklichkeit erschlossen« werden. Dieser Verschmelzung von Mensch und Umwelt entsprach die Einheit des Unterrichts – in jedem organisierten Teil davon sollte sowohl der Schüler einen Teil seiner Wirklichkeit kennenlernen, wie er auch selbst auf diese Wirklichkeit eingestellt werden sollte. Ein »Dualismus der Theorien ›formaler‹ und ›materialer‹ Bildung festzuhalten oder ihr Verhältnis im Sinne einer äußerlichen Verknüpfung oder Ergänzung (›sowohl formale als auch materiale Bildung‹)«582, war nicht mehr nötig, in jedem Stück angeeigneten materialen Wissens spiegelte sich auch die weitere Formierung des Schülers wider.
Das Curriculum als Erziehungsmittel Durchstrukturiert hieß aber nicht gleichermaßen ›starr‹: Die Schule fordere »ein dynamisches Organisationsmodell […]: Sie erbringt eine ›soziale Dienstleistung‹, in der es in erster Linie auf soziale Fähigkeiten ankommt, und sie besitzt eine hohe Innovationsrate, d. h., die Arbeitsbedingungen sind ständigen Veränderungen unterworfen.«583 Die Struktur sollte so beschaffen sein, dass sie ein möglichst dynamisches System ermöglichte. Wenn die Gesamtschule integrierend wirken und möglichst zielgerichtet jeden einzelnen Schüler ansprechen sollte, konnten die Inhalte nicht mehr in Lehrplänen zentral festgelegt werden. Die gewünschte Gleichheit im Ergebnis der Erziehung verlangte wiederum die Individualisierung der Lehrinhalte. Die Schule als Modell der Gesellschaft musste flexibel bleiben. Im Rahmen der szientistischen Konzeption wurde das dynamische Curriculum als Alternative zum hergebrachten Lehrplan entwickelt. Sie stellten ihrer eigentlichen Idee nach die wissenschaftlich optimierte Vorgabe des gesamten Lernprozesses dar : von der empirischen Feststellung der Situa580 581 582 583
Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 65. Von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 241. Klafki, Das Pädagogische Problem des Elementaren, S. 297f. Von Friedeburg, Demokratische Strukturen für die Schule, S. 50.
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tionen, auf die Schüler durch die Schule vorbereitet werden müssen, über die Erarbeitung der dazu nötigen Qualifikationen bis hin zu einem aus steter Abfolge von Lernen und Überprüfen bestehenden effizient programmierten Prozess, dem Schüler diese anzueignen. Es ging nicht mehr um die Inhalte, um das ›Bildungsgut‹. Inhalte waren nur noch Vektor zur Aneignung von Kompetenzen und konnten daher auch dynamischer gehandhabt werden. Dieses Konzept der Curricula wurde für die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption übernommen und angepasst. Es diente idealiter dazu, bestimmte Lernziele bis in jede Unterrichtseinheit durchzusetzen. Lediglich die Feststellung der Lernziele musste also angepasst werden: Sie sollte hier nicht durch Empirie, sondern durch Theorie erfolgen. Die Festlegung der Emanzipation als oberstes Lernziel wurde bereits erörtert. Die Struktur des Schulwesens sollte also derart beschaffen sein, dass sie einerseits die Durchsetzung der politisch festgelegten Prinzipien bis zum Schüler vollziehe und eine Kontrolle möglich sei, sie andererseits aber auch die größtmögliche Dynamik in der Ausgestaltung schaffe. Da gerade die Einführung demokratischer Strukturen in der Schule eine subsidiäre Offenheit gewährleiste, die auch dem politisch gesetzten Ziel zuwiderlaufenden Interessen dienen könne, eröffnete sich derselbe Widerspruch, der bereits weiter oben zur Mitbestimmung in der Hochschule erörtert wurde. Die Änderung der Schulstruktur sollte also bedingt vonstattengehen: Eine Bewusstseinsänderung der Mehrheiten musste mit der Änderung der Strukturen hin zu flexibleren Organisationsformen einher-, wenn nicht ihr vorangehen, um deren gewünschte Nutzung zu gewährleisten584.
Schule als Modell der Gesellschaft Einen spannenden Aspekt stellt die Frage nach der Rolle des Lehrers dar. In einem System, in dem der Einzelne zur Kritik an der herrschenden Ordnung erzogen werden sollte, durfte ein Lehrer (der meist »unreflektiert als Ordnungsfaktor des gesellschaftlichen Status quo«585 wirke) sein Selbstverständnis natürlich nicht aus dieser Ordnung ziehen: »Der Lehrer muss erstens lernen, dass er nicht dem Staat dient, der ihn bezahlt, sondern der Gesellschaft, die sich in diesem Staat artikuliert«586. Darin fand sich wieder die Vorstellung, in der Schule ein Modell der Gesellschaft zu schaffen. Das drückte sich dann insbesondere dadurch aus, dass der Lehrer sich nicht auf seine staatliche Funktion beschränken dürfe, sondern seine soziale Rolle wahren solle: »Der Lehrer muss in 584 Vgl. ebd., S. 49–51. 585 Combe, Kritik der Lehrerrolle, S. 218. 586 Von Hentig, Spielraum und Ernstfall, S. 229.
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seiner Person, in seiner Lebensweise, in seinem Lebenskampf politisch sein«587, um den Schülern eine gesellschaftliche Realität zu bieten, die sie wiederum zu politischen Menschen werden lasse. Politische Neutralität des Lehrers wurde abgelehnt, nicht zuletzt, weil es diese schlussendlich gar nicht gebe588. Wenn die Schule den Bedingungen der außerschulischen Wirklichkeit unterliegen sollte, hieß das auch für die Lehrer, dass sie keinen Sonderstatus erhalten durften – auch das Beamtentum stand dieser Idee entgegen589. Schlussendlich: »Lehrer, die nur Befehle auszuführen haben, können Jugendliche nicht zur Mündigkeit erziehen.«590 Diese Rolle des Lehrers als unmittelbaren Bezugspunktes des Schülers, als Nichtrepräsentant eines Systems, sondern gleichwertiges Individuum stand im Widerspruch zum totalen Erziehungsanspruch der Schule. Dem sollte durch eine Ordnung abgeholfen werden, in der die Maßgaben an den Lehrern sich in den Bildungszielen erübrigten, nicht aber bis in die Auswahl von Unterrichtsinhalten und die Methodik des Unterrichts vordrangen. Somit wurde den Schulen und den Lehrern zwar weitgehende Autonomie gewährt591, Letztere mussten ihren Unterricht aber nach den vorgegebenen Erziehungszielen begründen und vor allem messbar legitimieren. Autonomie durfte nicht heißen, »politische Entscheidungen in pädagogische Fachfragen« zu verwandeln592. In eine Formel gefasst, sollten Schulen und Lehrer mitsamt der Schülermitverwaltung im ›Wie‹ des Unterrichts maximal frei, im ›Was‹ der Unterrichtsziele aber maximal gebunden sein. Die Bildung, die einem Kind im gesellschaftlich-emanzipativen Ansatz widerfahren sollte, war also eher formaler, kaum materieller Natur593. Verhaltensweisen und Einstellungen sollten angeeignet werden, sich bloß reines Wissen anzueignen, war mehr als verpönt. Eine traditionelle Allgemeinbildung, die einen bestimmten Kanon an Wissen voraussetzte, sowie eine praktische Berufsausbildung wurden rundheraus abgelehnt594. Zentral im gesellschaftlich587 588 589 590 591 592 593 594
Ebd., S. 244. Vgl. Combe, Arno, Kritik der Lehrerrolle, S. 175f. Vgl. von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 65. Evers, Versäumen unsere Schulen die Zukunft?, S. 210. Vgl. von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 676f. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 163. Vgl. Giesecke, Didaktik der Politischen Bildung, S. 75. Von Dohnanyi, Warum, und was heißt: Priorität für die Bildung?, S. 16f: »Die ›Allgemeinbildung‹ ist nicht für die Allgemeinheit, und große Teile der Berufsbildung bilden mehr für den Betrieb, als für das Berufsleben vor.« Blankertz, Strategie zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach ›Arbeitslehre‹, S. 387f: »Tatsächlich fällt es nicht schwer, das […] gesellschaftliche Partikularinteresse aufzuzeigen, nämlich mit der Berufsausbildung die Disziplinierung der Arbeitenden in der vorgegebenen Betriebshierarchie und ganz allgemein deren Verpflichtung auf die vorgegebene Wirtschaftsordnung zu garantieren. Die gegenwärtigen Formen der Lehrlingsausbildung eignen sich dafür in der Tat hervorragend […].
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emanzipativen Ansatz war die politische Bildung, weniger – wie bereits dargestellt – als Schulfach denn als sich durchs ganze Bildungswesen ziehendes Konzept. Die Behandlung von Beruf und Arbeitswelt blieb da keine Ausnahme. Nicht nützliche Kenntnisse für die Arbeitswelt, sondern der kritische Blick auf sie musste gelehrt werden. In diesem Sinne wurde auch die Einführung der Arbeitslehre gefordert: »An anderer Stelle findet sich die Einführung einer Arbeitslehre insbesondere im Bereich der Volks- und Berufsbildung als Vorbereitung auf die Rolle des Arbeiters. In diesem Falle geht es aber darum, dass die Hauptschule mit Arbeitslehre nicht stabilisiert, sondern zerschlagen werden müsse zugunsten der vollintegrierten Gesamtschule.«595 Die Arbeitslehre müsse dann so gestaltet sein, »dass sie nicht diskriminierend wirkt, sondern in theoretisch anspruchsvollen Lehrgängen beiträgt zum Abbau der mittelschichtenspezifischen Merkmale des Lehrplans«596.
2.3. Die szientistische Diskursformation »Motl = (LM * E * Ae) + As + N + [bId + bZust + bAbh + bGelt + bStrafv]«597 Die Entstehung zahlreicher pädagogischer Lehrstühle nach dem Zweiten Weltkrieg, die zunehmende Abwendung von der philosophischen, geisteswissenschaftlichen Pädagogik hin zu den empirisch arbeitenden Bildungswissenschaften598, die Verwissenschaftlichung und die Technikgläubigkeit der sechziger Jahre ließen auch auf dem bildungspolitischen Tableau eine neue Formation entstehen. Herbert Stachowiak traf den Nerv der Zeit, wenn er seinen bildungspolitischen Überlegungen die Erfahrung der ersten Mondlandung voranstellte: »Uns allen hat das 1969 vom Mond aufgenommene Bild unseres blauen Planeten erstmals die Grenzen der materiellen Ausschöpfbarkeit des ›Spaceships‹, auf dem wir leben, in existentieller Eindringlichkeit bewusst gemacht.«599
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Diese Argumente sind indessen objektivierbar und insofern für die Entscheidung heranziehbar.« Blankertz, Strategie zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach ›Arbeitslehre‹, S. 388. Auch ebd. S. 386: »Innerhalb der verlängerten Schulzeit wird nach Maßgabe der veränderten Lebenssituation unter anderem eine ausdrückliche Einführung in die Arbeitswelt erforderlich.« Blankertz, Strategie zur Entwicklung des Lehrplans für das Fach ›Arbeitslehre‹, S. 389–391. Heckhausen, Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen Tüchtigkeit, S. 196. Und wiederum abgegrenzt von einer »als Forschung und Theoriebildung im Hinblick auf die Klärung des Postulats der Selbstbestimmung, der Demokratisierung, der Emanzipation in pädagogischer Perspektive« verstandenen Erziehungswissenschaft, vgl. Gruschka, Kritische Theorie der Pädagogik, S. 206. Stachowiak, Bildungsplanung im Wissenschaftlich-Technologischen Zeitalter, S. 20.
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Der »Abschied von der Intuitionsgesellschaft«600, die massive Ausweitung statistisch erhobener Datenmengen, die Einführung von EDV und die Zuwendung der Sozialwissenschaften zu empirischer Forschung waren der Boden, auf dem die Idee gedieh, dass in einem epochalen Umbruch »nicht nur mehr Rationalität, Sicherheit und Gerechtigkeit in unser Dasein treten werden, sondern dass sich mit diesem Szenenwechsel auch unsere Überlebenschance als Gattungswesen, und zwar ohne Zivilisationsrückschritt, beträchtlich steigern dürfte«601. Politik – die »Verhaltenssteuerung von Gemeinwesen«602 – im Allgemeinen und Bildungspolitik im Besonderen sollten dem entsprechen. Seit 1963 gab es sogar eine »Gesellschaft für Programmierte Instruktion e.V.«, die es sich zum Auftrag gemacht hatte, »die Entwicklung, Programmierung und Prüfung von Lehralgorithmen und die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Lehrautomaten und Darbietungsgeräte zu fördern«603. So lief die wissenschaftliche Politikberatung auch im Bereich der Bildung in den sechziger Jahren auf ihren Höhepunkt zu, verbunden mit der Hoffnung, politische Debatten durch wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzen zu können. 1964 schrieb Friedrich Edding: »Es müsste zur Regel werden, dass eine Instanz von nationaler Autorität die kompetenten Forscher und vielleicht auch einige Praktiker für genügend lange Zeit an einen Tisch bringt, um von ihnen schriftlich zu erfahren, worin sie sich in einer bestimmten Frage einig sind, worin sie differieren, warum sie differieren, was man tun kann, um die verbleibenden Differenzen durch Forschung zu vermindern.«604 Aus »dem Versuch der verschiedenen Wissenschaftszweige, gemeinsam ein annäherndes Bild der auf uns zukommenden künftigen Welt in allen ihren Dimensionen zu erstellen«605, sollte Bildungsplanung erwachsen. Die »gesamte personelle und geschichtliche Situation« in 20 Jahren sollte dazu nicht nur prognostiziert, sondern tatsächlich erforscht werden606. Eine gewisse Wissenschaftsgläubigkeit war im Bildungsdiskurs – und auch darüber hinaus – Merkmal dieser Zeit, unabhängig von einer bestimmten Diskursformation. Zu den Möglichkeiten von Planung und Steuerung gab es einen breiten Diskurs, der sich über alle Bereiche wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Handeln erstreckte. Politik insgesamt wandelte sich von »der bisherigen 600 601 602 603
Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. L#nsky´, Geleitwort zu Fortschritte und Ergebnisse der Bildungstechnologie 3, S. 9. Die Symposien wurden vom Bundesbildungsministerium gefördert. 604 Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 68. 605 Zusammenstellung der Erklärungen zur Bildungsplanung auf dem 3. Kulturpolitischen Kongress der CDU/CSU in Hamburg (9.-10. 11. 1964) durch das Sekretariat der KMK vom 8. 12. 1964, S. 2f. Zitiert nach: Vogel, Überregionale Bildungsplanung, S. 69. 606 Ebd., S. 69.
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Routinepolitik des ›muddling through‹«607, die sich vor allem in administrativen Anpassungsprozessen ausdrückte, hin zur vorausschauenden Verfolgung langfristiger Ziele, gestalterischer Politik und somit Planung. Ob nun gesellschaftlich-emanzipatorische, bedarfsorientierte, werterzieherische oder irgendwelche anderen Ziele vertreten wurden, die Wissenschaftlichkeit der Methoden, die Planbarkeit der Mechanismen, die zu diesen Zielen führen sollten, waren immer Teil von ihnen. Dabei spielte der bildungswissenschaftliche Fachdiskurs eine sehr starke Rolle, und das Verständnis von Bildungsprozessen wuchs wohl noch überproportional zum Anstieg der Beschäftigung mit den Themen der Bildung. Gerade die didaktischen Anstellungen eines Wolfgang Klafki oder eines Paul Heimann veränderten die Art des Unterrichtens wohl nachhaltig. Wie viele weitere Bildungswissenschaftler trugen sie dazu bei, dass Schule insgesamt strukturierter und bestimmter organisiert wurde. Wie es bereits zahlreiche Bücher zu Berliner und Hamburger Modellen, kategorialer Bildung und Unterrichtsplanung gibt, gäbe es noch viele weitere zu schreiben. Thema dieser Arbeit werden diese Fachdiskurse, die sich maßgeblich zwischen Hochschulinstituten und Studienkollegs bewegten, allerdings nur an ihren Schnittstellen zum politischen Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit, also in ihren Grundlagen und Zielen. Ihre Methoden, das ist gewiss, fanden mit unterschiedlichster Zielstellung ihren Weg in die schulische Praxis608. Diese Wissenschaftsgläubigkeit, die Planungsbegeisterung, teilte sich in zwei Diskursformationen: einmal die, die sich mit umfassender Planung, mit der Steuerung möglichst großer Systeme auf die Zukunft hin, beschäftigt, die Bedarfskonzeption, die im nächsten Kapitel thematisiert wird. Im Folgenden Abschnitt geht es hingegen um eine szientistische Konzeption von Bildung. Darin wird etwas anderes gezeigt als nur der allgemeine Szientismus der Zeit, die Begeisterung für Wissenschaft und Technik. Sie beschreibt vor allem, wie und inwiefern aus bildungswissenschaftlicher Analyse heraus, ohne politischen Fluchtpunkt, bildungspolitische Maximen erarbeitet werden sollten; wie also diese Wissenschaft nicht nur für die Erarbeitung der Methodik, sondern auch für die Festlegung von Bildungszielen verantwortlich sein sollte. Dabei standen nicht ökonomische, gesamtgesellschaftliche Bedingungen im Vordergrund, sondern pädagogische, insbesondere lerntheoretische, also die Didaktik.
607 Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 11. Weiter : »Die Planungsphobie hatte sich in eine Planungseuphorie gewandelt.« 608 Dies wurde gerade durch die sehr strukturierte Herangehensweise ermöglicht, in der in der Regel bewusst Methoden von Bildung und Erziehung beschrieben wurden, die mit jedem Ziel kompatibel waren. Vgl. die Aufteilung der Pädagogik in die drei Aspekte Präskriptive Pädagogik, Deskriptive Pädagogik und Normative Pädagogik; Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 71.
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Aktiv betriebene Selbstreferenz – Grundlagen der Diskursformation Die Grundidee einer szientistischen Gestaltung des Bildungswesens war die Planung von Bildung durch wissenschaftliche Methoden, also die Abkehr oder zumindest Minimierung von normativen Entscheidungen. Im Vordergrund stand dabei die Didaktik als »Theorie des Unterrichts«, die »innerhalb einer pluralistisch organisierten Gesellschaft […] nur als ein offenes, nicht aber als normatives, programmatisch und inhaltlich festgelegtes System mit konkreter Anweisungsfunktion« entwickelt werden könne609. Dieser Ansatz war nur natürlich in einer Zeit der Technikgläubigkeit, der Planungseuphorie und der Verwissenschaftlichung. Im Grunde war die Absicht, auf einem weißen Blatt Papier das Bildungswesen neu zu planen, entsprechend wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen. Die Auseinandersetzung mit dem bestehenden Schulsystem ließ die Bildungswissenschaftler, deren Disziplin sich gerade von der an die Philosophie angelehnten geisteswissenschaftlichen Pädagogik hin zu einer empirischen Sozialwissenschaft wandelte, zu einem verheerenden Urteil kommen: Das beobachtete Bildungswesen war über Jahrhunderte historisch gewachsen und repräsentierte Zufall, Willkür, Klassengesellschaft und die Ordnungsprinzipien vorwissenschaftlicher Zeiten610. Wissenschaftliche Rationalität fand sich darin hingegen nicht. Die Trennung nach allgemeiner und realer Bildung, die Gliederung der Schulen, der tradierte Bildungskanon, die Art zu unterrichten – all das entsprang einer vordemokratischen und sogar vorindustriellen Gesellschaftsstruktur. Da das Bildungswesen damals »schichtenspezifisches Instrument zur Übertragung von sozialen Normen, Wertvorstellungen und politischen Handlungsanweisungen war«611, also vorwiegend eine soziale Funktion hatte, konnte es nun nicht gleichzeitig eine individuell bildende Funktion einnehmen612, ohne massive Veränderungen zu erfahren. Gewisse Anpassungen wie etwa die Einführung moderner Fremdsprachen oder der Naturwissenschaften waren zwar bereits zu verzeichnen, änderten aber das System nicht und geschahen gleichermaßen ohne eine im Sinne empirisch arbeitender Wissenschaft fundierte Begründung oder Gewichtung613. Für die vergangenheitsbezogene klassische Bildung hatte man nur Unverständnis übrig. Die Begründung gegenwarts- oder gar zukunftsbezogener Ansätze ist auch in der generellen Ablehnung der humanistischen Bildung anhand klassischer Inhalte zu finden: »Man kann in den Verhältnissen einer Zivilisation 609 610 611 612 613
Heimann, Didaktik 1965, S. 9. Vgl. Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese, S. 396–398. Becker, Bildungsforschung und Bildungsplanung, S. 9. Vgl. Becker, Quantität und Qualität, S. 196. Vgl. Roth, Heinrich, Begabung und Schule, S. 234.
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[der griechischen Antike], deren gesellschaftliche und politische Verhältnisse und deren Weltbild von unserem so radikal verschieden sind, Normen für Weltverständnis und Verhalten nicht mehr gewinnen.«614 Da allerdings eben nur das bereits Geschriebene vorhanden war und die Kultur, in der die Schüler sich würden orientieren müssen, historisch gewachsen war, könne auf die hergebrachten Bildungsgüter wohl doch nicht ganz verzichtet werden. Die »Interpretation der Wirklichkeit« erfolge »mit Hilfe tradierter Formen und Gehalte« – als positivistische Annahme allerdings, nicht als normatives Prinzip615. Die Neigung zur Wissenschaftlichkeit als einziger Maßgabe hatte übrigens einen durchaus historischen Bezug, war sie doch eine Reaktion auf die Ideologisierung der Bildung im Nationalsozialismus, wie allerdings auch in den zeitgenössisch beobachteten sozialistischen Ländern616.
Wissenschaftlichkeit als Prinzip Dem hergebrachten System wollte man nun die Objektivität der Wissenschaftlichkeit entgegenstellen. Von ausgeklügelten und groß angelegten Forschungsund Planungsvorhaben versprach man sich, »dass jeder weiß: hier hat man Endergebnisse, hier ist es nicht mehr möglich, eine billige Kritik zu üben und auf die Schwäche einzelner Forscher abzuzielen oder zu sagen: hier sind Wertvorstellungen im Spiel, die nicht ausgesprochen sind.«617 Unzulässige Wertvorstellungen wurden allerdings auch in der anderen Diskursformation gesehen, die die Wissenschaft zu ihrer Grundlage machte, der Bedarfskonzeption. Ihre Abkehr von kulturellen und sozialen Motiven und gleichzeitige Zuwendung zu reinen Kennziffern schien genauso dysfunktional618 wie das Gegenteil. All diese Ansätze entwickelten Schule anhand externer Ziele; die szientistische Konzeption wollte die Ziele aber aus dem Bildungssystem heraus entwickeln. Insgesamt verwahrte sich diese Konzeption gegen jegliche absoluten Ansprüche jenseits des Prinzips der Wissenschaftlichkeit. Gerade die Vermittlung gesetzter Wertsysteme könne nicht wissenschaftlich gerechtfertigt werden: »So wenig es die Aufgabe der Schule in einem demokratischen Staate sein kann, bestehende Verhältnisse blind zu stabilisieren und junge Menschen zu kritikloser 614 615 616 617
Robinsohn, Bildungsreform, S. 19. Ebd., S. 13. Vgl. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 26. Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 68. Vgl. auch Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen, S. 17: »Man wird in der Bundesrepublik dahin gelangen müssen, für den Bereich der empirischen und entwickelnden Erziehungswissenschaften in Dimensionen der Großforschung zu denken.« 618 Vgl. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 18.
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Anpassung zu erziehen, so wenig ist sie allerdings auch befugt und in der Lage, selbst etwa ein ganz bestimmtes wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Programm zu entwerfen und die ihr anvertrauten Zöglinge darauf zu verpflichten. Sie dient dem Wohl der Jugendlichen und damit auch dem recht verstandenen Wohl einer demokratischen Gesellschaft, die eine Gesellschaft der Freien und Gleichberechtigten sein will, nur dann, wenn sie es dem jungen Menschen ermöglicht, sich in die ihm vorgegebene Wirklichkeit – hier : die Arbeits- und Wirtschaftswirklichkeit – hineinzufinden, zugleich aber kritische Distanz zu ihr zu beziehen und damit gegebenenfalls später verantwortliche Initiativen in Richtung auf Veränderung, Verbesserung dieser Wirklichkeit zu ergreifen.«619 Die Befassung mit bildungswissenschaftlicher Methodik klammerte die Frage nach zu vermittelnden Werten mithin explizit aus. Werte, Normen und die Perspektive darauf seien zwar auch relevant für den Lernprozess, die Entscheidungen darüber allerdings an anderer Stelle zu treffen620. Dies stand keineswegs der Integration bestimmter Werte in die wissenschaftliche Analyse entgegen. Der empirische Nachweis, dass Persönlichkeitsmerkmale wie »›aktivistisch‹, ›zukunftsorientiert‹ und ›individualistisch‹« mit den Schulleistungen korrelierten621, konnte nicht einfach ignoriert werden, im Gegenteil: »Einstellungen, Haltungen und Verhaltensstile beeinflussen die Leistungen des Schülers stark. Sie müssen in der Schule bewusst gepflegt werden.«622 Erlaubt oder explizit gefordert war der Einsatz für »die kognitive Grundausrüstung, Haltungen, Einstellungen, Verhaltens- und Denkstil sowie die entsprechenden Motive, Interessen und Werte«623, wenn diese den Lernerfolg selbst betrafen. Das szientistische Bildungssystem wurde ganz selbstreferentiell konstruiert. Zum Problem didaktischer Arbeit wurde dann auch die dysfunktionale Diskrepanz zwischen einer »elterlichen Erziehungsideologie« einerseits und den »strategischen Prinzipien einer demokratisierten Schule«624 andererseits. Für einen programmierten Unterricht war es mithin sogar fraglich, »ob das der partnerschaftlichen Ehestruktur korrespondierende Verhalten des Kindes tatsächlich im Sinne von ›Demokratie‹ politisch relevant ist«625. In der szientistischen Konzeption wurden Sozialisation und elterliche Werte vorwiegend als zu
619 Klafki, Die Einführung in die Arbeits- und Wirtschaftswelt und ihre gesellschaftlich-politische Bedeutung als Aufgabe der Volksschuloberstufe, S. 25. 620 Bergius, Analyse der »Begabung«, S. 229. 621 Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, S. 272. 622 Aebli, Die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt – und Erziehungsbedingungen, S. 188. 623 Aebli, Die geistige Entwicklung als Funktion von Anlage, Reifung, Umwelt – und Erziehungsbedingungen, S. 189. 624 Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, S. 276f. 625 Ebd., S. 285.
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bewältigende Bedingungen, nicht als zu integrierende Parameter betrachtet626. Für deren Änderung wurden Maßnahmen außerhalb der Schulen empfohlen oder vorausgesetzt, etwa dadurch, dass »die breite Öffentlichkeit, vor allem die Eltern […] an der öffentlichen Erziehung interessiert werden«627, durch die Stärkung des »nichtfamiliären Charakters« im Kindergarten oder mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz – eine deutliche Unterscheidung wurde also zwischen Sozialisierung und Bildung vorgenommen628. Andererseits wurde das Elternhaus aber auch als Störfaktor programmierter Bildungsarbeit bzw. einer schichtenunabhängigen und optimalen Entwicklung der Kinder angesehen, den es mittels »kompensatorischer Erziehungsprogramme«629 auszugleichen galt: »Die Institutionen formaler Ausbildung haben in hochindustrialisierten Gesellschaften nun die Chance, diesen Stabilisierungsmechanismus tendenziell aufzulösen, indem sie in teilweiser Übernahme traditioneller Funktionen der Familie einen immer größeren Anteil an der Sozialisation des Kindes übernehmen, womit sie negativen Effekten des elterlichen Erziehungsmilieus kompensatorisch entgegenwirken können, und indem sie den Zugang zu Ausbildungswegen nach ›objektivierten‹ Kriterien der Leistung regulieren können.«630 Hier war die szientistische der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption sehr nahe. Da politische Reformer ihre Konzepte stark an die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen knüpften, müsse eine Reform zur Optimierung des Bildungswesens auf seine bildende Funktion hin also von Wissenschaftlern erdacht und begründet werden: »The commitment of reformers to questions of structure and organization can only be broadened through the recognition that inquiries ought to be undertaken about the information and skills of mobility and communication which all children need for a free and effective life.«631 Mobilität und Kommunikation, das hieß auch Flexibilität und Dynamik, das hieß letztlich vielfältig anwendbare Kompetenzen statt eines starren, auf Gewesenes und Bestehendes gerichteten Wissens. Die Ansicht, dass Wissenschaftler auch kompetent seien, politisch zu wirken, stand ihrer Verpflichtung, weltanschaulich neutral zu bleiben, gegenüber. Eine Lösung hierfür war, eine Trennlinie zwischen den Bereichen dadurch zu ziehen, dass offengelegt wurde, ob eine Äußerung nun im politischen oder im wissen626 Vgl. von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8: »Aber wie gut auch ihre [Gesamt-]Schulpläne und Argumente sind, sie müssten scheitern, wenn die Menschen das Prinzip der Chancengleichheit selbst nicht annehmen wollen, weil sie es entweder nicht verstehen oder es für unwirklich halten.« Vgl. auch ebd., S. 8–10. 627 Flechsig u. a., Die Steuerung und Steigerung der Lernleistung durch die Schule, S. 502. 628 Vgl. Mollenhauer, Sozialisation und Schulerfolg, S. 294. 629 Oevermann, Schichtenspezifische Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluss auf die kognitiven Prozesse, S. 299. 630 Ebd., S. 298. 631 Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 30.
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schaftlichen Kontext getätigt wurde632. Stärker vertreten wurde aber eine vereinende Sichtweise. Als Kernelement der szientistischen Konzeption ist die Vorstellung auszumachen, dass noch die grundlegendsten Bildungsziele wissenschaftlich erarbeitet werden könnten und daher politische Aussagen und wissenschaftliche Analyse sich nicht widersprächen. In Teilen wurde zwar durchaus anerkannt, dass eine politische Grundentscheidung zu irgendeinem Zeitpunkt getroffen werden müsse, diese sollte aber durch die Wissenschaft vorbereitet und begründet werden633. Auch wenn Robinsohn meinte, »die bildungspolitische Entscheidung wird durch Curriculumforschung nicht ersetzt, wohl aber vorbereitet und aufgeklärt«634, und auch stets entsprechende Formulierungen wählte, waren damit lediglich die formalen Entscheidungen gemeint, die nur noch die wissenschaftlichen Ergebnisse bestätigen sollten. Wissenschaftlichkeit als Ziel Während die Abgrenzung vom tradierten Bildungswesen kein Alleinstellungsmerkmal der szientistischen Diskursformation war, leiteten alle anderen Reformideen sich von normativen Grundannahmen ab – ob dies bestimmte Werte, ein bestimmtes Gesellschaftsideal oder auch wirtschaftliches Wachstum und Planung waren. Eine szientistische Konzeption von Bildung musste sich sowohl gegenüber dem gewachsenen Bildungssystem als auch gegenüber der zeitgenössischen »Dominanz normativer und gesellschaftlicher Reflexionen in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion«635 abgrenzen. Selbst die Chancengleichheit konnte so nicht als Ziel postuliert werden, galt allerdings als evidente Folge der Wissenschaftlichkeit, denn diese sei blind gegenüber sozialer Herkunft636. Eine gesellschaftspolitische Rolle wurde der Schule
632 Vgl. Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 148 u. 154. 633 Becker, Quantität und Qualität, S. 383. Bildungsrat, Strukturplan, S. 272. Ebenso Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 376: »Die Aufgabe der jeweils für Curriculumentwicklung Verantwortlichen ist es, die Wertvorstellungen und die rationalen Einsichten in soziale und individuelle Bedürfnisse und Bestrebungen, die in einer Gesellschaft manifest oder latent sind, zu artikulieren, sie in Bildungsziele und detaillierte pädagogische Intentionen zu übersetzen und mit reflektierter praktischer Erfahrung und empirischer Evidenz über die Wirksamkeit von Lernen und Lehren so zu integrieren, dass jener Konsensus aktualisiert wird, der notwendiges Postulat eines jeglichen öffentlichen Bildungswesens ist und der Prozess der Entscheidung offengelegt wird.« 634 Robinsohn, Bildungsreform, S. 54. 635 Boeckmann, Lehnert, Bildungstechnologie, S. 13. 636 Vgl. auch Schmidtke, Bildungsgerechtigkeit und Bildungsreform, wo etwa für den Bereich der Vorschulbildung im Strukturplan des Bildungsrates festgestellt wird, dieser präferiere »vor allem funktionsorientierte Ansätze […], die einen deutlichen Bezug zu neueren Lerntheorien aufweist. Diese sollten jedoch zuvorderst das Ziel verfolgen, […] die kognitiven
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nicht beigemessen. Das überfordere schlicht das Bildungswesen. Der »Versuch, eine egalitäre, herrschaftsfreie Gesellschaft unter Politisierung des gesamten Bildungsbereichs durchzusetzen, über eine Schulreform eine Gesellschaftsreform zu erzwingen, gesellschaftlichen Entwicklungen gewissermaßen vorzugreifen, überschätzt den begrenzten Rahmen der Schule«637, war die Auffassung. Wie die Chancengleichheit dem Konzept wissenschaftlich bestimmter Bildung inhärent war, so auch die Förderung ökonomischer Belange. Die Forderung, das Bildungswesen zur Deckung bestimmter gerade ersichtlicher Bedarfe zu nutzen, bekam aber eine Absage. Diese Forderungen aus Industrie und Handel müssten ignoriert werden, denn sie verfolgten kurzsichtige Interessen – »Economic theory, on the other hand, taking a long-range view, will emphasize the need for a general rise in the quality of education for all groups in order to meet the demands of science and technology.«638 Saul B. Robinsohn begründete so sein »Strukturkonzept für Curriculum-Entwicklung« durchaus mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft und dem Nutzen eines derartigen Bildungswesens und nahm dabei noch einmal explizit die Differenzierung zwischen einer konkret an Produktionsbedürfnisse gehefteten Ausbildung und einer abstrakteren, auf allgemeine und auch noch unbekannte Anforderungen ausgerichteten Kompetenzbildung vor : »Schließlich hat die ökonomische Seite dieser Entwicklung ihre besondere curriculum-bezogene Problematik. Als die Grundlagen moderner Produktion gewinnen Wissenschaft und Technologie im Curriculum der allgemein- und berufsbildenden Schule zunehmend an Gewicht, obgleich sich eine kurzgeschaltete Abstimmung der Curriculum-Entscheidungen auf Produktionsbedürfnisse als von zweifelhaftem Wert erwiesen hat.«639 Das Ziel von Schule sollte zwar – anders als in der neuhumanistischen Konzeption – durch äußere Notwendigkeiten begründet, aber nicht von außen bestimmt werden. Es musste in ihr selbst liegen und wissenschaftlich bestimmt werden. Das erste und auch elementarste Problem szientistischer Bildungsplanung war also, die Ziele des Bildungswesens zu definieren, ohne dabei politisch willkürlich zu sein. Die Idee dieses Ansatzes war es, die Aufgabe der Bildung nicht apodiktisch zu definieren, sondern wissenschaftlich »rationale und soweit wie möglich objektive Kriterien […] an Auswahl und Funktion der Gegenstände zu legen, an denen gebildet wird«640. Die Ausgangsfrage lautete somit: »Durch welche Methoden systematisch objektivierender Ermittlung und gesellschaftlicher Organisation können Curriculumentscheidungen so vorbereitet werden,
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Fähigkeiten aller Kinder zu fördern […] bestenfalls sekundär war ihnen an der Implementierung von Chancengleichheit gelegen.« Führ, Bildungsreform nach dem Ende der Illusionen, S. 38. Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 28f. Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 373f. Robinsohn, Bildungsreform, S. 11.
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dass sie aus ›Beliebigkeit‹, aus pädagogischem oder politischem Dezisionismus heraus in Formen eines rationalen gesellschaftlichen Konsens gehoben werden?«641 Die in dieser Frage gesetzten Prämissen machen deutlich, dass der Ansatz darauf hinauslief, die Wissenschaft damit zu beauftragen. Der Ansatzpunkt der Wissenschaft sollte allerdings nicht in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung liegen wie in der Bedarfskonzeption. Nah daran, aber doch kategorial verschieden sollte von der Lebenswirklichkeit der einzelnen Schüler innerhalb dieser Gesellschaft ausgegangen werden. Ziel war es, jeden einzelnen Schüler möglichst gut auf die Situationen vorzubereiten, die ihn in seinem Leben erwarteten. Aus einer Analyse »der Merkmale der Industriegesellschaft«642 beziehungsweise »schon bestehender oder voraussehbarer Aufgaben und Probleme in unserer Gesellschaft«643 sollten so die Bildungsziele bestimmt werden. Dazu mussten allerdings überhaupt erst »rationale, systematische Methoden zur Identifizierung gegenwärtiger und zukünftiger Situationen und ihrer Anforderungen in Anwendung« gefunden werden644. Der Protagonist dieser Diskursformation, Saul B. Robinsohn vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, fasste diesen Ansatz so zusammen: »Da nun 1. das allgemeine Erziehungsziel ist, den Einzelnen zur Bewältigung von Lebenssituationen auszustatten und 2. eine solche Ausstattung durch den Erwerb von Qualifikationen und Dispositionen erfolgt und 3. diese Qualifikationen wiederum durch die verschiedenen Elemente des Curriculum vermittelt werden, kann ein rational geplantes Curriculum nur auf der Basis einer mit optimaler Genauigkeit und Objektivität ermittelten Bestimmung jener Situationen, Qualifikationen und Curriculumelemente entwickelt werden.«645 Diese Vorgehensweise sollte ein Minimum an normativen Grundentscheidung und politischer Steuerung gewährleisten und gleichzeitig die Schüler am effizientesten zur Bewältigung ihres Lebens befähigen. Das »allgemeine Erziehungsziel« bezog sich explizit auf »den Einzelnen« – also allgemein verbindliche Individualität, zumindest in der Theorie. Die geforderte »Ausstattung zum Verhalten in der Welt«646 blieb ohne eine Festlegung, welche Ausstattung denn die richtige sei, also auf welche Art und Weise die erforschten Situationen zu bewältigen seien, denn sich hierbei festzulegen, ohne zuvor die nötige empirische Forschung betrieben zu haben, hätte 641 Ebd., S. 31. 642 Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8. 643 Flechsig, Steuerung und Steigerung der Lernleistung, S. 462. Vgl. auch Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 137: »Politikwissenschaftliche Methoden können in pluralistischen Gesellschaften zu Entscheidungen über Soll-Axiome führen.« 644 Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 377. 645 Ebd., S. 374. 646 Robinsohn, Bildungsreform, S. 13.
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dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit widersprochen. Die Kernforderung dieser Diskursformation war also zunächst die nach Forschung. Das Hauptaugenmerk richtete sich somit darauf, wie die wissenschaftliche Erarbeitung eines neuen Bildungswesens zu geschehen habe. Saul B. Robinsohn forderte die Abkehr von allen vorhandenen Bildungstheorien und die Zuwendung zu einer rationalistischen Bildungssystematik: »Erst eine […] systematisch betriebene Revision und Weiterentwicklung der Curricula mit den Methoden der hierfür zuständigen Disziplinen und auf Grund einer neu durchdachten Bildungs- und Lehrplantheorie wird, unpräjudiziert durch die bestehenden Strukturen, Bildungsbedürfnisse überprüfen und die ihnen entsprechenden Funktionen des Bildungswesens definieren können.«647 Auch wenn über die Jahre auf Länderebene einige Institutionen eingerichtet wurden, die in diese Forschungs- und Planungsarbeit einstiegen, so entwickelte sich der Diskurs doch nie darüber hinaus, an der Erarbeitung solcher Lerntheorien zu forschen. Statt die einsetzenden Planungsprozesse zu begleiten, wurden diese kritisiert, gerne als ungenügend erachtet und erneut einem – letztlich noch zu erarbeitenden – wissenschaftlichen Ideal gegenübergestellt, das dringend zu erarbeiten wäre648. Vorbehaltlich ihrer Bestätigung durch strikt wissenschaftliche Methodik wurden bisweilen doch schon Bildungsziele diskutiert, die plausibel schienen. Aus seiner (vorläufigen) Analyse der Gegenwart leitete Saul B. Robinsohn als Bildungsziele »Kommunikation«, »Bereitschaft zur Veränderung«, »Erziehung zur Wahl« und »Autonomie« ab. »Wirksame Kommunikation« müsse Bildungsziel sein, da zeitgenössisch das »Verstehen sozialer Beziehungen« sowie die »elementare wissenschaftliche Interpretation« Vorbedingungen zur Orientierung in der Welt seien. Das Ziel der »Bereitschaft zur Veränderung« sei neben der Notwendigkeit beruflicher Mobilität »eine zu gewinnende Lebenshaltung überhaupt«, um »neuen Problemen mit Vertrauen auf neue Lösungen zu begegnen« – dies gelte »ähnlich wie in früheren Zeitwenden«. Ebenso werde die »Erziehung zur Wahl«, also der Fähigkeit, »Ziele und nicht nur Mittel zu wählen«, aufgrund gestiegener Wahlmöglichkeiten erst notwendig. Autonomie, schlussendlich, sollte die Antwort auf die Entfremdung, nicht nur im Arbeitsleben, sondern in der gesamten Gesellschaft sein649. Einen genaueren Blick verdienen die Versuche, Bildungsziele wie Demokratisierung, Emanzipation oder Selbstbestimmung ohne Rückgriff auf eine normative Setzung herzuleiten. Hartmut von Hentig postuliert etwa, als gebe es nichts Logischeres: »Die Industriegesellschaft ist auf Mitbestimmung durch alle 647 Ebd., S. 10. 648 Vgl. noch für 1977 Stachowiak, Bildungsplanung im wissenschaftlich-technologischen Zeitalter, S. 16f. 649 Robinsohn, Bildungsreform, S. 17.
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einzelnen angewiesen; diese Mitbestimmung kann ihrerseits nur auf Grund von ausreichender Selbstbestimmung der Individuen geleistet werden kann.«650 Ein Bereich, der insbesondere den Wissenschaftlern als Bildungsziel so evident schien, dass es ihnen keinen Anlass gab, an seiner wissenschaftlich feststellbaren Notwendigkeit zu zweifeln, war die Wissenschaft selbst. Da »die modernen Gesellschaften unserer Zeit zunehmend ihre Probleme in den verschiedensten Lebensbereichen durch Wissenschaften lösen«651 oder gar »Sinn und Sicherheit unseres Lebens entscheidend davon ab[hängen], in welchem Maße alle Mitglieder der Gesellschaft über wissenschaftliche Einstellungen und Verfahren verfügen«652, sei jedem Schüler eine wissenschaftliche Grundbildung angedeihen zu lassen: »In allen Schularten und auf allen Schulstufen als durchgängige Lehraufgabe«653 sollten Probleme wissenschaftlich gelöst werden. Das Grundprinzip der Wissenschaftlichkeit drückte sich also in zwei Dimensionen aus: Einerseits sei es wichtig, »alle Menschen an einer wissenschaftlichen, das heißt wissenschaftsbestimmten Bildung teilhaben zu lassen«, was die Wissenschaftlichkeit als Ziel der Schule ausdrückte. Darüber hinaus sollte Wissenschaftlichkeit aber auch als Organisationsprinzip gelten, also sei »über die Organisation und den Inhalt dieser Bildung auf Grund wissenschaftlicher Forschung und damit in Kenntnis der Determinationszusammenhänge rational aufgeklärt politisch zu entscheiden«654. Während in dieser Diskursformation über empirische Methoden und präzise Steuerung versucht wurde, so wissenschaftlich wie möglich zu agieren, fand sich die Betonung der Wissenschaftlichkeit auch in anderen Konzeptionen immer wieder ; insbesondere in der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption veranschlagte man eine wissenschaftliche Objektivität, die sich jedoch auf Theorien, nicht auf empirische Forschung bezog. Auch eine aktive Abgrenzung fand statt, man durchsuchte förmlich die Bildungspolitik nach ihrem »Ideologieanteil – ›Ideologie‹ hier verstanden als pseudowissenschaftliches Verhüllungs- und Rechtfertigungsgebilde für Vorurteile, Mentalitäten, Stereotypen, aber auch Gruppenegoismen«655. Ob Orientierung am Bedarf, kompensatorische Erziehung, die Erneuerung des Humanismus, von marxistischer Indoktrinierung im Sozialismus bis zur Überbetonung materialer Bildung in Amerika – überall
650 651 652 653 654 655
Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 9. Flechsig, Steuerung und Steigerung der Lernleistung, S. 468f. Von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, S. 8. Flechsig, Steuerung und Steigerung der Lernleistung, S. 468f Becker, Bildungsforschung und Bildungsplanung, S. 9f. Stachowiak, Bildungsplanung im wissenschaftlich-technologischen Zeitalter, S. 19. Vgl. auch Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 378: »Verschleierung oder Rationalisierung von Handlungen und Interessen«.
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wurde Ideologie erkannt, in der Festlegung der Zielbestimmungen von Bildung explizit, in der Auswahl der Inhalte implizit656.
Der Kern: das Curriculum Die Methode, mit der so erschlossene Bildungsziele dann umgesetzt werden sollten, nannte sich, aus dem Englischen neu ins Deutsche eingeführt, Curriculum und sollte nicht einfach den Lehrplan ersetzen, sondern betraf von den Lehrinhalten und Unterrichtsmethoden über die Organisation des Unterrichts und die Materialien bis hin zur Lernkontrolle den gesamten Unterricht657. Die grundlegende Neugestaltung des Unterrichts war in dieser Konzeption nicht nur wichtiger als die Debatte der Strukturen, sie galt sogar als deren Voraussetzung. Die Gliederung des Schulwesens, die äußere Organisation, die Schulverwaltung hatten sich allesamt dem Unterricht als Kern des Bildungsvorgangs anzupassen und einzig auf diesen auszurichten. Die Entscheidung über die Inhalte sei dabei die wichtigste658. Die Bestimmung der Inhalte Die Unterrichtsinhalte sollten von den wissenschaftlich erarbeiteten Zielen abgeleitet werden. Auch ihre Auswahl wurde der Wissenschaft zugewiesen und nicht dem »schieren Dezisionismus«659 der Politik. Ein »Konsens über die Gegebenheiten und Anforderungen gegenwärtiger und zukünftiger Existenz« müsse ermittelt werden, um Kriterien zu ermitteln, nach denen Inhalte – selbstverständlich wissenschaftlich – ausgewählt würden660. Auch Roth meinte, bei aller Weltanschauung, Religion oder anderen möglichen letztgültigen Bezugspunkten, sei doch »die Wissenschaft« der geeignetste, als man sich da »noch am ehesten auf das gemeinsam Eingesehene einigen kann«661. Die Didaktik als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin dürfe sich nicht länger auf »die Formulierung und die Transposition der gegebenen Inhalte« beschränken662, sondern müsse notwendigerweise die »Synthese der Interessen des Kindes und der 656 Vgl. Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 378–380. 657 Robinsohn, Bildungsreform, S. 11. »als Gefüge der Bildungsinhalte« und »deren Organisation im Lehrplan und Anweisungen zur Durchführung und zur Erfolgskontrolle«. 658 Robinsohn, Bildungsreform, S. 44. 659 Ebd., S. 44. 660 Ebd., S. 16. 661 Roth, Stimmen die deutschen Lehrpläne noch?, S. 162. 662 Robinsohn, Bildungsreform, S. 24.
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Gesellschaft« verdeutlichen663. Dabei geht er allerdings bereits von einem existenten Konsens aus, der bestehe und von der Wissenschaft »rationalisiert« und beschrieben werden könne. Eine »intersubjektive Überprüfung durch systematische Kritik und andere kontrollierbare Methoden«664 seien hierfür geeignet – Methoden, die freilich »erst aufgefunden« werden mussten665. Die Unterrichtsziele, und somit die Inhalte, sollten sich an den zuvor gefundenen zukünftigen Situationen orientieren, auf die die Schule vorbereiten sollte. Die in der formalen Bildung (die sich auf das Subjekt bezieht, im Gegensatz zur objektbezogenen materialen Bildung) traditionell veranschlagten Bildungsziele, Kräfte herauszubilden oder Methoden zu erlernen, galten als allein abhängig von den Inhalten666. Wolfgang Klafki drückte diese Abhängigkeit der Aneignung einer bestimmten Ausstattung von der Materie so aus: »Bildung nennen wir jenes Phänomen, an dem wir – im eigenen Erleben oder im Verstehen anderer Menschen – unmittelbar der Einheit eines objektiven (materialen) und eines subjektiven (formalen) Momentes innewerden.«667 Der Vorgang der Bildung wiederum spiele sich durch die Erschließung nicht von exemplarischen, sondern »allgemeinen, kategorial erhellenden Inhalten« auf der objektiven, dem entsprechenden Sicherschließen oder Erschlossenwerden des Menschen auf der subjektiven Seite ab668. Die Suche nach den geeigneten Bildungsinhalten orientiere sich nach dieser Auffassung also an deren Repräsentanz »für grundlegende Sachverhalte und Probleme« für eine Kategorie der Lebenswirklichkeit des Schülers. Der Unterschied zum exemplarischen Lernen sei die bewusste Wahl von Inhalten, die nicht beliebig ersetzbar seien. Eine entsprechende Auswahl habe radikale Stoffkürzungen einerseits, die Möglichkeit einer intensiveren Vertiefung andererseits zur Folge669. Das Ziel war demnach die Befähigung der Schüler, in unterschiedlichen Situationen bestmöglich zu agieren. Die Inhalte waren diesem Ziel untergeordnet670, ein tradierter Kanon an bestimmten Bildungsgütern hatte keine Legitimation mehr. Wie sollten nun diese Kategorien gefunden, die Inhalte daraus erschlossen werden? Die Verfahrensidee war, im Gegensatz zur auf die Vergangenheit ge663 Ebd., S. 26. 664 Ebd., S. 44. 665 Ebd., S. 44f. Dezidiert handele es sich um »Methoden […], durch welche diese [Lebens-] Situationen und die in ihnen geforderten Funktionen, die zu deren Bewältigung notwendigen Qualifikationen und die Bildungsinhalte und Gegenstände, durch welche diese Qualifizierung bewirkt werden soll, in optimaler Objektivierung identifiziert werden können«. 666 Klafki, Bildungstheorie, S. 32–38. 667 Ebd., S. 43. 668 Ebd., S. 44. 669 Ebd., S. 45. 670 Ebd., S. 13.
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richteten humanistischen Bildung, aus den Anforderungen der Gegenwart, dem »Wesen dieser Zeit«671 und selbst der erwarteten Zukunft abzuleiten, welches Können und Wissen sich ein Mensch idealerweise aneignen müsse, um seiner Lebenswelt gerecht zu werden. Der Bezugspunkt einer szientistischen Bildungskonzeption war also stets die Gegenwart mitsamt davon ausgehenden Zukunftsprognosen. Auch für Robinsohn genügte keine »exemplarische Bildung«. Er beschrieb von vornherein drei Überkategorien, für deren Entfaltung er einen Mechanismus skizzierte: Ein Gegenstand müsse entweder wissenschaftliche Bedeutung haben oder der »Orientierung innerhalb einer Kultur« dienen oder in »spezifischen Verwendungssituationen« des Lebens eine Funktion haben672. Anhand dieser Kriterien sollten ausgewählte Instanzen wie Fachwissenschaftler, gesellschaftliche Repräsentanten sowie »Vertreter der anthropologischen Wissenschaften« befragt und aus den Ergebnissen die Inhalte erschlossen werden673. Robinsohn schlug ein dreistufiges Verfahren vor: »In einem ersten Schritt der Curriculumforschung muss daher nach all den Lebenssituationen zu fragen sein, in denen sich der einzelne wird bewähren müssen. Kennt man die Situationen, so werden in einem zweiten Schritt die Qualifikationen zu ermitteln sein, die notwendig sind, um in den Situationen bestehen zu können. Qualifikationen beziehen sich nicht nur auf Kenntnisse und Denkfertigkeiten, sondern auch auf soziale, auf affektive, auf motorische Verhaltensweisen. Um diese jedoch lehren und lernen zu können, müssen wir wissen, welche Curriculumelemente, welche spezifischen Inhalte also geeignet sind, die den Situationen entsprechenden Qualifikationen zu vermitteln. Das ist der dritte Schritt.«674 Zweifel an der Machbarkeit oder den Ergebnissen dieses Vorhabens äußerte er nicht. Da die Gegenwart, auf die sich die Bildungsinhalte bezogen, sich stets änderte, konnten die Curricula nicht mehr in einem gewissen Abstand überarbeitet werden wie die Lehrpläne, sondern mussten fortlaufend aktuell gehalten werden. Das Mittel der Wahl war also die Curriculum-Revision als rollende Reform. Eine »Taxonomie von Erziehungszielen (und -intentionen) als wichtigem Instrument für die Zuordnung von Unterrichtsmitteln zu bestimmten pädagogischen Zielsetzungen« werde angewandt »auf dem Gebiet der Evaluierung und […] als Curriculum-Korrektiv«675. Eine solche Curriculumrevision sollte wiederum aus der Schule heraus erfolgen. So werde mit der Zeit der erste Anstoß durch die Wissenschaften – der zwar nicht vonseiten der Politik, aber dennoch von außen komme – allmählich anhand sich innerhalb der Schule ergebender, selbstver671 672 673 674 675
Ebd., S. 15. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48–50. Robinsohn, Bildungsreform (Interview), S. 161. Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 382.
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ständlich wissenschaftlich festgestellter Erkenntnisse revidiert. Dieses System werde zwischen Schulen und Studienseminaren koordiniert und maßgeblich durch Lehrer bestimmt. Die gänzliche Vermeidung des Einflusses externer Systeme und das Prinzip der Selbstreferenz würden so peu / peu vervollkommnet. Besser noch, als ständig nur der Gegenwart hinterherzulaufen, schien allerdings die Versuchung, bereits die Zukunft zu prognostizieren. Das allgemeine Zutrauen in die Wissenschaft, Entwicklungen vorhersagen zu können, war immens. Hellmut Becker ging beispielsweise von einer Entwicklung der Arbeitszeiten hin zum Fünfstundentag in der Viertagewoche aus676 und verlangte daher, die Schüler auf viel Freizeit vorzubereiten.
Unterricht als effizienter Lernprozess Teil der Natur der szientistischen Konzeption war der Wunsch einer Optimierung des Bildungsprozesses677. Aufkommende »technische und organisatorische Innovationen im Unterricht« stellten »Chancen einer Rationalisierung des Unterrichts, nicht zuletzt die Chance einer weitgehenden Individualisierung des Lernens«678 dar, die nun nutzbar gemacht werden sollten. Bildung sollte nicht mehr spontan aus der Beschäftigung mit der Sache erwachsen, nicht mehr von präjudizierten Inhalten ausgehen oder sich subjektiver Neigung hingeben, sondern auf die effiziente Erreichung für das Individuum gesetzter Lernziele ausgerichtet sein. Stichwort in diesem Kontext war das Programm oder Programmieren – also die nach bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen geplante Erreichung eines Lernziels679 durch exakte Bestimmung und Befolgung einer Abfolge von Lerninhalten und Arbeitsschritten. So sollte die maximale »Steigerung der Lernleistung«680 in Relation zu den aufgewendeten Mitteln erreicht werden. Unterricht sollte nicht mehr aus seiner »phylogenetischen Tradition heraus« legitimiert und somit nicht auf seine Effektivität hin erforscht werden, sondern »mit modernen Waffen antreten: präzisen Definitionen und harten Zahlen.«681 Diese Programme wurden als Lernschemata dargestellt, gerne auch optisch durch Flussdiagramme veranschaulicht. Ein sehr grundlegendes ScheBecker, Quantität und Qualität, Kapitel 2. Vgl. auch ebd., S. 220. Vgl. Roth, Einleitung und Überblick zu Bildungsrat, Begabung und Lernen, S. 65. Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 373. Roth, Stimmen die deutschen Lehrpläne noch?, S. 159: »Lernziele sind u. a. zu unterscheiden nach der Lernebene, auf der gelernt wird, nach den Lernzielen, die erreicht werden sollen, und nach dem Grad der Aufschließung der Methoden, mit denen Erkenntnisse erarbeitet werden.« 680 Flechsig, Steuerung und Steigerung der Lernleistung, S. 503. 681 Seidel, Das Rasch-Modell im Rahmen der Programmierten Instruktion, S. 277. 676 677 678 679
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ma war beispielsweise der Lehr-Lern-Prozesszyklus, nach dem auf die Überprüfung einer Fähigkeit eine dem Abstand zwischen getesteter Fähigkeit und gewünschtem Ziel angemessene Lehrhandlung folge, was so lange fortgesetzt werden solle, bis der gewünschte Erfolg sich eingestellt habe682. Die Operationen des Lehrens und der Kontrolle würden sich also gegenseitig dynamisch beeinflussen, wären aber niemals spontan, sondern immer geplant. Faktoren der Operationen waren etwa die Motivation des Schülers, »genau die Tätigkeiten auszuüben, die ihn zum Lehrziel hinbringen können«, oder die Kontrolle, »dass der Lernende nichts Unerwünschtes […] lernt und dass er dann – aber auch nur dann – einen Schritt weitergeht, wenn er das Teilziel erreicht hat«. Eine effektive Steuerung sollte die Abfolge des Lernprozesses korrekt anordnen, denn »in der Regel ist es nicht gleichgültig, wann der Lernende welches Teilziel bearbeitet.«683 Die Idee programmierten Unterrichts hing eng zusammen mit der zeitgenössisch florierenden Idee der Kybernetik, der »Wissenschaft von den Steuerungsvorgängen der Organismen«684, die auch als Methode der Didaktik eingeführt wurde: »Erziehung, Bildung, Ausbildung oder Unterricht lassen sich […] als Prozesse beschreiben, in denen ein Lernender unter ständiger Korrektur zu einem gegebenen Verhaltensziel hin gesteuert wird. Die ständige Korrektur ist deswegen erforderlich, weil der Lernende stets unberechenbaren äußeren oder inneren Einflüssen unterliegt. Erziehung (Bildung, Ausbildung usw.) ist somit ein Regelungsvorgang. Der Sollwert wird gesetzt; er muss in überprüfbarer Form angegeben und prinzipiell erreichbar sein. Der Regler ist der Ausbilder (Didaktiker), der die jeweils optimale Strategie entwickelt. Stellglieder sind Personen oder Medien, die zur Steuerung des Adressaten dienen. Die Messfühler bestehen in der Beobachtung, im Messen und Diagnostizieren des Verhaltens. Selbstverständlich handelt es sich bei der Darstellung des Erziehungsprozesses – allgemein: des didaktischen Prozesses – durch den Regelkreis um ein Funktions- und nicht um ein Personenschema.«685 Erster Schritt einer Programmierung von Unterricht war es, entsprechende Elemente des Bildungsprozesses genau zu analysieren und zu beschreiben, um ihn zu verstehen und schlussendlich steuern zu können. Auch hier befasst sich der größte Teil der Literatur nicht damit, solche Studien wirklich vorzunehmen, sondern lediglich mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Methodik. Dazu 682 683 684 685
Vgl. Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 62. Ebd., S. 62f. Von Hentig, Die Schule im Regelkreis, S. 11. Von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 70. Wichtig ist dabei, dass gerade von Cube die kybernetische Didaktik als reine Methode einführt, deren Ziele Objekt politischer Entscheidung bleiben und diese somit nicht originär der szientistischen Konzeption zuzurechnen ist. Vgl. ebd., S. 72. Er beschreibt allerdings selbst, dass die kybernetische Didaktik dort Verwendung finde, ebd., S. 74.
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wurden Taxonomien und Flussdiagramme erstellt686, Evaluationsmatrizen687 und Leistungsindizes688 angelegt. Mithin fasste diese Arbeit so technisch, dass der Bildungsprozess mittels mathematischer Formeln beschrieben werden sollte. Die Lernmotivation könne etwa dargestellt werden als »Motl = (LM * E * Ae) + As + N + [bId + bZust + bAbh + bGelt + bStrafv]«689. Die »kybernetische Didaktik arbeitet speziell mit Methoden der Regelungstheorie, der Informationstheorie, der Algorithmentheorie und anderen kybernetischen Methoden; sie versucht also nach Möglichkeit quantitative Aussagen über die Optimierung und Wirkung von Lehrstrategien und Medien zu erstellen.« Der Unterricht selbst sollte damit strikten Programmen folgen, durch die Schüler »zu einem gegebenen Verhaltensziel hin gesteuert« würden, »dabei wird vor allem die Reglerfunktion des didaktischen Prozesses automatisiert«690. In einer solchen Gleichung schienen Schüler durch die einzelnen Faktoren beliebig manipulierbar. Dass sie auch sehr individuelle Eigenschaften mitbrachten, wurde dabei nicht bestritten, sondern sollte integriert werden. Diese Eigenschaften wurden zwar als unterschiedlich gesehen, aber nicht als unterschiedlich gut oder schlecht. Lehrer und Materialien – Mittel zum Zweck In einem derart durchorganisierten Unterricht bekam der Lehrer eine ganz neue Funktion beigemessen. Er sollte zunächst so weit wie möglich der normativen Komponenten seiner Rolle entledigt und seine Aufgabe effizienter gestaltet werden. Man müsse sich nur vorstellen, »welche ungeheuren Energiemengen von Lehrer wie Schülern – oft bei bestem Willen und größtem Einsatz – verschwendet werden und schließlich pervertieren«691. Dem könne durch neue Methoden und vor allem den Einsatz neuer Technologie Abhilfe geschaffen werden. Der Lehrer sollte zum ausführenden Medium eines objektivierten Bildungsprogramms 686 Vgl. Lahn, algorythmische Verarbeitung einer pädagogischen Taxonomie, S. 245–252. Vgl. auch Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 97. 687 Vgl. Lang, Lernzielkontrolle durch Vergleich von Sachstruktur und kognitiver Struktur – Verfahren zur Darstellung und zum Vergleich von Strukturen im Curricularen Prozess, S. 255f. 688 Vgl. Patt, Automatisierte Analyseverfahren für lernzielorientierte Leistungstests, S. 262f. 689 Heckhausen, Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen Tüchtigkeit, S. 196; Motl steht für die Lernmotivierung, LM für Leistungsmotivation, E für Erreichbarkeitsgrad des Leistungsziels, Ae für den Anreiz von Aufgaben, As für den sachbereichsbezogenen Anreiz, N für den Neuigkeitsgehalt eines dargebotenen Lernstoffes, bId für das Bedürfnis nach Identifikation mit dem Erwachsenenvorbild, bZust für das Bedürfnis nach Zustimmung, bAbh für das Bedürfnis nach Abhängigkeit, bGelt für das Geltungsbedürfnis, bStrafv für das Bedürfnis nach Strafvermeidung. 690 Von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 70f. 691 Horchheimer, Wolfgang, Erziehung durch Maschinen? In: DER SPIEGEL 30/1963.
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werden, das durch Curricula und Lehrmittel vorgegeben war und nach vorgegebenen Modi – durch die beabsichtigte Einführung audiovisueller Lernmittel auch im Wortsinne – abgespult werden sollte. Sogar von einem »teacher-proof curriculum«692 war die Rede. Allerdings verlor er nicht seine Bedeutung, diese verlagerte sich nur. Einfluss gewann er dadurch, dass er als Erziehungswissenschaftler und Praktiker die Aufgabe hatte, »neue Lehr- und Lernmittel und neue Organisationsformen des Unterrichts anzuwenden und an ihrer weiteren Entwicklung aktiv teilzunehmen«693, also die Erfahrungen des Unterrichts in dessen ständige Revision einfließen lassen sollte. So wurde die »dichotomy between substance and method« wieder überwunden. Es sei zu überlegen, dass »the teacher has to be seen more and more as a skilled manager of subject matter, techniques and materials, all centered on effective learning by the child«. Somit wäre er zwar nicht wieder der Pädagoge alter Tage, aber eben auch nicht mehr nur Operator. Er wäre »central to the whole process«694. Gerade, weil seine Funktion nicht mehr die des empathischen und intuitiven Pädagogen sein sollte, sondern wissenschaftlich präzise und effizient, musste er aber ein exzellenter Spezialist sein. Wie es keinen »geboren guten Arzt« gebe, so auch keinen »geboren guten Lehrer«. Dieser sollte auf der Grundlage »wissenschaftlicher Einsichten in die Bedingungen von Lehr- und Lernvorgängen und von Sozialisationsprozessen« dynamisch den jeweils optimalen Unterricht für die äußeren Bedingungen, für die er wiederum ein Experte (»kritisches Verständnis von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen«695) sein musste, und für die jeweiligen Schüler anpassen, also die Parameter programmierter Bildung erkennen und einsetzen. Die Schlussfolgerungen für die Lehrerbildung waren, dass der erziehungswissenschaftliche Anteil zulasten der Fachdisziplinen gestärkt werden müsste und die Ausbildung schulartunabhängig an einer Universität und nicht mehr an pädagogischen Hochschulen zu erfolgen hätte696. Eine mindestens ebenso bedeutende Rolle wie die des Lehrers nahmen nach diesem Konzept die Unterrichtsmaterialien ein. An die Stelle der alten Schulbücher sollten Lernprogramme treten, Sprachlabore und audiovisuelle Medien. Schulfernsehen und Filme wurden erprobt. Die Darstellung vieler Sachverhalte, so war die Idee, würde so für ganze Schülergenerationen aufbereitet werden. Während der Aufwand im Verhältnis zur Zahl der erreichten Schüler sänken, würden Genauigkeit und Anschaulichkeit steigen. Vom Medieneinsatz wurde 692 693 694 695 696
Maier, Anstöße, S. 426. Maier lehnt das Modell ab. Robinsohn, Der Lehrer zwischen gestern und morgen, S. 324. OECD, The Nature of the Curriculum for the Eighties and Onwards, S. 7. Robinsohn, Der Lehrer zwischen gestern und morgen, S. 324. Vgl. Robinsohn, Der Lehrer zwischen gestern und morgen, S. 324–327.
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sogar erwartet, dass er die Schüler besser motivieren könne als der persönliche Unterricht durch einen Lehrer: »Medien ermöglichen in Verbindung mit personalen Lehrformen ein motivierenderes und wirkungsvolleres Lernen als personale Lehrformen allein.«697 Diese Formulierung drückte aber nicht einmal die Idee eines optimalen Endzustandes aus, sondern sollte im Gedanken einiger lediglich ein Schritt zur Überwindung der Integrationsproblematik auf dem Weg zu einer Bildung sein, in der die personalen Elemente so weit wie möglich eliminiert würden698. Ein besonderes Medium war die Lehrmaschine, die in verschiedenen Varianten bereits zu Beginn der sechziger Jahre international erprobt wurde und die Großes versprach: »Der Wissensstoff wird in viele, leicht überschaubare Bruchstücke zerlegt und in genau abgestimmten Portionen vermittelt. Zudem kontrollieren die Maschinen auch den Lernfortschritt – etwa, indem sie noch der Präsentation des Lehrstoffs auf eine Mattscheibe die Frage projizieren: ›Kohlendioxyd ist eine Verbindung von Kohlenstoff und …‹ Tippt der Schüler in die Tastatur der Maschine die richtige Antwort (›Sauerstoff‹), so erscheint auf der Mattscheibe die nächste Lektion.« Solche Lehrmaschinen versprachen vor allem Effizienz. Amerikanische Forscher nahmen an, »die Lehrmaschine erspare gegenüber konventionellen Methoden (Lehrer, Lehrbuch, Vortrag, Film) die Hälfte an Zeit und Kraftaufwand.« Wie schon die unbedingte Wissenschaftlichkeit Gegenentwurf zur fehlbaren Ideologie, so war auch die Automation des Unterrichts in gewisser Weise der Gegenentwurf zum fehlbaren Lehrer: »Sie sind gleichbleibend geduldig, gleichbleibend bereit für jedermann vom höher Zivilisierten bis zum Unterentwickelten.«699 Aber wie schon die Ansätze zur Lernzielfindung, so blieben auch die Ideen zur Gestaltung des Unterrichts als Curriculum weitgehend Theorie. Zwar wurde mit Lehrprogrammen und Curricula experimentiert, selbst das Prinzip der Curriculumrevision wurde zeitweilig probiert. Aber insgesamt kam es zu einer breiten »Ernüchterung in der Beurteilung objektivierter Lehrverfahren […] durch das weithin unterschätzte Beharrungsvermögen institutioneller, sozialer und psychologischer Gegebenheiten. Vor allem die Verwendung von Lehrprogrammen im Unterricht der öffentlichen Schulen stieß hier gleichsam gegen Mauern.«700
697 Gesellschaft für Programmierte Instruktion, Entschließung zur Einrichtung von Medienzentren, S. 489. 698 Vgl. Boeckmann, Lehnert, Bildungstechnologie, S. 16f. 699 Hochheimer, Erziehung durch Maschinen? in: DER SPIEGEL 30/1953. 700 Boeckmann, Lehnert, Bildungstechnologie, S. 16.
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Begaben statt Begabung, Tests statt Prüfungen Weithin wurde die Auffassung vertreten, dass Begabung nicht naturgegeben oder gar ausschließlich veranlagt sei, sondern ein vielschichtiges Phänomen, eine Funktion aus vielen verschiedenen Talenten, der jeweiligen Förderung und Sozialisation: »Begabung ist also mehr als Anlage. Begabung erweist sich als Produkt von Mitgift und Anregungen, von Förderungen, die ein Mensch vor allem in seiner Kindheit erfährt. Aus dem statischen Begriff der Begabung wird ein dynamischer.«701 In diesem egalitären Begabungsbegriff lag auch eine Abgrenzung zur Ideologie des Nationalsozialismus702. Was in einem Kind als originäre, veranlagte Begabung ruht, konnte nur anhand dessen festgestellt werden, was es letztendlich zu äußern, zu leisten, davon zu zeigen vermochte. Dass dies alleine auf die Veranlagung zurückzuführen sei und unbeeinflusst von den Sozialisationsbedingungen, schien nicht plausibel. Entsprechend löste man sich mithin gar von dem Begriff ›Begabung‹ und sprach in den Erziehungswissenschaften maßgeblich vom ›Begaben‹, dem Zusammenführen der jeweiligen Veranlagung mit der entsprechenden Förderung. Die Schule sollte eine »Schule des Begabens« sein703. Eine wichtige Prämisse der Diskursformation war die Vorstellung, dass die genetische Veranlagung nur minimalen Einfluss auf das Potenzial eines Schülers habe, »dass die Lernfähigkeit nicht nur oder nicht so sehr zu begreifen ist als die Voraussetzung des Lernprozesses, sondern dass sie selbst als ein Ergebnis des Lernprozesses angesehen werden muss. Begabungen sind nicht ein für alle Mal gegeben, sondern sie müssen gefördert und entwickelt werden. Wenn man von diesem Begabungsbegriff ausgeht, gelangt man zu einer Schule, deren primäre Aufgabe darin besteht, den einzelnen zu fördern, ihn zu entwickeln, ihn in seinen individuellen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen.«704 Auch hier wird wieder der selbstreferentielle Denkansatz deutlich, der sich als Grundlinie durch die szientistische Konzeption zieht. Auch die Notengebung der tradierten Schule konnte sich der umfassenden Kritik nicht entziehen. Auch sie galt als willkürlich, wurden damit ja alle Schüler an einheitlichen Maßstäben gemessen, die die Vielfalt der möglichen Begabungen unmöglich abbilden konnten. Darüber hinaus waren diese Maßstäbe, wie bereits die Inhalte, extern gesetzt. Die Relevanz der Sprache, genauer des
701 Schüttler-Janikulla, Persönlichkeitsförderung in Elternhaus, Kindergarten und Eingangsstufe, S. 9 (theoretischer Teil eines Handbuchs für Erzieherinnen in Ausbildung). 702 Robinsohn, Two Decades of Non-Reform in West German Education, S. 26. 703 Vgl. Roth, Heinrich, Begabung und Begaben (1952). In: Ballauff, Theodor, Hettwer, Hubert, Begabungsförderung und Schule, Wege der Forschung Bd. CXXI, Darmstadt 1967, S. 18–36. 704 Erdmann, Planungen des Deutschen Bildungsrates, S. 31.
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Erlernens von »Fremdsprachen more philologico«705 als bisher bedeutendster Faktor sei nichts anderes als ein »Zerrbild des Humboldt’schen Gymnasialmodells«706 und daher ungerechtfertigt: »Die ›philologische Intelligenz‹ wird auf Kosten anderer Begabungstypen bevorzugt.«707 So würden Abiturientenzahlen niedrig gehalten und wichtige Talente nicht gefördert. Die Auslesefunktion der Schule – die abzugrenzen ist von den regelmäßigen Leistungskontrollen als pädagogisches Mittel des Curriculums – sollte künftig so wissenschaftlich wie der Bildungsvorgang selbst erfolgen. Als probate Alternative galt »die Verwendung standardisierter und erprobter psychologischer Tests zur Ermittlung der Begabungshöhe und -richtung, der Arbeitshaltung usw.«708 Im Idealfall fände dann ein »Beratungslehrer [mittels] aller Hilfsmittel der Psychologie, Soziologie und Pädagogik« das adäquate Angebot für jeden Schüler709. Wurde bislang also beispielsweise eine insgesamt korrekte Hochsprache als erster Maßstab genommen, musste nunmehr differenziert werden zwischen den Aspekten mangelnder sprachlicher Fähigkeiten, die tatsächlich negativen Einfluss auf Denken und Kompetenzen haben, und der Abweichung von einer normierten Mittelstandssprache, die unabhängig von der eigentlichen Leistung zu einer schlechteren Bewertung durch Lehrer sowie zu sozialen (Verständnis-)Barrieren führen710. Als Maßstab galt also kein kultureller Konsens, sondern allein der wissenschaftlicher Kenntnisstand – etwa »Erkenntnisse der Psychologie« über die »für die Entfaltung der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der personalen Identität des Kindes« notwendigen Kompensationen einer Sozialisation in der Unterschicht711. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Begabungshöhe, sondern auch die Richtung der Begabung erschlossen werden sollte. Dies war nötig, um dem Einzelnen den ihm angemessenen Unterricht angedeihen zu lassen. Grundsätzlich wurde ohnehin die Feststellung einer bestimmten Begabungshöhe nur mittels eines extern normierten Maßstabes anerkannt. Aber der Begriff von Begabung als fixer Größe wurde nicht mehr akzeptiert.
705 Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese, S. 396. 706 Roeder (1965), S. 14. Zitiert nach: Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese, S. 397. 707 Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese, S. 396. 708 Ebd., S. 400. 709 Weingardt, Der Voraussagewert des Reifezeugnisses für wissenschaftliche Prüfungen, S. 446. 710 Vgl. Oevermann, Schichtenspezifische Formen des Sprachverhaltens, S. 297–356. 711 Vgl. ebd., S. 299f.
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Funktionale Strukturen als Forschungsauftrag Wissenschaft als Prinzip wurde auch auf die strukturelle Ausgestaltung des Bildungswesens angewandt. Zwar erschien diese nur rudimentär, weil alle Konkretisierung jener großen Forschungsprojekte bedurft hätte, die nie veranlasst wurden. Dennoch ließen sich, gerade in Hinblick auf die Organisationsebene, bereits einige Rahmenbedingungen diskutieren. Die Überzeugung, durch die angewandte Wissenschaftlichkeit zumindest die weiteste Annäherung zu objektiv richtigen Bildungsinhalten erreichen zu können, ließ einen Wettbewerbsföderalismus oder eine durch den Föderalismus gesicherte vertikale Gewaltenteilung sinnlos erscheinen712, zentrale Planung erforderte zentralistische Strukturen. Dem widersprach am offensichtlichsten, dass schon die elementare Frage, ob die Gesamtschule oder ein gegliedertes Schulsystem besser sei, auch nach allen Regeln wissenschaftlicher Objektivität nicht eindeutig zu beantworten war. »Auslese bedeutet optimale individuelle Förderung«, war die eine Meinung713. Die andere lautete, dem zugrundeliegenden Begabungsbegriff entspreche nur »eine Schule, deren primäre Aufgabe darin besteht, den einzelnen zu fördern, ihn zu entwickeln, ihn in seinen individuellen Möglichkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen. Das bedeutet strukturell ein Schulsystem, in dem zu frühzeitige, unwiderrufbare Schullaufbahnentscheidungen vermieden werden.«714 Die eigentliche Strukturforderung der szientistischen Diskursformation der sechziger Jahre blieb also ihre eigene Institutionalisierung. Ob man sich nun einig oder uneinig war, welche Methoden anzuwenden wären, um den objektivsten, rationalsten, effektivsten und wissenschaftlichsten Bildungsplan zu schaffen – diese konnten zu keinem Ergebnis führen, ohne dass sie in personell und finanziell reichlich ausgestatteten Forschungsinstituten715 in die Tat umgesetzt würden. Ein »Ausbau der Unterrichtsforschung« sei logische Konsequenz der Entwicklung716 und blieb an sich die einzige Konstante dieser Diskursformation. Solange diese nicht erfüllt war, sahen die Wissenschaftler sich noch überhaupt nicht in der Lage, konkrete Aussagen zu treffen. Besonderes Augenmerk galt dem Problem der Auslese. Diese wurde prinzipiell befürwortet, da sie ganz im Sinne dieser Konzeption eine Individualisierung und eine Optimierung des effizienten Lernprozesses versprach. Die Auslese galt aber nicht allein als Begabungssieb, sondern auch als Auswahl nach Begabungsrichtung. Die klassische Allgemeinbildung wurde nicht mehr als verall712 713 714 715 716
Vgl. Robinsohn, Bildungsreform (Interview), S. 169. Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese, S. 446. Erdmann, Planungen des Deutschen Bildungsrates, S. 31. Vgl. Robinsohn, Bildungsreform (Interview), S. 166–169. Flechsig, Steuerung und Steigerung der Lernleistung, S. 503.
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gemeinerbares Kriterium für die Berechtigung der nächsthöheren Bildungsstufe gesehen. Eine spezifische Begabung sollte zur Spezialisierung auf einen Beruf hinführen können; für den Schüler seien andere Qualifikationen im Zweifel nicht nötig und beanspruchten Kapazitäten, die zur Verfolgung des individuellen Ziels wiederum fehlten717. Spezialisierung der Person war aber nicht das Ziel, sondern blieb eine Option. Das Ziel war die Individualisierung von Bildung, die möglichst maßgeschneiderte Anpassung der Bildungsbiographie an die gegebenen Grundlagen. Das Pendant zur Auslese war die Wahl – wo Differenzierung freiwillig geschah und zudem von vornherein auf die optimale Förderung des Einzelnen abzielte, müsste sie nicht als Zwang konstituiert werden und könnte daher umso besser wirken718. An dieser Stelle trifft die szientistische Diskursformation auf das Prinzip der Individualisierung und Differenzierung aus der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation. Die wissenschaftliche Feststellung von Bildungsinhalten und Unterrichtsformen als gesicherte Mittel zur geplanten Erlangung einer antizipierten Qualifikation war ein Projekt, das niemals so umgesetzt wurde wie angedacht. Die Idee war die Errichtung großer Forschungsinstitute mit herausragender Infrastruktur, am besten ein bundesweites Curriculuminstitut. Als die Politik sich dann darauf beschränkte, nur das Mutmaßliche zur Grundlage ihrer Entscheidungen zu machen, aber den Anschein erweckte, es ginge um originäre Curriculumarbeit, distanzierte sich etwa Saul B. Robinsohn »von dieser ›Form reduzierter Curriculumentwicklung‹ und der ›bedenklichen Spannweite‹ der Ansätze«. Die Theorie hatte den Praxistest nicht bestanden. »In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre schließlich gestand die Mehrheit der Theoretiker ein, dass der formulierte Anspruch auf Begründbarkeit, Wirksamkeit, Überprüfbarkeit und Offenheit von Lehrplanentscheidungen in seiner Komplexität nicht einzulösen war.«719 Die Wissenschaftseuphorie entpuppte sich als Machbarkeitswahn: »Nicht zuletzt musste die Curriculumarbeit auch an einer Überschätzung des Machbaren scheitern.«720 Die Spannung zwischen dem Insistieren auf einer vollumfänglichen Curriculumplanung aufgrund großer Forschungen und der Anwendung curricularer Prinzipien innerhalb des bestehenden, von der Politik zur Verfügung gestellten Rahmens wird im Kapitel zur hessischen Curriculumreform noch deutlich. An dieser Stelle muss aber bereits gesagt werden, dass die Grundidee dieser Gestaltung von Schule auch dann noch in Teilen tragfähig war, wenn den Wissenschaftlern im bildungspolitischen Entscheidungsprozess weniger Befugnisse 717 Vgl. Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese beim Eintritt in die höhere Schule, S. 396–398. 718 Roth, Stimmen die deutschen Lehrpläne noch?, S. 165. 719 Neidhardt, Auf dem Weg zur demokratischen Schule, S. 72. 720 Ebd., S. 73.
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zukamen, als diese für sich beanspruchten. Der szientistische Ansatz sollte über den bildungspolitischen Gesamtdiskurs hinweg derart Einfluss gewinnen, dass sich auch Politiker bald die Frage stellen mussten, welche Ausstattung Schüler sich zur Bewältigung ihres zukünftigen Lebens aneignen müssten, und die deutlichen Vorstellungen aus der Wissenschaft nicht ignorieren konnten.
2.4. Die bedarfsorientierte Diskursformation »Die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst; sie stabilisiert sich, soweit Menschen sie zu stabilisieren lernen.«721 Eine der Hauptargumentationen für die Bildungsexpansion war bereits seit Ende der fünfziger Jahre und erst recht nach Georg Pichts vielbeachteter Streitschrift über die deutsche Bildungskatastrophe722 der jüngst aufgedeckte Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand einer Gesellschaft und ihrem wirtschaftlichen Wohlstand723. Gleichzeitig liege aber die Bildung, das Kapital Deutschlands, brach. »Es steht uns ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können. […] Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand.«724 Bildung war nicht mehr Persönlichkeitsbildung und Selbstformung, als Allgemeinbildung losgekoppelt von den Realien, von der Ausbildung; sie war nun viel mehr knallharter Produktionsfaktor. Ein eklatanter Bildungsrückstand gegenüber anderen Industriestaaten wurde offenbar. Dabei ging es nicht nur um den Vergleich, sondern auch um einen Wettbewerb der Systeme zwischen West und Ost, der schon durch den Sputnik-Schock zu einer Wissenschaftsoffensive in den USA geführt hatte. Der Appell war zunächst eindeutig – mehr Bildung für mehr Bürger. Es ging zunächst um Quantitäten, um die längst eingesetzte Bildungsexpansion. Doch bald stellte sich auch die Frage der Qualität: welche Bildung für welche Bürger? Welcher Kenntnisse werde die Volkswirtschaft zukünftig bedürfen, welche würden überflüssig? Nicht nur wirtschaftliche Faktoren wurden bedacht, sondern »die gesamte wahrscheinliche, personale und gesellschaftliche Situation«725. Das Hauptaugenmerk ruhte aber auf der Bildungsökonomie – einem neu ge721 722 723 724 725
Zinn, Hessenplan, S. 9. Picht, Bildungskatastrophe. Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 9. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 9. Evers, Modelle, S. 115. Vgl. auch Edding, Bildung und Politik, S. 9: »Ein Plan kann keine guten Ergebnisse haben, wenn er in der vieldimensionalen Wirklichkeit nur ein Ziel anstrebt, wenn er etwa nur auf Chancengleichheit, oder nur auf ökonomische Rationalität, oder nur auf Befriedigung eines Gruppeninteresses ausgerichtet ist.«
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formten Begriff, der innerhalb kurzer Frist zu einem zentralen Element des Bildungsdiskurses wurde. Im Kern besagte er, dass das Bildungswesen gemäß einem prognostizierten Bedarf der Gesellschaft nach Menschen mit bestimmten Qualifikationen geplant und gesteuert werden solle, um Ressourcen mit Blick auf das gesamtwirtschaftliche Ergebnis optimal zu kalkulieren und zu verteilen. Bildungsökonomie als Instrument zur Analyse ergänzte sich mit der engeren Lesart der Bildungsplanung als Steuerungsinstrument. Die Bedarfskonzeption fügte sich somit nicht nur der Idee nach in eine grassierende Wissenschafts- und Planungsgläubigkeit, sondern wurde auch immer wieder konkret in den Zusammenhang etwa mit den Vorstellungen wirtschaftlicher Planung und den aufkommenden Raumordnungsverfahren726 gebracht.
Bildung als Produktionsfaktor – Grundlagen der Diskursformation Die Bedarfskonzeption ist unter den beschriebenen Diskursformationen diejenige, die zumindest im Ansatz am häufigsten vertreten wurde, da sie sich oft mit den anderen Konzeptionen funktional ergänzte; selbst bei theoretischem Widerspruch gegen eine Bedarfssteuerung als Grund für Bildungsreformen ließ sich doch spätestens bei deren Kosten selten das Argument einer gesamtgesellschaftlichen Rendite vermeiden. Die Ungewissheit der Zukunft, das spekulative Wissen über die Zusammenhänge von Bildung und wirtschaftlichem Wachstum und das willkürliche Verhältnis von ökonomischen zu gesellschaftlichen Zielstellungen machten es möglich, dass beinahe jeder Forderung zur eigentlichen Begründung noch eine bedarfsplanerische hinzugefügt werden konnte. Mit viel Mühe ließ sich sogar für die neuhumanistische Diskursformation noch ein gesellschaftlicher Bedarf finden. Dazu wurde argumentiert, dass gerade die absolute Loslösung der Bildung von außenstehenden Zielen, die unabhängigste und freiste Bildung, gleichzeitig diejenige sei, die durch ihren persönlichkeitsbildenden Effekt auch der Gesamtgesellschaft den größten Nutzen bringe. Selbst Vertreter der katholischen Kirche konstatierten: »dass Planung von Bildung notwendig ist, um den Bedarf an Bildung zu decken, ist völlig zwingend«727. Aber das waren nur Entlehnungen der Bedarfskonzeption, wenngleich ja genau das die Relevanz eines Diskurses ausmacht. Im Kern der Diskursformation ging es aber nicht um den abstrakten Nutzen oder einen rein theoretischen Utilitarismus. Es ging um das Konkrete, um genau berechnete Zahlen, Statistiken, Prognosen, letztlich um ein exakt gezeichnetes Bild vom Weg in die Zu726 Vgl. Geipel, Bildungsplanung und Raumordnung. 727 Hanssler, Ist Bildung planbar? Zweiter Diskussionsbeitrag, S. 131.
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kunft, und auf diesem war die Rolle des Bildungswesens zentral: »In der modernen Welt ist die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, das Funktionieren der Verwaltung, ja unsere ganze Lebensordnung vom Bildungsstand aller Schichten des Volkes und damit von der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens abhängig.«728 Was hingegen mit einem Deutschland ohne eine umfassende Bildungsplanung passieren würde, dessen war man sich sicher : Planten die Mächtigen im Land Bildung nicht derart weitsichtig, stehe »schon heute fest, wer für den dritten großen Zusammenbruch der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert verantwortlich ist.«729
Bedarf und Nachfrage Zwei Kräfte ließen sich beobachten, die die Ströme dieses Bildungswesens beeinflussten: Zum einen drängten mehr und mehr junge Menschen von sich aus zu höheren Bildungsabschlüssen, diese Nachfrage war der sogenannte PushFaktor730. Dem gegenüber stand als sogenannter Pull-Faktor der »Bedarf der Gesellschaft an qualifizierten Kräften«731. Während jener die individuelle Nachfrage, Maßgabe der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation war, war es in der Bedarfskonzeption dieser, der als Orientierung zur Planung diente. »Die Schule ist eine Funktion der Gesellschaft«732 – auf dieser Formel beruhte die Diskursformation, die das Bildungswesen allein gesellschaftlichen Bedürfnissen unterordnen wollte. »Jede Missleitung der jugendlichen Kräfte, jeder unnütze Kraftaufwand muss vermieden werden. Er wäre der Ökonomie der Gesellschaft gegenüber unverzeihlich.«733 Wie wurde also legitimiert, dass das Bildungssystem entlang eines gesellschaftlichen Bedarfs zu planen sei? Zunächst offenbart die Betrachtung der Wirkrichtung von Push- und Pull-Faktoren, dass sie sich nicht entgegenstanden, sondern in großen Teilen in dieselbe Richtung wiesen: »Der Bedarf der Wirtschaft an Bildung ist in Wahrheit gar nicht so verschieden von dem gesellschaftlichen und privaten Bildungsbedarf.«734 Die Vermutung lag oft nicht fern, »dass auf die Dauer das Schulsystem das überlegenere sein wird, das dem einzelnen seinen Weg – seinen freien Weg – zur Produktivität führt und sichert, weil die so erworbene persönliche Produktivität – und sei’s im kleinsten Bereich – 728 729 730 731 732 733 734
Picht, Verantwortung des Geistes, S. 86. Picht, Bildungskatastrophe (1964), S. 87. Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 51. Ebd., S. 53. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 8. Ebd., S. 8. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 58. Vgl. auch Becker, Friedrich Eddings Beitrag zur Bildungsökonomie und Bildungsforschung, S. 13.
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gleichzeitig für die Gesellschaft, das Ganze, den bedeutsamsten Beitrag darstellt, den der Einzelne für sich zu leisten vermag«735 – dass die individuelle Nachfrage und der gesellschaftlich-ökonomische Bedarf also kongruent oder zumindest »in Einklang zu bringen«736 seien. Konflikte entstanden erst dort, wo etwa mehr Abiturienten ein bestimmtes Fach studieren wollten, als es der angenommene gesellschaftliche Bedarf gebot – und auch dies war lediglich für den Teil der Studienanwärter problematisch, dem die Aufnahme verweigert wurde. Betroffen war also aller Wahrscheinlichkeit nach immer nur eine Minderheit, zu legitimieren war demnach auch nur deren Vernachlässigung, nicht die aktive Steuerung ganzer Generationen durch das Bildungssystem. Entsprechend wohlfeil war es, ein Bildungssystem zu fordern, »das gleichzeitig das Bürgerrecht auf Bildung sowie den Bedarf der Gesellschaft an möglichst hochqualifizierten Fachkräften und an Forschungsergebnissen berücksichtigt«737. Eine solche abwägende Position ließ sich mit allgemeinen Vorstellungen einer moderierenden, ausgleichenden, ›pragmatischen‹ Politik gut vereinbaren. Eine Bildungsreform verfehle ihr Ziel, »wenn sie ihr Gewicht zu einseitig auf die Hebung des Bildungsangebots unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit verlegt. Eine gerechte Lösung dieses Problems ist gewiss auch unerlässlich. Nur muss eben zugleich gewährleistet sein, dass die berufs- und funktionsbezogene Bildung nicht vernachlässigt wird, sondern gleichgewichtig neben die anderen Reformziele tritt.«738 Gleichermaßen wurde die politische Steuerung im Bildungsbereich als Schutzfunktion des Einzelnen gesehen, der – als junger Schüler zumal – nicht zwingend immer die individuell und erst recht nicht gesellschaftlich beste Entscheidung treffen könne: »Dem Grundrecht auf Bildung steht das Grundrecht auf soziale Integration gleichberechtigt zur Seite. Eine Bildungspolitik muss scheitern, die zulässt, dass der einzelne in seiner Jugend zwar ein Grundrecht genießt, später im Beruf aber keine Chance erhält.«739 Dass »die Markttransparenz […] für langfristige Entscheidungen sehr gering ist«740, wurde nicht als drohendes Problem der Bildungsplanung, sondern als bereits existentes Problem für die Bildungsentscheidungen der Einzelnen gesehen. Die individuelle Bildungsrendite sei unabsehbar – eine gesamtgesellschaftliche Prognose und daraus abgeleitete aggregierte Entscheidungen könnten aber mit gewissen
735 736 737 738
Roth, Begabung und Schule, S. 237. Führ, Ist die Bildungsreform gescheitert?, S. 149. Brandt, Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, S. 21. Krause, Einführung zu Bildungsreform, Bilanz und Prognose, S. 12. Alfred Krause sprach hier als Bundesvorsitzender des Deutschen Beamtenbundes. 739 Riese, Das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 134. 740 Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 55.
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Wahrscheinlichkeiten kalkulieren, mit denen die staatlichen Institutionen langfristig auch den Individuen geholfen haben würden741. Selbst der Verband Deutscher Studentenschaften sah in der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit nicht die Grenze von Planung, sondern fand in ihr geradezu ihre Begründung: »Es ist nur mittelbar eine gesellschaftliche Nutzensargumentation, wenn man die Notwendigkeit einer verstärkten Bildungsförderung damit begründet, dass besser gebildete und ausgebildete Menschen den Fortschritt und die Entwicklung unserer Gesellschaft, das Wohl des Ganzen fördern. Nach dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft ist doch wohl der Fortschritt des Ganzen Quelle des Wohls des Einzelnen, und damit erfährt dieses Allgemeinwohl seine individuelle Begründung. Der Effekt von Bildungsplanung und Bildungsförderung ist nun in diesen Zusammenhängen nichts anderes als höchstmögliche Förderung der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit jedes Einzelnen.«742 Werden hier dem Vorwurf des Kollektivismus durch die Bedarfsplanung zwar geschickt deren Vorteile für die individuelle Entwicklung entgegengestellt, ließ er sich dennoch nicht entkräften; es wird lediglich eine Gleichzeitigkeit von individuellem und kollektivem Interesse veranschlagt, deren innerer Widerspruch nicht weiter thematisiert wurde. Den Versuch, einen solchen Widerspruch aufzulösen, bot der Ansatz, dass Bildung an sich zwar Glück sei und befreie, »aber doch, im sozialgeschichtlichen Querschnitt, immer nur im Maß ihres Bezugs zu einer Lebenspraxis«743 ; und somit wird erst die Einfügung in die gesellschaftlichen Notwendigkeiten zur Voraussetzung individuellen Lebensglücks. An dieser Argumentation wird der materialistische Geist der Bedarfskonzeption deutlich. Schon Picht argumentierte mit der »sozialen Gerechtigkeit«, die in der modernen Leistungsgesellschaft eben nur zu erreichen sei, wenn durch die Ausbildung der soziale und materielle Aufstieg gesichert werde744 – von einem Eigenwert der Bildung für die Persönlichkeit jedes Einzelnen war keine Rede. Wenn, dann wurde lediglich betont, diese sei gleichermaßen in der berufsbezogenen Ausbildung enthalten. Eine eingängigere Begründung erfuhr die Bedarfsplanung auch im zeitgenössischen Glauben an die Allmacht der Wissenschaft, der Zukunftsforschung. Diese sei erstmalig in der Lage, das menschliche Grundbedürfnis, Zukunft 741 Vgl. ebd., S. 55. 742 Jüchter, Bildungsplanung, freie Gesellschaft und Verbände, S. 114f. Heinz-Theodor Jüchter unterstrich diese Haltung durch die Ausführung, »das Material dieser Entwicklung sind Menschen und zudem nach dem Selbstverständnis unserer freien Gesellschaft Menschen, deren persönliches freies und verantwortliches Handeln allein das Handeln unserer demokratischen Gesellschaft bestimmen kann. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit ist unabdingbare Quelle unserer gesellschaftlichen Entwicklung, gleichzeitig aber auch ihr Ziel und Kern«. 743 Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 61. 744 Vgl. Picht, Bildungskatastrophe (1964), S. 31.
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vorhersagen zu können, zu erfüllen, denn »erst bestimmte politisch-ökonomische Konstellationen ermöglichen es (oder gebieten es), sich mit der Zukunft in einer strengen und gesellschaftlich relevanten Weise auseinanderzusetzen. Erst in diesem Moment wird die Zukunftsforschung pragmatisch relevant.« So ließ sich die Planungsfreude überhöhen zur Erfüllung eines alten Wunsches der Menschheit, einem »gesellschaftlich utopischen Denken mit idealistischer, weltverbessernder Intention«745. Der Zukunft wurde so oder so eine Qualifikationslücke auf dem Arbeitsmarkt attestiert, aber »die Begabungsreserve reicht aus, um den gesteigerten Bedarf zu decken«746. Der in aller Munde liegende Terminus Begabungsreserven hatte den Klang eines ungehobenen Schatzes. Die Menge der Kinder und Heranwachsenden, deren intellektuelle Begabung in der Volksschule unerkannt bleibe und nur aktiviert werden müsse, schien immens. Schon durch simple Algebra ließ sich errechnen, dass die Zahl der Abiturienten sich ohne weiteres verdoppeln lasse, wenn nur in jeder Volksschulklasse noch zwei Kinder zusätzlich zu finden seien, die entsprechend begabt wären, »was ernsthaft vermutet werden kann«747. Im Wettbewerb der Systeme Die Notwendigkeit, diesen gesellschaftlichen Bedarf zu decken und die Volkswirtschaft optimal mit qualifizierten Arbeitskräften zu versorgen, war auch mit der sehr präsenten Vorstellung eines »Wettbewerbs der Völker, Kontinente und Welten«748 insbesondere im Ost-West-Konflikt verbunden. Das hieß: »Wir wollen wirtschaftlich auch in der Zukunft international konkurrenzfähig sein und im eigenen Land die Fortdauer des Wohlstandes sichern. Dazu ist eine Ausbildung jedes einzelnen erforderlich, die ihn optimal fördert und ihn zum Hinzulernen und Umlernen befähigt.«749 Internationale Wettbewerbsfähigkeit könne also nur durch die stringente Planung von Bildung erlangt werden. Als Maßstab galt der »Durchschnitt jener Staaten, deren Kulturniveau wir auch für Deutschland in Anspruch nehmen«750. Zum Ausdruck kam dieses Argument insbesondere durch die regelmäßige Veröffentlichung und Diskussion international erhobener Kennziffern zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und zur Bildungspolitik als eines der Hauptplanungselemente seit den 1950er Jahren. Somit kam konkret der OECD, »jenes vor kurzem mit dem Blick auf die Entwicklungsländer umgegründete Instrument der westlichen Welt, 745 746 747 748 749 750
Jensen, Über die Zukunft des Europäischen Bildungswesens, S. VII. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 89. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 109. Roth, Begabung und Schule, S. 235. Evers, Modelle, S. 84. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 13.
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welches die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von der Ausbildungszur Bildungspolitik berechnet und zum Leitsatz der Wirtschaftspolitik auch der Entwicklungsländer erhoben hat«751, eine besondere Rolle zu. Nicht verwunderlich ist es daher, dass ausgerechnet diese Diskursformation diejenige ist, die am regelmäßigsten über die nationalen Grenzen hinausgriff und die europäische Perspektive im Blick hatte752.
Plan oder Elend »Ist Planung nötig?«753, fragte der damals wohl bekannteste Bildungsökonom Friedrich Edding754 und antwortete zunächst mit einem sarkastischen ›Nein‹: Man könne ja auch wie der Clochard im Wald oder unter einer Brücke leben. Treffe man aber die Grundentscheidung, zivilisiert leben zu wollen, »dann müssen Sie folgerichtig den anderen Weg weiter gehen, dann fallen Sie unter all die Systemzwänge«755. Kurzum: Planung sei nötig. Ob Planung auch möglich sei, war an dieser Stelle schon gar keine Frage mehr, sondern gehörte zum Grundverständnis der Diskursformation756. Aus »dem Versuch der verschiedenen Wissenschaftszweige, gemeinsam ein annäherndes Bild der auf uns zukommenden künftigen Welt in allen ihren Dimensionen zu erstellen«, sollte Bildungsplanung erwachsen. Die »gesamte personelle und geschichtliche Situation« in 20 Jahren sollte dazu nicht einfach prognostiziert, sondern wörtlich erforscht werden. Dies war nicht nur die Ansicht keynesianischer Ökonomen, sondern in diesem Fall formuliert von ›pragmatischen‹ Bildungsreformern der CDU, Hahn und Vogel757. Die Planung auf eine vorhersehbare Zukunft hin war breit anerkannt, die Vorstellungskraft über die Prognosefähigkeit der modernen Wissenschaft kannte keine Grenzen. Anhand einiger weniger Daten über ein Land könne er »die noch fehlenden 3 oder 5 oder 751 Fischer, Quantität und Qualität, S. 142. Vgl. auch Becker, Friedrich Eddings Beitrag zur Bildungsökonomie und Bildungsforschung, S. 12f. Zur Bedeutung der OECD in der Bildungsplanung weltweit vgl. Kim, Myung-Shin, Bildungsökonomie und Bildungsreform: der Beitrag der OECD in den 60er und 70er Jahren (Band 17 von Internationale Pädagogik). 752 Vgl. Jensen, über die Zukunft des Europäischen Bildungswesens. 753 Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 45. 754 Das Standardwerk, auf dem der größere Teil bildungsökonomischer Überlegungen aufbauen sollte, war Eddings 1963 herausgegebene »Ökonomie des Bildungswesens«. Vgl. Edding, Ökonomie des Bildungswesens: Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition. 755 Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 47. 756 Vgl. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 51: »Bedarfsprognosen sind möglich, wie die Gesellschafts- und Wirtschaftsforschung zeigt.« 757 Zusammenstellung der Erklärungen zur Bildungsplanung auf dem 3. Kulturpolitischen Kongress der CDU/CSU in Hamburg (9.-10. 11. 1964) durch das Sekretariat der KMK vom 8. 12. 1964, S. 2f. Zitiert nach: Vogel, Überregionale Bildungsplanung, S. 69.
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10 Faktoren durch eine Regressionsrechnung oder durch ein anderes mathematisches Verfahren« berechnen758, behauptete Edding selbst. Von einer Zukunftsprojektion anhand der Annahmen über die Entwicklung des Sozialprodukts könne man also ebenfalls zahlreiche andere Entwicklungen ableiten, was die Planbarkeit einer Gesellschaft auf 10 oder 20 Jahre ermögliche759. Allenfalls als »gewagtes Unternehmen« galten solche langfristigen, also über Jahrzehnte gehenden Voraussagen – es spreche dennoch »vieles dafür, sich nicht mit kurzund mittelfristigen Prognosen und Rahmenplänen zu begnügen.« Wurde das schon zur Planung im Allgemeinen so gesehen, traf es auf die Bildungsplanung noch einmal besonders zu, da diese – zeitlich vom Heranwachsen der Schüler abhängig – ohnehin nur langfristig wirken könne760. Mit der Frage der Planbarkeit war die Frage der Finanzierbarkeit verbunden. Die Belastung der öffentlichen Haushalte wurde thematisiert761. Die ökonomische Rechtfertigung der Bildungsausgaben musste schließlich auch die Staatsausgaben für diesen Bereich einkalkulieren und rechtfertigen. Diese Abwägung unterlag aber in der Abwägung meist der angenommenen Relevanz eines jeweiligen Anliegens der Bildungsplanung, das anders als viele andere Ausgaben ja versprach, eine sich langfristig selbst tragende Investition zu sein762. So konnte argumentiert werden, »dass es angesichts der enormen Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen (unter anderem durch die Rüstungsindustrien und den geplanten Produktverfall) im Prinzip keinen vernünftigen Grund dafür gibt, gerade das Bildungssystem besonderen Budgetbeschränkungen zu unterwerfen«763. Auch musste sich insbesondere eine ökonomische Begründung, die effizient sein wollte, fragen lassen, ob durch den Fokus auf die Quantität nicht die Qualität leiden müsse. Dagegen wurde argumentiert, da es eine reichliche Zahl schlecht geförderter begabter Kinder gebe, sei ein Absinken der Qualität in der höheren Bildung erst nach einer massiven Ausweitung zu erwarten, solange die Ausbildungskapazitäten entsprechend anwüchsen. Die Ursachen eines wahrgenom758 759 760 761
Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 56. Ebd., S. 56. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 1. Vgl. Riese, das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 124: »Je stärker aber die ökonomisch bestimmte Nachfrage und der individuell motivierte drang nach Bildung steigen, desto größeres Gewicht erhält die Frage nach einem rationellen Mitteleinsatz.« Vgl. auch Vogel, Bildungspolitik für die Zukunft – Thesen und Taten, S. 28. Ebenso Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 12. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 14: »Je mehr öffentliche Mittel in die Universitäten und ihre Institute einfließen, umso stärker wird die öffentliche Kontrolle.« 762 Vgl. Vogel, Bildungspolitik für die Zukunft – Thesen und Taten, S. 28. Ebenso Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 12. 763 Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 20.
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menen Qualitätsverlusts wurden hingegen auf andere politische Entscheidungen zurückgeführt. Jener werde durch die Bildungsideologie verursacht und vor allem durch fehlende Planung, mithin gerade durch die fehlende Ausweitung der Bildung, da einfach zu wenige Lehrer ausgebildet würden764.
Die Stabilisierung der Zukunft Die Kraft der Bildungsplanung entsprang einem Gefälle zwischen zwei Zeitpunkten: Gegenwart und Zukunft. Der Status quo wurde als Ausgangspunkt betrachtet, als stabiles System, dessen Erhalt bei stetiger äußerer Veränderung funktional zu gewährleisten sei. »Die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst; sie stabilisiert sich, soweit Menschen sie zu stabilisieren lernen«, prangt als Zitat Carl Friedrich von Weizsäckers über dem ersten Kapitel des sozialdemokratischen »Großen Hessenplans« Georg-August Zinns765. Agiert wurde aber nicht konservativ, also im Sinne eines Bewahrens dieser Gegenwart aus ihr selbst heraus. Am Ausgangspunkt jeder Überlegung stand hingegen ein Bild der Zukunft, auf das hingearbeitet wurde und das sich als Fortsetzung – nicht als Bewahrung – der Gegenwart darstellte. Die Faktoren, die den Weg dorthin beeinflussten, ließen sich aufteilen zum einen in einen unaufhaltsam sich aus sich selbst heraus entwickelnden Teil, nämlich unbeeinflussbare Umweltfaktoren wie das Bevölkerungswachstum, die Industrialisierung und ihre Folgen, die Natur; zum anderen in die innerhalb dieser Welt agierenden Menschen, die den beeinflussbaren Teil ausmachten. Diese Menschen, so schien es, könnten aus sich heraus mit der sich verändernden Umwelt nicht umgehen: »Eine ruhige Welt werden die Kinder, deren Erziehung und Bildung uns aufgetragen ist, nicht kennenlernen; sie werden sich auf Verhältnisse einstellen müssen, in denen es keine festgegründete Lebensordnung und Sitte, keine Hierarchie und keine verbindliche Autorität gibt, eine Welt, deren Normen in einem ständigen Wandel begriffen sind und in der alle überkommenen Begriffe ihren Sinn entweder verändern oder gänzlich verlieren. Dies alles ergibt sich schon allein aus dem Bevölkerungszuwachs.«766 Diesen Herausforderungen sollte die Schule begegnen, die Kinder darauf einstellen. Dabei spielte die Vorstellung der Stabilität eine große Rolle. Dieses Ziel schien so selbstverständlich, dass es oft implizit bleiben konnte. Die Spannung zwischen Verändern und Bewahren war keine diskutierte Kategorie; es ging darum, die Stabilität eines Entwicklungspfades zu gewähren. Die Bedarfsplanung im Bildungswesen entsprach der antizyklischen Globalsteuerung in der Wirt764 Vgl. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 19–21. 765 Zinn, Hessenplan, S. 9. 766 Picht, Verantwortung des Geistes, S. 128f.
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schaftspolitik767. Ziele wurden nicht definiert oder diskutiert, sie wurden vorausgesetzt: Wirtschaftswachstum und Wohlstand, innere und äußere Sicherheit, internationale Konkurrenzfähigkeit. All das galt es zu sichern, auf Veränderungen musste reagiert werden768. Dass alle Forderungen zielgerichteter Bildungsplanung implizite oder explizite Wertsätze enthalten müssen, die durchaus zur Disposition gestellt werden konnten, wurde somit schlicht negiert, der Funktionalismus war positiv gesetzt. In dieser Diskursformation wurde ohne weiteres vom Sein aufs Sollen geschlossen. Dass systemerhaltende Ziele in Konkurrenz zu anderen Werten standen, wie beispielsweise in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation, oder ein Zulassen spontaner Entwicklung möglich sei, wie in der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation, wurde nicht gesehen. Die in diesen Konzeptionen vertretene Vorstellung, dass Konflikt etwas Positives sein könne oder dass der Wert eines Systems in seiner Dynamik, nicht in seiner Stabilität bestehe, kam nicht vor. Der naturalistische Fehlschluss setzte sich fort als Zirkelschluss zwischen Prognose und Planung, bis hin zu dem Satz, »dass diese [Zukunfts-]Forschung notwendigerweise in der Form der Planung zu erfolgen hat«769 – der erforschte Plan. Beispielsweise wurde aus der Annahme, dass »Westeuropa seine wirtschaftliche Aktivität zunehmend auf die Produktion hochwertiger Güter […], insbesondere Dienstleistungen konzentrieren wird« (»wird« – nicht ›soll‹) gefolgert, dass in der Bevölkerung die dafür nötigen Qualifikationen erlernt werden müssten. Selbstverständlich wäre diese Entscheidung aber bereits Voraussetzung für eine solche Entwicklung, ist also in der Prognose bereits enthalten. Hier besteht also eine tautologische Logik, welche immer wieder im Verhältnis zwischen der gleichzeitigen Vorhersage einer Entwicklung anhand bestehender Prämissen und der willentlichen Beeinflussung dieser Prämissen auftaucht, um damit diese Entwicklung zu bestätigen. Dieses Problem konnte widerspruchsfrei existieren, solange eine normative Kraft des Faktischen nicht hinterfragt wurde: Als tieferen Deduktionspunkt gab es lediglich lapidare Verweise auf Notwendigkeiten770 oder »große Übereinstimmung in allen Bildungsprogrammen«771, konkurrierende Bildungsziele wurden in aller Regel nicht in Erwägung gezogen. 767 Vgl. von Weizsäcker, Carl Christian, Vorläufige Gedanken zur Theorie der ManpowerBedarfsschätzung, S. 155: »Werden diese Empfehlungen eine Manpower-Katastrophe vermeiden können, oder muss erst eine solche Katastrophe eintreten, ehe die Theorie zur künftigen Verhinderung solcher Katastrophen entwickelt wird, so wie die General Theory von Keynes nicht vor, sondern während und nach der großen Depression entstand?« Vgl. Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, S. 181. 768 Vgl. Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, S. 184f. 769 Ebd., S. 182. 770 Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 6. 771 Ebd., S. 12.
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Eine gewisse Einsicht in die dargelegte Problematik gibt hingegen die bewusste Differenzierung zwischen Voraussagen als »Hypothese […], dass sich das System selbst nicht ändert«, einerseits und Plänen als »Anspruch, von allen denkbaren Möglichkeiten die jeweils beste Entwicklung anzubieten«, andererseits772. Die Schlussfolgerung allerdings, »dass die Zukunftsforschung, so schwierig sie an sich schon sein mag, nicht mit der Methode der Vorhersagen, sondern der Planung in Angriff genommen werden muss«773, ist eine Vermeidungsstrategie, da die Auffassung vom Besten moralisch sein muss und daher einer Wertung, nicht nur der Beobachtung des Existenten bedarf. Eine intensivere theoretische Beschäftigung mit dem Thema konnte dann auch zu der Thematisierung der Herleitung von Zielen führen. Werte und Ziele wurden dann nicht mehr implizit, sondern bewusst und begründet einer normativen Kraft des Faktischen untergeordnet: Würde in einer größeren Perspektive als Legislaturperioden gedacht, verschwänden Werte und Ziele unter den funktionalen Notwendigkeiten. »Die Schwächen mancher einseitigen Positionen werden oft erst klar sichtbar, wenn ihre Konsequenzen auf lange Sicht durchdacht werden.«774 Die Wahrheit fand sich dann in einer Draufsicht mit hohem Abstraktionsgrad, eine Objektivierung fand durch die Distanz zur Aktualität statt. Einseitige, »ohne Rücksicht auf den Gesamtzusammenhang vorgetragene Forderungen nach Individualisierung oder Standardisierung, nach Zentralität oder Dezentralität, nach Förderung der Schwachen oder Selektion der Besten« könnten aus dieser Perspektive und »unter Berücksichtigung von Gegebenheiten und Sachlogik zu einem konsistenten und machbaren Programm« zusammengeführt werden775. Der Funktionalismus, zumeist nur als strukturalistische Analysekategorie behandelt, wurde hier zur bewusst gesetzten konstitutiven Idee eines Diskurses. Seine Vertreter betrachteten sich als Pragmatiker in einer Auseinandersetzung mit »Idealisten […], wobei die ›Pragmatiker‹ in der Regel obsiegen.«776 Auch wo ein Zukunftsforscher dieses Problem bewusst formulierte (»Alle diese Pläne beruhen auf einem System von Werten, die in manchen Fällen ausdrücklich genannt, häufiger aber lediglich impliziert werden«777), wurde es wiederum nur anhand derselben Mechanismen relativiert. Zum Planen würden Regierungen automatisch »die Werte, an die sich ihr Land gebunden fühlt« benutzen. Ein allgemein gültiges Wertgefüge, das nicht Objekt von Kritik, von spontaner oder gezielter Veränderung sein kann, wurde damit vorausgesetzt; ein Wertgefüge, das sich höchstens mit Kleinstkorrekturen zum »Elemi772 773 774 775 776 777
Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, S. 177. Ebd., S. 178. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 1. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, S. 182.
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nieren von Widersprüchen« auch in den Bildungsplänen realisieren würde. Dies müsse sogar in Diktaturen gelten, da auch diese sich nicht von der Bevölkerung lösen könnten und schließlich »bestimmte Wünsche und Bedürfnisse allen Menschen gemeinsam sind«778. Ein Vergleich der Äußerungen vieler Regierungen, wurde empirisch argumentiert, ergebe diese weitgehende Unterschiedslosigkeit779. Die Gedanken gehen wieder in Richtung eines absoluten Materialismus, der die Bedingungen des Seins als unüberwindbare Determinante des Willens begriff780. Diese Argumentation geht zumal von homogenen Gesellschaften oder sogar grundsätzlich gleichen Bedürfnissen aller Menschen aus781. Durch eine »in Leben und Glück des Menschen auf Erden« einheitliche Gesellschaft würden zumal die im Pluralismus zerfallenden Religionen und Weltanschauungen ersetzt782. Hier wurde also zwar prinzipiell anerkannt, dass eine Planung ein einheitliches Ziel brauchte; dieses einheitliche Ziel wurde aber naturalistisch vorausgesetzt. Die Instrumente der Planung seien »wertfreie […], die von Hause aus weder gut noch böse sind«783. So konnte gleich der Planung selbst die Zielsetzung überlassen werden. Der Politik kam nicht die Rolle zu, die Richtung der Planung zu bestimmen, sondern die Planung in die Tat umzusetzen: »Der Planung soll der politische Wille entsprechen«784 – nicht andersherum. Darüber hinaus entstand auch eine Herleitung des Funktionalismus als Norm, die sich der Systemtheorie bediente: »Asymmetrien und Disparitäten zwischen diesen Systemen«, aus denen sich ein Gesamtsystem ergibt, seien »Wirkungskräfte der gesellschaftlichen Entwicklung«. Eine Art osmotischen Gefälles zwischen den Subsystemen sei also der Antrieb eines natürlichen Fortschritts, der nichts als ein steter Ausgleich sei, weil Systeme aus sich heraus nach Symmetrie, nach effizientem Funktionieren strebten – auch das Bildungssystem habe diese Funktion und sollte sie auch haben785. Die Festlegung 778 779 780 781
782 783 784 785
Ebd., S. 183. Ebd., S. 178. Ebd., S. 186f. Vgl. auch Prof. Carl Föhl: »Wir wissen, dass wir wirtschaftliche Maßnahmen ergreifen müssen, Maßnahmen ordnender und steuernder Art, um Zustände zu verwirklichen, die von allen Teilen der Bevölkerung als wünschenswert und befriedigend anerkannt werden.« Zitiert nach Zinn, Hessenplan, S. 11f. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 7. Deist, Heinrich, zitiert nach Zinn, Hessenplan, S. 15. Schütte, Kulturpolitik, Vorwort. Vgl., Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 21. Das entspricht Dahrendorfs Analyse des Funktionalismus, den er kritisiert: »›Funktion‹ und ›Funktionieren‹ sind eng zusammengehörige Kategorien: Etwas hat eine Funktion, wenn es das Funktionieren des Systems fördert. Der Funktionalismus ist daher jene Schule des soziologischen Denkens, die jedes Problem unter dem Aspekt des gleichgewichtig reibungslosen Funktionierens von Gesellschaften und ihren ›Subsystemen‹ anpackt, jedes
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der Funktion von Bildung auf die Systemstabilisierung drückte sich auch in den Planungsparametern aus, die ja ausschließlich die bereits bekannten Merkmale einer Gesellschaft sein konnten. Veränderungsprozesse wurden mithin als zwingendes Zeichen für eine Dysfunktion aufgefasst, die also der politischen Gegensteuerung bedürften. Veränderungen im Lohngefüge wurden beispielsweise als Symptom für eine Fehlsteuerung des Humankapitals interpretiert786, wodurch sich ein Ansatzpunkt für ein Gegensteuern durch die Bildungsplanung ergab. Das Individuum als Humankapital Eine Bedarfsplanung, so funktionalistisch und so sehr auf die Gesellschaft gerichtet sie konzipiert war, schloss zunächst nicht aus, dass das Bildungssystem gleichzeitig auch dem Einzelnen gerecht werden konnte787. Solange ökonomische Analysen lediglich mehr Bildung für mehr Menschen forderten, ohne die Art der Bildung näher zu spezifizieren, und sich somit jeder selbst seinen Bildungsgang wählen konnte, lagen auch die Forderungen anderer Diskursformationen, die ein expandierendes Bildungswesen wollten, sozusagen ›im Plan‹. Sobald allerdings begonnen wurde, in der Planung nach der Nützlichkeit einzelner Bildungsgänge in Qualität und Quantität zu differenzieren und Schüler und Absolventen entsprechend lenken zu wollen, konkurrierten die Konzeptionen. Dies betraf etwa den nur schwerlich mit der steigenden Zahl von Studienanwärtern mithaltenden Hochschulbau oder die Frage der Struktur des sekundären und tertiären Bildungswesens. Der »letzte Schlupfwinkel eines planungsfeindlichen Individualismus und Altliberalismus«788 sei der Bildungsbereich, und es sei unverständlich, dass »selbst Jungsozialisten, die sonst erfüllt sind von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die Nichtsozialpflichtigkeit der – nur individualistisch verstandenen – Bildung«789 verteidigten. Eine Ausrichtung des Bildungssystems auf Nützlichkeitsaspekte sollte bald jeden Einzelnen in seiner Bildung einschränken, nicht nur diejenigen, die an
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Phänomen daher auf seinen Beitrag zur Erhaltung des Gleichgewichts im System abklopft.« Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, S. 114. Riese (Das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 134f) unterscheidet zwischen vier beobachtbaren Fällen – steigender Lohn in einem Berufsfeld bei Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, sinkender Lohn bei Angebotsüberschuss auf dem Arbeitsmarkt sowie steigende Löhne ohne Engpässe und singende Löhne ohne Überschüsse – während in den letzten beiden Fällen Wettbewerbsschranken und Inflexibilitäten auf dem Arbeitsmarkt wirken müssten (für deren Bewältigung es auch Ansätze in der Bildungspolitik gebe), zeigten die ersten beiden eine Fehlallokation bei der Steuerung der Ausbildung an. Dahrendorf schließt eine Begründung über den Bedarf aus, auch wenn sie zum richtigen Ziel führen könne. Vgl. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 22. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 52. Ebd., S. 52.
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irgendeinem Punkt deselektiert wurden. Generell galt: »Die Schule hat daher vor allem die Aufgabe der Berufsvorbereitung«790 – und mehr noch: Jeder sollte zu einem Spezialisten werden, dessen Qualifikation nur in der Gemeinschaft anderer Spezialisten Sinn machen würde: »Allgemeinbildung im alten Sinn eines universellen, von allen Gebildeten gleichmäßig beherrschten Bildungskanons wird es nur noch bei wenigen geben«, stattdessen füge ein »intensives Ausschnittwissen«791 jedes Einzelnen sich zu einem großen Ganzen zusammen. Lediglich zum Zusammenfügen dieses Ganzen seien noch allgemein gebildete »›Spezialisten für ein universaleres Verständnis‹ gefragt […], weil Köpfe benötigt werden, die zwischen den Spezialisten zu vermitteln vermögen«792. Allgemeinbildung war also nur noch vorgesehen als »breite Vorbereitung für berufliche Tätigkeit«793 – als Möglichkeit, Spezialbildung einzuordnen, aber auch als elastisches Element zum Ausgleich der Unsicherheiten der Zukunftsplanung794. Allgemeinbildung in diesem Sinne war aber ohnehin lediglich der formale Teil der Bildung, kein Kanon an Grundwissen, kein klassisches Bildungsideal, keine Muße. An sich war sie die Einstellung des Schülers auf die Anforderungen der Gesellschaft in dem Sinne, dass er flexibel, mobil und vor allem lernfähig bleibe. Für die Inhalte galt hingegen: »Die Fähigkeit zu lernen kann ebenso wie die übrigen wesentlichen Qualitäten des gebildeten Menschen an Gegenständen erworben werden, die beruflich nützlich sind. […] Alle entscheidenden Qualitäten der Allgemeinbildung lassen sich in der Beschäftigung mit naturwissenschaftlich-sozialen Gegenständen genauso gut erwerben wie beim Studium der Sprachen, der Philosophie und der Kunst. Es kommt darauf an, welches die didaktischen Ziele und Methoden sind.«795 Die Planung von Bildung war immer auch, »die Bürger dieses Landes für Situationen auszurüsten, auf die sie in keiner Weise vorbereitet sind«796, wozu bald auch die düsteren Szenarien der »Grenzen des Wachstums«797 und länger schon das als bedrohlich aufgefasste Bevölkerungswachstum798 gehörten. Die Funktionalisierung der Bildungspolitik in der Bedarfskonzeption redu790 791 792 793 794 795 796 797 798
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 8. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 44. Roth, Begabung und Schule, S. 236. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 12. Vgl. ders., Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 53. Vgl. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 58. Ebd., S. 59. Picht, Gesamtplan Erwachsenenbildung, S. 214f. Vgl. zur besonderen Rolle von Ressourcenverbrauch, Umweltschutz und Wachstumsgrenzen Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, bspw. S. 190, S. 194. Picht, Gesamtplan Erwachsenenbildung, S. 214f. Vgl. zur besonderen Rolle von Ressourcenverbrauch, Umweltschutz und Wachstumsgrenzen Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?, bspw. S. 190, S. 194. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 128ff.
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zierte die Bildung also auch in den allgemeinbildenden Teilen vorwiegend auf ihre Ausbildungsfunktion. Einziger Maßstab ihrer Güte war ihre messbare Nützlichkeit: »In der technischen Welt des 20. Jahrhunderts ist der höheren Schule der Auftrag zugefallen, den qualifizierten Nachwuchs auszubilden, der die gewaltige Maschinerie der modernen Wirtschaft und Gesellschaft in Gang halten soll. Sie ist, ob sie will oder nicht, der treibende Motor der industriellen Produktion, ja sie ist selbst zur Produktionsstätte geworden, die für die verschiedenen Sektoren des öffentlichen Lebens die geeigneten Typen von Führungskräften hervorbringen muss. Sie ist durch diese neue Funktion so unmittelbar auf die Bedürfnisse unserer Gesellschaft und Wirtschaft ausgerichtet, dass der überkommene Gegensatz von Bildung und Nutzen jede Glaubwürdigkeit verloren hat.«799 Die Bildung als Objekt wanderte so auch vom Besitz des Individuums in die Verfügbarkeit der Gemeinschaft. Der bayerische Kultusminister Hans Maier sagte deutlich: »Nicht mehr das große ›emanzipierte‹ Individuum wird künftig Bildung integrieren können, sondern nur das soziale Ganze der Gesellschaft. Alle Bildungsreform wird damit beginnen müssen, dass man eben dies den jungen Menschen sagt, statt sie mit Emanzipationsphilosophien und -illusionen von gestern zu behelligen.«800 Diese Reduzierung von Bildung auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen stellte den maximalen Gegenpol zum radikal subjektiven Bildungsideal des Neuhumanismus dar. Der Versuch, Wilhelm von Humboldt im eigenen Sinne zu interpretieren, blieb nicht mehr als eine geschickte Volte: Wenn sein oberstes Prinzip der Bildung, ›Einsamkeit und Freiheit‹, für Humboldt lediglich ein Ideal für Wenige, also nur eine »Gesellschaft der Gelehrten« sein sollte, das sich alleine in einer Akademie finden konnte und nicht einmal in der Universität, so ließe sich für Hochschulen und jede andere Bildungseinrichtung die »engere Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates« als ganz in der Tradition Humboldt’scher Bildung rechtfertigen801. Humboldt, in diesem Sinne interpretiert, »war praktischer Staatsmann genug, um anzuerkennen, dass die Universität Aufgaben der Berufsausbildung zu vollziehen hatte«802. Dieses Argument taugte besonders, die neuhumanistischen Traditionalisten an den Universitäten ihrer argumentativen Basis zu entziehen. Georg Picht hingegen ging zum Frontalangriff gegen den neuhumanistischen Bildungsbegriff der »allgemeinen Menschenbildung« über und attackierte an zahlreichen Stellen dieses »aristokratische Ideal der allseitig und harmonisch entfalteten Persönlichkeit«. In diesem Bildungsideal »in einer idealen und den Kämpfen des tätigen Daseins 799 800 801 802
Ebd., S. 90–92. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 45. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 10f. Ebd., S. 11.
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enthobenen Sphäre« müsse man »wohlsituiert sein, um sich zum Menschen zu bilden«, und sei eine »Bildung ohne Verantwortung«. Als »Pflanzstätte einer unpolitischen Bildung, durch die das deutsche Bürgertum in seiner gesamten Haltung geprägt worden ist«, legte Picht gleichfalls ihre Mitverantwortung für den Nationalsozialismus nahe803. Selbst das, was man gerade noch für ein Bekenntnis zur Autonomie des Individuums halten konnte, wurde nicht in einer Werthaltung oder Überzeugung begründet, sondern rein funktional: »Werden die Auszubildenden als Objekte behandelt und wird ihre Eigenbeteiligung nicht aktiviert, dann können die schönsten Lehrgebäude und -anlagen nicht verhindern, dass der Ertrag des Unternehmens [Schule] unbefriedigt bleibt.«804 Zu viel Zwang könnte sich als kontraproduktiv erweisen, »eine ausreichende Effizienz der Bildungseinrichtungen« werde nur durch freiwillige Motivation gewährleistet805. Wo »Individualität und die Verwirklichung von viel Autonomie« als funktional angesehen wurden, beispielsweise »als Bedingungen eines Gelingens von Kooperation und Verbund in Westeuropa«, wurde dem der Vorzug vor der Vereinheitlichung und Zentralisierung »um der Rationalisierung willen und zugunsten möglichst großen Wachsens der Güterproduktion« gegeben. Ein Zugeständnis an die Bildung fürs Individuum kam nicht ohne funktionale Verweise aus, dass auch der Zustand des Arbeitnehmers wichtig für die Wirtschaft sei, dass die Wirtschaft die Kreativität zur Innovation brauche etc.806 Kein Bekenntnis, auch nicht das zum Individuum, war also fundamental, sondern stets relativ zur Funktionalität. Das Individuum wurde nicht als Subjekt, sondern als Planungsobjekt betrachtet – auch, wenn es anders behandelt werden sollte. Die Steuerungsabsicht zog sich bis in die Entscheidungen jedes einzelnen Bürgers: »Die Ansätze […] liegen zumeist im öffentlichen Bereich, ihre Wirkungen gehen jedoch darüber hinaus. Allein schon durch die Tatsache, dass der Staat über einen längeren Zeitraum seine beabsichtigten Maßnahmen bekanntgibt und jeder Einzelne die Möglichkeit hat, sich damit auseinanderzusetzen und bei seinen eigenen Entscheidungen danach zu richten, wird eine stabilisierende Wirkung auf die Gesamtentwicklung im wirtschaftlichen Bereich ausgehen.«807 Diesem bildungsökonomischen Ansatz inhärent ist der Begriff von Bildung als Humankapital, Manpower oder »unser wichtigstes Kapital, und gemeint sind die Menschen, die nachwachsen, ihre Intelligenz und Begabung, ihre Talente und Gaben, die sie mitbringen oder nicht mitbringen, ausbilden oder vernachlässi-
803 804 805 806 807
Picht, Verantwortung des Geistes, S. 90–92. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 54. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 12. Vgl. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 62. Zinn, Hessenplan, S. 91.
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gen«808. Auch wenn nie die Betonung fehlte, es handele sich um Menschen, die keine rein wirtschaftliche Verfügungsmasse seien und immer noch als Personen behandelt werden müssten, so wurde die Vorstellung doch zumindest als »recht nützlich« anerkannt, »dass einem Rohmaterial – die in die Ausbildung eintretenden Anfänger – durch einen Bearbeitungsprozess – die Arbeit in den Ausbildungseinrichtungen – ein Wert hinzugefügt wird. […] Der Aufwand für das Ausbilden gilt danach als Investition, die nach einer Wartezeit Ertrag bringt, Ertrag im individuellen Lebenseinkommen und im Sozialprodukt.«809 Nach dieser Lesart stellte sich dann auch die Frage, weshalb »man Investitionen in physisches Kapital abschreiben kann, dagegen Investitionen in geistiges Kapital nicht«810. Die Wirtschaftswissenschaften sollten sich entsprechend stärker den »manpower economics« zuwenden, die dann auch direkt die nützlichste Art der Bildung bestimmen könnte811. Die Dysfunktionalität von Markt und Demokratie Diese Einordnung des Individuums ging mit einem Weltbild einher, in dem die Gesellschaft als »hoch selektives und hoch komplexes System«812 gesehen wurde, das einer Ordnung – oder Stabilität – bedürfe, die nicht mehr durch die Spontaneität von herkömmlicher Demokratie und Marktwirtschaft zu erzeugen wäre. Die Planung galt auch für das Bildungswesen als Alternative zu einem dysfunktionalen kapitalistischen System, in dem politische Macht sich aus ökonomischer Macht ableite und der nicht zu optimalen Ergebnissen für die Gesamtgesellschaft führe, sondern die politischen Institutionen alleine »auf die Erhaltung der Macht und die damit parallele Garantie der bestehenden Eigentumsbedingungen« ausrichte813. Die in ihren Grundsätzen funktionalistische Planungsideologie, die zunächst nur spontane Ordnung kritisierte, bewegte sich so also in ihrer Umsetzung am Menschen in Richtung einer sozialistischen Kapitalismuskritik und sollte nicht erst in ihren äußeren Enden voll bis in die marxistische Wirtschaftstheorie hereinreichen. Auch der zunächst vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kommende Heidelberger Volkswirtschaftsprofessor Carl Christian von Weiz808 809 810 811
Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 82. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 54. Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 61. Vgl. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 57. Dem kam dann beispielsweise der Makroökonom Carl Christian von Weizsäcker nach, vgl. Vorläufige Gedanken zur Theorie der Manpower-Bedarfsschätzung, S. 155ff. Vgl. auch Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 9. 812 Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 78f. 813 Vgl. ebd., S. 83.
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säcker zog seine Vorstellungen von Bildungsplanung, eine »Theorie des produzierten technischen Fortschritts« aus dem Marxismus. Da die klassische kapitalistische Produktionstheorie nicht wie Marx oder Habermas die Produktion in Warenproduktion und Metaproduktion teile (also »Aktivitäten, die der Veränderung, insbesondere Verbesserung des Produktionsprozesses dienen«814 einen eigenen Wert zumisst), besitze sie selbst »ideologischen Charakter«815 : »Die klassische Produktionstheorie zeichnet sich dadurch aus, dass das Ergebnis des Produktionsprozesses allein aus physischen Gütern und ihnen in ihrer ökonomischen Qualität entsprechenden Dienstleistungen besteht. […] Eine Änderung dieser Produktionsfunktion […] wird als technischer Fortschritt bezeichnet. Wie dieser technische Fortschritt zustande kommt, wird im Rahmen der klassischen Produktionstheorie nicht untersucht. […] Jedermann weiß, dass die klassische Produktionstheorie streng genommen falsch ist.«816 Aber diese explizite und bewusste Nähe der Bedarfskonzeption zu den theoretischen Grundlagen der Planwirtschaft sozialistischer Systems stellte die Ausnahme dar, zumeist erfuhr das theoretische Fundament der Bedarfskonzeption wenig Beachtung. Wo sich die Konzeption aber dem Vorwurf ausgesetzt sah, Planung laufe per se konträr zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung, ließ sich mit Fug und Recht entgegnen, es gebe ohnehin im Bildungsbereich »kaum automatische Mechanismen […], insbesondere keine Steuerung durch Preise, und weil es außerdem ja überwiegend ein Staatsmonopol, ein großes öffentliches Unternehmen ist. Unternehmen in sich aber werden ja schließlich seit jeher geplant.«817 Dass wirtschaftliche Freiheit automatisch zu den besseren Ergebnissen führe, war aber eben auch bis tief in die Mitte der Gesellschaft umstritten; Fünfund Zehnjahrespläne waren für viele adäquate Mittel, um den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu gestalten, die keynesianische Globalsteuerung erfuhr breite Anerkennung, und ein auf individueller Nachfrage beruhendes Bildungssystems ließ sich als »pädagogischer Manchesterliberalismus« diskreditieren818. Die Diskursformation beinhaltete auch die latente Hoffnung, durch Planung und Wissenschaft eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu erschaffen, in der die soziale Gleichheit des Sozialismus und die individuelle Freiheit demokratischer Ordnung vereint würden819. Neben die Kritik der Marktwirtschaft trat der skeptische Blick auf die Demokratie in einer immer komplexer scheinenden Gesellschaft. Sie schien dys814 Von Weizsäcker, Carl Christian, Vorläufige Gedanken zur Theorie der Manpower-Bedarfsschätzung, S. 159. 815 Ebd., S. 161. 816 Ebd., S. 159. Vgl. hierzu auch Combe, Bildungsökonomie, S. 48–82. 817 Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 47. 818 Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 51. 819 Vgl. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 324f und ebd., S. 194.
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funktional und nicht geeignet, langfristig strategisch zu agieren, stattdessen müsse das politische System »über eine ›hinreichende Eigenvarietät‹ (›requisite variety‹) und über genügend ausdifferenzierte Systeme für Probleme der Entscheidung, der Verwaltung, der Kommunikation etc. verfügen«820. Die Möglichkeit, unabhängiger vom Souverän agieren zu können, wurde auf europäischer Ebene gesucht: »Nationale politische Instanzen sind durch die Legislaturperioden stark behindert, langfristige Ziele ins Auge zu fassen und langfristig angelegte Planungsschritte einzuleiten. Übernationale Organisationen sind von dieser Behinderung weniger betroffen. Die Verantwortung für das Zustandekommen langfristiger und konzertierter Bildungsplanung in Westeuropa liegt darum in erster Linie bei den hier tätigen Organisationen.«821 An dem Punkt, an dem eine ungefähre Planungseuphorie sich immer detaillierter konkretisierte und in solcher Konsequenz weitergedacht wurde, dass gerade zur Stabilisierung des sozioökonomischen Systems in der Zukunft die Überwindung des Kapitalismus und der bekannten, pluralistischen Form von Demokratie nötig wäre, erreichte die Bedarfskonzeption eine Schnittstelle zur gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption. Ab hier wurden dann auch Theorien vertreten, die in der Forderung nach normativen Wissenschaften als Planungsgrundlage mündeten und Planung stärker auf einer Metaebene als »Veränderungen in den Lehrplänen, den Unterrichtsmethoden, den Bildungszielen« verortete, als auf Kennziffern gerichtet war822. Die von Jensen, Bertstecher und Edding prognostizierten möglichen Zukünfte oder Futuribles, erinnern stark an die Teleologie Karl Marx’, die offenbar präferierte Zukunft sei die einer »Neuen Kultur«, die durch »weitrechende strukturelle Veränderungen mit teilweise revolutionären Folgen«823 erzeugt werde, in einer sozialistischen Welt mit steigendem Bruttoinlandsprodukt und ohne Leistungsdruck ende und in dem das Bildungssystem »die Übermittlung rein kognitiven Wissens« zur Einfügung in die Übernahme der Gemeinschaftsverantwortung »weit überschreitet«824. Dass also auch ein bis weit in konservative Kreise gebrauchter Diskurs zur Bildungsplanung ohne kategorischen Bruch bis in einen eigentlichen Sozialismus hineinragte, mag verdeutlichen, wie schwierig die Kategorienbildung am Objekt, wie sie in dieser Diskursanalyse erfolgt, sich darstellte. Allerdings muss auch den genannten Vertretern ohne politische Nähe zum Sozialismus zumin820 Vgl. Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 78f. 821 Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 16. 822 Vgl. Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, v. a. S. 132f. 823 Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens, S. 122. 824 Ebd., S. 126.
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dest unterbewusst klar gewesen sein, auf welch schmalem Grat sie mit der Bildungsplanung wandern würden. Schließlich befanden sie es regelmäßig für notwendig, sich von sozialistischer Planung abzugrenzen und die gleichzeitige Wahrung individueller Bildung zu beteuern. So wurde stets betont, dass Bildungsplanung nicht alleine ökonomische Planung heiße. Neben den wirtschaftlichen wurden auch soziale und kulturelle Notwendigkeiten anerkannt und immer unterstrichen, dass auch diese mitgeplant werden müssten. Zumindest für die Theorie galt stets: »Der künftige Bedarf der Wirtschaft an Bildung, losgelöst vom Bedarf der Gesellschaft und des privaten Lebens, ist nicht festzustellen.«825 Die ökonomischen Abwägungen sollten aber nicht immer alleine ausschlaggebend sein. Bildungsplanung hieß nicht, »dass sie allein von wirtschaftlicher Vorausschau ihre Disposition bezieht, […] sondern dass sie die gesamte wahrscheinliche, personale und gesellschaftliche Situation des Menschen in der Zukunft zum Ausgangspunkt ihrer Dispositionen macht«. Wissenschaftler, »die ein Bild dieser voraussichtlichen personalen und gesellschaftlichen Situation geben können«826, sollten also in ihren Prognosen nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen und kulturellen Ansprüche künftiger Generationen vorhersagen. Diese Forderung entstand auch aus der kritischen Analyse, »dass ein technokratischer Bedarfsansatz und eine demokratisch begründete Bildungsexpansion fast notwendig in Widerspruch geraten mussten. […] Die Schwierigkeit ist nur zu überwinden, wenn man nicht nur den gegebenen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften berechnen und solche Analysen durch TrendProjektionen in die Zukunft übertragen kann, sondern wenn es gleichzeitig gelingt, die Flexibilität von Wirtschaft und Gesellschaft für die Absorption von spezifisch Ausgebildeten zu bestimmen. Diese Aufgabe kann nur eine Bildungsökonomie erfüllen, die sich von der beschränkten Basis der normativ-analytischen Ökonomie löst und als Sozialwissenschaft begreift.«827 – Die Lösung aller Widersprüchlichkeit fand sich in mehr Planung, nicht in weniger, in einer Ausweitung des Wissenschaftsfelds, nicht in einer Begrenzung des Aktionsraums. Die hier zitierten, außerökonomische Systeme integrierenden Ideen stammten darüber hinaus von Diskursteilnehmern, die ihre Stimme nur temporär diesem Diskurs liehen. Vielleicht war es auch mehr deren Anspruch, der Bildungsplanung diese Brücke zu schlagen, als ein Kernanliegen der meist im Ökonomischen verharrenden Bedarfskonzeption. Trotz aller theoretischen Kritik am politischen und ökonomischen System der Bundesrepublik wurde als gesetzte Grenze praktischer Bildungsplanung im 825 Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 60. 826 Evers, Modelle, S. 115. 827 Becker, Friedrich Eddings Beitrag zur Bildungsökonomie und Bildungsforschung, S. 13.
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Allgemeinen die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft anerkannt: »Es kann sich zeigen, dass eine Reihe von Zielen, etwa im Bereich der Ökonomie, mit den Grundansprüchen an ein demokratisches Bildungswesen unverträglich sind und revidiert werden müssen.«828 Die Bedarfsplanung diente über lange Jahre als beste Begründung für die Bildungsexpansion. Nicht Humanismus und Aufklärung waren der Grund, die Veranlagung jedes Heranwachsenden optimal zu entwickeln, sondern die »gesellschaftliche Ökonomie«829. Gewiss war es nicht primär emanzipativ gemeint, den bislang unter ihren Möglichkeiten geförderten Schülermassen nicht als Träger von Bürgerrechten, sondern als volkswirtschaftliche Begabungsreserven eine bessere und oft eine höhere Bildung angedeihen zu lassen. Aber zweifelsohne wären ohne diesen ökonomisch induzierten Expansionsdrang nicht derart schnelle Erfolge insbesondere in der Landschulreform zu verzeichnen gewesen, denn die ökonomische Argumentation vermochte es letztlich als einzige, die immensen Kosten für die Gesellschaft gleichzeitig als deren Gewinn darzustellen. Auch Ralf Dahrendorf gestand ein, dass »diese Politik unfreiwillig richtig sein, nämlich zum richtigen Ziel führen kann«830. Seit Georg Pichts ›Katastrophenruf‹ ging es über die sechziger Jahre hinweg vor allem um die Steigerung der Abiturientenzahlen; der ›Fahrstuhleffekt‹ sollte bewirken, dass im Sog der Abiturienten auch die Absolventen geringerer Qualifikation höhere Bildung erfuhren. Bald aber, spätestens ab 1972 auch auf breiterer Ebene, trat die Vorstellung einer »Überproduktion von Akademikern«831 im Diskurs auf. Die Angst vor einem »akademischen Proletariat«832 und fehlenden Produktivkräften brachte damit eine andere Dimension in die Bedarfsplanung, nämlich nicht nur den Ausbau des Bildungssystems, sondern auch dessen Begrenzung. Dabei ging es dann auch nicht mehr ausschließlich um den gesellschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Bedarf, sondern zunehmend auch um die Belastbarkeit der öffentlichen Haushalte, die zunehmend unter Druck gerieten. Zu Beginn dieses Kapitels wurde formuliert, dass gesellschaftlicher Bedarf und individuelle Nachfrage nach Bildung zunächst in die gleiche Richtung wirkten und daher ohne weiteres nebeneinander vertreten werden konnten. Dass dies nur behelfsmäßig stattfinden konnte, solange es die historische Situation zuließ, wurde spätestens mit den veränderten ökonomischen Bedingungen der siebziger Jahre deutlich.
828 829 830 831 832
Jensen, über die Zukunft des Europäischen Bildungswesens, S. XXIXf. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 9. Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 22. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 60f.
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Geplante Strukturen als Weg in die Zukunft Der Planungsapparat und seine Methode So weit zu den theoretischen Grundlagen, weshalb Bildungsplanung entlang wissenschaftlich bestimmter gesellschaftlicher Bedarfe geschehen sollte. Aber wie sollte Bildungsplanung praktisch und auf Deutschland bezogen ausgeführt werden? Planung bedeutete fast zwangsläufig zentrale Planung833 : »Planung ist nur im gesamtstaatlichen Rahmen möglich«834. Dass die Länder für sich politisch eine zu schwache Position hätten, umfassende Reformen voranzutreiben, war ein allgemeines Argument, das auch in dieser Diskursformation hervorgebracht wurde835. Darüber hinaus gab es spezifische Argumente. Wenn prinzipiell die besten Ergebnisse durch möglichst fundierte Planung erzielt würden, dann wäre es nur effizient, die Ressourcen dazu zentral zusammenzuführen. Wenn zudem funktionalistisch die Ziele von Bildungspolitik sich aus sich selbst heraus ergäben, wenn ohne politische Grundentscheidungen ein Optimum wissenschaftlich planbar war, dann gab es erst recht keinen Grund, dieses nicht flächendeckend anzustreben. Weder aus föderalistischem Wettbewerb erwachsende Vorteile noch die kulturpolitische Hoheit der Länder und deren politische Funktion galten in dieser Diskursformation etwas. Im Gegenteil: Unter Verweis auf Artikel 72 GG, der den Bund für gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verantwortlich macht, konnte sogar mit der Verfassung gegen den Bildungsföderalismus argumentiert werden836. Auch über den Effizienzgedanken ließ sich trefflich für einen zentralistischen Ansatz argumentieren, sollte die Bildungsforschung schließlich möglichst hohe Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen: »Es muss vielmehr ein Apparat von statistischen Ämtern, von unabhängigen Forschungsinstituten und von Forschungsreferenten in der Verwaltung bereitstehen, der die Wahrscheinlichkeit richtiger Planung und Entscheidung so groß wie möglich macht. […] Solche Apparatur kann sich ein einzelnes Bundesland in ausreichender Qualität kaum leisten.«837 Der Bund sollte einen solchen Planungsapparat bereitstellen838. Die Zentralisierung und Standardisierung musste freilich nicht an den Grenzen Deutschlands haltmachen, sie 833 834 835 836
Vgl. Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 60. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 35. Vgl. ebd., S. 31f. Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 59. Vgl auch Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 34: »Das Grundgesetz fordert in Artikel 72 Absatz 2: ›die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet des Landes hinaus‹. Diese Forderung gilt allgemein; sie muss auch dort verwirklicht werden, wo der Bund keine konkurrierende Gesetzgebung hat, nämlich im Ausbau des Schulwesens.« 837 Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 67. 838 Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 39, 46ff.
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konnten gleichfalls für ganz Westeuropa angestrebt werden, etwa in Form »gleicher Lernziele mit Lehrplänen […], die in den Gegenständen und Methoden stark variieren.«839 Während also mittelfristig galt, »wir brauchen […] ein Bundeskultusministerium und eine zentrale Kulturverwaltung. Wir brauchen deshalb eine Änderung des Grundgesetzes«840 und die lange Perspektive sogar eine europäische war, wurde kurzfristig ein horizontaler Umverteilungsmechanismus im Bildungswesen vorgeschlagen, von Geldern wie auch von Lehrern841. Des Weiteren hieß Planung auch umfassende Planung. Wie die Bildungspläne nur Teile eines Gesamtplans waren, so war das Bildungswesen nur ein Teil der Erziehung. Die Pläne mussten für ihre Wirksamkeit aber weiter greifen: Sie mussten die verschiedenen Bildungseinrichtungen, die Familie und außerschulische Lernorte einbeziehen. Gleichzeitig musste Bildung, Erziehung und die Betreuung von Kindern funktional ins Gesamtgefüge passen. Möglichst früh sollten Kinder deshalb staatlich betreut werden: »Vorschulische Einrichtungen zur Betreuung von Kindern werden als Teil des Bildungssystems geplant und ihr Besuch wird zur Pflicht gemacht.«842 Ganz in der ökonomischen Denkweise dieser Konzeption stand auch der Effizienzgedanke beim Lernen: »Methoden der modernen Lernpsychologie und […] Mittel der modernen Technik [sollen] die Zeiten stark verkürzen, die für das Aneignen von Kenntnissen und Fertigkeiten benötigt werden.«843 Durch »Technik und Wirtschaft im Verein mit der Wissenschaft«, deren Funktionalität in diesem Bereich sich historisch bewiesen habe844, sollte eine umfassende Bildungsplanung in nicht zu weiter Ferne möglich werden, wozu verschiedene Ansätze diskutiert wurden845. Zunächst war der Manpower-Ansatz vorgesehen, in dem ausgehend von ermittelten Kennziffern wie dem zukünftigen Bruttoinlandsprodukt, über dessen Aufteilung in die einzelnen Wirtschaftssektoren und die »sektorale Berufsklassenstruktur« auf den »erforderlichen Bestand an Arbeitskräften mit bestimmten Bildungsniveaus und Fachrichtungen« zu schließen und dann aus einem Abgleich mit demographischen Daten den »jährlichen Ersatz- und Neubedarf von Absolventen, gegliedert nach Fachrichtungen und Ausbildungsniveau« zu errechnen846. Wie bereits mehrfach 839 840 841 842 843 844 845 846
Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 5. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 33. Vgl. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 39. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 12. Vgl. auch Picht, Verantwortung des Geistes, S. 97f. Edding, Bildungsforschung als Grundlage der Bildungsplanung, S. 63. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 7. Vgl. Kim, Myung-Shin, Bildungsökonomie und Bildungsreform, S. 23ff und insb. 30–34. Von Weizsäcker, Carl Christian, Vorläufige Gedanken zur Theorie der Manpower-Bedarfsschätzung, S. 155f.
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dargestellt wurde, ging die Diskursformation von genauen wissenschaftlichen Prognosen, sogar einer Erforschung der Zukunft als Grundannahme für Planungsentscheidungen aus. Dazu entwickelte sich sogar eine eigene wissenschaftliche Disziplin, die sich Zukunftsforschung oder Futurologie nannte847. Auf den Bedarf im Arbeitsmarkt bezogen gab es ein Ertrags-Kosten-Modell, das über den Personalbedarf hinaus den optimalen Kostenaufwand für Bildung gemessen an der zu erwartenden Rendite bemaß, sowie einen Strukturansatz, der versuchte, »Strukturwandlungen zu messen und zu prognostizieren.«848 Für Letzteren sprach, dass »an die Stelle der Recheneinheit ›Geld‹ die Einheit ›Mensch‹ tritt« – allerdings nicht aus philanthropischen Gründen, sondern weil dadurch »der Brückenschlag zu anderen Disziplinen wie Soziologie, Psychologie und Pädagogik – Bereichen also, die große Bedeutung für eine sachgerechte Analyse des Bildungswesens haben – leicht möglich ist.«849 Ein Ertrags-KostenModell war hingegen »nützlich, um verständlich zu machen, dass sich Schulen, Hochschulen und andere Ausbildungseinrichtungen nicht unabhängig von den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt entwickeln können. Es ist wichtig, den Aufwand für diese Einrichtungen als Investitionen zu betrachten und daher auf ein möglichst günstiges Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu dringen.«850 Der Nachfrageansatz hingegen ging von einer Planung zur Deckung der individuellen Nachfrage nach Bildungsangeboten aus, hatte also kein steuerndes Moment. Er war bedeutend für eine Bildungsplanung, wie sie sich auch etwa aus der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation entfaltete und beispielsweise von Ralf Dahrendorf vorgenommen wurde851. Egal, welcher Ansatz – eine umfassende, also nicht rein auf das Bildungssystem selbst bezogene Planung zu verwirklichen, gelang zu keinem Zeitpunkt. Im Vergleich zu den Vorstellungen über die Möglichkeiten der Bildungsplanung blieben die realen Versuche nur vage Schätzungen, die nie über das Stadium der 847 Vgl. Tinbergen, Wie sollte man Zukunftsforschung betreiben?; Jensen, Berstecher, Edding et al., Mögliche Zukünfte des europäischen Bildungswesens. 848 Riese, Das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 123: »Obwohl die Bestimmung des optimalen Bildungsaufwands den Beginn Bildungsökonomischer Forschung markiert, hat das ihr zugrundeliegende Ertrags-Kosten-Modell […] nur geringen Einfluss auf die Bildungsplanung ausgeübt. […]Statt dessen hat sich in den letzten Jahren die Analyse von Strukturwandlungen als Planungsgrundlage weitgehend durchgesetzt. Während der rate-of-return-Ansatz [Ertrags-Kosten-Modell] monetäre Größen wie Kosten und Erträge verwendet, arbeitet der Strukturansatz mit Personen, die nach den verschiedensten Merkmalen wie Alter, Ausbildung, Geschlecht und Beruf gegliedert werden. Ersterer versucht, Kriterien für die optimale Allokation knapper Ressourcen abzuleiten, letzterer, Strukturwandlungen zu messen und zu prognostizieren.« 849 Riese, Das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 124. In: Hüfner, Naumann, Bildungsökonomie. 850 Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 54. 851 Vgl. Kim, Myung-Shin, Bildungsökonomie und Bildungsreform, S. 54f.
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Vorläufigkeit hinauskamen. Die Einsicht, solche Planungen würden unter Berücksichtigung aller Elastizitäten »nahezu uferlose Forschungen erfordern«, führte bald weg von der Vorstellung, Bildungsplanung auf gesicherte empirische Grundlagen stützen zu können. Eine Würdigung Eddings zu Beginn der siebziger Jahre klang nicht nur wie eine Entschuldigung, sie steht auch für die Abkehr von der empirischen Forschung und die Hinwendung zur Theorie als neues Planungsfundament: »Is it not more realistic to take the view that the social inventions and innovations are more akin to the creative mutations of biology, than to the machinery of technology or the calculus of economics? Edding the economist may need to become a philosopher, sociologist and psychologist if he is to contribute to the 1970’s as he did in the 1960’s. And Edding the scientist will have to grapple with the relationships of scientific knowledge to social action, and perhaps to resist the pressure of politicians to provide ›social technologies‹. He will no doubt draw heart from the fact that even if his work on the economics of education during the 1960’s did not provide politicians with new ›technologies‹, it certainly did help to restate the problem of education and thereby have a massive practical effect.«852 Selbst vonseiten der OECD, die mit ihren Erhebungen diesen Diskurs doch erst angestoßen hatte, kamen bald entsprechende Umdeutungen, verbunden mit deutlicher Kritik: »Planen ohne reflektierten Zukunftsentwurf, ohne Überlegungen zu den sozialen oder politischen Nebenwirkungen einer Planungsmaßnahme […] – solches Planen wird leicht zum blinden Leerlauf oder zu einer bloßen Technik des organisierten Chaos. […] Planen kommt vom lateinischen Wort planum (die Ebene) und hat immer noch den Wortsinn des starren Niederwalzens und Einebnens von Kreativität, Pluralität und Innovation.«853 An der Idee umfassender und gesicherter Zukunftsplanung ließ sich bald nur noch festhalten, wenn an die Stelle empirischer Forschung als Planungsgrundlage billiger zu habende und schwerer zu widerlegende Theorien traten. Bald wurde schon nach einer auf Marx, Keynes und Habermas fußenden »Theorie des
852 Gass, Reflections on Equality, Quantity and Quality in Education, S. 222. (OECD, Centre for Educational Research an Innovation and Directorate for Scientific Affairs, Paris). Zuvor: »But he [Edding] and his colleagues will certainly be faced with one fundamental difficulty. The essence of the situation in which we find ourselves today is that there is no given body of culture which will enable the individual to find his place in society. There is a consequent craving for ›social technologies‹ derived from systematic and organized research to replace those that are falling like packs of cards around us. Education is at the heart of the problem because its problems are so pressing, that it is becoming the first social field in which society is turning to organized research to solve its problems. But it is doing so somewhat out of panic, and perhaps in the vain hope that solutions can be ›researched and developed‹ just as in the technical fields.« 853 Menke-Glückert, Mögliche Zukünfte europäischer Bildungssysteme, S. 240.
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produzierten technischen Fortschritts«854 gesucht, die das Problem bewältigen sollte. Diese war zwar noch nicht entwickelt – »aber es ist abzusehen, dass das sehr bald anders wird. In einem solchen Moment wäre es verfehlt, ein langfristiges und kostspieliges Forschungsprojekt auf der Basis eines veralteten theoretischen Konzepts zu planen.« In diesem neuen Konzept sollte die Annahme zentral sein, dass »der Wirtschaftsprozess nicht nur Waren, sondern auch Wissen produziert.«855 Ein hochdifferenziertes und spezialisiertes Bildungswesen Nicht nur inhaltlich, auch strukturell sollte sich ein nach Bedarf geplantes System an den Anforderungen der Gesellschaft orientieren. Die Strukturierung ergab sich aus den Grundlagen dieser Konzeption als passgenaue Differenzierung des Bildungssystems nach den prognostizierten Bedarfen. Eine möglichst trennscharfe Segmentierung des Bildungsbereiches, in dem genau geplante Angebote eine veranschlagte Notwendigkeit abbilden mussten und aus der Menge der Heranwachsenden optimal besetzt würden, war das Ziel. Die Frage, die sich dabei stellte, lautete zusammengefasst, »wie vielen jungen Leuten zwischen dem 16. und dem 25. Lebensjahr wie lange welche Form wissenschaftlicher Bildung vermittelt werden soll.«856 Das Schulsystem musste demnach nicht unbedingt von vornherein gegliedert sein, denn eine höhere Grundausbildung war für alle vorgesehen. Die Differenzierung sollte später dann aber umso stärker stattfinden, damit »neben einer wissenschaftlich fundierten Elementarbildung verschiedene Formen der Fachabschlüsse« erlangt würden857. Fest stand in jedem Fall: »Das künftige Bildungswesen wird, was immer die Anwälte der Einheitsschule und der auf Emanzipation gestellten ›ganzheitlichen‹ Bildung sagen mögen, hochdifferenziert und spezialisiert sein – entsprechend der Differenzierung der Industriegesellschaft. Es wird über weit mehr Formen, Alternativen und Angebote verfügen als das heutige Bildungswesen.«858 Wer dabei welche Angebote wie zu nutzen habe, stand in einem großen Plan. Die dazu ersonnenen Entwürfe eines Bildungswesens, in dem die verschiedenen Bildungsgänge mit den optimalen Kandidaten besetzt würden, in denen sich das Bildungswesen mit der Arbeitswelt tief verschränken sollte, in denen selbst die Koordination von Staat, Bildungseinrichtungen und Berufsverbänden zur Verleihung von Diplomen dazu 854 Von Weizsäcker, Carl Christian, Vorläufige Gedanken zur Theorie der Manpower-Bedarfsschätzung, S. 157f. 855 Ebd., S. 159. 856 Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 23. 857 Ebd., S. 23. 858 Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 43.
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bereits vorgesehen waren, wurden derart detailliert, dass sie ohne Gedanke an ihre Umsetzbarkeit gleich auch noch mitplanten, wie sich auch alle anderen Teile der Gesellschaft, insbesondere der Arbeitsmarkt, nach ihren Vorstellungen ausrichten werde: »Einkommen werden nach Funktionen differenziert.«859 Das alles, eine Blaupause aus Finanzierung, operativen Kommissionen und Aufsichtsgremien, dazu die Überzeugung, dass durch wissenschaftliche Ausarbeitung und legislative Umsetzung alles auch verwirklichbar sei, zeugt von der Euphorie, die sich in dieser Konzeption niederschlug860 : »Alles erschien machbar, wenn man es nur wollte. Überkommener Fortschrittsglaube verband sich mit neuem Planungsvertrauen.«861 Die Differenzierung musste sich aber nicht an der individuellen Nachfrage, sondern an den gesellschaftlichen Bedarfen orientieren. Das Gymnasium habe dementsprechend »den Auftrag, den Bedarf der Gesellschaft an Nachwuchskräften mit einem gehobenen Bildungsstand zu decken«862. Das Ideal akademischer Bildung als persönliches Distinktionsmerkmal lief dieser Idee zuwider, weil sie beim Einzelnen nicht den Wunsch wecke, als Optimum seinen Platz im Gesamtgefüge einzunehmen, sondern den Ehrgeiz, in dieser als künstlich aufgefassten Hierarchie der Bildungsgänge ganz oben zu stehen. Wo also eine scharfe Selektion nötig war – so beim begrenzten Zugang zu den Hochschulen, respektive den Positionen in der Gesellschaft, die einer akademischen Ausbildung bedurften –, dort musste diese nicht nur als Auslese, sondern auch als Zuteilung geschehen: »Selektion setzt in einem solchen Staat vielmehr voraus, dass die in einem Bildungsgang nicht zugelassenen auf einen anderen umgeleitet werden, der ihnen ihre besondere Bildungschance gibt. […] Diese Lage erzwingt eine Aufwertung der nichtgymnasialen und nichtuniversitären Bildungsgänge.«863 Wo alle Bildung berufsbezogene Ausbildung war, so die Idee, werde eine Hierarchisierung der Bildungsgänge ohnehin wegfallen. Inhaltlich wurden moderne Fremdsprachen wichtiger, ebenso neue Unterrichtsangebote in Mathematik und Naturwissenschaften, »wie sie etwa die OECD zur Verbesserung und Vermehrung des Angebots an naturwissenschaftlichen und technisch qualifizierten Arbeitskräften propagiert.«864 Im Hochschulsystem galt es, den sprichwörtlichen Elfenbeinturm auf seine gesellschaftlichen Funktionen hin umzustellen: sowohl im Bereich der Lehre als auch im Bereich der Forschung. Da genügte es nicht, neue Lehrstühle und Institute in den gewünschten Bereichen zu schaffen. Dieses Bestreben bedurfte 859 860 861 862 863 864
Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 14. Vgl. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 11–15. Von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 9. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 86. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 9f. Robinsohn, Ein Struktur-Konzept für Curriculum-Entwicklung, S. 379.
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starker staatlicher Lenkung, einer »Einordnung der partikularen Forschungsinteressen und Bildungsprozesse in eine öffentlich kontrollierte Bildungs- und Forschungspolitik«865. Dabei wurde der Verweis auf »Frankreich oder manche sozialistischen Oststaaten« nicht gescheut866. Die akademischen Freiheiten waren nicht mehr oberstes Prinzip, sondern hatten nur noch die Funktion, eine »kritische Distanz« zu den Auftraggebern der Wissenschaft, also Politik und Gesellschaft, zu erlauben, »um ihnen durch wissenschaftliche Kritik die Möglichkeiten und Grenzen ihrer unmittelbaren Zweckhaftigkeit bewusst zu machen und sie so instand zu setzen, ihre Zielvorstellungen dem gesamtgesellschaftlichen Zweck entsprechend zu verändern«867. Die Gesellschaft und ihre Institutionen sollten aber – und das ist bemerkenswert – Auftraggeber der Wissenschaft sein und diese lediglich kritisch Stellung nehmen. Wie in anderen Bereichen sollte die zuständige Staatsverwaltung mit Fachleuten, also hier Wissenschaftlern, angereichert werden, »versuchsweise als mehrjährige Rektoren, Ministerialbeamte, Gutachter«. So sollte die Kompetenz innerhalb des Staatsapparats geschaffen werden, die für eine »stärkere Einordnung der Wissenschaft in eine gesamtstaatliche Planung«868 nötig sei. Freiheit von Lehre und Forschung sollte vom Grundrecht zum Privileg werden, das »als temporäre Form geregelter Muße Allgemeingut wird und als berufliche Spezialisierung eine bloße Dienstleistung darstellt«869. Planung unter Vorbehalt Während die Debatte noch in vollem Gange war, wie Bildungsplanung zu bewerkstelligen sei, während noch wissenschaftliche Institute und staatliche Behörden ersonnen wurden, die für all diese Planung nötig wären, machten sich die von ihren eigenen Ideen getriebenen Politiker bereits daran, selbst zu planen. Meist unter formalem Vorbehalt weiterer Forschung wurden einfach empirisch wenig fundiert Bedarfe angenommen und Schlussfolgerungen gezogen – das wurde dann bereits zur Bildungsplanung erklärt. Dabei wurden zunächst lediglich innerhalb des Bildungssystems bekannte Zahlen, also maßgeblich die absehbare Entwicklung von Schüler- und Lehrerzahlen, herangezogen. Zur Darstellung eines dramatischen Bildungsrückstandes genügte zunächst alleine die Demonstration, dass alleine für den Weiterbetrieb der Schulen durch Lehrer mit entsprechendem Studium die Zahl der Abiturienten nicht hoch genug sei870. 865 866 867 868 869 870
Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 21. Vgl. Picht, Bildungskatastrophe (1964) S. 12ff.
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Da alles andere folgte, war es auch noch nicht so wichtig, sich über die künftige Zahl der Ingenieure und Juristen Gedanken zu machen871. So ließ sich bereits der »Entwurf eines Notstandsprogramms« begründen872, nach dem die weitere Modernisierung der Landschulen, die Erhöhung der Abiturientenzahlen und die Ausbildung zusätzlicher Lehrer zu planen waren873. Solche Pläne, die noch auf die Funktionsfähigkeit des Bildungswesens selbst ausgerichtet waren und nicht für sich beanspruchten, ein ganzes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem mitzuplanen, waren der erste Ansatz eines Jahrzehnts der Bildungspläne. Die Diskussion über einen gesellschaftlichen Bedarf an bestimmten Arbeitskräften, der über den Erhalt und Ausbau des Bildungssystems selbst hinausging, fand weniger auf der Basis großer Datenmengen statt als aus dem Horizont der eigenen Erfahrung heraus. So ließen sich zumindest eindeutige Forderungen formulieren. Eine wissenschaftliche Herangehensweise musste sich nämlich noch mit Hypothesen begnügen, die nur zur Demonstration der Möglichkeiten vorgeschlagener Methoden dienen konnten874. Solange der notwendige »große Forschungseinsatz« noch nicht verfügbar war, verlief Bildungsplanung eher so: »Wenn also im Folgenden die Darstellung von Rahmenbedingungen und von einzelnen Aspekten künftiger Bildungsaktivität zu einer Perspektive für das Bildungswesen Westeuropas zusammengefügt sind, so ist das nicht Wissenschaft im Sinne der Ableitung eines Ergebnisses aus einem systematisch abgesicherten Zusammenhang von Prämissen. Es ist der Versuch eines an der Bildungsplanung der letzten Jahrzehnte Beteiligten, seine persönlichen Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen in den Entwurf einer konstruktiven Utopie einzubringen, einen Entwurf, zu dem noch viele Teilstücke fehlen.«875 Eine umfassende Bildungsplanung gelangte also nie über theoretische Überlegungen hinaus. Die Menge der zu integrierenden Parameter nahm schneller zu, als es überhaupt möglich gewesen wäre, diese zu erforschen, geschweige denn systematisch ins Bildungswesen zu integrieren. Von der Frage, ob genügend Lehrer ausgebildet würden, um steigende Schülerzahlen zu bewältigen, über die Debatte zum künftigen Bedarf des Arbeitsmarktes an bestimmten ausgebildeten Spezialisten bis zur Bewältigung der allmählich deutlicher werdenden Umweltprobleme verging nicht viel mehr als ein Jahrzehnt. Ohne empirische Forschung erstreckte sich das Spektrum der Forderungen abhängig von Zeit- und Standpunkt vom reinen Aufwuchs an Abiturienten und Akademikern über deren Differenzierung nach bestimmten Qualifikationen bis 871 872 873 874 875
Vgl. ebd., S. 18f. Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 50. Ebd. (1965), S. 53–68. Vgl. Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 2f. Ebd.; Der Absatz endet mit dem weiteren Satz: »Er [der Versuch] begrenzt sich auf Westeuropa.«
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hin zur Ablehnung weiterer Bildungsexpansion wegen einer am Bedarf vorbeigehenden Akademikerschwemme. Aus international vergleichenden Statistiken wurde ab Anfang der sechziger Jahre geschlossen, dass das Bildungssystem in Deutschland für die zukünftigen Herausforderungen nicht gerüstet sei und einer massiven Expansion bedürfe. »Wir brauchen mehr Mathematiker, Physiker, Lehrer, aber auch mehr Pfarrer, Ingenieure, Techniker, mehr intelligente Meister, Vorarbeiter usw. Und alle diese Berufe benötigen heute eine gesteigerte Ausbildung«876, war ein weitgehend unbestrittener Appell. Diese Forderung erhob Picht bereits in seinem Katastrophenruf877 und ein Jahr später sogar noch deutlicher : Die Bundesrepublik sei »im Begriff, auf die Stufe eines Entwicklungslandes zurückzufallen; manche Landstriche sind davon heute schon nicht weit entfernt.«878 Der Bildungsaufwand, der bislang den geistigen Eliten galt, sollte nun ausgedehnt werden. Nicht mehr nur, wer sich von Anfang an als fähiger Geist bewiesen habe, sollte weiter gefördert, sondern jeder zur optimalen Ausschöpfung seines intellektuellen Potenzials gebracht werden. Die Integration der »mittleren Begabungen« in den weiterführenden Schulen war für die Gesellschaft Grundbedingung »zur Aufrechterhaltung ihres werktätigen und kulturellen Lebens«879. Der personellen Expansion entsprach auch die Ausweitung der tertiären Bildung auf neue Gebiete, der »Prozess der wissenschaftlichen Spezialisierung […]. Er hat auch Tätigkeiten erfasst, die früher durch bloße Erfahrung befriedigend ausgeübt werden konnten. So nimmt der Katalog der wissenschaftlichen Disziplinen zu. Alte Fachberufe, wie Kaufmann, Lehrer, Techniker, Musiker, Kunstgewerbler erstreben die Verwissenschaftlichung ihrer Disziplinen, neue Berufszweige wie Kybernetik, Informatik, Erwachsenenbildung fordern Berücksichtigung in akademischer Forschung und Lehre.«880 In der Ausgestaltung blieb dabei zu klären, »ob künftig die ›Disponibilität für wechselnde Arbeitsverhältnisse‹ wichtiger ist oder die ›spezielle Funktionstüchtigkeit in hochspezialisierten Leistungsbereichen‹«881, also Allgemeinbildung oder Spezialisierung gestärkt werden müsste. Stand diese Frage immer im Raum und gab es stets ein ausgewogenes ›sowohl als auch‹ zur Antwort, wies die funktionale Fragestellung aber wie bereits dargestellt letztlich den Weg zur unmittelbaren Nützlichkeit und somit zur Spezialisierung, was sich auch aus einer Analyse der beruflichen Wirklichkeit ergab: »Denn wenn es um die Be876 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 82. 877 Picht, Bildungskatastrophe (1964), S. 29. 878 BHStA MK 66163 Picht, Georg, Süddeutsche Zeitung: Georg Picht antwortet Kultusminister Huber : Wer ist eigentlich der »verplante Mensch«?, 06. 11. 1964. 879 Roth, Begabung und Schule, S. 235. 880 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 82. 881 Ebd.
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setzung eines verantwortungsvollen Postens geht, entscheidet man in der Regel für den Spezialisten.«882 Die Industriegesellschaft verlange nach »lebenslanger wissenschaftlicher Bildung«883, die mit dem fortschreitenden Wissenszuwachs in den jeweiligen Disziplinen Schritt halten könne: »Die Mehrzahl der Schüler unserer höheren Schule werden sich später als Spezialisten behaupten müssen.«884 Das Spezialistentum bezog sich nicht nur auf ein Fachgebiet, sondern auch auf dessen aktuellsten Stand885. Das bedeutete eine Reduzierung der Lehrinhalte auf das aktuell Benötigte: »Die wissenschaftliche Hochschulausbildung kann deshalb in Zukunft nur eine je nach sachlicher Notwendigkeit, persönlicher Fähigkeit und gesellschaftlichem Bedürfnis mehr oder weniger weit getriebene Einübung in die wissenschaftlichen Methoden eines spezifischen Fachbereichs vermitteln.«886 Der zu vermittelnde Inhalt wurde somit auf die Teile reduziert, die durch unmittelbar gestellte Anforderungen begründet werden konnten. Im Umkehrschluss bestimmte sich der Bildungsgehalt eines Stoffes wiederum danach, ob ihm eine Funktion entspreche. Über die Zeit differenzierte sich die Diskussion um die Bildungsplanung also aus. Zur Spezialisierung nach Fachgebieten trat die Eingrenzung in der Quantität, die immer effizientere Einfügung des Einzelnen in seine Funktion. Nicht mehr alleine die zusätzliche Akademisierung war die Maßgabe, sondern eine immer genauere Abwägung, welche Funktionen in Zukunft benötigt würden und wie diesen die entsprechend qualifizierten Arbeitnehmer zugeführt werden könnten. Bald bedeutete dies auch, dass die Menge an hochqualifizierten Arbeitnehmern als ausreichend erachtet wurde und mehr Schüler in andere Bildungswege geleitet werden sollten887. Die Sorgen um die wirtschaftliche und geistige Zukunft der Gesellschaft waren nicht nur der fruchtbare Boden für Befürworter der Bildungsexpansion. In deren Verlauf wuchs die Furcht davor, für viel Geld Akademiker am Bedarf vorbei auszubilden: »Aber angesichts der gegenwärtigen Abiturienten- und Studentenexplosion in der Bundesrepublik ist es zweifelhaft, dass noch ein ausgesprochener Akademikermangel existiert«888, lauteten bald selbst die Analysen der Bildungsökonomen, sodass sie auch nicht als vorgeschobene Szenarien konservativer Politiker gelten könnten. 882 Picht, Verantwortung des Geistes, S. 94f. 883 Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 23. Vgl. auch Edding, Langfristige Perspektiven für die Bildungsplanung in Westeuropa, S. 10f: »Lebenslange Bildung in Intervallen«. 884 Picht, Verantwortung des Geistes, S. 96. 885 Edding, Wieviel Bildung braucht die Wirtschaft?, S. 53. 886 Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 23. 887 Vgl. »Wird abgeschafft«. In: DER SPIEGEL 23/1972. 888 Riese, Das Ertrags-Kosten-Modell in der Bildungsplanung, S. 135.
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Einem Ende der Bildungsexpansion wurde mit dieser Begründung – es drohe »eine neue, eine andere Bildungskatastrophe« – das Wort geredet. Diese habe »dem von Picht befürchteten Absinken Deutschlands auf das Niveau eines Entwicklungslandes eher Vorschub geleistet als Einhalt geboten«889. Durch die längst nicht mehr in entsprechender Qualität ausgebildeten Abiturienten und Studenten würden nun »die weiter unten liegenden ›Verteilerkreise‹ in Beruf und Leben nach dem 8. und 10. Schuljahr« fehlen890. Gleichzeitig sei die Laufbahn der Abiturienten eine »Einbahnstraße zur Hochschule«, die dann durch die später aus kapazitären Gründen etablierten Selektionsmechanismen wie dem Numerus Clausus und Prüfungen im Studium ins akademische Prekariat und zu »scharfen Gegenreaktionen« führen würden891. Auch international seien bereits die Folgen mangelnder Spezialisierung bei zunehmender Akademisierung zu beobachten: Jugendarbeitslosigkeit, Berufslenkung, individuelle und gesamtwirtschaftliche Probleme892. Zu dieser Zeit begann die deutsche Wirtschaft auch, für die einfachen Arbeiten Gastarbeiter ins Land zu holen, während die Deutschen nach höherqualifizierten Berufen griffen. Hatte also vor nicht allzu langer Zeit Georg Picht vor der Bildungskatastrophe gewarnt, schien jetzt das Umgekehrte stattzufinden: Die höhere Bildung der Massen führte am unteren Ende der Betriebe zu Vakanzen, die von außen gefüllt werden mussten. Politiker sahen sich dadurch mit »einer Fülle von Problemen konfrontiert, die vor allem mit einem Daueraufenthalt der Gastarbeiter zusammenhängen«. Der baden-württembergische Kultusminister Hahn ließ sich mit der Forderung zitieren, »dass jedes Volk in der Lage sein müsse, jedenfalls auf Dauer alle Funktionen in der Arbeitswelt aus sich heraus zu besetzen. Dies würde bedeuten, die Ausbildungsstrukturen so einzustellen, dass jederzeit auch genügend deutsche Arbeitskräfte für einfachere Arbeiten zur Verfügung stehen.«893 Der Bedarfsansatz wurde also weiterhin verwendet und gründete sich auch noch auf die gleichen Grundannahmen. Im Ergebnis vermochte er es nun allerdings auch, ein Weniger oder zumindest ein weniger Mehr an Bildung zu fordern.
889 890 891 892 893
Maier, Die andere Bildungskatastrophe, S. 8. Ebd., S. 13. Vgl. ebd. Vgl. Maier, Das berufliche Schulwesen, S. 124. Filbinger, Baden-Württembergische Kulturpolitik, S. 28f.
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2.5. Die neuhumanistische Diskursformation »Der Mensch ist das Werk seiner selbst.«894 Neben den bisher vorgestellten reformatorischen Ansätzen, die den Rückblick auf die Bildungspolitik in der Zeit der Bildungseuphorie maßgeblich prägten, spielten auch noch zwei Diskursformationen eine Rolle, die sich nicht an Zukunft und Gegenwart, sondern eher an der Vergangenheit orientieren, aber nur leichtfertig als konservativ bezeichnet werden können. Wer in den sechziger und siebziger Jahren in der Bundesrepublik die Erben des Neuhumanismus, die Wahrer des Gedankenguts Wilhelm von Humboldts waren, bedarf eines sehr differenzierten Blickes. Viele bezogen sich auf die klassische Pädagogik, noch mehr lehnten sie ab; und sowohl in der Fremd- wie in der Selbstzuordnung geriet so einiges unter das neuhumanistische Etikett, was dort nur mit einiger Interpretationsleistung zu verorten war. Fast schon verdeckt unter der bei Bildungsthemen stets notwendigen Beschäftigung mit der neuhumanistischen Bildungstradition verbarg sich eine gut abgrenzbare Diskursformation, die hier das Etikett ›neuhumanistisch‹ tragen soll, aber eigentlich neu-neuhumanistisch heißen müsste, da sie sich in etwa im selben Maß auf den ursprünglichen Neuhumanismus des frühen 19. Jahrhunderts bezog, wie dieser sich auf den Humanismus selbst bezogen hatte, und auch entsprechend klar davon abzugrenzen ist. Zu betonen bleibt, dass sich auch in anderen Diskursformationen nominell gerne an den klassischen Neuhumanismus beziehungsweise seine Vertreter angelehnt wurde oder Dritte in Zuschreibungen damit in Verbindung gebracht wurden, allerdings ohne Teil dieser Bildungskonzeption zu sein oder sie zu meinen. Besonderes Augenmerk wird darauf liegen, die Abgrenzung zur werterzieherischen Konzeption herauszuarbeiten, da sich hier oft die Begrifflichkeiten überlagerten. Dass die neuhumanistische Diskursformation wenig abhängig vom Zeitgeist war, ist inhärentes Merkmal und macht sie gleichzeitig weniger anfällig für Moden sowie weniger relevant im situationsgetriebenen Gesamtdiskurs. Die Zahl der entsprechenden Publikationen stieg im fraglichen Zeitraum auch nicht an und fiel daher in Proportion zum anschwellenden Gesamtdiskurs geringer 894 Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 74. Schaller bezieht sich auf das bekannte Zitat Pico De La Mirandolas: »Jede existierende Wirklichkeit hat eine ihr eigene Natur, die ihre Aktivität bedingt, wodurch der Hund immer als Hund, der Löwe immer als Löwe leben muss. Der Mensch dagegen hat keine Natur, die ihn zwingt, hat kein Wesen, das ihn bewegt. Der Mensch schafft sich selbst durch die Tat. Der Mensch ist Vater seiner selbst.« Ebenso bei Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 206: »Der Mensch das Werk seiner selbst! Er gewährleistet sich selbst zu sein. Erziehung hat diese Bewegung in Gang zu bringen, im Medium der Welt sich selbst zu bestimmen und des Seins zu versichern.«
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aus. Die Referenzen aber zum Beispiel auf den 1962 verstorbenen Theodor Litt oder den 1960 verstorbenen Heinrich Weinstock sowie auch die Beschreibungen Helmut Schelskys sind mannigfaltig, sodass zumindest deren noch länger rezipierte Schriften gleichermaßen Teil der Analyse dieser Diskursformation sein müssen. Ein offenes Eintreten für diese Bildungskonzeption ist gerade in den gut sichtbaren bildungspolitischen Konflikten selten zu erfahren895. Umso stärker war dort aber ihre Ablehnung. Diese negative Thematisierung verdeutlicht stärker, wie relevant diese Diskursformation noch war, als ihre positive Aktivität. Die Bildung abseits jeder gesellschaftlichen Funktion zu verorten, die »Einsamkeit und Freiheit« der Bildung, die Passivität von Staat und Politik wurden mitunter zum Feindbild stilisiert, sodass diese Diskursformation dadurch eine starke Präsenz erfuhr. Dass dieselben Merkmale dieser Diskursformation zu größerer Zurückhaltung im öffentlichen Streit um die Bildungspolitik geführt haben, liegt auf der Hand.
Radikal subjektive »Menschwerdung« – Grundlagen der Diskursformation »Der Mensch ist das Werk seiner selbst«896 steht als Leitlinie über der neuhumanistischen Diskursformation. In all seiner Radikalität war dies das Menschenbild, aus dem sie ihre Ideen zog: Zunächst der Begriff der Bildung als ›Menschwerdung‹ und in der Folge Humanität als unbestimmte Menschlichkeit waren das Ziel von Bildung; die Sittlichkeit als Prinzip innerlich wertgeleiteten Handelns ohne Konkretisierung oder Verallgemeinerung der Werte; weiterhin die Subjektivität sowie die Subjektbezogenheit von Bildung; der Begriff von Bildung als Leistung des Einzelnen, als Ergebnis von Fleiß und Bemühen um die Sache; die Anstrengung als konstitutives Element von Bildung; der Begriff von Bildung als Prozess, während der Status ›gebildet‹ nicht objektiv erkennbares Ergebnis, sondern eine aus dem Prozess unsichtbar erwachsende Humanitas sei; die Verneinung objektiver Werte oder Normen; die Ablehnung jedes Utilitarismus oder Nützlichkeitspostulats für die Bildung; kurzum, »dass Bildung mehr ist als Lernen. Wer Lernen weitgehend mit Bildung gleichschaltet, zieht den Verdacht auf sich, dass bei seinen theoretischen Grundlagen die Tierversuche Pawlows und Skinners eine größere Bedeutung haben als personale Faktoren.«897 Damit war die Grenze zur szientistischen Konzeption abgesteckt.
895 Vgl. auch Killy, Bildungsfragen, S. 46f. 896 Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 74. Vgl. auch Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 206. 897 Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 44. Gemeint ist der Psychologe Burrhus Frederic Skinner, der als Erfinder der Lehrmaschinen gilt und
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Jede Verabsolutierung oder Verallgemeinerung, jede Objektivierung und jeder Glaubenssatz wurden abgelehnt. Was aussehen mag wie blanker Nihilismus, war dies gerade nicht. Der Glaube an ein Ziel von Bildung war in einer Humanitätsteleologie898 vorhanden: eine »humane Teleologik der Welt«899, deren Ende allerdings ein nicht definierbarer Horizont abstrakter Menschlichkeit war. Die Welt sollte als Einheit, als Ganzes erfasst werden, möglichst viele Zusammenhänge sollten offengelegt werden. Das eine Bildungsziel war es, dass der Einzelne möglichst viele dieser Zusammenhänge für sich erkannte und sie verinnerlichte, dieses Ganze in sich selbst abbildete. Zweifelsohne konnte dies immer nur begrenzt stattfinden, die Erkenntnis der ganzen Wahrheit wäre keinem Menschen auch nur annähernd möglich. Dies zu begreifen, war das andere Bildungsziel: das Bewusstsein der Geschichtlichkeit und somit der unbedingten Suche nach nie final bestimmbarer Wahrheit900. Für den Einzelnen hieß dies, die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten zu kennen und doch nicht zu verzagen.
Geisteswissenschaftliche Methode Für die Bildung selbst aber galt somit, dass auch sie durch ihre Geschichtlichkeit bedingt sei und nicht empirische Bildungswissenschaften, soziologische, anthropologische oder entwicklungspsychologische Erkenntnisse Bildung bestimmen könnten, sondern dass »die dem Bildungsproblem einzig angemessene Denkmethode die geisteswissenschaftliche ist«901. Allerdings wurden die Ergebnisse empirischer Forschung, seien sie natur- oder geisteswissenschaftlicher Natur, nicht ignoriert. Aber ihre Aussagefähigkeit wurde rein positivistisch aufgefasst; und wann immer es zu einer Lehrmeinung nur eine einzige Gegenmeinung gab, wurde umso klarer, dass eine Verabsolutierung nicht stattfinden dürfe und daher der einseitige Gebrauch solcher wissenschaftlicher Ergebnisse für die Bildungspolitik unzulässig wäre902. Zumal galt dieser Subjektivismus lediglich für die Sphäre von Wissenschaft und Bildung, deren Unabhängigkeit von der Gesellschaft auch umgekehrt gelten musste. So falsch es aus dieser Sicht gewesen wäre, die Bildung für religiöse oder weltanschauliche Erziehung zu gebrauchen, wäre es auch falsch gewesen, den Atheismus zu predigen oder Religion zu verdammen. Der Anspruch bedeutete
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auf die Idee von Lernprogrammen tatsächlich bei der Dressur von Tauben kam; vgl. Der Tod des Paukers. In: DER SPIEGEL 29/1961. Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 77. Ebd., S. 38. Vgl. Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan des Bildungswesens, S. 40f.
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lediglich eine Einordnung solcher Phänomene in eine wissenschaftliche Gesamtschau. Wer sich für individuelle Werte und Ideale entschieden habe, der sollte sich aber der Subjektivität bewusst werden und keine Verallgemeinerung beanspruchen903.
Menschlichkeit durch Vereinzelung Die Hinführung »des Menschen zur oder in die Menschlichkeit, die Herausführung (educatio) auf den Ort seines Menschseins als die Aufgabe der Erziehung«904 war ein Prozess, mit dessen Vollzug man sich auseinandersetzen, dessen Ergebnis man zwar benennen, aber nicht beschreiben konnte. Dieses Ergebnis werde Menschlichkeit sein, wie auch immer sie daherkomme. Diese Menschlichkeit zeige sich in der »Sittlichkeit als einen sozialen Charakter-Typus […]: als den ›innengeleiteten Menschen‹«, welcher stets entsprechend seiner persönlichen Werte handele und sich nicht an der »Anerkennung dessen, was ›die anderen‹ für gut halten«, orientiere905. Menschlichkeit hieß Autonomie und Bildung das Streben danach durch die Verinnerlichung von möglichst viel Äußerlichem in der eigenen Person. Im Ziel des innengeleiteten Menschen war sich die neuhumanistische mit der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption einig. Hier bildete sich also ein bewusst reflexives System ab, in dem der Mensch sich aus seiner Menschlichkeit und die Menschlichkeit sich aus dem Menschen gebäre906. In dieser Reflexivität fanden sich Anleihen bei Martin Heideggers Selbstinterpretation907, ganz ähnlich begründbar war diese Idee von Erziehung aber auch aus der Logosfähigkeit und gleichzeitig Logoszugehörigkeit des Menschen, dessen »Menschlichkeit dadurch gekennzeichnet ist, die Wahrheit erfahren, sagen und vollbringen zu können«908. Zu dieser Menschlichkeit aber müsse er erst aktiv geführt werden. Diese Hinführung zur Wahrheit musste also der Prozess der Bildung sein, während 903 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 303 und Reichwein, Kritische Umrisse einer Geisteswissenschaftlichen Bildung, S. 5. 904 Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 77f. 905 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 79. 906 Zur Individualität als »Grenzbegriff« vgl. auch Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 10. 907 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 223, auch: »Dass ich bin und zu sein habe – diese ›Faktizität‹ ist keine nachträglich und von außen getroffene Feststellung, sondern erschließt sich in der Befindlichkeit.« Die Reflexion zur Tautologie überzeichnet ebd., S. 208: »Gerade dieses Vorkommen [als Seiendes in der Welt] und seine Feststellung können ja nur unter jener Voraussetzung sinnvoll sein. Sonst würde solche Aussagen niemand verstehen.« 908 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 17f.
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keine absoluten Wahrheiten vermittelt werden könnten: »Dem jungen Menschen muss Wahrheit in ihrer Geschichtlichkeit eröffnet werden, als eine einmalige, einzigartige, aber überholbare Offenkundigkeit von Sachen, Wesen und Menschen.«909 Das Prinzip der Geschichtlichkeit von Wahrheit war die Negierung des Absoluten, eine sokratische Vorstellung der Weisheit als Begrenztheit des Wissens, während ein maximales Verständnis der erlebten Wirklichkeit angestrebt werde910, die als »menschliche Verkehrtheit« zu sehen und »ihre Physis, ihre Herkunft und ihre Entfaltung« zu enthüllen sei911. Die Existenz des Menschen als solche und das Bewusstsein darum (die »Erschlossenheit, in der Welt zu sein«) waren gleichzeitig Grund und Begründung der Erziehung zur Humanität, denn sonst gälte, »kein Wesen wäre je auf den Gedanken gekommen, über ein tierisches Vegetieren hinauszugehen. Ja, ein Mensch wäre nie geboren. Menschlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, sich selbst ereignen und bewahren zu müssen. Dem Unmenschlichen bleiben Sein und Zeit verschlossen. In-der-Welt-Sein wird sein eigenes Worumwillen, sein eigenes Telos.«912 Ergo: »Erziehung erfolgt als die Vermittlung der Menschlichkeit an sich selbst.«913 Die Relativierung von Wahrheit, die Ansiedlung der Bildung in der Person und nicht im Verstand, führten gleichermaßen zur Auffassung, dass Bildung mit dem Lernen von Wissen zunächst nur wenig gemein habe. »Wenn im Strukturplan [für das deutsche Bildungswesen] die Entwicklung des Menschen und seine Erziehung eng begrenzt im rationalistischen Sinne verstanden wird, wie sollen dann jene anderen Potenzen, die in der Natur des jungen Menschen stecken und eng personenverbunden sind, sich entfalten können? Ohne das menschliche Vorbild des Lehrers und ohne die Anregungen, die von einer Anschauung der Welt, die weit über das hinausgeht, was nur rationalistisch erfasst werden kann, gegeben werden, wird der junge Mensch nie zu einer vollen Entwicklung seiner Persönlichkeit kommen können.«914 Diese Kritik galt den Bildungswissenschaften und der Bildungspolitik, die auf ihnen fußte: »Deshalb wird das vorwiegend intellektuelle Lernen überbetont und die inneren Bildungsprozesse vernachlässigt. […] Das Entscheidende, das fehlt: Der Mensch wird nicht nur gebildet durch Denken, durch Motivationen, die das Denken und Lernprozesse fördern, sondern auch durch Gefühls-, Stimmungs- und Werterlebnisse.«915 Der Vorgang der Bildung sei dabei nicht nur ganz und gar subjektiv, also Werk durch den Einzelnen an sich selbst, sondern überhaupt erst der Vorgang, in dem 909 910 911 912 913 914 915
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 28. Vgl. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 54ff. Ebd., S. 71. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 208. Ebd., S. 243. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 46. Ebd., S. 47.
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die Menschen vereinzelt werden916. Persönlichkeitsbildung hieß ja Herausbildung der eigenen Persönlichkeit, nicht Zubildung zu einem Ideal. Bildung war damit nicht nur ein Gegenstand, auf den sich neuhumanistische Philosophie auch bezog, sondern eine konstitutive Säule des neuhumanistischen Menschenund Weltbildes – ein Weltbild, in dem alle Wirklichkeit erst im Individuum Gültigkeit erlangte: »Soviel Welt als möglich, ja die ganze Menschheit in die eigene Person verwandeln, das ist ›im höheren Sinn des Worts Leben‹: ›Die letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unserer Person … einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung‹.«917 Erst aus einer durch »geistige Selbsttätigkeit« erlangten Autonomie bekomme der Mensch »sowohl eine umfassende Verantwortung für das Ganze, aber zugleich unendliche Freiheit des Denkens und Handelns«918. Das Bildungsstreben wurde zum Definitionsmerkmal des Menschen, »ein Unbedingtes, Nicht-ableitbares«919. Dies widersprach insbesondere jeglicher Instrumentalisierung der Schule für Ziele außerhalb der Entwicklung des Einzelnen: »Die Schule […] darf nicht zur Funktion der Gesellschaft werden, sie darf sich nicht dazu machen oder erklären lassen. Sie hat vielmehr den einzelnen freizugeben in seinem Denken, in seiner Einsicht zu eigenen Wegen.«920 Entsprechend stand alles, was nicht radikal auf das Subjekt abzielte, unter dem Verdacht, die Person fremden Interessen unterzuordnen. Schränkte der Bildungsrat die Kernforderung einer »Individualisierung« im Elementarbereich dahingehend ein, dass ein Kind »andererseits den in diesem Alter besonders wichtigen sozialen Kontext bewusst erleben [soll], durch den kooperatives und soziales Handeln erst ermöglicht wird«921, hieß das durch die neuhumanistische Brille: »Man will, um es einmal einfach auszudrücken und deutlich zu machen, schon in der Kleinkindererziehung im Kindergarten für das Kollektiv und durch das Kollektiv erziehen. Man will die individuellen Differenzen, die in den einzelnen Menschen von Natur aus stecken, weitgehend nivellieren.«922 Mit der Haltung, dass die Bildung nicht Funktion der Gesellschaft sei, war aber nicht die Vorstellung verbunden, dass die Gesellschaft 916 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 71f: »Aber das Ereignis der Befreiung geschieht immer nur einem. In diesem Ereignis wird er sozusagen vereinzelt, als einzelner – so können wir wohl auch sagen – angesprochen und ergriffen. Das Geschehen der Freigabe kommt nicht zugleich und sofort über alle Menschen – nicht also wie eine ›Erweckungsbewegung‹ – sondern es stößt einem unter ihnen zu.« 917 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 81 mit Anleihen von Wilhelm von Humboldt. 918 Ebd. 919 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 304. 920 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30. 921 Bildungsrat, Strukturplan, S. 111. 922 Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 20f.
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umgekehrt auch nicht dem Einfluss der Bildung unterliege. Im Gegenteil war das Telos der Bildung eine humane Gesellschaft aus Individuen, die ethisch handeln würden923. Bildung war demnach subjektiv und subjektbezogen. Was waren aber in diesem Sinne Objekt der Bildung sowie die Bildungsziele und -inhalte? Nicht die Vermittlung einer Wahrheit, sondern die »Hinführung zur Wahrheit«924 war Aufgabe der Bildung. Dieser Rekurs auf Wilhelm von Humboldts Idee, »den menschlichen Geist so zu bilden, dass er den schwer zu entdeckenden Punkt nicht verfehlt, auf welchem Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen«925, versetzte die Bildung (und Wissenschaft) in eine totale Losgelöstheit von ihren äußeren Bedingungen. Auch bestand keinerlei Anspruch außerhalb der Bildung selbst: Die Welt war Objekt der Betrachtung, aber nicht der Beeinflussung. Beeinflusst wurde nur der Einzelne, der sich selbst bildete, durch sich selbst926. Auch das Ziel von Bildung war sie selbst. Jeder äußere Nutzen wurde verneint927. Allerdings wurde genau darin wiederum der letzte Nutzen für die Allgemeinheit proklamiert, da der Einzelne durch die Bildung in Einsamkeit und Freiheit am sittlichsten werde und gerade so der Gesellschaft am besten diene928.
923 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 110f. 924 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 29. 925 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 9. Zu Schelling schreibt Schelsky, ebd., S. 71f: »Wir sehen, wie sich diese neue Idee des Wissens, das zwar ›absolut‹ sein soll, aber sich nur in einer ›unendlichen‹ Bemühung des Denkens darstellen lässt, von vornherein von dem pragmatischen Wissen und Handeln des Alltags polemisch absetzt; seine Bestimmung ist, eine reflektierende Distanz zum unmittelbar angewandten wissenschaftlichen Können zu schaffen, eine geistige Erhebung und Besinnung zu produzieren, in der Denken und Handeln von einem Punkt aus geleitet werden, der jenseits empirischer Zweckbestimmung liegt.« 926 Vgl. auch Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 9: »Die damit vertretene Auffassung der sozialen Handlung unterscheidet sich von der idealistischen darin, dass sie nicht deren Hybris teilt, die geschichtliche und soziale Wirklichkeit sei schlicht und unmittelbar bloßes Material der Idee, deren Überzeugungskraft sich das faktisch Vorhandene einfach zu unterwerfen hat. Auch wir hoffen auf eine ›Begegnung‹, auf ein ›freiwilliges Ineinanderübergehen‹ von Idee und Wirklichkeit. Der ›Gedanke‹ – und es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass Humboldt damit die ›Idee‹ im Sinne des philosophischen Idealismus meint – ist Partner der Wirklichkeit, die dem Handelnden ihre eigenen Ansprüche stellt; diese müssen als solche erkannt und dürfen nicht von der vorgefassten Idee vergewaltigt werden.« 927 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 69–71. 928 Vgl. ebd., S. 72, S. 88–91, insb. S. 90: »Wieso wird der Anspruch abgewiesen, dass die Universität für die Ausbildung des ›praktischen Kunstgebrauchs der Wissenschaft im Leben‹ da sei, durchaus realistisch aber die Zugeordnetheit des akademischen Studiums auf ein außerhalb der Universität verlaufendes späteres praktisches Leben der Studenten aufrechterhalten? Die Lösung dieses Widerspruchs liegt in der Überzeugung dieser Denker, dass gerade die ›reine‹ Wissenschaft indirekt dem praktischen Leben des Menschen und der Wohlfahrt des Staates mehr nützen wird als eine kurzfristig pragmatisch angesetzte Berufsausbildung«, S. 109f.
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Differenzierung durch Relativismus Dem Neuhumanismus wurde von außen vor allem eine aus ihm resultierende soziale Differenzierung vorgeworfen. Aus der Innensicht war diese aber weder Absicht noch Resultat der angestrebten Bildung. »Man muss sich davor hüten, Bildung von Begabung abhängig werden zu lassen und ihren Sinn von der Begabung her zu bestimmen«929, formulierte Theodor Ballauff und: »Schule bedeutet keine Elitenbildung und keine Begabtenauslese.«930 Die Schule sollte sich ganz und gar ihrer Funktion als »soziale Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebens-Chancen des einzelnen in unserer Gesellschaft«931 entledigen – der Angriff galt dem rigiden Berechtigungswesen932. Eine Schulreform dürfe sich gar nicht erst um die soziale Ordnung kümmern, sondern müsse dafür sorgen, »dass sie die Schule so weit als möglich von der Zuwendung dieser materiellen Sozialansprüche entlastet, um ihnen gegenüber wirksamer die erzieherischen Aufgaben und Gesichtspunkte primär zur Geltung bringen zu können«. Erst das, nämlich die Abkehr von einem »materiellen Ordnungsgesetz« schlechthin, die Loslösung der Schule von der sozialen Struktur galt als eigentlicher Ausdruck sozialer Gleichheit des Einzelnen. Erst »das Recht auf angemessene Ausbildung jeder Begabung« – und das hieß, ohne soziale Wertung wie einer per se höheren Anerkennung des Gymnasiums – sei die »Befreiung gegen die klassengesetzlichen sozialen Monopolisierungstendenzen schon in der Schule«. Damit wurde explizit klargestellt, dass weder die existente noch eine fiktionale Gesellschaftsordnung für gut oder schlecht befunden wurden, dass aber jegliche Zementierung und jeglicher Eingriff zur Veränderung in die Organisation der Gesellschaft durch das Schulsystem zu unterbleiben hätten. Eine Auslese nach Begabung war als »formale Freiheitsforderung«, nicht als »materielles Sozialordnungsgesetz« zu verstehen, und »so wirkte diese pädagogische Forderung […] keineswegs aber prinzipiell als eine Verneinung der vorgegebenen Gesellschaftsordnung.«933
929 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 20. 930 Ebd., S. 18. Auch ebd.: »Nicht die Begabten werden aus den Unbegabten ausgelesen, sondern einem jeden wird eine Begabung zugesprochen, die durch Erziehung und Schule zutage treten muss.« 931 Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 19. 932 Vgl. Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 28f. Damit wurde auch ein alter Kampf um die Schule wieder aufgegriffen. Das Berechtigungswesen war schließlich bereits im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts die staatsorganisatorische Antwort auf ein vom Staat sich lösendes humanistisches Schulsystem. 933 Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 23. Schelsky kritisierte auch die illusorische Annahme, eine »realistische Einsicht in den Begabungsrang und die Begabungsart [könne] zum sozialen Selbstbewusstsein schlechthin« werden – viel mehr würden doch gerade in die andere Richtung Begabungen willkürlich nach »aus ganz an-
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Erster Hauptteil: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen
Für jeden Menschen wurde nämlich irgendeine Begabung angenommen, die sich nicht eindimensional messen lasse. Die Individualität der jeweiligen Veranlagung aus dem Menschen herauszuholen und so dessen Persönlichkeit zum Vorschein zu bringen, war ja gerade Aufgabe der Bildung; und als gebildet wurde am Ende nicht derjenige betrachtet, der sich durch bestimmtes Wissen auszeichnete, sondern jener, der seiner Berufung gefolgt und zu ›sich selbst‹ geworden sei, also »dem entspricht, zu dem er sich berufen fühlt«934. Statt Begabtenauslese oder Begaben gab es also Begabungsförderung. Der »Ort […], an den jeder gehört«, war nur vom Einzelnen selbst bestimmbar als »Aufgabenkreis, den zu übernehmen und zu lösen er in der Lage ist«935. Begabung war somit auch von der allgemeinen Auffassung von Intelligenz getrennt, und auch das beinhaltete keine weitere Wertung. Erst die Beurteilung eines Menschen nach einem bestimmten, einheitlichen Maßstab, also die Überbetonung einer bestimmten Form von Begabung, lasse soziale Ungleichheiten durch Bildung entstehen. Nur dadurch würden die rein politisch aufgefassten Gleichheitspostulate und die daraus folgende Idee möglichst vieler Abiturienten und Studenten überhaupt erst nötig. In einem Bildungssystem nach neuhumanistischer Konzeption existierten gar nicht die Kategorien, entlang derer bislang Ungleichheit entstand. Chancengleichheit wurde in dem Sinne bejaht, dass niemand am Erreichen seiner persönlichen Ziele gehindert werden sollte. Die andere Lesart von Chancengleichheit als individuelle und kompensatorische Förderung aller aufgrund der Annahme, dass Veranlagungen für die Begabung des Einzelnen ein vernachlässigbarer Faktor seien, wurde hingegen abgelehnt und als Missbrauch der Bildung für sozialpolitische Zwecke gesehen936. Die Annahme genereller Ungleichheit als Voraussetzung des Bildungsprozesses stellte explizit eine Abgrenzung zu den emanzipativen Diskursformationen dar. »Das Hauptgewicht wird heute darauf gelegt, dass man von der gesellschaftlichen Situation her den jungen Menschen, gleich in welcher Bildungsorganisation er steht, fördern könnte, und zwar zu einer optimalen Güte. Es geht letzten Endes darauf hinaus, dass der Grundgedanke Rousseau’scher Philosophie von der Gleichheit der Menschen, der dann auch in der Französischen Revolution und in sozialistischen Systemen wieder aufgegriffen wurde, erneut in Erscheinung tritt. […] Die Lehre von der Gleichheit der Menschen ist aber eine nicht unwidersprochene These […]. Jedes Bildungsbemühen muss die Begrenztheit der individuellen Konstitution in Kauf nehmen.«937
934 935 936 937
deren Quellen [gemeint ist wohl die Abstammung] stammenden und legitimierten sozialen Forderungen« postuliert werden. Ebd., S. 26. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 18. Vgl. auch ebd., S. 35f. Ebd. Vgl. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 21. Ebd., S. 12.
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Dieser neuhumanistischen Vorstellung von Chancengleichheit widersprach auch, dass immer größere Massen von Studenten an die Universitäten gespült wurden. Einerseits würden diejenigen, die dort trotz anders gelagerter Begabungen landeten, von ihrer eigenen Berufung weggeführt, andererseits werde aber auch denjenigen mit entsprechend geistiger Begabung die Möglichkeit zur Entfaltung genommen: »Die Arbeit an der Universität als Geistestätigkeit kann aber nur gedeihen, wenn endlich verstanden und ausgesprochen wird, dass die selbstverständliche Chancengleichheit nichts an jenem Satz ändern kann und soll, nach dem schwierige Sachen schwierig und intelligente Leute intelligenter als unintelligente sind.«938 Dabei sollte keineswegs breiteren Schichten der Weg zu tertiärer (Aus-)Bildung versagt werden. Das Konzept der Universität sollte dadurch aber nicht geändert, sondern andere zusätzliche Modelle als Alternative zur Universität geschaffen werden. Diese sei lediglich für eine »geringere Zahl wirklich Berufener [, die] intensiver mit Wissenschaft umgehen« sollten. Die restliche »große Zahl der Studierenden, welche die Gesellschaft bitter nötig hat«, könne ja dennoch »in ihrem kürzeren Studium […] der wissenschaftlichen Vertiefung (oder wie immer man das nennt) begegnen«939. Gerade aber die »zentralen historisch-ästhetischen Fächer« könnten nicht als Massenfächer gelehrt werden940. Schließlich sei auch nicht jeder gleich geeignet, sich diese höchste Art von Bildung anzueignen. Dies hänge ab von der Freiheitsfähigkeit des Einzelnen: »Wir sind mit verschiedenen Anlagen und Fähigkeiten ausgestattet und können nur im Rahmen dieser Anlagen und Fähigkeiten uns freiheitlich betätigen.« Bildung vollzieht sich immer am Einzelnen, aber kann sich nicht an jedem gleich vollziehen. »Die Freiheitsfähigkeit kann nicht kollektiviert werden; sie ist von Mensch zu Mensch verschieden.«941 Wer allerdings darunter fiel und wer nicht, sei grundsätzlich offen und in keiner Weise vorbestimmt942. Gerade ein ausdifferenziertes Bildungssystem, in dem der Einzelne seinen Weg finden werde, gewährleiste die Verwirklichung von Chancengleichheit und vermöge es, auch sozialisationsbedingte Ungleichheiten zu integrieren. Wo etwa »insbesondere die Kinder aus Arbeiter- und Bauernkreisen von der Sprachbarriere betroffen seien«, wenn dem philologischen Charakter von Bildung ein Übergewicht zugemessen werde, müsse im Gegenzug berücksichtigt werden, »dass sowohl in der Volksschule als auch besonders in der höheren Schule und an den Universitäten die naturwissenschaftlichen Fächer sich breiter auswachsen. 938 939 940 941 942
Killy, Bildungsfragen, S. 13f. Ebd., S. 61. Ebd., S. 10. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 41f. Vgl. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 71f: Grundsätzlich könnten alle Menschen und nicht »nur bestimmte, in irgendeiner Weise designierte Menschen aus ihren Fesseln gelöst«, also gebildet werden.
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Aus diesem Grund können natürlich auch diejenigen Kinder besser zum Zuge kommen, die aus Arbeiter- und Bauernkreisen stammen und die sich somit in naturwissenschaftlichen Fächern leichter tun als in den sprachlichen.«943 Der Einfluss der Sprachbarriere nehme also dadurch ab, nicht durch kompensatorische Erziehung944. Tatsächlich sollte also nicht jeder die gleichen Chancen bekommen, sondern jeder sollte seine Chance bekommen. Dass damit vielen Menschen durch ihre Lebensumstände eine Zahl von Möglichkeiten abgeschnitten wurde, wurde also mit Verweis auf die übrigen Möglichkeiten abgetan. Der Wunsch, das Bildungswesen nicht zur sozialen Steuerung zu nutzen und vor allem in die individuellen Bildungsbiographien nicht einzugreifen, führte zur Forderung einer vermeintlich organischen Organisation des Bildungswesens. Verlangten klassische Auslesesysteme ein »wenig überzeugendes und zu Dauerkonflikten von Elternhaus und Schule führendes Begabungsurteil im Voraus«945, könne die Schule gleichermaßen doch auch jeden sein Glück probieren lassen und stattdessen »den Kindern und vor allem den Eltern durch eine gewisse Dauererfahrung des Scheiterns die unberechtigten Sozialansprüche und Illusionen […] nehmen« – und schlichtweg die Auslese an den Übergängen durch die »stärkere Wiederaufnahme des Sitzenbleibens in den Unterstufen der fortführenden Schulen«946 ersetzen. Erleichtert werden sollte dieser Prozess durch eine sorgfältige Bildungsberatung; damit diese allerdings dem Individuum verpflichtet sei und nicht nach externen Kriterien steuernd wirke, sollte sie möglichst von freien Trägern, nicht vom Staat organisiert sein947. Nicht dieselbe, sondern die gleiche Bildung solle jedem widerfahren, angepasst an die Kapazität des Einzelnen. Zur Bildung gehörte somit einerseits das tatsächliche Wissen und Können, andererseits aber auch das Wissen »um den Abstand seiner Lage und des ihm Gewährten gegenüber jenem Maß« – also die Kenntnis der eigenen Fähigkeiten und deren relativer Beschränktheit. »Der Ungebildete ist ja dadurch so auffällig, dass er weder jenes Maß kennt noch seinen Abstand einzuschätzen weiß. Er redet über alles und jedes, er weiß alles besser, er reißt alles an sich und sieht in allen seinen Taten vollendete Werke. Es gibt nicht die Halb- oder teilweise Gebildeten, sondern die Besonnenen, die um das Maß der Bildung wissen und um die Differenz ihres Standes zu diesem Maß, und ihnen gegenüber – die Maßlosen.« Elite war also »nicht die Elite einer Klasse, einer Nation oder Religion – die Elite, auf die es ankommt, ist die der Empfänglichen,
Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 34f. Vgl. ebd., S. 27. Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 29. Ebd., S. 29. Der Gedanke findet sich ähnlich bei Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 40f. 947 Vgl. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 44.
943 944 945 946
Die neuhumanistische Diskursformation
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Bedachtsamen, Beherzten. Sie ist in allen Klassen zu finden und zwischen ihren Angehörigen ist Verständnis, wenn sie einander begegnen.«948 Die Differenzierung erfolge also nicht vertikal, sondern horizontal. Begabung wäre dann nicht quantitativ, sondern qualitativ zu unterscheiden. Gerade die Kritik am Konzept des Pluralismus von gesellschaftlich-emanzipativer Seite als Akzeptanz von Ungleichheit traf hier in der Sache zu, nur dass die Bewertung eine andere war. Der Schule jegliche gesellschaftliche Funktion abzusprechen, hieß nämlich auch, dass es gar nicht erst legitim war, die Kategorien sozialer Herkunft oder beruflichen Erfolgs auf sie anzuwenden. Sie musste sich aus sich selbst heraus begründen. Damit galt sogar explizit: »Schule darf daher auch nicht ein Siebungsinstitut für den sozialen Aufstieg und die soziale Rangierung […] werden. Denn das ließe sie zu einem Mittel der Selbstsucht, des sozialen Ehrgeizes und schließlich der Besoldungsordnung ausarten.«949 In dieser Auffassung zur Differenzierung der Gesellschaft widerspricht der neuhumanistische Diskurs der Bundesrepublik durchaus seinen idealistischen Vätern des frühen 19. Jahrhunderts. Für diese war nämlich die Auslese durchaus eine qualitative, eine »elitäre Minderheitenforderung, dass eine solche akademische Bildung nur für wenige möglich sei«950. Johann Gottlieb Fichte meinte gar zum »wissenschaftlich ausgebildeten Stande«: »einen andern höhern Stand gibt es nicht, und was nicht wissenschaftlich ausgebildet ist, ist Volk«951. Die neuhumanistische Diskursformation veranschlagte für sich in ihrem doktrinären Relativismus eine überzeitliche Gültigkeit und besaß dadurch auch einen immer wieder herausgestellten Geschichtsbezug. Wichtigster Bezugspunkt war Wilhelm von Humboldt, dessen »Grundidee […] am Leben erhalten«952 werden sollte. War Bildung über die Jahrtausende Objekt von Kirche, Wirtschaft, Staat, weltlicher Ordnung im Allgemeinen, nahm sich nach dieser Ansicht alleine die Ära Humboldts aus: »Dem 19. Jahrhundert war es vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass es in aller Erziehung nur ›um den Menschen‹ als Menschen gehen könne, nicht um den Menschen als Glied der Kirche, des Staates, der Wirtschaft u. dgl. […] Diese Zentrierung alles pädagogischen Tuns auf den Menschen im Menschen, die eigentliche Entdeckung Rousseaus, erfuhr im Neuhumanismus […] ihre Erfüllung.«953 Ziel war also nicht die Aufrechterhaltung eines Systems, sondern die Wiederherstellung eines Gedankens, der seit dem »Ende der ersten beiden Drittel des [19.] Jahrhunderts«954 verschüttet schien. Jede 948 949 950 951 952 953 954
Killy, Bildungsfragen, S. 14. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 18. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 77. Vgl. ebd. S. 74–77. Ebd., S. 113. Fichte war freilich nicht Humboldt. Killy, Bildungsfragen, S. 58. Schaller, Krise der humanistischen Pädagogik, S. 12. Killy, Bildungsfragen, S. 14.
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Universitätsreform – und übertragen auch jede Bildungsreform – wurde am »normativen Rahmen« der »Idee der Universität im deutschen Idealismus« gemessen: »dass Leben zur Idee erhoben, und die Idee im Leben verwandelt werden muss, diese Handlungsvorstellung Humboldts muss auch die gegenwärtigen Bemühungen um eine Erneuerung unserer Wissenschafts- und Bildungsorganisation leiten.«955 In diesem Bild spiegelte sich auch noch die Vorstellung Humboldts wider, dass der Mensch zwischen totalem Naturzustand und totaler Kultur stehe und die Auflösung dieses Widerspruchs in der totalen Bildung bestehe, die beide Pole im Subjekt vereine956. Erziehung als Eröffnung des Horizonts Vor dem Hintergrund des reflexiven Prozesses der Bildung musste begründet werden, weshalb überhaupt eine Erziehungstätigkeit gerechtfertigt sei, also der Eingriff Dritter in diesen Bildungsprozess und ebenso, in welcher Form eingegriffen werde. Dieser Eingriff sei dann die Tätigkeit der Erziehung auf Grundlage der (Wissenschaft der) Pädagogik. Offenbar werde Erziehung dann zur Notwendigkeit, wenn man davon ausgehe, dass der Mensch es in seiner sozialen Existenz möglicherweise bevorzuge, sich ein- oder gar unterzuordnen, statt sich zu ›vereinzeln‹. »Das Moment der Plötzlichkeit und Schmerzlichkeit des Beginn der Paideia« müsse überwunden werden, indem der Mensch »plötzlich gepackt und emporgerissen« werde957 – »Dies Passiv gehört wesentlich mit zum Ereignis der Paideia.«958 Diesem Akt geleiteter Erziehung entspreche das ganze Schulwesen, in dem der passivere Schüler vom Lehrer noch erzogen werde – ohne allerdings ›abgerichtet‹ zu werden; der eigentliche Bildungsakt, nämlich die Selbstbildung oder Selbsterziehung, das Werk des Einzelnen an sich selbst, betreffe erst den ›Erwachsenen‹ – institutionalisiert an der Universität959. Die Möglichkeiten der Schule, der aktiven Erziehung, blieben begrenzt auf die Eröffnung dieses Horizontes, auf eine Hilfsfunktion. »Allein das Hervor-Bringen [des Menschen in das Dialogische, in jenen Bereich, wo ihm in Inanspruchnahme und Entsprechung seine Menschlichkeit, Bildung gewährt wird] kann sie intendieren. Unterricht und Erziehung sind die ihrem stetigen Tun aufgetragenen
955 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 48f. 956 Vgl. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 8f. 957 Theodor Ballauff beschreibt dies in Analogie zum platonischen Höhlengleichnis. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 73: »Der einzelne wird befreit, er wird gezwungen, sich umzuwenden.« 958 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 72. 959 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 81f.
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Maßnahmen. Das Ereignis der Bildung aber liegt weit jenseits der Grenzen ihres Tuns«960. Diese Bildung – »Selbstbestimmung und Selbstformung« – entstehe eigentlich aber erst »an der Universität […] durch eine gemeinsame Hingabe von Professoren und Studenten an eine Sache, an die forschende wissenschaftliche Erkenntnis. ›Deshalb kann sie auch nicht direkt als Zweck angestrebt und durch Willensakte verwirklicht werden‹. Universitätsbildung, Bildung durch Wissenschaft, bleibt dem Bereich der intentionalen Erziehung entzogen; wer sich diesem Bildungsstreben gegenüber als Pädagoge festhält, verfehlt dessen Substanz.«961 Im Studium, wörtlich dem ›Bemühen‹ um einen Gegenstand, finde also erst der eigentliche Akt der Bildung statt. Ein Pädagoge könne den Zögling nur darauf vorbereiten. So fand die Pädagogik auch in jedem einzelnen Schüler die Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen. Wo der Impetus der Pädagogik zum Bildungsvorgang erfüllt war, musste diese sich zurückziehen: »In dem Maße, wie der junge Mensch lernt und bereit ist, der in der Einsicht vernehmbar werdenden Inanspruchnahme und ihrer Zucht zu folgen, werden die erzieherischen Maßnahmen der Schule zurücktreten dürfen.«962 Die Legitimation der Schule als Einrichtung stand allerdings auf breiteren Füßen als nur dieser Begründung pädagogischen Wirkens. Schulen böten die nötigen Freiräume, die dem Schüler die Möglichkeit für »Einsicht und entsprechende Tat, für Erschließung der Begabung und für die Gewährung möglicher Berufung«963 geben sollten. Sie sollten daher explizit nicht der Anpassung in bestehende Verhältnisse und nicht deren Veränderung, sondern alleine ihrer Reflexion dienen964. Der Schule wurde so maximale Eigenständigkeit zugemessen, sie sollte sich aller äußeren Einflüsse enthalten. Gesellschaftliche Institutionen wurden als Gegenpol der Schule, nicht als deren Bedingung oder Auftraggeber angesehen965. Wenngleich die »Unersetzlichkeit der Familienerziehung« nicht in Abrede gestellt wurde, war damit ihre erzieherische Rolle entsprechend ihrer eigenen Funktion gemeint – also auf das begrenzt, dessen Ersatz außerhalb der Familie nur schwerlich zu finden sei, wie »mitmenschliche Gemeinschaft«, »Mütterlichkeit und Liebe«, »Heim- und Schutzfunktion« oder die »Erfahrung von
960 961 962 963 964 965
Schaller, die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 107. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 296. Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 106. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30. Vgl. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30. Vgl. ebd., S. 30: »Die Schule hat vielmehr das Maß der Bildung anzugeben und zu wahren – gegenüber Eltern und Schülern, Parteien, Kirchen und Verbänden. Das ist ihre Aufgabe innerhalb der ›Gesellschaft‹.«
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Bindung«966. Diese exklusiv familialen Aufgaben sollten allerdings ihre Pendants haben, die exklusiv schulischen Aufgaben, also eine Bildung, die solche unbegründeten Erziehungsziele nicht zulassen durfte, sie eher noch anzweifeln und dekonstruieren musste, ohne dabei aber ihre Gültigkeit in der Gesellschaft zu beschädigen. Die Familie vermochte nur das eine, die Schule nur das andere. »In ihr [der Familie] fehlt die Möglichkeit der sachlich-fachlichen Eröffnung all jener Bereiche der Kultur, die, weil wesentlich, vom Jugendlichen durchwandert werden müssen. […] Weiterhin, jene sachliche Gemeinsamkeit, die in der Schule durch gemeinsames Bemühen um eine Sache, um eine Aufgabe eintritt, das kann gerade auch im Elternhaus nicht erreicht werden. In der Schule erfährt der Heranwachsende die neue Bindung durch das Gesetz der Sache, durch ihr Wesen, ihre Ordnung, und die Gemeinsamkeit, die sich zwischen Lehrer und Schüler von da her ergibt. Und so erfährt der junge Mensch eine neue mitmenschliche Gemeinsamkeit der Gruppe in Zusammenleben und Zusammenschluss mit Gleichaltrigen und anderen.«967 Damit wurde aber kein Gegensatz zwischen Familie und Schule aufgebaut, sie erschienen dadurch als Komplementäre. Sie sollten sich gemeinsam hinter einem »Wall der Privatheit […] gegen die sachzwanghafte Indienstnahme des Menschen durch die abstrakten Superstrukturen unserer Gesellschaft«968 verteidigen. Wie die kirchlich-religiöse Erziehung hatte die Erziehung in der Familie also ihren eigenen Wert, der aber unabhängig von dem der Bildung existierte. Aufgaben der familiären Erziehung und der Bildung durften nicht vermengt werden – wo der Staat sich anmaßte, »möglichst frühzeitig schon im vorschulpflichtigen Alter seine Bildungsmaßnahmen anfangen [zu lassen], damit das Kind nicht in Wertsysteme, die in vielen Familien noch lebendig sind, hineinwächst«969, beraube er einerseits die Familien ihres Rechtes, »die Bildung und Erziehung ihrer Kinder zu gestalten«970, und zum anderen die neutrale und kritische Funktion der Bildung zersetzen. Diese Vorstellung einer Erziehung »befreit von allen Auftraggebern«971 nannte sich Pädagogik und leitete sich sprachlich wie begrifflich von der antiken Paideia ab, war hier also enger gefasst als im allgemeinen Verständnis als Überbegriff aller erzieherischen Tätigkeit: »Von Pädagogik ist nur dort zu reden, wo es um Antwort auf die Frage nach Sinn und Wesen der Bildung geht. Sie hat es darum nicht vordringlich mit der sogenannten Erziehungswirklichkeit zu tun.« Sei aber die antike Paideia noch die »Zugehörigkeit des Menschen zum Wesentlichen des Seienden« gewesen, also eine Einfügung des Schülers als Objekt in 966 967 968 969 970 971
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 21f. Ebd., S. 24. Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 35. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 48. Ebd., S. 50. Schaller, die Krise der humanistischen Pädagogik, S. 12.
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die Welt, habe erst der Humanismus sie zur »Aneignung eines Ganzen von Gedanken in vorbildlichen Sprachen und Werken« verwandelt, bei der der Schüler zum Subjekt des Bildungsvorgangs werde. »Ziel ist nicht mehr wie in der Antike das Sein des Seienden, nicht mehr das Heil der Seele wie im Mittelalter, sondern der Einzelne in seiner Individualität. Der Mensch ist das Werk seiner selbst.«972 Die Pädagogik selbst sei keine »Normwissenschaft« – sie handele nicht von einem ›Sollen‹, »sondern von dem, was Bildung ist« und dabei wiederum nicht, was als solche angesehen werde, sondern erschließe deren Sinn philosophisch, aus der Geschichte und aus dem Denken. Bildung hieß in diesem Sinne ›Bildung durch‹ oder ›Bildung an‹, aber nicht ›Bildung zu‹ etwas Vorgegebenem, Konkretem. Diese Idee von Bildung grenzte sich dezidiert von weltanschaulich geprägter Bildung ab: »So gab es etwa ein spezifisch nationalsozialistisches Bildungsgut, und es gibt kommunistische Bildungsgüter ; aber auch die katholische Schule versucht, sich dadurch zu begründen, dass sie eine Auswahl von ›Stoffen‹ bereithält, die den jungen Menschen zur katholischen Persönlichkeit heranzubilden versprechen.«973 Gerade das Religiöse habe die Tendenz, die Pädagogik zu usurpieren974, was zu einer fast gegensätzlichen Pädagogik führe; die Kirche, die kirchliche Erziehung habe wohl ihre Existenzberechtigung. Humanistische Pädagogik jedoch sei das nicht, diese dürfe sich eben keiner vorgefertigten Menschenbilder bedienen, »sondern sich der unbeschönigten Wirklichkeit des Menschen und seines Seins in der Welt aussetzt«; sie müsse sich »aus ihr selbst heraus […] beschreiben und auf Axiome aus anderen Wissenschaften, etwa der Theologie, […] verzichten.«975 Diese Ablehnung schulfremder Grundlagen betraf auch die Staatsform – auch die Demokratie bildete kein Leitbild, für das die Bildung funktionalisiert werden dürfe. Als Anwältin des Humanismus, der Aufklärung, der Freiheit und des Individuums beanspruchte die neuhumanistische Konzeption dennoch die Deutungshoheit über die Demokratie und bestimmte ihren Gehalt eben als Vorrang des Individuums. Für viele Zeitgenossen allerdings war es diese Art der Bildung, der man die Entwicklung zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zumaß; die Trennung von äußerer und innerer Welt, die Loslösung der Bildung von der wirklichen Umwelt sei mitverantwortlich gewesen, dass unethisch gehandelt worden sei976. Aus neuhumanistischer Sicht aber war es eben nicht diese ›reine Lehre‹, die die Verantwortung trug, sondern dass zwar ihre Formen und Mittel tradiert, ihr ›eigentlicher‹ Gehalt aber nicht mehr gelebt worden sei977. 972 973 974 975 976 977
Ebd., S. 73f. Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 13. Vgl. ebd., S. 13–18. Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 19f. Vgl. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 115f. Vgl. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 40: »Niemand braucht von seinem 11. Lebensjahr an
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Gerade nicht das Erlernen des Lateinischen oder andere kanonische Bildungstraditionen würden eine Person zu einer gebildeten machen, sondern alleine ihre ›Menschlichkeit‹. Der Schule wurde allerdings eine im eigenen Sinne emanzipative Funktion zugemessen, nämlich die Emanzipation des Menschen von seiner Umwelt. Gerade, wenn sich die Werkstätigkeit zunehmend auf den Gelderwerb reduzierte, war es an der Schule, »das faktische Anlernen in einem Beruf zu begleiten durch Vertiefung in die sachlichen Grundlagen und durch Besinnung der Berufstätigkeit, d. h. durch Einsicht in ein umfassendes Ganzes, letztlich des Ganzen, in dem nicht nur jede Tätigkeit sich vollzieht, sondern von dem her sie sich auch bestimmt.«978
Holismus Was in der werterzieherischen Konzeption der ›objektive Geist‹ war, der sich in Kultur, Staat und Tradition materialisierte, war in der der neuhumanistischen Diskursformation ›das Ganze‹ – mit dem Unterschied, dass ›das Ganze‹ keine Konkretisierung kannte. Es war die der nicht definierbaren humanistischen Teleologik entsprechende ebenso wenig definierbare Grundlage des Weltbilds und der Bildung. Die Vorstellung war, dass alles sich irgendwie aufeinander bezog. Die Herstellung dieser Bezüge, die Integration alles Erfahrbaren in einem Bild von der Welt – und dadurch die Verinnerlichung der Welt in sich selbst – war das nicht erreichbare Ziel von Bildung. Damit knüpfte die holistische Grundvorstellung der neuhumanistischen Diskursformation unmittelbar an den Idealismus an979. Vor allem aber stellte sie damit das Gegenbild des gesellschaftlich-emanzipativen Weltbilds dar. Dort wurde davor gewarnt, die Integration von Widersprüchen und Konflikten zum Erkenntnisziel zu machen. Stattdessen sollten dort Konflikte offengelegt werden; die Welt als Sinnganzes zu präsentieren, wurde abgelehnt. Der Begriff des ›Ganzen‹ taucht immer wieder auf. Zweck des Menschen sei »die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«980. Das Ganze diente auch als Begründung für den Wert der Allgemeinbildung: wöchentlich 5 Stunden Latein oder Mathematik zu ›treiben‹, um ein ›gebildeter Mensch‹ zu werden. Die unerfreulichen Folgen solcher ›Lehrpläne‹ hat uns die Geschichte eindringlich genug vor Augen gestellt.« 978 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 34. 979 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 85f: »Zur ›reinen‹, d. h. philosophischen Wissenschaftsauffassung gehört weiter, dass jedes wissenschaftliche Erkennen auf das Ganze des Wissens und der Wahrheit gehe, d. h. einen Totalsinn der Welt und des Menschen als Erkenntnisziel ständig im Auge habe. Von welchem konkreten Punkte, von welcher speziellen Disziplin man auch immer ausgehe, wissenschaftlich denken heißt ›im Geiste des Ganzen zu denken‹ (Schelling).« 980 Schaller, die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 99.
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»Wohl aber müssen Unterricht und Schule so beschaffen sein, dass jenes Fragen [nach Sein und Wahrheit] und angemessenes Antworten in ihnen möglich wird. Gerade um angemessen antworten zu können, bedarf es jenes erörterten Wissens. Denn nur im Horizont des Ganzen, das unsere geschichtliche Situation erschließt, wird es möglich sein, der modernen Welt in Wahrheit zu entsprechen, ohne sich ihr in Anpassung und Widerstand auszuliefern.« An dieser Stelle näherte sich die neuhumanistische Diskursformation der werterzieherischen, da die Geschichtlichkeit und die Kenntnis bekannten Wissens schnell kanonisch werden konnten. Wenn das Prinzip der Geschichtlichkeit von Wahrheit nicht nur als Negierung des Absoluten gelte, sondern gleichzeitig die Proklamierung von zumindest temporärer Wahrheit als das Offenkundige und somit als verallgemeinerbar, wäre sie nicht mehr subjektiv, nicht einmal nur intersubjektiv, nicht konstruiert, sondern könnte objektiv festgestellt werden981; die Dinge würden »sich in ihrer Güte und Schönheit zeigen und gewähren, wenn sie zuvor in dem, was sie sind, freigegeben werden«, die »Hinführung zur Wahrheit kann daher nur heißen: Eröffnung des Ganzen in seiner Geschichtlichkeit«. Die Schule musste das Eigentliche dieses Ganzen enthüllen, und dazu gebe es einen Kanon, ein »verbindliches Wissensganzes, das man nicht willkürlich verkürzen und aufteilen kann«. Hierin lag demnach dann vor allem die Schaffensleistung der Schule in der Hinführung zur Wahrheit – in der Auswahl »im Sinne einer wohlerwogenen Erschließung des Ganzen«982 nach bestimmten Kriterien und somit bald auch in einem fixen Kanon. Sobald die neuhumanistische Konzeption ihre radikale Subjektivität aber auch nur ein kleines Stück verlor, verkehrte sich also schon ihr ganzer Sinn. Darin mag auch ihr erstes Scheitern im 19. Jahrhundert gesucht werden.
Allgemeine, differenzierte Strukturen ohne Staat Aus der Unterschiedlichkeit von Begabung, die den einen in die Berufsausbildung, den anderen an die Universität führte, schloss man die Notwendigkeit staatlicher Passivität in der Entwicklung der verschiedenen Bildungsbiographien. Weder sollten mehr Menschen an die Universität geführt noch irgendwelche Eliten besonders gefördert werden. Wenn jeder seiner individuellen Berufung folge, sei ohnehin jede Bildungsbiographie gleichwertig. 981 An anderer Stelle beschreibt Ballauff (Schule der Zukunft, S. 31) dann eine Wahrheit: »Es gibt für unsere moderne Kultur keine verbindliche Mitte und keine bestimmte Lehre als Grundlage. Zu dieser Kultur gehört die Gegenseitigkeit und die Gegensätzlichkeit, nur in dieser Gegenseitigkeit und Gegensätzlichkeit ist sie zu einem Ganzen verbunden. Das ist die geschichtliche Wahrheit unserer Zeit. Sie ist dann allerdings für Bildung heute verbindlich.« 982 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 28–30.
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Allerdings existierte ein staatliches Bildungswesen nun einmal, und dieses hatte sich noch dazu stark verändert. Der Kulturstaat habe sich zum Rechtsstaat und somit die Kultuspolitik zur Kulturverwaltung gewandelt983. Hinzu komme eine durch die Republik bewirkte »Vergesellschaftung des Staates«, wobei nun »Wirtschaft und Universität, Produktion und Forschung sich verflechten«, die Bildung also funktionalisiert werde984. Diese Kernforderung etwa der gesellschaftlich-emanzipativen und der Bedarfskonzeption wurde problematisiert. Die neuhumanistische Diskursformation wurde aber nicht nur relevant als konservatives Moment in der Ablehnung der aufkommenden Bildungsreformen, sondern auch mit eigenen Reformvorstellungen als Reaktion auf das kritisierte hergebrachte Bildungswesen. Am Anfang stand allerdings die Kritik an den konkurrierenden bildungspolitischen Vorstellungen: – »Die Schule dient nicht der beruflichen Vorbereitung und auch nicht der Berufsausbildung. Das bedeutete nämlich, dass eine sachliche Einengung und mitmenschliche Vorentscheidung über den Schüler bzw. den Jugendlichen getroffen würde.« – »Die Schule kann nicht der Staatserziehung, der staatsbürgerlichen Erziehung oder gar der politischen Schulung dienen.« – »Schule darf nicht als Zubringeranstalt für einen derzeitigen wirtschaftlichen und politischen ›Stellenplan‹ […] angesehen werden«. – »Schule darf daher auch nicht ein Siebungsinstitut für den sozialen Aufstieg und die soziale Rangierung durch ein ausgeklügeltes Berechtigungswesen werden.« – »Schule kann nicht als Funktion der Gesellschaft aufgefasst werden«985. Stattdessen wurde die idealistische Bildung ohne höheres Ziel als sich selbst gefordert, eine allgemeine Bildung, die auf keinen Fall dem Spezialistentum Vorschub leisten durfte, in dem der Einzelne sein Tun nicht mehr in ein Ganzes einordnen könnte. Das hieß aber nicht, dass es keine Alternative zur Allgemeinbildung geben solle – nur sei das dann eben Ausbildung – in der Sache etwas ganz anderes und von der Bildung strikt zu trennen: »Ausbildung im Sinne einer hohen Spezialisierung, die sich immer mehr verfeinert, bedeutet […]: dass wir von immer weniger immer mehr wissen, bis wir von nichts alles wissen.«986 »Mit Sorge« sei daher auch die »zunehmende Differenzierung« zu sehen, »droht sie doch in eine Spezialisierung, damit in Abblendung, Ausrichtung und Ausbildung überzugehen. Und man muss Ignoranz und Arroganz als Ergebnisse 983 984 985 986
Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 182. Ebd., S. 211. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 15–18. Hanssler, Ist Bildung planbar? Zweiter Diskussionsbeitrag, S. 135.
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solcher ›Schulbildung‹ befürchten.« Die Trennung der Oberschulen und der Gymnasien nach Schwerpunkten, zudem noch nach Konfessionen, stand einer »gemeinsamen und verbindlichen Bildung« im Wege987, selbst »die Einteilung nach Schwerpunktfächern und Pflichtfächern begünstigt eine zu frühzeitige Spezialisierung«988. Demgegenüber sei »die Vereinheitlichung der Organisation unserer Schulen und die Vereinheitlichung ihrer ›Lehrpläne‹, nicht durch Reduktionen, Konzentrationen oder Simplifizierungen, sondern durch die Wahrung einer umfassenden Unterrichtung auf allen Schulen«989 angezeigt. Ein Baukastensystem lebenslangen Lernens, in dem die aktuelle Nachfrage nach Spezialwissen befriedigt werde, stand ebenso der Vorstellung allgemeiner Bildung entgegen: »Wenn man aber das Baukastensystem als Modell der Erwachsenenbildung verabsolutiert, dann überlässt man die Spezialisten weiterer Spezialisierung, ohne ihre Persönlichkeitsbildung dabei zu pflegen.«990 Problematisiert wurde also auch das gegliederte Schulsystem. Die damit erreichte Spezialisierung war das Gegenmodell zum Ideal der allgemeinen Bildung für alle. Zwar sollte jeder individuell seine Berufung finden, aber dies sollte nicht nach den Zuteilungsmechanismen der Schulverwaltung, also einer statischen Logik geschehen, sondern als Bewusstsein aus einer »gemeinsamen und verbindlichen Bildung« erwachsen. Die »Einheit der Bildung«, das hieß, den »vielbesprochenen und anerkannten ›Pluralismus‹ der modernen Gesellschaft im Sinne von Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit gerade der Schule nicht vor[zu]enthalten, zugunsten eines ›Konformismus‹ in den einzelnen Schulen.«991 Die Ausdifferenzierung könnte folgendermaßen vonstattengehen: »Auf eine Grundschule baut sich eine Oberschule auf, die sich allmählich differenziert. Keine ›Gymnasien‹, keine ›Volksschule‹ mehr.« Diese Schule werde sich nach oben hin nach den Begabungen auffächern und Übergange zu Berufsschulen, Fachschulen, und Hochschulen ermöglichen992. Dabei wurde alle willkürliche Setzung der Gegenwart genauso abgelehnt, wie die der Vergangenheit. Der herkömmlichen Gliederung des Schulsystems aus dem »Machtspruch Wilhelms II.«993 wurde genauso wenig Sinn zugemessen wie den Ideen zu ihrer Änderung nach Gusto oder Zeitgeist. Weiterhin gehen aus diesen negativen Abgrenzungen Bedingungen für den 987 988 989 990 991 992
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 31. Vgl. ebd., S. 40. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 54. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 41. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 54. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 31f. Vgl. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 41ff. Für eine grafische Darstellung dieser Struktur, siehe ebd., S. 51. 993 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 40.
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staatlichen Einfluss auf die Bildung hervor, die Helmut Schelsky in einen »kategorischen bildungspolitischen Imperativ« fasst: »Handle so, dass du die Institutionen der Bildung jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst.«994 Schließlich gehe der Mensch zur Schule, nicht die Welt, und »nur das kann als bewährt gelten, was sich als pädagogisch sinnvoll erweist, nicht das, was außerschulischen Normen und Leistungsmaßstäben genügt.«995 Als übergeordnete Entscheidungsinstanz für die Schulen fiel der Staat also aus, der seine eigenen Interessen verfolge. Übrig blieb die private Sphäre der Schüler, also ihre Eltern, für Auszubildende auch die Betriebe, die im Sinne der individuellen Entwicklung des Schülers entscheiden würden. Die »Wiederherstellung eines wenigstens quasi-privaten Erziehungsraumes zur Konkordanz aller erzieherischen Kräfte« schien die beste Voraussetzung zu sein, Bildung und Erziehung nach neuhumanistischer Vorstellung zu gewährleisten996. Universitätsreform als Rückbesinnung Eine besondere Rolle spielte die Universität. Die Diskursformation war gerade dort noch verbreitet. Die Idee, die Universität habe notwendigerweise »Einsamkeit und Freiheit [als] die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien«997, war einerseits Selbstverständnis großer Teile der Wissenschaft, andererseits auch exklusiv an diesem Ort durch die Wissenschaftsfreiheit verfassungsrechtlich gesichert998. Das Ideal der Universität verharrte zumindest formal im neuhumanistischen Universitätsbild, dem von außen oft gescholtenen Elfenbeinturm. Jedoch auch hier durfte es aus Sicht des Neuhumanismus kein einfaches Bewahren geben, die Universität musste sich viel mehr fortwährend nach ihren Prinzipien aktualisieren.999 Schelskys kritische Frage, »Ist die Universitätsbildung in ihrer ideellen Struktur auch heute noch möglich als normative Grundeinstimmung des Lebens in sozialer Einsamkeit und Freiheit an Hand einer Wissenschaft, die sich im Wesentlichen als Philosophie versteht?«1000 lässt ahnen, 994 995 996 997 998
Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 134. Schaller, die Humanistische Pädagogik in der Krise, S. 106. Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 26. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 68 (nach W. v. Humboldt). Vgl. Killy, Bildungsfragen, S. 58. Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 68: »Niemand hat diese Leitidee der Institution, diese soziale Grundformel der ›Einsamkeit und Freiheit‹, so klar als die Grundlage der Universität bezeichnet wie Wilhelm von Humboldt. So heißt es im ›Litauischen Schulplan‹ vom September 1809: ›Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Idee der Wissenschaft. Zu diesem Selbstaktus im eigentlichen Verstande ist notwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten.‹« 999 Vgl. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 127f. 1000 Ebd., S. 129.
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dass die Idee des Neuhumanismus ein Infragestellen und Anpassen des eigenen materialen Gehalts notwendig machte. Universitäten in ihrer zeitgenössischen Verfassung wurden nicht mehr als der Hort freier Bildung und Wissenschaft betrachtet, der sie sein sollten. Ihnen wurden vielmehr oligarchische Strukturen attestiert, weshalb sie sich auch »nicht am eigenen Zopf aus dem Sumpf« ziehen könnten1001. Der Provinzialismus1002 der deutschen Hochschulen führe dazu, dass die Wissenschaft nicht koordiniert einen umfassenderen Blick gewinnen könne. Dass nicht nur die Universitäten selbst, sondern auch ihre äußeren Bedingungen sich gewandelt hatten und einen Handlungsbedarf schufen, war nicht von der Hand zu weisen und eben auch kein ideologisches Problem. Die Einsicht, dass sich die Realität, ob gewollt oder nicht, verändert hatte, dass zumindest in den »Massenfächern […] weder von Freiheit noch von der Vereinigung der Lehrenden und Lernenden zum Behufe der Wissenschaft«1003 mehr die Rede sein konnte, legte den Schluss nahe, dass auch ein institutioneller Wandel zu erfolgen hätte. Ungeachtet neuer gesellschaftlicher Anforderungen wollte man diese nicht durch von oben eingeführte neue Strukturen wie das Allheilmittel der Gremienuniversität lösen1004. Die Universität sollte sich aus sich heraus verändern, entschließen, »freiwillig und frei […] ihren Weg selbst vorzuzeichnen und zu gehen«1005. Ohnehin war es schwer vorstellbar, Bildung und ihre Inhalte in Gesetze zu packen1006. Den Massen, die neuerdings an die deutschen Hochschulen strömten, wollte man durch die Gliederung des Studiums, durch frühe Selektion, durch eine Ausrichtung der Studienordnungen auf eine bestimmte Semesterzahl Herr werden – nicht gegen, sondern zur Erhaltung oder Wiedererreichung des Humboldt’schen Freiheitsbegriffs1007. Gemäß der klassisch-neuhumanistischen Konzeption ging es nicht darum, die Universität lediglich im Status quo zu bewahren. »Humboldts Sachwalter« seien eben diejenigen, die sich nur vor einer unbeweglichen Universität fürchteten und »einer verwandelten Welt mit neuen Gedanken gegenübertreten«1008. Um die Wissenschaftlichkeit des Studiums einer kleinen Elite zu gewährleisten, wurde ein gestuftes, nach oben hin weiter selektives Studium vorgeschlagen, das gleichermaßen denen Rechnung trage, die ihres künftigen Berufs wegen einen Hochschulabschluss wollten, als auch diejenigen »in eine voll1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008
Ebd., S. 179. Ebd., S. 181. Killy, Bildungsfragen, S. 89. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 59–61. Ebd., S. 62.
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kommene akademische Freiheit [entlässt], deren fruchtbares Verhältnis zur Wissenschaft während dieses Bildungsganges deutlich wird«. Zu lange habe »der Durchschnitt an den Universitäten […] verhindert, dass die potentiell Graduierten und mit ihnen die Wissenschaft zu ihrem vollen Rechte kommen«1009. Wenn auch anders formuliert, so traf sich die neuhumanistische Diskursformation hier mit den Vorstellungen des emanzipativen Reformers Ralf Dahrendorf, der gleichfalls ein Kurzstudium für die Breite und ein längeres wissenschaftliches Studium für die Elite forderte1010. In einer neuhumanistischen Hochschulreform musste es also um die Restitution der Idee der Universität gehen, ohne zu verkennen, dass sich die Bedingungen gravierend geändert hatten und somit andere Mittel notwendig würden. Einer Lösung dieser Aufgabe müsse »ein neues geistiges und soziales Verhältnis zu sich selbst« der Universität vorausgehen1011; Wissenschaft sollte den Wandel von der Bildung der in ihr arbeitenden Menschen hin zur Produktion von Wissen schaffen1012. Die »Krise der Universität« rühre eben daher, dass ihr traditioneller normativer Anspruch einer philosophischen Wissenschaft des Ganzen und ihre moderne gesellschaftlichen Funktionen immer weiter auseinanderklafften. Diese Funktionsdifferenzierung1013 finde auch Ausdruck in der Auflösung der philosophischen Wissenschaft in einerseits die Naturwissenschaften und andererseits in die wiederum in soziale Handlungswissenschaften und historische Kulturwissenschaften geteilten Geisteswissenschaften. Eine »ideal konstruierte Universität müsste heute auf dieser fundamentalen Dreiheit der Wissenschaftsformen aufgebaut werden«, damit ihre Einheit erhalten bliebe oder wiederhergestellt würde1014. In aller Konsequenz verlangte man aber nicht schlichtweg die Aufrechterhaltung der Wertigkeit wissenschaftlicher Ausbildung an den Universitäten für die wenigen, sondern gleichermaßen das Komplementär der Ausbildung: Die Förderung hochqualitativer Ausbildung der Facharbeiter an Berufsschulen war ein Anliegen, das neben der Aufrechterhaltung des dual differenzierten Bildungssystems auch die Ablösung des Arbeiters durch den Facharbeiter befördern sollte. Der unmögliche, notwendige Kanon – Unterrichtsinhalte Der Anspruch der absoluten Subjektivität und der Negierung jeder Wahrheit war für die Setzung pädagogischer Inhalte ein unerfüllbarer Anspruch, da er sich 1009 1010 1011 1012 1013 1014
Killy, Bildungsfragen, S. 90f. Vgl. Dahrendorf, Hochschulgesamtplan Baden-Württemberg, S. 155. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 186. Ebd., S. 193. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 266f. Ebd., S. 284.
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der Notwendigkeit beugen musste, tatsächlich zu unterrichten. Wo vonseiten der Schule vorselektiert würde, war diese Subjektivität automatisch gebrochen. Sie konnte also gar nicht absolut umgesetzt werden, sondern nur als stets zu vergegenwärtigender Fluchtpunkt gelten, an dem sich die Bildung auszurichten hatte. Ziel war es also, dass »jede Schule ihren Lehrplan so weit und so umfassend wie möglich«1015 halte. Die Schule begleite den Jugendlichen beim Erwachsenwerden und sei daher auch unwiederholbar, weshalb an die gewählten Inhalte noch einmal besondere Ansprüche gestellt werden mussten – am besten aus folgender Prämisse legitimierte: »Daher sollte die Schule all das eröffnen, was später nicht mehr vom Erwachsenen zu durchwandern ist: Dichtung, Geschichte, Musik, Kunst, Biologie, Geographie, Philosophie, gerade nicht zuerst und zumeist Technik und Wirtschaft, Mathematik und Verkehrswesen.« In der Schule sollten Jugendliche »sich ergreifen lassen […] von der Tiefe und Weite des Maßgeblichen, in Kunst und Wissenschaft, in Religion und Geschichte, ganz gleichgültig, wohin sein Lebensweg einst führen wird.«1016 Dezidiert nicht in den Lehrplan sollte die politische Bildung gehören. »Diese schwierigste Aufgabe des menschlichen Miteinander«, das Politische, solle nur in weiten Umwegen behandelt werden, denn einer »staatsbürgerlichen Erziehung oder gar […] politischen Schulung« widerspreche die Demokratie als solche1017. Die Einführung der politischen Bildung verlangte, dass sie mit Inhalten gefüllt werde; was aber etwa Demokratie heiße, sei nicht ein für alle Mal festgelegt und gut, sondern Auslegungssache der herrschenden Politik. Dass über die gut gemeinte politische Bildung zur Demokratie am Ende deren Gegenteil erreicht würde, schien nicht ausschließbar1018. Der Bürger sollte aber über eine argumentative Volte doch noch Einzug in die Schule halten. Dem Partikularismus des Staatsbürgers nach Staatsräson oder Gesinnung stand schließlich das humanistische Ganze entgegen, das der Mensch in sich hineinzubilden hatte. Aber würde das den Menschen dann nicht – ganz im kantschen Sinne – zu einem Weltbürger machen? Die Bildung zur Menschlichkeit schüfe, wie einst den idealen Beamten, nun eben den idealen Weltbürger »in der geistigen, sittlichen und sozialen Gestaltung jener erdumfassenden wissenschaftlichen Zivilisation, die unübersehbar als unser neuer kultureller Lebenshorizont auftaucht«1019. Nicht aus Tradition oder abendländischer Kultur – dies wäre ja die stets abgelehnte Willkür –, sondern aus originär humanistischer Überlegung sollte die Sprache weiterhin eine wichtige Rolle in der Schule spielen. Dabei ging es 1015 1016 1017 1018 1019
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 40. Ebd., S. 32f. Ebd., S. 17. Vgl. Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 46. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, S. 294.
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zunächst gar nicht so sehr um das Lateinische und das Griechische, sondern um die Auseinandersetzung mit der Sprache als Teil des logos und somit essentielles Merkmal des Menschen, als notwendiges Mittel zum Menschwerden, dessen der Schüler sich bewusst werden sollte. Dem Schüler beizubringen, »die Dinge in dem, was sie sind, auszusprechen«, die Fähigkeit also zu sprachlicher und somit auch intellektueller Präzision, sei die wichtigste Aufgabe der Erziehung. Durch sie war Bildung überhaupt nur möglich, und erst wenn der Schüler »Achtung vor der Sprache« habe, könne er »verantwortlich […] denken und die Verantwortung für das Wort […] übernehmen. Erziehung hat dem unverantwortlichen Gerede und dem fraglosen Hinnehmen des Missbrauches der Sprache entgegenzutreten.« Diese Bildung fange mit der Muttersprache an, die von den ersten Wörtern »bis hin zum Unterricht in Dichtung und Literatur solche Achtung vor der Sprache, aber ebenso das eigene sachliche Sprechen« lehre. Im Anschluss sei es wohl hilfreich, Sprachen zu lernen, »in denen durchdachte Sachlichkeit waltet und deren geschichtliche Wichtigkeit feststeht. Die lateinische Sprache wird daher unumgänglich bleiben. Nicht weil man dann leichter Französisch oder Spanisch lernen kann, sondern weil die Sprachlichkeit der Sprache und die Geschichtlichkeit der Moderne an der lateinischen Sprache in ausgezeichnetem Maß einsichtig werden.«1020 Mit dieser Begründung der Philologien als Grundlage neuhumanistischer Bildung rückte man auch von der tradierten Begründung der ›alten Sprachen‹ ab, nach der den antiken Gesellschaften Roms und Griechenlands ein besonderer Vorbildcharakter zukam. Zwar war auch in den ursprünglichen Entwürfen neuhumanistischer Bildung und Wissenschaft »das Studium der Antike […] ein Vehikel für eine auf den Menschen in seiner Individualität gerichtete Wissenschaft«1021 und nicht Kern dieser Bildung, wie im Nachgang oft dargestellt und praktiziert. Aber selbst dieser Vorbildcharakter, der in seinem resoluten Anspruch angesichts der historischen Realitäten nicht haltbar war, hatte in der neuhumanistischen Diskursformation des Betrachtungszeitraums keinen Platz mehr1022, im Gegensatz zur werterzieherischen, die das Ideale noch aufrechtzuerhalten vermochte. Diese Maßgaben zur Auswahl schulischer Inhalte, sozusagen humanistische Leitlinien auf den Schulalltag heruntergebrochen, standen aber immer noch in der Tradition des Gymnasiums, einer elitären Geistesschmiede gehobenen Standes aus dem 19. Jahrhundert, die schon durch ihre geringe Verbreitung einen besonderen Kreis darstellte, dem solche Schule angedeihen konnte. Wo Bildung allerdings zum Massenphänomen wurde, waren diese Positionen kaum zu halten. Die Relativierung ging also auch vom humanistischen Anspruch aus 1020 Ballauff, Schule der Zukunft, S. 43f. 1021 Schelsky, Einsamkeit und Freiheit S. 87. 1022 Vgl. ebd., S. 86f.
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weiter. Die Einstellung auf die Arbeitswelt, die Freizeitmöglichkeiten und die Veränderung der Organisation der Gesellschaft mussten, wenn man sich der Realität nicht komplett verweigern wollte, als Bildungsinhalte akzeptiert und schlussendlich auch legitimiert werden: »Geben wir mit einer solchen Erziehung, die sich auf eine bloße Ordnung und moralische Formierung von Berufs- und Freizeitverhalten richtet, nicht das ›Eigentliche‹ im Menschen als Erziehungsziel auf ? Verzichten wir damit nicht auf die wesentlichste Grundlage unserer bisherigen Erziehungstradition, zu einer höheren Form des Menschseins, zu seiner Vergeistigung, zur Persönlichkeit und Individualität, zu Humanität zu erziehen? […] Die Erzieher halten auf der einen Seite mit Recht an einem der sozialen Determination enthobenen, im allgemein Humanen und Geistigen verwurzelnden Menschenbild als ihrem letzten Erziehungsziel fest, und dies zum Teil gerade um des Bestandes unserer gesellschaftlichen Ordnung willen; auf der anderen Seite sind die Zweifel und Skrupel wohl kaum überhörbar, dass dieses traditionelle Erziehungsleitbild von den Zeitstrukturen unserer Gesellschaft nicht mehr bestätigt zu werden scheint und irgendwo sozial im luftleeren Raum steht.«1023 Schelsky wurde in dieser Hinsicht noch klarer, wenn er Voraussetzungen und Bedingungen des humanistischen Bildungsideals benannte. Dieses setze »– im Gegensatz zu christlichen Leitbildern des Lebens – einen gewissen Wohlstand voraus, zumindest die Abwesenheit wirklichen Elends und einer Ausbeutung des Menschen, damit er Zeit und Muße habe, an sich selbst zu arbeiten«. Darüber hinaus müsse gelten, »dass das Verhalten des Menschen im Bereich des Berufs und der Arbeit, in seiner Konsumhaltung, in seinen politischen und sozialen Rechten von problemloser Selbstverständlichkeit und verbürgter Ordnung ist«. Die hochkulturellen Ideale des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert ließen sich unter diesen Voraussetzungen nicht auf die Massenbildung skalieren. Dieser Widerspruch vermochte sich bei einer anhaltenden Bildungsexpansion nicht mehr auflösen lassen, auch nicht in der Formel »›Berufs-, Freizeit- und Sozialerziehung als Voraussetzungen einer Persönlichkeits- und höheren Menschenbildung‹.«1024 Die immer weiter auseinanderklaffende Lücke zwischen Anspruch und Realität muss als Erklärung angenommen werden, weshalb die neuhumanistische Diskursvariante bald auf realpolitischer Ebene keinerlei Widerhall mehr erfuhr. Da die Skalierbarkeit des sich auf Muße gründenden kulturell ausgerichteten Bildungsideals begrenzt war, verlor es die Relevanz für die expandierende Breitenbildung, was den Niedergang der klassisch-neuhumanistischen Diskursformation im Verlauf der sechziger befördert haben dürfte. Daneben trat seine immer offenkundigere Inkompatibilität zum Gesamtdiskurs. Plastisch 1023 Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 77. 1024 Schelsky, Schule und Erziehung in der Industriellen Gesellschaft, S. 80–82.
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wird diese, wo eine Integration bewusst versucht wird, wie in der Forderung: »Die Curriculum-Bestrebungen, besonders des Deutschen Bildungsrates, müssen über die festzulegenden Lernziele hinaus durch humanistische personenorientierte Menschenbildung ergänzt werden.«1025 – Die Unverträglichkeit des auf klar abgrenzbare Lernschritte und konkretisierbare Lernziele setzenden Curriculum-Systems mit einem geisteswissenschaftlichen Abstraktum der »humanistischen personenorientierten Menschenbildung« markiert den Scheideweg der Diskurse. Das übergreifende Prinzip dieser Diskursformation aber, das sie im Gesamtdiskurs zur Irrelevanz verdammen sollte, war das libertäre Prinzip eines als optimistisches Laissez-Faire daherkommenden Konservativismus. Denn gerade auf die Frage der sozialen Differenzierung wusste die neuhumanistische Konzeption keine befriedigenden Antworten. Die Lücke zwischen den theoretischen Möglichkeiten, die ohne institutionalisierte soziale Zugangsbarrieren für jeden Einzelnen bestanden, und den realen Chancen für Kinder aller Schichten konnte durch diese Vorstellungen nicht mehr geschlossen werden. Die Annahmen prinzipieller Gleichwertigkeit nicht nur aller Menschen, sondern auch deren individueller Anlagen und daraus resultierender Biographien widersprachen immer stärker der täglichen Erfahrung herkunftsbedingter Ungleichheit. Wie diese Diskursformation auf den ursprünglichen Neuhumanismus, dieser wiederum auf den Humanismus und dieser letztlich auf die Klassik rekurrierte, so fand sich im Kern auch das elitäre Gesellschaftsverständnis und deterministische Menschenbild der platonischen Politeia wieder, das im demokratischen System der Bundesrepublik nicht mehr trug.
2.6. Die werterzieherische Diskursformation »Wir müssen endlich einsehen, dass wir früh beginnen sollten, für das Zusammenleben und Zusammenarbeiten in mitmenschlicher Verantwortung zu erziehen.«1026 Eine Diskursformation, die sich vor allem gegen die von der äußeren Welt losgelöste neuhumanistische Bildungskonzeption entwickelte, während sie genau deren Grundbegriffe des Menschen und der Pädagogik übernahm, soll hier als »werterzieherische Konzeption« behandelt werden. Sie begründete die Legitimität normativer Einflussnahme auf die Wertentwicklung der Heranwachsenden über Staat und Schule und suchte nach Maßstäben für die zu vermittelnden 1025 Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 47. 1026 Roth, Heinrich, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 171.
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Haltungen. Sie grenzt sich also weiterhin vom Funktionalismus der Bedarfskonzeption, von den Emanzipationsbemühungen der emanzipativen Konzeptionen und vom Rationalismus der szientistischen Konzeption ab und postuliert klar die Gültigkeit eines existenten Wertesystems und die Notwendigkeit dessen Tradierung. Voraussetzung allen bildungspolitischen Handeln sollte es sein, »dass das Wertesystem, in dem wir leben, gelten soll, jenes Wertesystem, demzufolge wir zumal die Prosperität des menschlichen Daseins wünschen, zu der wir uns entschlossen haben – oder in die wir hineingeraten sind. Denn im Grunde strapazieren wir uns im Parforceritt der Bildung nur darum so ungeheuer, um eben dieses gesellschaftliche System aufrecht zu erhalten, das zusammenbrechen würde, wenn Bildung ausfiele, wenn Bildung sich nicht immerzu regenerierte.«1027
Der objektive Geist – Grundlagen der Diskursformation Menschlichkeit als Mitmenschlichkeit Die Darstellung der hier behandelten Ideen fand insbesondere in Abgrenzung zum Bildungswesen des Neuhumanismus und den ihm zugedachten Implikationen statt. Im Zentrum stand folgende Transformation: »Nachdem wir in der deutschen Pädagogik ein Jahrhundert der Vorherrschaft des Subjekts hinter uns haben, verlangt die Welt der Sachen und Menschen jetzt ihr objektives Recht.«1028 Zunächst musste also die Öffnung des Bildungswesens von der inneren Welt hin zur äußeren Welt begründet werden. Hierbei verfing insbesondere die Interpretation der sozialökonomischen Entwicklungen seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts als »Siegeszug der Sache«1029, die nicht nur eine Neuausrichtung, sondern eine Abkehr vom humanistischen Bildungsideal zu verlangen schien. Sei ein Goethe beneidenswerterweise »noch nicht in den Panzer einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eingeschnürt [gewesen], in der dem Drang nach menschlicher Selbstvollendung der Atem ausgehen musste«, hätten doch Technisierung, Arbeitsteilung und ein »fortschreitender Siegeszug der sich zur Herrin aufschwingenden ›Sache‹«1030 die Grundlagen der Möglichkeiten zur Menschlichkeit kategorial geändert: »Die ›Offenheit‹ der pluralistischen Welt für fast täglich uns zuströmende neuartige Erfahrungen und die hochgradige Bestimmtheit des Menschen durch die objektiven gegenständlichen Zusammenhänge und sozialen Prozesse lassen für Bildungssysteme nicht mehr viel Platz, in 1027 1028 1029 1030
Hanssler, Ist Bildung planbar? Zweiter Diskussionsbeitrag, S. 131. Wilhelm, Die enzyklopädische Herausforderung der Schule, S. 23. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 21. Ebd., S. 34–36.
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deren Mittelpunkt die Spontaneität des Subjekts und die prinzipielle Freiheit des Individuums gegenüber der Welt stehen.«1031 Ein Festhalten an den alten Idealen der Innerlichkeit von Bildung könnte daher nur eine Ablehnung der weltlichen Entwicklung, »eine Kriegserklärung an die moderne Welt«1032 sein. Bildung konnte demnach nicht mehr absolut gesetzt werden, sondern sich nur noch an ihrem Verhältnis zur Gesellschaft bewerten lassen1033, dieser aber auf keinen Fall entgegenstehen1034. Die Auseinandersetzung mit »der Sache« hieß allerdings nicht deren Überhöhung. Das Materielle war Bedingung, nicht Ziel. So warnte die »neuere pädagogische Menschenkunde« auch davor, »die sachlichen Bezüge, deren der Mensch fähig ist, vor die mitmenschlichen zu stellen«1035. Jedoch nicht nur diese Proklamation des Realen sprach für eine Hinwendung zur äußeren Welt, sondern auch die bewusste Abwendung vom Idealismus, die »allmähliche Loslösung von der idealistischen Verfälschung, – Ausbildung und Bildung, Berufsbildung und Allgemeinbildung, Bildung und Werktätigkeit, Idealund Realfaktoren, Schönes und Nützliches usw. müssten oder könnten um eines wahren Bildungsbegriffes reinlich getrennt gehalten werden – und das Ergreifen der gegenteiligen Erkenntnis, dass Bildung irreal wird, wenn sie nicht die Ausbildung durchtränkt, und dass Ideale ein schöner Schein bleiben, wenn sie nicht in die Arbeitswelt hineinwirken und vor ihr nicht bestehen können.«1036 Hatte der Idealismus die möglichst weitgehende Loslösung des Geistes von den Bedingungen der ›äußeren Welt‹ behauptet, galt hier das Gegenteil, die sächliche Welt als notwendige und zu bewältigende Bedingung zur Bildung eines Menschen. Die verordnete Innerlichkeit des Humanismus wurde als Loslösung des Menschen von seiner Umwelt begriffen, die ihn deshalb dieser gegenüber gleichgültig habe werden lassen. Die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden einer Gesellschaft angelastet, in der Bildung sich durch die Loslösung von der Wirklichkeit ausgezeichnet hatte1037. Auch der Blick auf die Arbeitswelt sei von diesem Bildungsbegriff entscheidend geprägt. Die Freudlosigkeit des deutschen Idealismus wurde dafür verantwortlich gemacht, dass Arbeit und auch Schule ne1031 Wilhelm, Die enzyklopädische Herausforderung der Schule, S. 24. 1032 Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 63. Vgl. ebd., S. 71. 1033 Vgl. Maier, Die andere Bildungskatastrophe, S. 16–18. 1034 Vgl. ebd., S. 25. 1035 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 165. 1036 Ebd., S. 34. 1037 Vgl. Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 200: »Wir weinen dem philosophischen Idealismus, dem dritten Humanismus und dem großbürgerlichen Bildungsindividualismus des 19. Jahrhunderts gewiss keine Träne nach. Wir machen ihn im Gegenteil für das Fehlen einer gesunden Integration unserer Gesellschaft, für die nationalen Katastrophen und für den Bildungsmaterialismus unserer Tage verantwortlich.« Vgl. Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 18, S. 30, vgl. auch Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 81.
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gativ besetzt seien und als Zwang aufgefasst würden: »Seit Luther die griechische ›Paideia‹ mit ›Zucht‹ und ›Züchtigung‹ übersetzt hat, die ›fern von Freude‹ sei, seit Kant der erhabenen Pflicht die verdienstlose Neigung entgegensetzte, seit die Neuhumanisten den ›nichtgeschundenen Menschen‹ für ›nicht erzogen‹ erklärten, seitdem sind wir überzeugt, dass Erziehung weh tun müsse.«1038 Eine weitere Warnung wandte sich gegen das idealistische Menschenbild, »den Menschen aus einer falschen Idealisierung heraus für gut zu halten«1039. Der zentrale Begriff der Menschlichkeit unterlief in seiner Bedeutung einer deutlichen Transformation. Galt in der idealistischen Tradition, dass die wahre Humanitas, die Menschlichkeit als zu erlangende Eigentlichkeit der Person sich daraus ergebe, möglichst große Teile der Welt in sich hineinzubilden, also die Ganzheitlichkeit allen Seins im Geiste zu begreifen und innerhalb seiner eigenen Person möglichst umfassend zusammenzufügen, war hier die Menschlichkeit eine durch das Äußere, vor allem das Soziale, sich herausbildende Eigenschaft. Kein zu erschaffendes Abstraktum mehr, bekam sie eine konkrete, äußerlich definierbare Gestalt, wurde zum Konsens, »dass die Menschlichkeit, auf die sich alle neu besinnen, von allen als Mitmenschlichkeit erkannt wird«1040. Die menschliche Natur musste so zur Menschlichkeit nicht hervorgebracht, sondern eingehegt werden. Der Mensch konnte erst als soziales Wesen, durch seine Mitmenschen, zum Menschen werden1041. Naturwissenschaften hätten bewiesen, dass die Natur eine »gegen den Menschen als solchen so gleichgültige Instanz«1042 bilde, dass evident nicht die Macht der Idee allein die Welt forme. Der Humanismus habe aber mit einem »anthropozentrischen Zug«1043 entgegen seiner eigenen Idee selbst ein »normatives Menschenbild«1044 errichtet, indem er der ganzen Welt den Sinn der Menschlichkeit und der Pädagogik ein bestimmtes Menschenbild unterstelle1045. Nicht, dass der Mensch ›Werk seiner selbst‹ sei, war somit die Voraussetzung von Bildung, sondern dass »nicht ich selbst mich zu dem gemacht habe, der ich bin, und dass ich insofern wirklich mir selbst ›gegeben‹ bin.«1046 Hier wird die Transformation vom Menschen als Subjekt, der die Welt und sich selbst formt, zum Menschen als Objekt, der von (Gott und) der Welt geformt wird, deutlich. 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045
Lanig, Muss Erziehung denn weh tun?, S. 34f. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 165. Ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 166f. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 17. Ebd., S. 14. Ebd., S. 33. Vgl. Wilhelm, Die enzyklopädische Herausforderung der Schule, S. 24. Ebenso bei Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 14. 1046 Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 80. Vgl. auch Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 198f.
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Hier findet sich die Wurzel, wie dem Menschen sein Unterworfensein unter die Materie – der Materialismus – bewusst gemacht werden soll, anstatt dem Menschen beizubringen, die Welt durch die Idee sich selbst zu unterwerfen – den Idealismus. (Hier unterscheidet sich die werterzieherische Konzeption von der neuhumanistischen durch dasselbe Merkmal wie die gesellschaftlich-emanzipative von der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption1047.) Die Freiheit, die das Individuum durch seine Bildung erlange, sei alleine »der Wille zur Sache«, also die Erschließung der Welt1048. Dabei gelten dann die Bedingungen, die aus der Natur rühren, gemeinsam mit den aus der Geschichte und der historischen Gesellschaft erwachsenen Bedingungen als objektiver Geist. Gleichzeitig existiert die Person nicht nur aus sich selbst heraus, sondern auch durch seine soziale Natur, »der Mensch [kann] zur vollen Erkenntnis seiner selbst nur durch und in seiner Verbindung mit seiner sozialen Umwelt gelangen«1049. Wo also die Wahrheit im Neuhumanismus vom Einzelnen jeweils nur in sich selbst gefunden werden kann, geht die werterzieherische Konzeption von verbindlichen, verallgemeinerbaren Wahrheiten (oder zumindest genügend wahrscheinlichen Annahmen) aus; auch von einem rigiden Wertekanon, der dem Neuhumanismus selbst abging, einem Menschenbild, das als Schablone dienen kann und an der die Pädagogik den Zögling auszurichten habe. Demgegenüber stand im humanistischen Sinn nur das abstrakte Ziel von Humanität, dessen Konkretisierung nie endgültig oder wahr werden konnte1050. Die Wende von der Abstraktion zum Gegenstand fand eine weitere Begründung in der Analyse der aktuellen Erziehungswirklichkeit und den entsprechenden Folgerungen. Derselbe Vorwurf, der dem tradierten neuhumanistischen Bildungswesen gemacht wurde, galt auch den emanzipativen Strömungen in ihrer Vorstellung von Bildungs- und insbesondere Hochschulpolitik: Auch diese seien, »entkleidet man sie ihres pseudomodernen Vokabulars, im Grunde Plädoyers für den Fortbestand der alten, von der Gesellschaft distanzierten, ihr jedoch nichtsdestoweniger kritisch-richterlich gegenüberstehenden neudeutschen Universität.«1051 Hierbei komme jedoch noch hinzu, dass nicht mehr ein 1047 1048 1049 1050
S. o., S. 104 u. 119f. Vgl. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 93. Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 214. Zur möglichen Rolle des Humanismus und dessen Grenzen zur Wiedergewinnung des Erzieherischen, vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 66f. 1051 Maier, die andere Bildungskatastrophe, S. 16. Vgl. auch ders., Bildungspolitik am Scheideweg, S. 8: »Die frühliberale Ideologie der Wissenschaft als Freiraum gegenüber Staat und Gesellschaft lebte wieder auf.« Ebenso bei Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 19: »Der Humboldt’schen Maxime der Einsamkeit und Freiheit des Forschers steht also hier diejenige von ›Öffentlichkeit und Rechenschaft‹ gegenüber. Sie entfernt sich aber nicht aus dem Humboldt’schen Strukturmodell. […] In einem gewissen Sinne wird hier mit der Humboldt’schen Konzeption der Autonomie der Hochschule tödlicher Ernst
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zeitlich befristeter Rückzug in die Innerlichkeit alleine der Reflexion diene, sondern dieser »Rückzug von der Gesellschaft […] als gesellschaftsveränderndes Agens (›kritisches Bewusstsein‹, ›Demokratisierung‹)«1052 verstanden und die Hochschulen zur »Barrikade der Revolution gegen die Gesellschaft«1053 werde. Der Verlust klarer Linien zugunsten pluralistischer Optionalität stellte sich etwa dem bayerischen Kultusminister Hans Maier als Vertrauensverlust dar. Wo Schüler »klare und persönliche Antwort auf die Fragen, die sie stellen«1054, suchten und die Schule nur im Ungefähren blieb, stellte sich die Frage, »ob wir den mächtigen Einbruch neuer [linker] Erziehungsideologien nicht dadurch mitverursacht haben, dass wir uns in den letzten Jahren zu wenig um den Kern von Schule und Hochschule – Erziehung und Umgang – gekümmert haben«1055. Wo also der Staat sich als Erzieher zurückziehe, übernähmen andere diese Rolle. Erziehung betreffe nur noch die »auf Fürsorge und Wohlfahrt angewiesene Sozial- und Bedürftigkeitsnatur« des Menschen in der Frühpädagogik, nicht mehr die folgenden Jahre, »in denen Person und Charakter sich formen«. Im Bildungsbegriff hingegen befinde sich nunmehr lediglich noch »das Organisatorische und Technische, die Sprache der Funktionalität und des Quantitativen«1056. Dem sollte eine »Wiedergewinnung des Erzieherischen«1057 entgegenwirken und wieder konkrete Normen in den Unterricht integrieren. Das »Auseinanderfallen von ›Lernen‹ (bezogen auf Gegenstände) und ›Erziehung‹ (bezogen auf Wert- und Sinnorientierung der Persönlichkeit)« müsse revidiert werden, »weil die Desintegration von Unterricht und Erziehung genau die Wurzel des zu überwindenden Übels ist«1058. Ein Bürgerrecht auf Bildung, eine aktive Bildungspolitik zur Emanzipation der einzelnen Bürger war demnach auch nicht mehr als »Restauration der Humboldt’schen Bildungsidee mit ihrem Pathos der Distanz zur Welt der Arbeit, der Geschäfte und der Berufe«1059. Das Erziehungsziel des ›mündigen Bürgers‹ war nicht etwa als zu weitläufig, sondern als »zu eng« abzulehnen. In seiner Reduktion des Menschen auf seinen Subjektcharakter wies es diesen nämlich nicht auch als Objekt der ihn umgebenden Wirklichkeit aus. Das Erlernen dieser Interdependenzen, am Ende »der Dienst in und für die
1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058 1059
gemacht […]. Die Hochschule bleibt eine elitäre Bildungsanstalt, ja dieser Charakter wird dadurch verstärkt, dass bereits die Aufnahme als Student Teilhabe an gesellschaftlicher Macht in Form von Verfügungsgewalt über wissenschaftliche Zielsetzungen und Qualifikationen in einer sich selbst autonom kontrollierenden Institution bringt. […] Der Zugang zur Universität wird damit in noch stärkerem Maße zu einem sozialen Privileg […].« Maier, die andere Bildungskatastrophe, S. 16f. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 37. Ebd., S. 34. Ebd., S. 32. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 66f. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 91. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 13.
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verschiedenen Lebensgemeinschaften« seien zur »Entfaltung und Vollendung der menschlichen Persönlichkeit und auch zum persönlichen Glück«1060 notwendig. Die Repädagogisierung war vor allem die Antwort auf den immer weiter in den Bildungsbereich vordringenden Szientismus, der alleine den Prozess des Begabens mit Blick auf die aus der Umwelt des Schülers ableitbaren Anforderungen, nicht aber den Prozess der Erziehung behandelte1061: »Schließlich tut die neugewonnene Erkenntnis not, dass die Schule nicht nur die Aufgabe hat, die beste Anpassung an die moderne Welt zu lehren, sondern auch die andere, erzieherischen Widerstand zu leisten, und zwar überall dort, wo der Mensch in seiner Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit gefährdet ist. Sie muss auch in einer pluralistischen Gesellschaft den Mut haben, verbindliche Maßstäbe zu setzen.«1062 Sie verlangte also auch den gegenteiligen Ausgangspunkt: Nicht aus der Erfahrungswirklichkeit der Schüler sollten Bildungsziele abgeleitet werden, sondern im Zweifel entgegen dieser aus überzeitlichen Werten. Daher sollten die Schüler in der Schule auch nicht per se allen gesellschaftlichen Realitäten ausgesetzt, sondern abseits der Gesellschaft darauf vorbereitet werden1063. Werterzieherische Diskursformation und Bedarfsplanung lagen hingegen nicht so weit auseinander, ist die Bedarfskonzeption ja auf eine Stabilität des herrschenden sozialen Systems ausgerichtet und orientiert sich an der tradierten Gesellschaftsform in ihren funktionalen Zukunftsbildern. Georg Picht trug persönlich dieser Überschneidung Rechnung, indem er für die höhere Schule einen »doppelten Bildungsauftrag [formulierte]: sie soll den Nachwuchs für die gehobenen Funktionen der technischen Zivilisation ausbilden und soll in der geistig tragenden Schicht die Überlieferung der europäischen Kultur am Leben erhalten.«1064 Sei der technische Fortschritt neutral gegenüber Kultur und Weltanschauung, sei er doch »ein Produkt der europäischen Wissenschaft« und der dahinterstehenden Kultur; und diese müsse lernen, ihr Produkt zu bewältigen. Trotz aller Vorzüge dieser kulturblinden technischen Zivilisation »sind wir überzeugt, es habe einen Sinn, die europäische Lebensordnung zum Beispiel gegen den Kommunismus zu verteidigen. Die Lebensordnung […] benennen wir mit dem Wort ›Kultur‹. Die Überlieferung dieser Lebensordnung nennen wir ›Bildung‹.« Einig mit der werterzieherischen Konzeption war Picht sich vor allem in der Ablehnung des Neuhumanismus, und auch Hans Maier bewegte sich widerspruchslos zwischen beiden Positionen. So wurde nicht verneint, dass es auch einen Bildungsertrag1065 geben dürfe. Aber das Ziel war es, »doch wohl 1060 1061 1062 1063 1064 1065
Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 199f. Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 65. Roth, Heinrich, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 34. Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 62f. Picht, Verantwortung des Geistes, S. 92. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, S. 90.
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den einsichtigen und tüchtigen, selbstlosen Mitmenschen, nicht aber die willige, wendige Arbeitskraft, die einer von anonymen Verbänden und Managern gesteuerten Gesellschaft zur Verfügung steht«1066, zu erziehen. Nicht Arbeit, sondern Beruf – abgeleitet von der individuellen ›Berufung‹ und »im Sinne einer einsichtigen Werktätigkeit«1067 – sollte im Vordergrund stehen. Insbesondere waren die sehr bestimmten und tiefgehenden Begründungen der werterzieherischen Konzeption auch ein theoretischer Anker für all diejenigen, die von den Entwicklungen der Zeit im Allgemeinen, in der Bildungspolitik im Besonderen überwältigt wurden, für die Gegenreaktion auf die ja gerade in öffentlichen Bildungs- und Erziehungsanstalten sich manifestierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Nahm die aufschäumende Jugendbewegung den Staat und die konservative Gesellschaft als repressiv wahr, kamen viele andere zum gegenteiligen Schluss. Golo Mann echauffierte sich öffentlich: »Repression der Jugend! In Wahrheit sind es an zahlreichen Gymnasien, zum Beispiel Westberlins, die Erwachsenen, die an Repressionen leiden, sind es die Lehrer, die sich dem Druck und manchmal dem eigentlichen Terror der Schüler fügen, nicht umgekehrt.«1068 Geisteswissenschaftliche Tradition Die Begründungszusammenhänge ergaben sich aus der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die vor allem über historische und philologische Erkenntnisse einen Bildungskanon bestimmte, nicht über sozialwissenschaftliche oder gar ökonomische Methoden. Man sah sich also der Wissenschaft der Pädagogik verpflichtet und deren Restitution als Maßgabe der Bildung. Die »Repädagogisierung führt zurück auf das eigentliche Anliegen der Schulpädagogik«1069, nämlich die Einweisung des Schülers in seine Kultur, die Übertragung deren Errungenschaften auf die nächste Generation. Der Begriff der »Pädagogik« schwebte förmlich über dieser Diskursformation. Permanent wurde auf ihn zurückgegriffen, während er mit Ausnahme der neuhumanistischen in anderen Konzeptionen fast keine Bedeutung mehr hatte. Er stand als philosophischer Gegenentwurf den empirischen Bildungs- oder Erziehungswissenschaften gegenüber. Diese Lerntheorien galten als selbstreferentiell, bezögen sie sich darauf, wie am besten gelernt werde, und wirkten daher nur aus sich heraus und zum Dienste des Lernprozesses selbst erzieherisch. Ange-
1066 1067 1068 1069
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30f. Ebd., S. 35. Mann, Radikalisierung und Mitte, S. 10. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 63.
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prangert wurde daran prinzipiell das Fehlen einer Sinn-Dimension1070 als letztinstanzlichen Bezug. Auch das Zutrauen zur Wissenschaft, künftig Antworten auf alle elementaren Probleme liefern zu können, wurde nicht geteilt: »Die Entscheidung über Sein und Nichtsein des Menschengeschlechts wird nicht im Bereich der Intelligenz, sondern im Bereich des Gewissens fallen.« Aus Sicht einer werterzieherischen Bildungskonzeption konnte Wissenschaft eben nur ein Werkzeug sein, »das sich gebrauchen lässt zur Zerstörung ebenso wie zum Aufbau«1071. Der Wissenschaft sollte somit nicht ihre Funktion abgesprochen werden, denn auch für die Implementierung pädagogischer Ziele konnten bildungswissenschaftliche Erkenntnisse hilfreich sein. Die Funktion der Wissenschaft teilte sich aber, wie auch die Wissenschaft einer dezidierten Teilung unterzogen wurde. Geht es im einen Fall um die empirische Untersuchung der Lebenswelt der Schüler als moderne Bildungswissenschaft, suchten die Vertreter eines erzieherischen Ansatzes ihre wissenschaftliche Legitimation ausschließlich theoretisch fundiert in der klassischen Pädagogik. Diese wurde allerdings insofern verändert, als sie durch die wiederum auf Empirie beruhende »pädagogische Anthropologie«1072 angereichert wurde und sich dadurch wiederum gegen »das idealistisch-neukantische Menschenbild«1073 stellte. Sie betrachtete die Natur des Menschen beziehungsweise des Kindes und schloss daraus auf einen dem Menschen allgemein innewohnenden Sinn: »Pädagogische Anthropologie könnte aus der Deskription des Wachstums menschlicher Kräfte im Entwicklungs- und Bildungsprozess Erziehungs- und Bildungsziele ableiten, insofern ist sie eine normative Wissenschaft. […] Vielmehr wird ein ›Menschenbild‹ von der Menschennatur empirisch abgezeichnet und in ›Bildungsideale‹ transformiert, die dieser Menschennatur angemessen sind.«1074 Der Begriff der ›Pädagogik‹ wurde auch bewusst verwandt, wobei häufig explizit auf ihren Ursprung, die griechische Paideia, rekurriert wurde1075, die ihre Fortsetzung in der »deutschen pädagogischen Theorie«1076 gefunden habe und für die im Gegensatz zu seiner abstrahierten Verwendung in der neuhumanistischen Diskursformation der Bezug zu einem kulturellen Kanon von Werten oder Tugenden noch maßgeblich war. Ein immer wieder auftretender Bezug war Pestalozzis Vorstellung einer Schule nach »Kopf, Herz und Hand«. 1070 1071 1072 1073 1074 1075
Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 87. Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 214. Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 70f. Wilhelm, Die enzyklopädische Herausforderung der Schule, S. 24. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 70f. PAIDEIA Vgl. u. a. Schaller, Die Krise der Humanistischen Pädagogik, S. 9, Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 14ff. 1076 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 157.
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Der »objektive Geist« Die Wendung vom Ideellen zum Existenten brachte auch die Wendung von einem offenen zu einem geschlossenen Weltbild1077. Das Sichtbare war existent, ob von der Natur oder von der Geschichte hergebracht, und somit gültig. Nicht die Suche nach einem Ganzen, sondern die Suche nach dem Sollen im Sein war der philosophische Ansatz dieser Konzeption. Allem Historischen wohnte ganz im hegelschen Sinne ein ›objektiver Geist‹ inne, der erkannt und vermittelt werden konnte und sollte. Niemand bestritt, dass es keine hundertprozentige Sicherheit geben könne, diesen objektiven Geist auch wirklich gefunden zu haben. Letztgültig beweisbar war dieser ohnehin nicht1078. Daraus durfte aber keinesfalls geschlossen werden, dass schon der Versuch, ihn zu finden und ein so erschlossenes Weltbild zu vermitteln, nicht unternommen werden dürfe. Wenn pädagogisch gehandelt werde, geschehe das zwingend normativ ; und wenn normativ gehandelt werde, dann sollte dies nach klaren kulturellen Vorgaben geschehen, also so, dass »ein Soll-Axiom mindestens relativ allgemeingültig ist, d. h. für einen Kulturkreis und einen größeren Zeitabschnitt gelten soll«1079. Statt letztgültiger Beweisbarkeit genügte eine begründete Wahrscheinlichkeit, die sich aus der Entwicklung der Kultur an sich ergab: Da »wir die Gewissheit und Wahrheit nicht haben können, müssen wir die Hoffnung hegen, dass der Grad der Bewährung dieser Werte und Normen ein Indiz für die Annäherung an eine absolute Wahrheit sein kann.«1080 Der objektive Geist fand sich also in der tradierten Kultur und ihren Werten1081. Die Basis hierfür war die umgebende Gesellschaft, das christliche deutsche Volk. Eine normative Kraft des Faktischen1082 wurde vom analytischen zum normativen Faktor. Hier findet sich wiederum der Berührungspunkt zum stabilitätsorientierten Funktionalismus der Bedarfskonzeption, von dem aus sich eine gemeinsame Verwendung der Positionen ergeben kann1083. Dem Bestehenden wurde eine innere Logik beigemessen, die aus der Wirklichkeit und ihrer Historizität nicht nur die Existenz, sondern auch die Richtigkeit oder gar Wahrheit überzeitlicher Werte ableitete: »Da aber jener objektive 1077 1078 1079 1080 1081
Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 65. Vgl. Lohse, Ethikunterricht und das Problem der Wertlegitimation, S. 118. Vgl. Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 114f. Lohse, Ethikunterricht und das Problem der Wertlegitimation, S. 119. Vgl. auch Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 16, 30. 1082 Vgl. auch Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 119. Alleine, dass erzogen wurde, machte Normsetzung nötig; und da diese nie letztgültig beweisbar war, ließ sich argumentieren, es seien »diese normativen Sätze weder wahr noch falsch, […] sondern gelten oder gelten nicht«. 1083 S. o., S. 232.
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Geist, von dem die schöpferische Gestaltung der Kultur ausgeht, maßgeblich für das kulturelle Schaffen ist, so muss er Normen oder Werte in sich tragen, die solche Maßgeblichkeit rechtfertigen. Der objektive Geist gewinnt seine Objektivität aus jener normativen Geistigkeit, in der er mit den ewigen Werten, den überzeitlichen Normen der Geschichte, in Verbindung steht.«1084 Die »schwierigen, aber unaufhebbaren Gedankengänge der Jahrtausende« dürften nicht bedeutungslos werden, müssten auch nicht schlichtweg in ihrer Tradition angemahnt werden, sondern seien »vielmehr immer wieder durch die Besinnung auf ihre geschichtliche Herkunft zu erreichen und zu ermessen«1085. Die entsprechende Herausforderung für das Bildungswesen war »die innere Erneuerung unseres geistigen Lebens aus den ewigen Werten in der Ausprägung, wie sie die Anforderung unserer Zeit stellt«1086. Diese Gegenwart war nach zeitgenössischer Wahrnehmung die Zeit einer sich immer schneller immer weiter entwickelnden Industriegesellschaft1087, deren Bedingungen einerseits berücksichtigt werden, deren Gefahren aber andererseits auch gebannt werden mussten. Ihr zu eigen waren sowohl »die wachsende Gewissheit, dass es eine ›produktive Einseitigkeit‹ gibt, die auf ihre Weise zum Ganzen findet«, als auch »eine Jugend, die sofort in die Reizfülle und den Reichtum dieser Welt hineinwuchs«, eine »Gesellschaft mit wachsender Freizeit«1088. Zur Analyse, dass »Leistungsprinzip und Spezialisierung« das Gesetz dieser Gesellschaft seien1089, die sich durch die Arbeitswelt »wirtschaftlich und geistig als Volk« behaupte1090, musste das Bildungssystem korrespondierende, zwischen überzeitlichen Werten und akuten Bedingungen vermittelnde Normen entwickeln. Ein »Realitätsdefizit« in Schule und Hochschule durch die Komplexität der Welt, die Geschwindigkeit ihrer Entwicklung und die den Schulen in der Informationsvermittlung entstehende Konkurrenz audiovisueller Medien wurde als Ursache ungewollter Entwicklungen ausgemacht: Wo keine »schulische und wissenschaftliche Vermittlung gesellschaftlicher Realität […] als subjektive Notwendigkeit« mehr stattfand, »versuchen die Jüngeren den Älteren jetzt ihre 1084 1085 1086 1087
Von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 74, zitiert Theodor Ballauff. Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 245. Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 214. Vgl. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 24: »[…] gibt es noch spezifisch zeitbestimmte, epochalpsychologische Jugendprobleme, die ihre Ursachen in den besonderen geschichtlichen Situationen unserer gegenwärtigen Gesellschaft haben, dieser Gesellschaft, die im Westen als eine industrielle Gesellschaft im technischen Zeitalter, als eine egalitäre und partnerschaftliche, als Konsum- und Massengesellschaft usw. gekennzeichnet wird«. 1088 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 33f. 1089 Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 5. 1090 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 68.
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gesellschaftliche Realität in Form von Protesten, Schulstreiks, Demonstrationen, Kampfansagen aufzudrängen«. Wo also die hergebrachten Realitäten nicht mehr angenommen wurden, herrschte demnach nicht Emanzipation, kritisches Bewusstsein oder individuelle Mündigkeit, wie es liberale und linke Zeitgenossen beschrieben hätten, sondern »bewusste Lernverweigerung, das In-FrageStellen der Lehr- und Wertgehalte unserer Zivilisation, ein Rousseau’sches Zurück in die vorkulturelle Unschuld«1091. Wo also die unabänderlichen Bedingungen der Zeit zu unerwünschtem, aber beeinflussbarem Verhalten führten, war die Schule ihrer Aufgabe, eine als gültig angesehene Wirklichkeit zu vermitteln, nicht nachgekommen. Nach derselben Weltsicht schlossen sich auch Gesinnung und Schule nicht weiter aus. Durch die Verortung des Individuums in seiner Kultur und der Unmöglichkeit, sich dieser zu entledigen, sei auch der Bildung diese Entledigung unmöglich und die Kultur deshalb an sich als Sinntotalität1092 objektiv1093 und eben nicht disponibel. In diesem Sinne besitze auch das Bildungswesen aus sich heraus Gesetzmäßigkeiten, die genau wie die Kultur einer »rational-erkennbaren Gesetzlichkeit« folgten1094. Hans Maier beantwortete die Frage, woher die Schule »in der dünnen Luft wertfreier Ideenkonkurrenz die Legitimation zum Normativen« nehme, mit »pragmatischen Hinweisen«, die die Gültigkeit des Bestehenden bekräftigen: »Einweisung in die Kultur ist für Schule jeder Art, unter welchem politischen Himmel immer, eine indispensable Aufgabe, soll nicht jede Generation wieder unter den zivilisatorischen Standard fallen, den die Gesamtgesellschaft erreicht hat.« Die Systemerhaltung sei der »selbstverständliche Funktionszweck« der Schule1095. Pragmatisch argumentieren ließ sich auch aus Sicht der pädagogischen Realität. Seien die Soll-Axiome, nach denen die Lehrziele ausgerichtet werden, nicht »relativ allgemeingültig […], so müsste man für die verschiedenen individuellen und sozio-kulturellen Bedingungskonstellationen verschiedene Soll-Axiome annehmen, die zudem noch einem fortwährenden Wandel unterzogen sein müssten. Das wäre eine reichlich unbefriedigende, völlig undurchschaubare und unökonomische Situation.«1096 Der objektivierte Schüler Eine Festlegung auf einen einzigen ›objektiven Geist‹ schloss die Subjektivität als argumentative Grundlage eines pluralistischen Systems aus. Der Schüler stellte 1091 1092 1093 1094 1095 1096
Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 8. Reichwein, kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 36. Vgl. ebd., S. 5–16, 30. Ebd., S. 33. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 58. Vgl. Klauer, Revision des Erziehungsbegriffs, S. 115f.
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demnach nicht das Subjekt, sondern das Objekt von Bildung dar. Die Schule diente der »objektiven Kultur«1097, einer normativen Ordnung, in die der Schüler ungeachtet seiner Individualität (die lediglich »in einem dialektischen Lebenszusammenhang« mit der Kultur, aber keinesfalls über ihr stehe) eingefügt werden solle: »Der geometrische Ort der Schule in dem Objektivationssystem der Kultur ist dadurch bestimmt, dass kulturelle Sinngehalte für ihre Erhaltung im Wandel der Generationen ein besonderes Organ erfordern, das diese Funktion übernimmt und das, indem es diese Funktion ausübt und damit zur Schule wird, diese Sinngehalte zu ›Bildungsgütern‹ macht.«1098 Die Bedürfnisse des Individuums wurden aus der schulischen Sphäre damit weitgehend ausgeklammert. Die Struktur des Individuums sei »die umfassendste und allgemeinste und deshalb am wenigsten gegenständlich bestimmbar und fassbar« und wurde daher unter den »Lebenszusammenhang der Kultur«1099 subordiniert. Das Bildungswesen sollte seine Grundlagen »nicht in dem zu bildenden Individuum und nicht in einer abstrakten Idee der Bildung […], sondern in der geschichtlichen Bewegung des gegenständlich gewordenen Kulturlebens«1100 finden. Die Schule sollte nicht zuvörderst dem Schüler dienen. Nicht einer aus ihm heraus kommenden Neigung, sondern einer für ihn bestimmten Berufung entsprechend sollte er geschult werden1101, »dass er wirklich von Aufgaben gefesselt ist und selbstloses Schaffen lernt, das nur dem Sein der Sache, um die es jeweils geht, zu entsprechen sucht.« Die »Freigabe der Individualität« besteht demnach nicht in der Emanzipation, sondern in der Vorbereitung auf »die ihm gemäßen Aufgaben«1102. Das Individuum existiere somit also nicht nur durch seine Person, sondern auch über die ihm zugeordnete Außenwelt und sei dieser unterworfen. »Das richtige Verhältnis zu Gott, zu den anderen Menschen und zur Umwelt« zu gewinnen, sei das aus der »sozialen Natur des Menschen« entspringende Ziel der Bildung1103. Mit der Anerkennung vorgefundener Werte und Normen kam auch eine Anerkennung der bestehenden Gesellschaftsstrukturen und damit die Vorstellung, es gebe für jeden einen »Ort […], an den er hingehört«, also in gewissem Maße eine für jeden Einzelnen vorgesehene Rolle in der Gesellschaft. 1097 1098 1099 1100 1101
Vgl. Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 98. Ebd., S. 45. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36. Deutlich auch in den Begrifflichkeiten bei Ballauff, Schule der Zukunft, S. 16: »Nicht um die Neigung darf es gehen. Neigungen wechseln und haben das Missliche an sich, der Bequemlichkeit, Faulheit und Selbstsucht zu dienen. Sprechen wir von Berufung, von einem Sich-berufen-fühlen, so meinen wir doch, dass ein Mensch gepackt wird von einer Aufgabe und sich ganz in Anspruch nehmen lässt von dem, was ihm als Sein und Wesen einer Sache aufgeht. Er ist dann ganz bei der Sache.« 1102 Ebd. 1103 Huber, Begabtenförderung als politische Aufgabe, S. 199.
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Diese zu verschieben könne nicht Aufgabe der Politik sein, sondern das Gegenteil: sie zu finden, »den individuellen Raum für einen jeden zu eröffnen, der es ihm gestattet, seine eigene Begabung zu erfüllen«1104. Emanzipation aber galt – in ähnlicher Definition wie in den emanzipativen Diskursformationen, nur mit gegenteiliger Wertung – als »das Herausreißen des Einzelnen aus seinen Bindungen, aus dem ganzen Zusammenhang seiner Lebens- und Wertvorstellungen.«1105 Der tradierten Kultur war also auch eine bestimmte Ordnung inhärent, die Ordnung eines formierten Pluralismus mit als natürlich aufgefassten Grenzen. Die inneren Kohäsionskräfte der Gesellschaft mussten stark sein, auch, um äußere, sichtbare Regeln möglichst zu vermeiden. Der Individualismus im Sinne emanzipativer Selbstentfaltung erfuhr in dieser Konzeption eine grundlegende Ablehnung. Stattdessen ging es darum, den individuellen Platz jedes Einzelnen innerhalb der Gesellschaft zu finden. Das Individuum war das Objekt von Bildung, das geformt werden sollte, der Maßstab der Bildung aber fand sich in den als Konsens der Gesellschaft angenommenen Werten. Dabei wurde bereits der Wert einer in sich konsistenten Gesellschaft vorausgesetzt: »Eine Gesellschaft, die soziale Verpflichtungen nicht mehr zu einer allgemein akzeptierten Selbstverständlichkeit machen kann, gibt sich selbst auf.«1106 Dieser postulierte Konsens, diese Gesellschaftsordnung sollte einen funktionierenden Pluralismus gewährleisten, der nicht ausartete, sondern ohne Zwang eine nicht zu heterogene Gesellschaft etablierte. Eine pluralistische Gesellschaft war somit nicht individualistisch, sondern vor allem eine Gesellschaft, die Unterschiede zuließ und nicht auszugleichen – zu kompensieren – suchte. Dieser Pluralismus war also zum einen anti-egalitär und wendete sich zum anderen gegen eine individualistische Partikularisierung1107 der Gesellschaft. Er funktioniere also nur, wenn das Individuum sich aus sich heraus einfüge – und dahin müsse es erzogen werden: »Die ›pflegerische‹ Seite des Pluralismus, sein positiver Inhalt, das ist die Persönlichkeit. Daher kann die ›Logik‹ nicht stimmen, deren ›Folgerichtigkeit‹ zum ›Verlust des Erzieherischen‹ führt. Folgerichtig erscheint vielmehr, dass eine sich pluralistisch verstehende Gesellschaft als ihr positives Erziehungsideal die Persönlichkeit erkennt, weil sie ihr tragender Grund ist. Pluralismus restituiert sich aus den Persönlichkeiten, wie er im guten Sinn um ihres Existenzrechtes wegen zur humanen Gesellschaftsform erhoben wurde. Zur Persönlichkeit aber wird man nicht geboren, sondern erzogen.«1108 Somit gab es auch keine Ablehnung des Pluralismus als Prinzip. Pluralismus 1104 1105 1106 1107 1108
Ballauff, Schule der Zukunft, S. 18. Braun, Bildung durch Erziehung, S. 26. Vogel, Stand und Weiterentwicklung des Schulwesens in Rheinland-Pfalz, S. 3. Vgl. Knewitz, Werte im Vergleich, S. 100f. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 102.
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hieß aber in diesem Sinne nicht ›Viel-‹, sondern nur ›Mehrfalt‹, die Möglichkeit, aus den Optionen eines kulturell abgegrenzten Systems zu wählen, aber nicht darüber hinaus. Der Begriff des Pluralismus beinhaltete einen formierten Pluralismus, der nicht gleichzeitig individualistisch war. Die Disposition verschiedener Ideen oder Ideologien wurde nicht infrage gestellt – solange sie eben im Rahmen des objektiven Geistes bliebe. Umgekehrt durfte die Schule auch keine Ideologien vorgeben, musste aber den beschriebenen Rahmen schaffen: »Affektive Lernziele sind nicht mit Ideologien gleichzusetzen. Natürlich können sie weitreichend sein. Sie können sich aber auch im Vorfeld bewegen und lediglich zu ideologisch gebundenen Wertentscheidungen disponieren. ›Toleranz‹ muss nicht aus christlicher Nächstenliebe geschehen. Jedoch ist dieselbe Nächstenliebe ohne die Haltung der Toleranz nicht möglich.«1109 Anschauliches Beispiel dieser Konzeption formierter Pluralität war die Bekenntnisschule, die ohne Wertung die verschiedenen Konfessionen nebeneinander akzeptierte und bestätigte, aber eben auch genau diese Formation von Pluralität zur Vorgabe machte.
Soziale Differenzierung Der tradierten Kultur, deren Richtigkeit angenommen wurde, entsprach eine soziale Ordnung. Diese musste zwar nicht fix in ihrer Aufteilung sein – niemand sprach von einer göttlichen Ordnung oder von der Notwendigkeit, die soziale Differenzierung nach Klassen oder Schichten, wie ehemals nach Ständen aufrechtzuerhalten – aber in ihrer Dynamik sollte sie nur die vorgesehenen Bahnen eines formierten Pluralismus dulden. Das Grundprinzip gleicher Chancen sollte uneingeschränkt gelten: »Die Grenzen hat nicht die Gesellschaft vorweg durch gefährliche Begabungsideologien aufzurichten, sie hat im Gegenteil um ihrer selbst willen alles zu tun, um jeden optimal zu fördern.«1110 Das Begaben wurde gar als eine der dringlichsten Funktionen der Schule anerkannt – die Lesart war freilich: Erziehung zu Tugenden, die den menschlichen Produktivkräften förderlich seien. Was das Kind zur Begabung benötige und ihm von der Pädagogik zu stiften sei, seien »die Gaben der Vertrauensstärkung, weil Begabung auch Vertrauen ist, Anvertrauen, Anvertrauenlassen, Sichzutrauen – Vertrauen zu einem Material, zu einer Sache, zu einer Aufgabe, zum Lehrer, zu sich selbst, zu einem rettenden Einfall, zu Gott.«1111 Auch die Notwendigkeit, besondere »pädagogische und institutionelle Hilfen […], insbesondere dort, wo milieubedingte Schwierigkeiten zu beseitigen 1109 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 133. 1110 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 74. 1111 Ebd., S. 108.
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sind«1112, zu errichten, stand gerade nach dem sehr auf das Miteinander gerichteten Menschenbild außer Frage. Damit war wiederum keine Ablehnung des klassischen Konzepts von Begabung und eine Befürwortung der Idee gleicher Begabung für alle verbunden. Es gebe schlichtweg keine »Begabung ›an sich‹«, lediglich Begabung »in Bezug auf etwas, d. h. auf ein Material, eine Sache, eine Aufgabe, eine Idee«1113, jeder habe seine eigene Begabung1114 ; und diese »verwirklicht sich nur mit und durch den Menschen, der sie – nicht zuletzt gegen innere und äußere Widerstände – bis zur produktiven End- und Neuleistung zur Entfaltung bringt.«1115 Diese Begabung setze sich zusammen aus »ursprünglich angeborenen seelischen Mächtigkeiten in uns, angeborenen, unterschiedlichen Ausprägungsgraden bestimmter Intelligenzfaktoren, die sich im Vollzug als ursprüngliche intellektuelle Anfangsmächtigkeiten Dingen, Personen und Situationen gegenüber erweisen«, wie auch aus »Lernprozessen […], die sich vom ersten Lebenstage ab in und mit uns vollziehen«1116. Aktiviert würden diese Faktoren durch die Pädagogik1117. Je statischer aber ein Weltbild überzeitlicher Werte und allgemeiner Menschennatur vertreten wurde, umso klarer wurde auch der Blick auf das Verhältnis von Vererbtem und Erlerntem, wie ein gewiss auch für diese Diskursformation exzeptionelles Extrembeispiel deutlich macht: »So wenig wie jemand die Farbe seiner Augen, die Größe seiner Ohren, seine grundlegende Körperkonstitution willkürlich verändern kann, ebenso wenig ist am Grundbestand psychischer Merkmale Wesentliches zu verändern: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Bestimmten physischen Merkmalen entsprechen mehr oder weniger ›automatisch‹ bestimmte Persönlichkeitsmerkmale: Rothaarige sind (meist) ›feurig‹; hinter hoher Stirn ist viel Hirn. […] Nur wenige ernsthafte Wissenschaftler bestreiten heute noch die bedeutende Rolle des genetischen Potentials (Vererbung) als Grundlage, auf der das Muster der Persönlichkeit aufruht und von der es abhängt, wie Einflüsse wirksam werden.«1118 Die aus der Annahme eindeutiger Maßstäbe resultierende Urteilsfähigkeit innerhalb dieser Diskursformation ermöglichte auch Wertungen in Bezug auf die einzelnen Rollen in der Gesellschaft und deren Aufbau. So seien »doch gewisse objektive Bewertungskategorien erkennbar, die es erlauben, in einem konkreten Falle den einen Beruf, rein seiner Idee nach, über einen anderen zu stellen.«1119 Entsprechend galt ein besonderer Augenmerk der höheren Schule, 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119
Vogel, Stand und Weiterentwicklung des Schulwesens in Rheinland-Pfalz, S. 4. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 83. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 18. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 84. Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 103ff. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 105f. Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 56. Vgl.
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der nicht nur der Geist des Neuhumanismus ausgetrieben werden musste, sondern die auch in der »heutigen Welt« einen »besonderen Auftrag« hatte: »sie soll eine geistig tragende Schicht heranbilden, die mit den großen Gedanken unserer Kultur in ihrer ursprünglichen Prägung so vertraut ist, dass sie stellvertretend die Aufgabe übernehmen kann, den Horizont der neuentstehenden Welt aus der Tiefe unserer Überlieferung zu erschließen.«1120
Staat und Familie In der werterzieherischen Konzeption handelt es sich nicht schlichtweg um die Sichtweise wertkonservativer Menschen. Es handelt sich nämlich nicht um die Vorstellung, dass die Gesellschaft oder der Einzelne der tradierten Kultur verpflichtet sei, sondern ging insofern darüber hinaus, dass der Staat aus sich heraus einer solchen kulturbewahrenden Verpflichtung obliege und daher das staatliche Bildungswesen entsprechend auszurichten habe. Darin unterschied sich diese Konzeption von der weit verbreiteten – und auch von den Kirchen maßgeblich eingenommenen – Auffassung, dass Kultur und Bildung Aufgabe von Familie, Kirche und Gemeinde seien und dem Staat höchstens zustand, den Rahmen zu setzen. Diese konservative Auffassung war, wie in der Einleitung bereits erörtert1121, kein Teil des hier behandelten Gesamtdiskurses, da sie die Politisierung von Bildung per se ablehnte. In der werterzieherischen Diskursformation schien ein staatlicher Erziehungsauftrag hingegen auch geboten, da der familiäre Erziehungsauftrag – zwar vom Grundgesetz geschützt – nicht durchweg gewährleistet werden konnte, eine derartige Erziehung aber für jedes Kind als nötig befunden wurde. Das ermächtige den Staat allerdings nicht, seine Bildungsveranstaltungen zu einem »puren Instrumentarium der Gesellschaftsveränderung« zu machen. Im Gegenteil erhielten diese »Bildungsveranstaltungen«, beziehungsweise -institutionen ihre Legitimation und »ihr Maß vom Bildungswillen des Einzelmenschen, der im zivilisatorischen Standard der Kultur vorausgesetzt ist«1122. Schließlich habe der Staat »nicht bloß […] eine äußerliche, organisatorische Verbindung« zum Bildungssystem, sondern sei gleichzeitig selbst Bildungsgut1123, ist also als Teil der Kultur aus sich heraus dazu legitimiert und bestimmt, sich und seinen kulturellen Kontext zu reproduzieren. Das Bildungswesen
1120 1121 1122 1123
ebd., S. 15: »Der geistig hochentwickelte Mensch verfügt daher über einen viel reicheren Schatz von Vorstellungen auch über sein seelisches Leben, als der einfache Mann, obwohl doch beiden dies Leben, wie es scheint, gleich nahe steht, gleich erreichbar ist.« Picht, Verantwortung des Geistes, S. 94. S. o., S. 56ff. Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 9. Reichwein, Kritische Umrisse einer geisteswissenschaftlichen Bildungstheorie, S. 40.
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schöpfe seine Struktur aus sich selbst, eine Theorie der Bildung habe »diese verschiedenen praktischen Momente als die besondere Gegenständlichkeit hinzunehmen, an der sie sich entwickelt, als die Quelle, aus der sie ihre Erkenntnisse schöpft. […] Dem gegebenen geschichtlichen Bildungswesen gegenüber gibt es […] keine einfache Zweckformel, die der ganzen Fülle der Tatsachen und Erscheinungen, dem ganzen Eigengewicht seiner Geschichtlichkeit gerecht würde.«1124 Außerdem wurde solcher staatlichen Erziehung eine Schutzfunktion zugemessen: »Im affektiven Bereich ist Manipulation leicht möglich, vor allem bei der Ausschaltung kognitiver Elemente. Den Schüler dabei sich selbst zu überlassen, hieße vielfach, ihn zum Spielball zweifelhafter Absichten verschiedenster Interessengruppen zu machen.«1125 Nichtstaatliche Institutionen wurden also sogar mithin eher als Gefahr für die Kinder angesehen1126. Darauf, dass den Kindern in den Familien eine gute Erziehung angedeihen würde, konnte man sich nicht verlassen – der Erziehungsauftrag der Familie werde durch das Grundgesetz zwar eingehegt, könne aber dort nicht durch die Gesellschaft erzeugt werden1127. Die sozialen Effekte der Industrialisierung, aber auch die »Reizüberflutung« durch Massenmedien und »die tiefgreifenden Wandlungen unserer Gesellschaft haben aber die Struktur der Familie so sehr verändert, dass diese Verteilung der Aufgaben [Bildung der Schule, Erziehung der Familie] nicht mehr stimmt. […] Deshalb ist auch in der intakten und glücklichen Familie nur selten die Ruhe und Geborgenheit zu finden, die das Kind zu seiner Entfaltung und der Schüler zur gesammelten häuslichen Arbeit braucht.«1128 Kinder befänden sich, wo die Familie nicht mehr und die Schule noch nicht die Erziehung gewährleiste, »pädagogisch in einem Vakuum«, was durch einen »demagogisch überhitzten Kampf um das sogenannte Elternrecht«1129 nur verschlimmert werde. Die gesellschaftlichen Veränderungen schienen derart, dass sie es dem privaten Raum unmöglich machen würden, die Funktion der Kindeserziehung weiter zu erfüllen, während der Bedarf nach solcher Orientierung in der Kindheit durch denselben Effekt noch steige. Die private Erziehung müsse daher in letzter Konsequenz von Staat und Schule subsituiert werden: »Wenn es wahr ist, dass die Jugend in der heutigen Welt noch mehr als früher eines geschützten und nach erzieherischen Grundsätzen geordneten Lebensbereich bedarf, so wird es die Aufgabe der Schule 1124 Ebd., S. 38. 1125 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 133. 1126 Vgl. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30: »Die Schule hat vielmehr das Maß der Bildung anzugeben und zu wahren – gegenüber Eltern und Schülern, Parteien, Kirchen und Verbänden. Das ist ihre Aufgabe innerhalb der ›Gesellschaft‹.« 1127 Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 9. 1128 Picht, Verantwortung des Geistes, S. 97. 1129 Ebd., S. 132.
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sein müssen, diesen Bereich in ihren Mauern herzustellen und damit Erziehungsaufgaben zu übernehmen, um die sie sich bisher nicht zu kümmern brauchte.«1130 Anderswo heißt es schlichtweg, es sei »der Schule ganz die Aufgabe zugefallen, die erzieherische Verantwortung für die geistige Begegnung der jungen Generation mit den bildenden Gehalten unserer vergangenen und gegenwärtigen Kultur zu übernehmen«1131. Ziel der schulischen Erziehung war also nicht die Familie, auch nicht das Gedeihen des Individuums, sondern der ganze Rest: der gesamte soziale Raum und im ›Gesetz der Sache‹ eben auch die Erschließung der gesamten Umwelt und Wirklichkeit. Dies hatte sie ausdrücklich nicht nach den Ideen oder Maßgaben Außenstehender hin zu tun und »schon gar nicht [nach dem] Belieben von Eltern und Schülern«1132, sondern aus ihrer eigenen, kulturell verhafteten Logik heraus. Diesen Forderungen wurde als Entsprechung im Grundgesetz wiederum die staatliche Schulaufsicht nach Artikel 7, 1 GG1133 zugeordnet; weiterhin sei aus der Schulpflicht eine »normative Kraft«1134 ableitbar, da sie Beliebigkeit von vornherein ausschließe. Diese normative Kraft bezog sich auf das Bewahren der kulturellen wie auch politischen Verfasstheit des Staates. Während die emanzipativen Kräfte beanspruchten, die Demokratie im Bildungswesen vollenden zu wollen, wollte die werterzieherische Diskursformation die Demokratie vor ebenjenen Kräften schützen. Golo Mann kritisierte den absoluten Demokratisierungsanspruch der Studentenbewegung als unreflektierte und gefährliche Unzufriedenheit: »Neu heraufkommende Generationen vergleichen das, was ist, nicht mit dem, was war ; völlig vergeblich, sie auf die erfreulichen Unterschiede zwischen 1932, 1948, 1971 hinzuweisen. Sie vergleichen es auch nicht mit den Lebensbedingungen anderswo, etwa den Nachbarländern im Osten. Sie vergleichen es nur mit dem, was sein könnte und sollte, wirklich oder in ihrer Einbildung.«1135 Die hergebrachten repräsentativen Verfahren der parlamentarischen Demokratie und vor allem die Ordnung durch rechtsstaatliche Prozesse sollten demgegenüber weiter als Grundlage einer demokratisch verfassten Gesellschaft und auch des Bildungswesens gelten: »Kein Zweifel: Schule und Universität sind nicht rätedemokratisch verkleinerte Abziehbilder der parlamentarischen Demokratie«1136 – ihre demokratische Legitimation war über die Landesparlamente gegeben. Die Aufgabe der Bildungseinrichtungen war höchstens das Vermitteln der Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers, sie waren nicht unmittelbares Objekt politischer 1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136
Ebd., S. 98. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 157. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 69. Maier, Zwischenrufe, S. 59. Mann, Golo, Radikalisierung und Mitte: Zwei Vorträge, Stuttgart 1971, S. 11. Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 9.
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Teilhabe: »Eine absolute und undifferenzierte, schematische Übertragung des demokratischen Prinzips, welches seinen politischen und rechtlichen Standort im staatlichen Bereich hat, auf die Gesellschaft und ihre Teilbereiche muss scheitern. Dies im Bildungswesen deutlich zu machen und in einem demokratischen Verhalten auch zu verankern, ist ein wichtiger Beitrag unserer Bildungspolitik.«1137 Die kategorische Unterschiedlichkeit zwischen den Funktionen und Strukturen in Schule und Hochschule einerseits und dem Staat andererseits waren die Begründung, dass Demokratie im Bildungssystem nicht einmal zur Übung vergleichbar praktiziert, vielleicht letztendlich nicht einmal erlernt werden könne1138. Der Demokratie sollte gerade nicht durch innerschulische Demokratie gedient werden, sondern im Gegenteil: »Ein demokratisches Bildungswesen – das heißt zuletzt und auf eine einfache Formel gebracht, dass in Schulen und Hochschulen die allgemeinen Gesetze ebenso gelten wie in der übrigen staatlichen Gemeinschaft. […] Bildungseinrichtungen sind vielmehr ein Teil der Demokratie. Es gehört zur Aufrichtigkeit, die man dem jungen Menschen schuldig ist, dass man ihm ebendies nicht vorenthält; dass man ihm die konkrete verfassungsmäßige Demokratie erschließt, statt ständig […] von ›Demokratiedefiziten‹ in unserer Gesellschaft zu reden.«1139 Das demokratische Lernziel war, demokratische Entscheidungen der Gesellschaft für sich zu akzeptieren. Inhalte, Werte und Tugenden Der Name dieser Diskursformation wurde gewählt, da sie auf struktureller Ebene die Vermittlung verbindlicher Werte durch staatliche Erziehung begründet und auf materieller Ebene auch bestimmte, um welche Werte es sich dabei handelte: »Wir entscheiden uns für Werte und wollen sie als Normen durchsetzen. Die für den Humanisierungsprozess wichtigsten Werte in Bildung und Erziehung tragen zu der Fähigkeit des Einzelnen bei, sich in seiner Umwelt und in der Welt mit dem Ziel der Selbstverwirklichung orientieren zu können.«1140 Die Unterrichtsinhalte sollten von einem der tradierten Kultur entspringenden, durch ihren ›objektiven Geist‹ legitimierten Wertesystem abgeleitet werden. Hier griff insbesondere die Idee einer »pädagogischen Anthropologie«1141. Wertbezogene Lernziele mussten demnach gar nicht von Politik oder Schulverwaltung gesetzt, sondern hermeneutisch »›gefunden‹, ›erkannt‹ oder ›identifiziert‹«1142 werden. Dabei ergaben sich aus den Grundlagen eines Menschen1137 1138 1139 1140 1141 1142
Braun, Bildung durch Erziehung, S. 29. Vgl. Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 9. Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 72. Braun, Bildung durch Erziehung, S. 27. S. o., S. 234. Vgl. von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 75.
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bilds die Konsequenzen für Inhalte und Organisation der Schule; in etwa: Da sich der Mensch vom Tier durch das Denken und dessen Ausdruck in der Sprache (Logos) unterscheide, sollte Philosophie »als höchste Entfaltung des Logos […] umgreifendes Unterrichtsprinzip und […] eigenes Gymnasialfach« sein. Zudem sollten Sprachen zentral bleiben, wohingegen das Lateinische zwar »als intensivstes Übungsfeld der Sprachreflexion«1143 als hilfreich, jedoch zur Bildung nicht als unerlässlich angesehen wurde. Der Mensch reflektiere seine Vergangenheit bewusst, weshalb der Geschichtsunterricht wichtig sei – »Der Erwerb eines chronologischen Überblicks ist unverzichtbar«. Alles Dingliche, »Die Naturwissenschaften, die Gegenstände der Kunst, die menschlichen Konstruktionen aus Ideen, Überzeugungen und Materialien« sollte Teil des Unterrichts sein. »Doch sollte der Aspekt wieder deutlich unter anthropozentrischem, vielfach auch ethischem Vorzeichen stehen.«1144 Die Pädagogik sollte lehren, »der Wahrheit auf allen Lebensgebieten nachzugehen; sie möchte ihn erfahren lassen, dass nur solche Sachlichkeit und Mitmenschlichkeit ihn als diesen Menschen – in Unvertretbarkeit und Unwiederholbarkeit – freigibt.«1145 Eine wichtige Komponente für die Bestimmung der Unterrichtsinhalte und damit ein Alleinstellungsmerkmal dieser Diskursformation war insofern auch, als Kernbestandteil der Kultur, die Religion. Da der Mensch in der Lage sei, »bestimmte Triebe zu sublimieren und sein Streben auf sog. Höhere Werte zu richten«, und »durch seine Fähigkeit und Neigung zur Transzendenz und zur Religiosität« gekennzeichnet sei, sollten »Reflexion und Diskussion von Normen und Werten« trotz Wertpluralismus1146 den Schülern »die persönliche Entscheidung für oder gegen bestimmte Werte« ermöglichen1147. Wo das allerdings – man entsinne sich der klaren Antworten – zu komplex, zu verwirrend schien, galt es zunächst, sich »auf die schlichten und einfachen Tugenden« zurückzubesinnen; eine tiefe Auseinandersetzung mit dem »hohen Ethos« stand auf einer höheren Stufe1148. Auf der Grundlage derartiger allgemeiner Formulierungen ließ sich die konkrete Forderung danach, christliche Werte zum Unterrichtsgegenstand zu machen, aufstellen: »Gott als das in strengem Sinn von Ewigkeit zu Ewigkeit Seiende umfasst auch die Ideen als seine Gedanken. Erziehung muss an diesem 1143 Vgl. Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 72f. Zu Logos, vgl. auch Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 243: »Die Menschlichkeit des Menschen liegt in der Logoszugehörigkeit, das besagt: Ein Wesen wird mit Denken und Aussagen der Wahrheit begabt und dazu berufen.« 1144 Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 72f. 1145 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 246. 1146 Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 72f. Diese Relativierung unter Bezug auf den Wertpluralismus wurde allerdings direkt wieder relativiert: »Die Scheu vor Qualitätsbestimmungen sollte angesprochen und abgebaut werden.« 1147 Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 73f. 1148 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 224f.
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Seienden Anteil geben; nur die Kirche vermag das.«1149 »Das Verhältnis des Menschen zu Gott« sollte die Kernfrage philosophisch-religiöser Themen sein1150. Formal ließ diese Forderung sich mit den entsprechenden Passagen in den Landesverfassungen und im Grundgesetz begründen1151. Die Pflicht als Wert sei »eines der hervorragendsten Erziehungsziele aller Kulturvölker« und bedeute, »dass ich meine Stellung als Individuum in der Gemeinschaft neu erkenne und bestimme und dass ich bejahe, dass ich in einer Relation zur Gemeinschaft stehe mit einem völlig eigenständigen und besonders individuellen Auftrag.«1152 Der Pflichtbegriff ist in kantscher Anlehnung auch darauf gerichtet, die eigenen Potentiale in Verantwortung gegenüber der Gesellschaft in vollem Maße auszuschöpfen1153. Er korrespondiert gleichzeitig mit dem dargestellten Verständnis individueller Begabung, die einem jeden den Platz in der Gesellschaft zuweist, da nach diesem Verständnis auch jeder die Pflicht habe, diesen Platz einzunehmen. Der Einzelne sollte in der Schule auch eine Vorstellung über »seinen sinnvollen Anteil am Erwachsenenleben« erlangen, den er »immer noch nur über den Beruf«1154 bekomme. Ein zweischneidiges Schwert war das Leistungsprinzip. Galt Leistung einerseits als Teil der Entmenschlichung durch planwirtschaftliche Funktionalisierung von Bildung, war sie andererseits ein traditioneller Wert, den es gegen den postmodernen Hedonismus zu verteidigen galt. Gerade in der Schule wurde aber das Leistungsprinzip befürwortet, das nicht zuletzt durch die Bildungsexpansion zu erodieren drohte1155. Leistung stand also nicht für sich als Ziel von Erziehung, sondern bekam eine Richtung und damit eher den Charakter eines Mittels als den eines Werts: »Schule kann auf Leistung nicht verzichten. Das Leistungsprinzip in der Schule, heute vielfach diskutiert und heftig umstritten, kann jedoch nur dann glaubwürdig und gültig aufrechterhalten werden, wenn es die verschiedenen Altersstufen der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt, wenn es Lernen nicht blockiert, sondern fördert, wenn es, pädagogisch als Möglichkeit menschlicher Bewährung verstanden, nicht zur Frustration durch permanenten
1149 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 205f. Weiter : »Aus dem Wissen um Sein und Seiendes wird aber die Gewissheit und die Versicherung des Seins für ein Seiendes, eben den Menschen, durch die Zugehörigkeit zum absolut Seienden. […] Erziehung gewährleistet solche Seiensversicherung.« 1150 Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 73f. 1151 Vgl. ebd., S. 63. 1152 Braun, Bildung durch Erziehung, S. 60 (der zweite Teil des Zitats verweist auf eine unbestimmte Landtagsrede von Wilhelm Hahn). 1153 Vgl. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 82. 1154 Vgl. ebd., S. 68. 1155 Vgl. Maier, die andere Bildungskatastrophe, S. 8.
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Leistungsdruck führt, sondern den Einzelnen im sachlichen Wissen und im Menschlich-sozialen bereichert.«1156 Gerade, weil auch die humanistische Tradition Teil der Kultur war, gehörten »Mündigkeit, Verantwortungsfähigkeit, sogar systematische Kritikerziehung« zu diesen Werten, aber »das eigentlich Pädagogische« sollten konkretere Kataloge darstellen, wie beispielsweise: »die Einweisung in die Kultur, die Ordnung der Vorstellungswelt, das Erkennen des Allgemeinen, die Erschließung sozialer und beruflicher Dimensionen, die Nutzung des erworbenen Wissens, […] Selbstbeherrschung, Individualität, gesellige und politische Kultur, […] die Bildungsziele der [bayerischen] Verfassung wie Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde der Menschen. Schule muss Maßstäbe für sittlich zu verantwortendes Handeln vermitteln und die geschichtliche Dimension zur Geltung bringen.«1157 Andernorts wurden neben »der originalen Begegnung mit Sachen und Menschen, […] der Verwurzelung in Heimat und Umwelt und […] der Entwicklung von Lernfreude, Leistungsbereitschaft und zunehmender Selbständigkeit«1158 auch »Tugenden, wie ›Gerechtigkeit‹, ›Höflichkeit‹, ›Güte‹, ›Kompromissbereitschaft‹«1159 genannt oder direkt der Forderung nach politischer Bildung ein Tugendkatalog entgegengestellt: »Wenn nur die politische Bildung die menschenformende Kraft übernehmen soll […], fehlt dem Bildungsprogramm die entscheidende materielle Stütze. Wir dürfen nicht nur demokratische Bildungswerte anerkennen. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass es auch darum gehen muss, die Menschen zu Liebe, Güte, Toleranz, Dienst am Menschen, Ehrlichkeit, Bildungswilligkeit, also zu Wertvorstellungen, die in der Geschichte der Menschheit in allen Kulturbereichen eine entscheidende Rolle gespielt haben, zu erziehen.«1160 Daran wird deutlich, dass die beschriebene soziale Ordnung als bedroht angesehen wurde. Jugendliche wollten ihre Grenzen übertreten, nicht mehr die ihnen zugedachte Rolle einnehmen. Sie wurden, mithin recht pauschal, als uninteressiert an der Kultur und aggressiv gegenüber der Gesellschaft wahrgenommen: »Wo war denn diese Aggressivität in der Zeit der alten Erziehung, als die Jugend noch gesittet, gehorsam und überwacht in ihrer vorgeschriebenen Bahn wandelte? […] Wie es auch war, die Jugend stellt heute auf alle Fälle größere Geltungsansprüche, sie lässt sich viel weniger leicht in die Schranken 1156 Vogel, Stand und Weiterentwicklung des Schulwesens in Rheinland-Pfalz, S. 4. 1157 Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 63. 1158 Plößl, Aufgaben für eine Grundschule von Heute und Morgen, S. 175f. Auffällig sind hier die Hervorhebung der Richtigkeit nicht weiter begründeter Aussagen, »Ganz und gar unumstritten« leitet den Abschnitt ein, »Die Erziehungsaufgaben, die hierbei der Grundschule zufallen, sind allgemein anerkannt« beendet ihn. 1159 Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 169f. 1160 Arnold, Kritische Bemerkungen zum Strukturplan für das Bildungswesen, S. 47.
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weisen als früher. Ein Erwachsener, der sie auf der Straße im alten Stil zurechtweist, erntet Gelächter. […] Manche Schüler der Entlassklassen pochen auf ihr vor Körperstrafen geschütztes Schülerdasein und verstehen sich dem Lehrer gegenüber sogar juristisch durchzusetzen.«1161 Diese Gegenüberstellung verdeutlicht, dass es in dieser Diskursformation nicht um das Bewahren eines Status quo oder auch nur um Passivität – bezogen auf die von anderen Konzeptionen aktiv angetriebenen gesellschaftlichen Reformprozesse – gehen konnte. Es ging darum, dass der Staat wiederum durch eine aktive Bildungspolitik über den Unterricht auf eine bestimmte an der Tradition orientierte Werteordnung hinarbeiten sollte. Die Freiheit als gleichfalls tradierter Wert fand sich somit im gesellschaftlichen wie staatlichen Status quo ideal aufgehoben, Erziehung zur Anpassung war Erziehung zu Demokratie und Freiheit und umgekehrt; das Prinzip der Veränderlichkeit galt, aber nicht Veränderung als Ziel1162 : »Veränderung muss sich rechtfertigen durch die Frage nach dem Warum, nach dem Wozu, nach dem Womit.«1163 Erziehung und Erzieher So relevant wie die Frage nach Inhalten und Werten der Bildung war aber auch die Frage nach der Art und Weise der Erziehung. Wo affektive Wertziele vermittelt werden sollten, geschah dies selbstredend nicht über deren Darlegung in Büchern und im kognitiven Lernen, sondern auf der Metaebene des Unterrichts. Diese Erziehung grenzte sich damit nach zwei Seiten ab: einmal von der wertfreien bzw. wertoffenen Bildung, andererseits aber auch von der Konditionierung auf bestimmte Verhaltensweisen hin. Davon unterscheide sich Erziehung »grundlegend durch Einsicht«. Keineswegs ging es bei der Erziehung also um Indoktrinierung oder möglichst effektive Manipulation; Erziehung sollte nicht als Druck wahrgenommen werden, sondern als freiwillig angenommene Möglichkeit1164. Das Ziel war also eine bewusste Beeinflussung der Sozialisationsbedingungen und sollte nicht dem Zufall überlassen werden. Das Mittel war eine atmosphärisch angelegte »erzieherische Kraft«1165. Erziehung sei die »planvolle Handhabung [des Miteinandersprechens und Handelns] auf bestimmte Ziele der Persönlichkeitsentwicklung hin«1166. Die Einbettung des Erzieherischen in den Unterricht sollte auf unterschiedliche Weise und nicht nur in abgegrenzten 1161 1162 1163 1164 1165 1166
Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 164f. Vgl. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 109. Braun, Bildung durch Erziehung, S. 19. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 99. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 164. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 89.
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Bereichen, sondern überall geschehen. Dabei sei es einerseits möglich, gezielt Einstellungen und Haltungen als eigenständiges Objekt einzubringen, »d. h. mit eigenem Lerninhalt, Unterrichtsverfahren und Lernzielkontrolle«. Andererseits sei aber auch die Zuordnung zu »kognitiven Lernzielen« möglich, wodurch diese »im emotionalen und/oder aktionalen Aspekt« ergänzt würden1167. Mit dem Willen, einer bestimmten Weltanschauung durch den Unterricht Vorschub zu leisten, war die werterzieherische Konzeption, die sich, wie gezeigt werden konnte, ja eben auch als Gegenentwurf gerade zur gesellschaftlichemanzipativen Konzeption verstand, gleichzeitig deren Schwester1168. Auch die Vorstellung, dass der Mensch seinen Eigenwert erst durch seine soziale Umwelt erhalte, taucht in beiden Konzeptionen auf und legitimiert das zielgerichtete staatliche Handeln nach gemeinschaftlichen Interessen. Wie bereits im Kapitel zur gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption dargelegt, ist diese Ähnlichkeit auch in der analytischen Grundlage bedingt, die dem Erziehungssystem die Bewältigung der kulturellen, wirtschaftlichen und vor allem sozialen Veränderung durch die fortschreitende Industrialisierung als Aufgabe zumaß1169. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Begrifflichkeiten sich gar nicht so weit unterschieden. Die werterzieherische Konzeption bediente sich, gewiss in geringerem Umfang, aber in derselben Weise der auf möglichst effektiven Lernfortschritt gerichteten Methoden szientistischer Bildungsforscher wie die Reformer der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption. Ebenfalls ist von Curricula und Lernzielen die Rede, die erreicht werden sollten, insbesondere ging es
1167 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 137. 1168 Die gleichzeitige Nähe in den Mitteln und Gegensätzlichkeit in den Zielen beschreibt Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 96: »Der Didaktiker lernt in Kategorien der Fachwissenschaft zu denken und zu planen, weit weniger in Kategorien wertorientierter Erziehung. Die Vereinigung beider verlangt das Aufbrechen der sachbezogenen Lernstruktur, in der Gegenstände verselbständigt bleiben. Weil sog. ›Linke‹ das tun, wird ihr Unterricht in ihrem Sinn erzieherisch.« Bernhard Vogel warnte »Viele erkennen die Gunst der Stunde, durch eine Umstrukturierung der Schule ihre Vorstellung von Gesellschaft zu realisieren, und tatsächlich wird sich in der Gesellschaft von morgen die Schule von heute spiegeln« und räumte damit gleichzeitig seinen eigenen Anspruch zur Bestimmung der gesellschaftlichen Struktur ein (Bildungspolitik für die Zukunft – Thesen und Taten, S. 24). Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Felix von Cube, Der sogenannte Pluralismus in der Didaktik, S. 69: »Der sogenannte geisteswissenschaftliche Ansatz bezieht sich aber auch gar nicht – ebenso wenig wie der marxistische – auf eine wissenschaftliche Methode; diese Ansätze sind vielmehr durch eine inhaltliche Festlegung der Lernziele gekennzeichnet und durch den Versuch, die damit verbundenen politischen und moralischen Ansprüche zu rechtfertigen. Zu diesem Zwecke werden Begriffe wie ›objektiver Geist‹, ›Bildung‹, ›Vernunft‹, ›Emanzipation‹, ›historisches Gesetz‹, ›objektives Interesse‹ u. a. verwendet.« Für Hans Maier füllten Herbert Marcuse und die »militanten Marxisten« eine Lücke, die die Pädagogik gelassen habe, Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 32f. 1169 Vgl. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 5–7.
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um »Affektive Lernziele«1170. Diese waren genauso wie gegenständliche Lernziele zu planen: »Schließlich sind Einstellungsänderungen methodisch durchaus planbar und erreichbar. Gerade die Gruppenpädagogik bietet dem Lehrer ein reiches Repertoire von Methoden zur schrittweisen Erreichung affektiver Lernziele an. Freilich haben viele Lehrer davon noch zu wenig Kenntnis und kaum eigene Erfahrungen im verantwortungsbewussten Umgang damit. Der Lehrerfortbildung fallen in diesem Bereich wichtige Aufgaben zu.«1171 Erziehung hieß allerdings in diesem Falle, wenn die gezielte Entwicklung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale antizipiert wurde, Erziehung zur (freiwilligen) Konformität, die sich dezidiert von einem durch Zwang begründeten Konformismus abgrenzte1172. Wie austauschbar der Widerstand zum einen mit der Anpassung ans andere war und andersherum, wird deutlich, wenn es hieß: »Wo Erziehung ›Anpassung‹ meint, muss sie meinen: ›Anpassung‹ an die unverzichtbaren Normen der öffentlichen Wurzel von Freiheit, d. h. Erziehung zum ›Esprit des Lois‹ verfasster Freiheit; das ist zugleich Erziehung zum Widerstand gegen die unverfasste, gestaltlose, chaotische Form der Freiheit. Wo Erziehung ›Widerstand‹ meint, muss sie meinen: rechtgemäßen ›Widerstand‹ zugunsten der unverzichtbaren Normen der persönlichen Wurzel von Freiheit, denn das ist wiederum Erziehung zum ›Esprit des Lois‹ verfasster Freiheit.«1173 Der Einzelne sollte ideal erzogen werden, die Notwendigkeit von Veränderung und Anpassung nach gegebenen Werten beurteilen zu können; die Anpassung des Schülers an die gegebenen Verhältnisse war also kein aktiver Prozess der Schule, sondern erwartete Folge der in der Schule vermittelten Einsicht in die als richtig angenommenen Werte1174 ; und auch hier findet sich ein Spiegelbild zur gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption, in der die Auffassung vertreten wurde, die eigenen Ansichten müssten als richtig erkannt werden, würden negative äußere Einflüsse eliminiert. Die Vorstellung des Machbaren war hingegen geringer ausgeprägt. Erziehung könne »Einsicht und ihre Erfüllung in Rede, Werk und Tag« lediglich ermöglichen, »die Einsicht selbst und ihren Gedankengang kann Erziehung nicht ›beibringen‹«1175. In der beschriebenen Auffassung von Pädagogik spielte der Lehrer mit seiner ganzen Persönlichkeit eine viel größere Rolle als in den anderen Diskursformationen, für die die Strukturen im Vordergrund standen. Für den Lehrer war mehr vorgesehen als nur die Erfüllung einer Funktion innerhalb des Bildungs1170 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 130f. 1171 Ebd., S. 133. 1172 Gerade gegen Konformismus verwehrt sich Ballauff, Schule der Zukunft, S. 20f, wenn er die Planung der Schule nach gesellschaftlichen Bedarfen kritisiert. 1173 Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 109. 1174 Vgl. Ballauff, Schule der Zukunft, S. 30. 1175 Ballauff, Philosophische Begründung der Pädagogik, S. 235.
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systems, er war als direkter Bezugspunkt der Schüler gerade in der Vermittlung affektiver Lernziele Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts. Seine Persönlichkeit und Menschlichkeit, ein »pädagogischer Eros«, waren für diesen Beruf die wichtigsten Eigenschaften – der Lehrer sollte wieder Erzieher werden1176. Nur in der »personalen Begegnung« lag die Möglichkeit, auch Gehalte affektiver Natur zu vermitteln. Die Notwendigkeit der Vorbildfunktion des Lehrers leitete sich gerade aus der Entwicklung der Schüler, nämlich der Pubertät, ab. Der Lehrer musste Vorbild sein und durch die eigene Persönlichkeit Schüler motivieren können, »weil immer noch die Begegnung mit dem anspruchsvollen Meister eines Faches die Ursituation darstellt, in der geistiges Leben, kulturelle Pubertät erweckt und gestiftet wird: im persönlichen Miteinbezogensein des Schülers in die Geburt geistiger Einsichten ereignet sich so etwas wie ein neuer Durchbruch: die zweite Geburt des geistigen Menschen in der Pubertät. Das geistige Leben in der Schule kann zu einer Welt werden, in der sich diese Geburt für immer mehr Jugendliche vollzieht; es ist die entscheidendste erzieherische Hilfe, die er in der Reifezeit erfahren kann.«1177 Die erzieherische Betätigung des Lehrers erforderte vor allem Autorität. Jedoch schienen angesichts der aktuell gesellschaftlichen Veränderungen sowohl die gesellschaftlich bestimmte Autorität von Erwachsenen gegenüber Jugendlichen als auch deren institutionalisierte Form der Autorität des Lehrers gegenüber dem Zögling zu schwinden und auch nicht wieder aufzurichten zu sein1178. Es könne also nur aus einem Wertekonsens Autorität erwachsen, die für diese Werte gelte und sich dann auf die sie vertretenden Person erstrecke: »Wir müssen endlich einsehen, dass wir früh beginnen sollten, für das Zusammenleben und Zusammenarbeiten in mitmenschlicher Verantwortung zu erziehen. Das ist als Ziel und Mittel der einzige Weg zur Wiedergewinnung einer neuen, für alle (auch Lehrer und Schüler) verbindlichen Autorität. Das ist nicht Vorletztes, wie uns ein schon verirrter idealistischer Humanismus, der den einzelnen oder die Sache höher schätzte, weismachen wollte, sondern Letztverbindliches und entspricht sowohl unserer eigentlichen Natur als auch dem vornehmsten Gebot, das uns gegeben wurde.«1179
1176 1177 1178 1179
Braun, Bildung durch Erziehung, S. 27. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 35. Ebd., S. 164f. Ebd., S. 171. Weiter : »Diese Letzte zur verbindlichen Autorität in allen pädagogischen Bezügen zu machen (zwischen Lehrern und Schülern, im Verhältnis beider zum Kulturgut, in der Lebensordnung zwischen Schülern und Schülern, Lehrern und Lehrern), ist die sittliche Chance, die die neue Schule zu erkennen begonnen hat. Dieser Autorität sich in jeder erzieherischen Situation verpflichtet zu wissen und auf sie jeden an der Erziehung Beteiligten zu verpflichten, ist der neuen Erziehung eine absolute Forderung.«
Die werterzieherische Diskursformation
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Verbindliche Strukturen für verbindliche Werte Verbindliche gemeinsame Werte mussten sich in einem verbindlichen Bildungssystem wiederfinden, das keine zu große Vielfalt zuließ. »Integrationsformen und größere schulische Einheiten machen das Bildungsangebot immer reichhaltiger, aber auch weniger übersichtlich. Nach meiner Überzeugung muss es Aufgabe der staatlichen Schulaufsicht sein, dieser begrüßenswerten Differenzierung und Individualisierung, dieser Aufsplitterung des Curriculum entgegenzusteuern dadurch, dass ein allen gemeinsamer, umfassender Bildungskern weiterhin als Zielvorstellung sichtbar bleibt. Nicht einem Supermarkt sollte das Schulsystem gleichen, sondern eher einem Fachgeschäft, das in überlegter Auswahl Waren höchster Qualität anbietet.«1180 Im Idealfall gebe es neben dem Gymnasium nur noch eine einheitlich konzipierte »höhere und weiterführende Schule für alle« im Anschluss an die Volksschule statt Mittel- oder Realschulen und der verschiedenen Wege der Berufsbildung1181. Diese Idee variierte in der Stärke der geforderten Differenzierung. Ein zwei- bis mehrgliedriges Schulsystem wurde diskutiert, allerdings galten jeweils folgende Parameter : gleiche, gesellschaftlich orientierte Maßstäbe für gute Bildung und eine differenzierte, aber nicht individualisierte, politisch vorgegebene Struktur : »Wesentlich für die Wirksamkeit der Bildungsgänge und die Durchlässigkeit der verschiedenen Schullaufbahnen sind die Überprüfung und Neubestimmung der Lerninhalte und die klare Definition der Abschlüsse, Berechtigungen und Ansprüche der einzelnen Schullaufbahnen.«1182 Problematisch schien das traditionelle Bildungssystem auch dahingehend, dass es strukturell gar nicht auf die erörterte erzieherische Funktion ausgerichtet war. Gab es in anderen Ländern längst die Ganztagsschule, beschränkte sich das Schulwesen in Deutschland auf einen kleinen Teil des Tages und währenddessen größtenteils auf inhaltsbezogenen Unterricht. Gemeinsame Mahlzeiten, Freizeitgestaltung oder anderes extracurriculares Leben standen nicht auf dem Plan, stattdessen wurde »die freie Zeit auf der Straße oder zu Hause verbracht […] und zu Hause auch die Schulaufgaben gemacht«1183. Auch die achtund selbst die neunjährige Volksschule waren in dieser Hinsicht ein Ärgernis, beschnitt sie doch noch innerhalb der Pubertät die Einflussmöglichkeit der Schule. War zumindest die Erweiterung der Schulzeit auf zehn Jahre eine gerne vertretene Forderung1184, ist trotz aller missfälligen Töne gegenüber den un-
1180 1181 1182 1183 1184
Westphalen, Bildung und Erziehung, S. 69. Vgl. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 66f. Vogel, Stand und Weiterentwicklung des Schulwesens in Rheinland-Pfalz, S. 4. Vgl. Roth, Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, S. 157. Vgl. ebd., S. 160ff.
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Erster Hauptteil: Konzeptionen von Bildung – die Diskursformationen
kalkulierbaren Einflüssen außerhalb des Schultages die Forderung nach dessen Ausweitung auf den Nachmittag in den Quellen nicht belegbar. Als Funktion der Gesellschaft konnte das Bildungswesen auch strukturell nicht unabhängig von der Politik sein, in der Diskursformation war eine stärkere Eigenständigkeit der Bildungseinrichtungen nicht vorgesehen: »Katastrophal wäre es, der Autonomie der Schule im Sinne jeweils eigener Lehrpläne, Unterrichtsziele, Lehrbücher das Wort zu reden. Die Wahrung von Chancengerechtigkeit bedeutet für uns in der Bildung: soviel staatliche Koordination und Aufsicht wie nötig; soviel Raum für Eigeninitiative und eigene Gestaltung wie möglich.« Hier findet sich die Vorstellung des formierten Pluralismus wieder, der Wahlmöglichkeiten innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Ähnliches galt für den Gesellschafts- beziehungsweise Politikbezug der Hochschule. Dieser sollte ihre weitgehende Autonomie genommen werden. Der Elfenbeinturm galt nicht mehr als zeitgemäß. Der Staat sollte Sorge dafür tragen, dass es universitäre Forschung und entsprechende wissenschaftliche Bildung mit Abstand, aber nicht frei von akuten gesellschaftlichen und materiellen Zwängen gebe1185. Dass die besondere Integration des späteren Berufs als entscheidendes Identifikationsmerkmal und sozialer Ort des Einzelnen in die bildungspolitischen Überlegungen ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der werterzieherischen Diskursformation war, ist bereits angeklungen. Das übertrug sich auch auf struktureller Ebene in die besondere Achtung der beruflichen Bildung und damit einhergehend große Skepsis gegenüber einer größeren Allgemeinbildung für die breite Masse: »Die Bildungsexpansion hat im Grunde nur die Idee Humboldt’scher allgemeiner Bildung sozialisiert, ohne die Minderbewertung beruflicher Bildung aufzuheben.«1186 Dem Anstieg von Abiturienten- und Studentenzahlen stand man entsprechend ablehnend gegenüber : »Eine Bildung ohne soziale und berufliche Dimension ist ein Traum und nicht einmal ein schöner. Wo diese Dimension fehlt, wird im Grunde stets – unter welchen fortschrittlichen Vokabeln immer – nur die traditionelle Akademikerherrschaft verteidigt. Lassen wir uns hier nicht durch populäre Emanzipations- und Mündigkeitsphilosophien täuschen.«1187
1185 Vgl. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldt’schen Universität, S. 21. 1186 Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, S. 13. 1187 Maier, Das berufliche Schulwesen, S. 123.
3.
Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern
Im ersten Teil dieser Arbeit wurde betrachtet, wie sich der Diskurs zu Bildung im politischen Kontext innerhalb einer interessierten Teilöffentlichkeit strukturierte. Die für die Ausgestaltung des Bildungswesens Verantwortlichen in Politik und Verwaltung waren einerseits Teil dieser interessierten Teilöffentlichkeit, hatten andererseits aber auch die Aufgabe, den Diskurs in politisches Handeln zu übersetzen. Die Begründungszusammenhänge für die jeweiligen von ihnen verantworteten Politiken sollen im nun folgenden zweiten Hauptteil dieser Studie am Beispiel der wichtigsten bildungspolitischen Themen im Betrachtungszeitraum in den Ländern Hessen und Bayern daraufhin untersucht werden, welche Diskursformationen ihnen zugrunde lagen, wie sich die Begründungszusammenhänge veränderten, und in begrenztem Maße, welche Bedingungen außerhalb des Diskurses zur Bildungspolitik Einfluss hatten.
3.1. Das Beispiel Hessen Als 1974 der hessische Kultusminister Ludwig von Friedeburg seinen Stuhl räumte, waren keine zehn Jahre vergangen, in denen sich unter ihm und seinem Vorgänger Ernst Schütte die Bildungspolitik vom Anspruch einer moderaten Landschulreform über den Versuch einer kompletten Umwälzung des gesamten Bildungswesens bis zur Bewältigung einer aus den Fugen geratenen inneren und äußeren Schulreform, die an ihrem eigenen Anspruch, an der öffentlichen Kritik, an den Realitäten in den Institutionen und den Bedingungen politischen Handelns zu scheitern drohte. Stand am Anfang die Hoffnung, stand am Ende die Rechtfertigung. Wurden zunächst noch hehre Pläne geschmiedet, stand alsbald nur noch Konsolidierung auf dem Plan. In diesem Kapitel wird die Bildungspolitik der hessischen Landesregierung zwischen 1963 und 1973 untersucht. Dazu wird nicht chronologisch nachgezeichnet, wann welche Entscheidung getroffen wurde; auf formale Zäsuren wie die Verabschiedung bestimmter Gesetze und Ähnliches wird nur am Rande
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Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern
eingegangen. Vielmehr stehen die Begründungszusammenhänge der jeweiligen Bildungspolitik im Zentrum der Analyse. Die Quellenlage zu diesem Gegenstand ist überaus umfangreich, maßgeblich erhalten in den Akten des hessischen Kultusministeriums im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Einer auf starke Veränderungen abzielenden Politik ist ohnehin eine intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand in Sitzungen, Strategiepapieren und über die legislativen Prozesse zu eigen. Dieser Effekt multiplizierte sich beim Thema Gesamtschule und dann insbesondere in der Curriculumentwicklung noch dadurch, dass über einen partizipativen Ansatz eine große Zahl von Menschen in den politischen Prozess integriert und darüber hinaus als Beitrag zur gewünschten Transparenz auch alles festgehalten und vieles – zumindest in Form ›grauer Literatur‹ – gedruckt wurde. Die zahlreichen Tagungen beinhalteten zumeist – ganz unabhängig vom nicht selten sehr spezifischen Thema – neben für diese Untersuchung weniger relevanten pädagogischen Beiträgen auch die Gedanken politisch Verantwortlicher sowie wissenschaftliche Grundsatzreferate. Genaue Grenzen zu ziehen, welche Quellen den politischen Prozess zu beeinflussen geeignet waren und welche nicht, ist nicht möglich; hier soll daher versucht werden, die allgemeinen Tendenzen, die sich in den Quellen finden, möglichst konkret wiederzugeben und das Gesamtbild der Entwicklungen, ihrer jeweiligen Begründungszusammenhänge und deren Veränderungen darzustellen.
Die Vorbedingungen hessischer Bildungspolitik Die Bedingungen hessischer Bildungspolitik waren geprägt von den Spezifika der Landesverfassung und der Kontinuität der Regierung. Seit 1945 war das Land unter sozialdemokratischer Führung, und schon die Landesverfassung war unter dieser Prägung entstanden. Die hessische Regierung wähnte sich seither in einer bildungspolitischen Vorreiterrolle. Kultusminister Schütte schrieb: »Schwer zu sagen, warum die Kulturpolitik des Landes Hessen seit 1945 ein besonderes Interesse in der Bundesrepublik und darüber hinaus erregt hat – die Tatsache ist nicht zu leugnen. Vielleicht hat schon die Verfassung von Anbeginn wegweisend und anregend gewirkt. Gewiss nicht zufällig stehen die acht Artikel über Erziehung und Schule im Zentrum der hessischen Verfassung.« Die angesprochenen Artikel legten insbesondere fest, dass Kinder nicht nach Konfessionen getrennt unterrichtet würden, dass kein Schulgeld zu bezahlen sei, und bestimmten sogar eine allgemeine Lehrmittelfreiheit. Das war für Schütte aber nur die Grundlage: »Ohne Zweifel sind die Erfolge des hessischen Schulwesens aber zuerst und vor allem einer von schulreformerischen Ideen inspirierten Po-
Das Beispiel Hessen
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litik zu verdanken«1188, lobte er sich selbst. Die Zahlen schienen ihm dabei Recht zu geben. Die Abiturientenquote wurde nur in West-Berlin übertroffen, auch die Zahl der Schüler auf höheren Schulen lag 1965 mehr als 50 % oberhalb des Bundesdurchschnitts1189. Bereits in den 50er Jahren hatte die hessische Regierung eine Landschulreform entwickelt, die durch die Konzentration der Volksschüler in sogenannten Mittelpunktschulen, zu denen sie auf Kosten des Landes mit Bussen befördert wurden, die schulischen Bedingungen zwischen Stadt und Land angleichen sollte. Auch der Zugang zu oftmals direkt angeschlossenen Realschulen wurde so bereits frühzeitig gefördert. Bis zur Mitte der sechziger Jahre war die Landschulreform in ihrem ursprünglichen Bestreben weitgehend abgeschlossen – 1966 besuchten nur noch 2,7 % der Volksschüler eine einklassige Schule. Im selben Jahr war auch das 9. Schuljahr bereits im ganzen Land eingeführt1190.
Bildungsplanung in Hessen In dieser Zeit wandelte sich auch die Art und Weise, Bildungspolitik zu machen, immens. Zuvor war Bildungspolitik nicht nur, wie bereits beschrieben, integraler Teil der Kulturpolitik. Bildungspolitik – oder eher ›Schulpolitik‹ – wurde fast ausschließlich reaktiv als Antwort auf aktuelle Erfordernisse betrieben. Schulen wurden eingerichtet, wo Schulen gebraucht wurden; Bildungspläne wurden stetig an veränderte Bedingungen angepasst, und Reformen wurden in Angriff genommen, die im Vergleich zu dem, was wenig später kam, fast nicht mehr als solche bezeichnet werden können. Selbst Ministerpräsident Zinn meinte im Nachgang, sein Bekenntnis von 1958, »jedem Kind nach Anlage und Leistungsvermögen den richtigen, also den zur bestmöglichen Entfaltung führenden Bildungsweg zu öffnen«, sei nicht mehr als »die Feststellung unabdingbarer Notwendigkeiten« gewesen. Kultusminister Ernst Schütte begann seine Amtszeit 1959 mit einem allgemeinen Verweis auf den »Doppelauftrag« der Schule. Sie diene einerseits zwar »für Staat, Gesellschaft, für die Kultur der Gegenwart«, wolle andererseits aber auch »jedem einzelnen Menschen Wege und Möglichkeiten der Bildung […] öffnen, das heißt zum eigenen Menschsein […] verhelfen.« Von diesem Doppelauftrag wurde zunächst vor allem der gesellschaftliche Aspekt angegangen: »Die Schule bildet die Menschen heran, die die Zeit braucht.« Die andere Seite, der »Raum, in dem der Grund gelegt wird, was 1188 Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9. 1189 HHStAW 504/810, Schütte, Ernst, »Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen«, Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9. 1190 Führ, Schulpolitik in Hessen, S. 223.
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Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern
den Einzelnen zu sich kommen lässt«1191, hingegen verlor vorübergehend an Bedeutung.
Der Große Hessenplan: Bedarfsplanung in Reinform Denn 1965 präsentierte die Landesregierung ihren Großen Hessenplan1192. Sie entwickelte das beispiellose Vorhaben, ihr gesamtes politisches Programm in einen Zehnjahresplan zu fassen, dessen Gesamtkonzeption jeder andere Politikbereich unterzuordnen war und der von Ministerpräsident Zinn so eingeleitet wurde: »In einer Zeit großräumiger und langfristiger Planung auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet muss auch die Politik großräumiger und langfristiger werden, um die Aufgaben der Zukunft schneller und besser durchführen zu können.« Eine »umfassende Programmierung seiner Zukunftsaufgaben« wollte Hessen darin vornehmen, »um auf wissenschaftlicher Grundlage die Entwicklung des Landes für einen längeren Zeitraum mit bestimmen und beeinflussen zu können.«1193 Geplant wurde im Großen Hessenplan nahezu alles: die wirtschaftliche Entwicklung ohnehin, aber gleichermaßen die Sozialpolitik, die Kulturpolitik und – damals noch in Letzterer enthalten – die Bildungspolitik. In der Planung vorgesehen waren unter anderem die Zahl zu errichtender Wohnungen, Bürgerhäuser und Mehrzweckhallen, die benötigten Kinderkrippenplätze, Hallenbäder, Altenheime und Krankenhausbetten. In der Wirtschaft wurden »mit öffentlicher Förderung neu zu schaffende gewerbliche Arbeitsplätze«, Althofsanierungen oder »mit Beregnungsanlagen versehene landwirtschaftliche Flächen«, für die Infrastruktur Verkehrswege zu Land und zu Wasser oder Ortsdurchfahrten haarklein geplant – sowie das Schulwesen1194. Das alles stand in einem einzigen großen und zumindest theoretisch ineinandergreifenden Plan1195. Zur Durchführung waren maßgeblich finanzielle Mittel vorgesehen. Es ging um Investitionen, Kosten, Kostenverteilung, Schulden und Refinanzierung. Ziel der Planung war die ökonomische Stabilität, die durch »Disproportionalitäten bei ungenügend arbeitender Selbststeuerung der Wirtschaft« gefährdet sei Zinn, Für Ernst Schütte zum 65. Geburtstag, S. 2. Hessische Staatskanzlei, Großer Hessenplan. Zinn, Hessenplan, S. 5. Zur Bildungsplanung unter Aspekten der Raumordnungsplanung vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung. 1195 Zwar gab es Planungsaktivitäten in Hessen bereits seit den frühen fünfziger Jahren und sie waren ein zentrales Element des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Auch in Einzelpläne zu Gesundheit, Raumplanung und ähnlichem wurde schon vorher Politik planerisch erfasst. Allerdings sind diese Aktivitäten nicht vergleichbar zum Großen Hessenplan. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 31f. 1191 1192 1193 1194
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und nur durch staatliche Eingriffe gewährleistet werden könne1196. Abgeleitet wurde dieser Anspruch aus einer kapitalismuskritischen Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft und ihres historischen Hintergrundes. Der »Staat des Frühliberalismus […] im vorigen Jahrhundert« habe sich nur als »Nachtwächterstaat« betätigt, der die öffentliche Sicherheit gewährleistet habe. Dabei habe er einerseits als »Folgen eines schrankenlosen ›Laissez faire, Laissez aller‹« solche Probleme wie »Verkehrschaos, die verschmutzten Flüsse, die Dunstglocke über den Städten« zu verantworten. Darüber hinaus wüchsen aktuell die »Bedürfnisse kollektiver Art, [die] sogenannten ›Gemeinschaftsaufgaben‹« wie Infrastruktur, Gesundheitswesen, aber auch das Bildungswesen und führten notwendig »zu einer kontinuierlichen und weitgehend unvermeidlichen Erweiterung der Staatstätigkeit«1197. Freilich wollte sich die hessische Landesregierung nicht dem Verdacht aussetzen, dabei an die »staatliche Zwangswirtschaft« des DDR-Sozialismus gedacht zu haben. »Einzig dem freien Bürger« solle die Planung dienen, nur »helfen, unter den Bedingungen einer freien Gesellschafts- und Staatsordnung die großen Gemeinschaftsaufgaben unseres Volkes zu lösen«1198. Für die Planungen im Großen Hessenplan wurden keine großen Datensätze erhoben, man griff lediglich auf die ohnehin erhobenen demographischen Daten zurück. Dass dadurch der theoretische Anspruch einer wissenschaftlichen Planung unzureichend verwirklicht wurde, war auch für die Landesregierung klar. Es gehe »im Augenblick nur darum, zu Methoden und Unterlagen zu gelangen, die es ermöglichen, eine größere Sicherheit bei der Beurteilung der Entscheidungsvorbereitung zu gewinnen.«1199 Auf die Errichtung einer großen Planungsbehörde wurde verzichtet, die Planung lief über die Ministerien und das statistische Landesamt, die Koordination erfolgte in einem der Staatskanzlei zugeordneten Planungsausschuss1200. Ohnehin verlief Planung nicht wie in der Theorie vorgesehen auf übergeordneter Ebene, um sich nach unten hin zu diversifizieren, sondern umgekehrt als zentrale Sammlung einzelner Ansprüche. Jedes Ressort reichte seine angedachten Projekte ein, welche dann zentral zu einem Plan zusammengeführt
1196 1197 1198 1199
Zinn, Hessenplan, S. 9–11. HHStAW 502/685, Zinn: Betrachtungen zum Großen Hessenplan, S. 1f. HHStAW 502/4786b, Zinn, Georg-August, Betrachtungen zum Hessenplan, S. 4. HHStAW 502/755, Staatssekretär Willi Birkelbach, Protokoll der 13. Sitzung des Arbeitsausschusses ›Der Große Hessenplan‹, 13. 09. 1965, S. 11. 1200 In einer entsprechenden Forschungsarbeit wird diese Form der Planung typisiert als »indikative Planung, die Orientierungsdaten setzt und eine allgemeine Kursbestimmung der bildungspolitischen Entwicklung gibt. Im Gegensatz zum Raumordnungsprogramm ist die Bildungsplanung keine vollzugsverbindliche Planung, sie hat keine Gesetzeskraft.« Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 32.
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Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern
wurden1201. Zwar entsprang die Planungseuphorie der Vorstellung, durch die wissenschaftliche Analyse riesiger Datenmengen in übergreifend agierenden Institutionen Gegenwart, Zukunft und Entwicklung genau zu erfassen und in der Folge zu steuern; und aus dieser Idee begründete sich letztlich auch der Große Hessenplan. Dieser beschrieb allerdings etwas ganz anderes, nämlich Vorhaben, die nicht weniger freihändig waren als zuvor und mit dem Ideal der Planung nicht mehr als den Namen teilten. Davon unbeschadet behandelten alle den Plan als großen Wurf. »Der Große Hessenplan ist, soweit bekannt, der erste Versuch einer sehr langfristigen Programmierung öffentlicher Investitionen, und zwar sowohl nach den zu realisierenden Objekten als auch deren Finanzierung.«1202 Die Staatskanzlei wusste von Anfang an, dass der Große Hessenplan eine gute Öffentlichkeitsarbeit benötigen werde, dazu in seiner inhaltlichen Kohärenz und griffigen Form aber auch geeignet war. Zur »Popularisierung des Planes« sollte »von Anfang an versucht werden, bestimmte Schlagworte und Slogans zu prägen, die durch ihre ständige Wiederholung zur Popularisierung des Planes beitragen. Diese Schlagworte und Slogans können sich sowohl auf die angestrebten Zielvorstellungen beziehen, wie auf die Idee des Planes oder auf einzelne Teilabschnitte.« Unter den Beispielen wurde besonders auf den Bildungsbereich eingegangen: »Eine bessere Schulbildung der Jugend von heute ist die Voraussetzung zu einer weiteren Verbesserung der Lebensbedingungen von morgen. Bessere Schulen bedeuten: Größere Aufstiegschancen für den einzelnen und qualifizierte Mitarbeiter für alle Bereiche der Wirtschaft.«1203 Schon in der Anlage des Plans war seine kommunikative Wirkung von Bedeutung: »Der Große Hessenplan ist als Orientierungsfeld, als Orientierungsrahmen zu begreifen. Er soll das Auseinanderlaufen der öffentlichen Diskussion verhindern, sie immer wieder in ein bestimmtes Feld hineinführen«, hieß es in einer Besprechung zum Thema Öffentlichkeitsarbeit und weiterhin: »Grundtendenz der Interpretation ist: Die Landesregierung hat in Hessen immer eine konsequente Politik verfolgt. Diese Politik hat eine Linie, sie hat im Großen Hessenplan ihren direktesten Ausdruck gefunden. Der Gedanke der Mobilisierung von Reserven, der Förderung des Wachstums durch eine systematische Investitionspolitik ist der vorherrschende Gedanke.« – Dieser sehr ökonomische Gedanke war somit auch Prämisse der Bildungspolitik1204. Solche sich um den Gedanken der Planung drehenden Ideen sind der Kontext, in dem fortan Bildungspolitik betrieben wurde. Sie war somit fortan Teil einer 1201 HHStAW 502/685 Schütte an Zinn vom 16. 12. 1963 (Eingabe aus dem Kultusministerium zum Großen Hessenplan). 1202 HHStAW 502/685, Zinn: Betrachtungen zum Großen Hessenplan, S. 6. 1203 HHStAW 502/4786b, Dokument ohne Titel, zu Kommunikationsaspekten bzgl. Großer Hessenplan. 1204 HHStAW 502/4786b, Ergebnis der Besprechung ›Öffentlichkeitsarbeit‹ am 17. 2. 1966.
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Gesamtplanung mit stark ökonomischer Komponente: »Voraussetzung aller Pläne der Kulturpolitik ist die Tatsache, dass in unserer wissenschaftlich-technisch verfassten Welt die Leistungen der Bildungsorgane für den Zustand des Staates und der Gesellschaft immer wichtiger werden. Längst gibt es die unaufhebbare Einheit dreier Faktoren: der Qualität der Produktion; der Höhe des Einkommens, also des Lebensstandards; – und der Bildung. Der Bildungsstand eines Volkes und sein wirtschaftlicher, sozialer, geistiger, politischer Zustand sind voneinander abhängige Größen geworden.«1205 Um diese Aussage zu untermauern, wurden konkrete Zahlen genannt: Das Bruttosozialprodukt sollte von 1964 bis 1974 um 63 % steigen, was eine entsprechende Steigerung der »Qualität des Produktionsfaktors Arbeit, also der menschlichen ökonomisch-technischen Potenzen«, erforderte1206. In diesen Schlussworten seiner Erörterung kulturpolitischer Vorhaben innerhalb des Großen Hessenplans bedient Kultusminister Schütte zentrale Elemente der Bedarfskonzeption. Auch findet sich in der Formulierung der »Verwirklichung einer […] Prognose« der oben aufgezeigte Widerspruch zwischen Prognose und Planung1207; die Argumentation innerhalb eines geschlossenen sozioökonomische Systems ohne eine höhere, von expliziten Maximen deduzierte Zielsetzung entstammt dem funktionalistischen Charakter der Konzeption und der Hinweis auf die »menschlichen ökonomisch-technischen Potenzen« entspricht der Charakterisierung von Bildung als Investition in Humankapital. Auch den Protokollen zur Vorbereitung des Großen Hessenplans sind keine anderweitigen Argumente zu entnehmen als dass »die Vertiefung der Ausbildung […] zweifelsohne eine rentierliche Investition« für die »Erhöhung des Sozialprodukts« sei1208. Es scheint, als habe die Regierung sich ganz bewusst für den technokratischen Charakter seiner Publikationen entschieden, für die Orientierung der Begründungen an Stabilität und Funktionalität für das System. Schloss ein erster Entwurf von Ministerpräsident Zinn zum Vorwort der »Bemerkungen zum Großen Hessenplan« noch mit der persönlichen Beteuerung: »Ich glaube, dass wir damit der Freiheit des einzelnen und einer freiheitlichen Grundordnung, die uns ja alle am Herzen liegen, am besten dienen«1209, ist in der überarbeiteten Fassung an dieser Stelle nur noch die Sprache von einem »Instrument für eine weitsichtige und fortschrittliche Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. […] Wir glauben aber, dadurch unserem Lande einen großen
Schütte, Kulturpolitik in Hessen, Vorwort. Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 132f. S. o. S. 177. Kulturstaatssekretär Müller. In: HHStAW 502/755, Protokoll der 9. Sitzung des Arbeitsausschusses ›Der Große Hessenplan‹, 13. 01. 1965, S. 5. 1209 HHStAW 502/685, Entwurf (1), »Bemerkungen zum Großen Hessenplan«, S. 7. 1205 1206 1207 1208
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Dienst zu erweisen.«1210 Der Dienst an »der Freiheit des einzelnen und einer freiheitlichen Grundordnung« wurde also gestrichen und durch den Dienst am Land ersetzt. Noch deutlicher wird die Unterordnung des Einzelnen unter die Gesellschaft in der Begründung im Großen Hessenplan für ein stärkeres Engagement in der Bildungspolitik: »Wegen der entscheidenden Bedeutung, die der Bildung des Menschen für die Entfaltung und Fortentwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche zukommt, gehört es daher zu den zentralen Zielen des Großen Hessenplans, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit aller Bildungseinrichtungen entscheidend zu verbessern und die Begabungsreserven noch stärker als bisher zu erschließen.«1211 Auch hier wird der Mensch ohne Einschränkung als Funktion seiner Gesellschaft gesehen. Eine individualrechtliche Komponente kommt nicht vor, nicht einmal der Verweis auf eine aktive Veränderung der Gesellschaft, es geht ausschließlich um Anpassungsprozesse im Dienste der Stabilität. Der klassische Bildungsgedanke findet lediglich einmal Erwähnung: Kultusminister Schütte erinnerte in einem Vorwort daran, den »alten Auftrag der Bildungsorgane aller Ebenen nicht zu vergessen: Die Bildung des mündigen Bürgers in einer freien Gesellschaft.«1212 Ohne dass daraus irgendwelche Schlüsse gezogen werden, ohne dass dieser Gedanke an anderer Stelle noch konkretisiert wurde, bleibt diese Aussage ein Gemeinplatz. Bildungsplanung bedeutete zu dieser Zeit die Planung von Bildungsstrukturen. Inhaltliche Fragen wurden in der Bildungsplanung des Landes Hessen zunächst noch kaum behandelt. Die alten Bildungspläne von 1956/57 waren, von »praktischen oder verwaltenden Pädagogen gemacht«, in jener Form konzipiert, dass »Schule als eine Institution sui generis von der Gesellschaft, vom Leben isoliert«1213 betrachtet wurde und sich vor allem am der Schule traditionell eigenen Kulturgut und nicht an extern gesetzten Zielen orientierte. Dieser gesetzliche Rahmen war im Grunde so selbstverständlich und lose, dass er nur die Realität in den Schulen notierte, statt sie zu gestalten oder gar zu verändern. Beim Aufschreiben bestimmter Inhalte hatte man sich zwar nicht zurückgenommen, sie waren allerdings nicht verbindlich, und ihnen wurde darüber hinaus die »Freiheit des Lehrers« an die Seite gestellt, »aus den von den Bildungsplänen empfohlenen [sic] Stoffen und Maßnahmen jene auszuwählen, die
1210 HHStAW 502/685, Entwurf (2) , »Bemerkungen zum Großen Hessenplan«, 16. 12. 1964, S. 8. 1211 Zinn, Hessenplan, S. 36. 1212 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, Vorwort. 1213 Lemberg, Eugen, Zum bildungstheoretischen Ansatz der hessischen Bildungspläne 1956/ 57, S. 6.
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er als wesentlich ansähe.«1214 Über einen Vorschlagscharakter kamen sie im Grunde nicht hinaus. Daran rüttelte auch der Hessenplan noch nicht. Die Eingliederung der Bildungsplanung in einen letztendlich nur als Investitionsplan daherkommenden Gesamtplan war einer breiten politischen Auseinandersetzung über die inhaltliche Seite der Bildung nicht zuträglich, es ging fast ausschließlich um Handfestes, nämlich die Errichtung von Schulgebäuden. Der Schulbau wurde einerseits behandelt wie der Straßenbau: als Infrastrukturmaßnahme1215 ; andererseits gibt dieser Teil des Hessenplans einen ersten Aufschluss über die inhaltlichen Vorstellungen der Landesregierung. Die erkannten Herausforderungen durch die »zunehmende Technisierung und die vordringende Automation« führten zunächst unter der Überschrift des Schulbaus zu der Aussage: »Mehr als in früheren Zeiten muss man schon im Kind die geistigen und seelischen Kräfte durch Erziehung und Bildung entfalten, um den Menschen zu befähigen, sein Dasein zu bewältigen. Dazu jedoch bedarf es einer Neugestaltung der Schule in ihrer inneren Struktur und in ihrer äußeren Gestalt.«1216 Wohlgemerkt werden hier zwar die »innere Struktur«, nicht aber werden Bildungsziele oder -inhalte erwähnt. Programmierter Unterricht So wurde auch die Didaktik nicht angesprochen, die in der ersten Eingabe zum Hessenplan aus dem Kultusministerium 1963 noch von Bedeutung war – Kultusminister Schütte hatte darin eingängig die Vorzüge von »Programmiertem Unterricht, Lehrmaschinen und Sprachlaboren«1217 thematisiert. Programmierter Unterricht zielte auf die Optimierung des Lernprozesses nach der individuellen Kapazität jedes Einzelnen ab, versprach also einen möglichst großen Lerneffekt. Ab 1963 tauschte sich das Kultusministerium zu diesem Thema mit Schulbuch- und wissenschaftlichen Verlagen aus, Hersteller von Lehrmaschinen oder 1214 Ebd., S. 22. Weiter : »Daher, aber auch, weil es nicht möglich war, von den Fachleutekommissionen eine freiwillige Beschränkung ihrer Stoffanforderungen zu erwarten, haben die Bildungspläne sowohl auf die Abgrenzung eines verbindlichen Mindestkanons an Stoffen als auch auf eine durchgreifende Reduzierung der Stoffe verzichtet und beides der freien Entscheidung und Auswahl des Lehrers überlassen.« 1215 An vielen Stellen finden sich Aufzählungen, die diesen Blick auf das Bildungswesen mehr als nahe legen: »Gemeinschaftsaufgaben – zum Beispiel auf dem Gebiet des Schulwesens, der Förderung von Wissenschaft und Forschung, des Straßenbaus, des Gesundheitswesens, der Jugend- und Alterswohlfahrt u. a.m.« HHStAW 502/4786b, Zinn, Georg-August, Betrachtungen zum Hessenplan, S. 3. 1216 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 30f. 1217 HHStAW 502/685, Schütte an Zinn, 16. 12. 1963, Anlage 7.
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-programmen übersandten Angebote1218, Studien wurden diskutiert, Tagungen abgehalten1219. An drei Gymnasien und in verschiedenen Volks- und Realschulen in 16 Schulaufsichtsbereichen wurden Schulversuche mit den Lehrprogrammen »Der Kompressorkühlschrank«, »Der Suezkanal« oder »Vogelfeder, Vogelflügel, Vogelflug«, »Bruchrechnen I« und »Mengenalgebra« durchgeführt1220. Sogar »die Frage der Einrichtung einer Mess- und Prüfstelle für Programme«1221 wurde bereits erwogen, nachdem der Erfinder eines Lehrprogrammes sich beim Ministerium darüber beschwerte, dass »Herr Krenzer in Nürtingen abgeschrieben hat«1222. 1965 trat allerdings eine nicht näher spezifizierte »gewisse Krise des Programmierten Unterrichts deutlich zu Tage«1223. Gleichzeitig bekam Hessen von der Arbeitsgemeinschaft Programmierte Instruktion e.V. bescheinigt: »So weit die einzelnen Antworten der Kultusministerien der Länder bisher erkennen lassen, sind die Maßnahmen zur Einführung der P.U. [Programmierten Unterweisung] in Ihrem Bereich bisher am weitesten gediehen.«1224 Die Methoden des programmierten Lernens sind maßgeblich der szientistischen Diskursformation zuzuordnen. Bezüge zum Bedarf der Gesellschaft finden sich nicht, nur zur Effizienz des Lernvorgangs. Zwar sei sie beim Schöpfen von ›Begabungsreserven‹ dienlich, allerdings aufs Individuum bezogen und nicht auf Gruppen. Das erklärt zwar nicht, weshalb der Programmierte Unterricht dann keine Beachtung mehr erfuhr, lässt diese Entwicklung aber kohärent erscheinen1225. 1218 Gesammelt unter HHStAW 504/917. 1219 Vom 8. bis 13. Juni 1964 fand in der Reinhardswaldschule eine »Tagung über Lehrmaschinen und Programmierten Unterricht« statt, vgl. HHStAW 504/917, Mitteilungen über programmierte Instruktion an das Hessische Kultusministerium, Betr.: Tagung über Lehrmaschinen und Programmierten Unterricht, 31. 7. 1974. 1220 HHStAW 504/917, der Hessische Kultusminister, E I 4-143/02-108, Herrn Gerhard Schröter [Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Programmierte Instruktion e.V.], Bayreuth, Betr.: Programmierte Unterweisung, Bezug: Ihr Schreiben vom 1. 10. 1965. In dem Dokument werden alle Aktivitäten in Hessen zum programmierten Unterricht zusammengefasst. Vgl. HHStAW 504/917,V4-143/01-151-64, an die Wilhelm-von-OranienSchule, Dillenburg, Betr.: Unterrichtsprogramm »Der Suezkanal«, Bezug: Ihr Bericht vom 13. 6. 1964 – Tgb. Nr. 594, 9. 10. 1964; vgl. HHStAW 504/917,V4-143/01-145-64, An den Herrn Schulrat des Aufsichtsbereichs Bergstraße, Betr.: Schulversuche mit dem Unterrichtsprogramm »Der Kompressorkühlschrank«. Weiterhin: »Die Meißelschneide«, »Vogelfeder, Vogelflügel, Vogelflug« , 9. 10. 1964. 1221 HHStAW 504/917, Th. Kroj an Herrn Hauptlehrer Manfred Bohle, Betr.: Programmierter Unterricht, Bezug: Ihre Schreiben vom 25.3. und 1. 5. 1965, 13. 5. 1965. 1222 HHStAW 504/917, Manfred Bohle, Hauptlehrer, Winz-Dumberg/Höfe, an: Herrn Oberregierungs- u. Schulrat T. Kroj, 1.5.65. 1223 HHStAW 504/917, Der Hessische Kultusminister, V 4-143/02-80, Herrn Dr. Walter Schöler, Aachen, Betr.: Programmierter Unterricht, gez. Kroj, 12. 5. 1965. 1224 HHStAW 504/917, Gerhart Schröter, an den Herrn Kultusminister des Landes Hessen, Betr.: Programmierte Unterweisung, Bezug: Ihr Schreiben vom 8. 10. 1965, 22.10.65. 1225 Das Thema programmierter Unterricht sollte erst viel später im Zusammenhang der Curriculumrevision wieder Beachtung erfahren. Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1970,
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Der Planungsgedanke in Hessen Wie bereits für den Großen Hessenplan im Gesamten festgestellt wurde, fand auch die Bildungsplanung innerhalb eines großzügig gewählten Spielraums statt, Festlegungen blieben im Ungefähren. Das fiel den Handelnden etwa im Vergleich mit der etwas später aufgelegten Bildungsplanung im Nachbarland Rheinland-Pfalz auf, die wesentlich differenziertere Ziele auswies1226. Den anderen Pol der Bildungsplanung fanden sie im Versinken in ausgiebigen »demographischen und wirtschaftlichen Prognosen«, die mehr Fragen als Antworten aufwarfen und daher bei den Zielen allzu vage blieben und politisch nicht brauchbar waren1227. Dennoch war Planung nicht lediglich ein praktisches Instrument aus dem politischen Werkzeugkasten, sondern selbst politisches Bekenntnis, auch für Kultusminister Schütte: »Wir brauchen auch die große Wegplanung für die Zukunft, den realistischen, phantasielosen Zeitgenossen heute noch utopisch anmutenden Entwurf, zusammen mit der nüchternen Vorausschauung des Notwendigen. Wie weit unsere beiden Institute für Bildungsplanung das leisten können, mag ungewiss sein. Ich traue ihnen viel zu. Uns droht aber die Gefahr, dass Handlungsfähigkeit sich hinter dem Argument versteckt, die Pläne seien noch nicht reif.«1228 Die Idee der Planung und auch der Bildungsplanung war umfassend und expansiv angelegt, die Beschränkung auf das Land aber durch die staatsorganisatorischen Strukturen vorgegeben, was für das Ziel hinderlich schien. Die Absicht war auch in Hessen die Überwindung solcher Grenzen. Hoffnung lag dabei vor allem auf dem Deutschen Bildungsrat, von dem man erwartete, »dass es ihm gelingt, Einfluss auf das Bildungswesen in den Ländern der Bundesrepublik im Sinne einer fortschrittlichen Entwicklung zu gewinnen«, und darüber hinaus auf der EWG1229. Dennoch musste bei aller Hoffnung auf zukünftige Möglichkeiten im Hier und Jetzt agiert werden. In den Mitteln der Bildungsplanung wollte sich die Landesregierung an der
1226 1227 1228 1229
waren die Mittel der szientistischen Konzeption in der hessischen Bildungspolitik maßgeblich in das Ideengerüst der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption integriert worden. Die für effizientes, individualisiertes Lernen konzipierten technischen Mittel wurden als gleichermaßen tauglich für die Durchsetzung kollektiv veranschlagter Lernziele entdeckt. Ein Bildungstechnologisches Zentrum (BTZ) wurde errichtet, das sich dem Einsatz technischer Hilfsmittel in der Didaktik widmete, HHStAW 1207/4, Vorschläge für die Arbeit der ständigen Arbeitsgruppe zur Curriculumrevision im Bildungstechnologischen Zentrum, Vdt./Pf, d. 19. 10. 1970. HHStAW 502/755: Brief Schütte an Zinn Betr. »Bedarfs- und Finanzplan für den Ausbau des Schulwesens in Rheinland-Pfalz 1965–1975«. HHStAW 502/4786b, Arbeitsausschuss ›Der Große Hessenplan‹, Niederschrift über die 17. Arbeitssitzung am Mittwoch, dem 23. November 1966. Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 10. Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 129.
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Wissenschaft, insbesondere an Friedrich Edding, orientieren, der »die zahlenmäßigen Konsequenzen« für die Politik benannte: zunächst die Zahlen für das Schulwesen selbst – dazu müssten »die Entwicklungen der Jahrgangsstärken der bei verschiedenen Ausbauplänen zu erwartenden Schülerzahlen unter Konsequenzen für den Bedarf an Lehrer, Bauten, Geld durchgerechnet werden«. Damit lasse sich zunächst agieren, aber es sei nicht ausreichend: »Ein solches Programm kann in sich konsistent und praktikabel sein, aber es fügt sich nicht ohne weiteres ein in die Gesamtpolitik, in der ja der Bedarf und die Verwendung von Mitteln auf vielen Sektoren zu bedenken ist. Es müsste also abgestimmt werden mit den Programmen in Straßenbau, Gesundheits- und Sozialwesen, Verteidigung, Subventionen usw. – soweit Professor Edding.«1230 Im Rahmen des Großen Hessenplans wurde auch der Ansatz diskutiert, die individuelle Nachfrage nach bestimmten Bildungsangeboten zum Ausgangspunkt der Bildungsplanung zu machen. Wie beschrieben1231, können gesellschaftlicher Bedarf und individuelle Nachfrage ja große Überschneidungen aufweisen. Gerade in einer Gesellschaft, in der einerseits ein hoher Bedarf nach besser ausgebildeten Menschen bestand, andererseits das »soziale Streben der Familien«1232 von der Nachfrageseite her in dieselbe Richtung wies, gab es an sich nichts zu steuern, außer höchstens einer Bestärkung des Strebens, »zumal er damit den objektiven Notwendigkeiten des Industriesystems entgegenkommt.« Da aber durch zusätzlich geschaffene Angebote auch eine zusätzliche Nachfrage entstünde, also »die zunächst als Richtpunkt gewählte individuelle Nachfrage nach Unterrichtsplätzen und Bildungsgängen eine Größe darstellt, die durch die staatliche und kommunale Politik selbst mitgestaltet wird«, war der Punkt vorprogrammiert, an dem der Staat regulatorisch auf die individuelle Wahl einwirken musste: »Die Kulturpolitik vermag ihre Lösung nur auf dem Wege anzustreben, dass sie sich bemüht, den objektiven Bedarf der zukünftigen Gesellschaft an qualifizierten Mitgliedern mit bestimmten Bildungsabschlüssen zu erforschen und die Strömungsgrößen der Investitionen und des Lehrernachwuchses so zu lenken, dass die Zielwerte eines entsprechend strukturierten Bildungswesens, die mit dem gesellschaftlichen Bedarf korrespondieren, in möglichst naher Zeit erreicht werden können.«1233 Am Ende dieser Überlegungen stand also auch wieder, dass der Bildungsgang jedes Einzelnen künftig nicht von individuellen Neigungen abhängen könne, sondern: Die »zukünftige Verteilung der Schüler auf die einzelnen Schulformen hängt deshalb von der gesellschaftlichen Gesamtsituation ab, wie sie sich in den 1230 HHStAW 502/4786b, Bemerkungen zum Großen Hessenplan, 16. 12. 1964, S. 4., mit Bezug auf das Handelsblatt vom 25. September 1964: »Bemerkungen zur Bildungsplanung«. 1231 S. o., S. 170. 1232 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 47. 1233 Ebd., S. 5f.
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kommenden zehn Jahren unter dem Einfluss der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, der Höhe des durchschnittlichen Lebensstandards, der Verhaltensweisen, ihn zu realisieren und zu demonstrieren, sowie der politisch wirksamen Kräfte ergibt und wie sie sich im Selbstverständnis des einzelnen sowie der Gruppen widerspiegelt.«1234 Dass der Einzelne in dieser Bildungsplanung eine Funktion der Gesellschaft war, hieß allerdings nicht, dass er nur auf die unreflektierte Erfüllung eingeschränkter Aufgaben hin auszubilden gewesen wäre. War gerade die berufliche Bildung darauf ausgelegt, den »Bedarf an Arbeitsplätzen mit hohen menschlichen und beruflichen Qualifikationen« zu decken, bedeutete das gleichzeitig die Bildung eines flexiblen Geistes: »Der Nachwuchs muss deshalb so ausgebildet und erzogen werden, dass er nicht nur über bestimmte berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, sondern auch genügend Verständnis für vielschichtige Zusammenhänge, geistige Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit besitzt, um in einer kompliziert werdenden, in ständigem Wandel befindlichen Arbeitswelt bestehen zu können.«1235 In der Begründung zur Planung der Studienplätze fand sich ebenfalls ausschließlich der Gedanke der Bedarfsplanung. Noch unter der Prämisse, für jedes Mehr an Hochschulabsolventen gebe es einen Bedarf, wurde die Quantität der Studienplätze nach der angenommenen Nachfrage durch Abiturienten bemessen; in der Qualität fand allerdings schon eine Differenzierung statt, die die Lenkung der Studenten auf bestimmte Studienfächer, insbesondere die »naturwissenschaftlichen und [die] ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen, die ohnehin einen größeren Bedarf an Arbeitsplätzen haben«1236. Auch im Hochschulbereich galt somit: »Deshalb sollte eine kulturpolitische Konzeption, die den Anspruch erhebt, ernst genommen zu werden, stets mit einer Bedarfsfeststellung einhergehen.«1237 Das Differenzierungsprinzip im Hessenplan Das Bildungssystem sollte im Großen Hessenplan trotz des Wunsches nach hoher Durchlässigkeit zur bestmöglichen Erschließung aller Begabungsreserven noch nicht integrativ umgeformt werden. Zwar sollten Wechsel zwischen den Schulformen ermöglicht, der Aufstieg über den zweiten Bildungsweg geebnet und eine rein leistungsbasierte Selektion gewährleistet werden, aber die immanenten Unterscheidungen wurden nicht angetastet. »Unvermeidlich (vielleicht bedauerlicherweise) sind die Schulen zu ›Sozialchancen-Verteilungsanstalten‹ geworden«, befand Ernst Schütte. Waren ihm die alte Differenzierung, 1234 1235 1236 1237
Ebd., S. 47. Zinn, Hessenplan, S. 40. Ebd., S. 42. Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 3.
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der »Ausschluss der Kinder zahlenmäßig starker Volksschichten von der weiterführenden Bildung« »schlechthin unerträglich«1238, bezog sich das aber auf die Differenzierungskriterien und nicht auf die – eben als unvermeidlich betrachtete – Differenzierung selbst. Er wollte neu differenzieren, aber statt nach sachfremden Kriterien wie Geschlecht, sozialer Herkunft oder der Unterscheidung zwischen Stadt und Land wollte er die Differenzierung nach Begabung. Die Akzeptanz sozialer Differenzierung wird wiederum in den Vorschlägen zum Schulbau deutlich1239. Der Architekt, das galt für alle Schulen, sollte sich »bemühen, seine Aufgabe auch mit den Augen des Pädagogen zu sehen«. So sollten die allgemeinbildenden Schulen schon in ihrer äußeren Form »bei den Schülern den Sinn für Schönheit und Harmonie wecken und fördern«, am besten im weitläufigen licht- und luftdurchfluteten Pavillonstil an naturnahen Südhängen1240. Die gymnasiale Oberstufe fand allerdings noch darüber hinaus Beachtung. Hier sollten die Klassenräume durch »Fachklassenräume« abgelöst werden, denn diese »lassen die Schüler bei richtiger Ausstattung etwas vom ›geistigen Klima‹ des Faches spüren. So erzielt man einen allmählichen Übergang von der mehr gebundenen Tätigkeit in der Schule zu der später in freier Selbstverantwortung zu leistenden Arbeit des Studenten an der Hochschule.«1241 Beim Neubau von Berufsschulen war eine gleichwohl an der künftigen Funktion der Schüler bemessene Bauart vorgesehen: »Zum Unterschied von den allgemeinbildenden Schulen werden Struktur, Fachrichtung und Gliederung der beruflichen Schulen mehr oder weniger stark von den Bedürfnissen der Wirtschaft im jeweiligen Einzugsgebiet beeinflusst. Die spezielle Zweckbestimmung prägt sich nicht selten bereits in der äußeren Gestaltung der Schulgebäude aus. Von der Sache her bestimmte Formen und eine solide Ausführung in vorbildlicher handwerklicher Arbeit sind Erfordernisse, auf die gerade bei Schulen dieser Art nicht verzichtet werden kann. Für die Berufs-, Berufsfach- und Fachschulen ist die zwei- bis viergeschossige Bauweise je nach Standort die Regel. Für höhere berufliche Lehranstalten […] sind auch vielgeschossige Hochbauten möglich.« Diese Schulen sollten einzeln auf ihren jeweiligen Zweck hin geplant werden. »Dabei spielt nicht das Alter der Schüler die Hauptrolle, sondern die berufliche Differenzierung des Unterrichts.«1242 Von Pavillons, Südhängen und dem Geist des Faches ist hier keine Rede. Zu Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen
1238 Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9. 1239 Zur Bedeutung des Schulbaus für pädagogische Aussagen s. o. S. 263. 1240 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 31f. 1241 Ebd., S. 40. 1242 Ebd., S. 49.
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wurde hingegen lediglich die »Absicht, das Schulraumvolumen […] in weit überdurchschnittlichem Maße zu erweitern«1243, geäußert. Dieser Differenzierung kam allerdings die Idee der Schöpfung von Begabungsreserven in die Quere, wo sie als Chancenzuteilung wirke. Die Differenzierung zwischen der Ausbildung und »echter Menschenbildung« blieb vom Prinzip her erhalten, allerdings ergänzt um die Idee, »dass sich auch echte Menschenbildung am beruflichen Lehrstoff zu vollziehen vermag«. Bei wem das dann geschah, den »Absolventen von beruflichen Schulen, die zu wissenschaftlicher Arbeit befähigt sind«, komme der zweite Bildungsweg zum Tragen, der nachträglich den Zugang zur Hochschule eröffnete1244. Die soziale Differenzierung zu überwinden, war zwar kein Ziel; aber eine sklerotische Gesellschaft zu öffnen und für eine möglichst lange Zeitspanne den Heranwachsenden die Möglichkeit sozialer Mobilität offenzuhalten, waren Elemente zur Aktivierung von Begabungsreserven. Eine Bildungsplanung, die es als nötig erachtete, jede Begabung optimal zu fördern, musste die Bildungswege stark ausdifferenzieren. Während später für diese Differenzierung auch die Binnendifferenzierung der Gesamtschule in Frage kam, war zum Zeitpunkt der Bildungsplanung im Großen Hessenplan die möglichst breite Aufgliederung des Bildungswesens vorgesehen. Dass »die drei herkömmlichen Schultypen nicht ausreichen, um alle Begabungsreserven auszuschöpfen«1245, führte zunächst zur Erweiterung der traditionellen Typen von Gymnasien, den altsprachlichen, neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen, um weitere Angebote zur Erlangung der Hochschulreife wie Pädagogische oder Wirtschaftsgymnasien, Gymnasien mit sozialwissenschaftlichen oder musischen Zügen sowie für den ›zweiten Bildungsweg‹ Sonderklassen an Gymnasien für Realschüler, Abendgymnasien und die ›Hessenkollegs‹. Darüber hinaus setzte auch in der Hochschulpolitik eine stärkere Differenzierung ein. Es gab bald Fachschulen, Ingenieursschulen, Werkkunstschulen, Pädagogische Hochschulen, Ingenieurschulen, wissenschaftliche Hochschulen und noch mehr. Deutlich wird die Tendenz zur Ausdifferenzierung an den verschiedenen Möglichkeiten, Lehrer zu werden: Volks- und Realschullehrer wurden in eigenen, aus an den Universitäten angeschlossenen Hochschulen für Erziehung hervorgegangenen »Abteilungen für Erziehungswissenschaften« ausgebildet, wobei es für musische und technische Fächer spezielle pädagogische Fachinstitute außerhalb der Universitätsstruktur gab. Das Lehramt für die berufliche Ausbildung fand als Diplomstudiengang mit der Voraussetzung von 1243 Ebd., S. 38. 1244 Ebd., S. 65. 1245 Ebd., S. 66.
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Berufserfahrung statt, wobei es noch organisatorische Unterschiede zwischen den einzelnen Bereichen (gewerblich, kaufmännisch, landwirtschaftlich, hauswirtschaftlich) gab. Zusätzlich wurden zwei neue Lehrertypen eingeführt, die als Fachlehrer für Arbeitstechnik sowie für Technologie als Praktiker eine Zusatzausbildung bekommen sollten. Gymnasiallehrer genossen eine wissenschaftliche Ausbildung an den Universitäten sowie eine pädagogische Ausbildung an Studienseminaren. Neben der Bewältigung des steigenden Lehrerbedarfs war das Ziel dieser starken Ausdifferenzierung der Möglichkeiten, einen Lehrberuf zu ergreifen, »eine sinnvolle funktionelle Gliederung der Lehrkörper«1246. Das entsprechende Gesetz wurde im Jahre 1966 beschlossen. Bereits im Jahr darauf setzte im Zusammenhang mit der Einführung der Gesamtschule eine gegenläufige Tendenz ein, und es wurde erstmals »die Austauschbarkeit der Lehrer verschiedener Schulformen innerhalb der gleichen Stufe« angesprochen. Eine möglichst kleinteilige Differenzierung wich damit bald einer Vereinheitlichung mit maximaler Flexibilität, im Prinzip also dem Wunsch nach einer Partikularisierung des Lehrkörpers statt seiner Differenzierung. Eine ähnliche Weiterentwicklung, um vom speziellen Beispiel der Lehrerbildung wieder auf die allgemeine Ebene der Hochschulpolitik zurückzukommen, findet sich in der Idee, an die Stelle einer möglichst ausdifferenzierten Hochschullandschaft eine Gesamthochschule zu setzen, in der dann alle Formen tertiärer Bildung vereint sein sollten, um jedem Einzelnen ein möglichst individuelles Bildungsangebot zu ermöglichen. Bei allem Hang zur Differenzierung darf nicht unterschätzt werden, dass der Gedanke der Begabungsreserven doch zum Ziel hatte, die tradierte soziale Schichtung zu durchbrechen: nicht mit Blick auf die Rechte und Chancen des Einzelnen oder zur aktiv betriebenen Veränderung der Gesellschaft, sondern mit der Bedeutung »für die Entfaltung und Fortentwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche« – also weil es nützlich war. Von den Landschulreformen darf etwa angenommen werden, dass ihr Erfolg auf der bedarfsplanerischen Notwendigkeit zur besseren Ausbildung der Landbevölkerung und nicht auf emanzipativen Vorstellungen beruhte. Die an dieser Stelle gleichgerichteten Wirkungen der Interessen des Einzelnen und der Gesamtgesellschaft kommen sehr wohl zum Ausdruck, wenn etwa Ministerpräsident Zinn eine neue Mittelpunktschule mit den Worten eröffnete: »Im modernen Berufsleben, in der industriellen Arbeitswelt haben junge Menschen nur noch dann berufliche Aussichten, wenn sie in der Volksschule auf die inneren und äußeren Ansprüche unseres technischen Zeitalters vorbereitet werden. […] Das Kind auf dem Lande hat Anspruch auf die
1246 Ebd., S. 81.
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gleichen Berufs- und Bildungschancen wie das Kind in der Stadt. Das ist einfach ein Gebot sozialer Gerechtigkeit.«1247 Der Große Hessenplan, ausgerichtet auf die wirtschaftliche Stabilität und Fortentwicklung des Landes, barg zahlreiche Aspekte fürsorglicher Natur, im Sozialbereich und im Gesundheitswesen, im Anschluss des ländlichen Raumes und dem Wohnungsbau und auch in der Bildungspolitik. Der Fokus auf die Gesellschaft als Ganzes zum Wohle jedes Einzelnen begründet überhaupt erst die Bedeutung des Wortes ›sozial‹ und war stets auch so gemeint: »Eine bessere Schulbildung der Jugend von heute ist die Voraussetzung zu einer weiteren Verbesserung der Lebensbedingungen von morgen. Bessere Schulen bedeuten: Größere Aufstiegschancen für den einzelnen und qualifizierte Mitarbeiter für alle Bereiche der Wirtschaft.«1248 Dazu dienten etwa die Studiengeldfreiheit und die Studentenförderung1249, die Lern- und Unterrichtsgeldfreiheit, Lernmittelfreiheit oder die Erstattung von Fahrtkosten zu Mittelpunktschulen. Auch die Auffassung, der Einzelne sei für die moderne Arbeitswelt eher flexibel auszustatten, als auf eine starre Funktion hin zu trainieren, dürfte die soziale Mobilität vergrößert haben. Die Intention der Bedarfssteuerung war keine konservative, sie sollte an eine veränderte Gesellschaft anpassen – und diese sei, so wurde angenommen, offener, durchlässiger, schneller und – im eigentlichen Wortsinne – sozialer. Der zweite Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans – Wandel im Kultusressort Eine Veränderung der Begründungszusammenhänge bildungspolitischer Entscheidungen trat mit der Berufung Hildegard Hamm-Brüchers zur Kulturstaatssekretärin 1967 ein. In den Protokollen zur Durchführung des »Großen Hessenplans« tauchte mit ihrer Anwesenheit erstmals das Ansinnen zur Veränderung der Schulstruktur auf, das nicht aus organisatorischen Erwägungen oder von den Schulen vor Ort angestoßen wurde, sondern politisch gewollte Einflussnahme auf die Art und Weise von Bildung war. In der Vorbereitung der zweiten Planungsphase habe sie laut Protokoll vermerkt, »dass auch im Kultusbereich zunächst von einer konventionellen Weiterentwicklung des Bisherigen ausgegangen worden sei. Die neuen Konzeptionen zur weiteren Demokratisierung des Bildungswesens befinden sich auch noch im Stadium von Modellver1247 Zitiert nach Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 22. Fast wortgleich formulierte Kultusminister Schütte: »Auch die Eltern und Kinder unserer Dörfer haben den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit.« Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9. 1248 HHStAW 502/4786a, Beispiele für Stichworte zur Hessenplanwerbung. 1249 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 102.
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suchen. Frau Dr. Hamm-Brücher nannte die Probleme der Vorschulerziehung, der Tagesheimschulen und Gesamtschulen und wies auf die Notwendigkeit einer Koordinierung von Bildungspolitik und Hochschulpolitik hin.«1250 Diese Vorhaben waren noch keine ausgereiften Pläne, sondern lediglich »neue Akzente der Kulturpolitik, die zwar im zweiten Durchführungsabschnitt noch keine großen Mittel erforderten, aber doch in der Darstellung erwähnt werden sollten«1251. Zwar hatte Zinn nach dem Einzug der NPD in den hessischen Landtag die Förderung der Demokratie in seiner Regierungserklärung 19671252 stark hervorgehoben; und nicht zuletzt aus diesem Grunde gewann die Bildungspolitik in der Landesregierung schlagartig eine neue Bedeutung, die sich auch in der Rekrutierung Hamm-Brüchers niederschlug. Aber Zinn hatte es wohl allgemeiner als das Kultusministerium gemeint, als er in seiner Regierungserklärung erklärt hatte: »Eine moderne Gesellschaft muss darum bemüht sein, jedem die Gewissheit zu geben, an den Platz gelangen zu können, der ihm gebührt. Gleichheit der Lebenschancen, gleicher Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten und Bildungsgütern ist einer demokratischen Gesellschaft wesentlich, ja schlechterdings selbstverständlich.«1253 Hamm-Brüchers euphorischen Reformbestrebungen gegenüber blieb die Staatskanzlei nämlich eher skeptisch und argumentierte bewährt fiskalpolitisch gegen Vorhaben, die finanziell nicht eingeplant waren1254. Daraufhin begann Hamm-Brücher, diese Positionen – innerhalb eines emanzipativen Begründungszusammenhangs – für den »Erläuterungsband zum zweiten Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans« zu begründen1255. Im Entwurf finden sich, auf die »in allen hochindustrialisierten Staaten zu beobachtenden tiefgreifenden soziologischen Veränderungen« Bezug nehmend, die 1250 HHStAW 504/3817, Arbeitsausschuss ›Der Große Hessenplan‹, Niederschrift über die 19. Arbeitssitzung am Mittwoch, dem 14. 9. 1967, S. 2. 1251 HHStAW 502/4786a, »Arbeitsausschuss ›Der Große Hessenplan‹, Niederschrift über die 20. Arbeitssitzung am Donnerstag, den 16.11. 1967, S. 4. 1252 Vgl. HHStAW 502/7963, Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Georg August Zinn vor dem Plenum des Hessischen Landtages am 18. Januar 1967, S. 3ff. 1253 HHStAW 502/7963, Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Georg August Zinn vor dem Plenum des Hessischen Landtages am 18. Januar 1967, S. 6. 1254 HHStAW 502/4786a, »Arbeitsausschuss ›Der Große Hessenplan‹, Niederschrift über die 20. Arbeitssitzung am Donnerstag, den 16.11. 1967, S. 4. »Staatssekretär Birkelbach betonte die Notwendigkeit, die Kosten neuer Programme auf lange Sicht zu errechnen. Es dürften keine Programme begonnen und dafür geworben werden, ohne dass man die finanziellen Konsequenzen übersehen könne. Diese Fragen sollten im Kabinett diskutiert werden.« 1255 Vgl. HHStAW 504/3817, Entwurf: Textvorschlag für den Erläuterungsband zum zweiten Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans zum Thema: »Kinderschulen.« (gez. Kroj) und »Gesamtschulen«; HHStAW 504/3817, Großer Hessenplan – 2. Durchführungsabschnitt 1968–1970; hier : Tagesheimschulen, gez. Lillinger, 29. 11. 1967.
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Maßnahmen, die sich »günstig auf die Überwindung der Milieusperre auswirken« sollten; und es ist nun die Rede von der Ablösung der »überkommenen Gliederung« des Schulsystems durch die Integrierte Gesamtschule. In den Entwürfen des Ressorts heißt es: »Der Kursunterricht an Stelle von Jahrgangsklassen ermöglicht eine bessere Förderung der individuellen Begabung. Gleichzeitig stellt die Gesamtschule einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung des Schulwesens und zur Durchsetzung der Chancengleichheit dar«; in der letzten Version ist dann bereits, als Fortschreibung der ursprünglichen Begründungen, wieder die »Aktivierung der Begabungsreserven« enthalten1256. In der letztendlich publizierten Gesamtdarstellung sind die Versuche einer Veränderung der Begründungsmuster dann nur noch sehr ›entschärft‹ zu erkennen. Statt einen »Neubau der Schulen in räumlicher Nähe« zueinander zu antizipieren, um eine künftige Integration zu erleichtern, wie vom Kultusministerium vorgeschlagen, wurde nur noch auf die bereits bestehenden additiven Gesamtschulen verwiesen. Statt aus dieser örtlichen Nähe unmittelbar »ein gesamtpädagogisches Konzept, das die Integration der gleichen Schulstufe« vorsah, entstehen zu lassen, sollten nur noch abstrakt »Formen der Integration und Differenzierung« wachsen. Finden sich im Textvorschlag des Bildungsministeriums gar keine Begründungszusammenhänge aus der Bedarfskonzeption mehr, tauchen sie in der Publikation des Ministerpräsidenten dann doch wieder auf: »Rationalisierung« und »größere Effizienz des Schulwesens« werden als schlagende Argumente für die Zusammenfassung der Schulformen angeführt1257. Ministerpräsident Zinn verlautbarte bei der Vorstellung des Bandes, die Konzeption sei noch »die gleiche wie die der ersten Darstellung« des großen Hessenplans, mit »nur ganz geringen« Änderungen1258. Dabei bezog er sich freilich auf die Kennziffern des Gesamtplans in all seinen Bereichen, auf Stückzahlen, Soll, Einheiten und Kosten, insbesondere auf die nach wie vor im Plan zentrale Stellung der Investitionen und nicht auf die Bildungspolitik. Die Gestaltung der Publikation mit vielen Tabellen, Graphen und in anderen Politikfeldern auch noch maßgeblichen Fokussierung auf strukturelle Fragen legt diese Einordnung auch nahe. Der Unterschlagung einer sich abzeichnenden 1256 HHStAW 504/3817, Entwurf des Teils »Allgemeinbildende Schulen«, für die Erläuterungen zum zweiten Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans. 1257 Im Vergleich: HHStAW 504/3817, Entwurf des Kultusministeriums: Textvorschlag für den Erläuterungsband zum zweiten Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans zum Thema: »Gesamtschulen« und HHStAW 502/6647, Der Hessische Ministerpräsident (Hrsg.), Der Große Hessenplan, Heft 2: Durchführungsabschnitt für die Jahre 1968 bis 1970, Wiesbaden 1968, S. 27. Der Wortlaut aus dem Großen Hessenplan ist im Kultusministerium als »verbesserte Fassung« zu finden. Wer die erste Fassung entsprechend redigiert hat, ist nicht mehr nachvollziehbar. 1258 HHStAW 504/3817, Pressekonferenz Großer Hessenplan, Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten Dr. Georg-August Zinn am 2. Mai 1968 im Kurhaus zu Wiesbaden, S. 6.
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bedeutenden programmatischen Neuausrichtung im Bereich der Bildungspolitik während dieser Pressekonferenz und darüber hinaus muss dennoch eine gewisse Bedeutung zugemessen werden. Insbesondere stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung außerhalb des Kultusministeriums überhaupt schon dezidiert als solche wahrgenommen wurde. In jedem Fall stellt sie einen Wendepunkt in der Begründung bildungspolitischer Vorhaben der hessischen Landesregierung dar. Während die bedarfsorientierte Diskursformation auch durch eine weit über die Bildungspolitik hinausgehende Planungsfreude hier noch die Oberhand gewann, hatte sich der Diskurs im Kultusministerium schon verändert. Hessen ’80 – der ›Große Hessenplan‹ schrumpft zum Landesentwicklungsplan 1970 wurde der ›Große Hessenplan‹ zum Landesentwicklungsplan mit dem Titel »Hessen ’80« weiterentwickelt, der trotz seines Titel nicht mehr den so öffentlichkeitswirksamen wie technokratischen Ruch eines Zehnjahresplans hatte, sondern das finanzielle, zeitliche, organisatorische und politische Rahmenwerk für die politische Arbeit der Landesregierung darstellte – neben Investitionen und Raumordnung mit einer starken gesellschaftspolitischen Komponente, die auch kommunikativ in den Vordergrund gerückt wurde. Die Euphorie, punktgenau eine glänzende Zukunft auf dem Reißbrett zu planen, war auch deshalb verflogen, weil noch in den sechziger Jahren der Regierung die Ausgaben über den Kopf wuchsen und der Große Hessenplan mehr angepasst werden musste, als verfolgt werden konnte. An die Stelle einer Planung auf die Zukunft hin waren die Verwaltung begrenzter Mittel und deren Abgleich mit den Bedürfnissen, nicht Wünschen, der einzelnen Ressorts, der Verwaltung und nicht zuletzt der selbstverwalteten Gliederungen des Landes getreten. Die Planungen des Großen Hessenplans waren vornehmlich investiver Natur, also umfänglich als Zahlenwerk, als mathematische Funktionen darstellbar. Sie waren dadurch bestimmt und kontrollierbar. Der neue Landesentwicklungsplan weitete die Planung auf die gesamte Politik aus, sodass dieser breite Begriff von Planung – in den Worten der Regierung eine Weiterentwicklung – einen Abstraktionsgrad erreicht hatte, der sich einer konkreten Kontrolle entzog: »Die Landesregierung verzichtet bewusst darauf, mehr als eine planerische Grundsatzvereinbarung für die kommenden 16 Jahre vorzuformulieren, um sich einen größtmöglichen Bewegungsspielraum zu bewahren.«1259 Der alte Titel sollte zunächst noch aufrechterhalten 1259 Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen, Der hessische Ministerpräsident Osswald übergibt das Landesentwicklungsprogramm »Hessen 80« an die Öffentlichkeit, 24. Juni 1970. In: Zeitgeschichte in Hessen. URL: http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/ idrec/sn/edb/id/202 (abgerufen am 2. 4. 2015), mit Verweis auf die FAZ vom 25. 6. 1970, S. 4.
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werden1260, aber kurz vor Veröffentlichung wurde dann auch der Name ausgetauscht: Der »Große Hessenplan« rückte als Schmutztitel ins Buchinnere, auf dem Buchdeckel hieß der Landesentwicklungsplan nun »Hessen ’80: Modernes Hessen. Gesicherte Zukunft« – und dieser plante nicht mehr, sondern »zeigt Lösungsvorschläge zur Erfüllung dieser Aufgaben«1261. Statt dem wissenschaftlich-planerischen Anspruch gerecht zu werden, den der Große Hessenplan von Anfang an nicht erfüllte, wurden Form und Titel der Realität angepasst. Die detaillierte »Gesamtplanung« wich einer großen Klammer, die partikulare Planungen, also letztlich reguläre Politik umschloss. Dieser abstrakte Rahmen war in einem gesellschaftspolitischen Leitbild der Landesregierung formuliert, an dem sich die einzelnen Politikbereiche orientieren sollten: Modernität und Chancengleichheit. In den allgemeinen Begründungszusammenhängen waren die ökonomischen Argumente in den Hintergrund getreten. Hessen ’80 sollte zunächst ein starkes Kapitel zu den gesellschaftspolitischen Plänen der Landesregierung enthalten, in dem einerseits die gesellschaftlichen Veränderungen durch nicht beeinflussbare Umweltfaktoren (identifiziert als: »die Entwicklung der Technologie in allen Bereichen«) und andererseits die bewusst gewählten »gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Gesetzgebungsverfahren«, also die Reaktionen der Politik auf diese Veränderungen, dargestellt würden. Die immer noch hochgehaltene Planung zielte weniger auf eine Gestaltung der Zukunft hin als auf politische Anpassungen an erwartete soziale und technologische Entwicklungen. So wurde auch der gesellschaftspolitische Anspruch verstanden: »Veränderungen und Wandel in der Familie, in der Gesellschaft, im Bildungswesen, in der Wissenschaft, in der Technik und im Berufswesen dürfen sich nicht selbst überlassen bleiben. Der einzelne Bürger, der diese Entwicklungen nicht zu überschauen vermag und sich ihren Auswirkungen auf seinen persönlichen Lebensbereich ausgeliefert fühlt, muss das Vertrauen haben, durch den Staat gesichert zu sein. Und genau das will ›Hessen ’80‹.«1262 Im Lichte dieser Aussage sind auch die einleitenden Worte des Ministerpräsidenten zu verstehen, der nicht auf die emanzipative Umwälzung der Gesellschaft setzte, sondern auf soziale Anpassungsprozesse: »In unserer durch Industrie und Technik verwandelten Welt kann nur eine weitgesteckte, vernünftige Planung die 1260 Vgl. HHStAW 504/3820, Protokoll der Kabinettsitzung vom 4. 3. 1970: »Es bestand Übereinstimmung darüber, dass der Begriff ›Großer Hessenplan‹ beibehalten und in den Veröffentlichungen der Ressorts verwendet werden soll und diese sich in ihrer äußeren Gestaltung und auch in textlicher Hinsicht dem Großen Hessenplan neuer Fassung anpassen. […] Der bisherige sogen. Große Hessenplan-Ausschuss wird, um eine Zweigleisigkeit zu vermeiden, aufgelöst.« 1261 HHStAW 502/6714, Osswald, Albert, Hessen ’80. Landesentwicklung als gesellschaftspolitische Aufgabe. Verdopplung des Wohlstands, Gesicherte Zukunft, Wiesbaden 1970. 1262 HHStAW 502/902, Hessendienst 32/08 1970.
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Bedingungen für eine Gesellschaft schaffen, in der sich die Bürger des Landes frei entfalten und verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben mitwirken können. Freiheit und soziale Sicherheit, hoher Bildungsstand und wirtschaftliche Wohlfahrt bedingen einander. Um die soziale Demokratie zu verwirklichen und die Freiheit des einzelnen zu stärken, wird der Landesentwicklungsplan durch die beiden zentralen Zielsetzungen bestimmt: Modernität und Chancengleichheit für alle Bürger.«1263 Die Verwendung des Begriffs der Chancengleichheit bezieht sich allerdings weniger auf die Ermächtigung des Einzelnen als auf sozial wirksame kompensatorische Maßnahmen. Benachteiligte Regionen sollten infrastrukturell erschlossen, Wohnungen gebaut und renoviert, schwächelnde Wirtschaftsbereiche angekurbelt werden. Jedem Hessen sollte ein möglichst gleicher Zugang zu öffentlichen Diensten möglich sein, und der Bildungsbereich stand da nur neben Gesundheitsversorgung, Verkehr oder Wirtschaftsförderung. So sehr Ministerpräsident Osswald die gesellschaftspolitische Komponente betonte – Hessen ’80 blieb in seinem bildungspolitischen Teil weit hinter den Ansprüchen der emanzipativen Bildungsdiskurse und somit auch, wie zu sehen sein wird, des Kultusministers zurück. Die Begründungszusammenhänge im Landesentwicklungsplan hatten trotz der Rücknahme intensiver Planungsabsichten nach wie vor starke Bezüge zur bedarfsorientierten Diskursformation, da er weiter auf Stabilität durch staatlich gesteuerte Anpassungsmechanismen setzte. Durch die starke Integration der Bildungsplanung in die Gesamtpolitik spielten aber die einzelnen Ausprägungen des Bildungsdiskurses zunächst nur eine untergeordnete Rolle, der dominante Diskurs dürft ein sozialpolitischer gewesen sein. Es gibt auch keinen Hinweis, dass Ministerpräsident Osswald emanzipative Konzeptionen von Bildung per se ablehnte. Ihm war wohl lediglich die Chancengleichheit seiner Lesart, die durch die schiere Expansion des Bildungswesens erreicht worden war und noch weiter verwirklicht worden wäre – nämlich insbesondere der Zugang zu mehr Bildungsangeboten für breite Schichten der Bevölkerung – näher als die aus einer sehr verdichteten interessierten Teilöffentlichkeit stammenden Konzeptionen zu Partizipation, kritischer Sprache etc. Seine Äußerungen zur Bildung blieben weiterhin eher allgemeiner Natur.1264 Osswald hatte im Vorhinein viel Wert auf die gesellschaftspolitische Komponente gelegt, das entsprechende Kapitel sei »zweifellos das schwierigste, aber 1263 HHStAW 502/6647 Der Hessische Ministerpräsident, Hessen ’80: Modernes Hessen. Gesicherte Zukunft. Großer Hessenplan. Landesentwicklungsplan, Wiesbaden 1970, S.Vf. Ganz ähnlich die Einbringungsrede zur Aussprache über den LEP, vgl. HHStAW 502/6714, Osswald, Albert, Hessen ’80. Landesentwicklung als gesellschaftspolitische Aufgabe. Verdopplung des Wohlstands, Gesicherte Zukunft, Wiesbaden 1970. 1264 HHStAW 502/6647 Der Hessische Ministerpräsident, Hessen ’80: Modernes Hessen. Gesicherte Zukunft. Großer Hessenplan. Landesentwicklungsplan, Wiesbaden 1970, S.Vf.
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auch das faszinierendste Kapitel vom ganzen Plan. Vielleicht ist es sogar das wichtigste, je nachdem, wie wir es gestalten werden.«1265 Die Eingaben dazu erfolgten zunächst innerhalb der Ministerien aus den einzelnen Abteilungen, wurden im Ministerium zusammengefasst und wiederum zur Koordination und Redaktion an die Staatskanzlei weitergeleitet. Die Entwicklung der Beiträge des Kultusministeriums ist in ihrem Zustandekommen näher zu beleuchten. Sie lassen sich von den Fachreferaten bis zur Endredaktion nachvollziehen, und die Begründungsmuster unterliegen auf diesem Weg starken Veränderungen. Die ersten Eingaben der Fachreferate1266 orientieren sich entlang der didaktischen Forschungsdebatte, also innerhalb eines szientistischen Diskursrahmens. Sie fokussieren auf den technischen Fortschritt und die sich dadurch bietenden Möglichkeiten, den Unterricht effizienter und für den einzelnen Schüler passgenauer zu gestalten. Die Begründungen für technische Neuerungen lauteten einerseits darauf, dass »der Lernprozess rationalisiert werden« könne1267, andererseits auf die Abwägung der Kosten in Relation zur Effektivität1268 – beide Argumente entstammen der szientistischen Diskursformation1269 Emanzipative Begründungen tauchen lediglich in einer einzigen der Eingaben aus den Referaten auf; und auch hier wirken sie nur wie eingestreute Zitate1270. Die aus den Eingaben der Referate sprechende Vorstellung, dass gesellschaftspolitische Auswirkungen des Unterrichts lediglich Folge der technologischen und sozialen Entwicklung seien, wurde dann geradezu in ihr Gegenteil umgekehrt, als die einzelnen Beiträge der Referate auf Leitungsebene zusammengefasst und der Staatskanzlei weitergeleitet wurden. Bereits eine vorläufige Strukturierung schlägt mit den großen Schlagworten emanzipativer Bildungskonzeptionen auf und ordnet diesen Zielen die von den Referenten einge1265 HHStAW 504/3820, III, Bericht des Herrn Ministerpräsidenten auf der Kabinettssitzung in Dillenburg über den Großen Hessenplan, 25. 3. 1970. 1266 HHStAW 504/3820, EII4-302/21, 19. 3. 1970, betrifft: Großer Hessenplan – Studienstufe. 1267 HHStAW 504/3820, EII 4-302/21-112, 16. 2. 1970. 1268 Vgl. HHStAW 504/3820, EV6-074/100 Betr.: Großer Hessenplan, Bezug: Besprechung vom 16. 3. 1970 sowie HHStAW 504/3820, EIV 3-1000/12-2, 25. 2. 1970. 1269 HHStAW 504/3820, EV6-074/100 Betr.: Großer Hessenplan, Bezug: Besprechung vom 16. 3. 1970 Herrn Referenten V3; HHStAW 504/3820, EII4-302/21-112, 16. 2. 1970, Betr.: Großer Hessenplan Weiterführung bis 1985; HHStAW 504/3820, EIV 3-1000/12-2, 25. 2. 1970, Herrn Referenten V3 Betr.: Großer Hessenplan; hier : Erfassung der nicht-raumrelevanten gesellschaftspolitischen Projekte im Kultusbereich. 1270 Vgl. HHStAW 504/3820, EIV 3-1000/12-2, Herrn Referenten V3 Betr.: Großer Hessenplan; hier: Erfassung der nicht-raumrelevanten gesellschaftspolitischen Projekte im Kultusbereich; Bezug: Ihr Schreiben vom 19. 2. 1970 – V3-008/97 – und mein fernmündl. Gespräch mit Ihnen vom 24. 2. 1970, 25. 2. 1970.. Ein souveränes Leitziel »Emanzipation« wird hier nur als Weisung zitiert, aber das Menschenbild der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption eines nur durch und in seine Bedingungen existierenden Individuums sowie der Leitsatz der Selbstbestimmung zur Mitbestimmung werden angedeutet HHStAW 504/ 3820, EII4–302/21, 19. 3. 1970, betrifft: Großer Hessenplan – Studienstufe.
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brachten Vorschläge als Mittel zu1271. Im ersten Entwurf, den Staatssekretär Moos am 31. 3. 1970 an den Ministerpräsidenten schickte, wird diese Entwicklung noch deutlicher. Der Text ist innerhalb der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation zu verorten. Punkt 1.1 beschäftigt sich ausschließlich mit der Emanzipation als allgemeinem Lernziel und präzisiert dieses erstmals in gesellschaftlich-emanzipativer Manier, indem der Weg zum »autonomen Individuum« über eine gezielte Sozialisation zum gewünschten Verhalten in der Gesellschaft gesucht wird und Emanzipation nicht als Möglichkeit und Fähigkeit zur individuellen Wahl1272. Diese umfassende Darstellung aller kulturpolitischen Vorhaben fand wiederum keinen Eingang in den veröffentlichten Landesentwicklungsplan Hessen ’80. Stattdessen wurde der Abschnitt zur Kulturpolitik neu ausgearbeitet. Dieser Text riss die einzelnen Reformen und Neuerungen nur noch an und blieb auch in seiner Zielstellung nüchterner. »Modernität und Chancengleichheit« lagen demnach wieder, wie in den Vorstellungen des Ministerpräsidenten, im Zugang zur Bildung, nicht in deren Ausgestaltung. Die Errichtung von Mittelpunktgrundschulen, der Abschluss der Landschulreform, die Förderung individueller Begabungen und Neigungen – die Mittel blieben dieselben wie unter der Bedarfssteuerung des Großen Hessenplans (und ebenso, wie bereits dargelegt, ihre immanenten sozialen Effekte). Während also im Kultusministerium die Ziele der inhaltlichen Reform und die gemeinsame Planung mit den strukturellen Umwälzungen im Schulsystem längst ausgearbeitet waren, wie noch zu sehen sein wird, wurde dieser Aspekt aus dem von der Staatskanzlei verantworteten Landesentwicklungsplan noch ausgeklammert. Auch zwischen dem letzten Entwurf des Kultusministeriums und der veröffentlichten Version gibt es noch bezeichnende Unterschiede: So wurde etwa die besondere Betonung von Mädchen als unterrepräsentierte Gruppe mit besonderem Förderungsbedarf gestrichen, ebenso wie die Kritik an »schichtspezifischen Interessen« und die Ablehnung der darauf beruhenden »starren Leistungsnormen«. Formulierungen, die die eigentliche Zielstellung einer Bildungsreform erörtern, fehlen weitgehend1273, ein zusätzlicher Verweis auf die Weiterführung der schon nahezu abgeschlossenen Landschulreform hingegen wurde hinzugefügt1274. Die avantgardistische Terminologie, die schon längst über die emanzipativen Diskursformationen und die Studentenrevolte ihren Weg in die Jugend gefunden hatte, blieb den Lesern 1271 HHStAW 504/3820, Beitrag des Kultusministeriums zum Landesentwicklungsplan 1985 (Großer Hessenplan). 1272 HHStAW 504/3820 Manuskript, undatiert (1970); Vorlagen eingearbeitet, 6)A): Schulwesen, Allgemeine Grundsätze. 1273 HHStAW 504/2997, Entwurf Kapitel VI: Als einleitender Absatz. 1274 HHStAW 502/6647, Der Hessische Ministerpräsident, Hessen ’80: Modernes Hessen. Gesicherte Zukunft. Großer Hessenplan. Landesentwicklungsplan, Wiesbaden 1970, S. 73.
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dieses Werks weitgehend verborgen. Mit »lebenslangem Lernen« war nicht die Idee fortdauernder Systemkritik oder die Freiheit für jedes Individuum gemeint, dass mit dem Abschluss einer Ausbildung nicht mehr die gesamte Biographie vorgezeichnet sein sollte, sondern die berufliche Orientierung und »Bildungsurlaub der Arbeitnehmer«. Das »System von Gesamtschulen und Gesamthochschulen« errichtete die Regierung »in Übereinstimmung mit der internationalen Entwicklung« und nicht, wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, »um die Gleichheit der Bildungschancen zu sichern, die Förderung individueller Begabung zu ermöglichen, eine demokratische Erziehung zu garantieren und optimale Voraussetzungen für die Berufstätigkeit sicherzustellen«1275. Wiederum wich der dezidierte politische Wille einer Anpassung an äußere Zwänge als Begründung der eigenen Politik. Der Schulentwicklungsplan Allerdings fand sich im selben Jahr noch die Möglichkeit für Kultusminister Ludwig von Friedeburg, dieses Bild geradezurücken. »Moderne Schule – Bildung für alle« hieß der »Schulentwicklungsplan«, der als Teil der Reihe »Hessen ’80« formal an den Landesentwicklungsplan anschloss1276. Hier breitete Kultusminister Friedrich von Friedeburg dann seine Ansichten aus, was eine »moderne Schule« sei: »Damit dient die moderne Schule zugleich der Verwirklichung sozialer Demokratie. Diese lebt von der Beteiligung, Kritik und Kontrolle ihrer Bürger. Wer nicht fähig und bereit ist, Bestehendes ständig zu überprüfen, kann kaum Anteil haben an der Entfaltung einer demokratischen Gesellschaft. Mün1275 HHStAW 504/2997, Entwurf Kapitel VI LEP, S. 8. 1276 HHStAW 502/6647 Der Hessische Kultusminister, Hessen ’80: Moderne Schulen. Bildung für alle. Großer Hessenplan. Schulentwicklungsplan, Wiesbaden 1970, S. 5. Die Einzelpläne wurden »[i]m Rahmen des Gesamtplanungssystems Hessen ’80 […] zu einer Erläuterung und Vertiefung« veröffentlicht, HHStAW 502/901, Reformen Sichern Fortschritt und Wohlstand, Hessen plant seine Zukunft. Von Albert Osswald, S. 5. HHStAW 1207/3, Tätigkeitsbericht der Hessischen Landesregierung, 1970, S. 13: »Der Schulentwicklungsplan ›Moderne Schule – Bildung für alle‹ wurde am 14. 7. 1970 vom Kabinett beschlossen und am 21. 7. 1970 der Öffentlichkeit vorgelegt. […] Wesentliche Ziele: – Schaffung eines durchlässigen, nach Schulstufen gegliederten Gesamtschulsystems, – Einführung der Ganztagsschule, – Lehrgangssystem mit Halbjahreseinteilung anstelle der Jahrgangsklassen und Verteilung des Unterrichts auf Pflicht- und Wahlbereiche, – Stufenweise Einführung der Eingangsstufe für die Fünfjährigen ab 1976, – Einbeziehung der beruflichen Schulen in eine gemeinsame Sekundarstufe II, – Gliederung der Berufsbildung in der Schule nach Stufen, – Schrittweise Einführung der vollschulischen Berufsgrundausbildung (Berufsgrundschuljahr), – […]«
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digkeit hat ihren Inhalt darin, in selbständigem Erkennen jeweils die Möglichkeiten einer Veränderung zum Besseren zu begreifen und dadurch in die Lage versetzt zu werden, aktiv an ihr mitzuwirken. Mündigkeit in diesem Sinne ist die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft der Zukunft nicht nur eine hochtechnisierte, sondern eine humane und demokratische wird.«1277 Bereits in diesem Absatz ist zu erkennen, was für den Band im Ganzen gilt und überraschen mag: Von Friedeburg bedient sich nicht gesellschaftlich-emanzipativer, sondern individualrechtlich-emanzipativer Begründungszusammenhänge. Er hierarchisiert klar, dass die Mündigkeit des Einzelnen vor der Demokratisierung der Gesellschaft steht. Er proklamiert keine Utopie, keinen Naturzustand, beklagt keinen Zwang des Wirtschaftssystems. Er möchte den Einzelnen in die Lage versetzen, »Bestehendes ständig zu überprüfen« – aber nicht, es zwingend abzulehnen und zu überwinden. Von Friedeburg analysiert die moderne Industriegesellschaft und das »überkommene Bildungssystem«, das »noch immer zu Normen und Verhaltensweisen, die einem vergangenen Stand gesellschaftlicher Entwicklung entsprechen« erziehe und den Schülern nicht das nötige kritische Bewusstsein vermittle. Da die traditionellen Fragestellungen des Unterrichts nicht »auf die künftigen Aufgaben des einzelnen in der Gesellschaft« abzielten, sah er die »Neubestimmung der Inhalte« als zentrale Aufgabe – und nicht, wie im Hauptwerk zu Hessen ’80 als der Strukturreform nachgeordnet. Die Umstellung der Vorgaben für die Schulen von am Stoff orientierten Lehrplänen hin zu inhaltlich flexiblen, aber an Kompetenzen und Qualifikationen orientierten Lernzielen sollte dem Gesamtziel der Schule dienen, »in den Lernenden ein kritisches Potential zu bilden, das sie zu selbstverantwortlichem Handeln befähigt«1278. Auch die Begründung der Gesamtschule unterliegt im Schulentwicklungsplan einer ausschließlich individualrechtlich-emanzipativen Begründung, rekurriert auf rechtliche Ansprüche und betont die Binnendifferenzierung, spricht aber eine aktive Umformung der Gesellschaft nicht an: »In einer Gesellschaft, die allen Heranwachsenden gleiches Recht auf Bildung zuerkennt und die auf die Mobilität ihrer Mitglieder angewiesen ist, darf ein Bildungssystem nicht schon durch eine starre und zersplitterte Gliederung den einzelnen zu einem frühen Zeitpunkt auf Entscheidungen über seinen Bildungsweg festlegen, die kaum veränderbar sind. Das herkömmliche Schulsystem weist die Sozialchancen so zu, dass einzelne Schichten benachteiligt werden. Es steht damit in Widerspruch zu demokratischen Forderungen. Deshalb muss ein durchlässiges Gesamtschulsystem entstehen, das die bisher getrennten Schulformen umfasst, nach Schulstufen 1277 HHStAW 502/6647 Der Hessische Kultusminister, Hessen ’80: Moderne Schulen. Bildung für alle. Großer Hessenplan. Schulentwicklungsplan, Wiesbaden 1970, S. 5. 1278 Ebd., S. 9.
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gegliedert ist und jedem Schüler die Möglichkeit bietet, seine Entwicklungschancen wahrzunehmen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn innerhalb der horizontalen Stufengliederung vielfältige Differenzierungsmöglichkeiten des Unterrichts bestehen. Die äußere Differenzierung sollte so spät wie möglich erfolgen. Um schichtenspezifische Benachteiligungen abzubauen, wird die Einführung der Ganztagsschule gefordert, die auf Grund ihrer Organisationsform einen höheren Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten kann als die Halbtagsschule.«1279 Der Bildungsgesamtplan sah also ein durchgeplantes Schulsystem aus einem Guss vor, das nach Stufen gegliedert war. Auf die Grundschule würde die Förderstufe folgen, daran schlössen die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe II an; im Anschluss an die 10. Klasse galt es, die Integration von Studienstufe und Berufsschule umzusetzen. Der Schulentwicklungsplan nahm in seinen Zielen weitgehend den 1973 gegen die CDU-geführten Länder beschlossenen Bildungsgesamtplan von Bund und Ländern vorweg1280. Die Diskrepanzen zwischen Kultusministerium und Staatskanzlei verschwanden auch in der wenig später angegangenen Konkretisierung der Planungen zum Durchführungsabschnitt 1971–1974 nicht, aber emanzipative Formulierungen sickerten nun allmählich auch in die Begründungen der Staatskanzlei ein, wobei individuelle und gesellschaftliche Ansprüche einander gezielt gegenübergestellt wurden: »Die zentrale Aufgabe im Bildungsbereich besteht darin, dem Bildungsstreben des Einzelnen volle Entfaltung zu ermöglichen, aber auch die Ansprüche zu befriedigen, die von der Gesellschaft an die Erziehung und Ausbildung des Einzelnen gestellt werden.«1281 Als Ludwig von Friedeburg 1974 ein letztes Mal Rechenschaft über die bisherige Schulentwicklung ablegte1282, tat er das nüchtern als Aufzählung des Geleisteten. Eine nähere Begründung der Bildungspolitik, eine Gesamteinordnung, welchem Zwecke sie als Ganzes diene, fand nicht mehr statt. Kein Bezug auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft, auf das Recht des Einzelnen, auf eine idealdemokratische Gesellschaft oder Ähnliches wurde mehr vorgenommen. Die von ihm zu verantwortende Politik stellte er nunmehr selbst als pure Notwendigkeit dar, als rein reaktiv – als Antwort auf den Schülerberg und den Lehrermangel, als Maßnahmen gegen eine Überforderung der Kommunen und der Haushalte. Das mehr als zehn Jahre zuvor ursprünglich mit der Bildungsplanung einmal ins Auge gefasste Ziel, das zu keinem Zeitpunkt ernstlich angegangen wurde, nämlich eine auf wissenschaftlich erschlossenen Prognosen basierende Bedarfsplanung, war zu diesem Zeitpunkt längst ver1279 Ebd., S. 10. 1280 Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 35. 1281 HHStAW 502/909, Hessen ’80. Landesentwicklungsplan: Durchführungsabschnitt für die Jahre 1971–1974, 17. 5. 1971. 1282 Von Friedeburg, Vorwort zu: Schulentwicklung in Hessen.
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gessen. In einer Mischung aus verändertem grundsätzlichen Verständnis und Desillusionierung ob der gemachten Erfahrungen hieß es: »Da in unserem System freiheitlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft staatliche Planung strategische Zielverfolgung und nicht starre Planerfüllung bedeutet, müssen der Landesentwicklungsplan und seine Durchführungsabschnitte ein gewisses Maß an Flexibilität aufweisen, um eine Anpassung an die Gegebenheiten zu gestatten, die nicht lang- und mittelfristig prognostizierbar sind.« – gemeint war der anhaltende, »auf veränderte Ansichten und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft« zurückgeführte Geburtenrückgang. Auf solche Entwicklungen wusste die Planung »noch« keine Antwort1283. Bildungspolitik war zu diesem Zeitpunkt, wie auch in der Folge noch zu zeigen sein wird, ohnehin nur noch die Konsolidierung einer verfahrenen Situation: »Auch unter Berücksichtigung der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten des Landes und z. T. noch offener Personalprobleme wird deshalb die Weiterentwicklung und der Ausbau der Bildungsstätten, insbesondere die Errichtung eines engmaschigen Gesamtschulnetzes, im Wesentlichen auf zentrale Orte beschränkt bleiben.«1284
Die Gesamtschule als Regelschule – zerplatzte Ambitionen Der bildungspolitische Teil der Landesplanung stellte einen Rahmen dar, der für Investitionen wie den Schulbau oder die Landschulreform insgesamt noch eine gewisse Verbindlichkeit hatte, aber darüber hinaus eher die Notwendigkeit schuf, jeweilige Politik situativ rhetorisch in die allgemeinen Formulierungen der Gesamtplanung zu integrieren, ohne sie wirklich danach auszurichten. Dazu beschleunigte sich der Bildungsdiskurs auch viel zu schnell. Ein 1965 aufgestellter Plan auf mehrere Jahre hätte unter keinen Umständen über 1968 hinaus Bestand haben können. Man stelle sich den Politiker vor, der zu dieser Zeit auch nur mit Verweis auf den Großen Hessenplan auf die breite Debatte zu Partizipation und Demokratisierung des Bildungswesens reagiert hätte. Dies galt auch für die Schulstruktur. Die noch wenige Jahre zuvor angedachte weitere Ausdifferenzierung des Schulwesens hatte zwar Gesamtschulen bereits als eine Schulform unter vielen vorgesehen, aber die mit dieser strukturellen Differenzierung einhergehende soziale Differenzierung wollte zumindest im Regierungslager bald niemand mehr richtig vertreten – erst recht nicht der vom Frankfurter Institut für Sozialforschung kommende neue Kultusminister Prof. 1283 HHStAW 502/910: verschiedene lose Texte zum 2. Durchführungsabschnitt, 1974, S. 1 u. 2a. 1284 Ebd., S. 25.
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Ludwig von Friedeburg, der 1969 das Ressort von Ernst Schütte übernahm. Für von Friedeburg reichte die integrative, demokratische Tradition der Gesamtschule zurück bis zur französischen Nationalversammlung von 17921285, fand sich dann bei Wilhelm von Humboldt wieder1286 und wurde zuletzt von den Alliierten als Schule der Demokratie für das Nachkriegsdeutschland angedacht. In Hessen war, wie überall sonst in Deutschland, dieser Plan der Alliierten, die tradierte Schulorganisation durch ein Einheitsschulsystem zu ersetzen, nicht verwirklicht worden. Dabei hatte es in Hessen schon zu dieser Zeit, etwa mit Kultusminister Stein, bedeutende Fürsprecher einer solchen Schulreform gegeben – allerdings zu spät, sie in die Verfassung zu schreiben; und auch sein Entwurf, das Schulwesen in diese Richtung gehend neu zu ordnen, hatte keinen Erfolg gehabt. Während zähen Lavierens der Landesregierung zwischen Interessenverbänden und Besatzungsmacht versickerte diese Idee allmählich1287 und kam erst in den sechziger Jahren wieder hervor. Gesamtschulen wurden in Hessen trotzdem bereits seit den fünfziger Jahren errichtet. Ohne tiefere Bedeutung, aus praktischen Erwägungen wurden verschiedene Schulformen auf dem gleichen Areal untergebracht. Dabei entwickelten sich verschiedene Grade und Formen der Integration: von der gemeinsamen Benutzung von Fachräumen, Sportstätten und Materialien über den Austausch von Lehrern bis hin zur gemeinsamen Förderstufe in den Klassen 5 und 6. Im Großen Hessenplan tauchte die Gesamtschule dann zunächst als Weiterentwicklung oder auch nur Teil der Landschulreform auf (sogar im so bezeichneten Kapitel), nämlich im Anschluss an die Zusammenlegung von Kleinstschulen zu Mittelpunktschulen und an der Seite von Maßnahmen wie der Erstattung der Beförderungskosten für Schüler auf. Der Gedanke der Zusammenlegung von Volks- und Realschulen mit Gymnasien zu Gesamtschulen sollte nur gelegentlich notwendiges Resultat einer Auflösung beziehungsweise Zusammenlegung der Kleinst- und Landschulen sein, die ohnehin angezeigt war für »eine pädagogisch sinnvolle Differenzierung des Unterrichts und eine zweckmäßige Arbeitsteilung zwischen den Lehrkräften«. Aus denselben organisatorischen, »zweckmäßigen« Gründen wurde die (kooperative) Gesamtschule für manche Orte ins Spiel gebracht, während noch längst im dreigliedrigen System geplant wurde1288 : »Vielen Mittelpunktschulen werden Sonderschulklassen angegliedert. Wenn die Größe des Schulverbandes es erlaubt und ein Bedürfnis besteht, verbindet man zweckmäßig auch eine Realschule und eventuell 1285 1286 1287 1288
Von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 54. Ebd., S. 64. Vgl. von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 304–308. Zinn, Hessenplan, S. 37. Ebenso Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9.
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sogar ein Gymnasium mit der Mittelpunktschule. Es entsteht dann eine sogenannte Gesamtschule. Alles das soll dazu beitragen, auch in den verkehrsmäßig wenig erschlossenen ländlichen Gebieten jedem Kind den Bildungsweg zu öffnen, der seiner Begabung entspricht.«1289 Der Hauptfaktor bei der Zusammenlegung war die Größe der Schule, die durch mehr Lehrer, mehr Fachräume und teure Ausstattung Synergien bündeln und effizienter arbeiten konnte als eine kleine Schule, und »nicht zuletzt schließlich trägt dieser Schultyp auch den Forderungen der Ökonomie, das Bildungs- und Erziehungsziel mit einem möglichst geringen Aufwand an Raum, Einrichtung und Personal zu erreichen, in erhöhtem Maße Rechnung, weil die Vielzahl der Schulformen eine optimale Nutzung aller dieser Faktoren ermöglicht.«1290 Die Gesamtschule griff zu dieser Zeit noch nicht das bestehende dreigliedrige System an, sie galt nicht als Alternative, sondern als Ergänzung. Für die verschiedenen Typen des Gymnasiums beispielsweise – mit Ausnahme des humanistischen – wurde zwar eine Angleichung unterhalb der Oberstufe diskutiert, ihr Bestand aber nicht in Zweifel gezogen1291. Herantasten durch die Förderstufe Eine Annäherung an die integrative Funktion der Gesamtschule fand bis Anfang der sechziger in der Einführung einer Förderstufe statt, in der alle Schüler der Jahrgänge fünf und sechs nach gleicher Maßgabe unterrichtet wurden, um die Entscheidung für den Besuch einer weiterführenden Schule länger offenzuhalten. In der Begründung konnte man sich auf die Modellerfahrungen in additiven Gesamtschulen1292, aber bald auch schon auf die »kulturpolitische Diskussion der Bundesrepublik« und die Debatte um den Begabungsbegriff stützen. Starkes Argument war die Kritik am frühen Zeitpunkt der Selektion1293. Wirtschaftliche Gesichtspunkte, Begabungsreserven und Ähnliches spielten keine Rolle. In Förderstufen unterrichteten Lehrer der verschiedenen Schulformen. »Sie arbeiten in allen pädagogischen und organisatorischen Fragen zusammen, führen gemeinsame Konferenzen durch und beraten die Eltern.« Es gab einheitliche Bildungspläne, die durch Kern- und Kursunterricht, durch »Einzel-, Partner-, Gruppen- und Großgruppenunterricht«, durch die »Abstimmung und Zusam1289 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 15. 1290 Ebd., S. 46. 1291 Schütte, Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen. In: Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965, S. 9. 1292 Das Schuldorf Bergstraße begann bereits Mitte der fünfziger Jahre versuchsweise, Primarschüler der verschiedenen Schultypen gemeinsam nach gemeinsamen Plänen zu unterrichten. Vgl. HHStAW 504/807, GS – 1006 Januar 1968, Entwicklung der Gesamtschulen in Hessen, Stand 1. 1. 1968. 1293 HHStAW 504/810, Schütte, Ernst, »Große Schule im Dorf, Forderungen und Tatsachen« , Christ und Welt 10/1965, 5. 3. 1965.
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menarbeit der Lehrer«, durch A-, B- und C-Kurse und womöglich noch dazwischenliegenden Förderkursen, durch Einstufungen und Umstufungen nach verschiedensten »Gutachten«, Zeugnissen, »diagnostischen Begabungstests« und »objektivierten Beobachtungsergebnissen« sowie »besonderen Fördermaßnahmen« einen individuell differenzierten Unterricht ergeben sollten.1294 Förderstufen waren zunächst in den ersten (kooperativen) Gesamtschulen entstanden und wurden dann in Mittelpunktschulen eingeführt, um Schülern einen differenzierenden Unterricht zu bieten, die nicht die Möglichkeit hatten, eine Realschule oder ein Gymnasium zu besuchen. Der Erfolg waren höhere Übertrittsquoten auf die weiterführenden Schulen nach der Förderstufe1295. Die Entwicklung der Förderstufen ging auf Überlegungen des Rahmenplans des Deutschen Ausschusses (1959) und verschiedene Schulversuche zurück, die in diese Richtung gingen1296 – 1960 gab es in Hessen an neun Schulen Förderstufen oder ähnliche Integrationsformen1297. Das Konzept war auf einzelne Schulen bezogen, nicht als genereller Modus1298 und selbst in additiven Gesamtschulen bis in die siebziger Jahre nicht automatisch verwirklicht. Zunächst blieb die Einführung der Förderstufe also eher einer spontanen Entwicklung als gezielten politischen Maßnahmen überlassen1299. Schwung nahm die Einführung der Förderstufen erst 1969 auf, also tatsächlich erst im Anschluss an die prinzipielle Entscheidung für Integrierte Gesamtschulen als dominante Schulform. Zur Begründung der Förderstufe hieß es dann: »Eine demokratische Gesellschaft, die ihren Bürgern das Recht auf Bildung und damit ›Chancengleichheit‹ und ›Bildungsgerechtigkeit‹ verheißt, ist verpflichtet, allen Kindern einen Bildungsaufstieg zu ermöglichen und zu garantieren.«1300 Eine wichtige Funktion hatte die Förderstufe in kommunikativer Hinsicht. Durch ihre frühe punktuelle Einführung hatte das Ministerium bereits Erfahrung mit den Widerständen der Eltern gegenüber Strukturreformen gesammelt. Nicht nur bei »Eltern, die selbst ein Gymnasium besucht haben«, stieß man auf Widerstand, sondern auch bei solchen, »die eine betonte Skepsis gegenüber allen 1294 Vgl. von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe. 1295 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 63. 1296 Vgl. von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe. 1297 Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 46. 1298 Vgl. noch für 1969 HHStAW 504/3820 Beitrag des Kultusministeriums zum Landesentwicklungsplan 1985 (Großer Hessenplan). 1299 HHStAW 504/4378, E IV 1, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, gez. Rommel, 1. 12. 1969, S. 9: »Die hessische Schulentwicklung hat bei Einführung des 9. Schuljahres und der Förderstufe das Element Planung bewusst zurückgestellt.« 1300 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe.
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weiterführenden Bildungseinrichtungen zeigen«1301. Entsprechend wurden bereits zu diesem Zeitpunkt Mittel der Öffentlichkeitsarbeit von der Postwurfsendung bis zu Hausbesuchen, aber insbesondere eine möglichst transparente Umsetzung als notwendige Wege zur Akzeptanz der Reform erkannt1302. Mit dem Werben für Förderstufen begann auch die Werbung für integrierende Schulformen und wurden bereits die Begründungszusammenhänge vorweggenommen, die später die Diskussion um die Gesamtschulen beherrschen sollten. Durch die Förderstufe seien zwar bereits »viele Probleme des Übergangs zu weiterführenden Schulen gelöst«, und sie stellten einen »erheblichen Fortschritt« dar, aber : »Diesen Fortschritt gilt es in der Gesamtschule zu erhalten und auszubauen. Es ist nicht einzusehen, weshalb nach dem 6. Schuljahr der integrierte und differenzierte Unterricht aufgegeben, die Kinder getrennt und wiederum den überkommenen Schulformen zugewiesen werden sollen.«1303 Wer die Förderstufen für richtig hielt – und diese Meinung war seit dem entsprechenden Diktum des Deutschen Ausschusses und bis zur letzten entsprechenden Beratung des Bildungsrats nahezu Konsens –, musste demnach die Gesamtschule für folgerichtig halten. Als Kernthesen, die den Gesetzesnovellen von 1968 zugrunde lagen, nannte Schütte im selben Atemzug zunächst eine notwendige Neuregelung des Übergangs zwischen Grund- und weiterführender Schule und in der Folge die gänzliche Überwindung der vertikalen Gliederung, »dass also eine Förderstufe einzurichten und die Gesamtschule vorzubereiten sei«1304. Ab 1968 hieß es dann zur Förderstufe: »Diese Einrichtung hat das Stadium eines Modellversuchs längst überwunden. Die Ergebnisse zeigen, dass durch die Förderstufen wesentlich mehr Kinder für weiterführende Schulen gewonnen werden konnten. Das gilt insbesondere für Kinder aus jenen sozialen Schichten, die der ›Höheren Schule‹ traditionell fremd gegenüberstehen.«1305 Als daraufhin 1969 die Förderstufe wirklich gesetzlich eingeführt wurde, war sie bereits »als Übergangsform zur Gesamtschule« angedacht. »Aus der Förderstufe wird die Integrierte Gesamtschule mit übergangsformen (Sekundarstufe I) entwickelt und die Pflichtschulzeit auf zehn Jahre ausgedehnt.«1306 Die Förderstufe war also nicht die zaghafte Vorstufe zur Gesamtschule, sondern stand am Übergang von Mittelpunktschulen und schulformbezogenen (additiven) Gesamtschulen zur In1301 Rommel, Förderstufen in Hessen, S. 27. 1302 Vgl, ebd., S. 25ff. 1303 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe. 1304 Schütte, Warum neue Schulgesetze? (Landtagsrede am 4. 7. 1968 zum Entwurf zur Novellierung der hessischen Schulgesetze), S. 3f. In: Schütte, Die Schule in der veränderten Welt, S. 3–15. 1305 HHStAW 502/6647, Der Hessische Ministerpräsident (Hg), Der Große Hessenplan, Heft 2: Durchführungsabschnitt für die Jahre 1968 bis 1970, Wiesbaden 1968, S. 27. 1306 Ebd., S. 73.
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tegrierten Gesamtschule. Von knapp 7.000 Schülern 1965 über 22.000 Schüler 1968 (22 Prozent der entsprechenden Schüler) stieg die Zahl bis 1973 auf 77.0001307. So muss für den Beginn der Gesamtschulentwicklung in Hessen festgehalten werden, dass zunächst keine gesellschaftspolitischen, sondern rein organisatorische Überlegungen dafür ursächlich waren. Die ersten Gesamtschulen entstanden, noch bevor die Idee dazu geboren war. Sie waren zu dieser Zeit noch eingebettet in die Vorstellungen einer globalen Planung, die die Bildungspolitik als Element einer Politik zur Stabilisierung und Fortschreibung eines Systems betrieb, dessen immanenter Bedarf die Zielstellung vorgab. Aber einmal errichtet – 1966 waren es in Hessen sieben, allesamt additive Modelle – wurde den Gesamtschulen dann diejenige Funktion beigemessen, die sie ohnehin einnahmen: »Aus dem Nebeneinander wird in stärkerem Maße ein Miteinander, ein Zusammenwachsen ohne Verzicht auf die spezifische Eigenart und Aufgabe jeder einzelnen Schulform.« Betont wurden außerdem die Durchlässigkeit, die vor allem durch Förderstufen entstanden war, und die »sozialpsychologischen Funktionen […], Tugenden der gegenseitigen Achtung, der Rücksichtnahme und der Toleranz«1308 zu fördern und soziale Vorurteile abzubauen. Demokratisierung durch Transparenz und Partizipation – die Herangehensweise Hamm-Brüchers In den Vordergrund rückte die Gesamtschule mit der Regierungsbildung 1966/ 67, weshalb mit Hildegard Hamm-Brücher trotz sozialdemokratischer Alleinregierung eine ausgewiesene Bildungsexpertin der FDP als Staatssekretärin ins Kultusministerium geholt wurde. Ihre von der ZEIT finanzierten und publizierten Betrachtungen1309 von Bildungssystemen der Bundesländer und von Staaten diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs hatten sie zur Überzeugung gebracht, dass die gegliederte Schulstruktur obsolet und die Gesamtschule die »Schule der Zukunft« sei. Über Hessen hatte die FDP-Politikerin voll Anerkennung geschrieben: »Nun, Hessen wird sozialdemokratisch regiert, und wer nicht anerkennen wollte, dass dort bildungspolitisch einiges Bemerkenswerte geschieht, der wäre ungerecht oder ignorant.«1310 Während Kultusminister Schütte neben den anderen Bereichen seines Ressorts nur in Teilen mit den Schulreformen befasst war und an sich lediglich für den groben Rahmen verantwortlich 1307 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe; Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 46f. 1308 Schütte, Kulturpolitik in Hessen, S. 45f. 1309 Die Bildungsreisen erschienen zunächst als einzelne Artikel in der Zeit, dann in gesammelter und veränderter Form als Hamm-Brücher, Auf Kosten unserer Kinder? 1310 Hamm-Brücher, auf Kosten unserer Kinder?, S. 67.
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zeichnete, oblag die zeitintensive und aufwändige Entwicklung der Schulreform Hildegard Hamm-Brüchers Verantwortungsbereich, weshalb ihre Person näher beleuchtet werden soll1311. Hamm-Brücher hatte in jenem Bericht zu Hessen drei Reformprojekte als besonders erwähnenswert befunden: Neben der Ausfüllung des »Bürgerrechts auf Bildung« durch eine Ausweitung staatlicher Bildung für jeden Einzelnen – von der Vorschulerziehung bis zur »differenzierten Gesamtschule« – sowie der Überarbeitung der Bildungsziele stand für sie die umfassende strukturelle Demokratisierung des Bildungswesens im Vordergrund: »Hierzu gehört: Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen – Überwindung autoritärer Denk- und Verhaltensweisen – Einübung in neue Formen demokratischer Willensbildung – Entscheidung, Verantwortung und Kontrolle.«1312 Später wollte sie sich allerdings nicht mit diesen vorgefundenen Ansätzen begnügen. Als Hamm-Brücher ins Ministerium kam, zeichnete sie sich weder durch große theoretische Analysen oder ideologische Traktate, noch durch besondere Konzepte oder eine originelle politische Haltung aus, sondern vor allem durch überragende Erfahrungen in diesem für die Politik doch noch verhältnismäßig jungen Sektor, durch einen von Detailkenntnis getragenen Pragmatismus. Dabei spielten sowohl ihre Erfahrung im politischen Betrieb als auch ihre intensive Beschäftigung mit der Organisation von Bildung eine wesentliche Rolle. Sie wusste schlichtweg, wie Schulen in Großbritannien, in Frankreich, in den USA, in der DDR, in (West-)Berlin und auch in Hessen organisiert waren, kannte den internationalen Diskurs und dessen Tendenz zur Gesamtschule und stand vor allem mit ihrem Namen für diese Kompetenz1313. Sie wurde ins Ministerium geholt »wie die Berufung eines Professors auf einen Lehrstuhl«1314. In ihrer politischen Arbeit sind viele Züge der englischen Nachkriegsbildungspolitik zu erkennen, die sie offenbar zum Vorbild nahm. In ihrem demokratischen Eifer schrieb sie1315 : »Französische Schulreform geschieht aus Staatsräson, englische aus demokratischer Überzeugung.« In dem entsprechenden Artikel aus ihren Bildungsreisen werden bereits die maßgeblichen Merkmale ihrer späteren Politik als Beobachtungen vorweggenommen. Sie berichtete, wie ohne Druck von oben die Gliederungen des Landes sich eine Regierungsinitiative freiwillig zu eigen gemacht hätten, wie ein demokratisches System in demokratischen Prozessen wuchs; sie analysiert die Widerstände und Schwierigkeiten und bewundert, dass das britische Ministerium davor nicht zurück1311 Vgl. Klafki, Erfahrungen und Einsichten, S. 258. 1312 Hamm-Brücher, auf Kosten unserer Kinder?, S. 50f. 1313 Vgl. Schreiber, Schulreform, S. 49f; Hamm-Brücher, »Bildungsreise durch Frankreich (I)«. In: DIE ZEIT 17/1967. Revolution auf dem Verwaltungsweg. 1314 »Rückgrat, Charme – und nun ein Amt«. In: DIE ZEIT 04/1967. 1315 Hamm-Brücher, »Bildungsreise nach England (l)«. In: DIE ZEIT 20/1967.
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schrak. Sie zeigt auf, wie dort alle Reform nach höchsten freiheitlichen Prinzipien aufgezogen wurde. Die Schulautonomie1316 findet sich später in der von ihr antizipierten Rücknahme der Macht der Schulaufsicht. Die bald von ihr geforderte Vereinheitlichung der Lehrerbildung in der Universität berichtet sie ebenso wie von Investitionen in die Lehrerfortbildungsstätten, die technische Ausstattung oder die innere Differenzierung nach Begabung und Neigung. Hinzu kommen auch Kritikpunkte ihrerseits wie die mangelnde Durchlässigkeit. Diese miteinbezogen lässt sich in Hamm-Brüchers Politik mehr als nur eine Orientierung an ihren Erfahrungen in England erkennen, eher Groß-Britannien als konkretes Vorbild. Gleichzeitig hatte sie die Integration möglichst vieler »Direktoren, Schulräte, Verbandsvertreter, Fachwissenschaftler, Bildungsplaner und ›Pädagogen von der Schulfront‹« in Amerika beobachtet und auch die Transparenz der dortigen Gesetzgebung als »die beste und instruktivste politische Bildung, die man sich nur denken kann«1317 erfahren, was eine Erklärung für ihr weitläufiges Hinzuziehen externer Kapazitäten und die Publikationen der Ergebnisse von Fachgremien liefern könnte. Auch wird Hamm-Brüchers kritische Einstellung gegenüber dem französischen Modell der Planification deutlich, einer Bildungspolitik, die »überwiegend motiviert durch die Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Gesamtplanung und ihre staatspolitischen Konsequenzen« sei – entsprechend der Bedarfskonzeption. Sie stellte darin nicht nur eine tiefe Kluft zwischen Theorie und Praxis fest, sondern auch zwischen dem, was überhaupt in Zahlen und Pläne zu fassen ist und dem, was nicht1318. Auch die von ihr in Paris besuchten »internationalen Bildungsplaner in den friedlich-schiedlich rivalisierenden Hauptquartieren der OECD und der UNESCO« bezeichnete sie spöttisch als »junge Zunft bildungspolitischer Wahrsager«1319. Mit dieser Analyse sprach Hamm-Brücher auch ihr Urteil über die Gesamtplanungsideen der sechziger Jahre in Hessen. Mit ihr würde es dort keine Planification geben, keine von oben diktierte Reform, die ihren Erfolg alleine an den Zahlen geschaffener Gesamtschulen bemessen würde. Beide Berichte, der über England und der über Frankreich, erschienen erst in der ZEIT, als Hamm-Brücher bereits im Amt der Staatssekretärin war. Es wäre töricht, anzunehmen, dass sie alleine als Analysen der bereisten Länder zu lesen sind. Bevor sie in diese Position kam, kannte sie sich als bayerische Oppositions1316 Vgl. Hamm-Brücher, »Bildungsreise in die neue Welt (I): Amerikas Geschäft heißt Erziehung«. In: DIE ZEIT, 27/1966. 1317 Ebd. 1318 Hamm-Brücher, »Bildungsreise durch Frankreich (I):Revolution auf dem Verwaltungsweg«. In: DIE ZEIT, 17/1967. 1319 Hamm-Brücher, »Bildungsreise durch Frankreich (II): Konkurrenz auf der Schulbank«. In: DIE ZEIT 18/1967.
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abgeordnete kaum im Bereich der Verwaltung aus, in den Mechanismen eines Ministeriums, und hatte daher, von außen in einen sozialdemokratischen Apparat mit erfahrenen Referenten gesetzt, nur wenig Hausmacht1320. Das Ministerium funktionierte in den Mechanismen einer Behörde, die sich zuvor lange Zeit mit ebenjenen Zehnjahresplänen, Kennziffern und quantitativer Planung, mit der bürokratischen Handhabung des Gegebenen beschäftigte und keinen Sinn für ihre kreativen Prozesse zur qualitativen Reform hatte. Hamm-Brücher entwickelte indes einen ausgeprägten Trieb zur Demokratisierung auf allen Ebenen, der diesen bürokratischen Strukturen stark zuwiderlief. Dass sie sich hier nicht in eine gewachsene Organisation einfügte, sondern ihre Umgestaltung anstrebte, trug ihr die meisten Antipathien und mit dem »in der SPD tief verankerten Verwaltungsfachmann Kolatz einen ›Stellvertretenden Staatssekretär‹«1321 ein. Die hierarchische Tradition war für Hamm-Brücher gleichzeitig eher unnatürlich, sagte sie doch über sich selbst, sie sei »zunächst ganz unsicher geworden«, als ihre neuen Mitarbeiter sie als Autorität alleine von Amts wegen anerkannt haben1322. Im Rückblick schrieb sie, »dass ungeachtet löblicher Einsichten auch dieser Wandlungsprozess hin zu einem progressiven, von obrigkeitsstaatlichen Schlacken befreiten Behörden-Selbstverständnis mindestens ebenso langwierig, schmerzlich und von Widerständen begleitet ist wie jeder verspätete Abschied von der Vergangenheit.«1323 Hierin ist wohl der Grund dafür zu suchen, dass sich die Arbeit an den Bildungsreformen künftig teilte, in einen koordinierenden, verwaltenden Teil innerhalb des Ministeriums und einen kreativen, schöpferischen Teil in Kommissionen. Hamm-Brüchers Ansatz war also von Anbeginn einer, der die Demokratisierung des Schulwesens nicht nur als Ziel, sondern ein starkes partizipatorisches Moment schon auf dem Weg dorthin als notwendig erachtete. Sie wollte »eine demokratische Schule mit demokratischen Mitteln«1324 schaffen. Bereits in ihrer Betrachtung Hessens im Rahmen der »Bildungsreisen« hatte sie sich kritisch darüber geäußert, dass es »im Bereich der Kulturpolitik von ›Genossen‹ nur so wimmelt«, was nicht nur »wenig geeignet ist, unsere Parteien glaubwürdiger zu machen, sondern es bietet nun mal einen miserablen Anschauungsunterricht für heranreifende junge Demokraten, wenn sie täglich vor Augen haben, wie einfach, wie plump und wie unerlässlich das parteipolitische Nach-der-Decke1320 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 56f. 1321 Ebd., S. 57. 1322 Hamm-Brücher, Becker, Hassenstein, Hentig, Kadelbach, Kogon, Gespräch: Autonomie und Autorität des Menschen – ein Spannungsverhältnis?, S. 12. 1323 Hamm-Brücher, »Hessische Erfahrungen«. In: DIE ZEIT 49/1969. 1324 HHStAW 807/34 (2), Rede von Hamm-Brücher zur Curriculum-Tagung in Kassel / Reinhardswaldschule (Konzept Gesellschaftslehre, ›Politisierendes Lernen‹), 18. 4. 1969, S. 2. Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 102.
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Strecken ist.«1325 Demokratisches Denken könne nur in demokratischen Strukturen entstehen und eine echte Demokratisierung der Strukturen dürfe nicht einfach von oben verordnet werden, sondern müsse selbst in einem möglichst demokratischen – in ihrem Sinne also partizipatorischen – Prozess zustande kommen. »Wenn wir es mit bildungspolitischen Forderungen nach Demokratisierung, Modernisierung, Verwissenschaftlichung und Kooperation, nach Transparenz der Entscheidungen und Abbau unbefragter Autorität ernst meinen, dann muss das auch für die Organisation der Schulverwaltungen, für ihre Amtsführung und ihren Amtsstil Konsequenzen haben.«1326 Dies zeigte sich bei der Gesamtschulplanung derart, dass Hamm-Brücher entgegen der allgemeinen Auffassung im Ministerium1327 nicht glaubte, »dass es zweckmäßig sei, Gesamtschulen in Form einer Landesplanung von oben her in Hessen zu entwickeln«1328 – ihr Prinzip, sagte sie später, sei gewesen: »Keine neuen Gesamtschulen, wo nicht Konsens herrscht vom Schulträger bis zu den Eltern«1329. Im Ergebnis stand als Kompromiss eine zentrale Planung mit starken subsidiären und partizipatorischen Elementen. Die Entscheidungsfindung im Ministerium koppelte sie an einen »Arbeitsausschuss für Gesamtschulfragen«, der beratend tätig sein sollte, um die neue Schulform auf möglichst breiter Basis und möglichst sachkundig zu diskutieren1330. Ihre Lesart von Demokratisierung nicht als politischer Akt, sondern als jeweilige Verwirklichung im Einzelfall zog sich bei Hamm-Brücher von der politischen Entscheidungsebene über die Schuladministration bis hin zur inneren Reform und der Ausgestaltung des Unterrichts: »Demokratisierung der Gesellschaft im allgemeinen und der Schule im Besonderen verlangt ein hierzulande noch völlig unerprobtes Prinzip des Zusammenlebens, das weder auf obrigkeitsstaatlichen Strukturen und Hierarchien alter Prägung basiert, noch auf dem anti-autoritären Absolutismus neuer Prägung. Dafür haben junge Engländer und Franzosen statt des vagen und vieldeutigen Begriffes der ›democratisation‹ den konkreteren und konkretisierbaren der ›participation‹ geprägt – einen Begriff, den ich im Folgenden deshalb bevorzugen werde, weil sich mit seiner Hilfe anschaulicher und eindeutiger beschreiben lässt, worauf es in der Schule so entscheidend ankommt: Auf die Abkehr 1325 Hamm-Brücher, »Hessen. Bildung ist eine Kilometer-Frage«. In: DIE ZEIT, 32/1965. 1326 Hamm-Brücher, »Hessische Erfahrungen«. In: DIE ZEIT, 45/1969. 1327 HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67 – Hamm-Brücher : »glaube nicht, dass es zweckmäßig sei, Gesamtschulen in Form einer Landesplanung von oben her in Hessen zu entwickeln.« – darauf Hess: »Wir müssen im Schreibtisch einen Plan haben, an dem wir die von außen kommenden Initiativen messen können.« 1328 HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier: Hamm-Brücher. 1329 Schreiber, Schulreform, S. 77; Zitat aus einem Zeitzeugengespräch. 1330 HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier: Hamm-Brücher.
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von der verordneten und deshalb mit Passivität beantworteten SMV […] und Hinwendung zu einem offenen, emanzipatorischen Prinzip engagierter Teilhaberschaft.«1331 Eine weitere Funktion des Arbeitsausschuss für Gesamtschulfragen war gewiss auch die Kommunikation nach außen, zumindest wurden Arbeitspapiere als »Information Gesamtschule« an entsprechenden Stellen gestreut. Im Ausschuss arbeiteten vorwiegend Lehrer an bestehenden Gesamtschulen, die sich wiederum in Fachgruppen genannte Unterausschüsse mit weiteren Untergruppen wie Begründung und Zielsetzung, Rollen und Funktionen, Unterricht oder Leistungsmessung aufteilten, die weiterhin zu unterscheiden sind von den gleichermaßen aus Gesamtschullehrern konstituierten Expertengruppen, die zunächst Gesamtschulen im Aufbau konkret unterstützen sollten, die Materialien und Konzepte erarbeiteten1332. Die Kommissionen stellten also Knotenpunkte zwischen dem Bildungswesen, der Bildungsverwaltung und der Öffentlichkeit dar. Sie sorgten einerseits dafür, dass Betroffene, Experten und Praktiker in den Prozess integriert wurden, andererseits aber auch die Bestrebungen des Ministeriums nach außen hin weitgehend transparent waren. Auch den direkten Informationsfluss zwischen Ministerium und Öffentlichkeit unter Hinzuziehung externer Experten beförderte Hamm-Brücher durch Schriftenreihen und eine Verbesserung der Kommunikation einzelner Projekte, durch die Etablierung eigener Kommunikationskanäle für untergeordnete Behörden, aber auch durch die große Beteiligung der betroffenen Gruppen. Die Aktivitäten des Ministeriums, die noch dazu viele Menschen einbezogen, generierten Aufmerksamkeit, und diese wurde genutzt: »Deshalb müsse die Unterrichtung über Ziel, Aufbau und innere Organisation von Gesamtschulen verstärkt werden, damit nicht Informationsmangel zu Missverständnissen und Fehlplanungen Anlass geben.«1333
Die Grundideen der Gesamtschule in Hessen Die Gesamtschule wurde bald im Anschluss der Regierungsbildung 1967 zur Doktrin der SPD-Regierung. Die Parole, die Kultusminister Schütte persönlich ausgegeben hatte, war : »Die Gesamtschule ist die Schule der Zukunft«1334. Sie war 1331 Hamm-Brücher, Demokratisierung – das große Thema unserer Zeit, S. 1. In: BPI 2/1969, S. 1–3. 1332 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 73–75. 1333 HHStAW 504/807, Der Hessische Kultusminister, M2 – Pressereferat, Informationen und Mitteilungen Nr. 20/68, Dritte Sitzung des Ausschusses für Gesamtschulfragen, 15. März 1968. 1334 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967.
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vom Mittel selbst zum Ziel geworden, und zwar als Regelschule, die langfristig das dreigegliederte Schulsystem völlig ersetzt. Mit der prinzipiellen Entscheidung für die Gesamtschule wurde ein Schalter umgelegt. Alle Beteuerungen der Erprobung, der Modellversuche wurden damit zur reinen Formel. Es ging nicht mehr darum, die Gesamtschule wie ein Werkzeug dort einzusetzen, wo sie günstig schien, auch nicht mehr um ein Experimentieren mit neuen Formen, nicht mehr um eine Erweiterung von Mittelpunktschulen und Förderstufen, es ging um das Ziel, dass irgendwann der größte Teil der hessischen Schüler in einer einzigen Schulform unterrichtet werde, wie es in anderen Staaten der Fall war, wie es die Wissenschaft nahelegen zu schien und wie es die Überzeugung aller Beteiligten war. Schütte zitierte Ranke: »In den einmal zum Bewusstsein gekommenen Ideen liegt eine nötigende Macht.«1335 Das Ministerium beschäftigte sich ab 1967 intensiv mit den Ideen zur Einführung von Gesamtschulen1336. Der Fachbereich Bildungsziele fasste zunächst einschlägige Texte zusammen und legte damit den Grundstein einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Zielen der Gesamtschule. Zusätzlich zur internen Debatte wurde externe Expertise hinzugezogen1337. Insbesondere die vorhandenen Erfahrungen mit Gesamtschulen in Berlin wurden nutzbar gemacht. In den Unterlagen finden sich Handzettel von Berliner Gesamtschulen1338, Protokolle Berliner Planungssitzungen. Auch gegenseitige Besuche1339 und sogar die einjährige Entsendung eines Lehrers an das Pädagogische Zentrum Berlin1340 fanden statt. In einer Sitzung im März 1969 wurde das Konzept »Sozialer Mündigkeit« nach Bruno Molitor1341 intensiv behandelt, welche »nicht nur formal garantiert, sondern institutionell hervorgebracht und gesichert werden« solle. Sie gelte »für 1335 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967. 1336 Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 77. 1337 Bspw.: HHStAW 504/4378, GS – 1001/00, Tätigkeit der Arbeitsgruppe Gesamtschule, 19. März 1969: Referat vom »Abteilungsleiter Wolfgang Schulz, Pädagogisches Zentrum, Berlin, zum Thema ›Koordination von Gesamtschulplanungen‹« sowie »Referat von Dr. Schäfer über die pädagogische Arbeit an der Odenwaldschule«. 1338 Vgl. HHStAW 504/807, Planungsgruppe Gesamtschule Britz – Buckow – Rudow, Berlin, 15. 12. 1967. 1339 Vgl. HHStAW 504/807, Jürgen Raschert, Kurzfassung des Referats über Gesamtschulplanung in der Bundesrepublik Deutschland am 4. Juli 1967 im Kultusministerium Wiesbaden, 17. 7.1967. 1340 Vgl. HHStAW 504/4378, GS – 1001/00, Tätigkeit der Arbeitsgruppe Gesamtschule, 19. März 1969. 1341 HHStAW 504/807, Anhang Protokoll des Beratungsausschusses »Gesamtschule« vom 20. 12. 1967, Dokumentation Gesamtschule. Fachbereich: Bildungsziele, S. 1. Vgl. Molitor, Bruno, Wirtschaftliche Aspekte der Sozialpolitik, S. 275ff, insb. S. 277 in: Boettcher, Erik (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform: ein einführendes Lehr- und Handbuch der Sozialpolitik, Tübingen 1957, S. 274–300.
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den einzelnen wie für Gruppen«. Darin findet sich, in Abgrenzung zum nicht erwähnten Ralf Dahrendorf, nicht der Rechtsanspruch des Einzelnen, sondern der Fokus auf den Menschen als soziales Wesen – und dass er dazu zu erziehen sei – wie auch seinen Anspruch auf Solidarität der Gemeinschaft, auf Sicherheit und die Kompensation unverschuldeter Not und Belastung, die auch durch die staatliche Kompensation der beruflichen Startchancen ihren Ausdruck finde. Mit Verweis auf Wolfgang Lempert und Carl-Heinz Evers wird die »demokratische Leistungsschule«, also die Gesamtschule, die einerseits allen die gleiche Chance, andererseits aber auch jedem die Möglichkeit zur bestmöglichen Ausbildung gebe, befürwortet. Dabei steht aber der soziale Aspekt im Vordergrund: »Durch eine Bildungspolitik, die soziale Barrieren im Zugang zu weiterführenden Schulen abbaut, kann langfristig eine Einkommens- und Vermögensnivellierung herbeigeführt werden, die das Wirtschaftswachstum nicht gefährdet, sondern eher fördert.« Ziel war nicht mehr das Wirtschaftswachstum, sondern eine (nicht wirtschaftsschädliche) Nivellierung. Es ging also um eine Veränderung in der Gesellschaftsstruktur. Der vom Pädagogischen Zentrum Berlin eingeladene Referent Wolfgang Schulz formulierte als Ziele der Gesamtschule: »Erfüllung von Leistungserwartungen in Bezug auf eine Leistungsgesellschaft, wobei aber als Voraussetzung dieser Leistungsgesellschaft ›Sozialintegration‹ gefordert wird.«1342 – Hierin wird die Dialektik der gesellschaftlichemanzipativen Konzeption deutlich, für eine Gesellschaft zu bilden, deren Veränderung wiederum Voraussetzung für die Bildung ist. Auch Ernst Schütte begann verstärkt, Bildung aus sozialpolitischer Warte zu betrachten, und formulierte vor dem Landtag: »Die Bildungsfrage ist eine soziale Frage« und problematisierte dazu die stark divergierenden Übertrittsquoten auf weiterführende Schulen der unterschiedlichen Schichten1343. An die Seite des sozialen Aspektes trat ein demokratischer, wobei der weitläufige Demokratiebegriff der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption Anwendung fand: »Die Gesellschaft hat ein Recht, die Inhalte der Erziehung und Bildung mitzugestalten. Bildungsziele können nicht allein von den Ausbildern festgesetzt werden, sondern die ›Abnehmer‹ haben ein gewichtigeres Wort mitzureden.«1344 Allerdings findet sich in der verwendeten Gesellschaftsanalyse lediglich die Rückführung des gegliederten Schulsystems auf die vordemokratische Zeit. Eine Kritik der Industriegesellschaft oder des Kapitalismus als 1342 HHStAW 504/807, Information Gesamtschule 4/1967: Einzelthesen von Abteilungsdirektor W. Schulz, Pädagogisches Zentrum Berlin, referiert am 6. 12. 1967. 1343 Schütte, Warum neue Schulgesetze? (Landtagsrede am 4. 7. 1968 zum Entwurf zur Novellierung der hessischen Schulgesetze), S. 5f. In: Schütte, Die Schule in der veränderten Welt, S. 3–15. 1344 HHStAW 504/807, Anhang Protokoll des Beratungsausschusses »Gesamtschule« vom 20. 12. 1967, Dokumentation Gesamtschule. Fachbereich: Bildungsziele, S. 7.
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System findet nicht statt, dementsprechend wurde Demokratisierung definiert als »Abbau hierarchisch-ständischer Strukturen des Schulwesens, die Auflösung autoritärer Curricula und Lehrmethoden und die Schaffung gleicher Bildungschancen für alle Kinder.«1345 Beim Berliner Referenten Schulz heißt es: »Demokratisch bedeutet in der Gesamtschule sowohl ›egalitär‹ als ›freiheitlich‹ (im Sinne einer loyalistischen und nicht verengt-totalitären Gesellschaft). Damit ist die Fähigkeit zur permanenten Verfremdung gegenüber einer prinzipiell zu verändernden Gesellschaft verbunden.«1346 Hierin findet sich der egalitäre Zweifel am Pluralismus aus der genannten Konzeption1347. Ebenfalls findet sich der entsprechende Emanzipationsbegriff, der die Herauslösung des Einzelnen (permanente Verfremdung) aus seinen Bindungen fordert, um eine idealdemokratische Gesellschaft herzustellen. Auch sozial differenzierende Begriffe wie Elite wurden forthin bewusst vermieden1348, soziale Differenzierung selbst nach objektiven Leistungskriterien wurde bald abgelehnt. Die herkömmliche Form der Zensurgebung, also die Bewertung nach abstrakten Maßstäben anstatt an individuellen Möglichkeiten, wird im Text des Referats Bildungsziele als »unpädagogisch und damit letztlich inhuman« kritisiert, ebenso das Sitzenbleiben und die Leistungsauslese1349. Auch in den Beratungen innerhalb des Bildungsministeriums wurde bereits eine Dynamisierung des Leistungsbegriffs diskutiert: »Mit der Errichtung einer Gesamtschule muss eine grundsätzliche Überlegung über die inhaltliche Differenzierung der Leistung verbunden sein. Eine neue Definition des Begriffes Leistung ist notwendig. Leistung im herkömmlichen Sinne darf nicht von vornherein als etwas Positives gesehen werden.«1350 Der Referent des Kultusministers Hans Nicklas widmete seinen Text in der von ihm herausgegebenen Festschrift zum 65. Geburtstag seines Dienstherrn der Neudefinition des Leistungsbegriffs. Ein »formalistisch und materiell verstandener Leistungsbegriff«, der sich von einem missverstandenen Humboldt her durch die preußisch organisierte Schule zog und im Nationalsozialismus kulminierte, könne zwar »hohe Schulleistungen, 1345 Nicklas, Leistung und Glück, S. 147. 1346 HHStAW 504/807, S. 67, Information Gesamtschule 4/1967: Einzelthesen von Abteilungsdirektor W. Schulz, Pädagogisches Zentrum Berlin, referiert am 6. 12. 1967. 1347 S. o., S. 119. 1348 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967, Hier : Minister Schütte (nur in Originalmitschrift, in genehmigtem Protokoll nicht mehr vorhanden): »Minister : Elite ist Zentralbegriff einer geschlossenen Gesellschaft. Er rät, die Diskussion mit diesem Begriff nicht zu belasten, der letztlich eine alte Vokabel darstellt.« 1349 HHStAW 504/807, Anhang Protokoll des Beratungsausschusses »Gesamtschule« vom 20. 12. 1967, Dokumentation Gesamtschule. Fachbereich: Bildungsziele, S. 6. 1350 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967, hier : Prof. Osieka.
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angelerntes Wissen und eingeübte Fertigkeiten erzielen«, trage aber nicht dazu bei, die »freie Persönlichkeit« zu entfalten, sondern fördere im Gegenteil die Übernahme fremder Meinungen und ein »Denken und Urteilen in fixierten Schemata«1351. Gerade, weil die moderne Gesellschaft nach hoher und konkreter Leistungsfähigkeit rufe, dürfe man nicht der Versuchung erliegen, »dass der traditionelle, am abfragbaren, messbaren, benotbaren Wissen orientierte Leistungsbegriff in der Gesamtschule erneut sich durchsetzte«. So stand auch die Debatte um die innere Reform des Schulsystems lange unter der Frage der richtigen Leistungsmessung. »Wie kann der statische Leistungsbegriff ersetzt werden durch ein dynamisches Verständnis von Leistung? Dann: Wie kann die egalitäre Leistungsanforderung umgewandelt werden in individualisierte Lernprozesse? Und schließlich: Ist ein repressionsfreier Weg zur Leistung möglich?« Ein erster Ansatz war, anstelle der Leistung als Ergebnis die Leistungsbereitschaft als Erziehungsziel zu setzen1352. Mit der Individualisierung des Lernens sollte also auch eine Individualisierung der Maßstäbe einhergehen. Auch die Sanktionierung sollte sich ändern: Nicht mehr die Folgen einer mangelnden Leistung – die schlechte Note, das Sitzenbleiben etc. –, sondern die mangelnde Leistung selbst sollte das sein, was der Schüler vermeiden wollen sollte. Dazu brauche es aber eine tiefere Identifikation mit der Leistung, als sie die traditionelle Schule liefern könne. Entsprechend dieser Auseinandersetzung mit dem Thema Leistung wurde Integration bald bis hin zur möglichst weiten Nivellierung diskutiert. Schon für die Zubringerschulen, also Volks- oder Grundschulen, aus denen sich die einzelnen Gesamtschulen rekrutieren würden, wurden »Egalisierungsprogramme« angedacht1353. Wurde nach außen hin stets betont, die Gesamtschule solle jeden Schüler individuell fördern, verengte sich der Fokus von Förderungsmaßnahmen bereits in der Findungsphase im internen Diskurs allmählich auf die leistungsschwachen Schüler. Als Vorzüge der Gesamtschule galten nunmehr die »Förderung der Kinder, die aus unterprivilegiertem Elternhaus kommen, [und die] Verwirklichung demokratischer Schulorganisation in der Gesamtschule zur Sicherung unserer demokratischen Staatsverfassung«1354 Ausgleichende Formulierungen, dass das herkömmliche System sich nicht nur auf die leistungsschwächeren oder unterprivilegierten Schüler negativ auswirke, sondern auch »die in bestimmten Fächern Hochbegabten bremst«1355, wie von außen in das 1351 Nicklas, Leistung und Glück, S. 146f. 1352 Ebd., S. 148f. 1353 HHStAW 504/807, Dokumentation Gesamtschule 5/67: Pädagogisches Zentrum Berlin Abteilung Didaktik Wolfgang Schulz und Mitarbeiter. 1354 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967, hier : OStDir. Rack, Fritzlar. 1355 HHStAW 504/807, Jürgen Raschert, Kurzfassung des Referats über Gesamtschulplanung
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Ministerium hereingetragen wurde, kommen nicht mehr vor1356. Allerdings wurden nicht nur sozial benachteiligte Schüler mit kompensatorischen Maßnahmen bedacht; auch diejenigen Schüler, die aufgrund ihrer sozialen Stellung bislang ein Gymnasium besucht hatten, ohne dem tatsächlich gewachsen zu sein, und gleichermaßen negative Erlebnisse (»bittere Enttäuschungen, Kinderund Elternsorgen«) aus dem gegliederten Schulwesen zogen, gerieten ins Blickfeld. Es ging also einerseits um Chancengleichheit für alle Kinder, aber auch um einen dem Individuum angemessenen Unterricht. Das Motto lautete daher »fördern statt auslesen«. Dazu diente zunächst die Förderstufe in den Klassen 5 und 6, »in denen allen Kindern eine gleichmäßig intensive Begabungsweckung und -förderung zuteilwird.« Die Einführung solch einer »mehrjährigen Periode einer offenen, vielseitigen, individuellen und gleichmäßigen Begabungsweckung und -förderung« sei notwendig, damit: 1. »nicht bereits bei 10jährigen Kindern eine endgültige Entscheidung über ihren künftigen Bildungsweg getroffen wird, 2. Kindern auch ohne zusätzliche Hilfe und Förderung durch das Elternhaus ein Zugang zu weiterführenden Schulen eröffnet wird, 3. Das Zusammenarbeiten und Zusammenleben von Schülern aller Begabungsrichtungen einer einseitigen schichtspezifischen Elitebildung entgegenwirkt, 4. Förderstufen eine Modernisierung und bessere Nutzung der Schule ermöglichen und 5. Weitgehend vermieden wird, dass Schüler einen Bildungsweg einschlagen, dem sie nicht zu folgen vermögen, auf dem sie vielmehr früher oder später nach vergeblichen Mühen und bitteren Enttäuschungen scheitern.«1357 Die integrativen Maßnahmen kompensatorischer Bildungspolitik wandten sich damit nicht nur gegen die historische Gesellschaft, sondern auch gegen die Eltern. »Das Vehikel, mit dem sich solche gesellschaftlichen Tendenzen« – gemeint ist in diesem Falle ein zur autoritären Gesellschaft führender Leistungsbegriff – »durchsetzen, ist vor allem das Elternrecht und der Elternwille. Wenn die Schule heute, wie Schelsky meint, zur ›zentralen sozialen Dirigierungsstelle‹ der Gesellschaft geworden ist, dann ist der Druck der Eltern auf ihre Kinder, ›Leistung‹ zu zeigen, die eine höhere Berufschance und damit eine größere in der Bundesrepublik Deutschland am 4. Juli 1967 im Kultusministerium Wiesbaden, 17. 7. 1967. 1356 Ebenso bei HHStAW 1207/4, Der Hessische Kultusminister, GS – 1006/01, Information Gesamtschule, Fachbereich: Leistungsmessung, För 1.3 / Neufassung, Titel: Fördermaßnahmen. Ergebnisse aus den Sitzungen der Expertengruppen (Carl, Freudel, HollandCunz, Keim, Sander, Schäfer, April 1969, S. 2. Verfasser : RR Schäfer und Frau L. Carl. 1357 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe.
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Konsumrate verspricht, nur zu verständlich.«1358 Den Eltern wird nicht zugetraut, die bessere Entscheidung zu treffen, wobei es um die bessere Entscheidung für die Gesellschaft geht, nicht für das Kind. Hier treten zentrale Elemente der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption hervor. Die aktive Veränderung der Gesellschaft kann nur gegen die existente Gesellschaft stattfinden, Emanzipation ist ein notwendiger aktiver Akt der Schule am Schüler. Dabei wird auch die der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption erörterte Dialektik wieder offenbar, die aufeinander bezogene Wechselwirkung von Veränderung des Einzelnen und Veränderung der Gesellschaft. Nicklas formuliert entsprechend, was »das eigentliche Ziel aller Erziehung sein soll: die glückhafte Selbstverwirklichung des Menschen. Ob das allerdings allein im isolierten Bereich der Schule möglich ist oder ob nicht daraus Konsequenzen für den gesellschaftlichen Gesamtzustand sich ergeben, muss an dieser Stelle offen bleiben.«1359 In der vom Ministerium als »Information Gesamtschule« herausgegebenen Reihe für interessierte Gruppen wie Eltern, Lehrer, Kommunen bestätigt sich der Eindruck, dass gerade über den kompensatorischen Aspekt die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation zu einem bestimmenden Faktor der Gesamtschule wurde. Darin finden sich mit Zahlen unterlegte Analysen zur gesellschaftlichen Situation, die belegen, dass durch das dreigliedrige Schulsystem bestimmte Schichten benachteiligt würden – Kinder von Arbeitern, Bauern, Katholiken sowie Mädchen werden explizit genannt1360. Ludwig von Friedeburg fasste zusammen: »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass eine sinnvolle Auslese und damit die Zuweisung an die weiterführenden Schulen bei 10jährigen Kindern noch nicht möglich ist. In diesem Alter fällt das Bildungsmilieu, in dem die Kinder aufwachsen, noch so stark ins Gewicht, dass die Auslese im Grunde die soziale Position des Elternhauses spiegelt.«1361 – All das führte für den Kultusminister zu dem ultimativen Schluss: »Diese Tatsachen allein reichen schon aus, um eine neue Gliederung unseres Bildungssystems zu begründen.«1362 Argumentiert wird dabei längst nicht mehr über die für die Gesellschaft zu erschließenden Begabungsreserven, sondern über das Motiv der Chancengerechtigkeit: Nach der Grundschule »muss entschieden werden, welche Schulfor1358 Nicklas, Leistung und Glück, S. 148. 1359 Ebd., S. 152. 1360 Vgl. HHStAW 504/3798 Der Hessische Kultusminister : Information Gesamtschule, Fachbereich: Begründung und Zielsetzung Beg 1.2. Gesamtschulen – Hessens Schulform von morgen, März 1970., S. 2. 1361 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe. 1362 HHStAW 504/3798 Der Hessische Kultusminister : Information Gesamtschule, Fachbereich: Begründung und Zielsetzung Beg 1.2. Gesamtschulen – Hessens Schulform von morgen, März 1970, S. 5.
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men sie weiterhin besuchen wollen oder sollen – und mit ihrem Verbleib an der Volksschule oder ihrem Übertritt zur Realschule bzw. zum Gymnasium ist die Entscheidung über ihren zukünftigen Lebensweg, ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht des Volkes, meist schon gefallen.« Dabei wird nicht alleine auf die soziokulturellen Anlagen einer Familie rekurriert, sondern auch expliziert, weshalb gewisse Elternhäuser »nicht die nötigen Voraussetzungen für eine weitere Bildung mitbringen«. Neben äußeren Faktoren wie der Entfernung zwischen Wohn- und Schulort und schichtbedingten Eigenschaften wie »weil die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten ein unterschiedliches Sprachverhalten bedingt« oder »weil sie selbst eine andere Schulbildung erfahren haben, die es ihnen erschwert, ihren Kindern zu helfen«, wird vor allem die Fähigkeit der Eltern, für ihre Kinder die richtigen Entscheidungen zu treffen, angezweifelt: »Weil sie die höhere Leistungsfähigkeit ihres Kindes nicht erkennen, weil sie aus materiellen Gründen auf einen möglichst raschen Abschluss der Schulzeit drängen – zum späteren Nachteil ihres Kindes, […], weil sie nicht voraussahen, welche Forderungen im Jahre 2000 an die dann Erwachsenen gestellt werden.«1363 Gehörten kompensatorische Maßnahmen durchaus auch zum Werkzeugkasten der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption, ist das deutliche Misstrauen gegenüber den Eltern – und umgekehrt das große Zutrauen in die Möglichkeiten des Staates – ein wichtiges Element der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption. Die Tendenz zu dieser Diskursformation als bestimmendem Begründungszusammenhang zeigt sich dann auch in dem dieser durchweg negativen Analyse des Status quo entgegengesetzten Versprechen der Gesamtschule. Deutlich wird das darin, dass einen mündigen Menschen demnach nicht ausmache, dass er für sich selbst frei die besten Entscheidungen treffen könne, sondern in einer bestimmten Haltung1364. Die Gesamtschule als Ziel- und Ausgangspunkt der Bildungspolitik Bald wurde auch die Planung entsprechend geändert. Während Hamm-Brücher noch aus ihren Bildungsreisen geschlossen hatte, die differenzierte Gesamtschule sei die Schule der Zukunft, drängte bald alles in Richtung Integration. Statt die Schüler schulintern nach Leistung zu differenzieren, also wiederum homogene Gruppen in den einzelnen Fächern herzustellen, kam nun die »Forderung nach didaktischer Differenzierung« auf, »bei der zu Beginn jeder Unterrichtseinheit eine differenzierte Diagnose für jeden Schüler (Tests, Beobachtungen, Interview,
1363 Ebd. S. 2f. 1364 Vgl. ebd., S. 5.
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Erwartungen) durchgeführt wird und danach u. U. bewegliche Gruppen z. T. auch nur für partielle Lernbereiche gebildet werden.«1365 1967 konzipierte das Bildungsministerium ein Bildungssystem, in dem die Gesamtschule die zentrale Schulform darstellte, an der sich alle Bildungspolitik werde orientieren müssen. Dabei wurde nicht nur an die Zusammenlegung von Volks- oder Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien gedacht, sondern auch die Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung antizipiert1366. Die Herausforderung war, den laufenden Schulbetrieb in Bahnen zu lenken, durch die sich mittelfristig Integrationsformen erreichen ließen, ohne durch zu schnelles Vorgehen an finanziellen, organisatorischen und gesellschaftlichen Widerständen zu scheitern, andererseits aber auch nicht wieder – wie in den fünfziger Jahren – das eigentliche Ziel aus Sachzwängen zu lange vor sich herzuschieben1367. Zunächst gehe es also um eine Harmonisierung der verschiedenen Schulformen in Form der Horizontalisierung des Schulsystems. Die organisatorisch und vor allem baulich und finanziell viel herausforderndere Zusammenführung aller Schüler in echte Gesamtschulen stehe erst am Ende der Entwicklung. Um ein solches System einführen zu können, mussten zunächst gewisse Bedingungen erfüllt werden. Die Lehrerbildung etwa musste angepasst werden, da eine Horizontalisierung des Schulsystems – Stufen statt Glieder – keine nach Schulformen ausgebildeten Lehrkräfte benötige, sondern Stufenlehrer. Die Übertragung der Schulträgerschaft von den Gemeinden auf die Landkreise war nötig, um bei der Planung größere Gebiete berücksichtigen zu können, eine Gesamtschule musste schließlich auch eine gewisse Größe haben1368. Ebenfalls mussten die Lehrpläne – dann als Curricula – angepasst werden, um auch eine inhaltliche Harmonisierung zu gewähren, wie noch gezeigt werden soll. Ab 1967 setzte dann auch eine starke Homogenisierung des institutioneninternen Diskurses ein. Dadurch, dass die starke Erhöhung der Zahl der an der Schulplanung beteiligten Personen ausschließlich Befürworter der Gesamtschule integrierte, sank die Bedeutung einzelner hausinterner Kritiker im Verhältnis beträchtlich. Mit der Berufung von Hans-Georg Rommel zum Ministe1365 HHStAW 504/4378, E IV – 1000/01, Herrn Minister, Betr.: Informationsunterlagen zur Gesamtschule (Entwurf), Gez. Rommel, 28. 10. 1969. 1366 Gleichzeitig stand noch in Aussicht, die Gesamtschulen vornehmlich nur bis zur zehnten Klasse einzuführen, nach der ein Großteil der Schüler abgehen werde, und die restlichen wiederum in Mittelpunktschulen für die Oberstufe zusammenzufassen. Vgl. HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier: Hamm-Brücher. 1367 Vgl. etwa HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier : Dr. Rommel. Mit Hinblick auf eine angestrebte Integration der Berufsschulen hieß es: »Wichtig ist, dass die Entwicklung der verschiedenen Schulformen nicht auseinandersondern zusammenläuft.« 1368 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 65.
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rialbeauftragten für die Gesamtschulen stand fortan ein glühender Verfechter des Projektes am organisatorischen und kommunikativen Knotenpunkt. Der ihn berufenden Staatssekretärin Hamm-Brücher schrieb er, »Ich sagte Ihnen, sehr geehrte Frau Staatssekretär, dass ich noch im vorigen Herbst pessimistisch war und nur eine Entwicklung auf lange Sicht für möglich hielt. Nun hat sich das Blatt gewendet. Ich werde immer – ganz gleich wo – (und Positionen und Stellungen sind ja eine sehr vergängliche Sache) die Sache der Gesamtschule, so gut ich es kann, vorantreiben. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir sie brauchen, wenn alle Jungen und Mädchen einmal als nüchtern denkende und kritische und verantwortungsbewusste Bürger eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit und des freiheitlichen Handelns in dieser Welt der Sekundärstrukturen aufbauen sollen und dazu all ihre Kräfte entfalten können und müssen.«1369 Jede Einschränkung der Position zur Gesamtschule hätte angesichts der Tragweite des umfänglichen Vorhabens dieses als Ganzes infrage gestellt, und gleichzeitig wähnte man sich im Begriff, eine sehr bedeutende Entwicklung für die Gesellschaft voranzutreiben; die Begeisterung für die Gesamtschule hatte weite Kreise der Verantwortlichen innerhalb und außerhalb des Ministeriums ergriffen1370. Kultusminister Schütte hingegen sah es 1967 noch als großes Problem an, die absolute Entscheidung für die Gesamtschule als solche zu kommunizieren. Er hielt sie zwar für völlig richtig, gab aber zu bedenken: »Obwohl die schulpolitische Entwicklung in den europäischen Ländern diesen Satz bestätigt, halten ihn die meisten unserer Mitmenschen noch für eine ideologisch aufgeladene Behauptung.«1371 Fortan wurde das Vorgehen sehr stark von der Kommunikationsstrategie des Ministers bestimmt. Im Ergebnis müsse die Integrierte Gesamtschule stehen, was aber nach außen nicht so dezidiert formuliert wurde. Statt einen klaren Fahrplan zur Gesamtschule zu kommunizieren, wollte er kommunikativ im Ungefähren bleiben. Dieser Strategie war die Herangehensweise an die Reform geschuldet: Verschiedene Einzelmaßnahmen wie Modellschulen und Schulversuche sollten etabliert werden und so auf die künftige Gesamtschule hinführen – »die Wege mögen verschieden sein«1372, das Ziel war jedoch dasselbe. Die Modelle seien so anzulegen, dass sie leicht und »bald auf größerer Breite verwirklicht werden können«; das hieß auch die bauliche Nähe 1369 HHStAW 504/807, Dr. Hans-Georg Rommel, Frankfurt, an Frau Staatssekretär Dr. HammBrücher, 15. 7. 1967, S. 6. 1370 Mehr zur Homogenisierung des gesellschaftlich-emanzipativen Diskurses im Zuge der Curriculumentwicklung, s. u. S. 342f. 1371 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967, Hier: Minister Schütte. Vgl. unterstützend HHStAW 504/810, »Was will die Gesamtschule? Zur Klärung eines umstrittenen Begriffs«. In: Welt der Arbeit vom 3. November 1967. Vgl. auch Hamm-Brücher, »Bildung in der Sowjetunion (3): Einheitsschule und Auslese«. In: DIE ZEIT, 49/1964. 1372 Schütte, Warum neue Schulgesetze?, S. 4f.
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verschiedener Schulformen (daraus »ergibt sich an Ort und Stelle auch ein gesamtpädagogisches Konzept, das die Integration in der gleichen Schulstufe einleitet«). Das bedeutete sogar, offensiv darauf hinzuarbeiten, dass Schüler Klassen überspringen könnten, denn das sei »auch eine Methode, einen Klassenverband aufzulösen und nähert sich dem Prinzip der Gesamtschule«. Während also intern ein klarer Fahrplan zur Integrierten Gesamtschule vorlag, sollte dieser Weg von außen aussehen wie eine allmähliche, evolutionäre Entwicklung. Wo intern auf die Zukunft hin geplant wurde, stand in der Öffentlichkeit stets an erster Stelle der Blick zurück, nämlich auf die Defizite des »tradierten Schulsystems« in Chancengleichheit und Leistungsfähigkeit aufgrund ihrer Tradition »aus feudaler, undemokratischer Zeit«1373. Indem dem gegliederten System durchaus eine Funktion für die vergangene Gesellschaftsform zugestanden wurde, erschien das Gesamtschulsystem als Antwort auf die veränderte Wirklichkeit wiederum als Entwicklung, nicht als bewusster politischer Akt1374. In der Außenkommunikation sollte also stets auf die Nachteile des gegliederten Schulsystems hingewiesen werden. Zur Unterstützung sollte noch der Bildungsrat dazu bewegt werden, von der Forderung nach wissenschaftlicher Prüfung anhand von Modellen abzurücken und die dezidierte Forderung nach der Einführung von Gesamtschulen auszugeben1375. Der Opposition wurde besondere Beachtung in der Kommunikation zuteil, was auch fruchtete. Während die FDP angesichts der Parteiangehörigkeit der verantwortlichen Staatssekretärin ohnehin der Linie der Landesregierung weitgehend folgte, lenkte die CDU ohne erkennbare Not ein und kritisierte bald nicht mehr das Ziel der Gesamtschule, sondern nur noch deren Umsetzung und Mittel1376. Die von Schütte gefürchtete Ideologisierung der Debatte blieb in der Vergangenheit, und angesichts der so offenen wie breiten Behandlung der Gesamtschule auch in der Wissenschaft war eine Stigmatisierung als Schule des Sozialismus auch plötzlich nicht mehr glaubwürdig. Die verbliebene Kritik der CDU an den Reformen der Landesregierung konnte diese leicht aufgreifen und zurückspiegeln. Hildegard Hamm-Brücher stellte die ihrer Ansicht nach »für alle künftigen Entwicklungen entscheidende Frage: Darf eine Schulreform die traditionsbedingten Barrieren niederlegen – mit der möglichen Folge, dass sich die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Kräfteverhältnisse in unserem Land dadurch ändern, dass auf lange Sicht ein großer Prozentsatz von 1373 Ebd., S. 11. 1374 Vgl. auch Nicklas, Zur bildungspolitischen und pädagogischen Notwendigkeit der Gesamtschule, S. 27f. 1375 Ebd., »Auch der Bildungsrat sollte den Grundsatz, dass die Gesamtschule die Schule der Zukunft ist, mit besonderer Betonung an die Öffentlichkeit weitergeben. Das Argument des Abwartens wird provoziert, wenn wir zu lange an einzelnen Modellschulen festhalten.« 1376 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 66f.
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Kindern aus den unteren Schichten durch einen Bildungsaufstieg Zugang zu führenden Positionen erhält?« und ließ nicht offen, wie ablehnend die CDU ihrer Meinung nach dazu stehe1377. Bis 1970, vor der Debatte um die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre und nach der verstärkten Einführung von Gesamtschulen, war das schärfste Schwert der CDU nur noch der eigene Maßstab der SPD1378. Damit entsprach die Reaktion der CDU weitgehend der Kalkulation der Regierung. Schütte hatte sich nämlich 1967 das Beispiel des Rahmenplans der KMK zum Vorbild genommen, welcher zunächst von der CDU abgelehnt wurde; aber nachdem er durch den Deutschen Ausschuss gegangen war, »wurde von denselben Leuten der Plan besonders gepriesen«1379. Die absolute Zielstellung der Integrierten Gesamtschule sollte aus dieser Strategie heraus verschwiegen werden. Dass im Bau von Schulen bereits darauf hingearbeitet wurde, sei »gegenüber der Öffentlichkeit und der CDU nach dem Motiv ›alle Entwicklungen sind damit offengehallten‹ zu vertreten.« Es sollten gleichzeitig »die wichtigsten Argumente der CDU gegen die Gesamtschulen überzeugend widerlegt« werden1380. Als der CDU-Abgeordnete von Zworowsky dann 1968 im Landtag zwar noch eindringlich warnte, die Schulversuche dürften »kein Instrument einer schleichenden, permanenten Korrektur mit dem Ziel der Strukturwandlung unseres Schulwesens sein«1381, ihnen aber mit großen Teilen seiner Fraktion zustimmte, war die Strategie der Landesregierung vollends aufgegangen: Die Gesamtschule war, als das wenig präzisierte, vorläufige, theoretische Konstrukt, das die Landesregierung der Öffentlichkeit angeboten hatte, zum Konsens geworden und harrte nun ihrer Konkretisierung. Ab 1968 war für einige Zeit am prinzipiellen Ziel der Gesamtschule kaum mehr öffentlich Kritik zu vernehmen. Die Diskussion um die Gesamtschule bezog sich dann bis Anfang der siebziger Jahre keinesfalls auf die Idee dahinter. Die CDU-Opposition kritisierte gemeinsam mit Landeselternbeirat und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), wenn auch scharf, Ausmaß und Geschwindigkeit der Reform. Vor der Finanzierung und mangelnder Einheitlichkeit mit den anderen Ländern der Bundesrepublik war die Konzentration aller Mittel auf die Errichtung von Integrierten Gesamtschulen der Hauptkritikpunkt. Dies führe zu einer Ver1377 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation«. In: DIE ZEIT, 38/1968. 1378 Vgl. HHStAW 502/902, Hessische Allgemeine, 25. Juni 1970: : »Dregger sagte am Mittwoch in Wiesbaden, wer ›Hessen 80‹ an dessen eigenem Anspruch messe, nicht technokratischer Maßnahmenkatalog, sondern langfristiger gesellschaftspolitischer Entscheidungsrahmen zu sein, sehe sich insgesamt enttäuscht.« 1379 HHStAW 504/810, Der Hessische Kultusminister, ›Gesamtschulen in Hessen‹, Sitzung am 4. Juli 1967, 28. 7. 1967. 1380 HHStAW 504/4378, E IV 1, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, Dezember 1969. 1381 Zitiert nach Engel, Die Diskussion im Hessischen Landtag, S. 10.
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nachlässigung aller anderen Schulformen, insbesondere der Grund- und Berufsschulen. Die CDU forderte aus diesen Gründen einen sofortigen »Genehmigungsstop für Integrierte Gesamtschulen«, aber nicht die Restitution des dreigliedrigen Schulwesens. Der Abgeordnete von Zworowsky erklärte sogar im kulturpolitischen Ausschuss des Landtages explizit, »die CDU-Fraktion habe mit ihrer Initiative erneut deutlich gemacht, dass auch sie die Gesamtschule wolle. Es gehe nur um Form und Inhalt der Gesamtschule.«1382 Auch wenn mit der »Form« gemeint ist, dass die CDU additive Gesamtschulen bevorzugten, dann doch nur, weil sie diese für zweckmäßiger hielt1383. Die Kritik der CDU-Opposition richtete sich insbesondere gegen die Benachteiligung anderer Schularten gegenüber der Integrierten Gesamtschule. Diese inhaltlich anzugreifen, traute sich die Opposition noch nicht1384. Damit unterschied sie sich nicht sehr von der Kritik der GEW, die voll hinter der Integrierten Gesamtschule stand, sie aber durch ein übereiltes Vorgehen politisch gefährdet sah1385. Diese geschickte Strategie des Ministerpräsidenten war für Hildegard HammBrücher offenbar nicht mit ihren Vorstellungen von Transparenz vereinbar. Sie preschte 1968 vor und kritisierte dabei auch nur leidlich kaschiert genau diese Strategie des Kultusministers: »Taktisch gesehen wäre es sicher kluger, Gesamtschulen sozusagen auf kalten Wege, vorsichtig und getarnt, zu etablieren. Man könnte sich auf diese Weise politischen Ärger ersparen. Dennoch meine ich, dass diese Auseinandersetzung offen und offensiv geführt werden muss: einmal, weil in sachlicher Hinsicht nicht länger gewartet werden kann, nachdem die bildungspolitische Verspätung der Bundesrepublik im Vergleich zu den Anstrengungen anderer Industrienationen bereits mehr als ein Jahrzehnt beträgt, und zum anderen aus grundsätzlicher politischer Einsicht. Eine demokratische Gesellschaftspolitik kann grundsätzlich nur an der Bildungspolitik transparent und glaubwürdig gemacht werden, und beides, die Transparenz und die Glaubwürdigkeit demokratischer Institutionen, sind wir unserer Staatsform bislang schuldig geblieben. Nur darum konnte die Polarisierung antidemokratischer Kräfte in den letzten eineinhalb Jahren so radikal sein.«1386 Auch sonst argu1382 HHStAW 504/1300b, Ausschnitt aus dem Kurzbericht über die 14. Sitzung des kulturpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtags vom 2. März 1972, S. 26. 1383 Wolf von Zworowsky, MdL (CDU), gem. HHStAW 504/1300b, Oberhessische Presse: Fehler ›im Galopp‹ gemacht. Schulexperte der hessischen CDU sprach vor Marburger Lehrern, 15. 02. 1972. 1384 Ab Oktober 1971 forderte die CDU einen Genehmigungsstop für Integrierte Gesamtschulen, vgl. HHStAW HHStAW 504/1300b, »CDU fordert Genehmigungsstop für integrierte Gesamtschulen«. In: Wiesbadener Tagblatt vom 01. 10. 1971. Vgl. auch HHStAW 504/1300b, »›Ideologisch motivierte Experimente‹«. In: Wiesbadener Kurier vom 21. 01. 1972. 1385 HHStAW 504/1300b, Frankfurter Neue Presse: Bei Gesamtschulen langsamer treten. 1386 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation«. In: DIE ZEIT, 38/1968.
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mentierte sie weniger mit Gegebenheiten und Entwicklungen, sondern formulierte klar ihre Ziele der Reform1387. Hamm-Brüchers Vorstellungen von Offenheit und die Vorstellungen Schüttes von Strategie widersprachen sich essentiell. Den internen Diskurs nach außen zu tragen, hieß immer, zusätzliche Angriffsflächen zu schaffen. Die Kehrseite der Partizipation war der öffentliche Konflikt. Die Veröffentlichungen des Ministeriums bekamen nach Hamm-Brüchers Weggang zunehmend Werbecharakter. 1972 wurden von der Staatskanzlei Faltblätter gedruckt, die hessischen Tageszeitungen beigelegt wurden, das erste davon zum Thema »Schulen bestimmen die Zukunft«. Gleichzeitig fehlten die »Mittel, um die vonseiten des KM dringend erforderlichen Broschüren zur Informierung von Lehrern und Eltern (Bildungswege!) drucken zu lassen«1388 – hier wurde der Werbung ganz klar gegenüber der Information Vorrang gegeben. Die kommunikative Strategie, die Gesamtschule als folgerichtiges Ende einer natürlichen Entwicklung darzustellen, findet sich auch in den Veröffentlichungen zum zweiten Durchführungsabschnitt des Großen Hessenplans von Ministerpräsident Zinn wieder. Dort wird eine automatische Entwicklung nachgezeichnet, von den wenigen vorhandenen Beispielen additiver Gesamtschulen über verschiedene Formen der Integration, vermehrte Modellversuche hin zur zukünftigen Integrierten Gesamtschule. Die aus den Schulversuchen erwarteten Ergebnisse – eine »bessere Förderung der individuellen Begabung« sowie ein »wesentlicher Beitrag zur Demokratisierung des Schulwesens und zur Durchsetzung der Chancengleichheit« – standen nicht unter Vorbehalt, sondern wurden bereits als gesichert angesehen1389. Während dieser Gesamtschuleuphorie in der Regierung und darüber hinaus, daran sei erinnert, gab es reell immer noch ausschließlich die wenigen Gesamtschulen, die sich aus funktionalen Gründen historisch entwickelt hatten; und deren Entwicklung, so wusste man, waren »der geschichtsbildenden Kraft des Zufalls und derjenigen der Schulträger überlassen worden«1390. Selbst ihre rechtliche Überführung zur Gesamtschule fand erst 1967 statt. Die Eröffnung der ersten von Anbeginn als Integrierte Gesamtschule konzipierten Schule war erst für den Herbst 1968 in Gießen geplant1391. Noch 1969 gab es keine nähere
1387 Vgl. bspw. Hamm-Brücher, Perspektiven der hessischen Schulreform, S. 21. 1388 504/2933–2934, IV A3, 3.7.72, Vermerk für Herrn Minister. 1389 HHStAW 502/6647, Der Hessische Ministerpräsident (Hg), Der Große Hessenplan, Heft 2: Durchführungsabschnitt für die Jahre 1968 bis 1970, Wiesbaden 1968. 1390 HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier: Dr. Skala. 1391 Vgl. HHStAW 504/807, GS – 1006 Januar 1968, Entwicklung der Gesamtschulen in Hessen, Stand 1. 1. 1968. In der Rückschau HHStAW 504/4378, E IV – 1000/01, Herrn Referenten M3, Betr.: Berichte der Ressorts, Bezug: Erlass Staatssekretär vom 28. 1. 1970. Zusammenfassende Darstellung der Leistungen in der ablaufenden Legislaturperiode und der Perspektiven der Gesamtschulentwicklung, 18. 02. 1970.
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Planung zu den Investitionskosten für den Gesamtschulbau1392. Die Entwicklung hin zur Gesamtschule war also innerhalb des Diskursrahmens ab 1967 gesetzt, sie entzog sich fortan der Begründungsnotwendigkeit. Argumentationen zielten auf die strategische Umsetzung dieses Ziels, dessen Überprüfung nunmehr obsolet war. In der Kommunikation wurde eine natürliche Entwicklung zur Gesamtschule dargestellt. Es dauerte ab diesem Zeitpunkt zwei Jahre, bis 1969 Förderstufen, Ganztagsschule und die kooperative Gesamtschule auch rechtlich zu regulären Schulorganisationsformen wurden. Die Integrierte Gesamtschule wurde rechtlich als Schulversuch abgesichert1393. Dies alles regelte ein neues Schulgesetz, das 1969 in Kraft trat. Es eröffnete weitere Möglichkeiten zur Schulreform, organisatorischer Natur vor allem durch die Übertragung der Trägerschaft von den Gemeinden auf die Landkreise, aber blieb strukturell im Ungefähren: eine schrittweise Einführung von Förderstufen, die Einführung von Kurssystemen u. Ä. wurden nur unverbindlich geregelt. Fortschritte gab es bei der inneren Reform, wo etwa die Schülervertretung vereinheitlicht wurde. Das Bewusstsein, dass Zeit ein relevanter Faktor ist, wurde stärker ; und auch der begrenzten Möglichkeiten der Gesetzgebung war man sich bewusst – Papier ist geduldig: »Die Änderung der Rechtsgrundlagen ist aber noch keine Schulreform. Schulreform vollzieht sich in der praktischen Arbeit der Schule selbst, in dem ständigen Bemühen um einen Abbau noch bestehender Milieuschranken, um eine angemessene Förderung aller Kinder nach ihren Begabungen, in der Verbesserung der Unterrichtsmethoden, in der besseren Ausrüstung der Schüler für die Anforderungen, die die moderne Welt von ihnen verlangt.«1394 Die Regierung blieb nach außen optimistisch und veröffentlichte, welche Hoffnungen sich mit dem Gesetz verbanden, die allesamt die Hoffnungen eines individualrechtlich-emanzipativen Diskurses waren. Demnach sollten durch die Schulreform »erstens das Bürgerrecht auf Bildung und das Postulat der Chancengleichheit erfüllt und verwirklicht werden. Hierzu sind vorgesehen: Vorschulerziehung – Grundschulreform – weiterführende Bildung für alle jungen Menschen in differenzierten Gesamtschulsystemen – Einführung des Stufenlehrers, der nicht für herkömmliche Schularten, sondern für Grund- Mittel- oder Oberstufen der künftigen Gesamtschule ausgebildet ist; […] zweitens die Bildungsziele, -inhalte und -verfahren an die sich wandelnden Lebens-, Leistungs- und Arbeitsbedingungen 1392 HHStAW 504/3819, Brief Hamm-Brücher an Staatssekretär Birkelbach, Betr.: Großer Hessenplan; hier: Fortführung bis zum Jahre 1985, 14. 3. 1969: »Es ist damit zu rechnen, dass sich der Schwerpunkt der Bautätigkeit auf die Errichtung von Gesamtschulen und Förderstufen verlagern wird. Eine exakte Ermittlung der Schulbauprojekte und des hierfür erforderlichen Investitionsbedarfs für die kommenden Jahre ist unerlässlich.« 1393 Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 33. 1394 HHStAW 504/4378, undatierter Entwurf (wahrscheinlich 1969).
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angepasst werden; Hierzu gehört: Überwindung der Antinomie zwischen sogenannter volkstümlicher und wissenschaftlicher Bildung durch eine allen Bildungsplänen gemeinsame Grundkonzeption – Modernisierung und Reform des Curriculum, insbesondere für Mathematik, Naturwissenschaften, Technik – Verbindung von allgemeinen und beruflichen Bildungsinhalten; […] drittens alle Schul- und Bildungseinrichtungen nach demokratischen Grundsätzen organisiert, verwaltet und gestaltet werden; Hierzu gehört: Abbau obrigkeitsstaatlicher Strukturen – Überwindung autoritärer Denk- und Verhaltensweisen – Einübung in neue Formen demokratischer Willensbildung – Entscheidung, Verantwortung und Kontrolle.«1395 Der Vollzug stellte eine ungleich schwierigere Aufgabe dar als der Beschluss. Denn die Verwaltung hatte nicht nur die Ziele umzusetzen, sie sollte sich dazu auch noch selbst reformieren und ausschließlich demokratische, partizipatorische Maßnahmen anwenden. Hamm-Brüchers Gedanke war es, wie bereits beschrieben, die Reformen möglichst subsidiär zu lösen. Dem stand allerdings stets entgegen, dass eine sozialpolitisch, auch im Raum kompensatorisch wirkende Zielsetzung der Gesamtschule für eine stärkere Einflussnahme von oben sprach. Mit dem Weggang Hamm-Brüchers im Oktober 1969 änderte das hessische Kultusressort dann auch sein Vorgehen entsprechend.
Gesamtschule in der Sackgasse Tatsächlich steckte die Gesamtschule mitsamt ihrer Kommunikation zu diesem Zeitpunkt schon länger in einer Sackgasse. Hamm-Brücher selbst hatte bereits im September 1968 formuliert: »Wer fragt noch nach gemeinsamen schulpolitischen Initiativen der Kultusminister, nach dem glaubwürdigen Vollzug noch vor wenigen Jahren gängiger Fortschrittsvokabeln wie Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit, Begabtenförderung? […] Das schulpolitische Interesse der Öffentlichkeit ist erloschen, noch ehe es wirklich entbrannt war.«1396 Den Anlass dafür suchte sie übrigens in der großen Aufmerksamkeit, die der Studentenrevolte und somit der Hochschulpolitik zuteilwurde und die so für die Schulen fehlte. Die Ursache lag aber nach ihrer Ansicht tiefer. Ein föderalistisch gegliedertes Deutschland treffe nicht die notwendige Entscheidung, »welches Schulsystem unserer Gesellschaft adäquat sei«. Als Hildegard Hamm-Brücher Hessen in Richtung Berlin verließ, bilanzierte sie bereits für die Zeit ihrer Tätigkeit resigniert: »Die bildungspolitische ›Lage der Nation‹ ist gekennzeichnet einerseits durch überaus kluge, umfassende und progressive Theorien und Ideen zur 1395 Hamm-Brücher, Ausbruch aus der Vergangenheit – Ein Bericht über Schulreform in Hessen, S. 50f. 1396 Hamm-Brücher, »Die vergessene Provokation«. In: DIE ZEIT, 38/1968.
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bildungspolitischen Erneuerung und andererseits (sehen wir von grundsätzlichen Gegnern aller Reformen einmal ab) durch mangelnde Entschlusskraft, unzulängliche Organisation und fehlende schöpferische Intuition bei ihrer Realisierung.«1397 Die Analyse Hamm-Brüchers stützt nicht zuletzt die Annahme dieser Studie, dass von einem einheitlichen Diskurs im Betrachtungszeitraum, anders als häufig angenommen, keinesfalls die Rede sein kann, sondern viel mehr der Streit und die Uneinigkeit bestimmend waren, die weitere Bildungsreformen eher lähmten als beförderten. Sicher ist aber auch richtig, dass ihre Herangehensweise, eine demokratische Schule durch demokratische Prozesse durchzusetzen, einen »Wandlungsprozess hin zu einem progressiven, von obrigkeitsstaatlichen Schlacken befreiten Behörden-Selbstverständnis« voraussetzte. Dieser sei aber selbst »mindestens ebenso langwierig, schmerzlich und von Widerständen begleitet ist wie jeder verspätete Abschied von der Vergangenheit.«1398 Zur Umsetzung der Reform musste also entweder ein ungewisser Zeithorizont gewählt oder der hehre Anspruch demokratischer Prozesse aufgegeben werden. Hamm-Brüchers Doktrin, »dass Demokratisierung in Schule, Schulaufsicht und Verwaltung unteilbar ist und zuerst und immer wieder und ganz handfest im täglichen Arbeitsablauf praktiziert werden muss«1399, scheint noch am Tag ihres Weggangs gefallen zu sein. Das Ministerium stand allerdings auch unter einem hohen Handlungsdruck. Hamm-Brücher hatte die Erwartungen hoch geschraubt, zahlreiche Landkreise wollten nun Integrierte Gesamtschulen, für die es aber vor allem noch nicht genügend entsprechend ausgebildete Lehrer gab1400. Im Ministerium lag bereits im Dezember desselben Jahres die dezidierte Ausführung einer strategischen Neuausrichtung der Schulplanung vor. Darin wird ausführlich ein stärker von oben gesteuertes »mittelfristiges Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen« von den theoretischen Grundlagen bis hin zum konkreten Zeitplan entwickelt. Darin soll etwa durch eine »Zusammenführung der Beschreibung systemverändernder qualitativer Bildungsplanung mit den Theorien der Organisationssoziologie« eine zielführende Planung ermöglicht, allerdings doch ohne den »Zwang zur totalen Systemplanung / la NASAMondexpedition«1401. Eine Bedarfsplanung alleine auf ökonomischer Voraus1397 1398 1399 1400 1401
Hamm-Brücher, Hessische Erfahrungen. In: DIE ZEIT, 45/1969. Ebd. Ebd. Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 79. HHStAW 504/4378, E IV 1. Dezember 1969, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, gez. Rommel, S. 2. Die erwarteten Ergebnisse werden kryptisch angedeutet: »Unter diesen Bedingungen wird mit der Entwicklung funktionaler Gruppen unter Beachtung organisationssoziologischer Theorien eine Verstärkung der Selbstbestimmung aller Beteiligten und die kurzgeschlossene Verknüpfung der simultan angelaufenen Prozesse erreicht, ohne dass daraus ein NASA-System entsteht.«
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planung wird in dem Konzept zwar abgelehnt, aber eine Bedarfsplanung, die die gesellschaftliche Komponente stärker berücksichtigt, befürwortet. Statt lediglich aus statistischen Trendprognosen sollten die einzuplanenden quantitativen Veränderungen aus Vergleichen mit anderen Gesellschaften erschlossen werden. Man wollte also beispielsweise auf die künftige Abiturientenzahl nicht aus der Entwicklung in der Vergangenheit schließen, sondern sich an den Abiturientenzahlen anderer Industriestaaten orientieren1402. So kam nach Weggang einer bedeutenden Repräsentantin emanzipativer Begründungszusammenhänge die Bedarfskonzeption mit veränderten Parametern wieder an die Oberfläche1403 ; zwar mit der Absicht, möglichst viele Faktoren zu berücksichtigen und Handlungsspielräume zu lassen, wo nötig, aber dafür weitaus elaborierter als die Planung im Großen Hessenplan. In den Ausführungen zur Gesamtschule findet sich der Geist der ›Planification‹, statt des englischen wurde nun der französische Stil gewählt (und der amerikanische abgelehnt)1404. Der Grundsatz des neuen Konzepts war, künftig von der Einführung von Förderstufen und additiven Gesamtschulen, über alle Baumaßnahmen, bis hin zur Lehrerausbildung bei allen bildungspolitischen Maßnahmen die Weiterentwicklung zur Integrierten Gesamtschule mitzuplanen. Der Autor Hans-Georg Rommel, zuständig für die Gesamtschulplanung, nannte für das Planungssystem vier parallele Pfade, durch die das Ziel zu erreichen war. Zunächst sollten Förderstufen und Gesamtschulentwicklung direkt verknüpft werden. Dann sollten Schulversuche mit der Integrierten Gesamtschule so angelegt werden, dass sie »als erste Stützpunkte regionaler Entwicklung« wirken, die sich allmählich »wie ein ›Ölfleck‹ ausbreiten«. Über Pilotprojekte an den bestehenden Integrierten Gesamtschulen sollte die konzeptionelle Entwicklung vorangetrieben werden und sich gleichermaßen von selbst multiplizieren. So würden dann auch »die Integrierten Gesamtschulen […] auf die schulformbezogenen als ›Vorreiter‹ für deren Um1402 HHStAW 504/4378, E IV 1, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, Dezember 1969, S. 3. 1403 Für Minister Schütte war der ökonomische Aspekt nie ganz verloren gegangen, vgl.: Schütte, Warum neue Schulgesetze?, S. 6. 1404 Hamm-Brücher, die auf ihren Bildungsreisen im Stil immer positiv blieb, beschrieb wohl die französische Bildungspolitik so, wie sie im Kultusministerium nun antizipiert wurde. Zwar würde sie ›von oben‹ durchgesetzt, aber : »Die Konzeption der Bildungspolitik der V. Republik ist jedoch alles andere als konservativ und auch nicht sonderlich undemokratisch. Sie läuft vielmehr expressis verbis unter dem Motto ›Demokratisierung der Erziehung‹. Ihre Konzeption ist fortschrittlicher und ihre Planungskomponente ›sozialistischer‹, als es im fortschrittlichsten Bundesland (Hessen) oder im planungsfreudigsten (Baden-Württemberg) denkbar wäre.« Mit dem Bezug auf den »Zwang zur totalen Systemplanung / la NASA-Mondexpedition« wird explizit die ebenfalls von Hamm-Brücher beschriebene und stets mit dem Sputnik-Schock verbundene amerikanische Bildungspolitik abgelehnt, in der mangelnde Durchgriffsrechte von oben durch riesige Geldsummen aufgewandt wurden, wie beim Mondfahrtprogramm.
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wandlung in Integrierten Gesamtschulen« wirken1405. Das Planungssystem zeichnete also einen Entwicklungspfad auf, sah aber auch bereits eine noch zu erfolgende Detailplanung vor. Zu diesem Zeitpunkt war Hessen klar auf dem Weg, das dreigliedrige Schulsystem durch ein Gesamtschulsystem zu ersetzen, das zunehmend integriert organisiert sein sollte. Dass dies auch so kommen werde, stand aber nur sehr kurze Zeit außer Frage. Welche Möglichkeiten man in einer stringenten Planung vermutete, lässt sich an der rückblickend utopisch anmutenden Erwägung erkennen, »früher als angenommen, mit einer neuerlichen Novellierung des Schulverwaltungsgesetzes die tradierten Schulformen abzuschaffen«, nämlich bereits im Jahr 19771406. Nur wenig später, mit Blick auf die bald endende Legislaturperiode, fasste das Kultusministerium 1970 die bisherige Entwicklung und die Perspektiven der Gesamtschulentwicklung schon deutlich nüchterner zusammen. Im Rückblick konnten diesbezüglich nämlich kaum Fortschritte aufgeführt werden: »1967 wurde noch keine weitere Gesamtschule gegründet, 1968 kamen zwei schulformbezogene, 1969 erstmals vier integrierte (davon zwei aus bestehenden Gesamtschulen) und eine weitere schulformbezogene Gesamtschule hinzu.« Neben diesen fünf war gerade einmal der Bau zweier weiterer Gesamtschulen bereits genehmigt. Für den schmalen Rest der Legislaturperiode wurde ein Katalog an Aufgaben1407 aufgeführt, der die weitere Entwicklung wenigstens absehbar machen sollte. Dezidierte Planung fand trotz Strategie nicht in nennenswertem Maße statt, auch wenn nach außen eifrig daran festgehalten wurde. Dies lag nicht zuletzt an den knappen Ressourcen, die für einen schnelleren Ausbau nötig gewesen wären. Insbesondere der Mehrbedarf an Lehrern für integrierte Gesamtschulversuche war nicht zu decken, und 1970 mussten die Verantwortlichen einsehen, »dass aus der personellen Mangellage heraus die Entwicklung der Gesamtschulen mehr auf die Errichtung von Schulformbezogenen Gesamtschulen als auf die sofortige Durchführung zahlreicher integrierter Gesamtschulversuche gestützt werden muss.«1408 Seit Jahren schon, wie im ersten Teil der Arbeit aufgezeigt wurde, lagen theoretische Konzepte zu einer Strukturreform hin zur Gesamtschule vor, wie sie das Kultusministerium eigentlich antizipierte. Es waren nicht nur Ideen, es war ein über einen langen Zeitraum, über viele 1405 HHStAW 504/4378, E IV 1, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, gez. Rommel, 1. 12. 1969. 1406 Ebd.: »Allerdings wäre auch für die mittelfristige Planung politisch zu prüfen, ob es möglich ist, früher als angenommen, mit einer neuerlichen Novellierung des Schulverwaltungsgesetzes die tradierten Schulformen abzuschaffen (etwa bis 1977).« 1407 HHStAW 504/4378, E IV – 1000/01, Herrn Referenten M3, Betr.: Berichte der Ressorts, Bezug: Erlass Staatssekretär vom 28. 1. 1970. Zusammenfassende Darstellung der Leistungen in der ablaufenden Legislaturperiode und der Perspektiven der Gesamtschulentwicklung, 18. 02. 1970. 1408 Ebd.
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Hochschulen und Fachbereiche hinweg, über Bücher, Fachzeitschriften und Zeitungen geführter Diskurs, dessen – wenn auch immer nur vorläufige – Ergebnisse ihrer politischen Umsetzung harrten. Dass dieser zweite Schritt der Umsetzung ein viel schwierigerer war als der erste, wurde vielen erst allmählich bewusst.
Die Umsetzung der Strukturreform Die Regierung meinte es mit dem Projekt der Gesamtschule als Regelschule aber nach wie vor sehr ernst. Das wird auch an der Bildungsplanung deutlich, die das dreigliedrige System fast nicht mehr berücksichtigte – wie bereits erwähnt, ohne überhaupt bereits eine nennenswerte Zahl an Gesamtschulen umgesetzt zu haben. Die Neugliederung des Schulwesens wurde einfach vorausgesetzt. Im Beitrag des Kultusministeriums zum Landesentwicklungsplan Hessen ’80 wurde der diffizile Weg zur Gesamtschule nur noch am Rande erwähnt, es hieß lediglich: »Im Schulwesen insgesamt ist die Chancengleichheit unabhängig von materiellen Voraussetzungen, sozialer Herkunft und Bildungsmilieu des Elternhauses, weiter zu sichern. Hierzu ist auch das weiterführende Schulwesen in Schulstufen zu integrieren.« Hierbei ist zwar nicht gemeint, dass Schüler zwingend schon in Integrierten Gesamtschulen gemeinsam unterrichtet werden, aber dass die Schulen sich zumindest in ihrem Unterricht nicht mehr voneinander unterscheiden, dass es also an sich keine vertikale Trennung mehr gibt. Integrierte Gesamtschulen sollten als Schulversuche »in weiterem Umfang« durchgeführt werden. Was der Unterschied zwischen den Schularten bleibt, wenn in den jeweiligen Stufen der Unterricht der gleiche ist, erschließt sich nicht mehr. In den darauffolgenden Punkten wird von den integrierten Schulstufen, von einem gänzlich horizontalisierten System bereits ausgegangen, als existiere es bereits. Der Text widmet sich eingängig der inneren Differenzierung dieser Schulstufen, der Demokratisierung des Schulwesens und der Anpassung der Schulaufsicht und der Lehrerbildung1409. Die Umsetzung der Konzepte auf Basis des Rommel’schen Planungssystems begann allmählich ab 1970. Das Ziel war, um noch einmal zu rekapitulieren, die Integrierte Gesamtschule als Regelschule, der Zeitpunkt zur endgültigen Errei1409 HHStAW 504/3820 Beitrag des Kultusministeriums zum Landesentwicklungsplan 1985 (Großer Hessenplan), 1970, Punkt 5: »Die Veränderung des Schulsystems setzt voraus, dass die Lehrer bereits gegenwärtig für die zukünftigen Schulreformen ausgebildet werden.« Vgl. auch zum Schulbau Punkt 16: »Im Schulbau allgemein ist das Land Hessen als erstes Land der Bundesrepublik zu einer Raumprogrammierung übergegangen, die nicht mehr nach Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien unterscheidet. Der zukünftige Schulbau soll die allgemeine Einführung eines nach Bildungsstufen gegliederten Schulsystems ermöglichen.«
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chung dieses Ziels lag aber noch in weiter Ferne. Die Entwicklung dorthin sollte sich über verschiedene Wege vollziehen. Zunächst war die unmittelbare Errichtung von Gesamtschulen vorgesehen, wo und wann immer dies angesichts der lokalen Situation, der finanziellen Ressourcen und der Kapazitäten in Personal, Verwaltung und ggf. Gebäuden möglich war. Dabei wurden die leichter zu errichtenden additiven Gesamtschulen als reguläre Schulen eingerichtet, in denen zunächst die traditionellen Schulformen bewahrt wurden, die aber – sobald organisatorisch möglich – zu integrierten Modellen hätten übergehen können. Ihre Zahl verdoppelte sich 1972 von 16 auf 321410. Andererseits wurden aber auch bereits Integrierte Gesamtschulen eingerichtet, gemäß gesetzlicher Grundlage als Schulversuche. Deren Zahl erhöhte sich 1972 von 42 auf 531411. Daneben wurden Mittelpunktschulen bereits so angelegt, dass sie gegebenenfalls zur Gesamtschule weiterentwickelt werden konnten. Alle Regelschulen sollten sukzessive im 5. und 6. Schuljahr die Förderstufe einführen, 1972 wurden bereits 40 % der Fünftklässler in Förderstufen unterrichtet, also verwaltungstechnisch horizontal gegliedert. Die tatsächliche Veränderung für die Organisation der Integrierten Gesamtschule beträfe somit nur noch die Klassen 7 bis 10, während die gymnasiale Oberstufe auch an Gesamtschulen als ›Studienstufe‹ für entsprechend orientierte Schüler weitergeführt würde. Für einen späteren Zeitpunkt wurde allerdings auch die Integration von Studienstufe und Berufsschule antizipiert: »Schrittweise soll die Trennung zwischen allgemeinbildenden und beruflichen Schulen überwunden werden. Neubauten werden deshalb künftig so angelegt, dass sich zwischen den Oberstufen der Gymnasien und den beruflichen Schulen eine enge Zusammenarbeit entwickeln kann. Damit soll erreicht werden, dass jedem Jugendlichen entsprechend seinen Neigungen und Fähigkeiten entweder ein studien- oder berufsbezogener Studiengang ermöglicht wird.«1412 Neben den großen Fragen der Gesamtschulentwicklung galt es auch, zahlreiche weitere Projekte zu verfolgen, die allesamt irgendwie der neuen Systematik mit der Gesamtschule im Zentrum zugeordnet waren. Dazu zählten organisationssoziologische Fragestellungen, Aspekte der Lehrerbildung, Freistellungen, die Entwicklung von Berufsbildern für die Schule neben dem Lehrer wie z. B. Schulpsychologen, pädagogische und technisch-naturwissenschaftlichen Assistenten, der Schullaufbahnberatung, der Schülerselbstverwaltung, der Neuordnung der Schulaufsicht, der Organisation eines Medienverbunds, Ein1410 Vgl. HHStAW 504/4402, II B 6–1005/001, Berichterstatter : OstR Frommelt, Herrn StS – unmittelbar – Betr.: Richtlinien für die pädagogische Entwicklung der Klassen 7 bis 10 hessischer Gesamtschulen nach §8(1) SchVG; hier: Alternativer Formulierungsvorschlag, Bezug: Vorlage vom 13. 4. 1973 (II B – 1005/001–20), gez. Franz, 21. Mai 1973. 1411 504/2933–2934, IV A3, 3.7.72, Entwurf des Faltblattes ›Schulen bestimmen die Zukunft‹. 1412 Ebd.
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führung der Datenverarbeitung, Lehrerfortbildung, Schulversuche über Ganztagsschulen und Eingangsstufen1413, die Neuordnung der Oberstufe, der Ausbau des beruflichen Schulwesens, der Einschulung von Fünfjährigen etc. – und erst recht der Reform der Inhalte als Curricula. Das Ziel der Gesamtschule als Regelschule war mehr als die Auflösung des dreigliedrigen Schulwesens, sondern die vollständige Neugestaltung des Bildungssystems an Kopf und Gliedern. Rückblickend bleibt zu sagen, dass die Reform auch an diesen zu großen Ambitionen der Landesregierung gescheitert ist. Die Umstellung des dreigliedrigen Schulsystems war keine rein organisatorische Änderung. Jede Errichtung einer Gesamtschule hatte Folgen auf alle anderen Schulen der Umgebung, auf Schülerzahlen, auf die Nutzung der Gebäude etc., sie bedeutete einen großen finanziellen und planerischen Aufwand – und das an zahllosen Stellen im Land gleichzeitig. Vor allem aber, das blieb das größte Problem, war für die Umstellung eine komplette Umwidmung der Lehrerschaft notwendig. Zwar konnte man neue Lehrer – ohne wirkliche Erfahrung damit – auf ein horizontalisiertes Schulsystem hin ausbilden. Aber die zu großen Teilen gerade in den letzten Jahren während der Bildungsexpansion eingestellten Lehrer hatten nicht nur eine schulformbezogene Ausbildung, sondern auch einen sehr unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Status, der bei einer Integration aller Schulformen hätte überwunden werden müssen. Auch angesichts dieser Probleme rückten Maßnahmen stärker in den Fokus, die keine großen Ressourcen verbrauchen würden und trotzdem ein Schritt in Richtung Vergemeinschaftung waren, also die »schulformübergreifende Organisation und Unterrichtsstruktur«1414, die innere Horizontalisierung. Ausgerechnet diese Neuordnung der Inhalte war es allerdings, wodurch die größten Probleme in der Öffentlichkeit hervorgerufen wurden, wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird. Dadurch wurde der Landesregierung dann auch noch die Möglichkeit genommen, ihre Vorhaben zeitlich zu strecken und so doch noch zu verwirklichen. Vom selbstgesteckten Ziel abgesehen, der vollständigen Umwälzung des Schulsystems (zumal bis 1977), brachte diese Phase der Gesamtschulentwicklung aber doch beachtliche Zahlen hervor. Zwischen 1969 und 1974 errichtete die Landesregierung 60 Integrierte Gesamtschulen. 38.500 Schüler wurden zu diesem Zeitpunkt in dieser Schulform errichtet, an die 10 Jahre zuvor noch überhaupt niemand gedacht hatte1415, fast zehn Mal so viel wie 19701416. Darüber 1413 Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 52. 1414 HHStAW 504/4378 E IV – 1000/012, Herrn Abteilungsleiter E, Betr.: Grundlegende Überlegungen zur Neufassung der Geschäftsverteilung mit Errichtung der Planungsabteilung, 10. 02. 1970. 1415 Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 41 (Daten: BPI 4/75): »Die Expansionsphase der Gesamtschulentwicklung dauerte bis etwa 1974/75. In diesem Zeitraum stiegen die Schülerzahlen in Integrierten Gesamtschulen sprunghaft an. Ihre Zahl erhöhte sich von
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hinaus wurden 1972 bereits 40 % der Fünftklässler in Förderstufen unterrichtet, dieser Bereich war also allmählich zumindest verwaltungstechnisch horizontal gegliedert.
Konjunktur emanzipative Begründungszusammenhänge Die Gesamtschule wurde an sich also bald kaum noch von außen kritisiert und war erst recht bei den handelnden Akteuren längst Konsens. Als Projekt trat sie so bereits in den Hintergrund, während sie noch ihrer Umsetzung harrte. Die Themen der Studentenbewegung dominierten die bildungspolitische Debatte; und wenn es um Schule ging, erhitzte bald der inhaltliche Aspekt, die Curriculumentwicklung, die Gemüter. Es trat die paradoxe Situation ein, dass die starke bildungspolitische Debatte in der Öffentlichkeit zwar am wenigsten die Strukturreform betraf – diese allerdings operativ in immer schwierigeres Fahrwasser geriet. Noch während die erste Welle neu errichteter Gesamtschulen den Betrieb aufnahm, trat Anfang der siebziger Jahre eine Konsolidierungsphase ein, in der der weitere Aufwuchs der Zahl von Gesamtschulen weniger relevant wurde als ihre Anpassung an die »annähernd realistischen Bedingungen«: »Zum einen, um der tatsächlich gegebenen personellen und materiellen Situation gerecht zu werden, zum anderen, um rechtzeitig Erfahrungen und Beobachtungen darüber zu sammeln, welcher Maßnahmen und Vorbereitungen es bedarf, eine, wenn auch längerfristig angelegte tiefgreifende Umstrukturierung des Schulwesens sinnvoll durchzuführen, ohne dass außergewöhnliche Versuchsbedingungen – wie etwa bei Einzelversuchen anderer Bundesländer – ermöglicht werden können.«1417 – Die Landesregierung hatte sich an ihren Plänen schlichtweg verhoben. Die mit der Gesamtschule verbundenen Hoffnungen wurden aber in ihrer Dynamik nicht gebremst. Im Gegenteil wurden innerhalb des Kultusministeri22.000 im Jahre 1972 auf 38.500 im Jahre 1974 […]. Damit hatte sich die Zahl der Schüler in Integrierten Gesamtschulen innerhalb von zwei Jahren nahezu verdoppelt, ihr Anteil an der Gesamtschülerzahl der Klassen 7 bis 10 war innerhalb kurzer Zeit auf 17 % angewachsen. Die rasche und konsequente Einführung der Integrierten Gesamtschule wird auch durch folgende Zahlen verdeutlicht: Innerhalb von nur fünf Jahren wurden 60 neue Integrierte Gesamtschulen errichtet, ihre Zahl stieg von lediglich 4 im Jahre 1969 auf 64 im Schuljahr 1974/75.« 1416 HHStAW 1207/3, Tätigkeitsbericht der Hessischen Landesregierung, 1970, S. 15. 1417 Frommelt, Zwischen Konsolidierung und Experiment. In: BPI 1/72, S. 2. »Diese Bereiche oder Arbeitsfelder stehen im Zentrum sowohl der planerischen Aktivitäten als auch der Diskussionen um die Realisierung der Schulreform des Landes, sind somit Knotenpunkte der Entwicklung, bei der es in ihrer derzeitigen Phase geht. Um Konsolidierung, Wahrung und Absicherung des bereits Erreichten einerseits, um Weiterführung begonnener und Entwürfe neuer Konzeptionen im Sinne der Zielsetzungen der Schulreform durch gezielte und kontrollierbare Experimente andererseits.«
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ums nun die Begründungszusammenhänge der emanzipativen Diskursformationen offensiver vertreten. Das lag wohl vor allem daran, dass die Arbeit an der Reform der Inhalte – die Curriculumentwicklung – voll im Gange war und die öffentliche Debatte dominierte. Allerdings dürfte es auch stark mit dem Weggang Hildegard Hamm-Brüchers zusammenhängen, die meist im individualrechtlich-emanzipativen Kontext argumentiert hatte. Nach ihrem Weggang waren diese Gedanken im Ministerium zunächst noch stark vorhanden, nicht zuletzt, weil auch der neue Kultusminister Ludwig von Friedeburg sich zunächst noch stärker damit identifizieren konnte als sein Vorgänger : »Schulreform braucht die aktive Unterstützung aller Beteiligten – der Lehrer, der Eltern, der Schüler. Das setzt Information voraus.«1418 Von Friedeburg war auch die Neuorganisation der administrativen Seite wichtig. Die Schule erbringe eine »soziale Dienstleistung« und habe eine »hohe Innovationsrate«, weshalb sie sich für ein »dynamisches Organisationsmodell« qualifiziere. Entscheidungen müssten auf den unteren Ebenen getroffen werden. Eine »stärkere Horizontalisierung der Verwaltung, der Abbau hierarchischer Strukturen und die Verstärkung der Kooperation auf allen Ebenen«1419. Ein Textentwurf von 19701420 zeigt, wie präsent innerhalb des Ministeriums die Gedanken der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation waren. Zwar verzichtet der im Anschluss vom Minister genehmigte Alternativentwurf1421 auf viele Punkte und ist insgesamt allgemeiner gehalten, widerspricht dem Konzept aber nicht. Auch hier wird die Individualisierung und Differenzierung, die »Förderung der individuellen Begabung und Neigung«, als Prinzip genannt. Der Entwurf legt unter »Allgemeinen Grundsätzen« als erstes fest: »Jede zukünftige Entwicklung im Bereich der Schule und des Unterrichts wird sich nachdrücklicher als bisher um die Einlösung der im Grundgesetz verbrieften fundamentalen Rechte bemühen müssen: Abbau schichtenreproduzierender Strukturen, damit die Gleichheit der Bildungschancen und die freie Entfaltung des einzelnen gewährleistet sind. Nur dann wird sich Emanzipation als allgemeines Lernziel jeder Erziehung durchsetzen können.«1422 Die im Kultusministerium gewählten Formulierungen entsprachen in ihren Begründungszusammenhängen der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption. Sie zielten nicht auf eine aktive Veränderung der Gesellschaft für die Zukunft, sondern auf die Emanzipation des Einzelnen und die Liberalisierung Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, Vorwort. Von Friedeburg, Demokratische Strukturen für die Schule, S. 1f. HHStAW 504/3820 Manuskript, undatiert (1970); Vorlagen eingearbeitet, Kapitel 6)A). HHStAW 504/3820 Wiesbaden, den 17. April 1970, Beitrag zu dem Abschnitt Gesellschaftspolitische Perspektiven des GROSSEN HESSENPLANS. [Handschriftlich: »Vom Minister genehmigte Fassung. 19./4.«]. 1422 HHStAW 504/3820 Manuskript, undatiert (1970); Vorlagen eingearbeitet, Kapitel 6)A).
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der Gesellschaft in der Gegenwart ab. Es ging darin um die Schaffung eines kritischen Bewusstseins, aber nicht um die Einnahme bestimmter Haltungen. Wo von »Ansprüchen der Gesellschaft« die Rede war, die durch Pflichtkurse berücksichtigt würden, geschah dies als Abgrenzung zu einer in der Vergangenheit, also unter Dominanz eines am gesellschaftlichen Bedarf orientierten Diskurses, vertretenen Auffassung und nicht aus gesellschaftlich-emanzipativer Warte. Der Begriff der Leistung wurde nicht durch Forderungen der Dynamisierung ausgehöhlt, sondern differenziert, aber bejaht1423. Überhaupt spielte »Differenzierung und Individualisierung des Lernprozesses« eine große Rolle: Individualisierung durch »programmierten Unterricht«, durch Wahlmöglichkeiten; Differenzierung zwischen Pflicht- und Neigungsfächern; die Entwicklung einer »differenzierenden Grundschule«, die »eine zwar zeitlich verschobene, doch für alle Schüler gleiche Bildungsausgangslage« schaffen sollte – also nicht synchron zu egalisieren, sondern lernverzögerte Kinder so lange zu fördern, bis sie die nötigen Voraussetzungen für die nächste Stufe erworben hätten. Auch die Demokratisierung, die schon Hildegard Hamm-Brücher angegangen war, wurde fortgeschrieben: Partizipation, »Entscheidungsgremien in gemeinsamer Verantwortung der Beteiligten«, Prinzipien der Subsidiarität, der Verlagerung von Verantwortung auf Schulen, Fachkonferenzen und die einzelnen Lehrer und bei diesen wiederum die maximale Integration ihrer Schüler in die Entscheidungsfindung wurden weiterhin als Ziele verfolgt. Die Schulaufsicht sollten weniger Vorgaben machen, sich »als Dienstleistung verstehen und ihren Schwerpunkt auf pädagogische Beratung verlagern«1424 , im Gegenteil zur gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption, die die Durchsetzung von Gesellschaftsinteressen über das öffentliche Schulwesen vorsah. Die Bearbeitung eines Textentwurfs zum Landesentwicklungsplan durch das Kultusministerium beweist auch, dass spezifische Formulierungen mit gesellschaftsbezogenem Zungenschlag gestrichen wurden1425. Wo »die Bürger […] als 1423 Ebd.: »Diagnostizierende und objektivierte Lernzielüberprüfung Die Entwicklung neuer Unterrichtsinhalte und neuer Lernverfahren als Konsequenz gesellschaftspolitischer Zielsetzungen ist ohne die gleichzeitige Konzipierung eines neuen Systems zur Lernzielüberprüfung anstelle einseitiger Leistungsbeurteilung nicht denkbar: – Lernzielkontrollen müssen Möglichkeiten für eine differenzierte Diagnose bereitstellen, um eine individuelle Förderung des einzelnen zu ermöglichen. – Der selektive Effekt der Notengebung muss abgebaut werden. – Die Bewertung eines Lernerfolges berücksichtigt dabei – Die individuelle Ausgangslage und die individuelle Fähigkeit des Schülers – den Sachanspruch des Unterrichts (Lerninhalt); – Die Leistung im Vergleich zu den anderen Mitgliedern der Lerngruppe. Das Beurteilungssystem muss deshalb mit dem Ziel der objektiven Beobachtung Möglichkeiten ermitteln, alle drei Bereiche getrennt zu beobachten.« 1424 Ebd. 1425 HHStAW 504/2997 Landesentwicklung als gesellschaftspolitische Aufgabe.
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Glieder der Gemeinschaft« bezeichnet wurden, wurde diese Zuordnung gestrichen. Von der »Humanisierung der Gesellschaft und der Stärkung der Freiheit des Einzelnen« blieb nur die »Freiheit des Einzelnen« stehen. Dass deren Sicherung »nur über eine langfristige und großräumige Planung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Maßnahmen erreicht werden« könne, wurde komplett gestrichen. Aus »Ordnung« wurde »Verhältnisse«, und aus »Arbeitnehmern« »Arbeitende«. Hier fanden offenbar ganz bewusste Anpassungen statt, die dem Text eine individualrechtlich-emanzipative Konnotation gaben. Der Einzelne wurde in den Fokus gerückt, die Gesellschaft musste dahinter zurücktreten. Handschriftlich hinzugefügt wurde ein grundsätzlicher Textabschnitt, der dies noch einmal deutlich unterstrich1426. Diese Tendenz wandelte sich aber allmählich. In den »Rahmenrichtlinien für die pädagogische Entwicklung der hessischen Gesamtschulversuche«1427 folgte die Argumentation bereits einem gesellschaftlich-emanzipativen Telos1428. So wurde nun – nachdem bereits die Erschließung der Begabungsreserven sowie die Chancengleichheit als Begründungsmuster für die Gesamtschule herhalten mussten – die Emanzipation vermehrt als oberste Zielsetzung der Gesamtschule genannt. Verstanden wurde sie bald1429 aber schon als »die Fähigkeit, Abhängigkeiten zu erkennen und Fremdbestimmungen zu durchschauen, um so frei zu werden, über sich selbst bestimmen und damit sich selbst verwirklichen zu können.« Legt das Vokabular schon eine gesellschaftlich-emanzipative Ausdeutung des Begriffs nahe, bestätigt sich dieser Eindruck in der Beschreibung, weshalb die Gesamtschule diesem Ziel dienlich sei. Nur am Rande wurde ihr durchlässiger, differenzierter Charakter, der jeden Schüler das für ihn optimale Angebot wählen lasse und so die ideale Förderung seiner Begabung gewähre, angeführt. Maßgeblicher waren sozialintegrative Aspekte wie der »Abbau soziokultureller Schranken und schichtenreproduzierender Vorurteile […]. Die Unterrichtsorganisation und die Erarbeitung der angebotenen Lerninhalte müssen ständige Sozialkontakte ermöglichen und kooperativen Arbeitsverfahren hin1426 Ebd.; handschriftliche Anfügung. 1427 Diese Rahmenrichtlinien sind nicht zu verwechseln mit den aus der Curriculumentwicklung hervorgehenden, auf Unterrichtsinhalte bezogenen »Rahmenrichtlinien«. Vgl. HHStAW 504/4401, E IV 3, Herrn Staatssekretär. Betr.: Rahmenrichtlinien für die pädagogische Entwicklung der hessischen Gesamtschulversuche, 4. 3. 1971; i. V. m.Anlage zu HHStAW 504/4401, E IV 3, Herrn Staatssekretär. Betr.: Rahmenrichtlinien für die pädagogische Entwicklung der hessischen Gesamtschulversuche, 4. 3. 1971. 1428 HHStAW 504/4401, Der Hessische Kultusminister, E IV – 1005/001, Rahmenrichtlinien für die pädagogische Entwicklung der hessischen Gesamtschulversuche, 16. 3. 1972 [gem. beiliegendem Schreiben (Gez. Franz) endgültiger Entwurf zur Veröffentlichung im Mai 1972]. 1429 Vgl. Frommelt, Zielsetzung der Gesamtschule, S. 25. Weiter unten in dem Papier werden interessanterweise als »fundamentale theoretische Zielsetzung der Gesamtschule in der Praxis: Chancengleichheit und soziale Integration« genannt.
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reichend Raum geben. Darüber hinaus müssen die Lernenden in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Rollen und Positionen und die der anderen innerhalb gesellschaftlicher Bezüge zu ermitteln und zu reflektieren, um auf diese Weise gesellschaftliche Strukturen als veränderbar erkennen zu lernen.«1430 Erkennbar wird diese Tendenz, wo nicht mehr die Differenzierungsmechanismen verfeinert und verbessert werden sollten, etwa durch Kurssysteme, leichtere und häufigere Übergänge, Projekte etc., sondern durch »willkürlich zusammengesetzte Gruppen«, unabhängig von Leistung oder Neigung, »soziale Integration« erreicht werden sollte1431. Die Gesamtschule wurde also nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch in ihrer Struktur als eine die Gesellschaft aktiv verändernden Einrichtung gedacht.1432 Entsprechend der veränderten Zielsetzung sank auch die Notwendigkeit zur Förderung leistungsstarker Kinder. Binnendifferenzierung, also individuelle Förderung, sollte nur für Leistungsschwache stattfinden. Den Gesamtschulen wurde, während ihre eigentlichen Ziele andere waren, eine mehr als ausreichende beiläufige Leistungsfähigkeit beigemessen1433. Wo dennoch Zweifel diesbezüglich geäußert wurden, wurde aber dann doch nicht mehr auf dieser Ebene argumentiert, sondern die Frage nach der Leistungseffektivität überhaupt kritisiert, welche »nur ein Kriterium für die Beurteilung eines Schulsystems darstelle«. Wichtiger sei, ob ein Schulsystem dem Einzelnen die Möglichkeit gebe, »seine Anlagen und Neigungen zu entfalten«, und ob es seine »Schüler zu mündigen, kritikfähigen Bürgern unseres Gemeinwesens« hin bilde1434. Die Begründungszusammenhänge von Gesamtschule und Curriculumentwicklung sind ab Anfang der siebziger Jahre immer schwerer zu trennen. Zusammenfassend kann man für die vorherige Zeit folgende Differenzierung an1430 Ebd. 1431 Ebd.: 2.2. »Soziale Integration durch Unterricht in willkürlich zusammengesetzten Gruppen. Durch den Unterricht in sozial heterogenen Gruppen – lernen die Schüler die Fähigkeit zur Kooperation und Kommunikation als notwendig für die Bewältigung der in der industriellen Leistungsgesellschaft an sie gestellten Aufgaben erkennen; – werden den Schülern die die gesellschaftliche Realität bestimmenden Ungleichheiten bewusstgemacht und die Bereitschaft zur Veränderung gefördert; – werden schichtenreproduzierende Strukturen und schichtenspezifische Vorurteile und die aus ihnen entstehenden sozial-psychologischen Defekte abgebaut; – werden durch die Notwendigkeit, ständig miteinander sprechen zu müssen, Sprachbarrieren, die die einzelnen Sozialgruppen trennen und Chancengleichheit verhindern, abgebaut.« 1432 Ebd. 1433 HHStAW 504/4401, E IV 2-1005/1001, Herrn Staatssekretär, Betr.: Rahmenrichtlinien für die pädagogische Entwicklung an Gesamtschulen; hier : Anmerkungen des Herrn StS zum 5. Entwurf der Rahmenrichtlinien, gez. Ruetz, 4. 2. 1972. 1434 Nicklas, Leistung und Glück, S. 135.
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stellen: Die individualrechtlich-emanzipativen Begründungszusammenhänge können in der Zeit ab 1967 als Entscheidungsgrundlage des Bildungsministerium bezüglich der Positionierung für die Gesamtschule gesehen werden. Andererseits gilt diese Entwicklung, wie bereits im Abschnitt zum LEP dargestellt wurde, nicht für die Staatskanzlei, die sich weiterhin der Begründungszusammenhänge aus der Bedarfskonzeption bediente. Von außen, also auch durch die Curriculumentwicklung, kamen immer stärkere gesellschaftlich-emanzipative Einflüsse hinzu. Die Revision der Bildungspläne war an sich eine schon lange bestehende Forderung, die sich nicht erst aus der Gesamtschulplanung ergab. Die alten Bildungspläne galten längst als inhaltlich veraltet und als pädagogisch überkommen, was eine Überarbeitung ohnehin notwendig machte. Nun aber wurden die Gesamtschule und ihre gesellschaftspolitische Idee als Ziel dieser Überarbeitung gesetzt, »damit die Gesamtschule von innen her wachsen und integrieren kann«1435.
Von der Curriculumentwicklung zu den Rahmenrichtlinien – die innere Reform Als Georg August Zinn nach seiner Bestätigung als Ministerpräsident 1967 in seiner Regierungserklärung knapp verkündete: »Der Stand unseres Schulwesens macht es aber notwendig, die seit 10 Jahren gültigen Bildungspläne, die wie alles andere dem Wandel der Zeit ausgesetzt sind, neu zu fassen«1436, war dem Kultusministerium ein Auftrag auf Jahrzehnte hin gesetzt. Zinn war das freilich nicht bewusst, hatte er doch lediglich an eine herkömmliche Überarbeitung nach bekanntem Schema gedacht. Auch als im selben Jahr, nach den ersten Tagungen zum Thema, eine im Kultusministerium eingerichtete Arbeitsgruppe zusammenkam, hieß es noch lapidar zur Begründung: »Die Regierungserklärung des Hessischen Ministerpräsidenten verpflichtet den Hessischen Kultusminister, bis zum Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode neue Bildungspläne vorzulegen. Um die hessischen Schulen weiterzuentwickeln, müssen sie die Ergebnisse der Bildungsforschung des In- und Auslandes aufnehmen.«1437 Die ersten Erwägungen ließen noch nicht erahnen, welches politische Gewicht dieses eigentlich untergeordnete Vorhaben bekommen würde. Drei Jahre später war das Kultusministerium bereits der Auffassung: »Neben der Umstrukturierung des 1435 HHStAW 504/807, Beratungsausschuss für Gesamtschulen, 11.10.67, hier: Hamm-Brücher. 1436 HHStAW 502/7963, Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Dr. Georg August Zinn vor dem Plenum des Hessischen Landtages am 18. Januar 1967, S. 7. 1437 HHStAW 504/807, Dokumentation Gesamtschule 1/67. Abschlusserklärung Grundsatztagung Bildungsplanrevision Reinhardswaldschule, September 1967.
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Schulaufbaus steht gleichgewichtig die Lehrplanrevision.«1438 Angesichts der massiven Ressourcen, die zur Umsetzung der Strukturreform nötig waren, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, ist diese Gleichsetzung in der Bedeutung schon beachtlich, die sich aber daraufhin noch durch eine heiß entfachte öffentliche Debatte weiter steigern sollte. Dieses Gleichgewicht von innerer und äußerer Reform war zunächst vor allem eine nötige Gleichzeitigkeit. Der Wunsch, die alten Bildungspläne inhaltlich zu überarbeiten, wurde nämlich bald von der Notwendigkeit begleitet, für die Einführung eines horizontal gegliederten, durchlässigen Schulsystems schulformunabhängige Curricula auszuarbeiten. Dabei fiel auch die Begründung der Curricularreform mit der der Strukturreform zusammen, nämlich in der sozialen Selektivität der Schule. Zum einen sei die »frühzeitige, einmalige ›Auslese‹ nach dem 4. Grundschuljahr« dafür verantwortlich, was die Begründung für Förderstufen und Gesamtschulen lieferte; zum anderen aber entstehe dieses Phänomen auch »durch die Überbewertung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen«, was Kinder »aus einfachem Bildungsmilieu« vom Besuch weiterführender Schulen fernhalte1439. Wie bereits beschrieben, lag die Verantwortung für die Schulreformen und somit auch für die Curriculumreform bei Staatssekretärin Hildegard HammBrücher, später bei ihrem Nachfolger Gerhard Moos. Die Ausarbeitung allerdings wurde von den Fachabteilungen im Ministerium auf speziell eingesetzte Kommissionen verlagert. Dem Ministerium blieben die Koordination, grundsätzliche Entscheidungen, die Übersetzung der Ergebnisse in politisches Handeln und die Schaffung eines Rahmens der Kommissionsarbeit. Eine strikte Trennung bestand nie, sodass der Einfluss des Ministeriums stets möglich war. Aus funktionalen Aspekten wurden später auch vermehrt Papiere des Ministeriums in die Kommissionsarbeit gegeben, die allerdings eher der Koordinierung dienten, etwa Positionen zusammenfassten, Zwischenergebnisse festhielten und den Prozess vorantrieben, aber weniger inhaltlichen Einfluss nahmen1440. Die Revision der Bildungspläne – später dann ›Curriculumentwicklung‹ – fiel von Anfang an unter den Verantwortungsbereich Hamm-Brüchers. Ihre Ideen zur Einrichtung von Gesamtschulen bezogen sich nicht nur auf die ›äußere‹, die Strukturreform, sondern auch auf die innere Reform der Bildungsinhalte und des Unterrichts. Die äußere Schulreform bezeichnete Hamm-Brücher nur als »ersten Schritt zur Verwirklichung des ›Bürgerrechts auf Bildung‹«, während die
1438 HHStAW 504/3820 Manuskript, undatiert (1970); Vorlagen eingearbeitet, Kapitel 6)A), S. 1. 1439 Von Friedeburg, Förderstufe: Schritt auf dem Weg zur Bildungsgerechtigkeit, ohne Seitenangabe. 1440 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessenen, S. 103.
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innere Reform ausschlaggebend dafür sei, dieses Ziel auch zu erreichen1441. Die Schulstruktur musste so angelegt sein, dass ihre Differenzierung jedem Schüler einen möglichst individuellen Zugang zur Bildung gewährte – nach ihrer Auffassung als Gesamtschulsystem. Die Bildungsneigung allerdings, und das war sowohl ein neuerer Gedanke als auch ein Ausgangspunkt der Curriculumentwicklung1442, hing maßgeblich von den angebotenen Bildungsinhalten ab und fungierte in ihrer bisherigen Ausgestaltung neben der Hochsprache als weitere ›Milieuschranke‹, die sich nach ihrer Ansicht in der Trennung von Volks- und Allgemeinbildung offenbarte: »Das Prinzip, die Inhalte und Methoden der ›volkstümlichen‹ Bildung müssen als ein Akt bildungspolitischer und gesellschaftswissenschaftlicher Einsicht abgeschafft werden – das ist das Kernstück der Schulreform, und so geschieht es im Zuge der großen Schulreformen rund um uns herum. Wenn es richtig ist, dass die rasche Verwissenschaftlichung aller Bereiche unseres Lebens und Bewährens von jedem einzelnen Menschen geistige Flexibilität und Mobilität erfordern, dann ist es unabdingbar, auch allen geistig gesunden Kindern die Grundelemente modernen wissenschaftlichen Denkens begreifbar und erlernbar zu machen.«1443 Das erste Jahr Curriculumentwicklung: Von Robinsohn zu Klafki ohne Ergebnisse Aufschlag mit Saul B. Robinsohn Die Ziele Hamm-Brüchers entsprachen individualrechtlich-emanzipativen Vorstellungen, knüpften aber – wie im letzten Zitat – unmittelbar an die szientistische Vorstellungswelt an. Folgerichtig fasste sie so auch zunächst den ohnehin viel beachteten Ansatz zur Curriculumentwicklung des Direktors des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Saul B. Robinsohn1444 ins Auge, um die hessischen Bildungspläne zu reformieren. So standen am Beginn der Curriculumentwicklung in Hessen die Vorstellungen Robinsohns, die auf einer ersten Tagung von ihm selbst konkret entwickelt und in der Folge intensiv 1441 Hamm-Brücher, Vorwort zu: Hessisches Fortbildungswerk (Hrsg.), Revision von Bildungsplänen, S. 4. 1442 Dass »die Bildungsinhalte die wichtigste Determinante für die schichtspezifische Nachfrage nach Bildung darstellen«, wurde prominent vorgetragen auf der Grundsatztagung im September 1967 von Jürgen Raschert, Vgl. Raschert, Die Bestimmung gesellschaftlicher Zielvorstellungen für die Bildungsarbeit. In: Reform von Bildungsplänen, S. 54. 1443 Hamm-Brücher, Perspektiven der hessischen Schulreform, S. 19. Weiter : »Damit rühre ich an das Thema der Curriculum-Reform, die überhaupt nur dann erfolgversprechend angesetzt werden kann, wenn wir davon ausgehen, dass die Bildungsinhalte in der Schule für morgen zu einem harmonischen Grundverständnis wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und menschlicher Zusammenhänge führen müssen.« 1444 S. o., S. 82.
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diskutiert wurden1445. Über die eigentliche Vorstellung Robinsohns hinaus wurden auf die konkrete Situation in Hessen gemünzte Modifikationen dieses Ansatzes ins Spiel gebracht1446. Dies wurde möglich, da Hamm-Brücher von Anfang an nicht alles auf eine Karte setzte, sondern die Runde derer, die über den einzuschlagenden Weg in der Curriculumreform mitzubestimmen hatten, möglichst groß hielt, was ihren Ideen von Partizipation und der Integration externer Kompetenzen entsprach. Hoffnungsfroh wurden die verschiedenen bei einer zweiten Tagung vorgestellten Ansätze sogar unter dem Titel »Reform von Bildungsplänen: Grundlagen – Möglichkeiten« als kleiner Band herausgegeben1447. Zu Eingang der Curriculumentwicklung in Hessen spielten die Ideen Saul B. Robinsohns also eine bedeutende Rolle. Die szientistische Konzeption, die verlangte, wissenschaftlich zu erschließen, welche Qualifikationen die Schüler erwerben sollten, schlug sich in der Diskussion nieder und sollte auch lange Relevanz behalten1448. Robinsohns Mitarbeiter Jürgen Raschert erklärte: »Mit der Rationalisierung der politischen Entscheidungen, die durch solche Forschung erfolgt, entsteht auch eine Artikulation des normativen Selbstverständnisses unserer Gesellschaft. Die Entscheidung über das Curriculum zwingt die Gesellschaft, sich darüber klarzuwerden, was sie selbst in Zukunft sein will.«1449 Auf derselben Tagung wurden – dann doch nicht so wissenschaftlich – dezidierte »Zielvorstellungen zur Bildung und Ausbildung in der derzeitigen Diskussion«1450 verfasst, die den Ausgangspunkt für die Curriculumentwicklung der kommenden Jahre darstellten. Eine Analyse der historischen Situation, in der man sich befand, sah diese insbesondere »durch die industrielle Revolution und die zunehmende Automation [vor neuen] Anforderungen der Wirtschaft und der Industrie an den Menschen«, wodurch diese »einerseits freier geworden, andererseits aber mehr denn je in der Gefahr, manipuliert zu werden«, seien. Ausgerechnet der zunehmende Wohlstand und die anwachsende Freizeit wurden als Gefahr erkannt, »den unvorbereiteten Menschen durch Unwissen, Unbe1445 Zu dieser Tagung ist kein Protokoll erhalten, vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 108. 1446 Von Doris Knab, Jürgen Zimmer und Jürgen Raschert. 1447 Leiter des Hessischen Lehrerfortbildungswerks (Hrsg.), Reform von Bildungsplänen: Grundlagen – Möglichkeiten, Frankfurt a.M. 1969. 1448 Vgl. Knab, Möglichkeiten und Grenzen eines Beitrags der Curriculumforschung zur Entwicklung von Bildungsplänen. In: Reform von Bildungsplänen, S. 27. 1449 Raschert, Die Bestimmung gesellschaftlicher Zielvorstellungen für die Bildungsarbeit. In: Reform von Bildungsplänen, S. 60. Raschert kritisierte auch die Unbestimmtheit der in den traditionellen Bildungsplänen festgelegten Ziele als Leerformeln (ebd., S. 57). 1450 HHStAW 504/807, Zielvorstellungen zur Bildung und Ausbildung in der derzeitigen Diskussion. Ergänzender Report zum Protokoll »Grundfragen der Revision der hessischen Bildungspläne« (Reinhardswaldschule: 18. – 22. September 1967).
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herrschtheit und Unbedachtsamkeit zu für sich selbst und die Gesellschaft negativen Handlungen« führen zu können. »Von daher ergibt sich die Forderung, Normen zu internalisieren, an denen die auf den Menschen ankommenden Angebote gemessen werden können.« In diesem Zusammenhang wurde auch das Problem wachsender Interdependenzen, also der sich verstärkenden gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Lebensbereiche, angesprochen. Um diese Probleme zu bewältigen, brauche es Gesellschaftspolitik und diese setze am besten bei einer aktiven Bildungspolitik an, die »Erziehung zum mündigen Menschen, Verwirklichung der Gleichheit der Bildungschancen und bestmögliche Bildung für jeden« zum Ziel habe1451. Zur Stellung der Schule innerhalb dieser Welt verhielt man sich noch vorsichtig. Sie sollte nicht mehr losgelöst von der Gesellschaft eine eigene Existenz führen, aber auch nicht einfach die Gesellschaft widerspiegeln. Sie könne »als integrierter Bestandteil unserer Welt […] ein in sich geschlossenes, von der Gesellschaft abgeschirmtes Ganzes bilden, keine Glasglocke, eher gefilterter Schonraum«; bildlich wurde von der Schule als Fohlenkoppel gesprochen. Sie sollte nicht das Äußere widerspiegeln, aber »ihre Inhalte ständig auf das Geschehen ›draußen‹ richten«. Einen Einfluss auf diese äußere Welt erlange die Schule dennoch, indem die Schüler zu Handelnden in dieser Welt würden. Daraus wurden »Forderungen nach Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einsichten und Haltungen, deren Bewusstmachung, Übung, Verinnerlichung und Beachtung auf alle Bereiche des Lebens wirken und auf die Formel ›Soziale Mündigkeit, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit‹ gebracht worden sind«1452 erhoben. Diese Folgerungen wurden dann ausdifferenziert in verschiedene zu erlernende »allgemeingültige, grundlegende Fähigkeiten«, das »Verhältnis zum Wissen«, »soziale Verhaltensweisen« und »Einsichten«. Diese Auflistung stellte einen wenig strukturierten Stichpunktekatalog ungeordneter Zielvorstellungen dar, die sich von grundsätzlichen Tugenden über kryptisch detailliert beschriebene Leistungen (etwa die »Fähigkeit, für ein begrenztes Gebiet eine Vielzahl von Informationen samt ihrer Interdependenzen aktual verfügbar zu haben«) bis zum Erwerb konkreter Fähigkeiten (beispielsweise »sich sprachlich genau ausdrücken zu können«) erstreckten. Wissen sollte auf einem engen Bereich in aller Tiefe und darüber hinaus ein breites, weniger differenziertes Grundwissen erworben werden – insbesondere sollten aber Offenheit für Neues und Neugierde hergestellt werden. Unter »soziale Verhaltensweisen« finden sich allerlei Tugenden wie »Friedwilligkeit, Gerechtigkeit«, »Bereitschaft zu Mitarbeit am Gemeinwesen«, aber auch »Anpassung an die gesellschaftlichen Notwen-
1451 Ebd. 1452 Ebd.
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digkeiten und Widerstand gegen bestehende Einschränkungen der Mündigkeit (Widersprechen-können)«1453. Die Idee, das Individuum auf die ihm künftig begegnenden zu bewältigenden Situationen vorzubereiten, entstammte zwar einem szientistischen Diskurs, fügte sich aber auch in eine Bedarfsplanung aufgrund einer angenommenen künftigen Wirklichkeit in der Wirtschaft. Jürgen Raschert hatte sich in seinem Referat aufgeschlossen gezeigt: »Eine Planung des Bedarfs an ausgebildeten Kräften wird aber nur dann die notwendige Offenheit und Flexibilität gewinnen, wenn sie die Möglichkeit anderer Bildungsinhalte und Bildungseinrichtungen in ihre Perspektiven miteinbezieht. Wir müssen den Versuch machen, den Bedarf an durch Bildung vermittelten Qualifikationen wirklich differenziert zu ermitteln.«1454 Die Richtung zeigte aber weg von einem fixen Bildungskanon, weg von der Aneignung ganz bestimmter Operationen, hin zu allgemeineren Kompetenzen und sehr stark hin zur Grundausstattung, sich autonom Bildung aneignen zu können. Dabei spielte die angenommene Unsicherheit der künftigen Welt eine besondere Rolle. In dieser Vorstellung löst sich die Idee der Bedarfsorientierung auf. Quantitative Begründungszusammenhänge waren weitgehend qualitativen gewichen. Zwar galt weiterhin als Begründung, den Schüler auf die Zukunft vorzubereiten, jedoch findet sich kein Hinweis mehr darauf, dass diese Zukunft planbar, prognostizierbar oder gar »erforschbar« sein könnte. Gleichzeitig wird aber angenommen, dass alle Schüler gleiche Kompetenzen (»Allgemeingültige, grundlegende Fähigkeiten«) zu erwerben hätten. Alles in allem ging aus diesen ersten Tagungen in der Reinhardswaldschule noch kein kohärenter Ansatz zur Reform der Bildungsinhalte hervor. Die Richtung, die gewiesen wurde, lag aber bereits im gesellschaftlich-emanzipativen Ansatz. Die Analyse, dass die Bedingungen der zeitgenössischen Gesellschaft andere seien als je zuvor, blieb noch unbestimmt. Die Forderung, dass den Schülern zur Bewältigung ihres Lebens Fähigkeiten, und zwar ganz bestimmte, gesetzte Fähigkeiten an die Hand gegeben werden müssten, ist sowohl der szientistischen und der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption gemein. Die Wirkung auf die Gesellschaft über die Schüler hingegen liegt im gesellschaftlichemanzipativen Diskurs. In jedem Fall ist bereits die Tendenz zu einer Objektivierung der Wirklichkeit erkennbar, die auch objektiv ableitbare Bildungsinhalte vorsah – deutlich gemacht an den Einsichten in bestimmte Auffassungen wie auch die postulierte Allgemeingültigkeit bestimmter Fähigkeiten. Damit wurden die subjektivistischen Ansätze der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption bereits zu Anfang in weiten Teilen negiert. 1453 Ebd. 1454 Raschert, Die Bestimmung gesellschaftlicher Zielvorstellungen für die Bildungsarbeit. In: Reform von Bildungsplänen, S. 55.
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Der Nährboden der sich abzeichnenden Entwicklung ist wohl in einem besonders beachteten Referat von OstR Dr. Doris Knab zu finden. Diese skizzierte kurz die Ideen der Curriculumtheorie, also der auf rein empirische Bestimmungen beruhenden szientistischen Konzeption, fügte allerdings zwischen den szientistischen Elementen in Analyse (»Identifizierung von Situationen und ihren Anforderungen«) und Methode (»Die entsprechend qualifizierenden Curriculum-Elemente bestimmen«) sozusagen eine Black Box für die Theoretisierungen der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation ein: »a) die zur Bewältigung der Situation nötigen Qualifikationen definieren […] b) plausible Hypothese finden!«1455. In ihrem Referat hatte Knab betont: »Ein Curriculum ist immer Ausdruck des Selbstverständnisses einer Gesellschaft, ihrer Vorstellung von Mensch und Welt, von Gegenwart und Zukunft; als solche beruht es auf einer Art von gesellschaftlichem Consens. In einer mobilen und pluralen Gesellschaft ist ein solcher Consens nicht vorgegeben, so dass lediglich die didaktische Aufgabe bliebe, ihn in einem Bildungsplan zu transponieren. Man kann sich nicht auf eine Art Osmose zwischen den für das Erziehungswesen verantwortlichen Instanzen und den die Ziele der Schule bestimmenden gesellschaftlichen Kräften und ihren Anforderungen verlassen. Ebenso wenig kann man diesen Consensus oder, wenn Sie wollen: Diese Convention durch Meinungsumfrage als eine Art Abstimmung gewinnen. Man muss ihn, will man nicht auf ein allgemeines öffentliches Schulwesen verzichten, systematisch entwickeln suchen. Dazu kann die Curriculumforschung einen Beitrag leisten.« Da die Wissenschaft eine Wertung zwar nicht abgeben, aber eine solche offenlegen und in Bezug auf die Curricula untersuchen und revidieren könne, bezeichnete Knab die angedachte Methode als »relativen Rationalismus«1456. Einen nicht vorhandenen Konsens aber »systematisch entwickeln« zu wollen, deutete bereits den Rückgriff auf soziologische Theorien an. Wolfgang Klafki statt Robinsohn Auch wenn die ersten Ansätze, die von Robinsohn stammten, die Curriculumentwicklung noch lange begleiten sollten, wurde sein Konzept alsbald verworfen. Der »›demokratische Ansatz‹ der Curriculum-Innovation, dass auf unterer Ebene, in den einzelnen Schulen und Schulbezirken beginnend, alle Lehrer in die Denkweise und das Instrumentarium lernzielorientierter Lehr- und Lernprozesse eingeführt werden sollen, die in einen langwierigen Prozess zu strukturellen Reformen führen«, war dem versammelten Kreis zu zeitaufwändig angesichts des 1455 HHStAW 504/807, Zielvorstellungen zur Bildung und Ausbildung in der derzeitigen Diskussion. Ergänzender Report zum Protokoll »Grundfragen der Revision der hessischen Bildungspläne« (Reinhardswaldschule: 18. – 22. September 1967). 1456 Knab, Möglichkeiten und Grenzen eines Beitrags der Curriculumforschung zur Entwicklung von Bildungsplänen. In: Reform von Bildungsplänen, S. 29f.
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Plans, mit der Strukturreform mitzuhalten und zur bald erwarteten Einführung eines horizontal gegliederten Systems valide Curricula vorzulegen. Darüber hinaus laufe »dieser Ansatz, der die Lernzielbestimmung den Lehrern selbst überlasse, Gefahr […], Vorurteile und rückständige didaktische Konzeptionen zu verfestigen. Eine progressive, die gesellschaftlichen Bedürfnisse […] reflektierende Reform sei auf diesem Wege kaum zu erreichen.«1457 Die Langwierigkeit war gewiss ein Problem, wenn auch eines, das sich bereits relativierte1458. Wie aus den Zitaten deutlich wird, sprach aber auch die politische Machtlosigkeit gegen Robinsohns Ansatz. Dieser wendete sich explizit gegen »pädagogischen oder politischen Dezisionismus«. Die Politik habe sich darauf reduziert, ein offenes Verfahren als Methode zu etablieren, und keinen Einfluss mehr auf die Ergebnisse gehabt. Gerade für Minister Schütte war ein solches unpolitisches Vorgehen nur schwer vorstellbar, weshalb er alsbald persönlich den ihm vertrauten und in seinen Vorstellungen weit weniger radikal scheinenden Wolfgang Klafki ins Spiel brachte1459. An diesem Punkt ist ein interessantes Verhältnis von Macht und Diskurs zwischen der in diesem Teil der vorliegenden Studie erörterten politischen Dimension und dem im ersten Teil erarbeiteten breiten Blick auf die politisch nicht unmittelbar gebundenen Diskurse der interessierten Teilöffentlichkeit zu erörtern. Letztere – hier konkret im szientistischen Diskurs – orientierte sich hart an der Sache, wollte den großen Wurf üben, reale Politik an eine wissenschaftliche Theorie so weit wie möglich anzunähern, allerdings als politische Grundsatzentscheidung. Dazu wurde ein komplexer Plan entworfen, der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass er bestimmte Prozesse und Abläufe vorsah, um ein optimales Ergebnis zu erzeugen. Konkret ging es um die stetige Erneuerung von Curricula nach vorgegebenen Methoden durch die Schulen selbst. Die politische Entscheidung hätte sich also ausschließlich auf die Sanktionierung der Prozesse, nicht der Ergebnisse, beschränkt. Der erfahrene Politiker Schütte hingegen orientierte sich von vornherein am Ergebnis – einem vorab festgelegten Ziel, das er in den abstrakten Gewächsen dieser Sondierungsphase noch nicht erkennen 1457 HHStAW 504/1300b, Arbeitsbericht der Kommission zur Reform der Hessischen Bildungspläne. Vgl. auch Klafki, Erfahrungen und Einsichten, S. 258. 1458 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 18, Hamm-Brücher : »Die Planungsphase ist auf etwa zwei Jahre begrenzt. Zunächst standen wir unter dem Druck des politischen Auftrags, in dieser Legislaturperiode neue Lehrpläne zu formulieren. Der hessische Ministerpräsident hatte das in seiner Regierungserklärung gesagt. Dieses absolute Muss ist inzwischen weitgehend überwunden worden, weil inzwischen so viele bildungspolitische Anstrengungen in Hessen von Regierungsseite unternommen werden, dass die Erfolgsmeldung, ein neuer Lehrplan sei fertig, nach zwei Jahren nicht mehr so unbedingt notwendig ist. Der zeitliche Druck ist also ein wenig von uns genommen.« 1459 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 133.
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konnte. So war es nicht verwunderlich, dass für ihn Wolfgang Klafki die bessere Wahl schien. Klafki hatte schon ein Jahr zuvor für das Kultusministerium ein »Gutachten zur Schulplanung der Gesamtschule in Kirchhain und einiger Nachbargemeinden«1460 erstellt und war somit bereits in die Gesamtschulplanung involviert, kannte also nicht nur die wissenschaftliche Seite, sondern auch die konkrete politische Disposition Hessens sehr gut. Er hatte so bewiesen, dass er sich am konkreten Projekt und weniger an abstrakter Theorie orientieren konnte. Die verschiedenen Ansätze trafen dann auf einer weiteren Tagung im Kultusministerium aufeinander, wo Teilnehmer der vergangenen Sitzungen, das Ministerium, Wolfgang Klafki, aber auch Hartmut von Hentig, der später für die Rahmenrichtlinien maßgeblich verantwortliche Hartmut Wolf, Hans G. Rolff, und stellvertretend für den Ansatz Robinsohns Wolfgang Edelstein zusammenkamen. Wolfgang Klafki stellte dort seinen Stufenplan vor, der den Prozess hin zu neuen Lehrplänen in einem überschaubaren Zeitraum strukturieren sollte. Klafki ersetzte mit diesem Plan, bildlich gesprochen, das weiße Blatt Papier, auf dem Robinsohn seine Vorstellungen entwarf, durch einen Grundriss des existenten Schulwesens mit all seinen Bedingungen und versuchte, nicht unähnliche Vorstellungen wissenschaftlicher Curriculumentwicklung dort einzufügen. Dabei leistete er allerdings eine kategorische Verschiebung: Seine Zielstellung wich von der szientistischen Konzeption ab, da er explizit die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erarbeitung von »Qualifikationen, die für das Leben in dieser Gesellschaft erforderlich sind«, nicht als realistisch betrachtete und somit doch eher dem anhing, was Robinsohn noch als »pädagogischen oder politischen Dezisionismus« bezeichnet hatte1461. Der Robinsohn’sche Ansatz, in Hessen maßgeblich vertreten von seinem Mitarbeiter Edelstein, sah ein System ständiger Curriculumentwicklung vor, das in seinen Strukturen, in seinen Wechselbeziehungen von Schule, Versuchen und Kommissionsarbeit so angelegt war, dass sich ein sich selbst stets erneuernder Konsens über Curricula herausschälen sollte. Die Wissenschaft gab also die Prozesse vor und sollte lediglich neue Erkenntnisse in den Prozess einbringen, aber keine weitere Entscheidungsbefugnis haben – schon gar nicht aber die Politik, der es überlassen bleibe, ein solches System zu installieren. Hierin findet sich eine grundlegende Vorstellung der szientistischen Konzeption: die Schaffung eines sich selbst regulierenden Systems. Anders Klafki: Dass sein Ansatz durchaus nicht wissenschaftlich offen, sondern politisch präjudiziert war, ging auch aus der Diskussion seines Stu1460 Vgl. HHStAW 504/810, Klafki an Schütte, Betr. Gutachten zur Schulplanung der Gesamtschule in Kirchhain und einiger Nachbargemeinden. 1461 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 134.
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fenplans hervor. Zwar keine vorweggenommenen Ergebnisse, aber »ganz bestimmte Prämissen« seien dem Plan zu entnehmen, »der keineswegs nur formal ist, sondern eine bestimmte Entwicklungsrichtung enthält«1462. Das rechtfertigte Klafki durch zwei Faktoren: zum einen pragmatische Gründe wie die zeitlichen, finanziellen und personellen Sachzwänge1463, zum anderen vermochte er nicht darauf zu vertrauen, dass eine Institution wie das Schulwesen in der Lage sei, sich selbst zu erneuern, und wollte erst mit einem stimmigen und wasserdichten Konzept an die Schulen herantreten1464 ; erst in der Folge sollten Wissenschaft und Praxis nach seinem »polaristischen bzw. dialektischen Modell« in einen Prozess stetiger Revision und Verbesserung treten. Maßgeblich für Klafkis Planung waren damit die extern – also politisch – vorgegebenen zeitlichen und kapazitären Bedingungen: »Mein Plan ist von konkreten Erfahrungen des letzten Dreivierteljahres ausgegangen. Die Grundvoraussetzung für meine Arbeit war die, dass wir nicht 10 Jahre Zeit für Entwicklungen haben. Dann hätte man ganz sicher in einem Prozess von allmählichen Innovationen, auch in der Weise, wie es auf der letzten Lehrplankonferenz Dr. Edelstein in der Reinhardswaldschule vorgeschlagen hat, das bestehende Schulsystem auflockern können. Jedermann konnte sich aber schon damals davon überzeugen, dass das zeitlich und finanziell nicht realisierbar erschien. Wenn man dagegen einem etwas schnelleren und effizienteren Wege zu ersten Schritten einer Lehrplanrevision kommen will, dann sollte man bereits mit einem bestimmten Konzept vor die Lehrer treten, sonst ist der Zeitverlust zu groß.«1465 Szientistische Ziele degradierte er zur Methode, indem er sie den Bedingungen der Politik unterwarf: »In diesen Diskussionen ist wohl für alle klar geworden, dass unser gegenwärtiges erziehungswissenschaftliches Problembewusstsein […] unseren praktischen Bemühungen weit voraus ist. Wir werden auch in Hessen diese Kluft nicht mit einem kühnen Geniestreich überspringen können.«1466 Der Pragmatismus Klafkis kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die Curricula, die er für die sich entwickelnden Gesamtschulen erarbeiten wollte, gleichermaßen in den bestehenden Schulformen benutzt werden sollten. Für die Verfechter eines auf die erwartete vollständige Einführung der Gesamtschule als Regelschule ausgerichteten Systems war das eine Konzession, die zu mangelhafter Umsetzung und daraus folgendem Scheitern führen könnte. Für diese Position stand auch Hartmut von Hentig, der ebenfalls bei der Tagung im Kul1462 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 15. 1463 Ebd., S. 47 (Hier: Klafki). 1464 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 135. 1465 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 19f. 1466 Ebd., S. 4f.
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tusministerium anwesend war. Der Hauptkonflikt zwischen Klafki und von Hentig lag darin, dass Letzterer meinte, wenn man das bestehende System verbessere, zementiere man es, da man sich damit gegen einen Systemwechsel entscheide; somit müsse man die Komplettumstellung auf ein Gesamtschulsystem gleichzeitig und gemeinsam mit der Lehrplanarbeit vorantreiben. Klafki hingegen war der Auffassung, eine Verbesserung der Curricula im bestehenden System – wohl auch dessen Horizontalisierung ohne gleich flächendeckend echte Integrierte Gesamtschulen zu schaffen – und ausgehend von den existenten Lehrplänen und Strukturen sei ein guter erster Entwicklungsschritt. Von Hentig zeigte sich erschrocken davon, »dass er wiederum von den Fächern spricht, die zur Zeit diskutiert werden, und dass er keine entscheidenden Unterschiede sieht zwischen dem bestehenden System und einem Gesamtschulsystem. Im Grunde nimmt er das bestehende System hin, wie es ist, und will es nur erheblich besser machen. Man sollte aber versuchen, aus dem bestehenden auszubrechen, wenn wir ernsthaft wollen, dass Menschen anders denken als bisher.«1467 Der Konflikt zwischen Klafki und von Hentig war also, wie der zwischen Klafki und den Vertretern des curricularen Ansatzes, gleichermaßen einer zwischen Praxis und Theorie. Von Hentig stellte sich hier ins Zentrum der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption und wollte auf Grundlage seiner Theorien das Schulsystem dazu nutzen, die Gesellschaft aktiv zu verändern. Er wollte auf einer ganz grundsätzlichen Ebene ansetzen – auch wenn das von vornherein einen höheren Geld- und Zeitaufwand bedeutet hätte1468. Klafkis Interesse war es, im Sinne der Zielstellungen der Politik praktikable Lehrpläne zu schaffen. Ihm stand dabei auch die ultimative Realitätsprüfung jedes Curriculums vor Augen, nämlich der Anwendung in der Praxis. Um dort zu reüssieren, müssten die hergebrachte Fachdidaktik und ihre Grundlagen berücksichtigt werden, ansonsten müsse man sich »groben Dilettantismus« vorwerfen lassen1469. Letztendlich konnte aber auch von Hentig dem Verweis Klafkis nichts entgegensetzen, dass sich unter den gegebenen Bedingungen kein weitergehender Ansatz umsetzen lasse – er konnte nur noch darauf beharren, diese Sachzwängen geschuldete Vorläufigkeit müsse überall als solche hervorgehoben werden. Von Hentigs Herangehensweise hätte auch bedeutet, bis hin zur Aufgabe des existenten Fächerkanons ohne Prämissen an die Curriculumentwicklung zu gehen und selbst die Struktur von neuen Grundprinzipien her zu entwickeln. Eine Erarbeitung von Lernzielen ohne Rücksicht auf bestehende Fächer lehnte Klafki aber rundheraus ab: »Viel zu leicht gerät man dann in die Gefahr des 1467 Ebd., S. 26 (von Hentig). 1468 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 27 (von Hentig). 1469 Ebd., S. 31.
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Dilettantismus, wenn man glaubt, die Fächer überspringen zu können.«1470 Er benötigte einen Konsens, auf dem er aufbauen konnte, glaubte aber nicht, diesen übergreifend finden zu können, und wollte ihn daher innerhalb kleinerer Gebiete – der einzelnen Fächer oder Fachbereiche – auf der Basis tradierter Vorstellungen suchen. Er umriss dies so: »Da wir bessere Instrumente gegenwärtig nicht zur Hand haben, glaube ich nicht, auf eine Analyse der vorliegenden Lehrpläne in der Sekundarstufe sowie der auf sie bezogenen erziehungswissenschaftlichen Literatur verzichten zu können. Das Ziel solcher Analysen – das ist der zentrale Gesichtspunkt der Allgemeinen Kommission – ist die Entwicklung allgemeiner Lern- und Erziehungsprinzipien in der Sekundarstufe.«1471 Letztlich musste er in seinen Strukturplan die »Formulierung, dass allgemeine Zielsetzungen erarbeitet werden sollten«, mit aufnehmen, stellte aber klar, dass diese »in Anlehnung an den Entwurf von Herrn Hentig« von Hamm-Brücher in den Stufenplan gesetzt wurde und nicht von ihm stammte und dass dieser »Versuch […], in einer von den Einzelfächern sich distanzierenden Weise solche allgemeinen Ziele zu entwickeln«, nicht auf sein Einverständnis treffe, sondern von Anfang an die Kompetenz der Fachvertreter als »Korrektiv« benötigt werde. Klafki wollte nämlich »verhindern […], dass wir ein einseitig induktives oder ein einseitig deduktives Verfahren der Lehrplanerarbeitung wählen, sondern […] ein polaristisches bzw. dialektisches Modell. […] Wirkliche Lehrplaninnovation kann nur gelingen, wenn die Gruppen der Theoretiker und die der Praktiker in ein gegenseitiges Korrekturverhältnis gebracht werden, nicht aber einzelne Fächer am Anfang stehen.«1472 Die Option für extern gesetzte allgemeine Lernziele zur Ableitung der Unterrichtsinhalte benachteiligte die induktive Seite, die Ableitung aus der Unterrichtspraxis. Die Kritik, es mangele in Klafkis Plan an Grundsätzlichkeit, teilte auch der Studienassessor Hartmut Wolf, der meinte, »dass Prof. Klafki bereits Ziele und Methoden diktiert, die eigentlich erst gründlich zu überlegen wären«. Als Beispiel führte er allerdings selbst bereits sehr konkrete Vorstellungen an, die sich mit seinem späteren sehr zielgerichteten Wirken decken: »Um beispielsweise zu vermeiden, dass Mathematik mit logischem Denken gänzlich gleichgesetzt werden würde, müsste man sich darum bemühen, dass etwa zwischen Mathematik und dem Fach Gemeinschaftskunde eine enge Zusammenarbeit möglich ist, damit nicht einseitige Vorstellungen über Rationalität bei den Schülern entstehen. In dem Vorschlag von Herrn Prof. Klafki ist jedoch lediglich die Verbindung
1470 Ebd., S. 30 (Klafki). 1471 Ebd., S. 19f. 1472 Ebd., S. 35f (Klafki).
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zu den Naturwissenschaften angegeben. Man müsste also ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Fachgruppen keine verbindliche Trennung darstellen.«1473 Zusammenfassend kann über diese turbulenten Monate, in denen bereits sehr unterschiedliche Konzeptionen aufeinanderprallten, gesagt werden, dass Hildegard Hamm-Brücher trotz oder wegen ihrer individualrechtlich-emanzipativen Vorstellungen zunächst den szientistischen Ansatz bevorzugte, repräsentiert durch die Vertreter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung1474. Auf der anderen Seite standen gesellschaftlich-emanzipative Vorstellungen, die aus gesellschaftspolitischen Zielen diejenigen Curricula ableiten wollten, die die Schüler in dieser politisch gewählten Richtung erziehen würden. Deren einschlägiger Repräsentant war Hartmut von Hentig. Dazwischen stand Wolfgang Klafki, der zwischen einem wissenschaftlich sauberen, aber langwierigen und einem in seinen Zielbestimmungen klaren, in der Umsetzung aber ebenfalls langwierigen Ansatz einen dritten Weg wählte, der Elemente von beiden Seiten integrierte. Klafki grenzte sich aber auch von beiden Seiten explizit ab. Er distanzierte sich vom Ansatz Robinsohns, der unter starker Integration nicht unmittelbar der Schulen, aber zumindest der Fachvertreter, ein innovatives Curriculum vorgeben und dann in die Revision durch die Schulen geben wollte; Klafki wollte eine Analyse bestehender Lehrpläne und fachdidaktischer Literatur zur Grundlage seiner Methode machen. Gegenüber dem Ansatz von Hentigs brachte er gleichfalls grundsätzliche Vorbehalte an. Gänzlich verabschiedete sich der Ansatz damit von den Berliner Bildungsforschern. Robinsohn beziehungsweise Edelstein wollten Lernziele ausschließlich in diesem induktiven Modell erarbeiten, indem »der Innovationsprozess auf der Ebene der Schule konkretisiert wird«1475. Wichtig war ihnen, dass Lernziele sich nicht wie in den traditionellen Lehrplänen in Präambeln erschöpften oder anderweitig abstrakt blieben, sondern operationalisierbar, also in ihrer Anwendung konkret und überprüfbar blieben. Klafki sah weiterhin keinerlei Feststellung zukünftiger Lebenssituationen als Deduktionspunkt vor, für die Schüler bestimmte Qualifikationen erwerben müssten. Auch dieses Grundelement der szientistischen Konzeption überging Klafki. Von Hentig hingegen vertrat das ausschließlich deduktive Modell, also die Ableitung von allgemeinen, theoretischen Erwägungen. Daraus sollten zunächst das Ziel der Schule, daraus wiederum die Schulstruktur, dann der Zuschnitt der Fächer und zuletzt die Lerninhalte abgeleitet werden. Dazu wollte er einmalig die allgemeinen Ziele politisch setzen, ein konstanter Revisionsprozess aus der 1473 Ebd., S. 33 (Wolf). 1474 Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 133. 1475 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 35 (Edelstein).
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Schule heraus sei auf dieser Grundlage im Anschluss auch in einem von äußeren Setzungen unabhängigen System möglich. Später konstatierte von Hentig: »Ich meine, dass die allgemeinen Lernziele dann wegfallen könnten, wenn die Kommissionen ihre Arbeit beendet haben, denn die allgemeinen Lernziele sind ja nur dazu da, die Arbeit der einzelnen Kommissionen anzuleiten und immer wieder dafür zu sorgen, dass dies geschieht, was Herr Edelstein etwas zu optimistisch von der Selbstkritik aus den einzelnen Fächern heraus erwartet.«1476 Dieser Ansatz, der von der Politik gesetzte Lernziele wollte, rührte aber nicht nur aus dem Misstrauen gegenüber der Fähigkeit zur Selbstveränderung eines bestehenden Systems. Hinzu kam eine fundamentalere Argumentation: Die Mittel des szientistischen Ansatzes schienen zu mächtig, als dass sie nicht einer äußeren Kontrolle bedurften: »Die mit operationalisierten Lernzielsequenzen arbeitenden Lehrpläne sind in noch höherem Maße dem Verdacht repressiver Macht ausgesetzt als die ›pädagogische Trivialliteratur‹ der traditionellen Lehrpläne, weil sie in der Tat zu höchst effektiven, wissenschaftlich kontrollierten Instrumenten einer autoritären Leistungsdressur werden können.«1477 Die Schulen selbst würden mit diesen Methoden »vermutlich den gegenwärtigen Stand unseres Schulwesens«1478 reproduzieren und so eine aktive Bildungspolitik konterkarieren. Dass Hamm-Brücher Klafki nicht von Anbeginn integriert hatte, war Ausdruck ihres Vorzugs für die Arbeit des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, das die Aura des rundum Progressiven umgab und dessen Modelle den aktuellsten Stand der Wissenschaft repräsentierten. Diesem Vorzug verlieh sie auch im Nachhinein unverhohlen Ausdruck – sie bezeichnete im Rückblick Klafki als den »Kompromisskandidaten, auf den sich zwar erst alle einigen, dessen Autorität dann am Schluss aber niemand anerkennt«1479. HammBrücher plädierte allerdings selbst für einen klaren Zeitplan, um die Umsetzung auch zu gewährleisten: »Das Argument, wir brauchten viel Zeit, halte ich in der Bundesrepublik für recht gefährlich.«1480 Damit war der szientistische Ansatz endgültig aus dem Rennen. Aus Robinsohns Ansatz blieben aber Begriffe wie die »Rollende Reform«, Curriculumrevision und auch das Curriculum selbst der inneren Reform des hessischen Schulwesens noch lange erhalten1481.
1476 1477 1478 1479 1480
Ebd., S. 39f (von Hentig). Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 20. Vgl. ebd. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 133. Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 28f (Hamm-Brücher). 1481 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 122.
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Die »Vorbereitende Kommission« Unter diesen Voraussetzungen begann die Arbeit von Klafkis »Vorbereitender Kommission«1482. Ihr ursprüngliches Ziel, einen organisatorischen Rahmen für die eigentliche Curriculumarbeit zu entwickeln, trat bald hinter der Beschäftigung mit wissenschaftlicher Literatur zurück, um pädagogische Problemfelder zu erschließen, die zu bearbeiten sein würden. Eine Integration von Praktikern aus der Schule und der Lehrerfortbildung fand zwar statt, ihre Eingaben blieben aber weitgehend unbeachtet1483. Hans Nicklas formulierte im Abschlussbericht der Vorbereitenden Kommission, die ehedem vorgesehene Rolle der Praktiker sei aufgegeben worden »zugunsten des Versuchs einer wissenschaftlichen Neukonzeption«1484. Die vorbereitende Kommission legte, anders als bei Schreiber dargestellt1485, einen Organisationsrahmen vor, der im Protokoll einer Hausbesprechung im Ministerium zur Vorbereitung der Präsentation der Kommissionsergebnisse vor Kultusminister Schütte skizziert ist – was daraus wurde, bleibt hingegen tatsächlich offen1486. Wahrscheinlich waren die im sogenannten Grünen Papier zusammengefassten inhaltlichen Ergebnisse weitaus relevanter als der Organisationsplan. Abseits der inhaltlichen Debatten und Entwicklungen zu Beginn der Konzeptionsphase und in der Klafki-Kommission hatte sich in den Prozessen recht unstrittig der von Hamm-Brücher gewünschte Wandel vollzogen. Ihr Partizipationsprinzip, statt aus dem Ministerium die inhaltliche Arbeit zu steuern, 1482 Die Quellenlage über diese Phase der hessischen Curriculumentwicklung ist dürftig, vgl. dazu umfassend Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 153–160. Die von Schreiber noch verwendeten Bestände der ›Bibliothek des HILF‹ in der Reinhardswaldschule bei Kassel konnten für diese Arbeit nicht requiriert werden, da diese Bibliothek aufgelöst wurde. In der Bibliothek des Lehrerfortbildungswerks in Frankfurt am Main, wohin diese Bestände gegangen seien, konnten die relevanten Dokumente nicht mehr aufgefunden werden; die Aussagen dieser Episode beruhen also maßgeblich auf Sekundärliteratur und den wenigen publizierten Quellen. Darüber hinaus wurden im Hessischen Hauptstaatsarchiv doch noch Quellen zu diesem Zeitraum aufgetan, so das Ergebnisprotokoll zur Hausbesprechung, HHStAW 504/4379, GS – 1000/ 02-3, 04. 02. 1969. 1483 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 162–165 und 167. 1484 Vgl. Nicklas, Aufgabenstellung, S. 12. 1485 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 167. 1486 HHStAW 504/4379, GS – 1000/ 02-3, Ergebnisprotokoll zur Hausbesprechung im Kultusministerium, 04. 02. 1969: »Am 10. März 1969 wird Professor Dr. Klafki mit den Damen und Herren der vorbereitenden Planungskommission (Marburger Ausschuss) dem Herrn Minister die Konzeption der Curriculumplanung darlegen.« – diese Konzeption war vorhanden und wurde auch kurz umrissen: »Die Curriculumplanung soll mit folgenden Kommissionen arbeiten: 1.1 Allgemeine Lehrplankonferenz (etwa 100 Mitglieder) 1.2 Planungs- und Koordinierungskommission 1.3 Fachbereichskommission (die Fachbereiche müssen noch festgelegt werden) 1.4 Fachkommissionen«
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diese in Kommissionen auszulagern und Experten wie Praktikern zu überlassen, wurde umfangreich umgesetzt. Selbst der »Schwerpunkt der Verantwortung für das Reformvorhaben [wurde] weitgehend aus dem Ministerium ausgelagert und zunächst in die Kompetenz einer ›Vorbereitenden Kommission‹ gelegt […], der 16 Personen angehörten: Erziehungswissenschaftler, Kolleginnen und Kollegen der Lehrerbildung, der Lehrerfortbildung und der Schulpraxis sowie einige Referenten des Ministeriums.«1487 Wolfgang Klafki, der diese Kommission leitete, war dem partizipatorischen Ansatz nicht von Anfang an zugeneigt. Als das Ministerium Klafki aus Gründen der Partizipation und der Repräsentanz die Integration von »Mathematikern und Physikern usw.« verordnet hatte, erwiderte dieser : »Dieses Problem wird insofern noch diskutiert werden müssen, weil meiner Auffassung nach die Gefahr besteht, dass Kollegen der einzelnen Fachdisziplinen von den Universitäten immer erst in mühseligen und langwierigen Informationen an das aktuelle Problembewusstsein innerhalb der pädagogischen Diskussion herangeführt werden müssen, was unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität eine recht zeitraubende Angelegenheit sein könnte.«1488 Diese Kommissionsarbeit verselbständigte sich also, und neben dem Abweichen von den vorgesehenen Aufgaben dürften auch die inhaltlichen Vorstellungen schon bald nicht mehr im Sinne der Staatssekretärin gewesen sein. In der Phase, in der Wolfgang Klafki die Ägide über die hessische Curriculumentwicklung führte, verlor der szientistische Ansatz, der mit der Curriculumtheorie Robinsohns zu Beginn sehr präsent und von Hamm-Brücher favorisiert worden war, seine Bedeutung. Die Idee von Curriculumentwicklung verschob sich zugunsten der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption. Ohne größere Forschungsbudgets für empirische Forschung1489 und mehr Zeit waren sehr elaborierte Ansätze zur Lernzielbestimmung ohnehin hinfällig, und freihändigere Methoden zur Lernzielbestimmung mussten gefunden werden. Diese fanden sich in den theoretisch arbeitenden Teilen der Sozialwissenschaften1490. Auch der ausgleichende Weg zwischen Theorie und Praxis, den Wolfgang Klafki vor der Konstitution der Kommission selbst noch gegen Hartmut von Hentig verteidigt hatte, war bald kein Thema mehr. Dieser Wechsel geschah aber nicht aus rein funktionalen Gründen, sondern entsprach auch immer mehr den Vorstellungen der Beteiligten. So wurde bald die Prämisse, Curricula empirisch vom Entwicklungsstand und den Bedürfnissen der Kinder her abzuleiten, kritisiert: »Es könnte nämlich sein, dass latente 1487 Klafki, Erfahrungen und Einsichten, S. 259. 1488 Hessisches Lehrerfortbildungswerk, Hauptstelle Reinhardswaldschule: Protokoll der Lehrplankonferenz vom 26. Juni 1968 in Wiesbaden, Juli 1968, S. 7. 1489 Vgl. Nicklas, Aufgabenstellung, S. 8. In: Klafki, Probleme der Curriculumforschung, S. 7– 10. 1490 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 170f.
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Möglichkeiten des Kindes durch dessen Anpassung an die Verhaltenserwartungen der Erwachsenen überhaupt erst zu seinen ›wirklichen Bedürfnissen‹ werden, denen nun die Entwicklungspsychologen und mit ihnen die Erzieher den Rang von Naturkonstanten zuschreiben. Dagegen ist einzuwenden: aus dem gerade vorfindlichen Stand der Schüler sollte kein Unüberschreitbares gemacht werden, und zwar auch nicht in deren eigenen Interesse«1491. Stattdessen galt nun, dass »die menschliche Entwicklung […] viel weniger natürlich determiniert [ist], als die traditionellen Phasentheorien behaupten. Die meisten Verhaltensweisen ›entfalten‹ sich nicht, ›reifen‹ nicht […], sondern werden erworben und gelernt.«1492 Im Grunde ging es darum, dass eine empirische Analyse sich immer nur auf das Bestehende beziehen könne, für eine fundamentale Veränderung aber die Theorie nötig sei. So kam es, dass die vorbereitende Kommission der Curriculumentwicklung in Hessen eine Leitidee verlieh, die nicht aus der Schulpraxis entwickelt wurde und sich auch nicht aus umfangreicher empirischer Forschung ergab, sondern aus politischer Argumentation: »Diese Ziele müssten insofern emanzipatorische Ziele sein, als sie nicht nur ›in die Gesellschaft einüben‹, sondern zugleich ›gegen sie immunisieren‹ müssten.«1493 Die Herleitung emanzipatorischer Lernziele ergab sich daraus, dass einem affirmativen Gesellschaftsbezug vergangener Lehrpläne die Leitidee der Emanzipation entgegengesetzt wurde: »Das bedeutet: der Wert eines Lernzieles wird letztlich daran gemessen, inwieweit es innerhalb des organisierten Lernprozesses dazu beiträgt, die Fähigkeit des Schülers zur Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit sein Selbstverständnis und seine Handlungsfähigkeit in der jeweiligen historischen Situation zu fördern. […] Lernziele wie die sogen. ›Kulturtechniken‹ – Rechnen, Schreiben, Lesen – können je nach dem curricularen Zusammenhang, in dem sie vermittelt werden, höchst unterschiedliche soziale Funktionen erfüllen. Im Kontext der Vermittlung einer konservativen Ideologie etwa, sind sie durchaus geeignet, vorgegebene Herrschaftsstrukturen zu befestigen, in anderen Zusammenhängen dagegen erscheinen sie als Elemente der Aufklärung und damit als Voraussetzung individueller und sozialer Selbstbestimmung. Zur Bestimmung der sozialen Funktion ›instrumentaler‹ Lernziele ist daher die Orientierung am Leitbegriff ›Emanzipation‹ unerlässlich: sie ermöglicht, jene Curriculumelemente zu finden und zu beschreiben, die ein Mehr an Aufklärung, an Entscheidungsfähigkeit und Selbständigkeit gewährleisten.«1494 1491 Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, S. 29. In: Klafki, Probleme der Curriculumforschung, S. 23–37. 1492 Hartwig, Ältere Entwicklungspsychologie und neuere Lerntheorie (-psychologie) S. 87f. 1493 Vgl. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 11. 1494 Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, S. 30f. Vgl. auch HHStAW 1207/1, Börß, Theodor, Lingelbach, Dr. Karl Chr., Begriffe zum Problem des Lernziels,
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Damit war nicht nur erstmalig Emanzipation als einziger übergreifender Leitbegriff gesetzt, der Begriff wurde auch direkt im gesellschaftlich-emanzipativen Sinne gebraucht. Emanzipation wird nicht subjektiv benutzt, nicht als Verständnis der eigenen Lebensbedingungen und Möglichkeiten oder Ermächtigung des Einzelnen durch Qualifikationen, sondern als Kritik an den Bedingungen und den daraus hervorgehenden Beschränkungen. Zusammen mit der beschriebenen Vorstellung, dass die Entwicklung von Schülern im größten Maße davon abhängt, wie sie von außen sozialisiert werden, ergeben sich hier kohärente Zusammenhänge, die die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption widerspiegeln. Die angenommene große Beeinflussbarkeit von Menschen in ihrer Entwicklung treffe also nicht nur auf die Erziehung selbst, sondern auf die gesamte Umwelt zu. Daraus ergebe sich erst die Legitimation, eine radikal auf Kritik und Veränderung ausgerichtete Schule einzurichten. Ein soziales System galt aus sich heraus als auf seine eigene Reproduktion ausgerichtet. Seine Funktionen und damit die gesamte Sozialisation seien also automatisch affirmativ angelegt. Um eine Gleichwertigkeit zwischen Reproduktion und Veränderung eines – möglicherweise guten, möglicherweise schlechten – Zustands herzustellen, musste also nicht, wie im individualrechtlich-emanzipativen Diskurs, genau diese Gleichwertigkeit beigebracht werden, sondern innerhalb der Schule ein bewusst antizipierter reformatorischer Ausgleich zur unbewussten äußeren Konservierungstendenz entstehen: »Indem der Lehrplan die letzteren Ziele aufnimmt, setzt er bewusst ein Gegengewicht gegen die Anpassungstendenzen schulischer und außerschulischer Lernprozesse an eine möglicherweise schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit. Hierzu gehören z. B. Lernziele wie die Fähigkeit, Konflikte in Klassen und Gruppen sowie die eigene Interessenlage in unserer Gesellschaft zu erkennen oder auch eine ideologiekritische (rationale) Haltung gegenüber tradierten Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft zu gewinnen.« Solche »systemtranszendierenden Lernziele« wurden in diesem Zusammenhang explizit als »Wertentscheidungen in einer historischen Situation« bezeichnet1495. Die Lernziele der traditionellen Lehrpläne wurden als abstrakte Formeln angesehen, die in den jeweiligen Präambeln untergingen: »Diesen wenig präzise gefassten Zielen stehen in aller Regel mehr oder weniger ausführliche Stoffpläne gegenüber, ohne dass genügend klar würde, welche konkreten Folgen des Erlernen des Stoffes beim einzelnen Schüler haben soll und wie das erzielte Resultat nachgeprüft werden kann.«1496 Demgegenüber sollten die neu gesetzten Lernziele zwei Kriterien erfüllen, ein materielles und ein formelles: Sie mussten 1. 11. 1969, S. 9f. Vgl. auch den ähnlichen Wortlaut in Nicklas, Probleme der CurriculumEntwicklung, S. 17f. 1495 Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, 25. 1496 Ebd., 23.
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inhaltlich begründet sein, wozu noch verschiedene Methoden diskutiert wurden, die noch näher erörtert werden. Darüber hinaus mussten sie aber operationalisierbar sein, also konkret und überprüfbar1497. Die Frage der Operationalisierbarkeit wurde zwar kritisch diskutiert1498, da »Zusammenhänge immer unter den Bedingungen ihrer Entstehung und damit als Prozesse zu denken« seien, weshalb eine Konkretisierung im Vorhinein eigentlich nicht möglich sei1499. Als grundsätzliches Ziel wurde sie allerdings nicht in Abrede gestellt. An die Programmierung angelehnte Elemente finden sich als Mittel wieder, etwa die genaue Bestimmung der »Kenntnisse, Erkenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten«, die für die antizipierten Leitziele nötig sind, sowie der Weg zu ihrer Erlangung und die Überprüfung der Zielerreichung1500. Das Konzept der Curriculumtheorie wurde allerdings relevant geändert. Im ursprünglichen, szientistischen Konzept liegt der Sinn der Programmierung, also einer lückenlos geplanten Abfolge von Schritten der Unterweisung und Überprüfung, in der Optimierung des Lernerfolges der Schüler für die einzelnen Lernziele, die wiederum einzeln empirisch erschlossen werden. Hier sollte diese Methode nun verwendet werden, um die lückenlose Rückverfolgung des Unterrichts bis zu einem einzigen obersten Lernziel zu gewährleisten, das politisch gesetzt wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Überprüfung des Erreichens von Lernzielen voraussetzt, dass es ein erwartetes Ergebnis gibt, das beobachtet werden kann. Das oberste Lernziel war nun gesetzt als Emanzipation, das zu überprüfende Ergebnis war die »erstrebte Verhaltensweise«1501. Emanzipation konnte an dieser Stelle also schon technisch nicht mehr ergebnisoffen gemeint sein, wie in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption, sondern musste sich auf ein beabsichtigtes Ergebnis richten. Hans Nicklas sprach diese Problematik nur scheinbar an: »Es muss ferner diskutiert werden, ob durch die geforderte Überprüfbarkeit nicht die Realisierung emanzipatorischer Ziele verhindert wird. Es scheint eine prästabilierte Harmonie zwischen der Möglichkeit der Überprüfung und den affirmativen Lernzielen zu geben.« Hier wird problematisiert, dass Überprüfbarkeit affirmativ wirken und »den Schüler an die bestehende Gesellschaft anpassen«1502 müsse, aber nicht angesprochen, dass auch das Gegenteil – eine Fixierung auf die Veränderung in eine bestimmte Richtung – möglich wäre.
1497 Vgl. ebd., 24: »Unter ›operationalisierbar‹ wird in diesem Zusammenhang lediglich die Angabe von Kriterien verstanden, nach denen geprüft werden kann, inwieweit das beschriebene Lernziel erreicht wurde.« 1498 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 174. 1499 Hartwig, Ältere Entwicklungspsychologie und neuere Lerntheorie (-psychologie) S. 88. 1500 Vgl. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 11. 1501 Ebd., S. 14. 1502 Vgl. ebd., S. 15.
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Stattdessen folgt ein Traktat über Leistungsdruck und behavioristische Lerntheorie. An dieser Sinnverkehrung der Methode änderte auch die dezidierte Berufung auf den Begriff des Curriculums nichts, wenn es heißt: »Der Lehrplan soll als Steuerungsinstrument des Unterrichts den Lernprozess rational erfassen, planen, durchführen und die Erreichung der angegebenen Ziele überprüfen.« Denn gleichzeitig wird das Element der Curriculumplanung als Curriculumrevision innerhalb des Bildungssystems, wie bei Robinsohn vorgesehen, durch eine in den Methoden weiterhin rationale, in der Zielstellung aber nicht mehr ständiger Revision ausgesetzten, sondern politisch vorgegebenen Entscheidung ersetzt1503. Nicht ohne Grund sah die szientistische Konzeption Großforschung zur Feststellung einer Entscheidungsgrundlage und einen ausgefeilten Revisionsmechanismus, eine ständige (›rollende‹) Reform der Curricula vor und nicht lediglich theoretische Überlegungen und Anpassungsprozesse in den Unterrichtsmethoden und -inhalten. Statt einen solchen Revisionsmechanismus aber zum Kern der Curriculumentwicklung zu machen, blieb die ›rollende Reform‹ Randnotiz, eine Absichtserklärung, die sich nicht auf die Revision der Lernziele, sondern auf die Neuausrichtung der Curricula im Spannungsfeld zwischen sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen und dem fixen Lernziel Emanzipation bezog1504. Die von Robinsohn vorgesehene empirische Befragung von Fachwissenschaftlern, gesellschaftlichen Repräsentanten sowie »Vertretern der anthropologischen Wissenschaften«1505 zur Findung der Anforderungen, auf die Schüler bei der erstmaligen Konzeption des Curriculums sowie bei dessen stetiger Revision vorzubereiten seien, blieben zwar »prinzipiell unbestritten«1506, wurden aber stark vom daran anschließenden Schritt der Ideologiekritik her gegen den Szientismus interpretiert: »Da aber bei dieser Befragung die Gefahr besteht, dass die Wissenschaften rein szientistische Aussagen machen und die Abnehmer der Schulabsolventen ideologische Sollensforderungen erheben, ist es notwendig, eine ideologiekritische und didaktische Überprüfungsphase anzuschließen.«1507 Eine Orientierung an zu bewältigenden Situationen beziehe sich stets auf »gesellschaftlich vermittelte Situationen« und berge die »Gefahr, dass das Bildungssystem zu einem bloßen Reproduktionsinstrument der bestehenden
1503 Vgl. ebd., S. 12. 1504 Vgl. ebd., S. 22: »Dies ist nicht als fixe Anpassung des Lehrplans n die aktuellen Bedürfnisse der bestehenden Gesellschaft zu verstehen, sondern so, dass der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung jeweils neue Reflexionen über die Möglichkeit emanzipatorischer Bildung erfordert.« 1505 Robinsohn, Bildungsreform, S. 48–50. S. o. S. 158. 1506 Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, S. 29. 1507 Vgl. Nicklas, Aufgabenstellung, S. 13.
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Gesellschaft wird.«1508 Zwar gewährleiste das einen leichteren Übergang von der Schule in die Berufswelt, allerdings müsse auch »verhindert werden, dass der faktische und möglicherweise für schlecht gehaltene Zustand der Gesellschaft normierend wirkt, d. h., die bestehenden Verhältnisse verhärtet, indem das Faktische in der Schule gelehrte Verhaltensnorm wird«1509. Nicklas hielt diese Ideologiekritik der Ergebnisse empirischer Erhebungen für zentral, erklärte dann aber den »empirischen und analytischen Aufwand« der davorliegenden Analyseschritte als zu groß für das aktuelle Projekt1510, sodass letztlich Ideologiekritik ohne analytische Grundlage blieb1511. Empirischen Erhebungen attestierte er zudem: »In einem solchen Verfahren würde die gesellschaftliche Funktion der Erziehung reduziert auf die Reproduktion der jeweils bestehenden Gesellschaft und der Lehrplan wäre sozial konservierend, weil zugleich mit der optimalen Anpassung des einzelnen an die Bedürfnisse der bestehenden Gesellschaft deren Herrschaftsstruktur verfestigt würde.«1512 Im Ergebnis lief alles auf rein theoretische Bezugspunkte zur Erschließung von Lernzielen und darüber von Inhalten heraus. Die Implementierung eines emanzipatorischen Curriculums, das einer strikten Programmierung unterlag, machte es auch nötig, dass alle Faktoren aufeinander abgestimmt wären. Das fing bei der Schulorganisation1513 an, betraf die Lehrmittel und reichte bis zu den Lehrern1514. Letztere sollten in Fortbildungen auf den entsprechenden »Bewusstseinsstand« gebracht werden, um »mit einem nach Lernzielen strukturierten Lehrplan zu arbeiten«1515. Zum Zwecke der »Demokratisierung von Schule und Unterricht« sollte die »Lehrer-Schüler-Beziehung als kontinuierliches Problem von organisierter Erziehung betrachtet« werden. Andererseits kam dem Lehrer eine neue Rolle nicht mehr nur als Fachlehrer, sondern auch als Vermittler von Methodenbewusstsein zu, er müsse also auch ein für die Vermittlung von Sachzielen dysfunktionales Verhalten fördern, welches aber dazu dienen könne, »autoritätsbestimmtes Lernen« abzubauen. Es müsse festgelegt werden, dass Lehrer auch »die angedeutete Auf1508 1509 1510 1511 1512 1513 1514
1515
Vgl. ebd. S. 14. Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, S. 28. Vgl. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 14. Zur Ideologiekritik vgl. auch Hartwig, Ältere Entwicklungspsychologie und neuere Lerntheorie (-psychologie), S. 87f. Vgl. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 17. Vgl. Fackinger, Bedingungen der Realisierung von Bildungsplänen, S. 112. Weitere »Bedingungsfaktoren in ihrer gegenwärtigen Situation und in ihren Veränderungsmöglichkeiten«, die an die Lernziele anzupassen waren, waren »Lernmaterialien, Klassenfrequenzen, technische Mittler, Unterrichtsräume, pädagogische Hilfskräfte, Ausbildungsstand der Lehrer, Beteiligung der Schüler«. Vgl. Fackinger, Bedingungen der Realisierung von Bildungsplänen, S. 111. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 21.
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klärung zu betreiben und damit nicht nur Sachkenntnis zu fördern, sondern soziales Verhalten zu prägen«1516 hätten. Eine weitere Bedingung, die diesem Ziel angepasst werden musste, war das Leistungsprinzip: »Wenn öffentliche Erziehung unter die Leitidee ›Emanzipation‹ gestellt ist, dann kann dies im allgemeinen Verständnis doch erst einmal nichts anderes heißen, als dass sie nicht primär am Leistungsprinzip oder an der Forderung nach Anpassung orientiert werden soll.«1517 Die Schlussfolgerung war : »Es wird also die Frage zu stellen sein, wie der Begriff der Leistung im engen Sinne durch die Frage nach Verhaltensänderung im weiteren Sinne abgelöst werden kann.«1518 Den neuen Curricula, so war man sich sicher, werde auch der klassische Fächerkanon oder gar das Konzept des ›Faches‹ zum Opfer fallen, da der bisherige Fächerkanon zum größeren Teil entbehrlich oder direkt ungeeignet sei, die neuen Ziele zu erreichen1519. Diesen Kanon zum Ausgangspunkt der Curriculumentwicklung zu machen, wie Wolfgang Klafki zunächst vorgeschlagen hatte, wurde dabei immer kritischer gesehen. Von prinzipiellen Leitgedanken sollten Unterrichtsformen und -inhalte neu abgeleitet werden. Helmut Hartwig, der eine der Untergruppen leitete, beschrieb für die Zeitschrift »Kunst und Unterricht«, wie »sich dennoch Ansätze für die Konstruktion eines irgendwie den bisherigen Komplex ›Kunsterziehung‹ betreffenden Curriculums ergeben haben«1520 – also die Kommission mehr oder minder zufällig aus emanzipativen Gedanken heraus auf die Idee kam, Kunstunterricht einzuführen, unabhängig davon, ob es ihn bereits gab oder nicht. Die Vorbereitende Kommission sprach sich daher gegen Fachkommissionen zur Erarbeitung der Curricula aus, um stattdessen »von der übergreifenden Frage nach den Qualifikationen und generellen Lernzielen auszugehen«1521.
Die operative Phase Mit der Präsentation der Ergebnisse vor dem Kultusminister im März 1969 war die Zeit der ›Vorbereitenden Kommission‹ vorbei. Ihre Arbeit war insgesamt auf große Zustimmung gestoßen, auch die Konsultation »der Vertreter aller an der Lehrplanreform interessierten Gruppen, wie Lehrerverbände, Vertreter der verschiedenen Schultypen und Fächer, der Gewerkschaften und Unternehmensverbände, der Elternbeirat, Universitäten, Studenten und Schüler« auf einer dazu 1516 1517 1518 1519 1520
Ebd., S. 40–42. Hartwig, Demokratisierung der Schule, S. 41. Rommel, Notengebung und Zeugnisse, S. 92. Nicklas, Ostermann, die Gliederung des Lehrplans, S. 61f. HHStAW 1207/1, Kunst und Unterricht, November 1971, S. 30: Gesellschaftliche Situationen gegenständlich auffassen, von Hellmut Hartwig. 1521 Nicklas, Ostermann, die Gliederung des Lehrplans, S. 61.
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eigens anberaumten Tagung verlief erfolgreich1522. Nun ging die Curriculumentwicklung, über eineinhalb Jahre nach der ersten Tagung in der Reinhardswaldschule, mit der »Kommission zur Reform der Hessischen Bildungspläne« und ihren Unterkommissionen in die operative Phase. Weiterhin hatte Wolfgang Klafki die Leitung inne, die Koordination wurde durch einen Ausschuss übernommen, der aus der ›Vorbereitenden Kommission‹ hervorging. Die weiteren Kommissionen wurden mit Lehrern, Mitarbeitern der Lehrerfortbildung, vereinzelt auch Wissenschaftlern aus der Fachdidaktik sowie mit Fachwissenschaftlern besetzt1523. Die Vorbereitende Kommission hatte zwar eine Vorschlagsliste für die 100 Personen starke »Allgemeine Lehrplankonferenz«, also das avisierte Hauptgremium der Curriculumplanung abgegeben, das Ministerium behielt sich allerdings vor, diese nach den eigenen Wünschen zu überarbeiten1524. In Sachen Partizipation gingen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander. Schon im Abschlussbericht der Vorbereitenden Kommission wurde die Integration von Lehrern nicht mehr als wichtig für das Ergebnis, also ein gutes Curriculum, angesehen, sondern »um Aufnahmebereitschaft und den Willen zur Mitarbeit zu erreichen, die auf dem Erlasswege nicht herzustellen sind, ohne die aber der beste Lehrplan wirkungslos bleibt«1525 – es handelte sich um Pädagogik an Pädagogen, nicht um die Art basisdemokratischer Willensbildung, auf die Hamm-Brücher zuvor gesetzt hatte. Noch im April 1969 hatte sie auf der Lehrplankonferenz beschworen, »dass in Hessen die Schulreform nicht nur durch die politischen Kräfte beschlossen und vorangetrieben wird, sondern dass diese Schulreform vor allem und in erster Linie von Ihnen: den Lehrern, von Ihnen: den Vertretern der Wissenschaft, von Ihnen: den Vertretern unseres Hauses, von Ihnen: […] den Vertretern der Hochschulen und Universitäten und last not least den Schülern getragen wird.«1526 Auch ihr Anspruch, Reformen auf einem breiten, zuvor herzustellenden Konsens aufbauen zu wollen und nicht von oben nach unten zu dekretieren, war nunmehr vergessen. Man erwartete, »dass die Einführung neuer Lehrpläne auf der Seite der Lehrer, Eltern und Schüler zunächst Unsicherheit und Widerstand erzeugt, bis sich die neuen Vorstellungen durchgesetzt haben und zu effektiver pädagogischer Arbeit führen.« Dem sollten 1522 HHStAW 504/1300b, Arbeitsbericht der Kommission zur Reform der Hessischen Bildungspläne – Organisationsformen der Lehrplankommission und gegenwärtiger Diskussionsstand. 1523 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 207–213. 1524 HHStAW 504/4379, GS – 1000/ 02–3, Ergebnisprotokoll zur Hausbesprechung im Kultusministerium, 04. 02. 1969. 1525 Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 21. 1526 HHStAW 807/34 (2), Hamm-Brücher, Konzept Gesellschaftslehre, ›Politisierendes Lernen‹, S. 2 Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 102.
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»neue Formen der Kooperation zwischen Lehrern, Schulverwaltung und Wissenschaft«1527 zwar entgegenwirken, aber eine Einführung der neuen Lehrpläne werde davon nicht abhängig sein1528, ein Konsens wurde nicht mehr als nötig erachtet. Klafki erklärte nachträglich, man habe bei der Besetzung der Curriculumkommission bewusst »Vertreter unterschiedlicher Auffassungen«1529 gewählt. In welchem Ausmaß man sich diesem Bewusstsein verschrieben hatte, bleibt allerdings unklar, ein dazu geeigneter Selektionsmechanismus oder eine Thematisierung konnte in den Quellen nicht gefunden werden. Viel relevanter als die Integration unterschiedlicher Sichtweisen war wohl die Frage der Repräsentanz. Nachdem auf einer Lehrplankonferenz im April 1969 »Vertreter von Verbänden und Interessengruppen« zusammengekommen waren, wurde dementsprechend die Kommission besetzt. Verbände und Schulen, die bei dieser Konferenz nicht vertreten waren, hatten im Nachhinein noch die Möglichkeit, Vertreter zu benennen1530. Insgesamt bleibt zu hinterfragen, wie groß der Einfluss dieser hoher Fluktuation ausgesetzten Kommission war, der über die gesamte Zeit ihrer Existenz hinweg fast 300 Mitglieder angehörten1531, zwischenzeitlich fast 200 zugleich1532, aufgeteilt in zahlreiche Untergruppen, deren Ergebnisse irgendwann nicht mehr koordinierbar waren1533. Insbesondere Haupt- und Realschullehrer, aber auch Gymnasiallehrer, die an ihren Schulen keine administrative Aufgabe hatten, nahmen an der Kommissionsarbeit oft nur punktuell teil. Das lag nicht nur daran, dass sie die Kommissionsarbeit zusätzlich zu ihrer Haupttätigkeit bewältigen mussten: »Als Gründe für das Ausscheiden nannten Real- und Hauptschullehrer die Praxisferne der Kommissionsarbeit bzw. die Arbeitsbelastung. Wolf vermutet, dass der ›elitäre Diskussionsstil‹ in den Sitzungen eine zusätzliche Rolle gespielt habe.«1534 Als natürliches Selektionskriterium, als diskursiver Exklusionsmechanis1527 1528 1529 1530
1531 1532
1533 1534
Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 21. Zu Eltern vgl. auch Fackinger, Bedingungen der Realisierung von Bildungsplänen, S. 113. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 207–212. HHStAW 1207/5, G II 4-95 954/421, Herrn Staatssekretär, Betr.: Mittel- und Langfristige Curriculumentwicklung-Hess.Curr.Komm, hier: Stellungnahme zu dem Brief von Prof. Klafki vom 27. November 1970, Bezug: Ihre Weisung vom 30. November 1970, 3. 12. 1970 (es handelt sich um eine Rekapitulation des bisherigen Prozesses). Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 215. Bei HHStAW 1207/5, G II 4-95 954/421, Herrn Staatssekretär, Betr.: Mittel- und Langfristige Curriculumentwicklung-Hess.Curr.Komm, hier: Stellungnahme zu dem Brief von Prof. Klafki vom 27. November 1970, Bezug: Ihre Weisung vom 30. November 1970, 3. 12. 1970 wird ein »Perspektivplan der Curriculum-Kommission« zitiert (S. 21f). Vgl. HHStAW 1207/1, Papier , Für die Arbeitsgruppe: Ermittlung von Lernzielen, die von normentheoretischen bzw. Normenkritischen Ansatz her konzipiert werden (Rauschenberger/Fischer), 11. 3. 1970. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 215f.
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mus, muss bereits der reformistische Ansatz der Kommissionsarbeit gelten. Die Idee, auf neuester Forschung beruhende, mit einer gesellschaftspolitischen Zielsetzung versehene Lehrpläne zu schaffen, schloss etwa die Teilnahme konservativer Lehrer aus; so wie die oft sehr strukturalistisch geführten Debatten diejenigen ausschlossen, denen ein entsprechendes theoretisches Fundament fehlte – gerade die noch nicht an Universitäten gebildeten Lehrer an Haupt- und Realschulen konnten damit wohl nichts anfangen. Auch die Verwaltung war durch informelle Mechanismen ausgeklammert. Zwar bemühte sich die Kommission um eine Integration der Fachreferenten im Ministerium, konnte sie jedoch nicht zur Mitarbeit bewegen – sie »hatten kein Interesse, als Teil einer großen Kommission an der Revision der Bildungspläne mitzuwirken, nachdem ihnen die Verantwortung entzogen worden war«1535. So setzte, bei aller Beteuerung von Partizipation und Integration, eine Homogenisierung der Gruppe und somit auch des Diskurses ein, während die Gruppe, da keine institutionelle Limitierung herrschte, weiterhin für sich Breite und Vielfalt veranschlagen konnte. Dieser Effekt kam auch in einem hohen Übergewicht von Personen, die in der Lehrerausbildung tätig waren und sich somit mit den relevanten Themen beschäftigten, zur Geltung1536. Implizit wurde ja auch schon vor Einsetzung der Vorbereitenden Kommission Praktikern eine untergeordnete Rolle zugesprochen, als das Konzept des Berliner Max-Planck-Instituts verworfen wurde, die Lehrpläne aus der Schule heraus zu überarbeiten1537. Sollte diese Art einer Homogenisierung des Diskurses in die von Foucault beschriebenen Mechanismen eingeordnet werden, würde es sich maßgeblich um die »Verknappung der sprechenden Subjekte« durch ein »Ritual« handeln, also die Benutzung eines bestimmten Zeichensystems, ohne dessen Vorwissen die Teilnahme nicht möglich ist1538, weiterhin um das Entstehen einer Diskursgesellschaft1539 durch die Schaffung einer Disziplin1540, die konkret mit dem beschriebenen theoretischen Rahmen der Curriculumentwicklung einen fixen Diskursrahmen setzt, der die Regeln für alle Aussagen definiert. Wie solch ein Homogenisierungsprozess ablaufen konnte, zeigt sich exemplarisch in der Auseinandersetzung zwischen Friedrich Jahr, der bei der Erstellung der Rahmenrichtlinien ›Gesellschaftslehre‹ mitarbeitete und in einem Brief gegenüber dem Kultusministerium einige Kritikpunkte äußerte, wobei er gar keine gänzlich konträren Auffassungen vorbrachte, sondern durchaus emanzipative – allerdings eher der individualrechtlich-emanzipativen Konzep1535 1536 1537 1538 1539 1540
Klafki und Lingelbach im Gespräch, gem. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 219. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 216f. Vgl. Nicklas, Aufgabenstellung, S. 12. Foucault, Ordnung des Diskurses, S. 26f. Ebd., S. 27f. Ebd., S. 22f.
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tion naheliegende – Positionen sachlich erörterte. Er schloss mit den Worten: »Ich weiß nicht, ob es möglich ist, diese Fragen in der Kommission ›Gesellschaftslehre‹ nochmals zu diskutieren oder ob ein solches Ansinnen eine Zumutung an die Kollegen ist, die vielleicht alle diese Einwände schon bedacht und verworfen haben. In diesem Fall sehe ich für mich keine Möglichkeit einer sinnvollen Mitwirkung an der Arbeit der Kommission.«1541 Der Brief erlangte tatsächlich eine breitere Aufmerksamkeit; und dem Leiter der Abteilung Schulentwicklung im Kultusministerium, Bernd Frommelt, ging dazu eine Stellungnahme von Karl Ehrhardt zu, der im Hessischen Institut für Lehrerfortbildung (HILF) an der Reinhardwaldschule die politische Bildung und auch die entsprechenden theoretischen Grundlagen der Rahmenrichtlinien zu verantworten hatte. Jahrs Kritik wird darin abgetan mit Formulierungen wie: »Sätze wie diese sind wie Katzen in der Nacht: samt und sonders grau, und man bekommt sie nicht zu fassen. Gar völlig banal ist die an unsere Adresse gerichtete Belehrung.«1542 Jahr antwortete noch einmal direkt an Ehrhardt und verteidigte sich in scharfem Ton. »Außer der Vokabel ›Moserei‹ enthält Ihr Brief noch viele Wendungen, die sachlich kaum etwas sagen, die aber durch die ihnen anhaftende Atmosphäre den Gegenstand, auf den sie bezogen werden, von vornherein diffamieren sollen.«1543 Friedrich Jahr verließ bald darauf die Lehrplanarbeit1544. Derart offen nachvollziehbar fanden die inhärenten Selektionsmechanismen selten statt. Es ist wohl eher zu erwarten, dass jemand, der freiwillig an dieser Art Kommissionsarbeit teilnahm, seine Anschauungen aber nicht erfolgversprechend einbringen konnte, allmählich und leise die Mitarbeit einstellte. Ersetzt wurden sie zu guten Teilen mit persönlichen Bekannten der Verantwortlichen1545. Beispielhaft für die wenig ambitionierte Integration von Gruppen, die dem Prozess gegenüber kritisch eingestellt waren, ist auch das weithin vergebliche Bemühen der Historiker der Universität Frankfurt, an der Lehrplanreform mitzuarbeiten. Waltraud Schreiber legt nahe, dass kein Historiker in der großen Kommission vertreten war, »weil deren kritische Position gegenüber der Fächerintegration und gegenüber der Unterordnung der historischen unter die ›Politische Bildung‹ aus den Stellungnahmen bei der Einführung der Gemein-
1541 HHStAW 1207/6, Jahr an Kultusministerium (z.H. Rutz), Betr.: Bildungsplankommission Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, 26. 04. 1971. 1542 HHStAW 1207/6, Ehrhardt (HILF) an Frommelt, Betr.: Der Hessische Kultusminister E IV 2–1050/10 v. 12.05.71, 21. 05. 1971. 1543 HHStAW 1207/6, Jahr an Engelhardt, 03. 06. 1971. 1544 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 501. 1545 Ebd., S. 502: »Insgesamt bedeutete die Aufnahme der neuen Mitglieder eine Homogenisierung der Fachgruppe.«
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schaftskunde bekannt war.«1546 In jedem Fall belegt ein Briefwechsel aus den Jahren 1969/70, dass nicht jede Einmischung erwünscht war. Auf das nachdrückliche, mehrmals wiederholte1547 Angebot des Frankfurter Historischen Seminars, an der Curriculum-Reform mitzuwirken1548, antwortete der Kultusminister drei Monate später mit der Übersendung der »bisherigen Materialien der Kommission«1549 und einer freundlichen Absage: »Die Arbeit ist noch nicht in einem Stadium, in dem fachbereichs- oder fachgebundene Lernzielsequenzen und entsprechende Curricula entwickelt werden. Zum gegebenen Zeitpunkt komme ich gern auf das Angebot Ihrer Teilnahme am Revisionsprozess zurück.«1550 Das Anliegen der Professorenschaft bezog sich allerdings explizit auf bereits getroffene Entscheidungen wie die Einordnung der Geschichte in die Gemeinschaftskunde, Rolle und Gestaltung des Fachs Geschichte überhaupt: »Sie schreiben, dass ein Geschichtsunterricht, der an der Geschichte um ihrer selbst willen und als Fach orientiert wäre, zur Geschichtsklitterung führe. Wir möchten eher das umgekehrte für richtig halten und meinen, dass die entscheidende Ursache in der viel zu geringen Zusammenarbeit zwischen der Geschichte
1546 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 214. 1547 In einem ersten Brief am 15. 12. 1969 drückte die Frankfurter Professorenschaft ihre »Sorge« aus, »dass die Existenz des Faches Geschichte auf den allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik immer mehr in Frage gestellt wird«, und bezog sich explizit auf die hessischen Handreichungen für den Unterricht in der Förderstufe vom Juli 1969. Sie bemerken dabei: »Den Geschichtsunterricht nur als Hilfe für die politische Bildung zu sehen, wäre ein sehr gefahrvoller Weg. Der Nationalsozialismus hat sich dieser Methode zur Indoktrinierung bedient, der Kommunismus bedient sich ihrer noch heute. […] Es wäre verhängnisvoll, wollte man sich der Illusion hingeben, die Schule könne zur Demokratie erziehen unter anderem dadurch, dass sie den Geschichtsunterricht auf seine politische Funktion beschränkte.« In der Folge boten die Professoren ihre Mitarbeit an: »Zweitens möchten wir uns bei der Neubearbeitung der Bildungspläne gern beteiligen. Es wäre kein guter Zustand, wenn bei der Neuformulierung und den dafür notwendigen Vorarbeiten diejenigen weiter ausgeschlossen blieben, die das Fach und seine Didaktik an den Universitäten vertreten.« HHStAW 504/9238b, Historisches Seminar der Universität Frankfurt a.M., an den Hessischen Kultusminister (persönlich), gez. Profs Bleicken, Freyh, Gembruch, Herde, Kluke, Kraft, Lammers, Radnoti, Schubert, Zernack, 10. 04. 1970. Am 2. Februar 1970 bedankte Ludwig von Friedeburg sich und erklärte: »Ich werde auf Ihr freundliches Angebot zurückkommen, wenn sich die Arbeit der Curriculum-Reform konkretisiert hat. Im Augenblick gibt es noch keine Fachkommission ›Geschichte‹, weil die Reform den traditionellen Fächerkanon nicht ohne weiteres hypostasieren möchte.« HHStAW 504/9238b, von Friedeburg an das Historische Seminar der Universität Frankfurt, 2. 2. 1970. 1548 HHStAW 504/9238b, Historisches Seminar der Universität Frankfurt a.M., an den Hessischen Kultusminister (persönlich), gez. Profs Bleicken, Freyh, Gembruch, Herde, Kluke, Kraft, Lammers, Radnoti, Schubert, Zernack, 10. 04. 1970. 1549 HHStAW 504/9238b, Nr. G II 4, von Friedeburg an Klafki, Juni 1970. 1550 HHStAW 504/9238b, Nr. G II 4, von Friedeburg an Historisches Seminar der Universität Frankfurt/M., Juli 1970.
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als Wissenschaft und der Geschichte im Unterricht liegt.«1551 Hier wurde also die Einbindung einer konträren Haltung in den Prozess der Curricula nicht nur nicht wahrgenommen, sondern aktiv abgewendet. Dabei gab es selbst innerhalb des Ministeriums dezidierte Fürsprache, die allerdings folgenlos blieb1552. Letztendlich bekamen die Historiker der Universität Frankfurt erst im Februar 1972 die Möglichkeit, sich zu äußern. Der historische Aspekt der Gesellschaftslehre in den bereits entworfenen »vorläufigen Rahmenrichtlinien« wurde dann auf einer Grundsatztagung mit »Hochschullehrern der Fachbereiche Geschichtswissenschaften an den hessischen Universitäten und mit den Fachleitern der Geschichte an den gymnasialen Studienseminaren« besprochen1553. »Ich denke, dass die Arbeit in den nächsten Monaten am konkreten Detail ein gutes Stück weiterer Diskussion für alle Beteiligten bringen wird«, schrieb Ingrid Haller im Nachgang dem Frankfurter Dekan Prof. Freyh1554. Dieser hatte hingegen zuvor mit unverhohlenem Pessimismus mitgeteilt, »dass trotzdem vieles nicht zur Sprache kommen konnte und manches an Konsens zunächst nur an der Oberfläche übereinstimmte«. Das habe aber »ja unmöglich anders sein können bei einem Gespräch, bei dem die eigentlichen Fachhistoriker zum Teil mit der Problematik zum ersten Mal in ihrem Leben konfrontiert sein worden dürften.«1555 Das Protokoll dieser ›Grundsatztagung‹ ist so verfasst, dass es quellenkritisch nicht sinnvoll verwertbar ist im Hinblick auf die Kontroversen, die sich bei dieser Tagung wohl zugetragen haben, denn im Ergebnis scheint es demnach am Ende doch immer wieder einen Konsens gegeben zu haben, der prinzipiell der Konzeption der Rahmenrichtlinien zustimmt1556. Die Formulie1551 HHStAW 504/9238b, Historisches Seminar der Universität Frankfurt a.M., an den Hessischen Kultusminister (persönlich), gez. Profs Bleicken, Freyh, Gembruch, Herde, Kluke, Kraft, Lammers, Radnoti, Schubert, Zernack, 10. 04. 1970. 1552 HHStAW 504/9238b, E I 3, Lillinger an von Friedeburg, Betr.: Stellungnahme zur Frage des Geschichtsunterrichts an Schulen, Bezug: Randvermerk des Herrn Ministers auf dem Brief des Historischen Seminars der Universität Frankfurt/Main vom 15.12.69. 1553 HHStAW 504/9238b, G II 4 – Herrn Minister, Herrn Staatssekretär (unmittelbar), Betr.: Gesellschaftslehre, hier: Grundsatztagung: Vorläufige Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre – historischer Aspekt vom 21.–23.2.72 in der Reinhardswaldschule, Ergebnisprotokoll. Eingeladen waren außerdem der Verband der Historiker Deutschlands und der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands. 1554 HHStAW 504/9238a, G II 4-957/16, Haller an den Dekan des Fachbereichs Geschichtswissenschaften, Herrn Professor Freyh, Frankfurt/M, Betr.: Grundsatztagung: Vorläufige Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre vom 21.–23.2.72 in Kassel, Bezug: Ihr Schreiben vom 24.2.72. 1555 HHStAW 504/9238a, Universität Frankfurt, Fachbereich Geschichtswissenschaften, der Dekan (Prof. Freyh), an Frau Oberschulrätin Haller, 24. 2. 1972. Freyh bittet zudem um die Privatadresse von Hartmut Wolf, »damit ich noch einiges an möglichen Missverständnissen ausräumen kann.« 1556 Es ist kaum möglich, zu erahnen, welche Diskussion hinter der Formulierung steht: »Es wurde kritisiert, dass die Erläuterung zu den vier Arbeitsbereichen im Plan nicht hinrei-
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rungen des Ergebnisprotokolls sind deutlich gefärbt: »Die Teilnehmer hatten gegen verschiedene Formulierungen des Plans starke Bedenken. Die Basis dieser emotional getönten Einwände muss vor dem Hintergrund der universitären Erfahrungen im Zusammenhang mit der Konfrontation zwischen Hochschullehrern und linken Studentengruppen gesehen werden. Dies zeigte sich in der selektiven Rezeption des Papiers und in der Interpretation offener Formulierungen zugunsten von Eindeutigkeit«1557 – ein letzter Eindruck zum Maß partizipatorischer Offenheit der Curriculumentwicklung zu diesem Zeitpunkt. Die Ermittlung der Lernziele Nachdem der organisatorische Aspekt der Curriculumkommission betrachtet wurde, soll nun auf ihre inhaltliche Arbeit eingegangen werden, begonnen mit dem zentralen Problem – der Ermittlung der Lernziele. Auf einer Tagung im September 1969 wurde von verschiedenen Arbeitsgruppen versucht, Methoden zur Findung allgemeiner Lernziele zu entwickeln und auszuprobieren. Dabei wurden zu Beginn der Tagung bereits vorliegende Arbeitspapiere aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Einteilung der Arbeitsgruppen, die diese erarbeitet hatten, war bei einer Tagung vom 12. bis 14. Juni 1969 noch nach Fachgebieten erfolgt, was der ursprünglichen Vorstellung Klafkis entsprochen hatte. Sie bestanden aus Lehrern, die Mitglieder der ›Vorbereitenden Kommission‹ hatten dort keine besondere Funktion, weshalb diese ersten operativen Ergebnisse auch weit hinter dem zuvor bereits erzeugten reformerischen Tatendrang zurückblieben. Ihre Weiterentwicklungen während der Tagung hatten auch daher am Ende keine Ähnlichkeit mehr mit den Vorlagen, was als Fortschritt gewertet wurde. In diesen drei Tagen, vom 18. bis zum 20. September, wandelte sich die Vorstellung zur Lernzielermittlung grundsätzlich. Die Vorschläge, die eingangs debattiert wurden und auch noch explizit als Grundlagen der Arbeit der neu gebildeten Arbeitsgruppen dienen sollten, waren chend die mündlich vorgetragene Begründung für diese Strukturierung durchsichtig mache. Wenn hinreichend die pragmatisch-didaktische Funktion dieser Gliederung durch die Formulierungen im Plan transparent wird, dann erscheint diese Gliederung den Tagungsteilnehmern als ein durchaus vertretbarer Versuch, dessen Tragfähigkeit in der Unterrichtspraxis, nicht aber auf der Ebene wissenschaftstheoretischer Diskussion geprüft werden muss.« Zum »Diskussionsschwerpunkt: Funktion und Begriffsbestimmung von Chronologie« wurde laut Protokoll lediglich »übereinstimmend festgestellt«, dass ein Verzicht darauf »notwendig« sei, aufgeführt werden »die Hauptargumente« für diese Sichtweise, aber nicht ein Wort zu etwaigen Gegenargumenten ist im Protokoll zu lesen. HHStAW 504/9238b, G II 4 – Herrn Minister, Herrn Staatssekretär (unmittelbar), Betr.: Gesellschaftslehre, hier: Grundsatztagung: Vorläufige Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre – historischer Aspekt vom 21.–23.2.72 in der Reinhardswaldschule, Ergebnisprotokoll. 1557 Ebd.
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die Ableitungen von Lernzielen (1.) aus bereits bestehenden »Lernzielforderungen, wie sie in Lehrplänen, Prüfungsordnungen und in der fachwissenschaftlichen und didaktischen Literatur«1558, (2.) aus der (erwarteten) Lebenswirklichkeit der Schüler, also »bestimmten Situationen […], für die der Lernende vorbereitet werden soll«1559 oder aber (3.) aus bestimmten vorgefundenen Normen (etwa in »Verfassungen, Parteiprogrammen, in Verlautbarungen von Verbänden und Kirchen und anderen öffentlichen Institutionen«). Dass unterschiedliche Ansätze gegeneinander gestellt wurden, begrüßte Hildegard HammBrücher sehr : »Rivalisieren Sie ruhig eine Zeitlang miteinander, konkurrieren Sie! Vielleicht ergeben sich daraus zwei ganz unterschiedliche Modelle am Ende und wir werden sehen, was man daraus machen kann.«1560 Der erste Ansatz war von Vorsicht geprägt und sah maßgeblich eine Überarbeitung bestehender Lernziele vor, die etwa Lehrplänen, geistes- und sozialwissenschaftlicher Literatur oder »Dokumenten der Schulpraxis« entnommen wurden. Diese galt es zu analysieren und zu kritisieren, auf ihre »Operationalisierbarkeit« hin zu überprüfen und entweder mit einem obersten Lernziel »Aufklärung des Menschen über sich selbst und seine Existenzbedingungen« abzugleichen oder aber mit »der gesellschaftlichen Wirklichkeit« zu konfrontieren, um »rational begründete Entscheidungen über zentrale Lernziele« herbeizuführen. In dieser Frage taucht der Widerspruch zwischen Ableitung aus einem für die emanzipatorischen Diskursformationen relevanten »obersten Lernziel: Aufklärung des Menschen über sich selbst und seine Existenzbedingungen« oder der dem szientistischen Ansatz entspringenden Ableitung aus der erkannten Wirklichkeit auf; unter Berücksichtigung beider Ideen ließ sich folgendes Konzept entwerfen: »Es geht von der Ermittlung von ›Verwendungssituationen‹ aus, unterzieht aber dann die in ihnen auftretenden ›normativen Setzungen‹ einer kritischen Prüfung. Das geschieht, indem die ermittelten Situationen aus ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang erklärt und die jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen der in ihnen auftretenden Forderungen bestimmt werden«. Die anschließende Konkretisierung eines so gewonnenen Lernziels wurde als »wissenschaftliche Analyse«1561 gesehen. Das Bewusstsein um die Historizität einer Gesellschaft und somit die Aneignung existenter Normen durch das Schulsystem war der Ausgangspunkt für diesen Ansatz. Bis zu diesem Punkt schien der erste Verfahrensvorschlag sich im Be1558 Rülcker/Lenn8/Stratenwerth: »Methode, die von vorgefundenen Lernzielforderungen in Lehrplänen und anderen ›Materialien‹ ausgeht« (analog 3). 1559 Hartwig: »Verfahren … die mit einer Analyse lernrelevanter ›Situationsfelder‹ ansetzten.« Vgl. auch Börss, Lingelbach, Lernziele – zum Begriff des ›Lernzieles‹, S. 31. 1560 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 299, mit Bezug auf: Mitteilungen der ›Kommission zur Reform der Hessischen Bildungspläne‹. Heft 1. November 1969, S. 32. 1561 Ebd., S. 4–6.
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reich zwischen individualrechtlich-emanzipativer und szientistischer Diskursformation zu bewegen. Im entsprechenden Protokoll ist in der Diskussion ein klarer Schnitt erkennbar, ab dem Theorien der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation auf den Ansatz angewendet werden. Die Frage der Ergänzung von Lernzielen wurde nämlich dann aus dem Gesamtkonzept herausgelöst und ausführlich erörtert. Als Möglichkeit, fehlende Lernziele zu finden, »wurde der Vorschlag gemacht, Kriterien für die Aufstellung von Lernzielen mit Hilfe einer Analyse moderner sozialwissenschaftlicher Literatur zu ermitteln. Als Autoren böten sich z. B. Adorno, Habermas, Horkheimer usw. an. In dieser Situationsanalyse müssten die Zwänge und Manipulationstechniken, die in der gegenwärtigen Gesellschaft wirksam werden, herausgearbeitet werden.«1562 Im zweiten Konzept (Hartwig) ging es darum, »durch eine schrittweise Ausdifferenzierung der ›sozialen Bereiche‹, in denen der Mensch lebt, jene ›Situation‹ zu ermitteln, für die der Lernende vorbereitet werden muss.« Zwischen zahlreichen logischen Differenzierungen finden sich in diesem Ansatz starke normative Grundlegungen ohne nähere Erörterung, was teilweise freimütig bekannt wird1563 : »Bei der Konstruktion unseres Funktionszusammenhangs gingen wir davon aus, dass inhaltliche Bestimmungen eines obersten Lernziels (›Emanzipation‹), die dem Prozess der Herstellung eines Reflexionszusammenhangs vorhergehen, weitgehend provisorisch und deklamatorisch bleiben müssen«. Im Kontrast dazu steht die strikte Betonung »theoretischer Stringenz«1564 in den weiteren Schritten der Lernzielfindung dieser Gruppe, die sich in länglichen Analysen von Begriffen wie beispielsweise »freie Zeit« bemerkbar machte. Ein Prüfmodus für die Vorstellung, dass eine Deduktion von wenigen Axiomen auf jedes Detail des gesamten Schulwesens umsetzbar sei, vollzog sich in der Frage der Operationalisierbarkeit, »ob die Wege zwischen oberstem Lernziel(prinzip) und den inhaltlich bestimmbaren Lernzielen reversibel ist. Operationalisierbarkeit ergibt sich aus der Reversibilität des Weges zwischen Prinzip und Element.«1565 Die starke Theoretisierung bis ins kleinste Detail auf der Basis willkürlich gesetzter Grundannahmen ist ein häufig wiederkehrendes Muster in den Kommissionen der hessischen Curriculumentwicklung. Aus nur zwei Axiomen, nämlich der Emanzipation1566 als oberstem Lernziel und dem »Leben in der 1562 Ebd., S. 14. 1563 HHStAW 1207/1 HHStAW 1207/1, Hartwig, Methodologische Bemerkungen zum vorliegenden Konstruktionsvorschlag für ein Curriculum. 1564 Ebd., S. 10. Diese Festlegung fand am 5. 9. 1969 statt: »Herr Skura schlägt vor, bis zur nächsten Besprechung den Versuch zu unternehmen, mittels des Hartwig’schen Suchinstrumentariums zur Lernzielfindung den Bereich der ›freien Zeit‹ zu erschließen.« 1565 HHStAW 1207/1, Rauschenberger, Statt eines Protokolls: Zwei allgemeine Fragen zur Lernzielbestimmung und Rauschenberger, Ein Beispiel über den Zusammenhang der Lernzielhierarchie mit Unterrichtselemente. 1566 Ebd, : »Bereits bei dieser Auffächerung ›sozialer Bereiche‹ unter verschiedenen ›Aspekten‹,
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Gesellschaft« als »allgemeinster Situation« sollten quasi die gesamten Curricula bis zu den einzelnen Unterrichtsprojekten hin abgeleitet werden1567. Ohne am ausgeklügelten Konstrukt zu zweifeln, wurden dann wieder Elemente eingestreut, die »pragmatisch gefunden« wurden und »keinen theoretischen Anspruch« erhöben1568. In den Ausführungen Helmut Hartwigs zu diesem Konzept finden sich deutliche Verweise auf die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation. Nicht nur, dass er sich konkret auf Habermas bezieht – auch die Analyse, »dass Erziehung für eine demokratische Gesellschaft sich nicht am Status quo orientieren darf, weil Demokratie in unserer Gesellschaft noch nicht verwirklicht ist«1569, entstammt klar dieser Diskursformation. Auch der dritte Ansatz entwickelte sich in diese Richtung. Hier ging es nun darum, aus nicht mehr näher bestimmter Literatur Lernziele zu erschließen. Dies wurde an Beispielen verdeutlicht, die allesamt gesellschaftlich-emanzipativen Ursprung und Charakter aufweisen. Als erstes Beispiel wurde ein Werk Wolfgang Klafkis gewählt, wodurch er erstmalig nicht nur als Moderator des Prozesses der Curriculumentwicklung in Erscheinung trat, sondern seine pädagogischen Ideen auch Teil der Substanz wurden. Daran wurde gezeigt, wie ein so ermitteltes Lernziel ermittelt aussehen könnte: »Zielformulierung: Erkennen, das die zur Charakteristik der modernen Gesellschaft […] häufig verwendeten Begriffe ›Rationalität‹ oder ›Verwissenschaftlichung‹ in zwiefacher, oft nicht unterschiedener Bedeutung verwendet werden können: a) im Sinne von ›technischer‹ Verbesserung des bestehenden politisch-ökonomisch-gesellschaftlichkulturellen Systems ohne kritische Reflexion auf die bestehenden Einfluss- und Machtverhältnisse (Rationalität als Effektivitätssteigerung) b) im Sinne der Forderung nach ›rationaler‹ Erörterung der Voraussetzungen und Normen des bestehenden politisch-ökonomisch-gesellschaftlich-kulturellen Systems und damit der Ziele, auf die hin ›technische‹ Verbesserungen vorgenommen werden sollen (Rationalität als kritische Aufklärung, Emanzipation).« Auch die Operationalisierung, also die Überprüfung eines solchen Lernziels, wird bereits geklärt: »In eigenen mündlichen Formulierungen den o.g. Unterschied aussprechen insbesondere aber im Hinblick auf die Bewertung der ermittelten ›Situationen‹, sowie der möglichen Reaktionen des Menschen auf diese ›Situationen‹ war die Orientierung an allgemeinen pädagogischen Leitvorstellungen unerlässlich. Dieses allgemeine Lernziel, an dem sich die Gruppe orientierte, war das Prinzip der ›Emanzipation‹.« 1567 Vgl. ebd., S. 8: »Das bedeutet, dass durch dieses Funktionsmodell der Begriff ›Emanzipation‹ (›demokratische Erziehung‹) konkretisiert wird. Hierzu wäre freilich erforderlich, dass die in Spalte IV angedeuteten Projekte unter strikter Beachtung der Bedingungen des gesamten Ableitungssystems entwickelt werden.« 1568 Ebd., S. 10: »Die Kategorie ›sozialer Bereich‹ wurde ebenso wie die in dieser Spalte erscheinende Untergliederung pragmatisch gefunden und erhebt keinen theoretischen Anspruch.« 1569 HHStAW 1207/1 Hartwig, Methodologische Bemerkungen zum vorliegenden Konstruktionsvorschlag für ein Curriculum, S. 1f.
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und an mindestens einem Beispiel verdeutlichen können.« Noch deutlicher wird die Verortung in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation bei Betrachtung der weiteren Beispiele1570. Am Ende der Tagung stand zwar kein Ergebnis, das die Lernzielbestimmung für die Zukunft festlegte, aber das war ja auch nicht vorgesehen, wie die zum Wettbewerb der Ideen auffordernden Worte Hildegard Hamm-Brüchers zu Beginn zeigten. Analytisch kann hingegen ein deutliches Ergebnis verzeichnet werden: Die Bestimmung der Lernziele fand innerhalb der gesellschaftlichemanzipativen Konzeption statt, da die Debatten sich über diese Tagung hinweg immer enger innerhalb dieser Diskursformation bewegten. Erarbeitung und Ausformung des Emanzipationsbegriffs Aber nicht nur die Klafki-Kommission setzte sich in dieser Zeit mit der Frage der Lernziele auseinander. Die Thematik wurde an verschiedenen Stellen aufgegriffen, war sie schließlich mit anderen Fragen der Schulentwicklung eng verbunden1571. Mit den entsprechenden Bezügen auf konkrete Arbeitsfelder blieb dabei auch die Debatte näher an der Sache und bewegte sich nicht für längere Zeit auf dem hohen Abstraktionsgrad wie in der Curriculumkommission. In der Debatte um Lernziele entwickelte sich immer stärker die Emanzipation zum Leitbegriff. Noch lange war unklar, ob man sie direkt funktional als oberstes Lernziel setzen könne, also von der Emanzipation und ihrer Definition alles bis hin zu den einzelnen Unterrichtsformen und -inhalten ableiten könnte oder ob sie nur als »das zentrale Validitätskriterium«1572 gelten sollte, das als ultimativer Maßstab für die Tauglichkeit anders abgeleiteter Lernziele zu verwenden sei. Die Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister verfasste just im November 1969 im Zusammenhang mit der Diskussion über die Entwicklung der Gesellschaftslehre ebenfalls ein Papier zur inhaltlichen Gesamtkonzeption der Integrierten Gesamtschule1573. Das Papier bezog sich durchaus auf den Abschlussbericht der ›Vorbereitenden Kommission‹ und bezeichnete sich selbst als Diskussionsgrundlage – ist also auch als Input für die Kommissionsarbeit selbst zu werten1574. In ihm wird in großen Teilen die »Di1570 HHStAW 1207/4, Hilfen zur Findung von Lernzielen in der Literatur. 1571 Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 220ff. 1572 HHStAW 1207/4, Vorschläge für die Arbeit der ständigen Arbeitsgruppe zur Curriculumrevision im Bildungstechnologischen Zentrum, Vdt./Pf, d. 19. 10. 1970 (wohl Lingelbach). 1573 HHStAW 504/3798 Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister, Zur Konzeption des Fachbereichs Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen – Arbeitsgrundlage. In: Der Hessische Kultusminister, E IV – 1006/01 – Information Gesamtschule, Fachbereich: Unterricht, Unt. 1.7, November 1969. 1574 HHStAW 504/3798 Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister, Zur Konzeption des Fachbereichs Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen – Ar-
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daktik der politischen Bildung« von Giesecke auf die konkrete Curriculumarbeit in Hessen bezogen, es brachte also wiederum ein klar gesellschaftlich-emanzipatives Konzept in den Entscheidungsfindungsprozess der Kommission ein. Die Integrierte Gesamtschule war, wie bereits beschrieben, zu dieser Zeit Ziel aller schulpolitischen Bemühungen im Kultusministerium. Als »erklärtes allgemeines Lernziel« wurde in der Referatsgruppe »die Änderung des Sozialverhaltens« postuliert, gleichberechtigt mit den fachgebundenen Lernzielen1575. Ausdrücklich wurde das Ziel der Demokratisierung als ungenügend abgelehnt. Einerseits, da dieses automatisch den fachgebundenen Lernzielen untergeordnet sei, beschränke es sich ja auf »demokratische Verfahrensweisen«, sei also nur auf der Ebene der Mittel und nicht wirklich als Ziel zu sehen. Andererseits könne eine Änderung des Stils hin zu »formaldemokratischen Verfahrens- und Verhaltensweisen« sogar in das Gegenteil einer »Änderung des Sozialverhaltens« umschlagen, da hier durch »Selbsttäuschung und Manipulation« das eigentliche Machtgefälle zwischen Lehrer und Schüler verschleiert werde – der Schüler dürfe nur innerhalb eines sehr begrenzten Rahmens aus »Formen des Unterrichts, Gegenständen und Inhalten, Fragestellungen und Arbeitsanweisungen des Lehrers« demokratisch sein und werde deshalb »als bloßes Objekt behandelt«1576. Der Gegenvorschlag fiel entsprechend konsequent aus: »Voraussetzungen zum Erreichen des allgemeinen Lernziels jedes Unterrichts und besonders der Gesellschaftslehre: Emanzipation (Erziehung für eine demokratische Gesellschaft) beitsgrundlage. In: Der Hessische Kultusminister, E IV – 1006/01 – Information Gesamtschule, Fachbereich: Unterricht, Unt. 1.7, November 1969, S. 3: »Ein qualitativ neuer Ansatz wird erst dann erreicht, wenn die ›Formen des Unterrichts als Momente seines Inhalts‹ anerkannt werden (›Zur Lehrplanrevision für die Sekundarstufe‹ – Bericht der ›Vorbereitenden Kommission‹, S. 47). […] Hier anknüpfend muss dann auch die im Bericht der ›Vorbereitenden Kommission‹ formulierte Überlegung akzeptiert werden (S. 49): ›Methodenbewusstsein‹ bei den Schülern zu erreichen, müsste als wichtigstes allgemeines Unterrichtsziel anerkannt werden, weil mit dem Bewusstsein von der Relevanz von Gesprächsformen, Fragehaltungen, Arbeitsweisen ein Selbstaufklärungsprozess innerhalb der Gruppe verbunden ist.« 1575 HHStAW 504/3798 Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister, Zur Konzeption des Fachbereichs Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen – Arbeitsgrundlage. In: Der Hessische Kultusminister, E IV – 1006/01 – Information Gesamtschule, Fachbereich: Unterricht, Unt. 1.7, November 1969, S. 2: »›Änderung des Sozialverhaltens‹ gilt als erklärtes allgemeines Lernziel der Gesamtschule – gleichgewichtig gegenüber allen fachbereichsgebundenen. Gesellschaftslehre ist ohne Frage der Fachbereich, in dessen Rahmen die Ernsthaftigkeit dieses Postulats sich am nachdrücklichsten beweisen muss – und nicht nur deshalb, weil der Unterricht hier in heterogenen Gruppen erteilt wird.« 1576 HHStAW 504/3798 Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister, Zur Konzeption des Fachbereichs Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen – Arbeitsgrundlage. In: Der Hessische Kultusminister, E IV – 1006/01 – Information Gesamtschule, Fachbereich: Unterricht, Unt. 1.7, November 1969, S. 2f, mit Verweis auf Giesecke, Didaktik der politischen Bildung.
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sind: 1. Die Schüler lernen Strukturen, Verflechtungen, Systeme des sozialen Bereichs zu durchschauen. 2. Die Schüler bestimmen selbst die Verfahren, Methoden, Inhalte, die ihnen dazu dienen, sich diese Erkenntnisse zu erarbeiten.«1577 In dieser Diskussionsgrundlage aus dem Ministerium wurden mit Hinblick auf die weitere Entwicklung bereits Nägel mit Köpfen gemacht, während die Klafki-Kommission noch über Methoden zur Lernzielermittlung debattierte. Die Schlussfolgerungen etwa aus der »theoretischen Prämisse (- die politische Welt ist als ein Ganzes, ein Beziehungssystem zu begreifen; die Interdependenz der verschiedenen Sozialbereiche ist bewusst zu machen)« für die Gesellschaftslehre waren bereits sehr konkret. Die Themen müssten »in der Form von Kategorien gefunden werden, die auf politischen Konflikten und gesellschaftlichen Erscheinungen immanente Sachverhalte zielen.« Zur Ermittlung der Unterrichtsgegenstände wurde grob auf das Deduktionsmodell der »Gruppe Hartwig« zurückgegriffen, also aus zu bewältigenden Situationen die zu lernenden Qualifikationen abzuleiten. Dem Papier mangelte es im Vergleich zum Ungefähren der Klafki-Kommission nicht an Deutlichkeit. Der Unterricht solle nicht nur diese zukünftigen Situationen aufgreifen, sondern auch den »beim Schüler bereits vorhandenen Begriff vom Politischen« – der unverblümt als »falsches Bewusstsein« bezeichnet wird1578. Damit war klar, dass die Prämissen der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation volle Geltung erlangen und alternative Betrachtungsweisen nicht akzeptiert, sondern mit den Mitteln der Erziehung verändert werden sollten. Im Entwurf der Unter-Kommission zur Klafki-Kommission »Operationalisierung der Leitidee Emanzipation« mit dem Titel »Emanzipation fordert Fähigkeiten« vom November 19691579 wird Emanzipation begriffen als »Katalog emanzipatorischer Fähigkeiten«, derer es zur Selbstbestimmung bedarf, die es somit zu vermitteln gelte. Darunter fiel zunächst die Kategorie der »Fähigkeiten, 1577 Ebd., S. 10f. 1578 Ebd., S. 5. Das Ziel eines »richtigen Bewusstseins« musste nicht mehr ausdrücklich aufgeschrieben werden, es findet sich aber in der Darlegung, wie sich die so ermittelten Unterrichtsgegenstände organisieren ließen: nach »vier Systemen kommunikativer Zusammenhänge« (System der gesellschaftlichen Beziehungen, System der Produktion und des Marktes, System der politischen Herrschaft (Verwaltung), System der internationalen Beziehungen) und dem offenherzigen Bekenntnis: »Das System der politischen Herrschaft umgreift selbstverständlich die anderen Bereiche; es erscheint aber deshalb hier gleichgeordnet, weil zentrale Unterrichtsgegenstände der Gesellschaftslehre sich am besten unter dieser Wendung subsumieren lassen.« Die »Systeme« sollten die klassischen Fächer der Gesellschaftslehre – Erdkunde, Sozialkunde, Geschichte, Teile der Arbeitslehre – als Kategorien zur Strukturierung des Unterrichts ersetzen. Ebd., S. 6. 1579 HHStAW 1207/1, Dr. K.G. Fischer, Unter-Kommission »Operationalisierung der Leitidee Emanzipation« Emanzipation fordert Fähigkeiten, November 1969 (entspricht in Teilen Fischer, Kurt Gerhard, Überlegungen zur Didaktik des politischen Unterrichts, Band 371 von Kleine Reihe Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, 1972).
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sich aus Abhängigkeiten zu befreien« – etwa das »Durchschauen« der »Abhängigkeiten der eigenen Existenz« von biologischen und physischen, aber auch von sozialen und psychischen Bedingungen (Gefühlsbindungen, »Zugehörigkeit zu Gruppen«, »ökonomische, sozial-ökonomische, gesellschaftliche Zwänge«); ebenso, Verhaltensweisen zu entwickeln, »die Selbstbestimmung ermöglichen«1580, oder soziale Fähigkeiten, wie »andere als gleichberechtigt zu erkennen und anzuerkennen«, oder »Beziehungen zu anderen objektivieren«1581. Besonderes Augenmerk verdienen aber die »Fähigkeiten, um andere zu emanzipieren – zur Mitwirkung an gesellschaftlicher Emanzipation«, wozu auch die »Fähigkeit zu solidarischem Handeln«, die »Fähigkeit, Scheinemanzipation zu erkennen, verbal dingfest zu machen und zu beseitigen« sowie »zur Organisation von Gruppenprozessen zwecks Durchsetzung von Emanzipation«1582 gehören. Gerade die Verwendung der Begriffe »andere emanzipieren«, beziehungsweise »gesellschaftliche Emanzipation«, definieren den Begriff der Emanzipation nicht als Selbstermächtigung des Subjekts, sondern als Ermächtigung von außen und durch die Gesellschaft. Auch hier wurde die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation bedient. Das Protokoll einer weiteren Untergruppe der Curriculumkommission1583 setzte die Emanzipation unbedingt oberhalb des Fachwissens an. Dieses »instrumentale Wissen« sei zwar in gewissen Bereichen anzuerkennen, allerdings müsse es reflektiert werden, um »diesen instrumentalen Charakter des Wissens zu durchschauen, die Problematik der sog. ›Wertfreiheit‹ zu erkennen, und zu sehen, dass unter Berufung auf die Sachlichkeit höchst ideologische und problematische Handlungen vertreten werden können.« Der Emanzipationsbegriff wurde daher bemerkenswert radikal ausgedeutet. Zur Emanzipation sei eine unbedingte Rationalität notwendig, die selbst »in den Affektbereich hineinreichen« sollte. »Der Bereich der Affekte, die nicht bewusst sind, soll möglichst klein gehalten werden«, war die Devise, die selbst die Frage einschloss, ob »nicht Glück […] in Wahrheit antiemanzipatorisch, bindend und fesselnd« sei und gar »ein Gegensatz zwischen ›Glück‹, das auf Vertrauen beruht, und ›Emanzipation‹, die Misstrauen fordert«, bestehe. »Von einigen Mitarbeitern wurde sogar die Ansicht vertreten, dass auch Genuss, Lust und Glück nicht naiv erlebt werden dürfen, sondern dass sie gesehen und gewertet werden müssen vom Prinzip der ›Emanzipation‹ her und einer Reflexion unterzogen werden sollten, die dann – darüber bestand kein Konsens – zur Störung des unreflektierten ›Glücks‹ führen sollten.« 1580 1581 1582 1583
Ebd., S. 1f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. HHStAW 1207/1, Untergruppe »Begriff der Emanzipation«, Protokoll, vermutlich November 1969: »Die Aufgabe dieser Untergruppe in der Reinhardswaldschule sollte es sein, den Begriff der ›Emanzipation‹ zu füllen und seine Probleme sichtbar zu machen.«
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Aufgabe des Unterrichts sei also auch die Affektkontrolle1584. In einem anderen Papier wird das Thema mit den gleichen Schlüssen aufgegriffen. Für den Unterricht sollten sie konkret bedeuten: »Das Postulat ›Recht auf persönliches Glück‹ ist nicht ohne Definition in die übergeordneten Lernziele der Schule zu übernehmen.« Die Schule müsste demnach zunächst bestimmen, welches Glück dem Leitgedanken der Emanzipation Rechnung trägt und welches nicht1585. Neben den Bereichen Glück und Freiheit befassten sich Untergruppen auch mit den Bereichen Kreativität und Konflikt1586. Aus Letzterem ging ein Unterrichtsversuch In Marburg hervor, auf den kurz eingegangen werden soll. Der Versuch war eine erste Anwendung der vorläufigen Ergebnisse der Curriculumkommission. Ausgehend von dem bereits gefundenen Konsens, dass sich zunächst »alle drei Gruppen auf das Leitziel Emanzipation geeinigt haben« und auf dem Versuch der »Arbeitsgruppe 3«, diesen Konsens zu konkretisieren, wurde der Emanzipationsbegriff noch einmal theoretisch dargelegt. Das Projekt selbst entbehrte jedoch der selbst auferlegten deduktiven Stringenz, womit schon der allererste Schritt zur Umsetzung der Lehrplanarbeit einem zentralen eigenen Anspruch nicht mehr gerecht wurde: »Das Projekt ›Sprache und Konflikt‹ leitet sich aus der Beschäftigung mit dem Bereich Konflikt her. Es ist wie der Arbeitsbereich Konflikt durch kritische Reflexion, nicht durch wissenschaftliche Deduktion aus der Zielnorm ›emanzipiertes Verhalten‹ hergeleitet.«1587 Im Anschluss an die allgemein gehaltenen Ausführungen zur Emanzipation wurde der Versuch unternommen, sie mit Bezug auf den Bereich Konflikt zu konkretisieren: »Offene und verdeckte oder auch potenzielle Konflikte zwischen verschiedenen ökonomisch-politischen, weltanschaulichen etc. Einzelinteressen und Interessengruppen sind für jede zur Zeit bestehende Gesellschaft manifest. Ein Nichterkennen der Konflikte und ihrer Motive begünstigt oder verursacht Agressionsstauungen, Abhängigkeiten, Repressalien, minderes soziales Prestige und minderen sozialen Erfolg. Folglich muss zum Zweck der Emanzipierung des Einzelnen angestrebt werden, die konfliktorische Disposition der Gesellschaft zu erkennen, nach den Konfliktzusammenhängen und -bedingungen zu fragen, seinen eigenen Standort innerhalb dieser konfliktorischen Konstellationen analysieren zu können und auf dieser Basis sich rational und aktiv als Individuum im sozialen Kontext entscheiden und verhalten zu können.« Diese Ausführungen 1584 Ebd., S. 3f. 1585 HHStAW 1207/1, Rück, Arbeitspapier zum Fragenbereich ›Recht auf persönliches Glück‹. 1586 Vgl. HHStAW 1207/4, Keller, Stichworte zu verschiedenen Auslegungen des Begriffs ›Freiheit‹; HHStAW 1207/4, Versuch: Sprache und Konflikt (Teilgruppe Marburg) , September 1970: »Bisher wurden folgende Bereiche in Arbeit genommen: Der Bereich Freiheit, der Bereich Glück, der Bereich Kreativität und der Bereich Konflikt (Konfliktbewusstsein, Konflikttheorien, Konfliktregulierung bzw. -bewältigung).« 1587 Ebd.
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legen den Grundstein für die Annahme einer konfliktbasierten Gesellschaft, was später im Zusammenhang mit der Debatte um die Rahmenrichtlinien einer der meistumstrittenen Punkte war. Hier wurde allerdings noch betont, dass das Vorhandensein von Konflikten nur konstatiert, nicht gewertet werde und auch die Frage, ob Konflikte unbedingt bewältigt werden oder lediglich anerkannt und bewusst gemacht werden müssten, nicht entschieden sei – während der Autor persönlich Wert darauf legte, sich explizit von der »radikalen Form der Konflikttheorie«, Konflikte unbedingt zu bewältigen, zu distanzieren und zur »liberalen Konflikttheorie« bekannte1588. Mit diesem Bekenntnis kann das Papier in seiner Gesamtheit durchaus in der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation verortet werden. Auch in dem Projekt selbst werden die zentralen Elemente der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation vermieden, was insofern interessant ist, als das Thema ›Sprachkonflikte‹ im Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit maßgeblich innerhalb dieser Diskursformation behandelt wurde. Behandelt wurden beispielsweise die Unterschiede zwischen der Sprache im dörflichen wie im kleinstädtischen Milieu, aus denen die Marburger Schüler kamen, aber auch die sprachlich manifestierten Standeskonflikte in dem Büchner-Stück ›Leonce und Lena‹. Der Fokus lag stark auf der Analyse der Bedingungen des Individuums im Verhältnis zu anderen, eine Analyse der Gesellschaft oder gar der Politik fand in diesem Sinne nicht statt. Es war nicht davon die Rede, die Verhältnisse insgesamt zu ändern, sondern ging konkret um die Ermächtigung des Einzelnen, über seinen Lebensweg besser entscheiden zu können, indem er die in der Sprache sich niederschlagenden und aus der Sprache hervorgehenden gesellschaftlichen Konflikte analysiere und auf das eigene Leben zu beziehen lerne. Insbesondere wurde dabei das direkte Umfeld, also Schule, Klasse und Unterricht, herangezogen und ein Transfer auf Produktionsregime o.Ä. ausgelassen. Als konkrete Lernziele wurden genannt: »(1) lernen, dass Sprachkonflikte auf allen Ebenen der Unterrichtssprache entstehen, (2) lernen, dass Sprachkonflikte durch den gesamten schrittweisen Fortgang des Lernprozesses als eines Differenzierungsprozesses begründet sind, (3) lernen, dass Sprachkonflikte durch die Rollenfixierung von Lehrer und Schüler erzeugt werden, (4) lernen, dass Sprachkonflikte in den verschiedenen Komponenten der Sprache in Erscheinung treten, (5) lernen, dass Sprachkonflikte durch unterschiedliche Gruppennormen (der primären und sekundären Sozialisation) begründet sind, (6) lernen, dass Sprachkonflikte im idealisierten Kommunikationsprozess begründet sind.« Als Zielsetzung wurde angegeben: »Schüler der Sekundarstufe sollen in die Lage versetzt werden, Konflikte zu erkennen, die im Prozess sprachlicher Inter1588 Ebd. mit Verweis auf Blankertz, S. 86 sowie Theorien und Modelle der Didaktik (1969), S. 103–110.
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aktion nachweisbar sind. Sie sollen in die Lage gesetzt werden, solche ›Kommunikationskonflikte‹ beschreiben und zu ihren Ursachen zurückverfolgen zu können. Sie sollen rationale Strategien zur aktiven Auseinandersetzung mit derartigen Konflikten entwickeln lernen.«1589 Wie gesagt, war in diesem Projekt die gesellschaftlich-emanzipative Tendenz nicht sonderlich ausgeprägt, was bei der Auswertung auch gleich negativ auffiel. Bei der Evaluation des Versuchs, die zugleich Vorbereitung eines breiteren Großversuchs zum selben Thema im Schuljahr 1971/72 war, wurde nämlich festgestellt, »dass die bisherige umfangreiche und schwierige Einleitung neu geschrieben werden muss, u. a. auch um verstärkt zum Ausdruck zu bringen, dass hinter dem jeweils zu untersuchenden ›Sprachkonflikt‹ gesellschaftlich bedingte Konflikte stehen, die nicht sprachlicher Art sind sondern Ausdruck bestehender Herrschaftsverhältnisse.«1590 Auch in der thematischen Wahl verabschiedete man sich von der Sprache im Unterricht sowie ›Leonce und Lena‹. Zwar »wurde ein Konsensus darüber erzielt, die Materialien für die Einheiten nur aus dem Themenbereich der primären und sekundären Sozialisation zu wählen«1591, aber man überlegte, »ob eine Einheit über ›Sprache und Sexualität‹ eingefügt werden kann, in der die Tabuisierung der bei Kindern üblichen Sex-Sprache untersucht werden könnte.«1592 Diese Tendenz wurde noch einmal verschärft. Das Projekt sei »nicht auf Kompensation (im Sinne einer gezielten Sprach-Förderung von UnterschichtSprechern) hin angelegt […], sondern zumindest in der ersten Phase dem Bereich ›Reflexion über Sprache‹ zugeordnet […], d. h. eine Einführung in die Wirkungsmöglichkeiten von Sprache überhaupt darstellt. Dass dadurch die Verdeutlichung des gesellschaftlich-politischen Aspekts von Sprachbenutzung zugunsten einer formaleren Sprachbeobachtung zurückgestellt wird, ist deutlich. […]«1593 Das Thema Konflikt wurde in diesem Rahmen intensiver behandelt und dadurch immer zentraler. Bald schon ging es darum, anhand von Konflikten im Unterricht »tieferliegende Konflikte zu erkennen und gegebenenfalls zu aktualisieren. […] Jeder Unterrichtskonflikt hat Ursachen, die über den Unterricht hinausgehen. […] Ziel der unterrichtlichen Konfliktbehandlung ist nicht etwa die Auflösung, sondern die Erläuterung: Die gesellschaftlichen und psychologischen Seiten des Konflikts müssen gezeigt werden. Solange sie nicht zu beein1589 HHStAW 1207/4, Versuch: Sprache und Konflikt (Teilgruppe Marburg) , September 1970. 1590 HHStAW 1207/4, Bonn, Peter (Bildungstechnologisches Zentrum Wiesbaden), Protokoll der Tagung von 25. 6. 1971 in Darmstadt, Gruppe ›Sprache und Konflikt‹, 29. 6. 1971, S. 5. 1591 Ebd., S. 6. Weiter : »um das Projekt nicht mit Problemstellungen zu belasten, die Gegenstand eigener Projekte sein sollten (z. B. ›Massenmedien‹, ›Sprachkritik als Ideologiekritik‹, ›Sprache der Politiker, Wissenschaftler usw.‹, ›Subsprachen‹).« 1592 Ebd., S. 6. 1593 HHStAW 1207/4, Protokoll der Projektgruppe Konflikt/Sprache, 13. 7. 1970, Teilnehmer : Bauer, Becker, Lang, Tiefenthaler, Wagner, Wallgart, Wand.
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flussen sind, wäre es töricht zu meinen, der Konflikt sei zu beseitigen; er muss nur auf die richtige Ebene gebracht werden. Beispiel: Lässt ein Konflikt unter Schülern sich auf das Leitmotiv der sozialen Diskreditierung zurückführen, so geht es darum, den Schülern zunächst zu zeigen, wie tief und unauflösbar für sie ein derartiger Gegensatz ist, dass es aber nicht darauf ankommt dass zwei Einzelmenschen sich bekämpfen, sondern dass man erkennt, dass Voraussetzungen dieser Gegensätze beseitigt werden müssen. Kurzfristig ist nur eine subjektive Befreiung aus unmittelbar gegebenem Zwang möglich; langfristig jedoch wird durch solche Arbeit eine Bewusstseinsänderung erzielt.« Didaktisch sollten Lehrer nun sogar dazu angehalten werden, einen in der Klasse vorhandenen Konflikt »erkennbar zu machen«, indem »er vorher durch gezielte Provokation des Lehrers intensiviert wird«1594. Die Bedeutung eines solchen Unterrichts reichte bis ins Lehrerzimmer : »Vermutlich wird ein derartiges Vorgehen nicht von allen Kollegen goutiert. Damit verlagert sich der Konflikt ins Kollegium, wo er weiterverfolgt werden muss. Erst hier würde sich zeigen, dass Konfliktbehandlung im Unterricht wirklich etwas verändern kann.«1595 Die Erkenntnis aus dem Unterrichtsversuch »Sprache und Konflikt« war also, die Prämissen in Zukunft so zu setzen, dass unmissverständlich der geschlossene Ansatz der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation die Grundlage sein müsse. Wiederum gingen letzte Züge der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation zugunsten dieser Konzeption verloren. Das Thema ›Sprache und Konflikt‹ wurde dann auch in den Arbeitsgruppen der Curriculumkommission wieder aufgegriffen. Als Schlussfolgerung eines ersten Lernabschnitts sollten die Schüler begreifen: »Sprache zu erlernen ist das wirksamste Mittel sozialer Anpassung. An Beispielen lässt sich zeigen, dass diese Anpassung bis zum extremen Verlust individueller Spontaneität und zur vollständigen Identifikation des Subjekts mit der Kollektivnorm fortgetrieben werden kann.«1596 – Diese Erkenntnis sollte sich dann in einem zweiten Schritt mit der Erkenntnis relativieren, dass Sprache und deren einheitliche Benutzung zur sozialen Interaktion nötig seien; und im dritten Schritt sollte diskutiert werden, wie die Balance zwischen Selbstentfaltung und Anpassung in der Sprache zu finden sei1597. 1594 HHStAW 1207/4, Rauschenberger, Papier über den Zusammenhang von: Konflikten, Konfliktanalysen, Lernzielen zur Konfliktlösung und entsprechenden Unterrichtsprozessen, 11. 3. 1970, S. 3f. 1595 Ebd., S. 5. 1596 HHStAW 1207/1, Papier, Für die Arbeitsgruppe: Ermittlung von Lernzielen, die von normentheoretischen bzw. Normenkritischen Ansatz her konzipiert werden (Rauschenberger/Fischer), 11. 3. 1970 (Zusatz: der Konflikt im Unterricht). 1597 Ebd. Vgl. auch HHStAW 1207/4, Wand, Der Konflikt im Unterricht, Anmerkung zum Papier Rauschenberger (›Über den Zusammenhang von Konflikten‹), 11. 3. 1970.
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Eine interessante Anmerkung zur Emanzipation findet sich in einem anderen Projekt, da sie deutlich macht, dass die Projekte, und somit auch die sehr deutlichen Formulierungen wie im bereits ausgeführten Beispiel, unmittelbar politisch sanktioniert waren und nicht alleine auf Ebene der Curriculumkommission blieben. Zum Projekt »Entscheidung durch Abstimmung, Mathematisierung einer politischen Struktur« wurde das allgemeine Lernziel Emanzipation so operationalisiert: »Der Wert eines Lernziels wird letztendlich daran gemessen, inwieweit es innerhalb des organisierten Lernprozesses dazu beiträgt, die Fähigkeit des Schülers zur Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit sein Selbstverständnis und seine Handlungsfähigkeit in der jeweiligen historischen Situation zu fördern.« Darauf folgt der explizite Hinweis, dass »die politischen Entscheidungsinstanzen diese Formulierung akzeptierten«1598.
Von der Curriculumkommission zur kurzfristigen Curriculumentwicklung Seinem ursprünglichen Plan konnte Wolfgang Klafki nicht allzu lange folgen. Statt wie noch zu Beginn angedacht, innerhalb eines Zeitraums von 2 Jahren ein schulformen- und fächerübergreifendes Lehrplanwerk zu entwerfen, verlor sich die Kommission noch in Grundsatzdebatten, während das Kultusministerium langsam aber sicher Ergebnisse erwartete. An irgendeine Form von brauchbarem Curriculum war längst noch nicht zu denken, dennoch wurde immer klarer, welchen Linien es folgen solle. Alle Entwicklungen dieser Zeit sprachen für einen gesellschaftlich-emanzipatorischen Denkansatz, wie in den gerade erörterten Beispielen deutlich geworden ist. Die Vorstellung, aus allgemeinen Lernzielen, auf die man sich auch nur intern einigen konnte, Anweisungen für den gesamten Unterricht abzuleiten, galt fortan als gescheitert. Wolfgang Klafki hatte dieses Verfahren noch nicht einmal selbst gewählt, wie bereits festgestellt wurde, sondern von Hartmut von Hentig mit Unterstützung Hildegard Hamm-Brüchers in seinen Strukturplan übernehmen müssen. Das Thema Wissenschaftlichkeit war zwar über die Phase der Curriculumkommission noch stets betonter Anspruch geblieben, allerdings wurden bereits während deren Arbeit unter Wolfgang Klafki zunächst die empirischen Grundlagen gekappt und schließlich auch die theoretischen Ableitungen durch reinen Pragmatismus ersetzt. In jedem Fall konnte Wolfang Klafki das Vorhaben, mit dem er 1968 von Schütte und Hamm-Brücher beauftragt wurde und dessen Vorzeichen sich mittlerweile ideologisch wie personell verändert hatten, nie zu Ende bringen. 1598 HHStAW 1207/4, Kommission zur Reform der hessischen Bildungspläne, Unterrichtsprojekt 6: Entscheidung durch Abstimmung, Mathematisierung einer politischen Struktur, Marburg 1971: »Indem die politischen Entscheidungsinstanzen diese Formulierung akzeptierten, war für die weitere Arbeit die Richtung angegeben.«
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Dafür können viele Gründe angeführt werden1599, in der Summe kann Folgendes gesagt werden: Angesichts der mangelnden Erfahrung und der unbestimmten Vorstellungen der politisch Verantwortlichen, aus denen heraus Wolfgang Klafki einen sehr abstrakten Auftrag bekam, den er zumal unter der Maßgabe möglichst partizipatorischer Verfahren mit zwischenzeitlich über 200 Beteiligten umzusetzen hatte, während gleichzeitig die teilöffentliche Debatte um Bildungsthemen sich immer schneller drehte und so zusätzlich immer neuer Input in die Kommissionsarbeit einfloss, war eine Beendigung derselben ohne eine grundsätzliche Veränderung des modus operandi nicht möglich. Die auch laut Klafki »entscheidende Initiatorin des gesamten Vorhabens«1600 Hamm-Brücher hatte das Ministerium inzwischen verlassen, und die Regierung stand angesichts der bald endenden Legislaturperiode unter Druck. Im Ministerium wurden bereits mit heißer Nadel Pläne gestrickt, eine »kurzfristige Lehrplanrevision für die Schulstufen« zu erarbeiten1601. Der Startschuss für die nächste Phase der Curriculumreform fußte also auf den Erkenntnissen, was alles nicht gehe, auf der Entscheidung für eine pragmatische und schnelle Lösung und als einziges produktives Ergebnis der Klafki-Kommission auch auf einem fest verankerten gesellschaftlich-emanzipativen Diskursrahmen. Die Personen, die die Entwicklung fortan an der Spitze zu verantworten hatten, waren allerdings weitestgehend andere. Im Spätjahr 1969 veränderte sich das komplette Personaltableau1602. Im Ok1599 Vgl. Haller, Wolf, Vorbemerkung in: Curriculum Konkret 1/73, S. 4f: »Es gibt vielschichtige Gründe dafür, was hier ›Scheitern‹ genannt wird. Gemeint ist die Auflösung der großen hessischen Curriculumkommission, die 1968 unter Leitung von Klafki eine grundlegende Revision der hessischen Lehrpläne für die Sekundarstufe I in fach- und schulformübergreifenden Arbeitsgruppen in Angriff nahm. Eine Reihe der Gründe, die ›betrifft: erziehung‹ zusammenstellt, erscheinen aus unserer Sicht als Mitglieder dieser Kommission zutreffend. So etwa die ›Sprachbarrieren‹, die jeweiliges Fachselbstverständnis in den fachübergreifenden Arbeitsgruppen aufbaute. Vielleicht viel wichtiger für die Beurteilung der hessischen Entwicklung dürfte jedoch sein, dass die sogenannte Klafki-Kommission in einer historischen Situation ihre Arbeit begann, die noch von einem im Rückblick ›naiven‹ Optimismus der Curriculumtheorie in die Möglichkeiten in relativ kurzer Zeit ein Gesamtcurriculum zu erstellen, gekennzeichnet war. Die Bedeutung dieser Arbeitsphase liegt über Hessen hinaus nicht zuletzt darin, dass bei der Entwicklungsarbeit sich schrittweise herausstellte, in welchem Umfang die Annahme trog, es müsste möglich sein, sich auf allgemeine Lernziele zu einigen, deren Formulierung zugleich ein verbindliches Ableitungsverfahren bis hin zu Aussagen für die einzelnen Unterrichtsreihen einschloss. […] Die sogenannten Curriculumprojekte, die hier Abhilfe schaffen sollten, wurden aber im Wesentlichen nur von den Lehrern akzeptiert, die ohnehin bereits im Sinn dieser Projekte unterrichteten.« 1600 Klafki, Erfahrungen und Einsichten, S. 258. 1601 HHStAW 504/3798, Staatssekretär, 16. Nov. 1970, Betr.: Probleme der Lehrplanrevision, Bezug: Meine Weisung vom 19.10.70 betr. Einrichtung von Projektgruppen zur Erarbeitung von stufenbezogenen Rahmenlehrplänen. 1602 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 298f.
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tober trat Georg August Zinn nach 19 Jahren als Ministerpräsident von diesem Amt zurück und machte den Weg frei für seinen Finanzminister Albert Osswald, der fortan die Regierung führte. Dieser stellte sich mit Blick auf die im folgenden Jahr anstehende Landtagswahl ein neues Kabinett zusammen, in dem durch den Rückzug Ernst Schüttes auch die Stelle des Kultusministers zu besetzen war. Ludwig von Friedeburg war dabei keineswegs seine erste Wahl, sondern wurde von Osswald erst, wie unter anderem der SPIEGEL1603 zu berichten wusste, nach dem Berliner Kultussenator Carl-Heinz Evers, dem nordrhein-westfälischen SPD-Fraktionsvorsitzenden Johannes Rau, dem Politikprofessor und späteren niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen sowie Hartmut von Hentig angesprochen1604. Von Friedeburg sagte lediglich früher als von Hentig zu und übernahm damit den Posten. Hildegard Hamm-Brücher verließ das Ministerium kurz darauf, um Staatsekretärin im gerade neu geschaffenen Bundesbildungsministerium in Bonn zu werden. Das entsprach auch ihrer Ansicht, dass wirkliche Reformen nicht in einem föderalen System, sondern erst nach einer Verfassungsreform auf Bundesebene durchgeführt werden könnten. Hinzu kam, dass der partizipatorische Prozess, den sie selbst nicht einmal zwei Jahre zuvor angestoßen hatte, ihr bereits so weit entglitten war, dass sie ihn nicht mehr verantworten wollte. Viel später resümierte sie: »Ich bin mit dem Gefühl weggegangen, aus dieser Lehrplanreform wird nichts. Ich war eigentlich recht froh, dass sich jemand anderes damit beschäftigen muss: sozusagen, ich war mit meinem Latein am Ende, auch mit meiner Kompetenz: In vielen politischen Sachen konnte ich sagen, dafür stehe ich, das mach ich. Aber das [gemeint: die Methoden der Lernzielfindung und die Kontroverse darum] habe ich nicht mehr verstanden und konnte nicht mehr dafür stehen.«1605 Hamm-Brücher brachte, wie eingangs dieses Kapitels bereits erwähnt wurde, vor allem ganz praktische Kenntnisse verschiedener Bildungssysteme als Bildungsreisende für die ZEIT sowie die Fähigkeit zu pointierten politischen Beiträgen mit ganz konkretem Bezug auf eine Situation mit. Die beschriebene Entwicklung hin zu Theorie und Methodendiskussion, weg vom realen Schulwesen und konkreten Fragestellungen brachte sie auf Distanz. Der Hochschulprofessor am Frankfurter Institut für Sozialforschung Ludwig von Friedeburg hingegen kannte sich in Grundsatzdiskussionen und umfangreichen Theoretisierungen auf diesem Gebiet hervorragend aus. Er war Schüler von Theodor W. Adorno, hatte an Habermas’ Studie Student und Politik mitgewirkt, sich wissenschaftlich mit dem Verhältnis von Universität und Gesellschaft beschäftigt und in mehreren Studien die Jugend- und Bildungssoziologie voran1603 »Selbst gezählt«. In: DER SPIEGEL 44/1969. 1604 Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 334. 1605 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 301, zitiert wird aus einem Gespräch von 1997.
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getrieben, vor allem mit Blick auf die politische Bildung an Schulen1606. Auch weil der thematische Fokus im Ressort weg von den Schul- und hin zu den Hochschulthemen gelenkt wurde, war von Friedeburg eine interessante Besetzung. Er galt seinen Kritikern zwar als einer der geistigen Väter revoltierender Studenten1607. Noch 1965 hatte er sich beschwert, Studenten seien »kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe. Es geht nicht mehr darum, sein Leben oder gar die Welt zu verändern, sondern deren Angebote bereitwillig aufzunehmen und sich in ihr, so wie sie nun einmal ist, angemessen und distanziert einzurichten.«1608 Den Studenten vom SDS, die ihn längst beim Wort genommen hatten und im Januar 1969 von der Polizei aus dem besetzten Institut für Sozialforschung geführt wurden, galten er und sein Kollege Habermas dann schon wieder als »scheißkritische Theoretiker«1609. Von Friedeburg mischte sich trotz Hochschulfokus stärker als sein Vorgänger in die Schulpolitik ein. Der Staatssekretär, der ihn als Nachfolger Hamm-Brüchers dabei begleiten sollte, war Gerhard Moos, ein Verwaltungsmensch, der zuvor als Leiter einer Gesamtschule in der Curriculumkommission mitgearbeitet und als Referendar auch schon das Kultusministerium kennengelernt hatte1610. Allerdings stürzte Ludwig von Friedburg sich nicht als Diskutant in die Curriculumentwicklung, um langwierig erarbeitete theoretische Ansätze zu diskutieren. Vielmehr sorgte er dafür, den Prozess zu beschleunigen und Ergebnisse zu zeitigen. Die Landtagswahl nahte, und eine Fertigstellung der längst erwarteten neuen Lehrpläne war nicht einmal absehbar. Darüber hinaus waren vor dem Bundesverfassungsgericht Verfahren gegen die Gesamtschule anhängig, für die man mit einem auch auf inhaltlicher Seite kohärenten Konzept gewappnet sein wollte1611. Im Ministerium wurde also zunächst eine neue Abteilung für Schulplanung eingerichtet, um den Prozess enger an das Haus zu binden und stärker kontrollieren zu können. Die Leitung bekam Ministerialrat Dr. Karl Ehrhardt. Ehrhardt war seit 6 Jahren im Ministerium maßgeblich für das Thema Politische Bildung zuständig und verband dieses Thema noch maßgeblich mit dem Gedanken an die Aufklärung über die Zeit des Nationalsozialismus und die politischen Bedingungen für sozialen Aufstieg1612. Der Plan war zunächst, »für kurzfristige Arbeit kurzfristig zu erstellende Rahmenrichtlinien« auszuarbeiten, 1606 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 332–338 und Kroll, Geschichte Hessens, S. 101f. 1607 Von Friedeburg hatte sich 1965 als Leiter einer Podiumsdiskussion an der Freien Universität Berlin bewiesen, deren Verbot durch das Rektorat die Berliner Studentenschaft mobilisierte. Vgl. hierzu Schreiber, S. 336. 1608 Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 195. 1609 »China am Rhein«. In: DER SPIEGEL 12/1969. 1610 Vgl. Schreiber, S. 339. 1611 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller. 1612 Vgl. Schreiber, S. 374ff.
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die möglichst schnell an den Schulen umzusetzen wären und vorläufig den »erreichten Diskussionsstand« fixierten. Diese Ergebnisse sollten noch einmal »nach 1–2 Jahren durch Hereinnahme weiterer Ergebnisse der langfristigen Curriculumentwicklung revidiert« und nach deren Abschluss ersetzt werden1613. Staatssekretär Moos hatte die Weisung ausgegeben, dass »bis Herbst 1971 stufenbezogene Rahmenrichtlinien ausgearbeitet werden«. Dazu sollten nun »Adhoc-Gruppen« im Ministerium entstehen, die für die schnelle Einführung neuer Lehrpläne zuständig wären; zu ihrer Besetzung wurden Lehrer aus der Curriculumkommission abgezogen, die bereits mit den Themen vertraut waren, vor allem aber um nicht zusätzliche Kräfte in ihrer eigentlichen Unterrichtstätigkeit einzuschränken und zusätzliche Ausgaben zu umgehen. Als Begründung hieß es, »man könne nicht zu viele Gruppen nebeneinander arbeiten lassen und nicht an den verschiedensten Stellen Curriculumarbeit bezahlen (BTZ, im zentralen Curriculum-Institut, in den ad-hoc-Gruppen und in der Curriculumkommission). Priorität hätten die Gruppen zur Erarbeitung von Orientierungsrichtlinien. Die Kommission habe einen wesentlichen Teil ihrer Aufgabe damit geleistet, dass jetzt ein großes Reservoir von Leuten da sei, die die Problemstellung kennen.«1614 Mit dieser Neuordnung und der darin enthaltenen Degradierung der Curriculumkommission zu einem Pool fachkundiger Diskutanten war deren Ende eigentlich besiegelt. Hans-Georg Rommel zog als »Fazit [aus der] Klafki-Kommission: Differenzierte, lernzielorientierte Rahmencurricula und ein veränderter Fächerkanon lassen sich […] kurzfristig mit nebenamtlich tätigen Lehrkräften nicht erstellen.«1615 In einer Hausbesprechung im Kultusministerium wurde daraufhin die Umstrukturierung beschlossen. Klafkis Curriculumkommission sollte fortan an einer langfristigen Curriculumentwicklung weiterarbeiten, also an einem System, das allen wissenschaftlichen Anforderungen entspreche und theoretisch an den Stand der Zeit anschließen könne. Eine »kurzfristige Erarbeitung stufenbezogener Rahmenlehrpläne« hingegen werde straffer organisiert im Kultusministerium vorangetrieben1616. Betrachtet man, dass die langfristige Curriculumentwicklung zwar zu diesem Zeitpunkt noch weiter-, aber nie zu einem Ende geführt wurde, stellt diese Umstrukturierung bereits das faktische Ende der Führung Wolfgang Klafkis in der Curriculumentwicklung dar. Dieser selbst hatte zu der Entwicklung nicht 1613 HHStAW 504/3798, E IV 1005, Herrn Staatssekretär, Betr.: Probleme der Lehrplanrevision, Bez.: Ihre Weisung vom 16.11.70, gez. Rommel, 18. 11. 1970. 1614 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller. 1615 HHStAW 504/3798, E IV 1005, Herrn Staatssekretär, Betr.: Probleme der Lehrplanrevision, Bez.: Ihre Weisung vom 16.11.70, gez. Rommel, 18. 11. 1970. 1616 Die Verantwortung dafür sollte fortan die Abteilung GII tragen HHStAW 504/3798, Ergebnisprotokoll der Hausbesprechung vom 20. November 1970.
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unerheblich beigetragen, ging er doch davon aus, dass er sich durch eine solche Umstrukturierung von dem Druck befreien könnte, »dass kurzfristige Rahmenpläne, die freilich an den Vorstellungen einer mittelfristigen CurriculumEntwicklung orientiert sein müssten, erstellt und erlassen werden sollten, um einem unmittelbaren Bedürfnis entgegenzukommen und politischen Notwendigkeiten zu entsprechen«1617. Er hoffte, dadurch mit seiner Kommission sorgsam umfassenderen Plänen nachgehen zu können. Er argumentierte selbst dafür, dass »neben dieser mittel- und langfristigen Curriculumentwicklung und -forschung kurzfristig vorläufige stufenbezogene Rahmenrichtlinien von neugebildeten Fachgruppen der Stufen zusammengestellt werden.«1618 Aber Staatssekretär Moos eröffnete auf der Sitzung der Koordinierungskommission auch, dass die Kommissionsmitglieder nun für diese kurzfristige Arbeit gebraucht würden und somit die Kommissionsarbeit wohl im Zeitraum von über einem Jahr pausieren müsse. Die Vorstellungen des Ministeriums gingen somit nicht in die Richtung, die Klafki sich wünschte1619. Dies wurde selbigem erst allmählich bewusst. Im Anschluss appellierte er in einem vierseitigen Brief, »dass die bisherigen Ansätze der hessischen Curriculumreform, die bereits internationale Beachtung gefunden hat (wie unter anderem die Materialien einer in Holland stattfindenden Tagung einer ›steering group‹ internationaler Curriculum-Experten und einige anderen Stellungnahmen belegen) und die inzwischen zu einem Bestandteil progressiver hessischer Schulpolitik geworden sind, nicht abgebrochen werden sollten.«1620 Auch das half nichts mehr. Über die langfristige Curriculumentwicklung, die eigentlich parallel zur kurzfristigen Arbeit aus Kapazitätsgründen dann im Anschluss daran weitergeführt werden sollte und unter dem Konkurrenzdruck des hauptamtlich arbeitenden Bildungstechnologischen Zentrums in Wiesbaden stand, ging währenddessen die Zeit hinweg. Als sich abzeichnete, dass die Arbeit der Curriculumkommission auch nach Jahresfrist nicht mehr fortgesetzt werde, bildete das Kultusministerium einen Gemischten Ausschuss aus Ministeriumsvertretern und den mit der Abfassung der 1617 HHStAW 1207/5, Klafki an Moos, 27. 11. 1970. 1618 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller, S. 2. Siehe auch ebd., S. 4: »In der anschließenden Diskussion stimmte Prof. Klafki erneut (vgl. Protokoll der Sitzung der Koordinierungskommission vom 8. Juli 1970) der politischen Entscheidung zu, auf relativ konventionellen Wege mit den neuen Fachgruppen unter Beteiligung von Kollegen der Curriculum-Kommission kurzfristig stufenbezogene Rahmenrichtlinien zu entwickeln. Die Curriculum-Kommission habe ihren Auftrag als mittelfristigen verstanden mit Perspektiven zu langfristiger Arbeit.« 1619 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller. 1620 HHStAW 1207/5, Klafki an Moos, 27. 11. 1970 (Einen gleichlautenden Brief schickte W. Klafki auch an den Kultusminister selbst).
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Rahmenrichtlinien befassten Fachgruppen. Dadurch sollte »die Transparenz des Entscheidungsprozesses hins. der Rahmenrichtlinien gewährleistet werden, wenn auch die letzte Entscheidung beim Minister liegt.« Die Ausschüsse sollten, auch aufgrund der gesammelten Expertise, einen allgemeineren Blick auf die Erarbeitung der Rahmenrichtlinien werfen und an der Gesamtkonzeption mitwirken1621. Das Gremium sollte allerdings nur noch den Arbeitsstand abschließend zusammenfassen und die vorzeitige Beendigung des drei Jahre zuvor begonnenen Projektes zur Kenntnis nehmen. Die Entscheidung über die dann auch formale Auflösung der Curriculumkommission fiel Ende 1971 im Ministerium. In einem Protokoll heißt es nur noch lapidar : »Bericht von Dr. Ehrhardt zu den Entscheidungen in Bezug auf die Hessische Curriculum-Kommission unter Federführung von Prof. Klafki. Skizzierung der Gründe, warum der alte Auftrag an die Kommission zurückgenommen werden musste. Verweis auf die ausführliche Darstellung in dem entsprechenden Sitzungsprotokoll, das an die Mitglieder des Gemischten Ausschusses verteilt wurde. Erörterung der Konsequenzen, insbesondere der Aufnahme der Projektleiter in die Fachgruppen.«1622 Der Zeitaufwand, die »Schwierigkeit der Kooperation fachübergreifender Gruppen«, eine »ungenügende wissenschaftliche Absicherung« und die »Distanz zur Schulrealität« wurden im Nachhinein als nicht lösbare Schwierigkeiten der Curriculumkommission gesehen. Gepaart mit der »Notwendigkeit der kurzfristigen Erstellung vorläufiger Rahmenrichtlinien für alle Schulstufen«, einer Rückorientierung von »projektorientierten Curricula« zu alten »Fach-, bzw. fachbereichsbezogenen Plänen« und dem Wunsch einer »engeren Bindung von Lehrplanreform an Schulrealität und Bewusstseinsstand (Erwartung) der Adressaten, sowie deren Möglichkeiten, mit neuen Plänen zu arbeiten«1623, legitimierte sich dieser Bruch als notwendige Entwicklung, wenngleich sich in ihm das Scheitern der szientistischen Ideale in diesem Kontext manifestierte und der Weg zu einer politisch determinierten gesellschaftlich-emanzipativen Lehrplanreform öffnete. Übrig blieb für die Aufgabe langfristiger Curriculumentwicklung nur noch eine Arbeitsgruppe im Bildungstechnologischen Zentrum BTZ, die auch noch
1621 HHStAW 1207/6, Der Hessische Kultusminister, G II 957/21, Ergebnisprotokoll der Koordinierungsgesprächs zur Fachgruppenarbeit Rahmenrichtlinien Primarstufe und Sekundarstufe I (Gemischter Ausschuss), HILF Frankfurt/Main, 29. Juni 1971. 1622 HHStAW 1207/6, G II – Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischten Ausschusses am 19. u. 20. 11. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule. Das »ausführliche Protokoll«, auf das Bezug genommen wird und näher auf die Auflösung der Kommission eingehen soll, ist nicht überliefert. 1623 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien.
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von Klafki selbst aufgebaut worden war1624. Die Hoffnung war, durch die »jetzt konkret gegebene Möglichkeit der Installierung einer ›ständigen Arbeitsgruppe für Curriculumentwicklung‹ am Bildungstechnologischen Zentrum […] die begonnene Arbeit an der Lehrplanrevision für die Sekundarstufe in Hessen intensiviert fortzusetzen und bei Beginn der Tätigkeit dieser Gruppe Überlegungen dahingehend anzustellen, wie über die aktuelle Arbeit hinaus […] Pläne für eine breit angelegte, wissenschaftlich fundierte und mit den erforderlichen Personalund Sachmitteln ausgestattete Curriculumrevision anzusteuern ist.«1625 So sollten sogar zunächst noch »in Kooperation mit der hessischen Curriculumkommission […] voraussichtlich bis zum Herbst 1971 einen Rahmenkatalog verbindlicher und wählbarer Lernziele für den Abschluss der Sekundarstufe I formulieren und begründen. Der Katalog wird einer begrenzten Expertenbefragung unterzogen. In der darauffolgenden Phase soll, möglichst bis Herbst 1972, ein vorläufiges Gesamtcurriculum für die Klassen fünf bis zehn entwickelt und anschließend in allgemeinbildenden Schulen Hessens erprobt werden. […] Federführend für die Gruppe ist Prof. Klafki.«1626 Der Auftrag reduzierte sich aber dann auf die abstrakte »Innovation und Förderung eines Diskussionsprozesses über curriculare Entscheidungen, in den eine ständig wachsende Zahl von Kollegen systematisch einbezogen werden soll, und damit letztlich auch die Entwicklung neuer Organisationsformen und Inhalte der Lehreraus- und -fortbildung, durch die die permanente Reform des Curriculums ermöglicht wird.«1627 Das BTZ war der Ort, an dem die szientistische Diskursformation parallel zu den politischen Entwicklungen fortbestehen konnte, was angesichts der Anlage einer solchen Institution als eine wissenschaftlich auf die Didaktik blickende Einrichtung nicht verwundert. So war sie es auch, die nebst der Idee programmierten Unterrichts auch weiter einer entsprechenden technischen Unterstützung des Unterrichts nachging. Es hatte »zum Ziel, praxisorientierte Modelle zu erstellen. Diese Entwicklungsarbeit reicht von Prototypen der Automaten über Lehrprogramme und andere Lehrmaterialien bis zu komplexen Lehrsystemen in Schule, Hochschule, Berufs- und Erwachsenenbildung. Ein wesentlicher Teil der Arbeit wird die Programmentwicklung beinhalten.« Vom Prinzip her wich man also 1624 HHStAW 504/3789, G II – 954/422, 2. Dezember 1970, Betr.: Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien, Anlg.: 1. Arbeitspapier ›Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien‹. Zu Klafkis Kritik an der Übertragung der Aufgabe ans BTZ vgl. HHStAW 1207/5, Klafki an Moos, 27. 11. 1970. 1625 HHStAW 1207/4, Vorschläge für die Arbeit der ständigen Arbeitsgruppe zur Curriculumrevision im Bildungstechnologischen Zentrum, Vdt/Pf, d. 19. 10. 1970 (wohl Lingelbach). 1626 HHStAW 1207/4, Bildungstechnologisches Zentrum (BTZ) – Bericht über den Stand des Aufbaus, verfasst durch den vorläufigen Wissenschaftlichen Rat: Prof. Dr. Correl, Prof. Dr. Eyferth, Prof. Dr. Klafki, Prof. Dr. Mollenhauer und Prof. Dr. Weltner, November 1970. 1627 HHStAW 1207/4, Überlegungen zur Arbeit, im Jahre 1971/72 (Wohl Lingelbach).
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nicht sonderlich von den Jahre zuvor stark diskutierten Lernprogrammen und Lernmaschinen ab, allerdings terminologisch wie technisch modernisiert als »computer managed instruction« inklusive eines zentral eingesetzten »Großrechners zur Entlastung der Lehrer von Routineaufgaben, z. B. Korrektur von Aufgaben- und Kenntniskontrolle.«1628 Änderungen im Diskurs Die Umstrukturierung der Kommissionsarbeit brachte auch eine Änderung wichtiger Aspekte des Diskurses mit sich – zunächst bezogen auf die Form der Arbeit: vom langwierigen und komplizierten partizipatorischen Ansatz weg, zurück zu einer bürokratischeren und politischeren Form, die Geschwindigkeit und Effizienz gewährleisten sollte, bei bleibender Transparenz des Prozesses und seiner Inhalte. Schon mehrfach ist angeklungen, dass die Partizipation durch eine gestraffte Kommissionsarbeit deutlich geschwächt wurde1629. HammBrücher war einst mit dieser Idee ins Ministerium gekommen, hatte damit Befremden ausgelöst und konnte in ihrer kurzen Amtszeit als hessische Staatssekretärin dieses Thema auch nicht so tief verwurzeln, dass es ihren Weggang überdauert hätte. Wolfgang Klafki meinte wohl zu Recht, »ihr Nachfolger im hessischen Kultusministerium, Gerhard Moos, hat sich wahrscheinlich von Anfang an nicht mit dem von seiner Vorgängerin eingeschlagenen, partizipativen statt bürokratisch-administrativen Weg curricularer Bildungsreform befreunden können.«1630 Dieser neue – und eigentlich alte – Weg wurde von den Mitgliedern der Koordinierungskommission problematisiert. Klafki selbst, zuvor gar nicht der größte Verfechter dieses Themas, appellierte noch einmal vehement an den Staatssekretär, mit der Rücknahme der partizipativen Strukturen nicht einen wichtigen Grundgedanken der Curriculumreform aufzugeben, und berief sich dabei auf den neuen Kultusminister : »Herr von Friedeburg hat einmal geschrieben, dass die Schule keine ›stromlinienförmige Leistungsfabrik‹ werden darf. Das gleiche gilt für Lehrplanreform. Ich bin der Meinung, dass das demokratische Verfahren durchgestanden werden muss, zumal es nachweisbar auf längere Sicht auch das effektivste ist«1631 Einige andere wiesen gleichfalls auf die Schwierigkeiten einer Herangehensweise hin, die die Mitarbeit der Lehrer nicht genügend beachte: »Innovation eines neuen Curriculum von oben sei erwiese1628 HHStAW 1207/4, Bildungstechnologisches Zentrum (BTZ) – Bericht über den Stand des Aufbaus, verfasst durch den vorläufigen Wissenschaftlichen Rat: Prof. Dr. Correl, Prof. Dr. Eyferth, Prof. Dr. Klafki, Prof. Dr. Mollenhauer und Prof. Dr. Weltner, November 1970. 1629 Vgl. auch HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller, S. 4. 1630 Klafki, Erfahrungen und Einsichten, S. 259. 1631 HHStAW 1207/5, Klafki an Moos, 27. 11. 1970.
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nermaßen sinnlos, da völlig unwirksam.«1632 Die Antwort aus dem Ministerium blieb ablehnend. Im Prinzip sei diese Ansicht zwar richtig, »aber es stelle sich die Frage einer optimalen Organisation. Hinzu käme, dass curriculare Entscheidungen politische Entscheidungen seien« und man sich eine »stärkere Anbindung an die politischen Entscheidungsstellen« wünsche1633. Damit wurde neben dem funktionalen Argument gegen die alten Partizipationsideen, das ja tatsächlich offensichtlich geworden war, nun auch offen bekannt, dass die politische Steuerung wieder explizit gewünscht war. Eine Integration der in den Schulen vorhandenen Kompetenzen wurde vonseiten des Ministeriums auf die Revisionsprozesse verschoben, die an die Einführung der Rahmenrichtlinien anschließen sollten, zu denen es allerdings noch keine konkreten Gedanken gab. Als Hauptproblem mangelnder Partizipation wurden nicht Qualität oder Legitimation der Ergebnisse genannt. Stattdessen wurde erörtert, wie die Ideen hinter den Rahmenrichtlinien auf breiter Basis gestreut werden könnten, um Akzeptanz für einen solchen Revisionsprozess und letztendlich auch Mitarbeiter zu finden; Partizipation wurde also auf ihr funktionales Moment der Durchsetzung bestimmter Ideen reduziert. Das Lehrerfortbildungswerk (HILF), die Hochschulen, die Studienseminare und auch »das Regionalprogramm des hess. Rundfunks« sollten alleine zu diesem Zweck einbezogen werden1634. Während die Partizipation nun also funktional eingehegt wurde, legte Ludwig von Friedeburg Wert darauf, in der Frage der Transparenz wiederum keine große Kursänderung vorzunehmen. Weiterhin wurden nicht erst fertige Konzepte gleichzeitig der Öffentlichkeit präsentiert und in den gesetzgeberischen Prozess gegeben, sondern stets bereits mit den Ansätzen die Öffentlichkeit gesucht, um bereits im Vorhinein eine breite Akzeptanz herzustellen oder zumindest, wo schon direkte Partizipation nicht mehr möglich war, indirekt die Möglichkeit zur Mitsprache und einer breiten Debatte zu geben. Die Bildungspolitischen Informationen etwa, die von Hamm-Brücher zur Information der Schulen über die Vorhaben der Landesregierung eingeführt wurden, wollte er zu einem Me1632 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller, Auch als die Curriculumkommission schon gar nicht mehr operativ arbeitete, ebbte die Kritik an der neuen Herangehensweise nicht ab, und die Fortsetzung der langfristigen Arbeit wurde weiter gefordert. Vgl. HHStAW 1207/4, Protokoll der Sitzung der Realisierungskommission in Gießen, 14. 9. 1971. 1633 HHStAW 504/3798 u. HHStAW 1207/5, Ergebnisprotokoll der Sitzung der Koordinierungskommission der Hess. Curriculum-Kommission in Marburg, gez. Haller. 1634 HHStAW 1207/6, G II, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischen Ausschusses am 14. u. 15. 10. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule, Anhang: Zu den Realisierungsbedingungen von Lehrplanrevision auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien – Arbeitspapier für den Gemischten Ausschuss (handschriftl.: Ivo – Wolf).
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dium mit Rückkanal ausbauen, zum Ankerpunkt einer Diskussion aller Beteiligten über konkrete Gesetzesvorhaben1635. So wurde beispielsweise nicht nur ein »Diskussionsentwurf zur Neuordnung der Lehrerausbildung«1636 publiziert, sondern im Anschluss daran zunächst ausgewählte Stellungnahmen und Eingaben von Gruppen, Verbänden und Einzelpersonen1637 und weiterhin relevante wissenschaftliche und politische Texte und Quellen, von der Kultusministerkonferenz über die Lehrerverbände und Gewerkschaften bis hin zu Texten Roths und Robinsohns. Das so verbliebene partizipatorische Element war nur noch ein Rückkopplungsprozess, kein Schaffensprozess mehr. Dieser Unterschied dürfte auch die Verwunderung in der Aussage Ingrid Hallers erklären, der sich nicht erschloss, weshalb trotz der »ständigen Begleitung durch Lehrgänge […], an denen z. B. im ersten Halbjahr 1972 rund 10.000 Lehrer teilnahmen«, die Rahmenrichtlinien mit ihrem Erscheinen nicht unmittelbar in ihrem Sinne verstanden wurden1638. Die großen Veränderungen blieben aber nicht auf die Formen beschränkt, sondern fanden auch in den der Arbeit zugrunde liegenden Ansichten statt. Das Ende der Curriculumkommission und der Einstieg in die »kurzfristige Curriculumentwicklung« markierten den Beginn eines Prozesses, der unter dem Schlagwort der Rahmenrichtlinien deutschlandweit für Furore sorgen sollte. Die politisch Verantwortlichen konnten nämlich schon längst nicht mehr allein von Strukturen und Prozessen reden, sondern waren von außen, durch die politischen Gremien und die Öffentlichkeit, genötigt, Inhalte zu diskutieren. Gescheitert war letztlich der Versuch, als Regierung einen ergebnisoffenen Prozess zu moderieren und gleichzeitig die Ergebnisse – wie auch deren Ausbleiben – verantworten zu müssen. Die Entstehung der Rahmenrichtlinien Was nun als Ausarbeitung kurzfristiger Lehrpläne begann, sollte alsbald zur »Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien«1639 werden, mit der Absicht, einen »permanenten Prozess« der Lehrplanrevision einzuleiten1640 – was 1635 1636 1637 1638
Vgl. BPI 1 A/71, Vorwort. BPI 1 A/71, Diskussionsentwurf zur Neuordnung der Lehrerausbildung. BPI 1B/71. Haller, Wolf, Vorbemerkung in: Curriculum Konkret 1/73, S. 4–6. Haller, Wolf, Vorbemerkung in: Curriculum Konkret 1/73, S. 4–6. 1639 HHStAW 504/3798, E IV 1005, Herrn Staatssekretär, Betr.: Probleme der Lehrplanrevision, Bez.: Ihre Weisung vom 16.11.70, gez. Rommel, 18. 11. 1970. 1640 HHStAW 1207/6, G II, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischen Ausschusses am 14. u. 15. 10. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule, Anhang: Zu den Realisierungsbedingungen von Lehrplanrevision auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien – Arbeitspapier für den Gemischten Ausschuss (handschriftl.: Ivo – Wolf): »Geht man davon aus, dass mit diesen
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ja eigentlich die Aufgabe der getrennt laufenden langfristigen Curriculumentwicklung war, deren Verantwortliche zu diesem Zeitpunkt noch meinten, nur zu pausieren. Der permanente Prozess gestaltete sich am Ende allerdings anders als gedacht, nämlich als ein permanentes zähes Ringen um verwertbare Ergebnisse. Was im folgenden Abschnitt behandelt werden soll, sind die Begründungszusammenhänge und ihre Veränderungen bis zur Veröffentlichung des ersten Entwurfs der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre im Spätjahr 1972. Die folgende öffentliche Kontroverse, die zu einem mehr als zehn weitere Jahre andauernden Prozess steter Kompetenzverschiebungen, heftiger Kritik sowohl vonseiten der konservativeren Öffentlichkeit als auch der Reformer selbst, zu neun aufeinanderfolgenden, diskutierten, verworfenen und wieder überarbeiteten Entwürfen der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre bis zu ihrer ersten verbindlichen Erprobung 1982, zu weiteren Debatten und schlussendlich erst gute 20 Jahre später zu einer erneuten Reform mit komplett neuen und dann auch verbindlichen Richtlinien führte, kann leider nicht Teil dieser Studie sein. So spannend dieser Prozess auch diskursanalytisch war, ginge es hierbei vornehmlich um die Auswirkungen einer Politik, nicht um die für die Fragestellung dieser Arbeit bedeutenden Diskurse, die zunächst dazu geführt hatten. Kritik von innen und außen ist für diese Arbeit dort bedeutend, wo die Reaktion darauf Aufschluss über die zugrundeliegenden Begründungszusammenhänge gibt. Insofern ist das Ergebnis des Prozesses, auf den sich die Aussagen in diesem Abschnitt beziehen, letztlich nur ein virtuelles Vorhaben, als Rahmenrichtlinien zwar veröffentlicht, aber außer in einigen Versuchsklassen nicht implementiert. Die Rahmenrichtlinien wurden in Fachgruppen ausgearbeitet, die zu etwa 65 % aus Mitgliedern der »Großen Hessischen Curriculumkommission« bestanden und ansonsten »aus Lehrern, die in anderem Zusammenhang an curricularen Problemen gearbeitet haben. Bei der Zusammensetzung wurde auf die Repräsentanz aller Schulformen und Schulstufen geachtet.«1641 Die Zahl der beteiligten Akteure ging stark zurück. Während also fortan unterschiedliche Fachgruppen für die einzelnen Fächer tätig waren und beispielsweise die Untersuchung der Entstehung der Rahmenrichtlinien Deutsch gleichfalls interessante Aspekte aufwerfen könnte, soll hier nur exemplarisch auf die Entstehung der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre Bezug genommen werden, die gleichfalls im Zentrum sowohl der Politik als auch der öffentlichen Aufmerksamkeit standen. Die Rahmenrichtlinien GesellRichtlinien auf breiter Ebene Lehrplanrevision als ein permanenter Prozess eingeleitet werden soll, dann muss die Umsetzung vor allem daran gemessen werden, inwieweit es durch sie gelingt, eine wachsende Zahl der Adressaten an diesem Veränderungsprozess zu beteiligen.« 1641 HHStAW 1207/6, IV B – 957/5501, Protokoll – Sitzung der Federführenden der Fachgruppen Rahmenrichtlinien – Primarstufe und Sekundarstufe I, HKM, 15. 09. 1972.
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schaftslehre von 1972 verzeichneten am Ende noch 15 Personen, die »an der Erarbeitung dieser Rahmenrichtlinien […] durchgehend oder zeitweise beteiligt [waren] oder […] an den Gruppensitzungen teilgenommen«1642 haben. Die Hauptautoren waren Ingrid Haller und Hartmut Wolf in der Schulabteilung des Ministeriums, unter der losen Aufsicht des Abteilungsleiters Karl Ehrhardt1643. Vorläufigkeit und Verbindlichkeit Die operativ verantwortlichen Fachgruppen erhielten ihre Aufträge viel enger als zuvor direkt vom Ministerium. In einer ersten »Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien« waren die genannten Fachgruppen gebildet worden und bekamen jeweils eine konkrete Aufgabe, die innerhalb genau eines Jahres1644 zum Abschluss zu bringen war1645. Während so Tatsachen geschaffen wurden, geriet der alte wissenschaftliche Anspruch zur Formel, die noch lange wiederholt werden sollte, zu deren Verwirklichung allerdings immer weniger geleistet wurde: »Zu Beginn dieser Arbeit muss auf den pragmatischen Auftrag dieser Fach- und Fachbereichsgruppen hingewiesen werden. Es darf nicht das Missverständnis entstehen, als sollten diese neugebildeten Gruppen Ansprüchen einer bisher nicht geleisteten Curriculumarbeit genügen.«1646 Dieser Umstand, dass nicht zuletzt durch den Fortbestand der Fächer keine »im Sinne der curricularen Lehrplantheorie gesellschaftsbezogene Begründung für Lernziele und Unterrichtsorganisation« möglich war, wurde im Ministerium durch1642 RRL GL 1972, S. 312. Darunter befanden sich mitunter Hartmut Wolf, Rudolf Engelhardt, Bernd Frommelt, Ingrid Haller, Dieter Wollenteit. 1643 Vgl. Schreiber, S. 500 u. 534. 1644 HHStAW 504/3789, G II – 954/422, 2. Dezember 1970, Betr.: Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien, Anlg.: 1. Arbeitspapier ›Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien‹: »bis 1. 12. 1971 Abgabe aller Fach- und Fachbereichsrahmenrichtlinien«. 1645 Vgl. auch HHStAW 1207/5, Der Hessische Kultusminister, E IV 2-1050/00, Betr.: Bildung von Fachgruppen zur Revision der Hessischen Bildungspläne, 2. 12. 1970. Folgende Fachgruppen wurden eingerichtet: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Griechisch, Gesellschaftslehre, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Polytechnik, Kunsterziehung, Musik. Die Gruppen sollten maßgeblich aus ehemaligen Kommissionsmitgliedern bestehen, die den verschiedenen Schultypen entstammen, um die Kenntnis der Materie zu gewährleisten. Ihre Größe war auf maximal 8 Mitglieder beschränkt, um die Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten. 1646 HHStAW 504/3789, G II – 954/422, 2. Dezember 1970, Betr.: Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien, Anlg.: 1. Arbeitspapier ›Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien‹. Weiter : »›Lernziele‹, ›Curriculumelemente‹, ›Qualifikationen‹, ›Operationalisierung von Lernzielen‹ sind Termini im Rahmen der Curriculumentwicklung. Um diesen mittel- und langfristigen Auftrag geht es in der Arbeit der Fachgruppen im nächsten Jahr nicht. Deshalb sind alle genannten Termini nur Hilfsbegriffe der kurzfristigen Arbeit und werden als solche in diesem Arbeitspapier in Anführungszeichen gesetzt.«
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aus diskutiert1647. Daher war auch vorgesehen, dass »alle Hinweise in den Plänen, die diesen den Anspruch der Curriculumrevision geben, vermieden werden«1648. Die Umsetzung der Rahmenrichtlinien sollte so erfolgen, »dass sie den vorläufigen Charakter dieser Richtlinien bei deren gleichzeitiger Verbindlichkeit gewährleistet«1649. Vorläufigkeit und Verbindlichkeit, zunächst also die bewusste Abgrenzung der kurzfristig zu erstellenden Rahmenrichtlinien von einer langfristigen, methodisch sauberen Curriculumentwicklung, entwickelten sich im Zuge des Bedeutungsverlustes der Arbeit an den langfristigen Alternativen zu einem konstitutiven Merkmal der Lehrplanarbeit und erfuhren eine entsprechende Umdeutung. Die Begründung für Vorläufigkeit der Lehrpläne hieß nun: »Jede Festschreibung von Lehrplänen im stofflichen Bereich wird der Geschwindigkeit dynamischer gesellschaftlicher Entwicklung nicht mehr gerecht, d. h. ein solcher Lehrplan wäre bei seinem Erscheinen schon in Teilen veraltet.« Man hatte sich gänzlich von der Idee verabschiedet, noch einmal ein auch nur formell wissenschaftlich legitimiertes System der Lehrplanarbeit zu entwickeln (oder überhaupt entwickeln zu können), das inklusive der eigenen Revision aus sich heraus funktionieren würde. An dessen Stelle trat das Konzept, Lernziele und Strukturen verbindlich vorzugeben, ihre inhaltliche Ausgestaltung aber möglichst dynamisch und somit fortwährend vorläufig zu lassen1650. Während der verbindliche Teil durchaus Assoziationen zu den überzeitlichen Werten der werterzieherischen Diskursformation hervorruft1651, blieb das ursprünglich in der Idee einer ständigen Revision der Lehrpläne enthaltene dynamische Moment in der flexiblen Unterrichtsgestaltung erhalten. Die recht abstrakten Lernziele wurden als gültig und final erachtet, aber ihre materiellen Bezugspunkte unterlägen eben durch die inhaltliche Freiheit der Lehrer ständigen Anpassungen
1647 HHStAW 1207/5, G II 4, Gesichtspunkte für die Weiterarbeit bzw. Überarbeitung der vorliegenden Materialien – orientiert an der Aufgabenbeschreibung vom Dezember 1970, 11. 10. 1971. Die »Gesichtspunkte« wurden am 14.10 1971 auf einer Sitzung des ›Gemischten Ausschusses‹ von Ingrid Haller vorgetragen, vgl. HHStAW 1207/6, G II, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischen Ausschusses am 14. u. 15. 10. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule. 1648 HHStAW 1207/5, G II 4, Gesichtspunkte für die Weiterarbeit bzw. Überarbeitung der vorliegenden Materialien – orientiert an der Aufgabenbeschreibung vom Dezember 1970, 11. 10. 1971. 1649 HHStAW 1207/6, G II, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischen Ausschusses am 14. u. 15. 10. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule, Anhang: Zu den Realisierungsbedingungen von Lehrplanrevision auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien – Arbeitspapier für den Gemischten Ausschuss (handschriftl.: Ivo – Wolf). 1650 HHStAW 1207/6, G II 4 – Tischvorlage über die Funktion der Rahmenrichtlinien – Zwischenberichte für die Sitzung des Beirats, 19. 10. 1971. 1651 Vgl. dazu auch die im ersten Hauptteil aufgezeigten Ähnlichkeiten, S. 129.
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an die Erfordernisse der Zeit1652. Ebenso flexibel waren die Methoden zu handhaben, da man davon ausging, dass »die Entscheidung, welche Lernziele in Verbindung mit welchen Themenstichworten in einer bestimmten Situation sich am besten eignen, nicht oder nur bedingt« vorweggenommen werden könnten – »Lediglich die Kriterien, an denen sich eine solche Entscheidung zu orientieren hat, können dargelegt werden.«1653 Damit war die Lehrplanarbeit formell in einen (verbindlichen) politischen Teil und einen (vorläufigen) schulischen Teil gespalten, ohne dass fortlaufende Kommunikationsmechanismen weiter eingeplant waren. Die Zielvorgaben lagen bei der Politik, die Ausgestaltung beim Lehrer, die mittelfristig angestrebte Revision betraf nur die Inhalte, der Maßstab war die gesellschaftliche Entwicklung. Lediglich als »langfristiges Ziel« ohne Anspruch auf Verwirklichung wurde noch das »Schaffen der Bedingungen für eine Lehrplanrevision, die als permanenter Prozess dem Anspruch einer curricularen Revision gerecht wird«1654, festgehalten. Gleichzeitig zielte das Argument der Vorläufigkeit schon von vornherein darauf ab, Kritik abzuwehren. Solche sei weder gerechtfertigt, wenn vorläufige Aussagen als endgültige kritisiert würden, noch wenn der Kritiker selbst noch in fixen Lehrplänen denke, also die Flexibilität des Stoffes übersehe1655. In diesem Sinne hatte bereits der erste Satz der veröffentlichten Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre eine defensive Funktion, wenn er for1652 Vgl. HHStAW 1207/7, Presse- und Informationsabteilung der Staatskanzlei (Hrsg.), Hessen 10: Information Rahmenrichtlinien, Hessen-Information der Hessischen Landesregierung, Redaktion: Hans Pippert, Hartmut Holzapfel (Broschüre). 1653 RRL GL 1972, S. 6. 1654 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien. 1655 HHStAW 1207/6, G II 4 – Tischvorlage über die Funktion der Rahmenrichtlinien – Zwischenberichte für die Sitzung des Beirats, 19. 10. 1971: »Von hier aus gesehen sind Einwände gegen die jetzt vorgelegten Arbeitsergebnisse dann gerechtfertigt, wenn der Vorläufigkeits- und Prozesscharakter durch die Art der Darstellung zu Gunsten von endgültigen Aussagen im Gegenstandsbereich verdeckt wird. Andererseits sind alle Einwände daran zu überprüfen, inwieweit sie sich an einem traditionellen Lehrplanverständnis (nicht im Sinne eines dynamischen Prozesses) orientieren. Unter dieser doppelten Perspektive müssen Anregungen für die Veränderung der Rahmenrichtlinien formuliert werden und sind damit ein erster Beitrag zu dem kritischen Prozess der Weiterarbeit.« Schreiber, Schulreform in Hessen, zitiert sogar explizit aus einem Schreiben der Schulabteilung an den Minister im Januar 1972: »Alle denkbare Kritik der im weitesten Sinne pädagogischen Öffentlichkeit an den vorläufigen Rahmenrichtlinien kann dadurch entschärft werden, dass der Stellendwert der jetzigen Arbeitsergebnisse durch die Skizzierung des weiteren Arbeitsprozesses verdeutlicht wird. In diesem Sinn ist auch das Eingeständnis, dass die VRR keineswegs die Probleme der Differenzierung, kompensatorischen Erziehung, Unterrichtsorganisation bezogen auf emanzipatorische Lernprozesse und der Lernerfolgskontrolle lösen, sondern allenfalls das Problem beschreiben, eine politische Strategie.« Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 494.
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mulierte: »Die hiermit vorgelegten Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre enthalten im Teil A Grundsatzüberlegungen und fassen im unterrichtspraktischen Teil (B) Arbeitsergebnisse zusammen, die einen unterschiedlichen Arbeitsstand dokumentieren.«1656 Während also die Ausdeklination der Grundsätze in konkreten Unterricht einen unverbindlichen vorläufigen Charakter hatte, war ihr Bezugspunkt, der Grundsatzteil, bereits fixiert. Die Vorläufigkeit barg aber selbst ein gewisses Konfliktpotential. Um zu verhindern, »dass die Beschreibung von Lehrplanentwicklung als Prozess missverstanden werden kann im Sinne der Schaffung eines Freiraums für individualistisches und unkontrolliertes Experimentieren mit Schule und Schülern«, sollten daher »institutionelle Rahmenbedingungen von Lehrplanrevision« in der Lehreraus- und -fortbildung geschaffen werden1657. Die dynamischen Elemente sollten nicht außerhalb der politischen Kontrolle stehen. Dennoch waren die Rahmenrichtlinien von vornherein darauf angelegt, in all ihrer Vorläufigkeit die alten Lehrpläne abzulösen und somit Verbindlichkeit zu erlangen1658. Insbesondere die Horizontalisierung war verbindlich, da es nur noch Pläne für Schulstufen, aber nicht mehr für Schularten gab. Damit erlangten auch die Gründe für diesen Schritt Verbindlichkeit, nämlich »die politische Entscheidung für eine Schulkonzeption, die sich die Herstellung von Chancengleichheit zum Ziel setzt: die stufenbezogene und vertikale Koordinierung von Lernzielen und Lerninhalten ist eine Voraussetzung für die Realisierung der Durchlässigkeit innerhalb des bestehenden Schulsystems.«1659 Die Auswahl der Unterrichtsinhalte hingegen wurde zwar, wie gesagt, bewusst offen gelassen und den Lehrern zur Aufgabe gemacht, was auch den Namen der Rahmenrichtlinien begründet. Gleichermaßen sollte diese Auswahl aber anhand verbindlicher Grundsätze erfolgen und so auch begründet werden. In einer letzten Wendung dieses Aspekts entschieden sich die Verantwortlichen, diese Offenheit grundsätzlich beizubehalten, aber angesichts der »konkreten Arbeitsbedingungen – einschließlich der den Lehrern über ihre Ausbildung vermittelten Qualifikationen«, also deren fehlende Ausbildung zur eigenen Erarbeitung der Lehrinhalte gemäß diesem Konzept, doch noch ganz konkrete Unterrichtsmaterialien zur freiwilligen Auswahl und Anwendung an den Schulen auszuarbeiten. Durch die Freiwilligkeit ließ sich gleichzeitig ihr for1656 RRL 1972, S. 5. Weiter : »Diese Unterschiede beziehen sich sowohl auf den Stand der Ausarbeitungen zu den einzelnen Lernfeldern und Jahrgangsstufen als auch auf den Konkretionsgrad, mit dem die fachspezifischen Schwerpunkte ausgewiesen werden.« 1657 Vgl. HHStAW 1207/6, G II 4 – Tischvorlage über die Funktion der Rahmenrichtlinien – Zwischenberichte für die Sitzung des Beirats, 19. 10. 1971. 1658 Ebd.: »Mit den Rahmenrichtlinien wird die Organisation von Unterricht auf der Grundlage der Pläne von 1957 ff rechtswirksam außer Kraft gesetzt.« 1659 Ebd.
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maler Erlass als Lehrplan umgehen, während vielen Lehrern nicht viel anderes übrig bliebe, als diese informellen, exemplarisch an die Hand gegebenen Materialien im Unterricht zu benutzen. Letztendlich sollte sich das Ministerium doch nicht trauen, mit einem Streich die alten Lehrpläne durch die bereits während ihres Entstehens umstrittenen Rahmenrichtlinien zu ersetzen. Stattdessen kam es nur zu einer Phase vereinzelter Erprobungen der Rahmenrichtlinien für bestimmte Fächer und Fachbereiche ab 19731660. Gesellschaftlich-emanzipative Zielsetzungen Während der Entwicklung der Rahmenrichtlinien vollendete sich der Prozess einer Homogenisierung des internen Diskurses im gesellschaftlich-emanzipativen Diskursspektrum. Dies bedeutete im ersten Schritt eine Abkehr vom bisherigen methodischen Anspruch, also des verbliebenen szientistischen Gerüstes. Wie bewusst dieser Schritt vollzogen wurde, wird an seiner expliziten Thematisierung deutlich: »Als die Lehrplanrevision in Hessen 1968 in Angriff genommen wurde, musste angesichts des damaligen Forschungsstandes der Curriculumtheorie eine wissenschaftlich abgesicherte Lernzielbestimmung an den Anfang gestellt werden. Indem in Hessen erstmals die Realisierung dieses Anspruchs in Zusammenarbeit zwischen Schule und Hochschule versucht wurde, zeigte sich seine Uneinlösbarkeit.«1661 Die Folge war die weitere Verschiebung der Herleitung normativer Aussagen, die zuvor schon von der empirischen auf die theoretische Ebene gerückt war und nun zur politischen Setzung weiterrückte. Eine Anpassung an den aktuellen Stand der Wissenschaft wurde nicht einmal mehr vorgeschoben, die politische Determination offen angeführt: »Der Auftrag zu einer Horizontalisierung der ›Curricula‹ ergibt sich aus der gesellschaftspolitischen Entscheidung für die Aufhebung ungleicher Sozialchancen, wie sie sich in den tradierten Schulformen als Mittel sozialer Differenzierung bisher fassen lassen. Aus dieser politischen Entscheidung leitet sich die Wichtigkeit eines gemeinsamen Grund ›curriculum‹ ab. Erst diese gemeinsame Basis aller Schulformen gewährleistet in der Praxis die Durchlässigkeit.« Die Begründung nach außen griff dabei auch wieder auf Muster der Bedarfskonzeption zurück und führte etwa die »unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen (fassbar in den Abnehmererwartungen: z. B. Universität oder Wirtschaft etc.)« an1662, was sich aber nicht in den internen Begründungszusammenhängen niederschlug. Der politische Charakter wird auch in einem Protokoll der koordinierenden 1660 HHStAW 504/4402, IV B – 957/530, Betr.: Erprobung von Rahmenrichtlinien für die Primarstufe und die Sekundarstufe I – Entwurf (Stand: 20. Juni 1973). 1661 HHStAW 1207/6, G II 4 – Tischvorlage über die Funktion der Rahmenrichtlinien – Zwischenberichte für die Sitzung des Beirats, 19. 10. 1971. 1662 HHStAW 1207/5, Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien (überarbeitete Version), 07. 12. 1970.
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Realisierungskommission deutlich. Die Forderung nach der Einrichtung von Arbeitsgruppen mit methodisch-wissenschaftlichem Fokus1663 wurde abgewiesen, als Begründung galt Priorisierung der zügigen politischen Umsetzung: »Wichtigstes Ziel der Curriculumarbeit sei es, Veränderungen in der Schulrealität in Gang zu bringen.« Die sich in Arbeit befindlichen Rahmenrichtlinien könnten als Schritt dorthin gesehen werden, wenn sie auch nicht das enthielten, »was langfristig möglich« sei. Sie »griffen das traditionelle Unterrichtsverständnis der Lehrer auf und Veränderung der Schule könne eben nur unter Berücksichtigung des Bewusstseinsstandes der Agierenden erreicht werden. Da diese Veränderung Vorrang habe, müsse die systematische Arbeit sich zu Gunsten der Projektarbeit verschieben.«1664 Im Vordergrund stand also die Beschleunigung des Prozesses, um bald die Ergebnisse von äußerer und innerer Reform zusammenführen zu können. Als oberstes Lernziel wurde zunächst, abgeleitet von der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft, die »Selbst- und Mitbestimmung« formuliert. Ob es sich nun um ein aktives Lehrziel oder ein passives Lernziel handelte, wie intrusiv eine emanzipatorische Schule wäre, die Spannung zwischen Emanzipation und Manipulation – diese Unsicherheiten harrten weiter ihrer Auflösung, was sich nicht zuletzt in der zwischen »Lernziel« und »vermitteln« widersprüchlichen Formulierung widerspiegelt, mit der dieses eine grundlegende Axiom der Rahmenrichtlinien final der Öffentlichkeit präsentiert wurde: »Daher ist es auch oberstes Lernziel, den Schülern die Befähigung zu Selbst- und Mitbestimmung zu vermitteln.« In der Ausdeutung dieses Lernziels war die Landesregierung allerdings eindeutig: »Selbst- und Mitbestimmung als oberstes Lernziel muss aber auch heißen, dass Demokratie nicht nur eine Staatsform, sondern eine Lebensform ist. Dies schließt immer die Frage ein, ob die gesellschaftliche Wirklichkeit den Richtlinien der Verfassung entspricht, oder ob in bestimmten Lebensbereichen Selbst- und Mitbestimmung verhindert wird. Treue zur Verfassung bedeutet, ihre Forderungen ernst zu nehmen und die Wirklichkeit unseres Lebens an ihr zu messen. Jeder Versuch, Konflikte und Interessengegensätze in der Gesellschaft zu leugnen, hat in der Geschichte bisher zu undemokratischen Herrschaftsformen geführt. Demokratische Erziehung muss den einzelnen befähigen, Konflikte in der Wirklichkeit zu erkennen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und seine Interessen wahrzunehmen.« Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation 1663 HHStAW 1207/4, Protokoll der Sitzung der Realisierungskommission in Gießen, 14. 9. 1971.: »Es müsse also neben der Projektarbeit problemorientierte Gruppen geben, die projektübergreifende Aufgaben zu behandeln hätten, z. B.: Weitererörterung der Differenzierungsfragen, Aufbau systemischer Lernzielzusammenhänge usw. Verzicht auf systematische Arbeit zu Gunsten der erforderlichen Veränderung der Schulrealität sei nicht vertretbar.« 1664 Ebd.
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verdichtete sich hier erneut. Der Bezug der Verfassung nicht nur auf Staat und Öffentlichkeit, sondern unmittelbar als Maßstab für »die Wirklichkeit unseres Lebens« zu setzen, drückt genau aus, wie der Anspruch auf Verwirklichung eines bestimmten Gesellschaftsideals die Ausschöpfung der Möglichkeiten des staatlichen Erziehungssystems einschloss. Die Betonung von Konflikten, Wachstumskritik, die Thematisierung innerfamiliärer Konflikte – die Anknüpfungen an den gesellschaftlich-emanzipativen Diskurs sind, in dieser Veröffentlichung maßvoll formuliert, eindeutig1665. Waren die Vorgaben aus dem Ministerium zur Arbeit der Klafki-Kommission meist darauf ausgerichtet gewesen, den Prozess zur Entwicklung von Lehrplänen zu organisieren, scheute sich die Landesregierung jetzt nicht mehr, bereits im ersten Arbeitspapier detaillierte Vorstellungen zum gewünschten Ergebnis zu äußern1666. Auch wurde die Debatte um die neue Findung der Unterrichtsstruktur neu beantwortet – die Fächer sollten erhalten bleiben, weitgehend den traditionellen Linien folgend1667, was nicht zuletzt durch die Einsetzung der einzelnen Fachgruppen präjudiziert wurde. Da diese Grundentscheidung aus pragmatischen Gesichtspunkten erfolgte, nämlich die Schulorganisation mitsamt der Ausbildung aller Lehrer nicht von heute auf morgen komplett umwälzen zu müssen und endlich die Reform voranzubringen, musste man dem wahrgenommenen Problem, dass dieser alte Fächerkanon zu stark zu willkürlich trennt, anderweitig Herr werden. Ihre Lösung wurde weitgehend auf die Ebene der Schule übertragen. Antizipiert wurde eine stärkere fächerübergreifende Zusammenarbeit, die Begründung von Lernrelevanz über »gesellschaftliche Anwendungssituationen« und soweit man es doch für möglich hielt, das Zu-
1665 HHStAW 1207/7, Presse- und Informationsabteilung der Staatskanzlei (Hrsg.), Hessen 10: Information Rahmenrichtlinien, Hessen-Information der Hessischen Landesregierung, Redaktion: Hans Pippert, Hartmut Holzapfel (Broschüre). 1666 Beispielsweise zur Sexualkunde: »In den Fachbereichen Gesellschaftslehre und Naturwissenschaften sind die Aufgabenbereiche Sexualerziehung / Aufklärung über Rauschmittel in die Fachgruppen-Vorüberlegungen einzubeziehen. In einer weiteren Arbeitsphase […] ist eine Koordination dieser Fachbereiche im Sinne einer entwickelnden Gesamtkonzeption Sexualerziehung und Aufklärung über Rauschmittel notwendig, um einen entsprechenden Einbau fachbereichsspezifischer Beiträge in die Fachrahmenrichtlinien zu gewährleisten«, HHStAW 504/3789, G II – 954/422, 2. Dezember 1970, Betr.: Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien, Anlg.: 1. Arbeitspapier ›Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien‹. Auch die Verkehrserziehung fand explizite Erwähnung. 1667 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien: »Die vorliegenden Rahmenrichtlinien halten weitgehend an der bisher bestehenden Fächerstruktur fest, obwohl diese Fächer und ihre Abgrenzung einen historischen Entwicklungsstand unserer Gesellschaft spiegeln.« Vgl. auch Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 492.
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sammenziehen einzelner Fächer zu Sachunterricht, Gesellschaftslehre und Polytechnik1668. Den Anspruch der Differenzierung, den man zuvor über eine neue Unterrichtsstruktur lösen wollte, verlagerte die Politik dann ebenfalls zunächst auf die Ebene der Schule, um ihn gleich auf der Prioritätenliste stark abzustufen. So wurde noch der Wunsch an die Schulen formuliert, dass »in jedem Fach oder Fachbereich Unterrichtsphasen in heterogenen Gruppen mit solchen wechseln, in denen der Stoff in nach Leistung, Eignung oder Interesse homogenen Gruppen vermittelt wird«1669. Konkreter wusste man das aber nicht zu fassen, und so blieb noch der Verweis, »es müsste zumindest begründet werden, warum in dem Plan Hinweise zur Differenzierung fehlen«. Es wurde schon in der Planungsphase antizipiert, dass eine den aufgestellten Maßstäben entsprechende Differenzierung nicht erfolgen werde: »Im Falle der Nichtübereinstimmung oder der fehlenden Operationalisierung müssen die Differenzierungsvorschläge gestrichen werden zugunsten einer Problembeschreibung […].«1670 In den Rahmenrichtlinien selbst war dann tatsächlich die Rede von der »Unmöglichkeit, derzeit handlungsanweisende Aussagen über die Differenzierung der Unterrichtsangebote, bezogen auf Schulform, soziale Lage der Schüler und kompensatorische Lernziele, zu machen«1671. Differenzierung sollte also von vornherein effektiv nicht stattfinden, solange sie nicht allen auf die Gesellschaft bezogenen emanzipatorischen, sprich integrativen Ansprüchen gerecht werde. Die entscheidende Maßnahme zur völligen Integration war die Horizontalisierung des Schulsystems. Das Hauptziel war es jetzt, neue Lehrpläne zu schaffen, die dieser äußeren Schulreform entsprächen. Dabei sollte ohne tiefere wissenschaftliche 1668 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien. 1669 Frommelt, ›Soziale Integration‹ – Anmerkungen zu einem Schlagwort (September 1970), S. 30f. In: Frommelt, Rutz, Gesamtschulen in Hessen: Information und Dokumentation, Gesammelte Arbeitspapiere von 1968 bis 1972, S. 27–32. 1670 HHStAW 1207/5, G II 4, Gesichtspunkte für die Weiterarbeit bzw. Überarbeitung der vorliegenden Materialien – orientiert an der Aufgabenbeschreibung vom Dezember 1970, 11. 10. 1971: »a) In jedem Plan sollte zu den Problemen der Differenzierung Stellung genommen werden, d. h. es müsste zumindest begründet werden, warum in dem Plan Hinweise zur Differenzierung fehlen. B) Die Kriterien für die Differenzierung sollten angegeben und erläutert werden, z. B. ›Intelligenz‹, ›Lerngeschwindigkeit‹, ›Abstraktionsfähigkeit‹. C) Überprüfung der Übereinstimmung der angegebenen Kriterien für Differenzierung und den konkreten Differenzierungsvorschlägen. Dazu gehören Hinweise für den Lehrer, mit denen er feststellen kann, welches Differenzierungskriterium für welche Schüler in der jeweiligen Situation zutrifft. Im Falle der Nichtübereinstimmung oder der fehlenden Operationalisierung müssen die Differenzierungsvorschläge gestrichen werden zugunsten einer Problembeschreibung, deren Aufforderungscharakter, an einer Lösung mitzuarbeiten, deutlich gemacht werden soll.« 1671 RRL GL 1972, S. 6.
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oder prozessuale Legitimierung ein inhaltlicher »Beitrag zur Innovation« geleistet, also die reformerischen Ideen der Landesregierung berücksichtigt werden1672. Dem Kultusminister war wichtig, dass die Ziele der Gesamtschulentwicklung durch die innere Reform gestützt würden. Ihm ging es also vorwiegend um strukturelle Fragen, weniger um inhaltliche1673. Der emanzipatorische Aspekt wurde in der Aufgabenstellung der Rahmenrichtlinien weitaus geringer als noch unter Klafki in der Aneignung der nötigen Qualifikationen zur Bewältigung zu erwartender Lebenssituationen gesehen. Das Ziel Emanzipation war nun die Bewusstmachung der Bedingtheit der eigenen Identität durch die Gesellschaft. Es ging um die Identität des Schülers als Teil sozialer Gruppen und die zwingende Abhängigkeit seiner Möglichkeiten von den gesellschaftlichen Verhältnissen, bezogen wiederum auf diese Entitäten. Eine Tischvorlage zum Gespräch des Gemischten Ausschusses mit dem Minister nannte dementsprechend die »Entwicklung von Strategien, die Einstellungsüberprüfung [und] Verhaltensänderung ermöglichen (Distanzierung von vorgegebenen Identifikationsmustern – produktive Bewältigung der dadurch ausgelösten Identitätskrisen – Problem des Aufbaus einer neuen ich-Identität – Problem der sozialen Identität des Schülers) usw.« als Aufgabe zur »Organisation ›emanzipatorischer Lernprozesse‹«1674. Zur Einordnung dieses Ziels sei an die Differenzierung zwischen individualrechtlich-emanzipativer und gesellschaftlich-emanzipativer Diskursformation erinnert. Während 1969 im Bericht der ›Vorbereitenden Kommission‹ unter Wolfgang Klafki Emanzipation noch verstanden wurde als »Fähigkeit des Schülers zur Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit sein Selbstverständnis und seine Handlungsfähigkeit in der jeweiligen historischen Situation zu fördern«1675, wurde diese Auffassung bereits Ende 1971 bestritten: »Emanzipation soll hier als ein nur im Rahmen gesellschaftlicher Veränderung zu vollziehender Prozess verstanden werden, den der Einzelne nur im Sinne einer Selbsttäuschung ›vollziehen‹ kann. Diese Ansicht 1672 HHStAW 504/3789, G II – 954/422, 2. Dezember 1970, Betr.: Entwicklung von stufenbezogenen Rahmenrichtlinien, Anlg.: 1. Arbeitspapier ›Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien‹. 1673 Vgl. HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien (Einleitung des Ministers). Auch im Landesentwicklungsplan wurden die Rahmenrichtlinien ausschließlich aus organisatorischer Perspektive betrachtet und nicht in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung, vgl. HHStAW 502/909, Hessen ’80. Landesentwicklungsplan: Durchführungsabschnitt für die Jahre 1971–1974, 17. 5. 1971, S. 65. 1674 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien. 1675 Klafki, Wolfgang (Hrsg.), Bericht der Vorbereitenden Kommission: zur Lehrplanrevision für die Sekundarstufe in Hessen, 1969, S. 36.
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widerspricht einem sehr gebräuchlichen Modell von Emanzipation als privater, individueller ›Selbstverwirklichung‹. […] Versteht man derart Emanzipation nur als Möglichkeit im Rahmen von gesellschaftlichen Veränderungen, die von vielen statt von einzelnen erst geschaffen werden müssen, so muss als konkrete Folge Erziehung zur Kooperativität ein vordringliches Ziel der Schule sein […].«1676 Hier wird nun nicht die Ermächtigung des Einzelnen, sondern die Anpassung der allgemeinen Rahmenbedingungen beabsichtigt. Nicht das subjektive Zurechtfinden in der Gesellschaft, sondern deren Neuorganisation über die absichtliche Veränderung des Einzelnen galt als Emanzipation. Auch beim Thema Kompensation vollzog sich diese Veränderung. Nicht mehr der Ausgleich von (an der sozialen Norm bemessenen) Bildungsdefiziten bei von Hause aus weniger geförderten Kindern – also insbesondere Land- und Arbeiterkindern – stand im Vordergrund, da dies ja die Akzeptanz der Bedingungen und sogar ihre Reproduktion bedeutet hätte. Ziel war jetzt die »Entwicklung von fachspezifischen Modellen kompensatorischer Erziehung, die nicht der Anpassung an bestehende Normen und Verhaltensformen einer Schicht gleichkommen (z. B. Mittelschichtsprache)«. Emanzipation, die als gesamtgesellschaftliche Emanzipation von den gewachsenen sozialen Bedingungen verstanden wurde, hatte Vorrang vor einer Kompensation, die dem Zurechtfinden des Einzelnen innerhalb dieser Bedingungen dienen würde1677. Die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre Nachdem die prozessuale Dimension und die Grundsätze bei der Erstellung der Rahmenrichtlinien dargestellt wurden, soll nun näher auf die inhaltliche Ebene eingegangen werden. Dazu wird in dieser Studie ausschließlich auf die Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre und ihre Entwicklung rekurriert, die nicht nur der bedeutendste Stein des Anstoßes der folgenden Debatten waren, sondern auch die meisten Ansatzpunkte für eine inhaltliche Analyse bieten. Ihr Ursprung datiert zurück ins Jahr 1969, zu dem bereits die Idee vorhanden war, die Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde unter dem Sammelbegriff der Gesellschaftslehre zusammenzufassen, um einer integrierten Didaktik näherzukommen. Die herausragende Stellung der Gesellschaftslehre1678 wurde gerade im Zusammenhang mit der Einsetzung der Fachgruppen zur Erarbeitung der Rahmenrichtlinien deutlich. Während die anderen Fächer an1676 Wengel, Engelbert, ›Chancengleichheit‹ und ›Emanzipation‹ – Zur Konkretisierung allgemeiner Ziele der Gesamtschule (Dezember 1971), S. 35; vgl. ebd. S. 33–39. 1677 HHStAW 1207/6, G II 4, Tischvorlage für die Sitzung des Gemischten Ausschusses am 17./ 18. Dezember in der Reinhardswaldschule Kassel, Betr.: Einleitung und Vorspann zu den Rahmenrichtlinien. 1678 Vgl. auch Schreiber, S. 505.
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gesichts des zeitlichen Zielhorizonts weitgehend im hergebrachten Kanon bearbeitet und lediglich »in der Endredaktion« in Fachbereichen ›koordiniert‹ werden sollten, wurde die Gesellschaftslehre von vornherein »als Fachbereich« bestehend aus »Lehrgangskonzeptionen für Sozialkunde, Geschichte, Erdkunde in einem theoretischen ›Lernziel‹-Zusammenhang entwickelt«1679. In der Gesellschaftslehre wurden demnach auch nicht nur die Inhalte der verschiedenen Fächer integriert, sondern sie wurden auf ein neues Gesamtes bezogen: die »Gesellschaft als der gemeinsame Bezugsrahmen der Einzelfächer«. Um diesen Rahmen abzustecken, wurde ein »eigenes gesellschaftspolitisches Selbstverständnis« erarbeitet – wohlgemerkt: gesellschaftspolitisch, nicht gesellschaftlich. Aus diesem Selbstverständnis ergaben sich dann die Grundlagen der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre: »allgemeine Lernziele«. Diese wurden bestimmt aus »Gesellschaftlichen Anforderungen – Politischen Entscheidungen – Forschungsstand der Fachwissenschaften«. Die Wissenschaft gar nicht mehr aufzuführen, wäre nicht möglich gewesen, sie offen hinter Gesellschaft und Politik zu setzen, kam angesichts der szientistischen Ursprünge der hessischen Curriculumentwicklung einem frappierenden Zeugnis einer völligen Verkehrung der vormaligen Prinzipien gleich. Im Ergebnis hieß dieses Selbstverständnis der Gesellschaftslehre, »zur Befähigung der Schüler für eine produktive Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen«1680 beizutragen. Auch hier muss noch einmal unterstrichen werden, in welchem Verhältnis Schüler und Gesellschaft zueinander stehen: Die Anforderungen an den Schüler sind sozial bestimmt, nicht individuell. An dieser Stelle ist auch nicht gemeint, dass der Schüler auf die externen Herausforderungen seines Lebens vorbereitet werden solle, sondern tatsächlich auf Anforderungen, die eine idealisierte Gesellschaft an ihn hat und die bestimmt werden könnten. Das wird neben der erwähnten Degradierung wissenschaftlicher Methodik vor allem ersichtlich, da die Lernziele nicht wie ehemals von solchen erwarteten Situationen, die ein Schüler zu bewältigen habe, abgeleitet wurden, sondern »auf Anwendungssituationen« bezogen wurden. Dieser Bezug wurde weit weg von den Ausgangsüberlegungen erst im »unterrichtspraktischen Teil des Rahmenplans« gesetzt. Damit spielte der Blick auf die Lebenssituationen zwar weiterhin eine sehr bedeutende Rolle, als »situationsanalytischer Ansatz« ließ sich diese Methode allerdings nicht mehr bezeichnen1681, da sich die Lerninhalte nicht analytisch aus der erwarteten Le1679 HHStAW 1207/5, Aufgabenbeschreibung für die Entwicklung von Rahmenrichtlinien (überarbeitete Version), 07. 12. 1970. Die Polytechnik war zunächst vorgesehen, in der überarbeiteten Fassung aber nur noch »als möglicher neuer Fachbereich in der Sekundarstufe I« erwähnt. 1680 HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971. 1681 Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 818f sieht im situationsanalytischen Ansatz eine
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benswirklichkeit ergaben, sondern sich leitend auf sie bezogen. In den Rahmenrichtlinien selbst wurde dann in »produktive Gestaltung gesellschaftlicher Realität«1682 umformuliert und das Ziel dieser Gestaltung auch genannt: eine »Verwirklichung der Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft«1683 – eine Demokratisierung etwa auch des Wirtschaftslebens lag hier nicht fern. Eine nähere Differenzierung zwischen den »gesellschaftlichen Anforderungen« und der »politischen Entscheidung« fand nicht statt, diese Aspekte bezogen sich wohl unmittelbar aufeinander. Ab 1969 war die Gesellschaftslehre strukturell das wichtigste (gleichwohl nicht exklusives) Mittel zur Herbeiführung gesamtgesellschaftlicher Veränderungen durch das Schulwesen: »Die Forderungen, die an den Fachbereich gestellt werden (Ziel: Selbstverwirklichung des Schülers; Lernerfolg: Änderung des Verhaltens), lassen sich nur dann erfüllen, wenn – ehe Unterrichtsvorhaben (Projekte, Lehrgänge) in Angriff genommen werden – ermittelt wird, ob und inwiefern das Thema Konflikte birgt, die für die Schüler relevant sind. Der Unterricht soll die Schüler befähigen, dem Anspruch der Fremdsteuerung zu begegnen und den Willen zur Selbststeuerung durchzusetzen.«1684 An Deutlichkeit mangelte es der Konzeption der Gesellschaftslehre also nicht. Die Operationalisierung des Lernziels Selbstbestimmung in einer zwingenden und aktiv formulierten »Änderung des Verhaltens« durch die Schule zu sehen, schien kein Widerspruch zu sein. Der Nachweis von Selbstbestimmung sollte darin liegen, dass die Schule das Verhalten des Schülers verändert hatte. Dieses Grundschema der Gesellschaftslehre entwickelte sich über die folgende Zeit. Etwa ein Jahr später wurde formuliert, eine »›Änderung des Sozialverhaltens‹, genauer: ›Änderung der Sozialverhaltenskompetenz‹, gilt heute – kaum noch bestritten – als allgemeines Lernziel des Gesellschaftslehreunterrichts. Eine Schule, die programmatisch sich zum Prinzip der ›Sozialintegration‹ bekennt, kommt nicht umhin, dieses Lernziel als für alle Fachbereiche verbindlich zu akzeptieren. Und nur wenn soziale Integration […] als gleichberechtigte Forderung neben den Bemühungen um Chancengleichheit anerkannt wird, wird Emanzipation oder Selbstbestimmung sich nicht nur als abstraktes, sondern als mit Inhalt gefülltes übergeordnetes Lernziel der Gesamtschule durchsetzen können.«1685 Die dialek-
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Konstante seit 1967. In der ursprünglichen Aufgabenbeschreibung war dieser auch noch enthalten, wurde in der Arbeit zumindest in der Fachkommission Gesellschaftslehre aber nicht weiter befolgt; vgl. ebd., S. 492. RRL GL 1972, S. 7. Ebd., S. 9. HHStAW 504/3798 Referatsgruppe Gesamtschulen beim Hessischen Kultusminister, Zur Konzeption des Fachbereichs Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen – Arbeitsgrundlage. In: Der Hessische Kultusminister, E IV – 1006/01 – Information Gesamtschule, Fachbereich: Unterricht, Unt. 1.7, November 1969, Anhang, S. 2. Frommelt, ›Soziale Integration‹ – Anmerkungen zu einem Schlagwort (September 1970).
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tische Logik dahinter, nämlich die Veränderung der Gesellschaft über die Veränderung des Individuums zum Ziele wiederum der individuellen Emanzipation, wurde zur Erörterung der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation bereits ausführlich dargestellt. In den veröffentlichten Rahmenrichtlinien sollten die Schüler dann explizit durch den Unterricht »erfahren, dass die Bedingungen für Rollenkonflikte nicht vom einzelnen (›man muss nur wollen‹) zu verändern sind, sondern, dass eine Verbesserung von als unzumutbar und leidvoll erfahrenen Konflikten nur möglich ist, wenn Aktionsformen gefunden werden, die diese Vereinzelung aufheben können. Andernfalls führt die Erfahrung der Unterlegenheit in Rollenkonflikten zur Resignation und politischer Apathie mit undemokratischen Verhaltensformen wie: Projektion eigenen Versagens auf Fremdgruppen, Minderheiten, Abhängige und Identifikation mit Kollektiven und Führerfiguren.«1686 Was so in der Summe zunächst als völlige Unterordnung des Einzelnen unter gesellschaftliche Ziele aussieht, wird wiederum relativiert durch die auf die Selbstbestimmung des Individuums zielende Seite der der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation eigenen Dialektik. Es existierte die Vorstellung der ideal-demokratischen Gesellschaft, die dann erst ohne Einschränkungen bestünde, wenn die Individuen sich freiwillig dieser Vorstellung entsprechend verhielten; und die Schule, insbesondere die Gesellschaftslehre, war Mittel zur Verwirklichung dieses gesellschaftlichen Zustands. Die Befassung mit der Lebenswelt der einzelnen Schüler stand dadurch sehr stark im Fokus der Rahmenrichtlinien; nicht, wie in der szientistischen Konzeption vorgesehen, als subjektive Ausgangslage, sondern als eigentliches Objekt des Unterrichts: »Dabei wird es auch darum gehen müssen, das, was subjektiv als die eigenen Interessen und Bedürfnisse erfahren wird, zu problematisieren. Dies schließt allerdings ein, dass sich die Qualifizierung für die Einsicht in die Manipulierbarkeit von Einzelinteressen mit der Erörterung von Möglichkeiten zur Verhinderung solcher Manipulation verbindet.«1687 Entsprechende Lernziele waren beispielsweise das »Erkennen, dass individuelles Verhalten durch Rollenerwartungen geprägt wird […,] lernen, dass Selbst- und Mitbestimmung als Sozialisationsziele sowohl der Sicherung von Herrschaft als auch ihrem Abbau gedient haben und dienen […,] lernen, dass Sozialisationsformen klassen/schichten/gruppenspezifisch sind […] lernen, die Grenzen und Möglichkeiten einer nachträglichen Korrektur von Sozialisationsergebnissen einzuschätzen«1688. Die dort gemeinte, korrekturbedürftige Sozialisation schloss explizit auch die Erziehung im Elternhaus ein. Die eigene Haltung, In: Frommelt, Rutz, Gesamtschulen in Hessen: Information und Dokumentation, Gesammelte Arbeitspapiere von 1968 bis 1972, S. 32. 1686 RRL GL 1972, S. 53. 1687 Ebd., S. 50f. 1688 Ebd., S. 51f.
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die individuellen Werte der Schüler sollten nicht nur in Frage gestellt, sondern als Ergebnis des äußeren Einflusses einer Gesellschaft, die einem Abgleich mit der im Grundgesetz geforderten Wirklichkeit nicht standhalte, als manipulativ kritisiert und durch die Schule korrigiert werden1689. Schüler sollten lernen, »Versagungserlebnisse, persönliche Ängste und Minderwertigkeitsgefühle […] nicht als Ausdruck individueller Verhaltensformen, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge«1690 zu deuten. Sie sollten begreifen, dass die Einstellungen, Handlungsmaximen und Motivationen jedes Einzelnen nicht selbst gewählt, sondern Funktion des sie jeweils umgebenden Systems seien – auch ihre eigenen. Wie frappierend puristisch hier die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption in einem Großteil ihrer Elemente durchschlug, wird auch an der Idee sichtbar, dass objektiv erkennbar sei, ob jemand gerade selbst- oder fremdbestimmt agiere: Zur Ableitung der Inhalte aus dem obersten Lernziel sollte »aufgezeigt werden – Welches Verhalten in einer bestimmten Situation ein Kennzeichen für Selbstund Mitbestimmung ist – Welche Widerstände sich in diesem Fall ihrer Verwirklichung entgegenstellen – Unter welchen Bedingungen und für wen diese Widerstände aufhebbar sind – Welchen Einfluss auf das Maß an Selbst- und Mitbestimmung jeweils die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht/Interessengruppe hat.«1691 Gerade der letzte Punkt der Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven als Grundannahme legt den Rahmenrichtlinien eine dezidierte Weltsicht und Werteordnung zugrunde. Auch die aus den Vorstellungen Gieseckes1692 entnommene Zielsetzung, dass über das Erkennen der »Grundstrukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit« sowie der Stellungnahme dazu hinaus der Unterricht »auch für strategisches und taktisches Handeln qualifizieren« müsse, lief darauf hinaus1693. Zur gesellschaftlich-emanzipativen Konsequenz der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre gehörte zuletzt auch die Einbindung der Schüler in die Kritik der schulischen Strukturen, der Rahmenrichtlinien, des Unterrichts – »Bewusstes Lernen« als Unterrichtsprinzip setzte zunächst voraus, dass »die Schüler lernen zu prüfen, warum und mit welchen Methoden etwas Gegenstand 1689 Vgl. ebd., S. 47–55. 1690 Ebd., S. 53. 1691 HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971; im selben Wortlaut in den Veröffentlichten RRL GL 1972, S. 7. 1692 Vgl. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, S. 56ff. 1693 HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971; vgl. RRL GL 1972, S. 7–11.
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von Unterricht sein soll«, und dies in Mitbestimmungsprozessen reflektierten und beeinflussten1694. Die der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation entstammenden Begründungszusammenhänge lassen sich in den über 300 Seiten starken Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre von 1972 wohl in jedem Kapitel, wenn nicht auf jeder Seite einmal stärker, einmal etwas schwächer belegen. Neben den für diese Studie vorwiegend herangezogenen strukturellen Begründungszusammenhängen finden sich auch zahlreiche konkrete materielle Aussagen wie das Lernziel, zu »lernen, gesellschaftlichen Fortschritt daran zu messen, inwieweit soziale Ungleichheit durch die Veränderung von Produktions- und Verteilungsformen wirtschaftlicher Güter vermindert wurde bzw. vermindert wird.«1695 Um die inhaltliche Seite noch etwas zu vertiefen, ohne allzu redundant zu werden, sollen noch kurze exemplarische Blicke auf die Aspekte der einzelnen als Arbeitsschwerpunkte in die Gesellschaftslehre eingegangenen Fächer – Sozialkunde, Geschichte und Geographie – gerichtet werden. Der »Arbeitsschwerpunkt Geschichte« grenzte sich hart vom klassischen Verständnis historischer Bildung ab. Die »Auseinandersetzung mit ›Vergangenem‹« fand ihre ausschließliche Legitimation in ihrem nachweislichen Beitrag »zu einer reflektierten Einschätzung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse«1696 – die in die Erkenntnis von deren Veränderbarkeit münden sollte. Hinsichtlich der Veränderbarkeit von Gesellschaften sollten die Zusammenhänge zwischen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen analysiert werden. Dazu stehen stets die Interessen von »Gruppen/Schichten/Klassen« im Vordergrund – wem nützte, wem schadete eine Entwicklung und wer setzte sich wofür ein? Gefragt wird auch, fast suggestiv, nach den Folgen des Scheiterns der »bürgerlichen Revolution in Preußen/Deutschland«, den Folgen davon, »dass die nach 1945 zunächst von fast allen politischen Kräften geforderte Demokratisierung der Wirtschaft unterblieb«, oder ganz allgemein: »Welche Folgen hat es, wenn gesellschaftliche mögliche Veränderungen unterbleiben?«1697 Damit sollte »unmittelbar auf die Bedingungen« abgezielt werden1698, hieß es und die Autoren mögen in diesen Formulierungen tatsächlich keine Einseitigkeit gesehen haben, wie ihre kritische Thematisierung durch Teilnehmer Grundsatztagung zum historischen Aspekt der Gesellschaftslehre, beziehungsweise die Erklärung dieser Kritik nahelegen1699. 1694 1695 1696 1697
RRL GL 1972, S. 10f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 18f. HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971. 1698 Ebd. 1699 HHStAW 504/9238b, G II 4 – Herrn Minister, Herrn Staatssekretär (unmittelbar), Betr.:
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Hauptanliegen des Arbeitsschwerpunkts Geschichte gemäß gesellschaftlichemanzipativer Konzeption war, die Unterwerfung des Einzelnen unter die herrschenden Bedingungen als Grundprinzip individueller Handlungsoptionen zu vermitteln. Einerseits führe die Beschäftigung mit einzelnen »großen Männern« der Geschichte zwar zu »Resignation vor politischer Beteiligung« und einer »Verstärkung autoritärer Charakterstrukturen«1700 ; es dürfe aber auch keinesfalls ein utopisches Gegenbild gezeichnet werden, das zeige, »dass die sogenannten großen Männer den Verlauf der historischen Entwicklung nicht beeinflusst haben«1701: »Aufgabe von Unterricht kann es nicht sein, an historischen Beispielen zu demonstrieren, dass die Durchsetzung eigener Interessen – sind sie einmal erkannt – und die Mitbestimmung in verschiedenen sozialen Bereichen ohne weiteres möglich sei und nur vom persönlichen Wollen abhänge. Dies würde zu einer verhängnisvollen Fehleinschätzung des individuellen Handlungsspielraums in der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit führen können.« Das Lernziel lautete folglich, zu der Einsicht zu gelangen, »dass individuelle Absichten oder gar Anlagen neben der Zugehörigkeit zu Gruppen/ Schichten/Klassen eine sekundäre Rolle (wenn überhaupt) spielen. Von hier aus ließen sich Voraussetzungen für die Fähigkeit strategisch zu handeln ableiten (Solidarisierung).«1702 Der sozialkundliche Arbeitsbereich bezog sich insbesondere darauf, »Einstellungsmuster in ihrer gesellschaftlichen Funktion bewusstzumachen«1703, also wiederum die Haltung des Einzelnen alleine auf die sozialen Bedingungen zurückzuführen. Diese zu analysieren, umfasste die konkrete Umwelt der einzelnen Schüler, neben der Schule selbst also auch soziales Umfeld und Familie. Die Verfasser waren sich durchaus bewusst, dass insbesondere die Behandlung des Elternhauses in der Schule zu »notwendig ausgelösten Konflikten« führen würde, die aber »rational aufgearbeitet werden können«. Dies sollte dadurch gewährleistet werden, dass der Lehrer die Eltern »über die die Intentionen seines Unterrichts« informiere1704. Im geographischen Schwerpunkt der Rahmenrichtlinien wird »Raum als
1700 1701 1702 1703 1704
Gesellschaftslehre, hier: Grundsatztagung: Vorläufige Rahmenrichtlinien für den Lernbereich Gesellschaftslehre – historischer Aspekt vom 21.–23.2.72 in der Reinhardswaldschule, Ergebnisprotokoll. HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971. RRL GL 1972, S. 25. HHStAW 1207/6, Revision der hessischen Bildungspläne, Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, Zwischenbericht, 11. 10. 1971. RRL GL 1972, S. 15. Ebd., S. 17. Weiter : »Fehlt diese Aufklärung, kann der Unterricht die Schüler in eine Situation bringen, die sie entweder unzumutbaren Konflikten aussetzt oder aber dazu bringt, sich resignierend den jeweils in der Schule oder im Elternhaus an sie gestellten Anforderungen anzupassen.«
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Verfügungsraum sozialer Gruppen« wahrgenommen, wodurch der Fokus maßgeblich auf die Bedeutung von Politik und politischer Planung gelenkt wurde. Die Formulierungen sind selbst auf der materiellen Ebene überaus selbstgewiss. Gelernt werden sollte, »dass die Entwicklung der Weltbevölkerung und die Sicherung ihrer Ernährung Probleme aufwirft, deren Bewältigung globale Strategien erfordert«, »dass die aus einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft erwachsenden Probleme Kooperation und Kommunikation notwendig machen« oder gar »dass Krisenherde der Welt eine Folge wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Spannungen sind«1705. Auf inhaltlicher Ebene wird hier insbesondere der Umweltschutz zu einem sehr präsenten Element1706. Die im Vergleich stärkere inhaltliche Konkretisierung im Arbeitsbereich Geographie sticht genauso hervor wie der Fokus auf globale politische Lösungen für Probleme in den Themen Umwelt, Globalisierung wie auch der Wirtschaft. Die Geographie war, anders als die für die Gesellschaftslehre treibende Diskussion um die Soziologie und die eher kontroverse Debatte um die Rolle der Geschichtswissenschaft kein für den Diskursrahmen fundamentales Element gewesen. Ihre Integration in die Gesellschaftslehre fand weniger auf einer strukturellen, sondern stärker auf der materiellen Ebene statt. Vielleicht konnte sie dadurch flexibler aktuelle Diskurse integrieren und nahm hier bereits erste Zeichen einer Trendwende auf, die sich ab 1972 vollziehen sollte, weg von den großen sozialen Theorien, weg von der Aufarbeitung des Vergangenen und einer gesamtgesellschaftlichen Strukturdebatte hin zu den ganz konkreten Krisenthemen, die die siebziger Jahre entscheidend prägen sollten. Der Weg führte – nun weniger auf das wirtschaftliche Wachstum vor Ort als auf die Stabilisierung der weltwirtschaftlichen Lage, die Sicherheitslage und die wahrgenommene Situation von Umwelt und Ressourcen gerichtet – zurück in eine stärkere Ausrichtung auf die Bedarfskonzeption. Für die Bedarfskonzeption als prägende Diskursformation auch der hessischen Bildungspolitik in guten Teilen der sechziger Jahre ist zu attestieren, dass sie ab 1968 als begründende Diskursformation für die hessische Bildungspolitik immer bedeutungsloser geworden war und bei der Erstellung der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre überhaupt keine Rolle spielte. Die ökonomische Verwertbarkeit des Gelernten wird an keiner Stelle der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre angesprochen, weder für den Einzelnen noch für die Ebene der gesamten Volkswirtschaft1707. Dass die Curricula keine Thematisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge vornahmen, fiel auch den Kritikern auf1708. 1705 1706 1707 1708
Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Knewitz, Werte im Vergleich, S. 42. Vgl. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Lernfeld Wirtschaft, S. 57.
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Die individualrechtlich-emanzipative Konzeption ließen die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre gemeinsam mit der szientistischen hinter sich, wie bereits dargelegt wurde. Dies vollzog sich auf der operativen Ebene innerhalb der Administration, während sich der politisch verantwortliche Kultusminister Ludwig von Friedeburg selbst eher dieses Diskurses bediente, wie bereits dargelegt wurde1709. So sah von Friedeburg sich auch bald einer Debatte ausgesetzt, die er nicht erwartet hatte, wenngleich er und sein Staatssekretär Moos eigentlich bereits Bedenken geäußert hatten, die in die gleiche Richtung gingen1710. Sein Interesse bei Erstellung der Richtlinien hatte vor allem darin gelegen, einen ergebnisorientierten Prozess zu leiten, während dessen ihm das inhaltliche Konfliktpotential wohl nicht rechtzeitig gegenwärtig wurde. Die Not des Ministeriums, die ersten Rahmenrichtlinien noch für das Schuljahr 1973/74 vorzulegen, die Verteidigungslinien der Vorläufigkeit und der angenommenen Verbesserung zu den alten Lehrplänen sowie letztlich auch der im Detail in der Kürze der Zeit vonseiten der an oberster Stelle Verantwortlichen schwer überschaubare und auf Konfliktpotential zu prüfende Umfang führten dazu, dass die operativ Zuständigen ohne effektiven Einspruch von oben ihre – in den Begrifflichkeiten und vielen Zielstellungen ja gar nicht so sehr abweichenden – Vorstellungen durchsetzen konnten. Ingrid Haller bezeugte später persönlich: »Selbst Kultusminister von Friedeburg distanzierte sich parteiintern von den Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre. Die Rahmenrichtlinien-Entwürfe seien ohne seine Kenntnis von Vertretern der Ministerialbürokratie in die Öffentlichkeit gebracht worden, sie wären von ihm in dieser Form nicht gebilligt worden.«1711 Seine Befassung mit dem finalen Papier – ebenso wie die seines Staatssekretärs Moos – war offenbar tatsächlich wenig intensiv1712. Durch die starke Homogenisierung des internen Diskurses, der von einer kleinen Zahl gleichgesinnter Kollegen geführt wurde, muss unter den Autoren der Rahmenrichtlinien wie auch den politisch Verantwortlichen bis zuletzt der Eindruck vorgeherrscht haben, dass die als Rahmenrichtlinien vorgelegten
1709 1710 1711 1712
Tatsächlich ist in der ersten Konzeption von Gesellschaftslehre ein Bereich Wirtschaft explizit aufgeführt, allerdings mit folgender Zielsetzung: »1. Vermittlung von wirtschaftlichem Orientierungswissen, damit der Schüler seine Position im Beziehungsgeflecht ökonomischer Faktoren erkennen, kritisch überprüfen und entsprechend handeln kann. 2. Vermittlung von Einsichten, dass Wirtschaft, Gesellschaft und Politik interdependent sind, dass es zu Konfliktsituationen kommen muss und dass immer wieder Kompromisse zu schließen sind. 3. Erfahren und Einüben von Grundtechniken, die eine Teilnahme am Wirtschaftsleben ermöglichen.« HHStAW 807/34 (2), Projektunterricht im Fachbereich Gesellschaftslehre des 7. Schuljahres (Juni 1969). In: Der Hessische Kultusminister, Information Gesamtschule. Gesellschaftslehre, Wiesbaden 1970. S. o. S. 279f. Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 545f. Haller, Schulplanung als Surrogat für eine neue Schulpraxis, S. 313. Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 545f.
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neuen Lehrpläne nicht zu unüberbrückbaren Differenzen führen dürften; schließlich waren sie moderner als das bekannte und gleichzeitig nur »vorläufig« und »offen zur Kritik«1713. Wie mit der Veröffentlichung der Rahmenrichtlinien angekündigt, ging es bald in die Phase der Revision. Eine strukturierte Integration der massiv aufbrandenden öffentlichen Diskussion fand nicht mehr statt, war aber auch angesichts ihrer Dimension kaum vorstellbar. Das partizipative Moment reduzierte sich nun auf die Berücksichtigung eingehender Stellungnahmen (Einsendeschluss 13. 3. 1973) »als Anregungen zur möglichen Veränderung und Weiterentwicklung der RR«. Zur Auswertung dieser Stellungnahmen sollten die Fachgruppen eine »etwa einwöchige« Tagung anberaumen1714. Explizit wurde festgehalten: »Stellungnahmen aus den Hochschulen sollen keine Sonderbehandlung erfahren.«1715 Im Juli 1973 lag der erste Entwurf des Papiers »Revision der hessischen Bildungspläne Gesellschaftslehre, Sekundarstufe I« vor1716. Eine überarbeitete Fassung wurde noch im selben Jahr herausgegeben, die zwar in einigen Bereichen Änderungen enthielt, aber in ihren Grundzügen gleich blieb und angesichts der mittlerweile verhärteten Fronten nicht die erhoffte Wirkung eines positiven Signals von Transparenz und Integration entfaltete1717. Konflikte? – Der Umgang mit Kritik Der Umgang mit Kritik hatte sich über die Zeit deutlich verändert. War das Ansinnen Hamm-Brüchers noch gewesen, durch integrative Prozesse vorweg Kritik zu begegnen und Reformen auf einen breiten Konsens zu stellen, der durch Partizipation und Transparenz herzustellen sei, war die Strategie nun eine andere. Die Rahmenrichtlinien waren produziert, aber die weitgehend homogenen Fachgruppen repräsentierten nicht die Gesellschaft. Der Konflikt war den Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre inhärent: zum einen, weil in ihnen die Überzeugung enthalten war, dass Konflikte eben nicht vermieden werden sollten, zum anderen weil das Ziel der Rahmenrichtlinien war, tradierte gesellschaftliche Realitäten nicht zu perpetuieren, sondern über die Schule die Gesellschaft zu verändern. Das ging gleichermaßen nur, wenn man sich selbst ausgerechnet als Elite oder zumindest Avantgarde verstand, wenngleich das nie 1713 HHStAW 1207/7, Presse- und Informationsabteilung der Staatskanzlei (Hrsg.), Hessen 10: Information Rahmenrichtlinien, Hessen-Information der Hessischen Landesregierung, Redaktion: Hans Pippert, Hartmut Holzapfel (Broschüre). 1714 HHStAW 1207/6, IV B – 957/5501, Protokoll – Sitzung der Federführenden der Fachgruppen Rahmenrichtlinien – Primarstufe und Sekundarstufe I, HKM, 15. 09. 1972. 1715 HHStAW 1207/6, Protokoll – Sitzung der Federführenden der Fachgruppen Rahmenrichtlinien – Primarstufe und Sekundarstufe I, 15. 09. 1972. 1716 HHStAW 504/9240: Manuskript: ›Revision der hessischen Bildungspläne Gesellschaftslehre‹, Sekundarstufe I, Juli 1973. 1717 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 824.
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so ausgesprochen wurde. Die erwartete Kritik, so stand schon vorher fest, könne nur eine systemisch bedingte, unvermeidliche Abwehrreaktion sein. Kritik sollte ja nicht mehr integriert, sondern die als fehlgeleitet wahrgenommenen Kritiker aufgeklärt und ihr Bewusstseinsstand verändert werden1718. Einer der wichtigsten Kritikpunkte auf struktureller Ebene betraf die Nutzbarmachung moderner didaktischer Methoden, also vor allem programmierter Lernprozesse, die sich zunächst neben guten Teilen der verwandten Begrifflichkeiten als einziges Residuum der szientistischen Diskursformation noch vorfand. Die Lernziele entstammten keiner in sich geschlossenen, aus der Schule selbst hervorgehenden Herleitung, wie es in der Curriculumtheorie vorgesehen war. Eine solche stete Rückkopplung wäre aber der Curriculumtheorie nach nötig gewesen, um eine sehr rigide Kontrolle ihrer Umsetzung zu erreichen und so erst die Anwendung didaktischer Methodik aus der szientistischen Konzeption zu rechtfertigen, da diese sonst leicht zur effektiven Durchsetzung weltanschaulicher Vorstellungen missbraucht werden könnten1719. Entsprechende Kritik wurde von Anfang an geäußert und entsprechende Maßnahmen gefordert, dem entgegenzuwirken. Friedrich Jahr warnte vor »der Gefahr eines manipulierenden Unterrichts. Die curriculare Konzeption bringt diese Gefahr mit Notwendigkeit mit sich. Die Ziele sind vorgegeben: der Stoff ist lediglich Mittel zum Zweck; er dient nur dazu, das vorgesehene Ziel zu realisieren. Es kommt also zu keiner unbefangenen Begegnung des Schülers mit dem Gegenstand.« Am Beispiel des prinzipiell befürworteten Ziels, Geschichte zum Verständnis der Gegenwart heranzuziehen, interpretierte Jahr die gewählten Formulierungen, die dem Lehrer ein Insistieren auf den Zielen u. Ä. vorschreiben, so: »Der Schüler muss Scheuklappen aufgesetzt bekommen, damit er nicht mehr nach rechts und links schauen kann, sondern nur geradeaus auf das vom Lehrer gegebene Ziel. Es kann zu keiner ›Begegnung‹ mit Geschichte kommen, zu keiner vom Lehrer nicht intendierten Entdeckung einer Wahrheit oder Entstehung eines Irrtums, der sich bekanntlich manchmal auch als fruchtbar erweist. Die Geschichte ist nur noch ein 1718 Vgl. etwa HHStAW 504/4378, E IV 1, Zum mittelfristigen Planungssystem für Gesamtschulen in Hessen, gez. Rommel, 1. 12. 1969, mit Bezug auf das »Lehrerbewusstsein«; ebenfalls Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 21. Vgl. auch Fackinger, Bedingungen der Realisierung von Bildungsplänen, S. 111f. Mit Bezug auf den Schüler etwa bei HHStAW 1207/4, Rauschenberger, Papier über den Zusammenhang von: Konflikten, Konfliktanalysen, Lernzielen zur Konfliktlösung und entsprechenden Unterrichtsprozessen, 11. 3. 1970, S. 3: »Kurzfristig ist nur eine subjektive Befreiung aus unmittelbar gegebenem Zwang möglich; langfristig jedoch wird durch solche Arbeit eine Bewusstseinsänderung erzielt.« 1719 Vgl. Nicklas, Probleme der Curriculum-Entwicklung, S. 20: »Die mit operationalisierten Lernzielsequenzen arbeitende Lehrpläne sind in noch höherem Maße dem Verdacht repressiver Macht ausgesetzt als die ›pädagogische Trivialliteratur‹ der traditionellen Lehrpläne, weil sie in der Tat zu höchst effektiven, wissenschaftlich kontrollierten Instrumenten einer autoritären Leistungsdressur werden können.«
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Arsenal, aus dem man sich bedient, um eine bestimmte Position zu errichten oder zu verteidigen. Was soll man unter dem Begriff ›Emanzipation‹ verstehen, wenn nicht gerade das? Wie vereinbart sich eine solche Tendenz mit dem Ziel einer Erziehung zur Emanzipation? Soll Emanzipation durch Manipulation erreicht werden, etwa durch den dialektischen Umschlag von der Quantität in die Qualität?«1720 Auf den Vorwurf reagierte Karl Ehrhardt mit der Bemerkung, ihm sei »unverständlich, wie Herr Jahr, den ich als Pädagogen außerordentlich schätze, so naiv und uninformiert argumentieren kann. Offenbar hat er die Diskussion um die Didaktik der politischen Bildung seit vielen Jahren aus dem Blick verloren.«1721 Auf eine inhaltliche Positionierung ließ er sich nicht ein. Friedrich Jahr verließ bald darauf die Fachgruppe Gesellschaftslehre1722. Dieses von gegenseitigem Unverständnis geprägte Verhältnis zwischen Kritik und der Reaktion darauf ist symptomatisch. Die Verfasser und Herausgeber der Rahmenrichtlinien stützen ihre Argumentation auf die Basis soziologischer Theorien, deren Kenntnis auch aus ihrer Sicht offenkundig notwendig für die Einsicht in die Rahmenrichtlinien war. Dass diese Basis nicht jedem Leser oder Anwender zur Verfügung gestellt werden könnte, war ihnen gleichfalls bereits klar : »Die schriftliche Fassung der Rahmenrichtlinien wird allenfalls einen Bruchteil der Überlegungen enthalten können, die der Entstehung dieser Richtlinien zugrunde liegen.«1723 Dass die Kritik von außen, ob in dieser Art uninformiert oder nicht, die Kritik einer noch vergleichsweise involvierten Person also übertreffen müsste, hätte an dieser Stelle zumindest absehbar sein müssen. Dass dies nicht erkannt wurde und wie mit der – prinzipiell eigentlich wohlgesonnenen – kritischen Stimme Jahrs umgegangen wurde, zeigt weiter, wie geschlossen der interne Diskurs mittlerweile war. Gleichzeitig wurden hier schon die Hürden für akzeptable Kritik an den Rahmenrichtlinien extrem hoch gelegt: Nicht nur der Gesamtzusammenhang der recht umfassenden Bildungspläne selbst musste den Kritikern bekannt sein und in die Kritik einbezogen werden, sondern auch die weit darüber hinausreichende Diskussion. Obwohl also derlei Kritik immer wieder den handelnden Personen begegnet war, überraschte sie nach Veröffentlichung der Rahmenrichtlinien die Härte der öffentlichen Angriffe, der sie ja auch insbesondere durch das Konzept der 1720 HHStAW 1207/6, Jahr an Kultusministerium (z.H. Rutz), Betr.: Bildungsplankommission Gesellschaftslehre Sekundarstufe I, 26. 04. 1971. 1721 HHStAW 1207/6, Ehrhardt (HILF) an Frommelt, Betr.: Der Hessische Kultusminister E IV 2-1050/10 v. 12.05.71, 21. 05. 1971. 1722 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 501. 1723 HHStAW 1207/6, G II, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Gemischen Ausschusses am 14. u. 15. 10. 1971 im HILF, Reinhardswaldschule, Anhang: Zu den Realisierungsbedingungen von Lehrplanrevision auf der Grundlage der Rahmenrichtlinien – Arbeitspapier für den Gemischten Ausschuss (handschriftl.: Ivo – Wolf).
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Vorläufigkeit zu entgehen gedacht hatten. »Die Resonanz, die diese Pläne finden, stimmt bedenklich: Auch diese ausdrücklich als pragmatischer Zwischenschritt gekennzeichneten Rahmenrichtlinien erreichen offensichtlich die Lehrer, Eltern und Schüler nur schwer oder gar nicht. Selbst besonnene und sonst kritische Lehrer greifen zunächst die Schlagworte einer ins politische Spannungsfeld geratenen Debatte auf, sprechen von Überforderung der Schüler, soziologischer Überfremdung der Lehrplansprache und bezogen auf das Fach Deutsch und den Lernbereich Gesellschaftslehre von sozialistischer Indoktrination oder Einseitigkeit.«1724 Eines der in der Öffentlichkeit meistdiskutierten Themen war der Umgang mit dem Thema Familie in den Rahmenrichtlinien, das zunächst noch innerhalb des Ministeriums mit den bereits beschriebenen Methoden abgetan, der Kritiker fast schon abgestraft wurde1725, nur um über die Öffentlichkeit dann umso stärker wiederzukommen. Der Ministeriumsmitarbeiter Heß hielt sich »für verpflichtet, folgende Bedenken anzumelden«, und bemerkte zum Heft Familie der Unterrichtsmaterialien für Gesellschaftslehre in der Sekundarstufe I, es müsse »den Eindruck erwecken, dass die deutsche Familie durchweg nicht in Ordnung ist und die Kinder in der Bundesrepublik allgemein in einer unerfreulichen Situation leben. So ist es aber doch nicht. Sicher ist es richtig, dass in unserem Volk nicht alles 100 %ig in Ordnung ist; dies gilt auch für die Familie oder die Stellung des Kindes in unserer Gesellschaft. Genauso richtig ist aber, dass vieles in Ordnung ist. Diese Seite kommt jedoch in den Unterrichtsmaterialien so gut wie nicht zum Tragen. Es wird kaum einmal etwas positiv dargestellt und gewertet.« Auch die neue Absicht hinter der Rolle des Geschichtsunterrichts erschloss sich dem Verfasser offenbar nicht: »Was sollen die Quellenangaben zur Kinderarbeit in der Mitte des vorigen Jahrhunderts? Diese wiederholten Hinweise auf unerfreuliche Auswüchse des frühkapitalistischen Zeitalters haben doch für die heutige Zeit keinerlei Aussagewert, es sei denn, man will bei den noch unkritischen Schülern den Eindruck erwecken, so schlimm ist der Kapitalismus, also muss man zu einer anderen Gesellschaftsordnung, zum Sozialismus übergehen.« Nicht nur im politischen System, auch bezogen auf die Parteien wähnte er eine deutliche poli1724 Haller, Wolf, Vorbemerkung in: Curriculum Konkret 1/73, S. 4–6. Ein oft verwendetes Beispiel ist die Diskussion um die Hochsprache. 1725 HHStAW 1207/2, HHStAW 1207/2, Ehrhardt, handschriftlicher Vermerk auf: IV B 4–957/ 5630–91, 25. April 1973, Herrn Staatssekretär, Betr.: Unterrichtsmaterialien Gesellschaftslehre, Heft 2 Familie, Bezug: Stellungnahme von III B an Herrn Staatssekretär vom, gez. Haller, 21. 3. 1973: »Das Verfahren von Herrn Heß ohne Information von II B Herrn StS anzuschreiben, soll sicherlich die Gewichtigkeit seiner Bedenken unterstreichen. Ich […] empfehle Herrn Heß darauf hinzuweisen, dass es zwar weniger dramatisch aber sicherlich sachdienlicher gewesen wäre, wenn er ein Gespräch mit IV B gesucht hätte. Ehrh. 25/4«.
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tische Option in den Materialien: »Außerdem wird durch die Aufnahme dieses Auszugs aus der Wahlbroschüre der SPD, Oktober 1972, bei den Schülern der Eindruck erweckt: Der Erfolg der Regierung Brandt sei eine feststehende Tatsache und könne nicht angezweifelt werden. Dass es sich allenfalls um den Erfolg der sozialliberalen Koalition handelt, wird nicht gesagt. Es wird auch nicht gesagt, dass man zu diesem Thema durchaus verschiedener Meinung sein kann. Ich vermisse jedenfalls zu diesem Punkt eine Aussage der Opposition. Es fehlt also an der Ausgeglichenheit der Aussage. […] Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autoren dieser Materialsammlung ganz bewusst für eine politische Richtung Partei ergreifen und versuchen, die Schüler in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen.«1726 Diese Art der Kritik – insbesondere zum Thema Familie – verdeutlicht, dass der Kritiker außerhalb des gesellschaftlich-emanzipatorischen Diskurses stand. Die dortige Betrachtung der Familie ging eben tatsächlich davon aus, dass die tradierte Familie ein Problem für die Gesellschaft sei. Was Herrn Heß selbstverständlich schien, lief dem Selbstverständnis dieses Diskurses tatsächlich zuwider. Die Stellungnahme Ingrid Hallers darauf folgte mit erkennbarem Unverständnis dem gleichen Muster wie bereits die Stellungnahme Ehrhardts zur Kritik Jahrs. Dem Kritiker wird darin Unkenntnis vorgeworfen. »Zu einer solchen Feststellung kann m. E. nur kommen, wer die didaktische Strukturierung der Unterrichtsmaterialien […] lediglich als Privatmeinung der Autoren betrachtet und übersieht, dass hier die Aufarbeitung des derzeitigen Standes zur Didaktik der politischen Bildung zugrunde liegt […].«1727 Durch die Unterrichtsmaterialien sollte »die Bereitschaft geweckt werden, später eine Familiensituation zu schaffen, die den als notwendig und wünschbar erkannten Rahmen für die Verwirklichung einer verantwortungsbewussten Erziehung herstellt.«1728 Das von der Kommunikationsunfähigkeit zwischen verschiedenen Diskursen geprägte Muster zog sich also fort. Kritik wurde nicht inhaltlich aufgefasst, als Darlegung einer anderen Grundhaltung, sondern war für die Verantwortlichen 1726 HHStAW 1207/2 III B – 820/110–33, Herrn Staatssekretär, Betr. Unterrichtsmaterialien für Gesellschaftslehre 7./8. Jahrgangsstufe (Heft 2/Familie), gez. Hess, 21. März 1973. 1727 HHStAW 1207/2, IV B 4–957/5630–91, Herrn Staatssekretär, Betr.: Unterrichtsmaterialien Gesellschaftslehre, Heft 2 Familie, Bezug: Stellungnahme von III B an Herrn Staatssekretär vom 21. 3. 1973, gez. Haller, 25. April 1973. Weiter : »[…]: Giesecke, K.G. Fischer, Groothoff, Hilligen, Holtmann, Jaide, von Hentig, Mollenhauer, Lingelbach, Schmiederer, Sontheimer, Teschner, Tjaden betonen übereinstimmend die Notwendigkeit, Unterricht so anzulegen, dass er Leitbilder unserer Gesellschaft konsequent beim Wort nimmt und sie auf die je konkreten Verhältnisse bezieht. Genau dies geschieht in der didaktischen Begründung für die Materialauswahl, die hier zur Diskussion steht.« 1728 HHStAW 1207/2, IV B 4–957/5630–91, Herrn Staatssekretär, Betr.: Unterrichtsmaterialien Gesellschaftslehre, Heft 2 Familie, Bezug: Stellungnahme von III B an Herrn Staatssekretär vom 21. 3. 1973, gez. Haller, 25. April 1973.
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nur auf die mangelnde Information der Kritiker zurückzuführen, die doch wohl zustimmen müssten, wenn sie nur verstünden. Eine in sich sehr homogene und gleichzeitig sehr exklusive Diskursgesellschaft bei der Erarbeitung der Rahmenrichtlinien hatte endlich durch die sukzessive Rücknahme partizipatorischer Elemente immer stärker in selbstreferentiellen Argumentationsmustern zu Ergebnissen geführt. In dem Moment aber, in dem diese begannen, außerhalb einer recht isolierten Diskursgesellschaft zu wirken, verloren sie ihre kohärente argumentative Basis, die von grundlegenden Werten und Anschauungen ausging, die in breiteren Kreisen kein Konsens mehr waren.
Zwischenresümee: Hessen Die Zeit der Curriculumentwicklung von der Idee im Jahr 1967 bis zur Vorlage der ersten Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre ist für sich genommen ein Zeitraum, der unerschöpfliche Möglichkeiten zur Diskursanalyse böte. Die Diskurse innerhalb der einzelnen Zirkel, die Kommunikation der Diskurse untereinander, der Bezug wiederum zur rasanten Entwicklung des teilöffentlichen Fachdiskurses während dieser Zeit – und das eingebettet und in stetiger Wechselwirkung mit dem öffentlichen Breitendiskurs sowie allgemeinen politischen Wirkmächten – vermögen noch viel tiefer analysiert zu werden als in diesem Abschnitt. Was aber bereits deutlich herausgearbeitet werden konnte, sind die Transformationen dieses Diskurses in diesem kurzen Zeitraum: Der ursprüngliche Impetus hatte aus der öffentlichen, stark von Argumenten der Bedarfskonzeption getragenen Bildungseuphorie Mitte der sechziger Jahre über die Zielstellung des Ministerpräsidenten Zinn nach einer einfachen Überarbeitung der Lehrpläne heraus im Bildungsministerium zur Rekrutierung von Hildegard Hamm-Brücher geführt, die als Bildungsreisende ganz praktische Einsichten und Ansichten hatte. An sich darauf bedacht, die einzelnen Schüler ihren individuellen, sozial und familiär unabhängigen Potentialen entsprechend für ihr Leben zu ermächtigen, ließen sich auch ihre Ideen von Transparenz und Partizipation in der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption verorten. Daneben stand der zunächst für die Verantwortung über die operative Umsetzung in Kommissionsarbeit angedachte Saul B. Robinsohn mit seiner Curriculumtheorie für die szientistische Diskursformation. Auf Basis dieser Konzeptionen begannen die Kommissionen – nunmehr unter der Ägide Wolfgang Klafkis – zu arbeiten. Zum einen stießen sie allerdings an die ganz pragmatischen Grenzen, nicht auf die wissenschaftliche Forschung zurückgreifen zu können, die für die Entwicklung von Ergebnissen aus der szientistischen Konzeption heraus nötig gewesen wären. Zum anderen entwickelten sich – auch und gerade befeuert durch eine stetige Harmonisierung und Homogenisierung des
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internen Diskurses – immer stärker gesellschaftlich-emanzipative Begründungszusammenhänge zur Grundlage der Curriculumarbeit. Die Theorie ersetzte die Empirie als Grundlage, und der Ansatz breiter, repräsentativer Partizipation geriet zu transparenter Konfrontation. Die Ergebnisse dieser Politik sind schwierig zu bewerten. Auf politischer Ebene hatten die Vorgänge, die zu den Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre führten, weitreichende Auswirkungen, die Realität an den Schulen blieb davon aber weitgehend unberührt: Dieselben Lehrer unterrichteten den gleichen Schülern an sich dieselben Dinge wie zuvor, während sich durch Expansion und Strukturreformen an den Rahmenbedingungen einiges änderte. Ob und in welche Richtung die Realität in den Schulen durch die Veränderung der Bedingungen, durch die immense Debatte, die Multiplikationswirkung der breiten partizipatorischen Gestaltung der Kommissionsarbeit und das durch die labile Entwicklung der Rahmenrichtlinien entstandene administrative Vakuum nicht doch zahlreiche kleine, in der Summe bedeutende Transformationen erfahren hat, beantwortet diese Arbeit nicht1729. Dass die hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre allerdings zu einem bedeutenden Bezugspunkt des Diskurses der interessierten Teilöffentlichkeit geworden waren und dadurch eine gewichtige Rolle für die Bildungspolitik der folgenden Jahrzehnte spielten, steht außer Frage. Spätestens ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre und Deutsch war die Bildungspolitik der Landesregierung an allen Fronten ein Rückzugsgefecht. Die Bildungsplanung in ihrer Bedeutung für den geplanten gesellschaftspolitischen Ansatz zur Fortschreibung des Großen Hessenplans 1970 verlor noch in der Endredaktion massiv an Profil und Bedeutung für die sich selbst im Sinkflug befindliche Gesamtplanung. Bildungspolitik zog sich nun aus der Staatskanzlei ins Kultusressort zurück. Dort kippte gerade die Betätigungsrichtung von Gestaltung zu Konsolidierung; während einerseits die Diskussion um die ganz großen Ideen noch eine Weile gedeihen konnte, wurden andererseits die Spielräume hierfür immer kleiner. Die Konzepte zur Gesamtschule als Regelschule gediehen weiterhin, während die operative Umsetzung von Anfang an ihre Grenzen im Materiellen fand. Die inhaltliche Vorwegnahme der Integrierten Gesamtschule durch eine Horizontalisierung der Lehrpläne in Form von Curricula scheiterte am öffentlichen Druck. Die richtig großen Ideen einer völligen Umwälzung des Bildungssystems in seinen Zielen, Mitteln und Inhalten hatten sich ab Mitte der sechziger Jahre als Gischt auf der Welle der Bildungsexpansion gebildet, die nun jäh brach. In ihren Weg hatten sich die Realitäten gestellt, die Zähigkeit eines Bildungswesens, das aus nicht so einfach ›reformierbaren‹ Menschen – Schülern, 1729 Vgl. Schreiber, Schulreform in Hessen, S. 834.
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Eltern, Lehrern – bestand. Bedeutender waren die materiellen Grenzen: Im Schulbau, der durch die Bewältigung von immer mehr Schülern, die immer länger zur Schule gingen, schon mehr als gefordert war und gleichsam die Aufgabe hatte, die Fläche zu erschließen – die Gesamtschulplanung sattelte weitere Forderungen darauf; vor allen Dingen in den Lehrern, deren Verfügbarkeit schon der genannten Expansion kaum nachkam, die für die Horizontalisierung des Bildungswesens nicht ausgebildet waren und die nun auch noch Träger der inneren Reform werden sollten; in den finanziellen und personellen Kapazitäten zur Ausarbeitung, Planung und Durchführung der Reformen; in der Konkurrenzsituation zu anderen Politikfeldern, die gleichermaßen bewegt durch die unruhige Zeit das Ihrige verlangten. Noch stärker als die systeminternen und die materiellen Widerstände wirkte die Veränderung der wirtschaftlichen, sozialen und dann auch diskursiven Rahmenbedingungen. Die Vorstellung einer durch Steuerung stabil wachsenden Wirtschaft nahm Ende 1971 ein Ende, als die ersten Prognosen für 1972 eine leichte Rezession vorhersahen1730. Die gesamte virtuelle Planungsmatrix, in der die Investitionen ins Bildungssystem sich durch ihre notwendige zukünftige Rendite automatisch deckten, zerfiel in dieser Krise des Keynesianismus, und die Haushaltspolitik bekam wieder die Hoheit über das Mögliche. Zwar wirkte sich das nicht direkt in den Bildungshaushalten aus; aber dass Bildungsplanung überhaupt wieder ihre weiterhin steigenden Budgets rechtfertigen musste, veränderte die Prämissen erheblich. Vor allem aber wandelten sich rasant die Themen, die das Land umtrieben. Die Auseinandersetzung über die großen gesellschaftlichen und politischen Linien zwischen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Planung der Zukunft bis ins Jahr 1986 oder 2000, Fragen von Emanzipation, Demokratisierung und nicht zuletzt des Bildungssystems rückten auf der Agenda hinter ganz akute Fragen von Wachstum, Inflation, Arbeitsmarkt und bald als ganz plastisches Erlebnis den Ölpreis; in den Kreisen, die auch radikalere Bildungsreformen mittrugen, waren Umwelt- und Sicherheitsthemen immer stärker in den Vordergrund gerückt. In dieser Situation ließ sich Bildungspolitik nicht mehr betreiben wie während der Aufbruchsstimmung Ende der sechziger Jahre. Gleichzeitig ließ die politische Aufmerksamkeit für das Ressort Ludwig von Friedeburgs aber nicht nach, der nun zwischen der Kritik an den geplanten Reformen und der Kritik an der Unfähigkeit, diese umzusetzen, gefangen war. Diese Zwickmühle wusste die Opposition geschickt zu nutzen, und in den Landtagswahlen 1974 fuhren die Regierungsparteien nicht zuletzt wegen der Bildungspolitik, insbesondere der Diskussion um die Rahmenrichtlinien Deutsch und Gesellschaftslehre, herbe Verluste ein. Von Friedeburg wurde 1730 Vgl. Giersch, Paqu8, The Fading Miracle, S. 152.
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daraufhin abgelöst, durch den Druck des kleineren Koalitionspartners FDP wurde unter Beibehaltung des abstrakten Ziels, die Integrierte Gesamtschule als Regelschule einzuführen, ein Moratorium für neue Schulversuche – also der Errichtung Integrierter Gesamtschulen – beschlossen. Der Ausbau kooperativer Gesamtschulen ging hingegen ungehindert weiter, nach wie vor regte sich auch kaum Kritik an dem additiven Modell. Erst in der folgenden Legislaturperiode kam es zur Eröffnung neuer Integrierter Gesamtschulen, und endlich erfolgte auch ihre rechtliche Gleichstellung als Regelschule. Von einer flächendeckenden Einführung der Integrierten Gesamtschule war bis dahin längst keine Rede mehr1731. Die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre steckten, wie bereits dargestellt, ab ihrer ersten Veröffentlichung in der Endlosschleife ihrer eigenen Überarbeitung. Hildegard Hamm-Brücher, die im Jahr 1968 aus der Oppositionsrolle im bayerischen Landtag in die Verantwortung hessischer Regierungstätigkeit gekommen war, die dann dort für das Projekt der Bildungsreform den großen Sockel der Partizipation errichtet hatte, der alsbald verwaiste, während daneben eine Curriculumreform auf Sand gebaut wurde; die dann in die sozialliberale Bundesregierung wechselte, um die von ihr als nötig erachtete Überwindung des Bildungsföderalismus voranzutreiben, schied 1972 auch aus dieser Position aus – sie resignierte. Hamm-Brücher attestierte der Bundesrepublik eine »verfassungsrechtliche, organisatorische und institutionelle Unfähigkeit« zur Bildungsreform, die zumal »die Reformwilligen in die Resignation (oder in die Radikalisierung!) treibt«1732 und auch wenn sie Wert darauf legte, damit nicht sich zu meinen, so begründete sie ihren Schritt doch zumindest damit, dass sie in ihrem Amt nicht weiter die Möglichkeit gegeben sehe, für ihre Ziele – die Ziele der Brandt’schen Regierungserklärung – einzutreten, sondern »neuen politischen Anlauf« nehmen zu müssen. Nicht erst 1975, als sich mit der Verzögerung der Haushaltsplanungen und Vereinbarungen das hessische Bildungsbudget tatsächlich begrenzte1733, die institutionellen Veränderungen der neuen Legislaturperiode zum Tragen kamen und die Arbeitslosenzahl erstmals wieder die Millionenmarke überschritt, war die Zeit der Bildungsreform beendet. Bereits mit den verzweifelt als halbgarer, defensiv gefasster Entwurf herausgegebenen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre 1972 war der Schwung von 1968/69 aufgebraucht. Mutlosigkeit, Frustration und Unverständnis bei den desillusionierten Akteuren traf auf die steigende Unlust in der Öffentlichkeit, sich weiter mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Ökonomische Fragestellungen eroberten bereits die öffentliche Aufmerk1731 Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 43–46. 1732 Hamm-Brücher, Unfähig zur Reform?, S. 8. 1733 Vgl. Mathes, Gesamtstaatliche Bildungsplanung, S. 66f.
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samkeit zurück, als sich die Tendenz zu ändern begann – und nicht erst, als die Probleme sich voll realisierten. Wie haben sich die einzelnen Diskursformationen in Hessen über diese doch recht kurze Zeitspanne zwischen 1963 und 1973 bewähren können? Die Neuhumanistische Konzeption von Bildung kam im hessischen Diskurs lediglich zur Kontrastierung vor. Weder ihre Grundüberzeugungen noch ihre Mittel spielten eine Rolle. Selbst Wolfgang Klafki, der zu den Vertretern einer ›geisteswissenschaftlichen Pädagogik‹ gezählt wird, verzichtete auf Bezüge zu dieser Art klassischer Bildung. Die werterzieherische Diskursformation lieferte gleichfalls keine Begründungszusammenhänge für die bildungspolitischen Projekte der hessischen Landesregierung während des Beobachtungszeitraums. Die beiden funktional ausgerichteten Diskursformationen hatten demgegenüber einen starken Einfluss. Die Begründungszusammenhänge der Bedarfskonzeption bildeten die Blaupause für eine in einen vorwiegend wirtschaftlich ausgerichteten Gesamtplan eingebettete Bildungsplanung. Der stringente Bezug dieser Diskursformation wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Formulierungen in Entwürfen, die ihr nicht folgten, ersetzt wurden. Ab 1968 wendete sich das Bildungsministerium mit seinen neuen Akteuren deutlich von der Bedarfsorientierung ab und griff stärker auf emanzipative Begründungszusammenhänge zurück. Die entsprechenden Vorformulierungen für die Staatskanzlei wurden dort aber zu guten Teilen noch revidiert. Die szientistischen Begründungszusammenhänge spielten über den gesamten Betrachtungszeitraum hindurch eine Rolle – jedoch immer auf zweiter Ebene, in der Verwaltung, in der Lehrerbildung und bisweilen auf Ebene der Kommissionen für die innere Reform. Es war stärker eine Debatte über die Mittel denn über die Ziele: programmierter Unterricht, Lernprogramme, Didaktik. Auch der Anfang der Curriculumentwicklung bildete hier keine Ausnahme. Hier ging es maßgeblich um die Mittel zur Erarbeitung von Curricula. Zwar wurde auf Kommissionsebene noch längere Zeit der Ansatz verfolgt, Unterrichtsziele aus erwartbaren Lebenssituationen der Schüler zu erschließen, aber über eine rein theoretische Ebene kam diese Diskussion nicht heraus. Viel größere Bedeutung hatten die emanzipativen Diskursformationen, zunächst vorwiegend die individualrechtlich-emanzipative, später eher die gesellschaftlich-emanzipative Variante. Insbesondere durch Hildegard HammBrücher reüssierte die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation und wurde zur ersten treibenden Kraft bei der Horizontalisierung des Schulsystems auf struktureller wie inhaltlicher Ebene. Insbesondere beim Thema Gesamtschule konnte auf dieser Basis eine breite Übereinstimmung erreicht werden, aber auch die Curriculumentwicklung mutete zunächst noch nicht an, zu einem solchen Streitobjekt zu werden. Erst die Hinwendung zu gesellschaftlichemanzipativen Begründungszusammenhängen, die insbesondere die Curricu-
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lumentwicklung prägte, wirkte dermaßen polarisierend, dass die Bildungspolitik weit über das übliche Maß politischen Widerstreits hinauswuchs und die Öffentlichkeit so breit wie kontrovers bewegte. Dabei dürfte vor allem die Exklusivität eines immer enger werdenden Diskursrahmens beigetragen haben, der zu den Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre führte. Um zur entsprechenden Diskursgesellschaft zu gehören, war eine intensive Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Theorien – insbesondere der Kritischen Theorie im Allgemeinen, aber auch der entsprechenden pädagogischen Literatur beispielsweise von Giesecke zur politischen Bildung im Besonderen, vonnöten. Innerhalb weitgehend geschlossener Zirkel mit entsprechender Disposition – also beispielsweise in die Schulverwaltung einbezogener Pädagogen, Lehramtsstudenten, Studienseminare – konnte ein gesellschaftlich-emanzipativer Bildungsdiskurs sich entfalten, wohl nicht zuletzt, indem durch die Bedeutung, die ihm bald zukam, eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Grundannahmen an diesen Stellen notwendig wurde, was zu einer weiteren Harmonisierung dieser Institutionen führte. Nach innen hin wurden so Homogenisierungstendenzen befördert, nach außen fand eine Isolation statt. Der Konflikt konnte so erst aufbrechen, als die breite Öffentlichkeit 1972 damit plötzlich und intensiv in Berührung geriet. Hessen steht als Sinnbild für Bildungseuphorie und anschließende Ernüchterung, aber vor allem bietet Hessen in diesem kurzen Zeitraum ein Exempel für die Varianz der Begründungen von Bildungspolitik. Die Zielsetzungen schwankten mit den agierenden Personen, mit den institutionellen Bedingungen, letztendlich mit der Ordnung und steten Neuordnung eines auf die bildungspolitischen Entscheidungen bezogenen Diskurses, dessen Rahmen und Kohärenz sich stetig veränderten.
3.2. Das Beispiel Bayern Von Frankfurt aus keine fünfzig Kilometer den Main hinauf, begann in Bayern aus bildungspolitischer Sicht eine andere Welt – nicht alleine wegen der politischen Verhältnisse. Auch die Bedingungen des Bildungswesens waren ganz andere, wodurch sich schon die Themen stark unterschieden. Nichtsdestotrotz fand hier über den Zeitraum zwischen 1963 und 1973 eine beachtliche Entwicklung statt, deren diskursive Leitlinien im Folgenden beschrieben werden sollen. Dabei werden wieder die maßgeblichen politischen Themen in ihrer diachronen Entwicklung betrachtet und auf die ihnen zugrundeliegenden Begründungszusammenhänge hin untersucht, die Aufschluss über die Bedeutung der einzelnen Diskursformationen aus dem ersten Teil der Arbeit geben. Während sich in Hessen wegen des reformerischen Eifers bald alles um die Struktur
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und den Unterricht der Gesamtschule drehte, blieb die bayerische Bildungspolitik kleinteiliger, sowohl die einzelnen Glieder des beibehaltenen Schulsystems mussten im Innern und Äußern einzeln behandelt als auch Querschnittthemen bearbeitet werden. Während die Quellenlage für die hessische Bildungspolitik in großen Teilen sehr aufschlussreich, teils unüberschaubar ist, sind den im Bayerischen Hauptstaatsarchiv gelagerten Regierungs- und Verwaltungsakten gerade die für diese Arbeit relevanten tiefergehenden Begründungszusammenhänge für bestimmte politische Entscheidungen teilweise nur schwerlich zu entlocken, interne Differenzen etwa lassen sich kaum nachvollziehen. Viele der erhaltenen Texte waren von vornherein für die Öffentlichkeit bestimmt; den internen Diskurs nachzuzeichnen, fällt daher an manchen Stellen schwieriger, nicht zuletzt, weil die womöglich aufschlussreicheren Protokolle des Ministerrats noch unter Verschluss sind. Nichtsdestotrotz gelang es anhand der verfügbaren Quellen, die Bedeutung der einzelnen Diskursformationen herauszuarbeiten und ihre Transformationen nachzuvollziehen.
Voraussetzungen bayerischer Bildungspolitik Die Voraussetzungen der Bildungspolitik in Bayern1734 unterschieden sich deutlich von denen in Hessen. Während in Hessen die Bekenntnisschule – also die getrennte Unterrichtung katholischer und protestantischer Kinder – verfassungsrechtlich verboten war, gehörte in Bayern fast das gesamte Volksschulwesen noch lange viel mehr in die Sphäre der Kirchen und Gemeinden als des Staates. Als die amerikanischen Besatzer 1945 die nationalsozialistische Gesetzgebung außer Kraft gesetzt hatten, restituierten sie damit auch die Rechtslage von vor 1933 mitsamt des Konkordats zwischen Bayern und der katholischen Kirche sowie dem evangelischen Pendant. Somit wurden auch die Bekenntnisschulen wieder eingeführt, in denen ausschließlich Lehrer der jeweiligen Konfession unterrichten durften. Diese Rechtslage galt zwar auf begrenzte Zeit, versetzte aber die Kirchen in eine komfortable Verhandlungsposition, die sie zu nutzen wussten. Im Prozess der bayerischen Verfassungsgebung wurden das Konkordat und der entsprechende Vertrag mit der evangelischlutherischen Kirche von 1924 anerkannt. Im Ergebnis wurden die Bekenntnisschulen zur Regelschule, Gemeinschaftsschulen konnten nur auf Antrag der 1734 Vgl. zur Vorgeschichte der bayerischen Bildungspolitik insbesondere Müller, Winfried, Schule und Schulpolitik 1950–1964. In: Liedtke, Max (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens, Bd. III, Geschichte der Schule in Bayern von 1918 bis 1990, Bad Heilbrunn 1997.
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Eltern in Gebieten mit gemischter Konfession errichtet werden1735. Weil die Wiedereinsetzung des traditionellen Schulsystems durch einfaches Gesetz am Widerspruch der amerikanischen Besatzungsmacht scheiterte, wurde es stattdessen zumal unmittelbar in der bayerischen Verfassung verankert1736. Das dreigliedrige Schulsystem war somit verfassungsrechtlich festgelegt1737, gehörte aber vor allem zum Selbstverständnis der dominanten Regierungspartei CSU. Kultusminister Hundhammer stellte das bayerische Bildungssystem der Nachkriegszeit bewusst in die Tradition »einer in jahrhundertelangem Wachstum gewordenen Kultur […], aus der unser Schulwesen hervorgegangen ist und die es an die nachwachsenden Generationen weiterzugeben hat«1738. Bayern war das Land, in dem die in den ersten bildungspolitischen Ideen der Unionsparteien bedeutende Aufteilung in sozial, geographisch, geschlechtlich sowie insbesondere konfessionell möglichst homogene Einheiten am klarsten verwirklicht war1739. Während in den Positionen der CDU insbesondere die konfessionelle Aufteilung und die Bedeutung der Gemeinde in der Abwägung zu einem besser zu organisierenden Schulsystem immer weniger Gewicht beigemessen bekamen, blieb die konfessionelle Trennung bei der CSU lange Zeit Grundbedingung zur Organisation des Schulwesens. Ursächlich für die Entwicklung der CDU waren gewiss einzelne Personen wie die Kultusminister in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, Paul Mikat und Wilhelm Hahn. Insbesondere hatte in der Partei aber eine grundsätzliche Hinwendung zur Planung als Mittel der Politik stattgefunden, in der der Staat stärkere Verantwortung für die Entwicklung vor Ort übernahm, was zu einem Verlust der kirchlichen und kommunalen Bildungshoheit als politische Prämisse führte. In dieser Situation, in der sich auch die Nachkriegsgesellschaft änderte, gerieten auch weltanschauliche Vorstellungen der Volkspartei in Bewegung. Insbesondere die Vorstellungen von natürlicher Begabung und sozialer Bedingtheit begannen unter Betrachtung der wissenschaftlichen Debatte darum und des beginnenden Wunsches breiterer Schichten nach besseren Bildungsmöglichkeiten zu erodieren. Auch Ralf Dahrendorf als enger Berater eines CDU-Kultusministers ist gewiss mehr Ausdruck als Ursache einer frühzeitigen Integration der Ideen von Chancengleichheit und des Versprechens individueller Chancen nicht zuletzt für die Kinder der ländlich-bäuerlichen Wählerschaft in die Bildungsprogrammatik der CDU. Dass aber die CSU 1970 beschließen sollte, »Voraussetzung für die Verwirklichung der Chancengleichheit ist die individuelle Förderung der Schüler, un1735 1736 1737 1738 1739
Vgl. Buchinger, Wiederaufbau, S. 556–559. Vgl. von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, S. 308f. Vgl. Buchinger, Wiederaufbau, S. 558. Hundhammer, nach Buchinger, Wiederaufbau, S. 570. Lehning I, S. 188f.
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abhängig von Herkunft, Stand oder Vermögen der Eltern. Moderne Bildungspolitik muss davon ausgehen, dass Intelligenz und Begabung keine von Geburt an feststehenden Größen sind, sondern sich aus einer Vielzahl variabler Größen zusammensetzen. Nicht Auslese, sondern vielseitige und nachdrückliche Förderung ist der Maßstab, an dem die Bildungseinrichtungen zu messen sind.«1740 – das war wenige Jahre zuvor noch nicht absehbar1741. Wie die bayerische Regierung, und eng mit ihr verknüpft die CSU, binnen weniger Jahre eine solche Entwicklung vollzog, soll im Folgenden gezeigt werden. Auf Basis der skizzierten Aufstellung des bayerischen Schulwesens gestaltete mit Ausnahme eines kurzen Intermezzo einer Viererkoalition aus SPD, FDP, Bayernpartei und den Heimatvertriebenen (BHE/GB) zwischen 1954 und 1957 die CSU die Kultuspolitik Bayerns, zunächst noch in wechselnden Koalitionen und ab 1966 in Alleinregierung. Gerade das Thema Lehrerbildung (und deren Akademisierung) wurde über die fünfziger Jahre hinweg diskutiert. Die katholische Kirche beharrte dabei auf ihren Rechten und ließ sich zumindest gegenüber der Viererkoalition kaum auf Kompromissangebote ein1742. Mit der CSU hingegen gab es kirchenseitig kaum Diskussionsbedarf, war mithin doch dem Fraktionschef das Konfessionalitätsprinzip noch wichtiger als den Kirchen selbst1743. Durch die Restitution der Bekenntnisschulen in Verbindung mit der Beibehaltung des Prinzips der Heimatschule in jeder Gemeinde wurde entgegen des bundesweiten Zusammenlegungstrends die Zahl der Schulen größer, während ihre jeweilige Größe abnahm, da es kaum mehr konfessionell homogene Gemeinden gab, also an vielen Stellen sowohl eine evangelische als auch eine katholische Bekenntnisschule nötig waren1744. Die Alternative wäre die Errichtung von Gemeinschaftsschulen gewesen, wozu aber ein Antrag der Eltern nötig gewesen wäre, was die katholische Kirche ihren Mitgliedern untersagte. Hinzu kamen Landflucht und sinkende Geburtenraten, sodass die be- und entstehenden Schulen noch kleiner wurden, im Ergebnis verdoppelte sich die Zahl der einklassigen Volksschulen im Land zwischen 1949 und 19601745. Auch eine »einsetzende Baulust der Gemeinden, die zur Ersparung längerer Schulwege dorfeigene Schulen bauten, wodurch häufig auch die Nachbargemeinde ihren 2. Lehrer verlor, so dass gleichzeitig 2 neue einklassige Schulen entstanden«, trug zu dieser Entwicklung bei, letztlich auch noch der vermehrte Weggang begabter Schüler zu den höheren Schulen, und »einige wenige einklassige Schulen ent1740 1741 1742 1743 1744 1745
Aktionsprogramm Kulturpolitik, zitiert nach Lehning I, S. 190f. Vgl. Lehning I, S. 190f. Vgl. Müller, Schule und Schulpolitik 1950–1964, S. 708f. Ebd., S. 711. Vgl. ebd., S. 715f. Ebd., S. 716.
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standen seit 1951 auch in Auswirkung des Schulorganisationsgesetzes.«1746 Die mannigfachen Probleme dieser Schulstruktur, »qualitative Defizite der ländlichen Zwergschulen, Landflucht und Nachwuchsprobleme für den Lehrerberuf« wurden ab Mitte der fünfziger Jahre auch im Kultusministerium offen diskutiert1747 und rückten die Einrichtung von Verbandsschulen, also Schulen für mehrere Gemeinden statt nur einer, sowie später dann auch Gemeinschaftsschulen, also für beide Konfessionen, in den Fokus. Dabei wurde allerdings nicht mit Hochdruck gegen die Misere gearbeitet, die Entwicklung wurde viel mehr abgewartet. Noch 1955 hieß es: »Die Vermehrung der einklassigen Schulen dürfte allerdings in 2–3 Jahren beendet sein.«1748 Als Lösung galt vor allem, dass die Motorisierung der Arbeiterschaft die Landflucht stoppen werde1749. Das war der zögerliche Beginn der langwierigen wie umstrittenen bayerischen Landschulreform1750. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich Bayern anders als das restliche Bundesgebiet und blieb etwa »gemessen am relativen Schulbesuch der 13-jährigen an den Gymnasien seit 1960 konstant unter dem Bundesdurchschnitt und ab den siebziger Jahren sogar an letzter Stelle.« Ab dieser Zeit muss allerdings nicht mehr wie zuvor von einer der sonstigen Entwicklung in Deutschland fast schon gegenläufigen Entwicklung geredet werden, sondern von einer Entwicklung, die sich in die gleiche Richtung orientierte, allerdings sowohl von einem niedrigen Ausgangsniveau kommend, als auch in einer deutlich flacheren Kurve1751. Immerhin verzehnfachte sich der Kulturhaushalt Bayerns zwischen 1955 und 1974, der Anteil am Gesamthaushalt wuchs von 18 auf 28 Prozent.1752 Es ist also nicht zu bestreiten, dass die Bildungspolitik Bayerns in den sechziger Jahren Expansion und gar Reformen gegenüber deutlich offener war als in den fünfziger Jahren; und selbst die »Einigkeit darüber, dass […] eine erhebliche Expansion des Ausbildungswesens nötig sei«1753, kann trotz reichlicher Varianz im für richtig befundenen Maß nicht bestritten werden. Aber diese nunmehr gleichgerichtete Entwicklung in Bayern ab Anfang der sechziger Jahre darf nicht mit einer politischen Aufbruchsstimmung verwechselt werden. Die Gesellschaft veränderte sich, und das Schulwesen reagierte – das betraf insbesondere die Ausstattung 1746 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753
BHStA MK 61234, Nr. IV 48440, 23. 06. 1955, Betreff: Zusammenlegung von Zwergschulen. Müller, Schule und Schulpolitik 1950–1964, S. 718–721. BHStA MK 61234, Nr. IV 48440, 23. 06. 1955, Betreff: Zusammenlegung von Zwergschulen. Vgl. BHStA MK 61234, Nr. IV 48440, 23. 06. 1955, Betreff: Zusammenlegung von Zwergschulen. Vgl. Müller, Schule und Schulpolitik 1950–1964, S. 721–727. Vgl. Lehning II, S. 650. Weiter : »Nichts desto weniger setzte auch in Bayern ab dem Schuljahr 1963/64 eine zunächst ungebremste Expansion im Bereich der Höheren Schulen ein […].« Lehning II, S. 646. Ebd., S. 799.
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mit Räumen und Lehrern und die Verteilung der Schulen im Land. Reformen im Rest Deutschlands strahlten nach Bayern aus, Planungsgedanke und Durchlässigkeit fanden Einzug, und dem aufbrandenden Bildungsdiskurs konnte sich Bayern nicht gänzlich entziehen. Dass diese gesellschaftlichen Veränderungen zukünftig aber auch strukturelle Anpassungen und mehr noch Anpassungen in Art, Inhalt und Umfang von Unterricht nach sich zögen, war zunächst noch nicht mehr als eine graue Vorahnung1754. Der Diskurs unter Bayerns Entscheidern im Bildungsbereich ordnete sich noch anders als im Rest der Republik1755. Aber zunächst soll der Diskurs in Bayern nicht im Verhältnis zu anderen Diskursen, sondern wie zuvor schon der hessische, in seinen Grundannahmen und seiner diachronen Entwicklung betrachtet werden. Bildungspolitische Grundannahmen zu Beginn des Betrachtungszeitraums Diese Arbeit verzichtet, daran sei hier noch einmal erinnert, auf vorgeprägte Kategorien wie ›rechts‹, ›links‹, ›progressiv‹ oder ›konservativ‹. Gleichwohl soll die Verwendung dieser Begriffe da nicht ausgeschlossen werden, wo sie auf ihre ureigene Bedeutung zurückgeführt werden können. Die bayerische Bildungspolitik muss in gewissen Teilen nämlich tatsächlich als ›konservativ‹ bezeichnet werden, nämlich als bewahrend. Vor Beginn des Betrachtungszeitraums dominierte definitiv ein konservativer Begründungszusammenhang. Als beispielsweise Ende der 50er Jahre das Realgymnasium diskutiert wurde, fand das Kultusministerium in der Sache kaum Einwände. Es wurde von der Bevölkerung angenommen und fügte sich grundsätzlich auch in seine Ideen von Bildung. Nichtsdestotrotz lehnte ein Vertreter des Ministeriums die Einrichtung eines solchen Gymnasialzweiges in Landshut ab. Als Grund nannte er den potentiellen Schaden für hergebrachte Schulformen, nämlich klösterlicher Privatschulen und humanistische Gymnasien, also für die traditionelle Schulstruktur. Ohne zu bezweifeln, dass diese Entwicklung kommen werde, sah er es schlichtweg als »Pflicht, zumindest hinhaltenden Widerstand zu leisten.«1756 1754 Vgl. ebd., S. 643. 1755 Beispielhaft steht die ernüchternde Erfahrung, die ein Vertreter des Bayerischen Staatsinstituts für Bildungsforschung und Bildungsplanung 1968 auf einem Fachgespräch zur Bildungsplanung machen musste. Seinem Bericht schickt er voraus, »dass unter Schulentwicklungsplanung ›Gesamtschulentwicklungsplanung‹ verstanden wurde«. Vgl. BHStA MK 80771, Staatsinstitut für Bildungsforschung und -planung, Bericht über die Teilnahme an einem internationalen Fachgespräch über Schulentwicklungsplanung und Raumordnung vom 2. bis 4. Dezember 1968 in Berlin, an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, z.H. Regierungsdirektor Knauss, Betr.: Internationales Fachgespräch ›Schulentwicklungsplanung und Raumordnung‹, 23. 12. 1968. 1756 OStD Dr. Hörmann im Kulturpolitischen Ausschuss bei der Verhandlung des Antrags auf Errichtung eines realgymnasialen Zweiges an der Oberrealschule Landshut, zitiert aus den
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Dieses konservative Moment erodierte aber Anfang der sechziger Jahre. Kultusminister Maunz verabschiedete sich 1964 aus seinem Amt1757 und hinterließ bereits einen Katalog an Aufgaben, das Schulwesen zu verändern, darunter planerische Elemente wie Bedarfsrückrechnung und Schulentwicklungsplan, äußere Veränderungen wie Hochschulausbau und Landschulreform sowie die innere Reform in den Oberstufen von Volks- und höheren Schulen1758. Zur Bundestagswahl 1965 proklamierte die CSU eine Bildungsoffensive, der neue Kultusminister Ludwig Huber, gleichzeitig Landtagsfraktionsvorsitzender, erhielt umfassende Unterstützung von seiner Partei, und das Volksschulgesetz 1966 wurde von Ministerpräsident Goppel gar als »Magna Charta der großen Freiheit unserer Schule« angepriesen1759. So war der bewusste Konservativismus zwar der Offenheit zur Veränderung gewichen, eine wirklich reformerische Politik ließ jedoch noch auf sich warten. Dies hing nicht zuletzt auch mit einem Menschen- und Gesellschaftsbild zusammen, das nicht nur die Inhalte, sondern auch Form und Grenzen der Politik bestimmte. Gerade in der Kulturpolitik, als deren Teil die Bildung in Bayern noch länger als in anderen Ländern verstanden wurde1760, hatte der Staat demnach auf die Gesellschaft zu hören, die verschiedenen Interessen zu moderieren, aber nicht zu lenken. Dabei musste eine bayerische Regierung insbesondere an die Kirchen denken, die in diesem Sinne als Teil der Gesellschaft im Kultusbereich mehr zu sagen hatten als die Politik1761. Bildung als Teil der Kultur wurde weiter der Zivilgesellschaft und nicht dem Staat zugerechnet. Bildung kam nicht als aktive Bildungspolitik vor, sondern verblieb reaktiv : »Dem Staat als dem umfassendsten gesellschaftlichen Gebilde, das gleichzeitig alle übrigen geordnet zur Einheit des Volkes integriert, obliegt die Aufgabe, dem Individuum und allen gesellschaftlichen Gebilden freie kulturelle Entfaltung zu gewährleisten und selbst nur die Aufgaben in Angriff zu nehmen, die zur Verwirklichung des umgreifenden kulturellen Allgemeinwohls einheitlich und umfassend geregelt werden müssen.« Begründet wurde diese Haltung nicht zuletzt mit der »besonderen deutschen Geschichte im Verhältnis von Staat und Gesellschaft«. Gemeint
1757 1758 1759 1760 1761
Akten des Bayerischen Landtages (ABayLt), Kupo 99 (15. 7. 1958), S. 20, nach: Lehning I, S. 213. Maunz legte aufgrund »kompromittierender Schriften aus der NS-Zeit« sein Amt nieder, vgl. Lehning II, S. 805. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 747. »Magna Charta«. In: DER SPIEGEL 6/1967. Vgl. bspw. BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. Vgl. BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Kirche Staat und Gesellschaft im demokratischen Deutschland, Passagen aus einem Vortrag beim Centre Catholique des Intellectuels Francais in Paris zur Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. In: Bayerische Staatszeitung vom 12. 3. 1965.
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war damit nicht nur die totalitäre Kulturpolitik des Nationalsozialismus, sondern auch der »Polizeistaat des 19. Jahrhunderts«, der in der Kultur nur »ein Mittel zur Stärkung seiner politischen und wirtschaftlichen Macht« sah. Die Kulturpolitik fand so sehr enge Grenzen, die bezogen auf die – von subsidiären Einheiten wie Kirchen und Kommunen betriebenen – Schulen nur Eingriffe des Staates zur »Gewährleistung der kulturellen Einheit des Volkes« und der »Herstellung der für alle notwendigen gleichen Bildungschancen«1762 erlaubte. Der Staat wirkte demnach also ausgleichend und verhinderte ein Auseinanderdriften durch verschieden gerichtete oder unterschiedlich schnelle Entwicklungen, aber er steuerte nicht. Für den Einzelnen galt, dass jeder Mensch den ihm eigenen Ort in der Welt zu finden hatte. Dabei spielte weniger der eigene Wille des Schülers eine Rolle als die äußeren Bedingungen, in denen er sich befand, angefangen mit der Zuordnung, dass seine »Volkszugehörig […] für ihn Schicksal und Verpflichtung bedeutet«1763 und insbesondere bezogen auf das Elternrecht, den künftigen Weg des Kindes maßgeblich vorzugeben. Gleichzeitig konnte ein »naives Mitleben« in dieser Welt »den gesteigerten Anforderungen nicht mehr genügen«; jeder hatte seine soziale und wirtschaftliche Rolle zu finden und in dieser am Gemeinwohl mitzuwirken. 1961 wurde für den Unterricht an den Volksschulen in Bayern offiziell erlassen: »Darum muss sich die Volksschule in Zusammenarbeit mit allen anderen Erziehungsträgern bemühen, den jungen Menschen zu einem einsichtigen, zur Mitverantwortung fähigen und gewillten Glied der Übergreifenden sozialen und politischen Lebensordnungen (Familie, Gemeinde, Volk, Staat, Völkergemeinschaft) zu erziehen.« In diesem Erlass aus der Zeit unmittelbar vor Beginn des Betrachtungszeitraums dieser Arbeit werden maßgebliche Komponenten der werterzieherischen Konzeption deutlich. Aus einer pessimistischen Analyse der veränderten Gesellschaft wird der Schule eine Korrekturfunktion auf Ebene des Schülers zur Bewältigung dieser Welt zugemessen. Orientierung gibt die als gefährdet wahrgenommene herkömmliche »Ordnung des Zusammenlebens«, der Schüler sollte zur Akzeptanz dieser Ordnung und zur »Anerkennung unabdingbarer sittlicher Normen« erzogen werden. Das Konzept eines 1762 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 1763 BHStA MK 62071, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. 19, Seite 387: Bekanntmachung über den Unterricht in der Volksschuloberstufe vom 12. Juli 1961 Nr. IV 57 288, S. 401: »Im Mittelpunkt der Geschichtsbetrachtung steht der Mensch, wie er sich aktiv mit der naturhaften, gesellschaftlichen und transzendenten Welt auseinandergesetzt. Er wird gesehen in seiner Volkszugehörigkeit, die für ihn Schicksal und Verpflichtung bedeutet. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte soll die Jugend die Verflochtenheit der nationalen mit der abendländischen Geschichte und mit dem großen Weltgeschehen erkennen lassen. […] Die Heimatgeschichte kann sehr oft auch als Ausgangspunkt einer Geschichtsbetrachtung dienen.«
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formierten Pluralismus wird insbesondere in der Passage deutlich, die Schule habe die Aufgabe, »den heranwachsenden Menschen zum sinnvollen Gebrauch seiner Freiheiten hinzuführen«1764. Die bayerische Schulpolitik begriff sich als der gesellschaftlichen Entwicklung nachgelagert. Sie antizipierte nicht den Wandel, sondern folgte ihm. Dieser Ansatz macht sie zwar zu einem retardierenden Moment, allerdings nicht mehr in konservativer Intention1765. Bayerische Bildungspolitik in den sechziger Jahren beabsichtigte nicht mehr, den Wandel aufzuhalten, sie akzeptierte und reagierte auf ihn. »Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, des Unbehagens und der Angst«, war Ministerpräsident Alfons Goppels finstere Analyse – und weiter : »Neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhaltensweisen verlangen von uns neue Kenntnisse und neue Fertigkeiten. Eine verwirrende Fülle von Gegebenheiten und Forderungen des Lebens erscheint, erheischt verfeinerte Möglichkeiten der Klärung und der Werte.«1766 Ziel der Bildungspolitik musste es also sein, die »weitgehend durch Umwelteinflüsse […], die in erheblichem Maß auf die Jugend wirken«1767, bedingten Veränderungen nicht zu bekämpfen, sondern aufzufangen und einzuordnen. Tradierte Wertvorstellungen wurden in neue, von außen gegebene Bedingungen eingebettet. Daran knüpfte auch Kultusminister Huber an, der formulierte: »Aufgabe der Bildungspolitik von heute ist es, die Jugend für morgen zu rüsten. Dieses Morgen ist uns unbekannter als in früheren Zeiten und Generationen. Die Entwicklung der Lebensverhältnisse ist so dynamisch und unvorhersehbar, dass die Angst vor dieser unbekannten Zukunft geradezu zu den Kennzeichen der Situation unserer Zeit gehört. Das Wesen des Menschen, sein Daseinszweck und –ziel ist gewiss dasselbe, gestern, heute und morgen, aber es wird realisiert in einem ganz bestimmten historischen Augenblick und in einer ganz einmaligen Umweltsituation.«1768 Hier wird der Kern der werterzieherischen Konzeption deutlich, den
1764 BHStA MK 62071, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. 19, Seite 387: Bekanntmachung über den Unterricht in der Volksschuloberstufe vom 12. Juli 1961 Nr. IV 57 288, S. 414. 1765 Vgl. BHStA MK 66163, Münchner Merkur Nr. 241, 07. 10. 1964: Ist der neue Kultusminister in Bayern ein starker Mann? Alle kulturellen Kräfte für die Zukunft. Merkur-Interview mit Dr. Ludwig Huber, von Paul Noack. 1766 BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier : Jahresversammlung des Katholischen Männervereins Tuntenhausen, Tuntenhausen, 12. Mai 1963. 1767 BHStA MK 62071, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. 19, Seite 387: Bekanntmachung über den Unterricht in der Volksschuloberstufe vom 12. Juli 1961 Nr. IV 57 S. 388. 1768 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. Vgl. auch mit ähnlichem Wortlaut BHStA MK 66164, Jahrestagung
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Schüler für eine ungewisse Zukunft mittels überzeitlicher Werte auszustatten. Die Schule, so scheint es in diesem Zitat, vermittle zwischen dem Daseinszweck und der jeweiligen (historischen) Situation, ihre Aufgabe sei also die stets zu aktualisierende Anwendung immer gleicher Prinzipien. Die Welt, für die die Schule ihre Schüler ausrüsten sollte, stellte sich nach Auffassung Hubers wie folgt dar : Auf gesellschaftlicher Ebene stünden sich fortan »zwei sich ergänzende, ja geradezu bedingende und in polarer Spannung stehenden Grundtendenzen« gegenüber, und zwar »die Demokratisierung bei gleichzeitiger Differenzierung unserer Bildungsgesellschaft.« Mit Demokratisierung meinte Huber bemerkenswerterweise den Abbau der aus vordemokratischen Zeiten tradierten Strukturen, die weiter nachwirkten. Anders als etwa in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation ging Huber allerdings davon aus, dass diese Entwicklung autonom stattfinde und die Aufgabe des Staates eine Anpassungsleistung sei. Für sein Ressort hieß das, dass »das allgemeine Wahlrecht auf politischem Gebiet […] sein bildungspolitisches Gegenstück in der realen Chancengleichheit für alle erst jetzt allmählich finden [müsse]«1769. Neben der Veränderung der Gesellschaft waren für Huber vor allem die Verwissenschaftlichung und Technisierung und die entsprechende Veränderung der Arbeitswelt relevant: »Die Wissenschaft bestimmt die gesamten Lebensverhältnisse der Zukunft«, war sich Huber sicher. Daher dürfe die heranwachsende Generation sich nicht mehr wie die vorangehende auf das Erlernen »einer festlegbaren Zahl von methodischen Lehrsätzen und praktischen Handgriffen« beschränken, sondern müsse die »Fähigkeit, ständig neue Sachverhalte und Situationen aufzunehmen, selbständig zu verarbeiten und sachgerecht zu bewältigen«, erlernen, und zwar für die Ausübung aller Berufe. Huber schloss also von einer allgemeinen Entwicklung auf die Erfordernisse an den Einzelnen und lieferte so einen zur kollektiven Betrachtungsweise der Bedarfskonzeption alternativen Begründungszusammenhang für »die Maßnahmen zur Erfassung und Ausschöpfung der Begabungsreserven […]. Es ist eine schlichte Lebensnotwendigkeit für den einzelnen und für die Gesellschaft, dass jeder Mensch seine geistigen Fähigkeiten bis zum höchsten Grad seiner Möglichkeiten entwickelt.«1770 Gerade der technische Fortschritt machte seiner Ansicht nach mehr Bildung für alle nötig1771. des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 1769 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 1770 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. 1771 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Bildungspolitik – Herausforderung und Bewährung. In:
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Bildungsplanung in Bayern Planung ohne Begeisterung unter Ludwig Huber Wie in anderen Bundesländern wurden ab den frühen sechziger Jahren auch in der bayerischen Verwaltung die verschiedenen Planungsaufgaben der einzelnen Ressorts stärker untereinander koordiniert. Insbesondere Infrastrukturprojekte und die flächendeckende Versorgung mit öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen, aber auch Wirtschaftsförderung erfuhren eine stärkere zentrale Steuerung1772. Ausgehend von der Organisation des Wiederaufbaus nach dem Krieg kamen zunächst die Planung der Wirtschaftsförderung (»Wirtschafts-Raumplanung«) und die entsprechende Erarbeitung eines Landesentwicklungsplans. Anfang der sechziger Jahre folgte dann die Raumordnung als Mittel zum Ausgleich der Lebensverhältnisse, aber auch, um einseitigen strukturellen Entwicklungen – insbesondere als Folge der Landflucht – entgegenzuwirken1773. Ab 1970 wurden diese Aufgaben im (bundesweit ersten) Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen gebündelt1774. Raumordnung und Landesplanung waren allerdings in Bayern keine allseits gewünschten Mittel der Politik. Obwohl die Regierung solche Pläne im Vergleich zu anderen Ländern nur zaghaft andachte, fiel die Kritik daran in Opposition und Bevölkerung ungleich stärker aus als andernorts. Raumordnungsverfahren zogen sich oder scheiterten ganz, nicht zuletzt hielten Konflikte innerhalb der Regierung die Planungsidee klein1775. Was sich in vielen anderen Bundesländern längst als bildungspolitische Leitlinie in unterschiedlich starker Ausprägung herausgestellt hatte und auf Bundesebene 1965 bereits ins Bundesraumordnungsgesetz geschrieben worden war, fand in Bayern erst 1970 genug Zustimmung, um als Landesplanungsgesetz gefasst zu werden: »Überörtliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge und der Kultur, insbesondere der Bildung und des Sports […] sollen der Bevölkerung in angemessener Entfernung und möglichst in geeigneten zentralen Orten oder in deren Nähe zugänglich sein.«1776 Gerade im sehr sensiblen Bildungsbereich blieb die Landesplanung lange uneindeutig. Das
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Bayerische Staatszeitung 41, 8.10.65, hier : Auszüge aus einer Rede vor bayerischen Schulbuchverlegern. Vgl. Lehning I, S. 151–170. Ebd., S. 158f. Vgl. Lehning I, S. 152f u. Bd. 2, S. 662f: »Wie stark der Planungsgedanke schließlich gerade auch von den Christsozialen übernommen wurde, zeigte nicht zuletzt eine Publikation des bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel unter dem Titel: Ein Land plant seine Zukunft [1971].« Vgl. Lehning I, S. 166f. Vgl. ebd., S. 169.
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Selbstverwaltungsrecht der Kommunen wurde in diesem Bereich in besonderem Maße hochgehalten. Der traditionelle Gedanke der kulturellen Verwurzelung nicht nur der einzelnen Landesteile, sondern auch jeder einzelnen Gemeinde über die volkstümliche Bildung stand der Idee der zentralen Steuerung gegenüber, die maßgeblich für den Ausbau des höheren Schulwesens relevant war. Ihren Ursprung nahm die Bildungsplanung nicht, wie anzunehmen wäre, als politische Entscheidung zur Neuorganisation des Bildungswesens oder als Reaktion auf einen Anstieg des Bedarfs, sondern zu einem Zeitpunkt, zu dem der Aufholeffekt der Nachkriegszeit abebbte und die Schülerzahlen für die Höheren Schulen sich langsam einpendelten. Kultusminister Maunz war es, der 1960 solche Planungen vorgeschlagen hatte. Dabei rechnete er langfristig mit nicht mehr als 10.000 Abiturienten pro Jahr1777. Auch die Forcierung der Bedarfsfeststellung fiel noch unter die Ägide dieses Kultusministers. Gemäß der 1962 maßgeblich von Bayern angestoßenen Bedarfsfeststellung durch die KMK1778 wurden auch im Freistaat die künftigen Bedarfe im Schulwesen erhoben. 1963 stellte Bayern sogar als erstes Bundesland die »Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 für Schulwesen, Lehrerbildung, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kulturpflege im Freistaat Bayern – Rückrechnung der KMK-Bedarfsfeststellung«1779 fertig. Im Jahr darauf verkündete Maunz sogleich, diese Bedarfsfeststellung solle nun zu einer »langfristigen Planung« werden1780. Maunz bekannte sich freimütig zu den bedarfsorientierten Ansätzen der Bildungsplanung: »Die großen westlichen Staaten stellen ihre kulturpolitischen Planungen nicht nur mit Hilfe von Pädagogen und Verwaltungsfachleuten auf, sondern bedienen sich auch der Mitarbeit von Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Finanzexperten und Statistikern. Darin kommt zum Ausdruck, dass es sich um Anliegen handelt, die weit über den pädagogischen Fachbereich hinaus von Bedeutung sind. Auch das Kultusministerium beabsichtigt, in den Planungskommissionen den gleichen Weg zu beschreiten.«1781 Huber hingegen korrigierte diesen Eindruck ostentativen Planungswillens bald nach seinem Amtsantritt. Fast fatalistisch klang bereits die Einführung zur ersten Bedarfsfeststellung, wortgleich im ersten Entwurf Ende 1964 und in der Veröffentlichung Anfang 1966: »Es liegt im Wesen der Kulturpolitik, dass sie heute Entscheidungen fordert, die den Tatsachen von morgen Rechnung tragen. Voraussetzung für eine sinnvolle Kulturpolitik ist also eine möglichst umfassende Kenntnis der Tatsachen, die unausweichlich auf uns zukommen.«1782 In der 1777 1778 1779 1780 1781 1782
Vgl. ebd., S. 635f. Vgl. ebd., S. 740–748. Ebd., S. 748. Vgl. ebd., S. 750. Maunz, Haushaltsrede vom 3. 3. 1964, zitiert nach: Lehning II, S. 668f. BHStA MK 66032 Entwurf: Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 für Schulwesen, Lehrerbil-
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Einführung zur Veröffentlichung der »Bedarfsfeststellung« 1966 stellte er klar : »Sie stellt eine Sammlung von Ergebnissen statistischer Berechnungen dar, die zwar den kulturpolitischen Entscheidungen der nächsten Jahre wesentliche Impulse vermitteln wird, die aber in sich selbst nicht als Plan verstanden werden will und kann. Die in der Diskussion immer wieder gehörte Bezeichnung ›Bedarfsplan‹ ist also nicht richtig und geeignet, Missverständnisse hervorzurufen, und muss deshalb vermieden werden.«1783 Kurz vor dieser Kursänderung stand im Ministerium bereits fest, dass die »für die Entwicklung der Schülerzahlen bis 1970 angenommenen Werte sicher erreicht, bei den Gymnasien sogar überschritten werden dürften.« Die Folgen lagen auf der Hand: »Daraus ergibt sich, dass für das Jahr 1970 der Bedarf an Lehrern und Schulräumen in den Meisten Fällen selbst dann kaum befriedigt werden kann, wenn die gegenwärtigen Messzahlen für die Relation ›Schüler je Klasse‹ und ›Lehrer je Klasse‹ nicht verbessert werden. Wollte man für diese Relation die bayerischen Soll-Werte zugrunde legen, so länge die Zielsetzung derart weit über dem tatsächlich erreichbaren Zustand, dass das wohl herbe Kritik herausfordern würde.«1784 Aber nicht nur die schwer zu bewerkstelligende Vorausschätzung für den Übertritt zu weiterführenden Schulen bereitete Probleme. Bald wurde klar, dass bereits in der einfachsten Planungsgrundlage – der Berechnung der Volksschuleintritte in der ersten Klasse – die Realität in einem Schuljahr um 5.000 Schüler oberhalb der Erwartungen lag1785. Huber ließ nicht erst aus diesen Erfahrungen eine erkennbare Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Planung erkennen und fand sich darin immer wieder bestätigt. 1968 führte er in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag die unmittelbare Hybris der Bedarfsplanung vor, wonach die oberste Schätzung der Studentenzahlen im Jahr 1980 durch den Wissenschaftsrat bereits nach vier Jahren von 380.000 auf bis zu 600.000 angestiegen war1786. Diesem Bemühen, nach außen möglichst wenig Planungsgeist zu demonstrieren, widersprach zunächst die Tatsache, dass nicht nur unter dem Dach
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dung, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kulturpflege im Freistaat Bayern, Neufassung nach dem Stand 1. 10. 1964. Siehe auch den letzten Entwurf von 1966 unter BHStA MK 66032, Zu I 1319577/65, Entwurf der Bedarfsfeststellung unter Einarbeitung der zwischen 16. 12. 65 und 28. 2. 66 noch erfolgten Änderungen, 28. 02. 1966. BHStA MK 66032 Entwurf: Bedarfsfeststellung 1961 bis 1970 für Schulwesen, Lehrerbildung, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kulturpflege im Freistaat Bayern, Neufassung nach dem Stand 1. 10. 1964. BHStA MK 66032, Betreff: Neufassung der bayerischen Bedarfsfeststellung; hier : Erwägung einer Änderung der bereits genehmigten Fassung, gez. Schmittlein, 10. 01. 1966. BHStA MK 66034, Statistisches Landesamt an das Bayerische Staatsministerium, z.H. Schmittlein, Betreff: Erhöhung der vorausberechneten Schülerzahl an Volksschulen, Bezug: Telefonische Unterredung, 09. 02. 1968. BHStA MK 66166, Rede von Kultusminister Dr. Ludwig Huber vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 7. Mai 1968 – hier: Studien- und Hochschulreform, 07. 05. 1968.
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einer – man beachte den Namen – »ständigen Kommission für Bildungsplanung« zwei Referate für Bildungsstatistik sowie Bildungsplanung eingerichtet wurden. Gleichzeitig betonte der Kultusminister, dass die Bedarfsfeststellung nicht nur die Zahlengrundlage für eine davon autonome Bildungspolitik inklusive einer »gegebenenfalls beabsichtigten Schulreform« diene, sondern auch »den tatsächlichen Bedarf der nächsten Jahre ermitteln« solle. Der Auftrag der Kommission für Bildungsplanung war, entgegen der steten Betonung, dass politischen Entscheidungen nicht durch die Statistik vorgegriffen werde, »eine Gesamtkonzeption für das bayerische Schul- und Bildungswesen zu entwickeln.« Während Huber hier terminologisch nah an der Bedarfskonzeption blieb und auch die in der Bedarfsfeststellung festgesetzten Schlüsselzahlen nicht nur die demographische Entwicklung und Annahmen über die Entwicklung der Nachfrage, sondern auch dezidiert »eine über den augenblicklichen Zustand hinausgehende Verbesserung der Schulverhältnisse«1787 berücksichtigten, während er sogar im Aspekt einer Finanzierung durch neue Schulden den ökonomischen Investitionscharakter dieses Prozesses herausstellte1788, darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass Huber zu keiner Zeit davon sprach, über die Bildungspolitik bestimmte als gegeben genommene gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedarfe decken zu wollen. Folgende Aussage Hubers kann getrost für bare Münze genommen werden: »Unverrückbar über allem Bedarf der Wirtschaft, über allen Erfordernissen der Gesellschaft steht als oberstes Ziel des Bildungsbemühens nach wie vor der Mensch, seine Würde und seine Freiheit. Ohne dieses Ziel wird die Bildung zur Zucht und Dressur, der Mensch zum Werkzeug. Bildung um ihrer selbst und des Menschen willen schließt keines der berechtigten Anliegen der Zeit aus, aber Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Menschen, brauchen Persönlichkeiten und nicht nur Arbeitskräfte und Planstelleninhaber, in der Zukunft noch mehr als im Obrigkeitsstaat der Vergangenheit.«1789 Für Huber war der wirtschaftliche Wert der Bildung zwar existent, durfte aber nicht der Grund von Bildungspolitik sein1790. Mehr noch, wendete sich Huber dezidiert gegen die sich im Vormarsch befindende Bedarfskonzeption. Den Bildungsnotstand, den Georg Picht gerade zum Leitbegriff der Debatte gemacht hatte, lehnte er als Analyse ab. »Ich höre im Übrigen das Wort von dem ›Bildungsnotstand‹ ausgesprochen ungern. Ich sehe große, enorme Bildungsaufgaben, und ich sehe große Bildungsprobleme, aber ich sehe keinen Bildungsnot1787 BHStA MK 66164, Rede zur Einbringung des Haushalts des Kultusministeriums in den Bayerischen Senat, 10. 02. 1965. 1788 Vgl. ebd. 1789 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 1790 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 5–9.
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stand.«1791 Huber sah zwar die Herausforderungen, die die gesellschaftlichen Veränderungen an das Bildungssystem stellten, aber nicht die Bedrohung, die in Pichts Szenario auf die Bundesrepublik zukam. Er betrachtete damit die Aufgabe der Kultusbürokratie als Anpassung des Bildungswesens an eine gesellschaftliche Entwicklung, nicht umgekehrt1792. Vor allem wandte Huber sich aber gegen den »verplanten Menschen«, den er als Folge solcher Bildungsreformen drohen sah: »Ich bin nicht einverstanden mit Pichts quantitativer Betrachtungsweise des ganzen Bildungsproblems. Ihm geht es um die Planung einer quantitativen Vermehrung der Abiturientenzahl. Das hat mit Bildung ganz wenig zu tun. Nach unserer Auffassung ist Bildung die Hilfe, die den Menschen gewährt wird zur vollen Entfaltung seiner persönlichen Anlagen, damit er ein Leben in Freiheit und Würde als Persönlichkeit zu führen vermag.[…] Die rein soziologische Betrachtungsweise gerade von Bildungsproblemen bringt die große Gefahr mit sich, falls sie die verantwortlichen Stellen sich zu eigen machen sollten, dass über der Bildungsplanung der Mensch vergessen wird. Alle gesellschaftlichen Belange und Bedürfnisse von Wissenschaft und Bildung sind durchaus in das Anliegen der Menschenbildung einzuschließen, ohne dass dadurch am Ende der ›verplante‹ Mensch steht.«1793 Von daher stand ein guter Teil der von Huber für seine Politik angegebenen Begründungszusammenhänge der Bedarfskonzeption zumindest skeptisch gegenüber1794, mithin nahmen seine Entgegnungen Elemente der neuhumanistischen Diskursformation auf. Aber Huber konnte auch ganz anders. Nahezu diametral zu dieser Haltung stehen seine Aussagen, als er zur Amtseinführung des Gründungsrektors der 1791 BHStA MK 66163, Münchner Merkur Nr. 241, 07. 10. 1964: Ist der neue Kultusminister in Bayern ein starker Mann? Alle kulturellen Kräfte für die Zukunft. Merkur-Interview mit Dr. Ludwig Huber, von Paul Noack. Es ist damit schwer begründbar, in der Zusammenfassung der Amtszeit Hubers zentral zu setzen, dass »der Kampf gegen ›die Bildungskatastrophe‹ (Picht, G. 1964) […] aufgenommen« wurde, Seibert, Bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 779. 1792 Vgl. BHStA MK 66163, Süddeutsche Zeitung vom 28. 10. 1964: SZ-Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister : Gegen den ›verplanten‹ Menschen. Ludwig Huber hält das Wort von der »Bildungskatastrophe für falsch / Qualität vor Quantität. 1793 BHStA MK 66163, Süddeutsche Zeitung vom 28. 10. 1964: SZ-Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister : Gegen den ›verplanten‹ Menschen. Ludwig Huber hält das Wort von der »Bildungskatastrophe für falsch / Qualität vor Quantität. Vgl dazu auch BHStA MK 66163 Picht, Georg, Süddeutsche Zeitung: Georg Picht antwortet Kultusminister Huber : Wer ist eigentlich der »verplante Mensch«?, 06. 11. 1964. 1794 Der »Huber-Plan«, mit dem »erstmals in Anlehnung an den ›Ruckerplan‹ auch ein konservativer Kultusminister in Bayern eine direkte Verbindung seines Namens mit dem Begriff ›Plan‹ eingegangen« war (Lehning II, S. 795.), war lediglich die außenwirksame, aber kaum rezipierte Zusammenfassung bildungspolitischer Maßnahmen und blieb außerhalb der CSU-Parteikommunikation sowohl begrifflich als auch inhaltlich weitgehend unbeachtet.
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Universität Regensburg sprach – nur Wochen nach der eben zitierten Grundsatzrede vor dem Kulturkongress der Unionsparteien in Hamburg. Nicht nur den »engen Zusammenhang zwischen Wissenschaftsförderung und Wirtschaftswachstum« betonte er ganz allgemein, sondern führte gleichsam den »harten Wettbewerb der europäischen Völker und erst recht der westlichen mit der östlichen Welt« und die »Gründung von Fabriken, [die] Ansiedlung von Industrien, [die] Eröffnung von Raffinerien« auf, wozu diese Universität (!) dienen sollte1795. Auch in der Frage nach Allgemeinbildung oder Spezialisierung bezog Huber dann deutlich Position gegen ein klassisches Bildungsideal. Gerade für die höhere Bildung betonte er : »Wir können auch hier das Rad nicht zurückdrehen. Die Zukunft aber gehört nun einmal dem Spezialisten und der […] Einzelforschung. Dies ist auch der Grund, warum nahezu alle Versuche, ein Studium Generale einzuführen, ziemlich kläglich verlaufen sind.«1796 Huber wandte sich nicht per se gegen den aus seiner Sicht ursprünglichen Gedanken von Wissenschaft, »mit Hilfe des menschlichen Denkvermögens den Sinn des Daseins, das Woher und Wohin des Menschen zu deuten.« Diese Vorstellung dürfte Huber selbst sogar ziemlich entsprochen haben, er betrachtete sie aber als überholt: »Das Erscheinungsbild der heutigen Wissenschaft wird von anderen Grundprinzipien geprägt. […] Die Wissenschaft hat heute nicht mehr allein die Aufgabe, das Leben zu deuten, sondern das Leben meistern zu helfen. Die Wissenschaft gehört heute neben Kapital, Boden und Arbeit zu den fundamentalen Produktionsmitteln aller menschlichen Gemeinschaft.« Damit begab Huber sich in den bedarfsorientierten Diskurs und ging sogar noch weiter : Wissenschaftsförderung sei kein »Anliegen von Kulturbeamten und weltfremden Gelehrten […], sondern ein vitales und zentrales Lebensinteresse des ganzen Volkes, seiner wirtschaftlichen und politischen Existenz […]. Ohne sie werden wir in dem einzigen Wettkampf, der heute unter den Völkern noch sinnvoll ist, mit ungeheurer Schnelligkeit zurückfallen, von den Arbeitsergebnissen anderer Völker leben und das nur so weit und so lange, als deren eigenes Interesse es uns zugesteht. Diese Sätze mögen vielleicht etwas fremd klingen in einer Haushaltsrede des Kultusministers, man mag sie eher in der des Wirtschaftsministers vermuten, […] aber sie zeigen die veränderte Situation in den Voraussetzungen unserer wirtschaftlichen und sozialen Existenz an.«1797 Auch Alfons Goppel, der gerade in der Volksbildung keinen Zweifel an der 1795 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers für Unterricht und Kultus Dr. Ludwig Huber anlässlich der Amtseinführung des Gründungsrektors der Universität Regensburg am 27. 11. 1964. 1796 BHStA MK 66163, Main-Post: Ludwig Hubers 100 Tage: Kulturpolitik im Brennpunkt, 31. 12. 1964. 1797 BHStA MK 66164 Haushaltsrede des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus Dr. Ludwig Huber vor dem Bayerischen Landtag, 1965, S. 2677f.
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werterzieherischen Aufgabe der Schule ließ, hatte im akademischen Bereich die ökonomische Seite im Sinn. Ihm stand nicht nur vor Augen, dass das internationale Wettrüsten in der Wissenschaft auch an Bayern nicht vorbeigehe – im Gegenteil, er forcierte die Investitionen in die Universitäten und erklärte 1966 in voller Überzeugung, »eine gut gebildete und ausgebildete Jugend, hoch entwickelte Wissenschaften und ergebnisreiche Forschungen sind unentbehrliche Grundlagen auch für den wirtschaftlichen Fortschritt.«1798 1969 bat er das Kultusministerium explizit, bei einer Aufstellung der Pläne zum Ausbau der Fachhochschulen und Universitäten im Land, diese »auch unter dem Gesichtspunkt des Bedarfes von Staat und Wirtschaft an Hochschul- und Fachhochschulabsolventen« zu betrachten1799. Aber sein Einsatz für die Wissenschaft stand losgelöst von der Volksbildung, die damit nur wenige Berührungspunkte hatte. Ludwig Huber hatte in seinen Haushaltsreden 1965 und 1966 einen neuhumanistischen Begründungszusammenhang für die Bildung bedient, wodurch er maßgeblich seine Zurückhaltung gegenüber ökonomisch ausgerichteter Planung begründete. Damit zielte er gleichermaßen auf die eigenen Reihen wie auf die Opposition. Die Regierungs- und Fraktionskollegen, für die das Vorantreiben der Bildungsexpansion weniger wichtig war als ihm selbst, konnte er so seiner ideologischen Nähe versichern, und der Opposition konnte er unterstellen, die Funktionalisierung des Menschen zu betreiben. Als 1966/67 allerdings die erste größere Nachkriegsrezession Deutschland erfasste und aufgrund einer schlechteren Steuersituation die mittelfristigen Haushaltsplanungen angepasst werden mussten und daher letztlich sogar gegen Hubers Votum die Einführung des neunten Schuljahrs verschoben wurde, änderte sich Hubers Argumentation: »Der Wettbewerb unter den Völkern der Erde, ja der Existenzkampf der Völker, wird heute in den Forschungsstätten ausgetragen. Die ausgebildete und einsetzbare geistige Potenz ist das höchste Kapital eines Landes. […] Bildung und Wissenschaft sind langfristige und kostspielige Investitionen, ohne die alle materiellen Anstrengungen nutzlos werden, ohne die eine blühende Wirtschaft allmählich austrocknet und ein Volk in Armut und Abhängigkeit versinkt.«1800 Aus dieser Analyse zog Huber kohärente Schlüsse und scherte 1798 Goppel, Regierungserklärung 1966, zitiert nach Lehning II, S. 645: »Strukturverbesserung und Verbesserung der Möglichkeiten für Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung. [Denn] alle Anstrengungen wären umsonst, wenn wir nicht auch in Bildung und Forschung den Anschluss an die Welt fänden und hielten. Eine gut gebildete und ausgebildete Jugend, hoch entwickelte Wissenschaften und ergebnisreiche Forschungen sind unentbehrliche Grundlagen auch für den wirtschaftlichen Fortschritt.« 1799 BHStA StK 17677, Nr. A I 5-410-6-1, An das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Betreff: Bildungskonzeption in Bayern, zur Note vom 11. 7. 1969 Nr. A/3-1/77 871, 09. 09. 1969. 1800 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 5. Die Haushaltsrede wurde unter dem Titel »Investitionen in Bildung« veröffentlicht.
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damit in seiner Argumentation nicht nur zur Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel für den Kulturetat, sondern auch zu deren Verwendung voll in die bedarfsorientierte Diskursformation ein: »Die Bayerische Staatsregierung hat die wirtschaftspolitischen Aspekte zusammen mit den sozialen und humanitären Motiven für eine aktive Bildungspolitik in den Mittelpunkt ihres politischen Programms gestellt. Die gewaltigen Anstrengungen der letzten Jahre bringen erste und schöne Erfolge. Die Staatsregierung wird ihre Bildungspolitik fortsetzen, weil sie richtig und notwendig ist, auch in der Zeit finanzieller Anspannung. Allerdings wird auch im Bereich von Bildung und Wissenschaft sorgfältig geplant, rationell gearbeitet und sparsam gewirtschaftet werden müssen. Zu diesem Zweck wird die systematische Bildungs- und Hochschulplanung verstärktes Gewicht erhalten.«1801 Auch die Einschätzung der Opposition zu Huber in diesem Jahr lässt ihn in einem der Planung zugewandten Licht erscheinen1802, nicht zuletzt gibt die erhaltene Literaturliste zur Vorbereitung der Haushaltsrede Aufschluss über die intensive Auseinandersetzung mit Bildungsökonomik1803. Obwohl Huber sich mit scharfer Rhetorik gegen Pichts Analyse der Bildungskatastrophe, gegen den »verplanten Menschen« und »quantitative Betrachtungsweisen« wendete und in Ansprachen vor der Wählerschaft die Bedeutung von Kirche, Gemeinde und überzeitlichen Werten hervorhob, oszillierte sein politisches Wirken zwischen der Bedarfskonzeption, die maßgeblich für den Bereich der höheren Schulen und der Wissenschaft Anwendung fand, und dem konservativen Laissez-faire der neuhumanistischen Konzeption, das die – gleichwohl schnelle – Entwicklung der volkstümlichen Bildung passiv begleitete. Die zentrale Planung in der Kommission für Bildungsplanung blieb bis mindestens zum Ende der sechziger Jahre ohne große Wirkung1804 und was auch als ›Planung‹ bezeichnet wurde, erreichte nie eine Qualität, die sich an den Maßgaben von Bildungsökonomen wie Friedrich Edding hätte messen lassen können. Deutlich wurde die Zurückhaltung Hubers auch im Kontrast zu seinem 1801 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 9f. 1802 Vgl. Lehning II, S. 797. 1803 BHStA MK 66014, Beilage zum Entwurf B 84-1/74057: Literatur für die Haushaltsrede, 1967. Darin sind unter anderem folgende Einträge enthalten: Dr. Hamm-Brücher : Bildung des einzelnen entscheidet die Zukunft aller; Internationale Probleme der statistischen Erfassung der Forschungs- und Entwicklungs-Ausgaben, Stifter-Verband für die Deutsche Wissenschaft; Altenmüller : Rationalisierung der Forschung; in ›Wirtschaft und Wissenschaft‹; Poignant: Das Bildungswesen in den Ländern der EWG; Edding: Ökonomie des Bildungswesens; Palm: Die Kaufkraft der Bildungsausgaben; Edding: Bildung und Politik; Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand Nr. 2 der Reihe Europäische Kulturpolitik; Wirtschaft und Schule, Westdeutscher-Verlag; Erziehung für morgen (Schulreformpläne, den Eltern erläutert), Baden-Württemberg; Bildungswege in Baden-Württemberg; Edding: Methods of analyzing educational outlay ; Robbins-Bericht. 1804 Vgl. Lehning II, S. 784.
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Vorgänger Maunz, der zuletzt ein unkritischeres Verhältnis zu Planungsthemen pflegte und in die im bundesrepublikanischen Bildungsdiskurs bis weit über die Mitte der sechziger Jahre hinaus dominante bedarfsorientierte Diskursformation einscherte. Huber hielt nicht nur dessen Plan zur Landschulreform zurück, sondern gab sich auch alle Mühe, die Bedeutung von Bedarfsfeststellung und Schulentwicklungsplan zu relativieren. Für Maunz lag in der Planung eine Chance, während sie für Huber notwendiges Übel zu sein schien. Wo er sie ablehnte, tat er dies aus grundsätzlichen Erwägungen. Wo er hingegen planerische Maßnahmen begründete, schien dies stets die Reaktion auf eine sich verändernde Umwelt zu sein. Hubers Äußerungen zur Bildungsplanung blieben inkohärent, was verschiedene Gründe gehabt haben dürfte. Mit den bei Amtsantritt übernommenen Plänen von Maunz hatte Huber auch unmittelbar deren Schwächen vor Augen, da die enthaltenen Zahlen schon nach kurzer Zeit überholt waren. Huber dürfte alsbald gemerkt haben, dass die Planungsgrundlagen zu sehr im Fluss waren, um nicht auch die Planungsziele permanent anpassen zu müssen. Wie Maunz seine langfristigen Pläne aus einer Phase heraus avisierte, in der ihm im Anschluss an die turbulenten Nachkriegsjahre wieder größere, längerfristige Ordnung einzukehren schien, glaubte Huber nicht daran, dass man die Entwicklung längerer Perioden wieder werde absehen können: »Vielleicht entstehen deshalb zur Zeit so viele Pläne, weil eine große Aufgabe, frei von allzu vielen vorgegebenen Tatsachen, noch immer die Phantasie beflügelt hat, vor allem, wenn die Planer und Propheten nicht riskieren müssen, die von ihnen geplanten Häuser selbst bauen oder gar bewohnen zu müssen.«1805 Während also die Planungseuphoriker der sechziger Jahre meinten, durch die neu entstehenden Möglichkeiten der Wissenschaft künftige Entwicklungen besser absehen zu können, war Huber der Auffassung, dass dies nur eine Reaktion auf eine immer unvorhersehbarere Zukunft sei. Entsprechend verweigerte er sich nicht der Planung, die er für notwendig hielt, ohne aber an ihre Potenz zu glauben, wie es für eine Einreihung in die Bedarfskonzeption nötig gewesen wäre. Dass die sichtbaren Ausblühungen der Bedarfskonzeption in der Zeit Hubers nie eindeutig genug wurden, um seine Politik darauf zurückzuführen, bedeutet nicht, dass der Diskurs dazu das Ministerium nicht erreicht hatte. Der Referent für Bildungsstatistik Dr. Konrad Schmittlein, Mathematiker, identifizierte sich stark mit dem Planungsgedanken, wahrte aber auch gerade aus fachlichen Gründen eine kritische Distanz. Von der KMK als alleiniger Vertreter entsandt, nahm er 1967 in Dublin an einem von der OECD veranstalteten »Seminar über quantitative Techniken der Bildungsplanung« teil. Hauptkritikpunkt in seinem 1805 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber.
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Bericht war, dass »die gezeigten quantitativen Techniken fast ausschließlich von ihrer formalen Seite betrachtet wurden. Es wurden die Ausgangsmaßnahmen festgesetzt und es wurde an Übertritts- und Erfolgsquoten in Erziehungssystem oder an Zuwachsraten im Wirtschaftssystem manipuliert, ohne dass man sich Rechenschaft über die sachliche Berechtigung solcher Veränderungen und ihre sachlichen Folgen in der Wirklichkeit (nicht die formalen, mathematischen Folgen im Modell) gegeben hätte.« Er resümierte, dass »die Wissenschaft von der Planung noch sehr vielen offenen Problemen gegenübersteht«1806. Schmittlein war es aber auch, der 1966 den Makroökonomen Carl Christian von Weizsäcker ins Spiel brachte, der »ein quantitatives Modell des Bildungswegs in der Bundesrepublik« erarbeitet hatte, das nach Schmittleins Ansicht »es verdient, ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden«1807. Aus rechtlichen (Datenschutz), finanziellen und insbesondere politischen Bedenken wurde ein weiteres Verfolgen des Ansatzes im darauffolgenden Jahr abgelehnt. Auch wenn das Konzept nur »Entscheidungshilfen« für die Politik liefern sollte, sei »nicht auszuschließen, dass diese Entscheidungen irgendwie präjudiziert werden.«1808 Bildungsplanung nach der Bedarfskonzeption hieß auch starke Zentralisierung, ein Abrücken von der Landes- auf die Bundesebene oder gar darüber hinaus. Für die Bayerische Staatsregierung war schon der Schritt, Kompetenzen von den Gemeinden auf die Regierungsbezirke und das Land zu übertragen, sehr schwierig, eine völlige Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip aber undenkbar. Die Kompetenzfrage wurde von Huber auch unverblümt angesprochen: »Wer die Planungen macht, der macht die Politik; für eine eigenständige und selbstverantwortliche Bildungspolitik der Länder ist kein Raum mehr, wenn der Bund nach den Vorstellungen uneinsichtiger Unitaristen für die Bildungsplanung zuständig wird.« Dem Bestreben eines großen Teils der interessierten Teilöffentlichkeit in Deutschland und der neuen Bundesregierung, den Bildungsföderalismus der besseren Planungsmöglichkeiten halber zu lösen und die Kompetenzen auf den Bund zu übertragen, erteilte Bayern stets eine Absage, war aber wiederum gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. In diesem Sinne wurde 1806 BHStA MK 66034, Anlage z. RS. Nr. II E 1.183/67Dr. Konrad Schmittlein, Bericht über das OECD-Seminar über quantitative Techniken in der Bildungsplanung vom 4. bis 20. 09. 1967. 1807 Erstmals unter BHStA MK 66014, Oberstudienrat Dr. Schmittlein im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Nr. MB 4-1/100434, Herrn Professor Dr. Hans Maier, Betreff: Studie von Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker über »ein quantitatives Modell des Bildungswegs in der Bundesrepublik«, 08. 09. 1966. Ausführlicher bei BHStA MK 66046, MB 4-1/123 034, Betreff: Projekt ›Ein quantitatives Modell des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland‹ (sogenanntes Weizsäcker-Modell), 18. 11. 1966. 1808 BHStA MK 66046, Nr. MB 5-1/37687, Betreff: Quantitatives Modell des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland (sog. Weizsäcker-Modell), 23. 03. 1967.
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die bayerische Bildungspolitik durch diskursive Mechanismen von diesem Thema gleichfalls mitgerissen, unabsichtlich und in reduziertem Maße, aber ein völliges Ausklinken aus der bedarfsorientierten Diskursformation hätte das Kappen aller Kanäle zum Gesamtdiskurs, die eigene Isolation bedeutet – im politischen Raum unmöglich. Die Einrichtung eines eigenen Staatsinstituts für Bildungsforschung und -planung muss von daher auch als Ergebnis einer im Gesamtdiskurs zu Bildungspolitik dominanten Diskursformation gewertet werden1809.
Maiers Bedarfsplanung unter umgekehrten Vorzeichen Originär sollte diese Diskursformation allerdings noch einmal unter Hubers Nachfolger Prof. Hans Maier reüssieren, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Bald setzte sich die Antizipation gesellschaftlicher Bedarfe als Argument entgegen weiterer Expansion durch. Hatte Huber noch 1964 vorgebracht, »die moderne Gesellschaft kann ihre Probleme nur noch mit Hilfe der Wissenschaft lösen, wodurch der Bedarf an Akademikern in ungeahnter Weise zugenommen hat«1810, erklärte er fünf Jahre später, »ich habe große Bedenken dagegen, dass […] immer mehr in den sogenannten Hochschulbereich drängen, ohne dass zwingende sachliche Notwendigkeiten dafür erkennbar wären.« Nur weil es Menschen gegenüber »brutal und ungerecht« wäre, wolle er es unterlassen, »davor zu warnen, dass man bei der Ausbildung am Bedarf vorbeiproduziert.«1811 Schon zuvor hatte Prof. Hans Maier als Mitglied des Deutschen Bildungsrates seine politische Haltung wiedergegeben. Er sprach sich zwar für die Verbesserung der Bildung aus, für einen längeren Schulbesuch breiterer Massen, wollte diese dann aber nicht mehr an den Hochschulen sehen. Für ihn hatten »kräftig entwickelte Aufstiegswünsche in der Gesellschaft (›Bildung ist Bürgerrecht‹), die in den letzten Jahren […] auf das gleißende Statussymbol des Abiturzeugnisses hingelenkt wurden«, die Jugend ans Gymnasium (»von Natur aus nicht rolltreppenartig, sondern elitär angelegt«) gebracht. Diese strömten nun an die Universitäten, in Maiers Augen der falsche Kanal, da Masseninvasion und Leistungs-Dumping die Folge seien. Stattdessen sollte das Abitur zwar weiter Hochschulzugangsberechtigung sein, aber unterhalb des Abiturs könnten neue Verteilerkreise die Schülerströme von vornherein in andere, praktischere 1809 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 26: »Die Notwendigkeit und Bedeutung der Planung des Bildungswesens ist von den Ländern längst erkannt worden. Bayern hat ein eigenes Staatsinstitut für Bildungsforschung und -planung eingerichtet.« 1810 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers für Unterricht und Kultus Dr. Ludwig Huber anlässlich der Amtseinführung des Gründungsrektors der Universität Regensburg am 27. 11. 1964. 1811 Huber, Haushaltsrede 1969, S. 14.
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Richtungen lenken. Letztlich sollte es für Maier, zu dieser Zeit ohne politische Verantwortung, darauf hinauslaufen, das Gymnasium in der Differenziertheit des Schulsystems wieder exklusiver zu gestalten, und dafür »sinnvolle Querverstrebungen zu den Realschulen, möglicherweise sogar zu den Hauptschulen schaffen«1812. Im Grunde hieß das, die Schülerströme vom Weg über Gymnasium und Abitur ins Studium umzuleiten in die berufliche Bildung1813. Jener Hans Maier, Münchner Professor für Politikwissenschaft, löste im Dezember 1970 Ludwig Huber als Kultusminister ab und ordnete die Parameter der Bildungsplanung neu. Wo zuvor die Gleichung des Bildungssystems nach der Ausschöpfung der Begabungsreserven gelöst worden war, degradierte Maier sie zum Parameter unter anderen: Das dem Wunsch zur optimalen Förderung eines jeden zugrundeliegende »individualrechtliche, anspruchsrechtliche Verständnis des Rechts auf Bildung stößt an seine Grenzen. Die Summe der individuellen Ansprüche ist, wie sich gezeigt hat, zu groß, um durch staatliche Bereitstellung ad hoc lückenlos befriedigt zu werden. Überall fehlen heute im Schulund Hochschulbereich die personellen und sachlichen Kapazitäten, doppelt schmerzlich in einer Zeit der abflachenden Steuerprogression. Daher der stärkere Ruf nach langfristiger Bildungsplanung und -finanzierung, daher die immer deutlicher Tendenz der Finanzexperten, hochfliegenden Plänen der Bildungsreform zeitig das Kettenhemd finanzieller Realisierbarkeit anzumessen.«1814 Zwar war bereits 1968 Hubers Haushalt den Steuereinnahmen entsprechend eingedampft worden, allerdings ging es fortan nicht nur ums Sparen, sondern um eine Bildungsplanung unter Knappheitsaspekten. Die Frage war also nicht nur absolut, ob sich eine Ausgabe lohnte, sondern auch, wofür sich eine Ausgabe mehr lohnte, relativ zu anderen Möglichkeiten, das Geld zu verwenden. Auch die Frage, ob eine Investition in Quantität oder in Qualität zu fließen habe, sollte künftig ständig beantwortet werden. Maier ging so weit und postulierte acht Jahre nach Picht erneut eine »deutsche Bildungskatastrophe […] – jedoch in anderem Sinn«. Maier beklagte, wie schnell sich die Zahl der Abiturienten und Studienanfänger vermehrt habe, und rechnete dies nicht nur gegen die immer knapperen Kapazitäten, sondern auch gegen den ökonomischen Bedarf auf: »Akademisch Ausgebildete können in Zukunft – die gleiche Vermehrungsquote wie bisher vorausgesetzt – nicht mehr alle mit der Aufnahme in akademische Berufsstellungen rechnen.« Maier sprach schon auf den ersten Seiten seines keine zwei Jahre nach Amtsantritt herausgegebenen Manifests »Zwischenrufe zur Bildungspolitik« von der »Überproduktion von 1812 BHStA MK 66165, Maier, Hans, Zu viele Abiturienten studieren. Auch das Gymnasium muss differenziert werden. In: FAZ 268 vom 17. 11. 1967. 1813 Maier, Zwischenrufe, S. 14. 1814 Maier, Hans, »Wider das bildungspolitische Konsumdenken«. In: DIE ZEIT 9/1971.
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Akademikern«, prognostizierte mit Berufung auf Edding »ein akademisches Proletariat« und erklärte mit einem SPIEGEL-Zitat die durch die Bildungsreform geschaffenen Probleme: »So bringt, wie es scheint, die Behebung des Bildungsnotstands die Gebildeten in Not. Und just die Maxime, dass Bildung – wie der Soziologe Ralf Dahrendorf formulierte – ›ein Bürgerrecht‹ ist, konnte gebildete Bürger arbeitslos machen.«1815 Der hier von Maier zitierte Artikel setzt sich maßgeblich mit den wirtschaftlichen Bedarfen nach Akademikern auseinander und zeichnet eine »düstere Zukunft«, in der mit verschwendetem Steuergeld falsch ausgebildeten Akademikern die Arbeitslosigkeit drohe1816. Für dieses Szenario scheute Maier sich nicht einmal, angesichts drohender »fünfzig Prozent Studienanwärter 1980 […], aber nur für fünfzehn Prozent Akademikerpositionen«, die Frage zu stellen: »Hat man vergessen, dass die Schubkraft des Nationalsozialismus neben den arbeitslosen Massen vor allem von beruflich gescheiterten Akademikern gebildet wurde?«1817 Für Maier war der Bildungsbereich in seiner Expansion »weithin der Steuerung durch die Nachfrage« überlassen worden, was zu einer »von Schlagworten vorangetriebenen Selbstrotation und Selbstvergrößerung der alten pädagogischen Provinz, bei der die Politiker nur Erfüllungsgehilfen waren«, geführt und die Bildungsetats an ihre Grenzen gebracht habe, wodurch erst »die verdrängten Fragen nach Beruf und Bedarf und die Forderung nach einer bildungspolitischen Gesamtsteuerung erneut auftauchten«. Maier wandte sich gegen Pichts Forderung nach Erhöhung der Abiturientenzahlen, gegen Dahrendorfs Vorstellung von Bildung als Anspruchsrecht und individuelle Ermächtigung und fand darin »eine Restauration der Humboldt’schen Bildungsidee mit ihrem Pathos der Distanz zur Welt der Arbeit, der Geschäfte und Berufe.« Als »einzig bleibenden Gewinn« des vorangegangenen Jahrzehnts bezeichnete er die Erschließung der Fläche durch das Bildungswesen, wodurch ein regionaler Ausgleich erzielt worden sei1818. So sehr Maier sich auch von Pichts konkreten Forderungen des Jahres 1964 abgrenzte, so machte er sich doch dessen Ziel, das Bildungswesen nach ökonomischen Bedarfen zu planen, zu eigen und ging darüber hinaus. Zwar grenzte er sich von der totalen Planung des Sozialismus ab. Er erkannte der individuellen Nachfrage jedoch lediglich ein gewisses Vorrecht zu, nicht aber den Anspruch, »das alleinige Steuerungsmoment der Bildungspolitik« zu sein: »Man würde sonst bei einem pädagogischen Manchesterliberalismus landen. Vielmehr müssen gesellschaftlicher Bedarf und individueller Anspruch miteinander vermittelt werden.«1819 Selbst den Verweis auf den Wettbewerb der Systeme zwischen Ost 1815 1816 1817 1818 1819
Maier, Zwischenrufe, S. 7–10. »wird abgeschafft«. In: DER SPIEGEL 23/1972. Maier, Zwischenrufe, S. 62. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 51.
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und West blieb Maier nicht schuldig und begründete die Verpflichtung des Einzelnen auf die Gesellschaft und die Notwendigkeit zur Spezialisierung auch damit, dass sich »die westlichen Staaten dem von [den sozialistischen Ländern] ausgehenden Konkurrenzdruck nicht lange entziehen können«1820, und übernahm damit gleichermaßen die der Bedarfskonzeption eigene Zwangsläufigkeit. Auch in eigenen Prognosen über die Zukunft nahm Maier sich nicht zurück, wozu man seiner Ansicht nach »nur die erkennbaren Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft in die Zukunft zu verlängern«1821 brauche. Vor allem aber wandte sich Maier gegen all diejenigen, die meinten, »Bedarfsprognosen seien in einer freien Gesellschaft nicht annäherungsweise möglich. Außerdem sei Bildung, jenseits aller beruflichen Nutzung, ein emanzipatorischer Wert an sich. Hier liegt ein doppelter Irrtum vor. Bedarfsprognosen sind möglich, wie die Gesellschafts- und Wirtschaftsforschung zeigt, die ebenso wie die Bildungsforschung im flüssigen Element einer offenen Gesellschaft arbeiten muss.« Maier nannte die Bedarfsfrage systemstabilisierend, wehrte sich dagegen, dass sie tabuiert dadurch werde, dass »ein Humboldt’scher Bildungsbegriff mit seinem Pathos der Distanz zur Welt der Berufe und der Arbeit von der Linken mit aller Zähigkeit verteidigt« werde. Seine Analyse der Gegenwart lautete: »Das souveräne Individuum entscheidet in kreativer Dezision. Die Gesellschaft hat nichts zu sagen. In der Tat ist der Bildungsbereich der letzte Schlupfwinkel eines planungsfeindlichen Individualismus und Altliberalismus […]. Aber eine freie Gesellschaft braucht auch Planung im Bildungsbereich als Widerlager individueller Anspruchsrechte, sonst versinkt sie in einem liberalen Planungschaos.«1822 Bereits in seiner zweiten Haushaltsrede 1973 blickte er zufrieden auf diese Äußerungen zurück und sah sich bestätigt: »Es ist längst keine bayerische Sondermeinung mehr, sondern bildungspolitisches Allgemeingut, dass Bildungsplanung nicht nur die Nachfrage, sondern auch Bedarf und berufliche Praxis berücksichtigen muss. Manchmal gehen die bayerischen Uhren eben vor.«1823 Diese Äußerungen Maiers entspringen dem Zentrum der Bedarfskonzeption.
Die Erhebung der »Begabtenreserven« Das Wort der Begabungsreserven ging also auch an der bayerischen Landesregierung nicht vorbei. Die am breitesten diskutierte Lösung allerdings kam in Bayern nicht in Frage. Eine stärkere Integration von Volksschule und Höherer Schule durch eine Horizontalisierung des Bildungswesens wurde abgelehnt. Die 1820 1821 1822 1823
Ebd., S. 42. Ebd., S. 45. Ebd., S. 51f. Maier, Hans, Haushaltsrede 1973, S. 223, abgedruckt in: Ders., Anstöße, S. 218–226.
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Alternative dazu war es, die besonders Begabten spezifisch zu bestimmen, genau zu selektieren und entsprechend zu fördern, vor allem aber erst einmal die räumlichen und materiellen Möglichkeiten zu schaffen. Begabung war in diesem Sinne das, was die Kinder in der Volksschule zu zeigen in der Lage waren, wo sie etwa über den mittleren Anspruch einer Klasse herausragten. Ein tieferliegendes, aktiv zu entwickelndes Potential war damit nicht gemeint, was die Opposition auch deutlich kritisierte1824. Bereits 1963 hatte die Landesregierung planvoll mit einer »Erhebung der Begabungsreserven« als »erste Voraussetzung für Maßnahmen, die dieser Förderung dienen sollen«1825, begonnen. Diese Erhebung wurde im darauffolgenden Jahr als »von außerordentlicher Bedeutung« aufgefasst, nicht nur für Bayern, sondern als Vorbild für die Bildungsplanung in der gesamten Bundesrepublik: »Ähnliches liegt bisher in der pädagogischen Literatur, soweit ich unterrichtet bin, noch nicht vor. Alle bisherigen Untersuchungen sind Repräsentativbefragungen von geringer Zuverlässigkeit gewesen. Demgegenüber fundiert die bayerische Erhebung auf exakten Voraussetzungen und umfasst das ganze Land, so dass ihre Zuverlässigkeit nicht bezweifelt werden kann.«1826 Herausgegeben 1965 unter dem Titel »Bayern überprüft seine Begabungsreserven«, kam die Erfassung zu folgenden Resultaten: »Die Untersuchung erbrachte eine bayerische Begabtenreserve von 7 % für die Höhere Schule und ein Begabungspotential von 9 % für die Mittelschule. M. a. W.: Nach Volksschullehrerurteil sind 26 % eines Altersjahrgangs für die Oberschule geeignet; davon treten aber (bis zum Ende des 8. Schuljahres) tatsächlich nur 19 % in die Höhere Schule ein. 7 % verbleiben als Oberschulbegabungsreserve in der Volksschule, wovon später allerdings 4 % in andere weiterführende Schulen, z. B. Handelsschulen, übergehen. Entsprechend schätzen die bayerischen Lehrer 24 % eines Altersjahrgangs als mittelschulbegabt, tatsächlich treten jedoch nur 15 % in die Mittelschule ein. Von den in der Volksschule verbliebenen 9 % — also der Mittelschulbegabungsreserve — werden 2 % später noch zur Handelsschule übergehen«1827 Aus diesen Ergebnissen zog das Kultusministerium nicht wie andernorts den Schluss, dass es das tradierte Schulsystem selbst sei, das die unterschiedlichen Begabungen nicht zur Genüge fördere und daher grundsätzlich geändert werden 1824 Vgl. BHStA MK 66164, Bayerischer Landtag, 5. Wahlperiode, 73. Sitzung, Stenographischer Bericht, 16. 03. 1965. Hier Hildegard Hamm-Brücher. 1825 BHStA MK 66043, Nr. VIII 62 259 An die Bezirks- und Stadtschulämter in Bayern, Betreff: Erhebung über Begabungsreserven, 04. 07. 1963. Vgl. für eine genauere Darstellung des Verfahrens Lehning II, S. 821f. 1826 BHStA MK 66043, Nr. VIII 99 225, Betreff: Erhebung über Begabungsreserven, 23. 03. 1964. 1827 Heller, Kurt, Zum Problem der Begabungsreserven, S. 360. In: Lückert, Heinz-Rolf (Hrsg.), Begabungsforschung und Bildungsförderung als Gegenwartsaufgabe, München, Basel 1969, S. 352–430.
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müsse, sondern suchte Lösungen innerhalb dieses Systems. Huber wollte gewährleisten, dass all die in die höhere Schule übertreten könnten, die genügendes Potential aufwiesen. So ging er davon aus, dass sich »zusammenfassend […] eine Steigerung der Abiturientenzahlen um mindestens 50 % der jetzigen Zahl im herkömmlichen Ausbildungssystem erreichen« lasse1828. Er stellte sich nicht gegen die Selektion, sondern wollte eine bessere Selektion. Anerkannt wurde also eine natürlich unterschiedliche Begabung, die von sozialen Prädispositionen aber derart unabhängig war, dass davon ausgegangen wurde, dass für das höhere Schulwesen ausreichend begabte Kinder aus sich selbst heraus die Entwicklung dorthin vornehmen könnten und weitgehend keine kompensatorischen Maßnahmen nötig seien. Dem entsprach auch die Art und Weise der Erhebung der Begabungsreserven im Schuljahr 1962/1963. Erkannt wurden als solche die sieben Prozent der Schüler, die nach Einschätzung der Volksschulen für den Besuch einer Höheren Schule geeignet seien, aber auf der Volksschule blieben. Bei der Ausschöpfung dieser Reserve und der Reduzierung der nicht leistungsbedingten Abbrecherquote sah man eine natürliche Grenze für die Zahl der Abiturienten1829, die allerdings angesichts der niedrigen Ausgangssituation eine Erhöhung der Gymnasiastenzahlen bis 1970 um 50 Prozent bedeutet hätte1830. Dass die erheblichen Unterschiede in den von den jeweiligen Volksschulen angegebenen geeigneten Kindern zwischen Stadt und Land, katholischen und evangelischen, voll ausgebauten und einklassigen Volksschulen sowie den einzelnen Regierungsbezirken stark variierten, wurde erst nach Veröffentlichung der Folgeerhebung diskutiert1831. Dem entsprach ein nachfrage- und nicht bedarfsorientierter Planungsansatz, allerdings in dem Sinne, dass die Nachfrage sich nicht an den von den äußeren Bedingungen unabhängigen Möglichkeiten der einzelnen Schüler, also den Brutto-Begabungsreserven orientierte, sondern lediglich an denjenigen, die sich unter gegebenen Bedingungen für ein höheres Bildungsangebot als geeignet erwiesen und dazu entschieden. So wurde etwa wegen der erhöhten Nachfrage nach Mittelschulen deren Ausbau forciert1832. Gezielte Steuerung der Schülerströme in bestimmte Schulformen blieb damit aber aus. Folglich schloss auch Ludwig Huber alleine aus dem Vorhandensein einer finanziellen Begabtenförderung, also der technischen Möglichkeit für jeden Schüler, bei entsprechender Begabung eine höhere Schule zu besuchen, dass »das Ziel des Begabtenförderungs1828 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964. 1829 Vgl. Lehning II, S. 822. 1830 Vgl. ebd., S. 832. 1831 Vgl. ebd., S. 825 u. 827. 1832 BHStA MK 52133, Die Bayerische Staatskanzlei teilt mit: Über die heutige Sitzung des Ministerrats, 08. 01. 1963.
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gesetzes […] weitgehend erreicht [wurde], das Ziel nämlich, dass kein begabter junger Mensch von einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Bildung aus finanziellen Gründen ausgeschlossen bleiben muss.«1833 Die schwierigeren Bedingungen für gleichermaßen Begabte bei unterschiedlicher Herkunft1834 fanden nur insofern Anerkennung, als ein freiwilliger Ergänzungsunterricht im Gymnasium, in den Fächern Deutsch, Mathematik und in der ersten Fremdsprache »die Schwierigkeiten verringern [sollte], die für viele Kinder, auch wenn sie hinreichend begabt sind, mit dem Übergang von der Volksschule zum Gymnasium verbunden sind. Besonders Arbeiter- und Bauernkinder sollten auf diese Weise gefördert werden, eine annähernde Startgleichheit für alle wird angestrebt.«1835 Diese Lesart autonom vorhandener Begabung bröckelte allerdings bald, als die großen Begabungsunterschiede zwischen einklassigen und mehrklassigen sowie zwischen protestantischen und katholischen Bekenntnisschulen evident wurden1836. Der Kultusminister sah sich mit der eindeutigen Analyse konfrontiert: »Die vorliegenden Zahlen legen die Annahme nahe, dass die Zahl der als geeignet bezeichneten Schüler nicht nur durch die Anzahl der tatsächlich geeigneten Schüler, sondern auch durch den Anteil der jedes Jahr wirklich übertretenden Schüler bestimmt ist.«1837 Huber sprach in der folgenden Haushaltsrede dann selbst ganz konkret Landkinder an, und sogar mit dem Stichwort der Milieusperre die »Kinder von Arbeitern und Bauern«, sowie »Kinder von katholischen […] Eltern«. Als »System von Maßnahmen«, den Missständen zu begegnen, bezeichnete er »u. a. die Landschulreform, den Schulentwicklungsplan, die finanzielle Begabtenförderung, die Elternaufklärung und -beratung, den methodischen Anpassungsunterricht«.1838 Prämisse der gesetzten Maßnahmen war, dass sie Angebotscharakter behielten und Optionen aufzeigten, sogar dafür warben. Sie sollten nicht aktiv in die Entwicklung der Gesellschaft eingreifen. Für die Amtszeit Hubers wie auch 1833 Huber, Entscheidung für Bildung. Haushaltsrede 1968, S. 22. 1834 Vgl. dazu BHStA MK 66164, Bayerischer Landtag, 5. Wahlperiode, 73. Sitzung, Stenographischer Bericht, 16. 03. 1965, Hildegard Hamm-Brücher. 1835 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 37. Vgl. auch Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 772. 1836 Vgl. BHStA MK 66043, Nr. I 41 607 o. V. Betreff: Begabtenreserven aufgeschlüsselt nach Ausbau und Bekenntnisgepräge der Volksschulen, 10. 06. 1965: »Die Zahl der für den Übertritt in die Höhere Schule als geeignet bezeichneten Schüler nimmt von 10,2 % bei den einklassigen bis zu 22,7 % bei den achtklassigen Volksschulen zu. Ebenso ist der Anteil der als geeignet bezeichneten Schüler in den evangelischen Bekenntnisschulen größer als in den katholischen (die Gemeinschaftsschulen liegen dazwischen); dabei liegen jeweils die Werte in den Großstädten über den Durchschnittswerten aller Schulen des betreffenden Bekenntnisgepräges.« 1837 BHStA MK 66043, Nr. I 41 607 o. V. Betreff: Begabtenreserven aufgeschlüsselt nach Ausbau und Bekenntnisgepräge der Volksschulen, 10. 06. 1965. 1838 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 10.
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Maiers galt: »Es wäre aber ein Irrtum zu meinen, es sei im Rahmen einer auf Chancenausgleich bedachten Bildungspolitik auch möglich, zu erreichen, dass die verschiedenen Bildungsangebote von allen Sozialschichten proportional genützt werden. Ob Bildungsangebote angenommen werden, darüber entscheiden einzelne, Familien, soziale Gruppen in freier Wahl. Diese Entscheidung kann durch Bildungsberatung erleichtert werden. Der Staat kann sie aber nicht in einer Art von Erziehungsdiktatur vorwegnehmen oder aufzwingen.«1839
Die Hebung der »Begabtenreserven« Schon im Zuge der Erhebung der Begabungsreserven hatte das Kultusministerium erkannt, dass insbesondere die Einstellung der Eltern begabter Schüler zum späteren Nutzen einer höheren Bildung für den späteren Beruf der Kinder deren Übertritt auf eine höhere Schule im Wege stand1840. Dieser Schluss lag auch nahe, da tatsächlich die finanziellen und räumlichen Gründe in Elternbefragungen eine untergeordnete Rolle spielten – allerdings insbesondere der Bau naher Schulen später zeigen sollte, dass dadurch der größte Effekt erzielt werden konnte. Das Zurückhalten von Schülern aufgrund des für die Eltern nicht ersichtlichen Nutzens traf insbesondere auf die Mädchen zu, unter denen zwar grundsätzlich etwas weniger Geeignete gewähnt wurden, aber deren Übertrittsquoten zur Höheren Schule weit unterproportional waren, weshalb unter ihnen auch die größte Begabungsreserve ausgemacht wurde1841. Eine aktive Bildungswerbung war unter allen Maßnahmen allerdings auch die am schnellsten und günstigsten umzusetzende – und gleichzeitig höchst öffentlichkeitswirksam. Die »Herausgabe einer Werbe- und Aufklärungsschrift« mit Titel »Aus Ihrem Kind soll etwas werden« bereits Anfang 1965 und die »Einsetzung von hauptamtlichen Schulberatern«, die »in den einzelnen Schulbezirken (in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften) auf dem Weg direkter Kontaktnahmen mit dem Elternhaus, durch Aufklärung, Beratung und Ermutigung intensive Bildungswerbung betreiben« sollten1842, waren ein Sofortprogramm, das nicht nur politisch gut dargestellt werden konnte, sondern angesichts der vorangegangenen Erhebung auch ob der erwarteten Ergebnisse vielversprechend war. 600.000 dieser Broschüren wurden mitsamt einem persönlichen Brief an die Eltern und der Nachprüfung des Erhalts per Empfangsbestätigung über 1839 1840 1841 1842
Maier, Zwischenrufe, S. 48. Vgl. Lehning II, S. 823. Vgl. ebd., S. 826ff. BHStA MK 66164 Haushaltsrede des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus Dr. Ludwig Huber vor dem Bayerischen Landtag, 1965 und Heller, Kurt, Zum Problem der Begabungsreserven, S. 363f. Zu Aufgabe und Wirken der Schulberater vgl. Lehning II, S. 838–840.
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die Schulen verteilt. Bereits wenige Monate später wählten 15 Prozent mehr Volksschüler den Übertritt zum Gymnasium1843. Insgesamt war die Bildungswerbung, die ohne invasive Eingriffe ins Schulsystem, Änderungen am Unterricht oder eine Neujustierung von Begabungs- oder Bildungsbegriff auf Freiwilligkeit basierte, ein politisches Mittel, das prägnant für die Amtszeit Ludwig Hubers als Kultusminister steht. Es zeitigte nicht nur leidlichen Erfolg in der Steigerung der Übertrittsquoten zu den weiterführenden Schulen, sondern illustrierte auch nach außen den Willen des Kultusministers, das Schulwesen nicht konservativ einzuhegen. Weiteres Instrument zur Schöpfung der Begabungsreserven war die Einführung einer finanziellen Förderung zur Unterstützung der »bedürftigen und würdigen Schüler«1844, die eine höhere Schule besuchen wollten, inklusive etwaiger Internatskosten1845. Mit Verabschiedung des Begabtenförderungsgesetzes war Bayern das erste Bundesland, das Schülern einen Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung gewährte, sofern sie den festgelegten Leistungskriterien entsprachen1846, also »in einem neunjährigen Ausleseprozess sich als hervorragend begabt, als fleißig und charaktervoll erwiesen haben«.1847 Als Zielsetzung des neuen Gesetzes gab Huber an, »dem gut begabten Kind wirtschaftlich so zu helfen, dass es ohne Rücksicht auf die Besitzverhältnisse der Eltern und ohne Rücksicht auf seinen schulnahen oder schulfernen Wohnort, jede Ausbildung, für die es die Fähigkeit und Neigung hat, beginnen und zu Ende bringen kann. […] Es dient den beiden sich durchdringenden und ergänzenden Prinzipien der Demokratisierung und der Differenzierung der Gesellschaft in gleicher Weise, denn mit der Chancengleichheit muss notwendig das Prinzip der Leistung verbunden sein.« Aber mehr noch, stehe dieser Investition der Gesellschaft eine erhoffte »Rendite in der Form überdurchschnittlicher Leistungen, die allen Bereichen der Gesellschaft wieder zugutekommen« gegenüber1848. Als weitere Maßnahme zur Schöpfung der Begabtenreserven Bayerns stand in Hubers »Gesamtkonzeption zum Ausbau des bayerischen Schulwesens« neben Landschulreform, Ingenieurschulplan sowie einem Landessportplan als Herzstück der Bayerische Schulentwicklungsplan1849. Ein Schulentwicklungsplan ge1843 Vgl. Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 13. 1844 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 28. 1845 Vgl. auch BHStA MK 66163 Abendzeitung: AZ-Interview mit Kultusminister Dr. Ludwig Huber : Sensationen vom Salvatorplatz, 29. 10. 1964. 1846 Vgl. Lehning II, S. 845. 1847 BHStA MK 66163, Ansprache des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus anlässlich der Verleihung des Stipendiums für besonders Begabte am 26. 10. 1964, S. 3. 1848 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. 1849 BHStA MK 52133, Der Schulentwicklungsplan. Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern; herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Un-
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hörte zur Bildungspolitik jedes Bundeslandes in den sechziger Jahren, und auch Bayern fasste bereits 1961 dieses Projekt ins Auge – als erstes Land1850. Vater dieses planerischen Projekts war Theodor Maunz, wenngleich die Umsetzung erst in Ludwig Hubers Amtszeit lag und auch erst im Nachgang zur Erhebung der Begabungsreserven größere Bedeutung erlangte1851. Der Schulentwicklungsplan betraf Einrichtungen der mittleren und höheren Bildung, die noch weitgehend politisch getrennt von der volkstümlichen Bildung behandelt wurden. Darunter fielen also »Realschulen, Handels- und Wirtschaftsoberschulen, Berufsaufbauschulen und Gymnasien, […] Berufsoberschulen und Fachoberschulen«1852. Zur Zeit der Entstehung des Plans entsprangen die Begründungszusammenhänge der ökonomischen Logik der Bedarfskonzeption und enthalten die entsprechenden Schlagworte: »Für die Aufstellung des Planes und seine ständige Ergänzung ist vor allem die Beurteilung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung und soziologischen Strukturänderungen in regionaler Hinsicht von Bedeutung, ferner der Bevölkerungszuwachs und gegebenenfalls die Bevölkerungsabnahme einschließlich der jeweiligen Arbeitsmarktsituation sowie die Verkehrsverhältnisse in den verschiedenen Bezirken. Durch einen ökonomischen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel und Kräfte soll die Schuldichte so verbessert werden, dass es möglich sein wird, die noch vorhandenen Reserven an Begabungen in unserem Volke zu wecken und heranzuziehen.«1853 Die Schöpfung der Begabungsreserven durch den Bau zusätzlicher mittlerer und höherer Schulen begründete sich hier durch die Ideen, die in der drei Jahre später veröffentlichten »Bildungskatastrophe« genannt wurden1854. Gerade der Gedanke, durch übergreifende Planung spontane Ordnung zu ersetzen, stand im Vordergrund. Bildungseinrichtungen galten zudem als Standortfaktor für die Gewerbeansiedlung, ihre Verteilung über das Land war somit also auch einer »Vergleichmäßigung der Verteilung von Bevölkerung und Kapital im ganzen Staatsgebiet«1855 dienlich. Bei der Veröffentlichung des Plans unter Huber im Jahr 1965 hingegen wur-
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terricht und Kultus, 08.1965, S. 6. Zum »Fünfjahresplan für den Ausbau der öffentlichen Ingenieurschulen in Bayern« vgl. Lehning II, S. 800. Vgl. Lehning II, S. 907. Vgl. ebd., S. 808, 822 u 887ff. BHStA MK 66034, Nr. III A 11-1/ 68 465, Alternativentwurf (versandt): an das Sekretariat der KMK, Betreff: Arbeitsgruppe Bedarfsfeststellung; hier : Synoptische Übersicht über die Schulentwicklungspläne der Länder, 12.1970. BHStA MK 52132, Schulentwicklungsplan, Arbeitsgrundlage für die Besprechung am 25. September 1961. Gem. Lehning II, S. 888 wortgleich in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Hans Ehard vom 17. Januar 1961. BHStA MK 52132, Schulentwicklungsplan, Arbeitsgrundlage für die Besprechung am 25. September 1961: »Sinn und Zweck des Planes soll es sein, die Grundlage für die lokale Verteilung der mittleren und höheren Schulen in Bayern zu schaffen.« BHStA MK 52132, hausinternes Schreiben vom 27. 11. 1967.
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den die Chancen des Einzelnen in den Vordergrund gerückt, aber nicht ohne zuletzt zu betonen, damit solle gleichfalls »eine Erhöhung der Schülerzahl der weiterführenden Schulen bewirkt werden, wie sie notwendig ist, um dem sprunghaft angestiegenen und ständig noch steigenden Bedarf an begabten und entsprechend vorgebildeten Nachwuchs in einer Vielzahl von Berufszweigen nachzukommen.«1856 Entgegen der Rhetorik begann der Plan allerdings damit, über die Regierungsbezirke abzufragen, wo künftig solche Schulen gebaut werden sollten, um dann gemeinsam mit einer Bestandsaufnahme zu betrachten, wo gegebenenfalls Versorgungslücken oder Optimierungsbedarf in der Anordnung eines Schultyps bestehen, unter Berücksichtigung der mutmaßlichen Schülerzahlen und der Geburten- und Bevölkerungsentwicklung. Die Regierungsbezirke bemaßen den Bedarf nach höheren Schulen offenkundig danach, wo existierende Gymnasien überlastet waren, wohingegen dort, wo auf dem Land noch gar keine Gymnasien bestanden, auch kein Bedarf dafür angenommen wurde1857. Auch die Verantwortung über die Realisierung der Planungen blieb in der Hand der Kommunen1858. Erst in der Folge wurde das Ziel des Schulentwicklungsplans derart formuliert, dass die Erschließung der Fläche explizit daraus hervorging: »Ein Schulentwicklungsplan wird festlegen, wie weiterbildende Schulen über das ganze Land hin verbreitet werden sollen. Wir wollen so viele weiterbildende Schulen einrichten, dass möglichst alle Reserven an Begabungen in unserem Volk ausgeschöpft werden können. Kein Vater soll sein Kind von solchen Schulen zurückhalten müssen, weil der Weg zu weit und die Kosten zu hoch wären«, hatte Alfons Goppel 1962 gefordert und wiederholte Huber im Jahr darauf1859. Künftig sollten überall zentrale Schulorte entwickelt werden, in denen Höhere Schulen auch für die ländliche Bevölkerung erreichbar wären1860 ; im Ergebnis blieben allerdings zunächst gerade bei den Höheren Schulen die Großstädte deutlich im Fokus1861. Gleichwohl der bayerische Schulentwicklungsplan der erste in der Bundesrepublik war, blieb er hinter den planerischen Ambitionen vergleichbarer Vorhaben weit zurück, bediente sich nur an den Zahlen, die aus dem Bildungssystem selbst hervorgingen1862, und integrierte sich nicht umfangreich in eine global gedachte Landesplanung. Sein Anspruch war es mehr, die absehbare Entwick1856 BHStA MK 52133, Der Schulentwicklungsplan. Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern; herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 08.1965, S. 5f. 1857 Vgl. Lehning II, S. 889–893. 1858 Vgl. ebd., S. 902. 1859 BHStA MK 52133, Die Bayerische Staatskanzlei teilt mit: Über die heutige Sitzung des Ministerrats, 08. 01. 1963. 1860 Vgl. Lehning II, S. 894. 1861 Vgl. ebd., S. 910. 1862 Vgl. ebd., S. 907f.
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lung zu übersehen und zu ordnen. Zuvor wurde bei Schulneugründungen ad hoc »auf Antrag des künftigen Trägers« entschieden, wobei »die Interessen der Gesamtheit nicht in demselben Maße berücksichtigt werden, wie die örtlichen Interessen«. Dieses Verfahren hatte in der Vergangenheit vermehrt zu Fehlplanungen vor Ort geführt1863. Solche Erfahrungen waren der stärkere Anlass, einen Schulentwicklungsplan zu entwerfen; ein aktives gestalterisches Moment hingegen war in der bayerischen Schulentwicklungsplanung der sechziger Jahre nicht sehr ausgeprägt. Alleine die zunächst vorgesehene und dann aufgegebene konkrete Zeitplanung1864 nahm dem Schulentwicklungsplan seinen Charakter als Planungsinstrument gemäß der Bedarfskonzeption, was auch in seiner Beschreibung als »eine auf einer detaillierten Bedarfsfeststellung fußende elastische Richtlinienplanung«1865 deutlich wird. Auch die Außenkommunikation war zwar klar in den Zielen, aber zurückhaltend in den Details. Dem frühzeitigen Vorschlag aus dem Ministerium heraus, »eine Broschüre herauszugeben, in der der Schulentwicklungsplan veröffentlicht und in seiner Entwicklung und Bedeutung gewürdigt wird«, um so mit der Propaganda mithalten zu können, die die Erstellung der Pendants in Hessen und Baden-Württemberg begleitete1866, wurde wie folgt widersprochen: »Um unerfreuliche Erörterungen in der Öffentlichkeit zu vermeiden, möchte Ref. 21/37 davon abraten, die Bedarfsfeststellung zu veröffentlichen. Die in verschiedenen Bereichen beteiligten Interessenverbände werden trotz der bekannten Schwierigkeiten, Vorausschätzungen auf längere Sicht abzugeben, bei einer Veröffentlichung den für 1970 festgestellten Bedarf als zu niedrig bezeichnen. Außerdem werden sie später auf die Bereitstellung von Ausgabemitteln mindestens in Höhe des festgestellten Bedarfs mit der Begründung drängen, der Bedarf sei amtlich festgestellt.«1867 Zwar glaubte man im Ministerium nicht, dass der eigene Plan sich vor denen anderer Länder verstecken müsse1868, wollte sich aber ersparen, jede Abweichung öffentlich erklären zu müssen. Man fürchtete auch, »dass bei Bekanntgabe der vorgesehene
1863 BHStA MK 52132, Schulentwicklungsplan, Arbeitsgrundlage für die Besprechung am 25. September 1961. 1864 Vgl. Lehning II, S. 900 u. 910f. 1865 BHStA MK 52133, Der Schulentwicklungsplan. Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern; herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 08.1965. 1866 BHStA MK 52133, Zu Nr. MB 2-8/82 258, Betreff: Schulentwicklungsplan, 05. 07. 1965. 1867 BHStA MK 66032, Zu Nr. I 131 957, Betreff: Fortschreibung und Neufassung der Bedarfsfeststellung, 02. 12. 1965. Dass sich einmal auf den Schulentwicklungsplan, dann aber auf die Bedarfsfeststellung bezogen wurde, dürfte damit zusammenhängen, dass Letztere schlichtweg die Grundlage für Ersteren waren und eine Trennung eigentlich kaum möglich war. In der Idee zur Veröffentlichung war auch vorgesehen, ihn äußerlich der Veröffentlichung der Bedarfsentwicklung »Bayern überprüft seine Begabungsreserven« anzupassen. 1868 BHStA MK 52133, Zu Nr. MB 2-8/82 258, Betreff: Schulentwicklungsplan, 05. 07. 1965.
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Maßnahmen, die nicht zum Zuge kommenden Landkreise und Gemeinden gegen den Plan Sturm laufen werden.«1869 Die Veröffentlichung des Schulentwicklungsplans sollte entsprechend ohne große Angriffsflächen bleiben. Von Anfang an wurde betont: »Der Schulentwicklungsplan ist nach dem Beschluss der Staatsregierung weder starr noch ausschließlich.«1870 Das Ziel dieses Plans sei es »ganz allgemein«1871, mittlere und höhere Bildungseinrichtungen gleichmäßig über das Land zu verteilen. Erst 1967 wurde dann – als klar war, dass bereits auf einige Erfolge verwiesen werden konnte – »Der Schulentwicklungsplan: Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern« herausgegeben, worin »das Zustandekommen des Schulentwicklungsplans, seine Fortschreibungen, die vollzogenen Maßnahmen sowie der Stand seiner Verwirklichung aufgezeigt werden.«1872 Während im ersten 1963 vom Ministerrat genehmigten Entwurf nur vorgesehen war, »dass in Bayern in den nächsten Jahren 35 höhere Schulen errichtet oder ausgebaut und dass ferner 38 Mittelschulen, 27 Berufsaufbauschulen und 7 Handelsschulen errichtet werden sollen«1873, wurden diese Zahlen in jedem der folgenden Jahre erhöht. In der Summe enthielt der SEP 1970 107 Gymnasien und 109 Realschulen. Bis zum Schuljahresbeginn 1973 wurden insgesamt 286 Maßnahmen zum Aus- und Neubau von Gymnasien und Realschulen durchgeführt, zwischen 1964 und 1972 wurden alleine 64 Gymnasien neu gegründet1874. Der Plan, der keiner war, wurde also mit Eifer verfolgt und erfüllt. Die nach außen gestellte Unverbindlichkeit des Plans hielt Angriffe fern und das Ministerium in seinem Handeln flexibel, wurde aber nicht als Ausrede für Nachlässigkeit genutzt1875. Die Strategie, statt der strikten Erfüllung einer einmal aufgesetzten Liste flexibel und entlang aktueller Opportunitäten das grundsätzliche Ziel des SEP zu verfolgen, war erfolgreich. Zuletzt galt auch der Zweite Bildungsweg, also der Erwerb zum regulären Abitur alternativer Hochschulzugangsberechtigungen, als letzte, aber gute Möglichkeit, Begabungsreserven auch nachträglich noch zusätzliche Qualifika1869 BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, gez. Staibl, 20. 08. 1963. 1870 BHStA MK 52133, Die Bayerische Staatskanzlei teilt mit: Über die heutige Sitzung des Ministerrats, 08. 01. 1963. 1871 BHStA MK 52133, Der Schulentwicklungsplan. Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern; herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 08.1965. 1872 BHStA MK 80771, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: »Der Schulentwicklungsplan« – Dokumente zum Ausbau der weiterführenden Schulen in Bayern« eine neue Schrift des Kultusministers, 26. 01. 1967. 1873 BHStA MK 52133, Die Bayerische Staatskanzlei teilt mit: Über die heutige Sitzung des Ministerrats, 08. 01. 1963. 1874 Lehning II, S. 1194f. 1875 Vgl. Lehning I, S. 514f.
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tionen zukommen zu lassen. Er hatte sich langsam während der Nachkriegsjahre in Bayern etabliert, ohne nennenswert Raum zu fassen, bis Ende der fünfziger Jahre die Möglichkeiten erweitert wurden. Erst die Ausbaumaßnahmen der sechziger Jahre führten allerdings auch zur regen Nutzung1876. Im Zweiten Bildungsweg ließen sich Begabungsreserven unter Volksschulabsolventen schöpfen, wo die Maßnahmen zum Übertritt in die weiterführenden Schulen nicht wirksam waren. Das Kultusministerium setzte das Thema 1963 aus diesem Grund weit oben auf die Agenda: »Wenn auch allen Jugendlichen die öffentlichen Bildungseinrichtungen zur Weiterbildung zugänglich sind, gibt es genügend Fälle, in denen begabte junge Menschen aus verschiedenen individuellen Gründen eine höhere Schule nicht besucht haben. […] Für solche Fälle wurden die Einrichtungen des zweiten Bildungsweges geschaffen, die eines ihrer Bedeutung entsprechenden weiteren Ausbaus bedürfen.«1877 Dem Problem, dass der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen vielen Schülern ungerechtfertigterweise verwehrt blieb, wollte man also wiederum nicht durch aktive Integrationsbemühungen, sondern durch die Schaffung einer spezifischen Alternative begegnen. Als solche sollte der Zweite Bildungsweg sich vom Sonderfall zur Regel im vielgegliederten Schulwesen Bayerns entwickeln: »Neben das herkömmliche Schulsystem treten künftig gleichberechtigte neue Wege der Bildung. Man pflegt sie heute noch unter der Bezeichnung ›2. Bildungsweg‹ zusammenzufassen. Dieser wird bald den Charakter des Außergewöhnlichen verlieren und zu einem wesentlichen Bestandteil eines Bildungsweges gehören, das jedem Beruf und jeder Altersstufe den Zugang zum akademischen Studium offenhält.«1878 Der Zweite Bildungsweg war somit auch Teil der Identität der Volksschule, die nicht mehr nur auf den Berufseinstieg vorbereitete, sondern auch nach Abschluss der Oberstufe noch zur Fortführung des Bildungsweges führen konnte1879. Im Bildungssystem sollten so keine Sackgassen mehr entstehen, am Ende sollte prinzipiell selbst dem Volksschüler mit Berufsausbildung noch die Möglichkeit eines Hochschulstudiums offenstehen – »Daher ist eine Öffnung des berufsbezogenen Bildungsweges nach oben zu den Fachschulen, Akademien und gegebenenfalls sogar zu den Hochschulen und nach allen Richtungen zu anderen Bildungswegen eines der Hauptziele der gegenwärtigen Kulturpolitik.«1880 Dass der Zweite Bildungsweg nicht als »einheitliche Organi1876 Vgl. ebd., S. 524f. 1877 BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, gez. Staibl, 20. 08. 1963. 1878 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. 1879 Vgl. BHStA MK 62069, Niederschrift über die 3. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 1964. 1880 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 18.
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sationsstruktur zu verstehen war, die parallel zum herkömmlichen Bildungsweg aufgebaut wurde, sondern ein Sammelsurium verschiedener und zeitlich versetzter bildungspolitischer Maßnahmen mit dem Ziel, eine möglichst breite Palette von Ausbildungswegen anzubieten«1881, ist eines der prägnanten Merkmale der bayerischen Politik stetiger Ausdifferenzierung spezifischer Bildungsmöglichkeiten. Neben die Abendgymnasien, Berufsaufbauschulen und städtischen Kollegs traten bald Bayernkollegs mitsamt Internat, die Berufsoberschule, die den Weg zur Hochschulreife wiesen, die Fachoberschule und sogar ein deutschlandweit einzigartiges Telekolleg im Bayerischen Rundfunk1882. 1969 richtete das Kultusministerium eine eigene Berufsschulabteilung ein1883, wirkliche Bedeutung kam dieser aber erst unter Kultusminister Maier zu. Dieser wandte sich dezidiert gegen das Ideal einer rein theorieorientierten Bildung und gegen den Fokus auf mehr Allgemeinbildung und Wissenschaftlichkeit. Er betonte die Notwendigkeit eines Berufs- und Anwendungsbezugs und eine Orientierung am gesellschaftlichen Bedarf. Seine Position war eindeutig: »Sie [die Bildung] hat an Praxis- und Lebensnähe verloren. Kopf, Herz und Hand – das waren die pädagogischen Grundbegriffe Pestalozzis; und was ist daraus geworden? Ein Bildungswesen, nach dem kritischen Wort eines Schweizer Kollegen, ›kopflastig, herzlos und linkshändig‹. In einer Zeit, in der gegenüber der Öde des Stofflichen in Schule und Erziehung der hilflose Ruf nach dem Musischen und Praktischen ertönt, könnte berufliche Bildung dazu beitragen, einer theoretisch verengten Bildung ihre praktische und soziale Dimension zurückzugeben. So verstanden wäre sie nicht nur ein Beitrag zur Humanisierung unserer Arbeitswelt, sondern ein Beitrag zur Humanisierung unserer Bildung.«1884
Das dreigliedrige Schulsystem – eine Entscheidung zur Differenzierung Entscheidung für ein differenziertes System In der bayerischen Bildungspolitik kamen nie Zweifel daran auf, dass das dreigliedrige Schulsystem grundsätzlich richtig sei. Nichtsdestotrotz gab es einen immensen Wandel dieses gegliederten Bildungswesens, denn innerhalb 1881 Lehning II, S. 865. 1882 Zur Entwicklung der einzelnen Formen beruflicher Bildung und Weiterbildung vgl. Demmel, Walter G., Das berufliche Schulwesen. Vgl. auch BHStA MK 80806, A/3-1/2488, Schreiben des MD I: Herrn Staatssekretär Wedemeyer, Kultusministerium Niedersachsen, Betreff: Stand der Schulreform in den Ländern der BRD, Zum Schreiben vom 21. 12. 1973, 21. 01. 1974. 1883 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 806f. 1884 Maier, Wider den Gegensatz Bildung – Beruf. In: Schulreport 2/1975, S. 32 (Hervorhebung im Original).
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der sechziger Jahre veränderte sich der Blick darauf durch die Politik kategorial. Wurden vorher Volksschule und Höhere Schulen maßgeblich als zwei separate Systeme mit einer Schnittstelle behandelt, gleich dem Verhältnis zwischen Schule und Hochschule, wurde nunmehr »das Bildungswesen […] in allen seinen horizontalen und vertikalen Elementen [als] eine Einheit von der Grundschule bis zur Hochschule« betrachtet1885. Statt historisch gewachsener, nebeneinander stehender Schulen für verschiedene soziale Gruppen1886 sollte nun in denselben Formen ein einziges, aber in sich nach Begabung und Leistung differenziertes Bildungswesen existieren. Hierzu war es sowohl wichtig, die Faktoren dieser Differenzierung sicherzustellen als auch die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Gliedern zu erhöhen. Die Differenzierung durfte für Ludwig Huber ausschließlich nach Leistung und Begabung geschehen. Die Heranführung aller Begabten an die Höhere Schule war also nicht die Gefährdung des Gymnasiums, sondern die einzige Möglichkeit, diese Schule und das ganze historisch erwachsene System zu erhalten. Denn dass dieses nicht zufällig entstanden war, sondern sich »für diese Differenzierung […] im geschichtlichen Entwicklungsprozess […] herausgebildet«1887 habe und daher als System eine grundsätzliche Eigenlogik barg, änderte nichts daran, dass gerade das Gymnasium sich schnell umdefinieren musste, um nicht seine Legitimation zu verlieren: »Während früher das Sozialprestige von Ständen oder aber der Nachwuchsbedarf bestimmter Berufe die Maßstäbe für die Zulassung und Auslese an den weiterführenden Schulen bestimmt haben, ist nunmehr ein ganz neues Prinzip in den Vordergrund getreten. Die volle Entfaltung der Persönlichkeit nach ihrer Eignung und Neigung wird heute als vorzügliches demokratisches Grundrecht empfunden, dem die Gesellschaft durch die Schaffung der Voraussetzung zum Erfolg verhilft.«1888 Die bestmögliche Förderung der Begabung aller Schüler stand für Huber unabhängig von der Begabung als Selektionskriterium. Um eine Schule zu besuchen, die eine Begabung spezifisch fördert, musste sich diese Begabung vorher schon gezeigt haben. Vor allem aber betrachtete das bayerische Schulwesen Begabung nicht eindimensional, sondern als jedem innewohnende Eigenschaft mit verschiedenen möglichen Ausprägungen. Die Verschiedenheit des Menschen verlange »von Anlage und Bestimmung her aber auch eine vielfältige Differenzierung des Bildungs1885 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 18. 1886 Vgl. BHStA MK 52598, Stellungnahme ohne Nummer, bei Ref. Nr. II/9, Rauscher, Betreff: Landtagsantrag vom 20. 4. 1967 zur Gesamtschule, Beilage 2164, 12. 05. 1966.: »Mag auch das gegenwärtige gegliederte Schulwesen seine Entstehung den Bedürfnissen einer ständisch-gegliederten Gesellschaft verdanken, es ist inzwischen darüber hinausgewachsen und hat sich den Bedürfnissen unserer Zeit didaktisch und methodisch angepasst.« 1887 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 18. 1888 Ebd., S. 24.
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angebots«1889. Huber erklärte explizit: »Diese Charakterisierung der Begabung enthält kein Werturteil und kein Urteil über die Begabungshöhe.«1890 Für die »Begabungen zu praktischer Gestaltung« stünden als »Zugang zu den Berufen, in denen diese Begabung im Vordergrund des Berufsbildes steht«, Hauptschule, Berufsschule und über den zweiten Bildungsweg verschiedene Möglichkeiten zur Weiterbildung und sogar der Hochschulzugang offen1891. Für »Begabungen, bei denen die Fähigkeit zu abstraktem Denken und zusammenschauender Intuition im Vordergrund steht« hingegen waren die höheren Schulen gedacht.1892 Die Mittel- beziehungsweise Realschule hingegen bedachte er hier mit keiner speziellen Begabung. Bei Theodor Maunz hieß es noch, sie sei »den praktischen Berufen mit erhöhter Verantwortung angemessen«1893, später im Jahr 1969 hatte sie dann ihren »Schwerpunkt im geistigen Nachvollzug«1894. Im Grunde diente sie aber immer, auch ohne größere spezifische Beachtung zu erfahren, als Zwischenstück zwischen Hauptschule und Gymnasium und wurde damit – ohne dass es ausgesprochen wurde – den Hindernissen entgegengesetzt, die zwischen entsprechender Begabung und ihrer Realisierung im Gymnasium standen. Ihre Einrichtung auf dem Land diente als Puffer zwischen der individuellen Fähigkeit der einzelnen Schüler und der sozialen oder habituellen Distanz zum höheren Bildungswesen1895. Die Mittelschule erfuhr von daher zwar einen beachtlichen Ausbau, aber keinerlei nennenswerte politische Behandlung außer ihrer Umbenennung in die wertfreiere Realschule im Jahr 1965. Sie blieb auf lange Sicht die »Schule des sozialen Aufstiegs«1896, was der Vorstellung einer Differenzierung nach Leistung, Begabung und Begabungsrichtung, nicht nach sozialer Herkunft, allerdings nicht entsprach.
Begabung und Leistung Für Huber war das gedankliche Fundament einer qualifizierenden, nicht quantifizierenden Unterscheidung von Begabungen so wichtig als Differenzierungsmerkmal eines gegliederten Schulwesens, um 1969 bekanntzugeben, dass 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895
Ebd., S. 18. Ebd.. Vgl. ausführlicher Huber, Haushaltsrede 1969, S. 14. BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967, S. 18. Ebd., S. 21. Lehning II, S. 748. Huber, Haushaltsrede 1969, S. 14. Vgl. BHStA MK 61235, Nr. M 1412, An den Bayerischen Ministerpräsidenten Herrn Alfons Goppel, Betreff: Richtlinien der Politik; Regierungserklärung vom 19. Dezember 1962; hier: Das bayerische Dorf, Zur Note vom 25. 6. 1963 Nr. A – 1522-1 (24) c. 1896 Maier, Anstöße, S. 458 (Aus einer Rede, gehalten vor der Jahresversammlung der Landeselternschaft der bayerischen Realschulen e.V. am 29. Juni 1974 in Geretsried). Vgl. auch Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 769.
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er »den Begriff der ›Höheren Schule‹ und der ›Mittelschule‹ aus dem amtlichen Sprachgebrauch verbanne«1897 und weiterhin ausschließlich die Begriffe Realschule und Gymnasium gebrauchen wolle. Die Differenzierung des Schulwesens in drei ›Glieder‹ war insofern auch nur die oberste, gröbste Strukturierung. Wirklich gerecht werde das Bildungssystem den unterschiedlichen Begabungen erst über die vielen verschiedenen Richtungen, die ein Schüler innerhalb der verschiedenen Schulformen einschlagen konnte, also durch eine immer feinere Ausdifferenzierung der Bildungsgänge. Entsprechend diesen Vorstellungen von Begabung stand neben der einfachen Bildungswerbung, die Offenheit für den Übertritt von der Volksschule auf eine weiterführende Schule herstellen sollte, auch stets die »Lenkung von Begabungen in die nahezu unübersehbare Fülle der Wahlmöglichkeiten der Weiterbildung«1898, was neben den Volksschullehrern auch auf die Rolle der neuen Schulberater zutraf. Nach dem rasanten Anstieg der Schüler in den weiterführenden Schulen kam das Kultusministerium zu dem Schluss, dass unter diesen zwar zum großen Teil eine »echte Begabungsreserve« zu finden sei, diese allerdings nicht immer den jeweils geeigneten Weg eingeschlagen hätten, weshalb »erste Aufgabe der Schulberatung […] die Lenkung der Schüler«1899 sei. Eine quantitative Abstufung von Begabung gebe es somit nicht zwischen, sondern innerhalb der verschiedenen Glieder – oder besser : Wege –, innerhalb derer jeder, der »künftig im Leben zu einer selbständigen und sicheren Existenz bringen will, […] seine geistigen Fähigkeiten bis zu der von seiner natürlichen Begabung gesetzten Grenze entwickeln«1900 sollte. Dieser Satz galt dem Ministerium als Leitmotiv in der Begabtensteuerung, also einer derartigen Strukturierung des Schulwesens, dass jede Begabung die optimale Förderung erhalte. Daher sollte es auch keine Sackgassen im Bildungswesen geben, sondern immer die Möglichkeit eines Übergangs zu einer weiterführenden Bildungsinstitution. Schon bei der Erfassung der Begabungsreserven galt daher, dass nicht nur gefragt wurde, wer das Gymnasium besuchen könne, sondern »Realschulen, Berufsaufbauschulen, Berufsfachschulen, Fachschulen und Ingenieurschulen in gleicher Weise als weiterführende Schulen«1901 galten. Als 1972 ein neues Berufsschulgesetz verabschiedet wurde, wurde dort sogar »zum ersten Mal die 1897 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969. 1898 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964. 1899 BHStA MK 52938, Niederschrift über die 5. Dienstbesprechung, 10. 11. 1967. 1900 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Bildungspolitik – Herausforderung und Bewährung. In: Bayerische Staatszeitung 41, 8.10.65, hier : Auszüge aus einer Rede vor bayerischen Schulbuchverlegern. 1901 BHStA MK 66043, Nr. I 124 750, Betreff: Begabtenreserven; hier: Statistische Maßnahmen, 22. 11. 1965.
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Gleichwertigkeit des beruflichen gegenüber dem allgemeinbildenden Schulwesen betont«1902. Als Gegenposition zu den allmählich aufkeimenden und bald in weiten Teilen konsensuell vorangetriebenen Ideen zur stärkeren Integration hieß es in Bayern konsequent: »Die stärkere Differenzierung der einzelnen Schularten wird den verschiedenen Begabungsrichtungen der Schüler mehr gerecht werden.«1903 So trat an die Seite der Begabung beziehungsweise Begabungsrichtung das Prinzip der Leistung, durch das der Einzelne innerhalb des individuell angemessenen Bildungsweges weiterkommen und sich zusätzlich qualifizieren konnte. So sollte die Volksschuloberstufe »für geeignete und leistungswillige Schüler die Voraussetzung für den zweiten Bildungsweg und damit zu einem beruflichen Aufstieg«1904 schaffen, die Begabungsförderung hing tatsächlich weniger an der Begabung als an der Leistung1905 ; und die Gesamtschule wurde vor allem für das ungenügend berücksichtigte Leistungsprinzip kritisiert. Für Ludwig Huber wie auch Hans Maier war in diesem Sinne »mit der Chancengleichheit […] notwendig das Prinzip der Leistung verbunden«1906. Leistung hieß allerdings nicht nur die vom Schüler zur eigenen Bildung erbrachte subjektive Leistung als Selektionsmerkmal, sondern auch die objektiven Leistungen, die sich die Gesellschaft für ihre besondere Förderung erwarten durfte1907. Die Betonung der Leistung blieb während Hubers Amtszeit allerdings geringer ausgeprägt, sie verstand sich viel mehr von selbst. Hans Maier fand in ihr aber ein Thema, mit dem er sich identifizieren und absetzen konnte. Wie schon Huber betonte er das Leistungsprinzip nicht zuerst als politische Forderung, sondern leitete es aus der Entwicklung der Gesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft1908 1902 Demmel, Berufliches Schulwesen, S. 976. 1903 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 17. 1904 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 4. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 01. 09. 1964. 1905 Vgl. BHStA MK 66163, Ansprache des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus anlässlich der Verleihung des Stipendiums für besonders Begabte am 26. 10. 1964. 1906 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. Vgl. auch Maier, Zwischenrufe, S. 47. 1907 Vgl. für Huber BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: Bayern-Kurier vom 24. 07. 1965: »Die Gesellschaft eröffnet jedem die Möglichkeit, sich zu bilden, aber sie hat ein besonderes Interesse an den Begabungen, von denen sie sich in der Zukunft besondere Leistungen versprechen darf. Sie investiert in diese Hoffnung beträchtliche Mittel der Allgemeinheit und erhofft eine Rendite in der Form überdurchschnittlicher Leistungen, die allen Bereichen der Gesellschaft wieder zugutekommen.« Vgl. für Maier auch Maier, Anstöße, S. 357 (Rede, gehalten vor dem Bund Katholischer Unternehmer am 5. Mai 1975 auf der Reichenau): »Leistung setzt sich stets aus zwei Elementen zusammen, einem subjektiven (Anstrengung) und einem objektiven (Ertrag).« 1908 Vgl. für Huber BHStA MK 66166, CSU Kommentar Nr. 3, Gegliederte Leistungsschule oder Integrierte Gesamtschule? Von Kultusminister Dr. Ludwig Huber, 05. 02. 1969.
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als historische Notwendigkeit ab1909. Auch Hans Maiers Auffassung von Begabung unterschied sich nicht sonderlich von der Ludwig Hubers. Er kritisierte die Vorstellung, Begabung sei alleine auf externe Faktoren zurückzuführen, die in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation prominent vertreten wurde, weshalb ihm trotzdem die optimale Förderung der sehr unterschiedlichen Begabung jedes Einzelnen wichtig war1910. Die dargestellte Beziehung von Schulstruktur zu Begabung setzt auch ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild voraus, das nicht nur die verschiedenen Begabungsrichtungen und -höhen nicht werten möchte, sondern auch die daraus resultierenden Lebenswege als per se gut betrachtet, wenn diese den Möglichkeiten der Person entsprechen. Die Schule hat demnach auch nicht die Funktion, Chancen zuzuteilen, sondern die Aufgabe, jeden Einzelnen an seinen gemäßen Platz in Gesellschaft und Wirtschaft zu bringen. Ein entsprechend wichtiges Merkmal der bayerischen Bildungspolitik war ihre Akzeptanz einer sozialen Differenzierung, die nicht idealerweise aufzulösen, sondern in seinem Sinne einer demokratisch organisierten Gesellschaft sogar notwendig war : »Das Prinzip der Auslese nach Begabung und Leistung ist dem demokratischen Aufbau der Gesellschaft nicht entgegengesetzt, im Gegenteil, es ist für diesen Aufbau geradezu lebensnotwendig, wenn diese Gesellschaft nicht ein amorphes Kollektiv, sondern ein gegliederter Organismus werden soll. Wo gäbe es ein gerechteres Differenzierungsprinzip als die Leistung?«1911 Es wurde nicht als Aufgabe der Schule gesehen, diese Schichtung zu verändern. Jeder solle die gleichen Chancen haben, und die Landesregierung wollte dazu auch die Grundbedingungen verbessern. Aber bestimmte soziale Ausgangsbedingungen über das Schulsystem zu kompensieren, galt nicht als Aufgabe der Schule. Chancen mussten alleine über die Förderung der Begabung möglich sein. Jeder sollte aus eigener Anstrengung heraus über den jeweils geeigneten Bildungsweg seine Möglichkeiten ausschöpfen können, aber es gab keinen gesellschaftlichen Auftrag an das Bildungssystem, eine Angleichung der Verhältnisse unterschiedlicher sozialer Gruppen aktiv zu betreiben. Besonders deutlich wird dies dort, wo es um die stärkere Integration verschiedener sozialer Gruppen ging. Eines der heißesten Themen bei der Landschulreform war, wie bereits weiter oben dargestellt, die Scheu davor, Landkinder über das Schulwesen mit dem städtischen Leben zu konfrontieren und so von ihrem sozialen Umfeld zu entfremden. Die Auflösung der Bekenntnisschule fand aus rein funktionalen Gründen statt und nicht, weil eine Integration der Konfessionen 1909 Maier, Zwischenrufe, S. 45f. 1910 Vgl. Maier, Zwischenrufe, S. 24f. 1911 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965.
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gewünscht war – eher war das Gegenteil richtig. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik fand im Zuge der Gesamtschuldebatte statt. Die in den emanzipativen und der szientistischen Diskursformation verbreitete Ansicht, dass etwa das Gymnasium selbst eine sozial selektive Institution sei, die der Reproduktion ihrer eigenen, auf Schicht und Habitus abzielenden Differenzierungsmerkmale diene, wurde nicht geteilt. In der weiterführenden Schule ging es lediglich um die Bildung ohne Ansehen der Herkunft des Schülers. Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern müssten vor allem materiell in die Lage versetzt werden und ggf. aktiv darauf hingewiesen werden, ihre Begabung zu entfalten. Soziale Barrieren aufgrund der Schichtzugehörigkeit galt es nicht zu überwinden. Die Ablehnung sozialintegrativer Maßnahmen über die Schule sollte sich aber wenig später ändern, wie bei der Diskussion um die Gesamtschule und die Gegliederte Leistungsschule noch zu sehen sein wird. Die lange Abwehr von Integration, das strikte Beharren auf dem Leistungsprinzip als Prämisse, das außer seiner systemischen Absicherung keine Maßnahmen zur Verwirklichung benötige, die betonte Gleichwertigkeit aller Bildungsgänge, die Negierung gesellschaftlicher Aufgaben – all das weist auf einen Begründungszusammenhang aus der neuhumanistischen Diskursformation für die politische Entscheidung zur Beibehaltung der gegliederten Struktur hin.
Entscheidung für ein durchlässiges System Es ging also darum, das dreigliedrige Schulsystem gemäß der demokratischen Gesellschaft zu verwirklichen, und dazu »muss auch ein dreigegliedertes Schulsystem so viele Verbindungen und horizontale Übergänge enthalten, dass jede Sackgasse vermieden wird.«1912 Bei der Beibehaltung der Dreigliederung war die Herstellung hoher Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Gliedern also unabdingbar. Das bedeutete zunächst eine enge Verzahnung des gesamten Bildungswesens, die letztlich in das Konzept der »gegliederten Leistungsschule« mündete, die als Gegenmodell zur Integrierten Gesamtschule das Schulsystem als organisatorische Einheit festigen sollte. Während die Struktur des dreigegliederten Schulwesens sich also nach außen hin nicht änderte, setzte die bayerische Staatsregierung sich über den Betrachtungszeitraum hinweg intensiv dafür ein, die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen immer weiter zu erhöhen. Huber formulierte: »Ausgangs- und Zielpunkt aller Überlegungen muss das Prinzip sein, dass jeder Punkt
1912 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965.
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des Bildungssystems von jedem Ausgangspunkt aus erreichbar ist.«1913 Diese Durchlässigkeit war für Huber gleichzeitig »eines der entscheidenden Kriterien für die weitere Lebensberechtigung dieser Schulgliederung«1914 Die Rechnung war folgende: »Je größer die Zahl der möglichen Übergänge von der Volksschule zu weiterführenden Schulen ist, desto größer ist die Chance, dass alle Begabten an ihr Ziel gelangen.« – Eine verpflichtende Förderstufe hingegen reduzierte die Zahl dieser Übergänge und wurde daher aus denselben Gründen abgelehnt, aus denen sie in anderen Ländern eingeführt wurde: Begabtere Schüler durch sie »für zwei Jahre in der Volksschule zurückzuhalten, hieße sich an ihnen versündigen«, meinte Huber1915 und: »Ein solcher Zwang wäre kein Akt der Begabtenförderung, sondern der Begabtenhemmung.«1916 Damit blieb er auf der Linie Theodor Maunz’, der bekannt hatte: »Was die Förderstufe betrifft, […] so besteht auf Seiten der Bayerischen Staatsregierung die Auffassung, dass sie durch die Verfeinerung des Ausleseverfahrens entbehrlich ist.«1917 Durchlässigkeit hieß nicht nur, dass Formalismen nicht durch unnötige Hürden den Übertritt von einer Schulart zur anderen erschweren würden, sondern vor allem eine möglichst hohe Treffsicherheit in der Selektion. Um dann den Übergang zu gewährleisten, wurde statt einer Horizontalisierung, also der allmählichen Angleichung der verschiedenen Schularten, eine Synchronisierung gewählt, die durch Abstimmung der Lehrpläne1918 und durch Zwischenschritte erreicht wurde. Diese Synchronisation zu optimieren, ohne Differenzierung aufzugeben, war auch die »Hauptaufgabe der Orientierungsstufe, eine Aufgabe, die wohl nur einer angenäherten Lösung zugeführt werden kann.« Denn die insgesamt gewünschte Differenzierung zur optimalen Förderung des einzelnen Schülers nach Eignung und Leistung, so Hans Maier, »lässt sich jedoch in der Praxis nicht voll mit dem Prinzip der Durchlässigkeit vereinbaren«1919. Zur Erhöhung der Durchlässigkeit sollten die Übertritte vor allem flexibilisiert werden. Gerade in jungen Jahren könnten Kinder sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Den schnelleren sollte damit schon nach der vierten Klasse der Übertritt in die höhere Schule gewährt werden, während den 1913 Huber, Entscheidung für Bildung, Haushaltsrede des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus, München 1968. (02. 04. 1968), S. 17. 1914 Huber, Entscheidung für Bildung. Haushaltsrede 1968, S. 23. 1915 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964. 1916 BHStA MK 66163, Beantwortung der Interpellation der SPD (Landtagsbeilage 1484) betreffend Koordinierung der Kulturpolitik, 03. 12. 1964. 1917 BHStA, MK 52475, Stellungnahme von Kultusminister Maunz am 19.10. 1960, zitiert nach Lehning II, S. 626. 1918 Vgl. Huber, Entscheidung für Bildung. Haushaltsrede 1968, S. 23. 1919 Maier, Anstöße, S. 475 (aus einer Rede, gehalten vor der Hauptversammlung des Bayerischen Philologenverbandes in München am 28. November 1971).
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langsameren dieser Schritt auch danach nicht verwehrt werden sollte1920. Daher verbot es sich einerseits, etwa durch die Förderstufe den Übertrittszeitpunkt pauschal nach hinten zu verlegen; andererseits mussten spätere Übertritte auf eine andere Art und Weise ermöglicht werden. Bis in die sechziger Jahre war für den Übertritt von der Volks- auf eine höhere Schule eine »punktuelle Ausleseprüfung« nötig. Auf die Diskussion um die von der bayerischen Landesregierung abgelehnte Förderstufe, die im Rahmenplan des Deutschen Ausschusses vorgesehen war, reagierte das Kultusministerium mit verschiedenen Alternativen, das Selektionsverfahren gerechter zu gestalten. Theodor Maunz schlug die ergänzende Möglichkeit eines Gutachtens durch die Volksschule vor, das dann auf einer etwas längeren Betrachtung der Schüler beruht hätte. In den vom Bayerischen Kultusministerium für die KMK erarbeiteten »Grundsätzen für die Übergänge von einer Schulart in die andere« sollte die punktuelle Prüfung völlig abgeschafft und durch einen Probeunterricht ersetzt werden. In einem anderen im Kultusministerium erarbeiteten Verfahren wäre in der abgebenden Schule über ein Jahr ein Gutachten über die Eignung der Schüler erstellt worden und in der aufnehmenden Schule nach Aufnahmeprüfung und Probeunterricht eine einjährige Probezeit erfolgt, was also – für vorab geeignet scheinende Schüler – eine zweijährige Übertrittsphase bedeutet hätte, zeitlich angelehnt an die Förderstufe. Auf diesem Vorschlag aufbauend entschied sich Bayern dann für ein Gutachtenverfahren in der Volksschule während der 4. Jahrgangsstufe für alle Schüler, gefolgt von einem Probeunterricht in der weiterführenden Schule und schriftlichen Prüfungen für die als geeignet befundenen1921. Aus diesen Überlegungen und Ergebnissen des Jahres 1961 heraus ergaben sich über die nächsten Jahre hinweg immer weitere Debatten, da gerade durch die Aufnahmeprüfungen für Schüler von weiter weg Nachteile erwuchsen. Erst 1971 ergab sich eine grundlegende Neuregelung: Der Probeunterricht wurde abgeschafft, und übrig blieb das positive Gutachten der abgebenden Schule als einziges Kriterium – und wer ein solches nicht vorlegen konnte, hatte doch noch die Möglichkeit, sich in einem Probeunterricht zu beweisen1922. Auch der Übertritt von der Mittel- in die Höhere Schule wurde vereinfacht, indem ab 1963 bei gutem Notenschnitt die Aufnahmeprüfung wegfiel. Neben der Erleichterung des Übertritts selbst wurden spezifische Übergangsklassen und ab 1965 Anschlussklassen eingerichtet, die dann noch den Zeitverlust von einem Jahr ausglichen1923. Solche Initiativen sind gewiss weniger unter dem Stichwort der Horizontalisierung zu fassen als als Synchronisierung der verschiedenen 1920 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964. 1921 Vgl. Lehning II, S. 626–628. 1922 Vgl. ebd., S. 630f. 1923 Vgl. ebd., S. 881f.
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Schultypen zur höheren Durchlässigkeit zu bezeichnen. Diese Synchronisierung der Schulformen zur Erhöhung der gegenseitigen Durchlässigkeit bildete das Gegenstück zur Ausdifferenzierung des Schulwesens1924. Auch die Durchlässigkeit zwischen den höheren Schulformen untereinander war der Landesregierung wichtig, was zu einer frühzeitigen Vereinheitlichung der gymnasialen Unterstufe führte. Mit dem »Neuaufbau des höheren Schulwesens«1925 1964 gab es in der gymnasialen Unterstufe nur noch zwei verschiedene Typen, die sich lediglich in der Wahl von Englisch oder Latein als erster Fremdsprache unterschieden. Ziel war, Kinder nicht im Alter von 10 Jahren auf eine bestimmte Ausprägung der Höheren Schulen festzulegen, sondern diese Frage bis nach der siebten Klasse offenzulassen1926 : »Das hat zur Folge, dass die Eltern die endgütige Wahl der Schulart, die das Kind besuchen soll, erst zu treffen brauchen, wenn das Kind so weit entwickelt ist, dass seine Begabungsrichtung sicher erkannt werden kann, so dass Fehlleistungen des Kindes vermieden werden.«1927 Eine gewisse Horizontalisierung – nur innerhalb der Gymnasien – fand hier also nicht zur besseren Förderung durch längere Integration statt, sondern zur besseren Selektion. Die Reform der Oberstufe 1970 differenzierte wiederum stärker. Ihre Flexibilisierung war darauf angelegt, auch nach dem Abitur eine möglichst differenzierte Wahl treffen zu können, also vor allem nicht automatisch an die Universität, sondern gegebenenfalls »in andere Berufsausbildungen und in bestimmte Berufe unmittelbar« zu gehen1928. Huber führte weiter aus: »Die starke Differenzierung der Kollegstufe lässt Begabung und Neigung des einzelnen wirksam zur Geltung kommen.« Bei der Wahlentscheidung sollte der Schüler sich allerdings »bewusst sein, dass er bei seiner Wahlentscheidung seine Studien- und Berufsziele im Auge haben muss«1929. Durchlässigkeit meinte aber nicht nur von der Volksschule zu einer Weiterführenden Schule, von der Mittelschule zum Gymnasium oder innerhalb der Schultypen. Durchlässigkeit musste in einem System, das sich nach Leistung und Begabung differenzierte und in dem zumal eine Wertung der einzelnen Schulgattungen eigentlich ohnehin zu unterlassen war, in alle Richtungen gehen. 1924 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 17. 1925 Neuaufbau des höheren Schulwesens in Bayern. In: Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus 1964, 1, 24. 01. 1964, S. 1, 13–18. 1926 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 618 u. S. 771f und Lehning II, S. 618. 1927 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 17. 1928 Huber, Veröffentlichung zum bayerischen Kollegstufenmodell im Amtsblatt des Bayerischen Kultusministeriums (Nr. II/12-8/90 584), 21. 10. 1970, zitiert nach Wiater, Reform der Gymnasialen Oberstufe, S. 935. 1929 Huber, Veröffentlichung zum bayerischen Kollegstufenmodell im Amtsblatt des Bayerischen Kultusministeriums (Nr. II/12-8/90 584), 21. 10. 1970, zitiert nach Wiater, Reform der Gymnasialen Oberstufe, S. 935.
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Huber ging sogar so weit zu erklären, für die Beurteilung der Durchlässigkeit des Systems »interessiert weniger die Zahl der von der Volksschule an die weiterführenden Schulen übergetretenen Schüler. […] Entscheidend für das Funktionieren der Übergänge zwischen den Schularten ist es, dass dieser Übergang nicht zu einer Einbahnstraße wird, d. h. dass er von der Volksschule zur Realschule und von der Realschule zum Gymnasium führt, sondern dass fehlgeleitete Begabungen ohne Zeitverlust und besondere Schwierigkeiten auch in umgekehrter Richtung gelenkt werden.«1930 Dieser Weg war freilich von vornherein ohne Ausleseprüfungen möglich – das in den Formulierungen tunlichst vermiedene ›nach oben‹ und ›nach unten‹ blieb evident. Differenzierung war auch nötig, um die Qualität zu wahren. Würde ein Segment des Bildungswesens zu breit werden, verlöre es seine Spezifizität und damit gegebenenfalls seine Qualität. Ludwig Huber stimmte dieser Befürchtung prinzipiell zu: »Diese Gefahr besteht. Quantität und Qualität sind die beiden Pole, zwischen denen sich das Kraftfeld der bildungspolitischen Anspannungen für unsere Zukunft ordnen muss. Die aus inneren und äußeren Gründen des Aufbaues einer demokratischen Bildungsgesellschaft notwendige Steigerung der Quantität bedarf des gleichrangigen Bemühens um eine ständige Differenzierung nach Prinzipien der Qualität.«1931 Aus dieser Überlegung heraus ist auch die Idee zu erklären, die gymnasiale Oberstufe in ein Berufs- und ein Studienkolleg aufzuteilen. 1966, also in einer Zeit, in der die bayerische Bildungspolitik noch nicht daran dachte, Integrationstendenzen zuzulassen, schaute Huber zuversichtlich auf die Fähigkeiten eines derart differenzierenden und differenzierten Systems: »Es gilt vielmehr, letzte Reste einer vergangenen Zeit nicht in einem Nivellierungsprozess, sondern in einem sachgerechten Differenzierungsprozess aufzuarbeiten. Der Ausbau der Übergänge von einer Schulart zur anderen ist heute bereits so weit fortgeschritten, dass diese nach der Grundschule praktisch in jedem Jahr und in jeder Richtung vollzogen werden können, ohne dass eine Schulart darauf verzichten müsste, ihre spezifische Art voll zu entfalten und der Gesellschaft den Dienst zu leisten, für den sie geschaffen ist.«1932 Die »Gegliederte Leistungsschule« als Antwort auf die Gesamtschuldebatte Gegen Ende seiner Amtszeit als Kultusminister stellte Ludwig Huber dann ein umfassendes Konzept vor, das einerseits als Gegenentwurf zur Gesamtschule diente und dazu die genannten Maßnahmen zur Differenzierung und Durch1930 Huber, Entscheidung für Bildung. Haushaltsrede 1968, S. 23. 1931 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 1932 BHStA MK 52598, Stellungnahme ohne Nummer, bei Ref. Nr. II/9, Rauscher, Betreff: Landtagsantrag vom 20. 4. 1967 zur Gesamtschule, Beilage 2164, 12. 05. 1966.
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lässigkeit zusammenfasste, andererseits aber auch einen zentralen Gedanken der Gesamtschule inkorporierte, nämlich erstmalig die soziale Integration. Während die Gesamtschule als neue, übergreifende Idee im Gesamtdiskurs den Maßstab setzte, wurde das dreigegliederte Schulwesen lediglich als tradiertes System wahrgenommen, das nur als Ausgangspunkt einer Entwicklung, nicht als aktuelle Alternative galt. Was davon beibehalten werden sollte, bedurfte also nicht nur einer neuen Begründung, sondern musste auch eine akzeptierte Antwort auf dieselben Probleme und Fragen geben, die die Gesamtschule adressierte. Die politische Situation, die die turbulenten Monate vor der Haushaltsrede des Kultusministers im Frühjahr des Jahres 1969 geschaffen hatten, bot einerseits Gelegenheit, mit Ansichten zu reüssieren, die sich der Studentenbewegung entgegenstellten; andererseits setzte ebendieser Impuls den Kultusminister auch unter Druck, anstatt der Konstanz nun doch einen Bruch in der Weiterentwicklung des Bildungssystems zu betonen, nämlich die »Schul- und Hochschulreform«, so der Titel seiner Rede, um im Diskurs nicht vollends abgehängt zu werden. Damit lief er allerdings nicht den reformerischen Kräften in der Bildungspolitik hinterher. Seine Politik musste zwar reagieren, aber längst nicht konvergieren, gleichwohl er als wichtiges Argument für seine Pläne anführte, dass die Politik nur so »zu sofortigen befriedigenden Ergebnissen kommen kann, während irreale Wunschvorstellungen, die sich weder mit den personellen, noch mit den finanziellen, noch mit den organisatorischen Gegebenheiten auseinandersetzen, zur Lähmung der gegenwärtigen Reform führen müssten, ohne in zeitlich absehbarer Zukunft die Vorteile eines neuen Organisationssystems entfalten zu können«1933 – gemeint war der von der SPD befürwortete Weg zur Integrierten Gesamtschule1934. In dieser Haushaltsrede also skizzierte Huber eine »Gegliederte Leistungsschule«, wie sie die Unionsparteien ähnlich gerade in ihren Deidesheimer Leitsätzen vereinbart hatten, um damit auch einige Monate später in den Bundestagswahlkampf zu ziehen1935. Doch 1933 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 12. 1934 Schon zur Verabschiedung der Deidesheimer Leitsätze hatte Hubers Amtskollege Bernhard Vogel betont, »die Sozialdemokraten fassten die ›weitere Zukunft‹ ins Auge, während es der Union um das gehe, was jetzt und mit Aussicht auf Erfolg getan werden könne und allerdings auch um Entscheidungen, ›die für die Zukunft offen sind‹«, vgl. »Blamage bei Reformversuchen: CDU-Kongress zerzaust kulturpolitische Leitsätze«. In: DIE ZEIT 10/ 1969. 1935 Wahlprogramm der CDU 1969, S.5: »Wir werden eine umfassende Reform unseres Erziehungs- und Bildungswesens durchsetzen. Dazu haben wir unser Bildungsprogramm entworfen. Jedes Kind muss gleiche Chancen für seine Entwicklung haben. Deswegen wollen wir eine gegliederte Leistungsschule, die ein Höchstmaß an individueller Förderung bietet. Sie soll die Verschiedenheit der Begabungen Individuell entwickeln, umweltbedingte Hemmungen und Hindernisse abbauen, eine ständige Anpassung der Berufsentscheidung und des Ausbildungsweges an die persönliche Entwicklung ermöglichen sowie Gelegenheit bieten, die Schuldauer bis zur Reifeprüfung um 2 Jahre zu verkürzen.«
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zunächst ein Blick auf die Entstehung dieser Situation in einem bundesdeutschen Bildungsdiskurs, der von der Gesamtschulidee beherrscht wurde und in Grenzen auch die bayerische Bildungspolitik mitriss: Seit sich die SPD 1964 für eine Horizontalisierung des Schulwesens ausgesprochen und die KMK gleichzeitig weitgehende Schulversuche in diese Richtung zugelassen hatte, konkurrierten das dreigegliederte traditionelle System und die Gesamtschule in der interessierten Teilöffentlichkeit und im Volk miteinander. Wie im Kapitel zu Hessen bereits gezeigt wurde, wurde das Anliegen der Horizontalisierung des gesamten Bildungswesens ab Mitte der sechziger Jahre immer bedeutender. Auch die bayerische Landesregierung konnte sich einer Auseinandersetzung mit dem Thema nicht lange verschließen. 1966 stellte die SPD im Landtag den so simplen wie eindeutigen Antrag: »Die Staatsregierung wird ersucht, den Schultyp einer Gesamtschule zu erproben«, was zu einer intensiven Auseinandersetzung des Kultusministeriums mit der Thematik führte. Eine ministeriuminterne Stellungnahme dazu geht vorwiegend kritisch auf die allgemein für die Einführung der Gesamtschule vorgebrachten Argumente ein: »Ihr Prinzip beruht auf der Überzeugung, dass eine möglichst lange gemeinsame Grundbildung aller Schüler und eine Differenzierung in Kursen der sozialen Koedukation diene und gleichzeitig die Erfüllung der jeweiligen natürlichen Entwicklungsphase ermögliche.«1936 Dieser Annahme wurde eine eigene Perspektive gegenübergestellt, die nicht nur die Effekte anzweifelte, sondern auch die Grundsätze kritisierte: »Die soziale Koedukation scheint auch in der Gesamtschule zweifelhaft, denn das tägliche Erlebnis des Über- oder Unterlegenseins im Kernunterricht kann auch von der geschicktesten Pädagogik nicht immer aufgefangen werden. […] Die Gesamtschule beruht auf einer sozialen Ideologie und verwirklicht trotzdem nicht soziale Erziehung. Verständige Vertreter der Gesamtschule sagen, dass sie eine gewisse Niveausenkung in Kauf nehmen, da sie die soziale Integration als vorrangig ansehen. Man will ständische Vorurteile abbauen. Die Integrierte Gesamtschule will die Gesellschaftsform der Zukunft festlegen. Schule kann aber nur die Elemente zur Verfügung stellen, durch die der Schüler sich seiner Sozialrolle bewusst wird und sich für eine Sozialrolle entscheiden kann.«1937 Der Effekt integrativer Maßnahmen in der Schule (»soziale Koedukation«) wird hier angezweifelt – diese habe gar nicht die Mittel, die gesellschaftliche Segregation zu überwinden und führe durch Konfrontation nur zu stärkerem Leiden unter den Unterschieden. Stattdessen müsse Schule den Schülern ihren eigenen Standort in der 1936 BHStA MK 52598, Nr. II/9-8/50 346, Vorlage, Betreff: Landtagsantrag vom 20. 4. 1966 zur Gesamtschule, Beilage 2164, 12. 05. 1966, gez. Rauscher. 1937 BHStA MK 52598, Nr. II/9-8/50 346, Betreff: Landtagsantrag vom 20. 4. 1967 zur Gesamtschule, Beilage 2164, 12. 05. 1966. Neben dem Absatz wurde handschriftlich vermerkt: »Im Landtag m. E. nicht vorantragen«.
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Gesellschaft bewusst machen und sie befähigen, sich für diesen oder einen anderen zu entscheiden. Das Bewusstmachen der Gesellschaftsstruktur innerhalb des eigenen sozialen Feldes wird hier klar dem Erleben der Unterschiede durch Integration entgegengesetzt. Die Integration aller Schüler wird aber nicht nur in ihrer Wirksamkeit angezweifelt, sondern vor allem in ihrer Zielsetzung: »Die Gesamtschule beruht auf einer sozialen Ideologie und verwirklicht trotzdem nicht soziale Erziehung. […] Die Integrierte Gesamtschule will die Gesellschaftsform der Zukunft festlegen.« Dem wurde entgegnet: »Schule darf nur beim Hineinwachsen in die Welt helfen und zur systemgerechten Interpretation der Gesellschaft anleiten. Das demokratische Prinzip unserer Gesellschaft wird nicht durch Integration, sondern durch Bewusstseinserhellung und Befähigung zur Entscheidung verwirklicht. Die Gesamtschule widerspricht damit dem Wesen der modernen Gesellschaft, die leistungsspezifisch aufgebaut ist. Weil der Hochbegabte zu wenig gefördert wird, weicht dieser, wenn er es bezahlen kann, in die Privatschule aus, wie es sich in USA und jetzt auch in England zeigt. Dort sondert er sich ebenso exklusiv von der Gesellschaft ab wie einst der Adel.«1938 Als Differenzierungsfaktoren werden Leistung und Begabung nicht gefordert, sondern bereits vorausgesetzt. Ein diese Faktoren artifiziell integrierendes System führe wiederum zu sozialer Differenzierung, entlang der finanziellen Möglichkeiten der Eltern nämlich. In diesem Absatz wird auch die volle Dimension der Kluft deutlich, die zwischen den Positionen lag. Die bayerische Bildungspolitik sah sich als der gesellschaftlichen Entwicklung nachgelagert und passte sich ihr an. Dem lag die auch aus der Erfahrung des Nationalsozialismus gewonnene Idee zugrunde, dass ein demokratischer Staat nicht das Recht habe, die Gesellschaft zu steuern. Der Demokratiebegriff hinter der Gesamtschule hingegen fasste es gerade als Auftrag eines Staates mit demokratischer Verfassung auf, die Verwirklichung einer demokratischen Gesellschaft durch die Schule zu erwirken. Stand auf der einen Seite die differenzierte Gesellschaft als Grundannahme, stand auf der anderen Seite die integrierte Gesellschaft als Ideal. Über diese grundsätzliche Differenz hinaus wurde der Gesamtschule die pädagogische Leistungsfähigkeit abgesprochen, da stärkere Schüler sich in einer zu verschieden begabten Gruppe zurücknehmen und zu wenig gefordert würden; ein schwacher Schüler hingegen »kommt nicht mit oder bestimmt das Niveau«. Daneben stehe gar ein Anstieg der Jugendkriminalität durch die »Auflösung der geistigen Heimat der [Schul-]Klasse« zu befürchten, die »total verplante Schule« benötige mehr Lehrer und Räume, dadurch mithin sogar
1938 BHStA MK 52598, Nr. II/9-8/50 346, Vorlage, Betreff: Landtagsantrag vom 20. 4. 1966 zur Gesamtschule, Beilage 2164, 12. 05. 1966, gez. Rauscher.
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Nachmittagsunterricht und komme den Staat teuer zu stehen1939. Der Antrag der SPD wurde selbstredend von der Regierungsmehrheit im Landtag abgelehnt. Ende des Jahres 1967 wagte die SPD einen erneuten Vorstoß und beantragte im Landtag wiederum Schulversuche – dieses Mal explizit über die »Integrierte Gesamtschule« und in einer anderen politischen Grundstimmung, in der die Gesamtschule nicht mehr einfach wegzuwischen war. Die dazu wiederum verfasste Stellungnahme ähnelt in weiten Teilen inhaltlich der ersten. Darin wird allerdings bereits viel weniger als zuvor auf die grundsätzlichen Differenzen eingegangen, dafür findet eine tiefergehende Auseinandersetzung mit organisatorischen und pädagogischen Fragestellungen statt1940. Statt dann wie zwei Jahre zuvor einen Schulversuch rundheraus abzulehnen, zeigte sich das Kultusministerium und im Anschluss auch die Landesregierung nun offener. Die Stellungnahme endet mit einem Vorschlag völlig neuer Lesart. Anerkannt wurde nämlich der »tatsächliche Vorteil, […] nahtlos zwischen den Ausbildungsgängen mit verschieden hohen Anforderungen zu wechseln, d. h. die Durchlässigkeit nach oben und unten.« Da diese Durchlässigkeit erklärtes Ziel Bayerns war, schien die Gesamtschule zumindest in Teilen nun in einem völlig neuen Licht, und die Form der kooperativen Gesamtschule wurde nun nicht nur als echte Alternative erwogen, sondern förmlich begrüßt: »In ihr würde die Eigenständigkeit der einzelnen Schularten mit den Vorzügen des vertikalen Schulsystems erhalten, das Zusammenleben der Schüler aber als Neuerung gewonnen. Durch gemeinsame Entscheidung über das Vorrücken könnten leichtere Übergänge zwischen den Schularten erreicht werden; die Durchlässigkeit würde dabei nicht mehr durch zusätzliche Aufnahmeprüfungen, Probezeiten, Gutachter und ähnliche Dinge erschwert.« Selbst an die gegenseitige Abstimmung – keine Angleichung – der Lehrpläne der verschiedenen Schularten zur Verbesserung der Durchlässigkeit wurde schon gedacht und ebenfalls an die gemeinsame Unterrichtung in »Fächern wie Musik, Werken und Sport sowie Wahlunterricht«. Somit forderte das Referat, »dass der Antrag der SPD bei den Verhandlungen im Kulturpolitischen Ausschuss des Bayerischen Landtags folgende Form erhalten würde: ›Die
1939 Ebd. 1940 BHStA MK 52598, Nr. II/1-1/2653, Betreff: Antrag der SPD (Beilage 539) auf Durchführung von Schulversuchen zur Integrierten Gesamtschule; hier : Stellungnahme der Abt. II, gez. Höhne, 02. 01. 1968. Interessant ist ein Aspekt, in dem das Argument, »dass ›Begabung‹ nicht eine für den einzelnen von Anfang an vorgegebene Konstante ist«, eines der Hauptargumente auf Seiten der Gesamtschulbefürworter, umgedreht und gegen das Prinzip der inneren Differenzierung verwendet wird: »An den Anforderungen wächst die Begabung des Kindes. Passt man aber die Anforderungen ständig dem augenblicklichen Leistungsvermögen des Schülers an, so versäumt man leicht den Augenblick, durch erhöhte Forderungen die Anlagen zu verbessern.«
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Staatsregierung wird ersucht, in Bayern einen Schulversuch mit einer kooperativen Gesamtschule durchzuführen.‹«1941 In dieser Annäherung an die Gesamtschule wird einerseits noch einmal deutlich, inwieweit sich das Prinzip der Integration in einem horizontal gegliederten Schulsystem und das Prinzip der Differenzierung in einem vertikal gegliederten System fundamental widersprachen, und weshalb trotz Beteuerungen, dass dem nicht so sei, selbst mit dem vorgeschlagenen kooperativen Modell eine Abkehr vom ursprünglichen Konzept einhergehe: »Aufnahmeprüfungen, Probezeiten, Gutachter und ähnliche Dinge« dienten im gegliederten System – zumindest theoretisch – nicht der Erschwerung der Durchlässigkeit, sondern der optimalen Zuweisung des einzelnen Schülers zum für ihn geeigneten Bildungsgang. Sie zu vereinfachen, hätte nach alter Deutung die Treffgenauigkeit der Selektionsmechanismen verfälscht. Durchlässigkeit hieß in diesem Sinne eben nicht den Übergang »›nach oben‹ und ›nach unten‹«1942, wie hier angenommen, sondern das Einschlagen desjenigen Wegs, der der persönlichen Leistung, Begabung und vor allem Begabungsrichtung des jeweiligen Schülers entspricht. Auch die Abstimmung der Lehrpläne, »dass in vielen Bereichen die gleichen Stoffgebiete berührt werden«, wäre eine Abkehr von der pluralistischen Lesart der praktischeren, geistigeren oder anderweitig gelagerten Begabungsrichtungen und die Hinwendung zur linearen Begabungshöhe. In einer späteren Stellungnahme versuchte der verantwortliche Abteilungsleiter Dr. Höhne wiederum, just diesen Eindruck zu korrigieren, indem er explizit die gerade noch aufgezählten Mittel einer allmählichen Integration relativierte: »Die kooperative Gesamtschule lässt die Schularten des dreigliedrigen Schulsystems unangetastet; sie bringt aber die Schüler der drei Schularten in persönliche Verbindung und erhöht die Durchlässigkeit auf ein Höchstmaß. Damit würde sie ein wirksames Gegenmodell gegen alle Versuche der Integration darstellen. Die Erhaltung des dreigliedrigen Schulsystems mit einem Höchstmaß von Durchlässigkeit war aber schon immer eine Forderung der bayerischen Schulpolitik, so dass die kooperative Gesamtschule sich nicht als ein Nachgeben auswirkt, sondern vielmehr als ein Akt der Vervollkommnung des bestehenden Systems.«1943 Selbst aus der Volksschulabteilung wurde der Vorschlag begrüßt. Nachdem auch der Minister zügig seine Zustimmung erteilt hatte, ging es bald in die Planungen, um noch im folgenden Schuljahr in Schongau den ersten Gesamtschulversuch zu unternehmen, unmittelbar verbunden mit der Suche nach
1941 Ebd. 1942 Ebd. 1943 BHStA MK 52598, Nr. II/1-1/2653, Betreff: Antrag der SPD (Beilage 539) auf Durchführung von Schulversuchen zur Integrierten Gesamtschule; hier : Stellungnahme der Abt. II, gez. Höhne, 02. 01. 1968.
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weiteren Versuchsstandorten für das folgende Jahr1944. Die Vorbereitung gestaltete sich verhältnismäßig einfach1945, angedacht war nämlich zunächst tatsächlich nur die organisatorische Zusammenlegung einer Haupt-, Real- und Höheren Schule – an einem Standort, der die räumliche Einheit ohnehin bereits vorhielt1946. Jede Schule behielte ihren eigenen Leiter, die zusammen als Direktorium unter Vorsitz des Gymnasialdirektors die übergreifenden Entscheidungen träfen1947. Während im Kultusministerium also insgeheim schon der Schulversuch vorbereitet wurde, lehnte die CSU in der Landtagsdebatte den SPD-Antrag noch ab, und auch der für das Ministerium vor dem Landtag Stellung nehmende Leiter der Höheren Schulabteilung Höhne beschränkte sich darauf »die Gründe zu nennen, die gegen eine Integrierte Gesamtschule sprechen, da ich am Abend vorher eine dahingehende Weisung durch MB 1 erhaben hatte.«1948 Die Öffentlichkeit, die betroffenen Schulen, selbst »die beteiligten Referate, die Ministerialbeauftragten bzw. die Regierungen«, wurden erst informiert, als das Kultusministerium die Einrichtung längst beschlossen und ausdefiniert hatte1949. Die Deklaration der ohnehin in einem gemeinsamen Komplex befindlichen Schulen zur Kooperativen Gesamtschule war ein wenig aufwendiger Schritt. Damit einher ging allerdings die Ankündigung sukzessiver Integration. – »Gedacht ist in erster Linie an die Fächer Leibeserziehung, Kunsterziehung, politische Bildung, vielleicht können auch besondere Formen des Sprachunterrichts entwickelt werden.« Selbst die Prüfung einer Angleichung des Unterrichtsstoffs war vorgesehen1950. Der Schulversuch war auch nicht ausschließlich darauf angelegt, die »Rechtfertigung des dreigliedrigen Schulwesens […] durch eigene Versuche
1944 Vgl. BHStA MK 52598, Nr. II/1-8/4 103, Betreff: Modellversuche für die kooperative Gesamtschule, 14. 01. 1968. 1945 BHStA MK 52598, Reg. VIII, Ergebnisse der Besprechung über einen Schulversuch mit der ›kooperativen Gesamtschule‹, 15. 02. 1968. 1946 Vgl. PM BHStA MK 52598, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, 24. 04. 1968: »ein Schulzentrum, in dem Volksschule, Realschule und Gymnasium so zusammengebaut sind, dass sie schon der Anlage nach einen geschlossenen Komplex bilden«. 1947 BHStA MK 52598, Reg. VIII, Ergebnisse der Besprechung über einen Schulversuch mit der ›kooperativen Gesamtschule‹, 15. 02. 1968. 1948 BHStA MK 52598, Betreff: Antrag der SPD (Beilage 539) auf Durchführung von Schulversuchen zur Integrierten Gesamtschule, 26. 02. 1968. 1949 Vgl. BHStA MK 52598, Nr. II/1-8/46 000, Betreff: Kooperative Gesamtschule in Schongau, 18. 04. 1968. 1950 BHStA MK 52598, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, 24. 04. 1968. Ähnlich äußerte sich der Leiter des IGP Dr. Bohusch, der die sukzessive Integration einmal bestehender Kooperativer Gesamtschulen beschreibt. BHStA MK 52598, Dr. Bohusch, IGP: Möglichkeiten für den Einbau der kooperativen Gesamtschule in unser Bildungssystem, 17. 03. 1969.
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zu erhärten«1951, wie noch zu Anfang des Jahres ein Hilfsargument gelautet hatte. Stattdessen erklärte Huber im Sommer öffentlich als Teil seines Schulkonzepts: »Das Modell der kooperativen Gesamtschule wird in Abwandlung auch anzuwenden sein, wo noch keine baulichen Schulzentren bestehen.«1952 Damit zeichnete sich mit dem Jahr 1968 in der bayerischen Bildungspolitik ein bedeutender Wandel ab. Anders als zuvor, als die Entwicklung der Gesellschaft in Bayern Anschluss an übergreifende Prozesse gesucht hatte und die Landespolitik dem nachgefolgt war, deuteten sich nun auf Seiten der Regierungspolitik leichte Konvergenztendenzen an eine entwicklungstreibende Bildungspolitik an. Da die bayerische Landesregierung dem Vorschlag folgte und sich für Schulversuche mit der kooperativen Gesamtschule entschied, mussten nun die neuen Grenzen abgesteckt werden. Die kooperative Gesamtschule wurde nunmehr auf Seiten des dreigliedrigen Schulsystems verortet, während die Integrierte Gesamtschule als Gegenmodell galt. Eine weitere ministeriumsinterne Zusammenfassung über die Integrierte Gesamtschule im September des Jahres 1968 griff diese scharf an. Angesichts der Energie, die in der Vergangenheit auf bessere Leistungsauslese und Begabtenförderung verwendet worden war, wog der Vorwurf schwer, dass die Begabtesten zu kurz kämen, »weil sich der Lehrer im Endeffekt doch dem Leistungsstand der Schwächsten anpassen muss«. Das pädagogische Konzept schwäche die Klassendisziplin, »verwirrt den Schüler und wirkt sich auf seine Konzentrationsfähigkeit nachteilig aus« und verwehre den »natürlichen Drang der jungen Menschen, zu irgend einer Gruppe zu gehören«; das Ausbildungsniveau drohe abzusinken, die Kosten hingegen zu steigen, und darüber hinaus werde es »zwangsläufig zur Bildung teurer Privatschulen« kommen. Auch die sozialen Versprechen würden nicht eingehalten werden können, sondern eher noch durch die geringere Differenzierung nach Leistung wieder »bildungshemmende milieubedingte Faktoren der sozial schwachen Schichten verstärkt werden«1953. Diese interne Einschätzung widersprach allerdings dem, was aktuell den größten Teil der öffentlichen und vor allem wissenschaftlichen Debatte um die Gesamtschule ausmachte. Ludwig Huber hatte daher im Ministerium die Order ausgegeben, »Hochschullehrer oder wissenschaftlich ausgewiesene bekannte Persönlichkeiten für ein Gutachten zu gewinnen, das das dreigliedrige Schulwesen gegenüber der Integrierten Gesamtschule rechtfertigen soll«1954. Nach 1951 BHStA MK 52598, Nr. II/1-1/2653, Betreff: Antrag der SPD (Beilage 539) auf Durchführung von Schulversuchen zur Integrierten Gesamtschule, 02. 01. 1968. 1952 BHStA MK 66166, Huber, Schule – Sache des ganzen Volkes. In: Bayern-Kurier vom 13. 07. 1968. 1953 BHStA StK 17498, Nr. A I 5-400-19 Betreff: Gesamtschule, 06. 09. 1968. 1954 BHStA MK 52598, Nr. II/1-8/142 797, Betreff: Gutachten zu dem Problem ›Dreigliedriges Schulwesen oder Integrierte Gesamtschule‹, 05. 06. 1968, gez. Höhne.
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einem Jahr der Suche standen lediglich vier Namen auf der Liste möglicher Autoren, von denen die Kölner Oberstudienrätin Hanna-Renate Laurien, die in der Zukunft noch Kultusministerin von Rheinland-Pfalz und Berliner Schulsenatorin werden sollte, sowie der Psychologe Prof. Josef Hitpaß geeignet schienen und auch Bereitschaft zeigten. Sie wurden gemeinsam verpflichtet, obwohl sie deutlich machten, »dass sowohl Laurien wie Hitpaß die Gesamtschule nicht ausdrücklich ablehnen« und einen Einsatz für das dreigliedrige Schulwesen an dessen Reform knüpften1955. Das Gutachten kam dann doch, wenig überraschend, »zu Ergebnissen, die in höchst eindrucksvoller Weise die Bewährung des gegliederten Schulsystems belegen und die eine Entscheidung für die Organisationsform der noch nirgends überzeugend arbeitenden Integrierten Gesamtschule schwerfallen lassen.«1956 Dieser Vorgang demonstriert, dass es dem Bayerischen Kultusministerium nicht nur schwerfiel, während der Zeit des bundesdeutschen Gesamtschulkonsenses eine diskursfähige, aber eindeutige Gegenposition aufzubauen. Dass überhaupt erst die Notwendigkeit bestand, für die eigene, bis vor wenigen Jahren noch völlig selbstverständliche Position aktiv nach einer positiven Stimme innerhalb des Diskurses der interessierten Teilöffentlichkeit suchen zu müssen, dass es neben den Befürwortern der Integrierten Gesamtschule keine wahrnehmbaren Verfechter des gegliederten Alternativmodells gab, ist bezeichnend für die immense Verdichtung des Diskurses innerhalb der emanzipativen Begründungszusammenhänge zum Ende der sechziger Jahre hin. In dieser Entwicklung des Gesamtdiskurses muss der Grund für die Öffnung der bayerischen Landesregierung hin zur Kooperativen Gesamtschule gesucht werden. Während des Jahres 1968 verdichtete sich der Bildungsdiskurs extrem, und die diskursiven Ordnungsmechanismen ließen eine grundsätzliche Ablehnung der Gesamtschule und der in ihr enthaltenen sozialen Integrationsbestrebungen nicht mehr zu. Ab Juli 1969 setzte sich dann auch im Bayerischen Kultusministerium ein Referat eigens mit den »Allgemeinen Fragen der Gesamtschule« auseinander, das zu Beginn seiner Arbeit eine Bestandsaufnahme vorlegte und sich somit automatisch stärker in diesen gesamtdeutschen Diskurs einfand. Das Referat kam somit zu demselben Schluss: »Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über die Frage der Integrierten Gesamtschule ist durch die Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates […] in ein neues Stadium getreten.« Die Analyse beinhaltete die Beratungen der Kultusministerkonferenz zu Gesamtschulversuchen, in denen Bayern es nur noch vermochte, »gegen den 1955 Ebd. 1956 BHStA MK 52598, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus 188/69, 02. 12. 1969.
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heftigen Widerstand anderer Länder in den Entwurf auch Versuche mit kooperativen Gesamtschulen einzubeziehen« – umgekehrt heißt das, die Landesregierung konnte lediglich verhindern, dass ausschließlich Versuche mit integrierten Varianten zugelassen wurden. In der Analyse der Bildungsprogramme der verschiedenen Parteien sei selbst bei der CSU-Schwesterpartei CDU »von ›ergebnisoffenen, wissenschaftlich kontrollierten Schulversuchen‹ die Rede, worunter vermutlich auch die [integrierte] Gesamtschule gemeint ist«; und auch der Deutsche Lehrerverband, zu dem maßgeblich der Philologenverband zählt, zeigte sich »offen für Schulversuche jeglicher Art, also auch in Richtung auf eine Integrierte Gesamtschule«. Fünf Bundesländer führten bereits Schulversuche mit Integrierten Gesamtschulen durch oder leiteten sie gerade ein, in den weiteren wurden sie geplant oder erwogen: »Fast überall wird die Problemstellung für so wichtig und interessant gehalten, das Versuche schon wegen der pädagogischen Ansprüche und Vorteile, die für die Integrierte Gesamtschule geltend gemacht werden, unternommen werden sollten.« In dieser Lage hielt es das neugegründete Referat selbst für »notwendig, dass im Ministerium grundsätzlich Überlegungen darüber angestellt werden, ob Bayern sich bereit erklären soll, über seine Versuche mit kooperativen Gesamtschulen hinaus im Rahmen der KMK-Vereinbarung auch einige Versuche mit Integrierten Gesamtschulen zu unternehmen oder gegebenenfalls bei nichtstaatlichen Schulträgern zuzulassen.«1957 Auch das Institut für Gymnasialpädagogik zeigte sich zu dieser Zeit »an Experimenten mit der Integrierten Gesamtschule sehr interessiert«1958. Parallel wurde das Gutachten von Laurien und Hitpaß mit der Fragestellung »Dreigliedriges Schulsystem oder Gesamtschule« zur Herausgabe vorbereitet1959. In dieser Situation, da das tradierte dreigliedrige System kaum noch Fürsprecher fand und Bayern selbst Schulversuche mit der kooperierten Gesamtschule durchführte, der Ruf nach Reformen also auch ganz im Süden der Republik unüberhörbar war, konnte Bildungspolitik aber schon nicht mehr als Anpassungsleistung an soziale Entwicklungen betrieben werden, was auch für die Autoren des Gutachtens klar war. Ludwig Huber suchte nun ebenfalls die Reform und fand sie in der »Gegliederten Leistungsschule«, die grundsätzlicher Konsens zwischen den Unionsparteien war. Diese verkündeten zu dem Konzept »völlige Einigkeit in dem Wunsch nach einer gegliederten Leistungsschule, in der die Hochbegabten 1957 BHStA MK 52598, Nr. A/3-8/101 341, Betreff: Allgemeine Fragen der Gesamtschule, 19. 08. 1969. 1958 BHStA MK 52136, Bohusch, Otmar (IGP) (Hrsg.), Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1969, München 1969. 1959 Vgl. BHStA MK 52598, Nr. II/17-8/103 911, an Frau Oberstudiendirektorin Dr. HannaRenate Laurien, Köln, Betreff: Gutachten über ›Dreigliedriges Schulwesen oder Gesamtschule‹; Beilage: Korrekturabzug, 02. 09. 1969.
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schneller und alle übrigen sicherer als bisher an ihr Ziel gelangen können«1960. Für Huber war dieses Konzept der Schritt von »einer Reihe von Teilreformen« zu einer »Zusammenschau aller Stufen, Institutionen und Methoden des Bildungswesens […] mit dem Ziel, zu einer grundlegenden Neuordnung und inhaltlichen Neubestimmung zu gelangen«1961. Damit hieß der erste Grundsatz der gegliederten Leistungsschule, dass sie nicht als Weiterentwicklung, sondern als Reform des bisherigen Systems gelten sollte. Der zweite Grundsatz war, dass sie »die Reformdiskussion zu einem vorläufigen Abschluss bringt und unser Schulwesen auf eine Basis stellt, von der aus es in Ruhe und ohne Hektik die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte mitvollziehen kann«. Angesichts der kommenden Bundestagswahlen war ein solches Ende politisch dringend gewollt, denn SPD und FDP fanden sich aktuell bildungspolitisch in der Offensive. Die im Unionsmodell enthaltenen Ideen waren in Teilen auch tatsächlich innovativ. Die Grundschule sollte für begabtere Kinder in drei statt vier Jahren zu bewältigen sein. Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien würden mit einer zweijährigen Eingangsstufe, die sich nicht sonderlich von der Förderstufe unterschied, eingeleitet. Die gymnasiale Oberstufe sollte wiederum optional mit einem Jahr weniger zum Abitur führen und auch »das berufsbildende Schulwesen wird völlig neu gestaltet«1962. Ein Mehr an Differenzierung wäre demnach mit einem Mehr an Flexibilität und Mobilität einhergegangen, der Anspruch auf individuelle Förderung war mehr als deutlich. Allerdings gaben diese Ideen, obwohl sie es versuchten, keine Antwort auf die großen gesellschaftspolitischen Fragestellungen, die den Diskurs beherrschten. In Bayern beinhaltete die landesspezifische Ausgestaltung des Konzepts der gegliederten Leistungsschule, die »ein Höchstmaß an Gliederung, Durchlässigkeit und Leistung«1963 gewähren sollte, eine große Zahl problemspezifischer Einzelvorhaben.1964 Angefangen bei einer qualitativen Verbesserung der Vorschulischen Erziehung, sollte bereits der Eintritt in die Grundschule durch eine »Eingangsstufe aus dem letzten Vorschuljahr und dem ersten Grundschuljahr mit dem Zweck, milieubenachteiligte Kinder auf die Grundschule vorzubereiten und hochbegabte Kinder in die Lage zu versetzen, die Grundschule in drei Jahren zu durchlaufen«, reformiert werden. Der Übertritt von der Grundschule zur Sekundarstufe sollte wiederum durch eine »zweijährige Eingangsstufe […] mit dem Zweck, die Fähigkeiten der Schüler und ihre Geeignetheit für weitere Bildungswege zu prüfen«, beginnen. Gemeint war damit im Prinzip die Förderstufe, da die Angleichung der Lehrpläne aller Schularten in der fünften und sechsten 1960 1961 1962 1963 1964
Bildungspolitik, Reform des Schulwesens. In: Union in Deutschland 3/1969, S. 5. Bayerisches Staatministerium für Unterricht und Kultur, Schulreform in Bayern 1, S. 5. Bildungspolitik, Reform des Schulwesens. In: Union in Deutschland 3/1969, S. 5. Huber, Haushaltsrede 1969, S. 14. BHStA StK 17677, Nr. A I 5-410-6 – 1; Betreff: Bildungskonzeption in Bayern, 21. 08. 1969.
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Jahrgangsstufe vorgesehen war. Die Hauptschule sollte ein »berufszuführender Sekundarschulzweig« werden, der als Einheit mit dem beruflichen Bildungswesens inklusive zehntes Pflichtschuljahr in der Berufsschule konzipiert werden sollte, Durchlässigkeit zu allen anderen Bildungsgängen sollte gegeben sein. Die Einrichtung der Fachoberschule im Anschluss an die Mittlere Reife sollte zur fachgebundenen Hochschulreife führen; ein Fachakademiebereich oder Berufskolleg um die gymnasiale Oberstufe zu entlasten, sollte direkt zum Berufseinstieg leiten – die gymnasiale Oberstufe wiederum sollte künftig als Studienkolleg firmieren und als für besonders Begabte auch in zwei Jahren zu durchlaufen sein. Auch die Ausweitung der kooperativen Gesamtschule wurde Teil des Konzepts Gegliederte Leistungsschule1965. Die Argumentation der CSU wurde allerdings zunehmend defensiv. Hubers Generalkritik wandelte sich in eine grundlegende Skepsis, und er war gezwungen, sich stärker auf der Sachebene mit der Integrierten Gesamtschule auseinanderzusetzen. Sein Hauptargument war nun, dass die Frage nach dem Erfolg der Gesamtschule aufgrund mangelnder Erfahrung »im Augenblick mit letzter Schlüssigkeit noch nicht zu beantworten«1966 sei. Er stellte seine eigenen Reformbemühungen dabei explizit in den Geist des Strukturplans für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates1967, bettete sie also in die gesamtdeutsche Reformbewegung ein, statt sich davon abzusetzen. Während Huber sich also weiter gegen die Gesamtschule sträubte, hatte er ihre Ziele – selbst die soziale Integration – bereits in Teilen übernommen. Lediglich in der Priorisierung rangierte die soziale Funktion für Huber nach wie vor hinter der Bildungsund Ausbildungsfunktion der Schule1968. Bereits sein Kollege Bernhard Vogel hatte die Gegliederte Leistungsschule bei Verabschiedung der Deidesheimer Leitsätze als nächstbeste Lösung dargestellt, die ins Auge fasse, »was jetzt und mit Aussicht auf Erfolg getan werden könne«, und betonte damit die Gemeinsamkeiten mit der SPD, deren Gesamtschulkonzept hauptsächlich ein anderes sei, weil es die »weitere Zukunft«1969 in Angriff nehme. Ähnlich äußerte sich 1965 Vgl. BHStA StK 17677, Nr. A I 5-410-6 – 1; Betreff: Bildungskonzeption in Bayern, gez. Steininger, 21. 08. 1969. Größtenteils ähnlich in Huber, Haushaltsrede 1969, S. 13f. 1966 BHStA MK 66166, CSU Kommentar Nr. 3, 05. 02. 1969. 1967 Vgl. Bayerisches Staatministerium für Unterricht und Kultur, Schulreform in Bayern 1, S. 5. 1968 Diese Rangfolge dieser Funktionen wird explizit angesprochen in einer Ausarbeitung des Kultusministeriums zur Gesamtschule für die Staatskanzlei, BHStA StK 17498, Darstellung und Würdigung der Gesamtschule (Ausarbeitung des BayStMfKuK), 01. 04. 1969: »Hier [in der Berliner Gesamtschulplanung] wie auch bei anderen Vorkämpfern der Gesamtschule wird deutlich, dass sie in der Gesamtschule in erster Linie ›einen Ort sozialer Integration‹ sehen und erste in zweiter Linie, wenn überhaupt ein Instrument zu besserer Ausbildung aller – ›der weniger und der Hochbegabten‹.« 1969 »Blamage bei Reformversuchen: CDU-Kongress zerzaust kulturpolitische Leitsätze«. In: Die ZEIT 10/1969.
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Huber, aber statt die Gesamtschule auch nur langfristig zu antizipieren, sollten »alle pädagogischen und politischen Anstrengungen darauf abgestellt sein, das bestehende Schulsystem nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und unter Einbeziehung aller Erfahrungen den Anforderungen der modernen Industrie- und Leistungsgesellschaft anzupassen«1970. Das Konzept der gegliederten Leistungsschule lässt sich allgemein als Antwort auf die Gesamtschule lesen, konkret bezog sich Huber auf das »Modell für ein demokratisches Bildungswesen« der SPD1971. Allerdings stand dieser Summe an Einzelmaßnahmen weiterhin das verheißungsvolle Schlagwort der Gesamtschule gegenüber, das den Reformeifer des Gesamtdiskurses voll bediente. Der sperrige Titel gegliederte Leistungsschule hingegen stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Wohlwollend bezeichnete die ZEIT sie als »vorsichtigen Pragmatismus«1972. Entsprechend wenig Wirkung vermochte die gegliederte Leistungsschule zu entfalten. Das Angebot eines differenzierten Systems, das es ermöglichte, »geschlossene, von besonderen Begabungsrichtungen geprägte Bildungswege zu durchlaufen und gleichzeitig von jedem Punkt des Systems aus zu jeder Zeit zu jedem anderen Punkt zu gelangen«1973, klammerte den Ende der sechziger Jahre zum Markenkern der Gesamtschule gewordenen Aspekt der sozialen Integration weiter aus. Als Ludwig Huber im Januar 1970 den »Anfang einer Schulreform« verkündete, mit der er versuchen wollte, »alle Stufen und Einrichtungen unseres Bildungswesens, von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung, […] mehr denn je zuvor systematisch aufeinander zu beziehen und wechselseitig aufeinander abzustimmen«1974, blieb er seiner Idealvorstellung eines möglichst feingliedrigen und möglichst durchlässigen, sich anhand von Leistung und Begabung, vor allem aber Begabungsrichtungen differenzierenden Bildungswesens treu. Der Grundidee dieser Schule folgte auch Kultusminister Maier, der sich gleichfalls für eine nach oben hin differenzierte und mehr Schüler in neue Bahnen beruflicher Bildung leitende Schule einsetzte1975. Zur Umsetzung der gegliederten Leistungsschule richtete das Kultusministerium zehn Fachkommissionen ein, die sich mit den einzelnen Aspekten befassten1976. Gleichzeitig gingen die Schulversuche mit mehreren kooperativen 1970 BHStA MK 66166, CSU Kommentar Nr. 3, 05. 02. 1969. 1971 Huber, Schul- und Hochschulreform, S. 12. 1972 »Blamage bei Reformversuchen: CDU-Kongress zerzaust kulturpolitische Leitsätze«. In: Die ZEIT 10/1969. 1973 Huber, Haushaltsrede 1969, S. 14. 1974 BHStA MK 62067, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Kultusminister Dr. Huber : Neukonzeptionen der Lehrpläne bildet Grundlage der inneren Schulreform und des künftigen Schulaufbaus, 19. 01. 1970. 1975 Vgl. Maier, Zwischenrufe, S. 63. 1976 Vgl. BHStA StK 17677, MK Nr. A/3-1/77 871 an die Bayer. Staatskanzlei, Betreff: Bil-
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Gesamtschulen weiter. Hinzu kamen bald auch Versuche mit integrierten Modellen1977. Das Staatsinstitut für Bildungsforschung und -planung erarbeitete nun ein »Grundsatzprogramm für kooperative Gesamtschulen«, denen es darin folgende besondere Funktionsziele gab: »Individualisierung des Unterrichts, Bessere Erfüllung des Rechts auf gleiche Bildungschancen durch den Abbau der regionalen und sozialen Bildungsbenachteiligung, Modernisierung und gegenseitige Annäherung der Curricula aller Schularten, Vermittlung einer gemeinsamen Lebens- und Bildungserfahrung für die Schüler, aus allen Schichten über Vorschulerziehung und Grundschule hinaus.« Wiederum kommt weniger die Differenzierung der Bildungswege als die Integration der Schülerschaft durch, die angedachte »Integration der Klassen 5 und 6« hätte den Unterschied zwischen kooperativer und integrierter Gesamtschule auf die Mittelstufe begrenzt und »gemeinsame Neigungskurse«1978 sowie andere Integrationsbemühungen auch dort die Grenzen verwischt.
Wechsel auf dem Ministersessel Ob die bayerische Bildungspolitik weiterhin dem Weg stetiger Ausdifferenzierung folgen oder künftig auch Integration als bildungspolitisches Ziel betreiben werde, war zu dieser Zeit unklar. In dieselbe Zeit fiel nicht zufällig eine politische Krise Ludwig Hubers. Zu Beginn seiner Amtszeit selbst von der Opposition als moderner, reformorientierter Politiker betrachtet, geriet er mit dem allmählichen Abschluss der drängendsten Fragen – Landschulreform, Vereinheitlichung der Volksschule, Bildungswerbung, Entscheidung zum Ausbau des Höheren Schulwesens – ins Hintertreffen gegenüber einer sich immer schneller drehenden Reformspirale im bundesrepublikanischen Bildungswesen, in dem er keine bedeutende Rolle bekleiden konnte1979. Huber formulierte selbst: »Jeder Politiker dungskonzeption in Bayern; zur Note vom 2. 7. 1969 Nr. A I 5-410-6, gez. Böck, 11. 07. 1969: »Zur Verwirklichung der in der Haushaltsrede 1969 entwickelten Konzeption vom Aufbau des Schulwesens haben insgesamt 10 Fachkommissionen inzwischen ihre Arbeit aufgenommen; […] Mit Ergebnissen der sehr umfangreichen Arbeiten ist im Sommer 1970 zu rechnen.« 1977 Vgl. Lehning II, S. 1038. Ermöglicht wurde dies durch einen im Februar 1970 vom Landtag angenommenen Antrag der SPD. Die Durchführung des ersten Versuchs begann auf eigenen Wunsch der Stadt München, vgl. BHStA MK 52599, Nr. A/3-9/21 031, Betreff: Gesamtschule München, 12. 02. 1970. Ab 1970, bis 1972 folgten drei weitere Standorten, nun auch von staatlicher Seite initiiert, vgl. Lehning II, S. 1035–1039. Der Standort Schwabmünchen wurde nur als »teilintegriert« geführt. 1978 BHStA MK 52599, Staatsinstitut für Bildungsforschung und –Planung, Grundsatzprogramm für kooperative Gesamtschulen (Entwurf) – Arbeitsergebnisse einer Tagung in Marktoberdorf am 12./13.6.70, 19. 06. 1970. 1979 Vgl. etwa BHStA MK 66166, Huber auf dem Elektro-Stuhl, Welt am Sonntag, 07. 07. 1968.
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hätte vor wenig mehr als einem Jahr die Schulfrage als die schwierigste und unlösbarste Frage der Kulturpolitik bezeichnet. Sie ist gelöst. Nun ist es möglich und notwendig, den Aufbau der Schulorganisation von pädagogischen und strukturpolitischen Gesichtspunkten aus neu zu planen.«1980 – Für diese Aufgabe schien er selbst aber nicht mehr der Richtige zu sein. Tatsächlich hatte Huber seit Amtsantritt vor allem Projekte abgearbeitet, die zumindest in Grundzügen schon unter seinem Vorgänger Maunz – erinnert sei an dessen abschließende Haushaltsrede – auf der Tagesordnung des Kultusministeriums standen. Erst jetzt machte Huber sich daran, wirklich eigene Vorstellungen zu entwickeln, mit deren Umsetzung er aber selbst nicht mehr betraut sein sollte. Damit konnte er allerdings nicht verhindern, dass er nach Einschätzung seines Nachfolgers »in der Öffentlichkeit seit der Studentenrevolte geradezu zum Buhmann der CSU geworden war, sodass ihn Strauß 1970 zum Rückzug vom Amt des Kultusministers drängen musste«1981. Huber konzentrierte sich, aus innerparteilichen Gründen, aber auch in einer Phase stark gesunkener Popularität, ab Ende 1970 zunächst wieder ausschließlich auf den Fraktionsvorsitz. Die Vorzeichen bayerischer Bildungspolitik hatten sich zuvor innerhalb kurzer Zeit gedreht: Soziale Integration rückte neben die soziale Differenzierung, es entstand vorsichtige Offenheit gegenüber der Integrierten Gesamtschule1982, zumindest eine stärkere Integration der verschiedenen Glieder des Bildungswesens mitsamt kooperativer Gesamtschule war gewünscht, und die CSU formulierte in ihrem Kulturprogramm: »Nicht Auslese, sondern vielseitige und nachdrückliche Förderung ist der Maßstab, an dem die Bildungseinrichtungen zu messen sind.«1983 Diese Wendung fand einen würdigen Sachwalter. Prof. Hans Maier, zunächst noch parteilos als Mitglied des Deutschen Bildungsrates und Politikwissenschaftler der Universität München auf den Posten des Kultusministers gewechselt, brachte er es nun fertig, nicht nur als Person für das gewandelte Verständnis von Bildungspolitik zu stehen, sondern sich auf dieser Basis gleichzeitig auch gegen die individualrechtlich-emanzipativen sowie die neuhumanistische Diskursformation zu wenden. Er machte kurz nach seinem Amtsantritt deutlich, dass er nichts von der reinen Expansion des Bildungswesens halte. Diese biete zwar jedem theoretisch die Möglichkeit, sich bis zum individuell besten Maße zu bilden, werde allerdings »der sozialgestaltenden 1980 Vgl. BHStA MK 66166, Huber, Schule – Sache des ganzen Volkes. In: Bayern-Kurier vom 13. 07. 1968. 1981 Maier, Böse Jahre, S. 182. 1982 Vgl. Huber, in der Aussprache zur Regierungserklärung Goppels, 25. 2. 1970, zitiert nach Lehning II, S. 1038: »Ich will mich Versuchen mit der Integrierten Gesamtschule nicht widersetzen.« 1983 Aktionsprogramm Kulturpolitik, zitiert nach Lehning I, S. 190f.
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Zweiter Hauptteil: Bildungspolitik in den Ländern
Aufgabe der Bildungspolitik […] nicht gerecht. So ist es bisher nicht im ausreichenden Maß gelungen, bildungsferne Schichten an die Bildungseinrichtungen heranzuführen. […] Dies ist übrigens nichts Neues; wäre es anders, so hätte man die Kulturtechniken auch schon früher über ein individuelles Bildungsgrundrecht an die nachwachsende Generation vermitteln können; einer allgemeinen Schulpflicht hätte es nie bedurft.« Daraus folgerte Maier, wolle man ein Recht auf Bildung realisieren, müsse »man es gerade von jenen individualistischen, anspruchsrechtlichen Verengungen befreien, die bisher eine wirksame soziale Umverteilung der Bildungsgüter verhindert haben. Das heißt: man muss versuchen, an jene Schichten und an jene Menschen heranzukommen, die nicht einfach Bildung konsumieren oder tradieren (als beati possidentes), sondern die bereit sind, sich Bildung anzueignen (in harter Tätigkeit). Dieses Recht zu erfüllen, bedarf es gezielter staatlicher Hilfen, ja der planmäßigen Schaffung von Ungleichheiten zugunsten der Benachteiligten«.1984 In seiner Kritik an den Grundsätzen der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption, explizit an Ralf Dahrendorf, dass die Beseitigung sozialer Ungleichheiten nicht über das Individuum, sondern nur über Staat und Gesellschaft zu erreichen sei, stimmte Maier hier mit den gesellschaftlich-emanzipativen Reformern in Hessen überein. Allerdings wollte er wiederum nicht über das Bildungswesen die gesamte Gesellschaft verändern, um so erst die Rahmenbedingungen für eine Form sozialer Gerechtigkeit zu schaffen: »Maßstab der Bildungseinrichtung in einer demokratischen Ordnung ist nicht die Gesellschaftsveränderung, sondern der in seine Freiheit hineinzubildende Mensch«1985 – und dies eben wenn nötig mit staatlicher Gewalt. Nicht zuletzt seine Erfahrung als Professor 1968, das für ihn »ein ärgerliches Leidensjahr«1986 war, machte ihn sowohl zum erbitterten Gegner der in den vorangegangenen Jahren gewachsenen Emanzipationsdiskurse als auch der eindimensionalen Expansion der Gymnasial-, respektive Hochschulbildung und gleichermaßen sensibel für die Gleichheitsforderung der Zeit: »Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit werden die Grundlage und das Ziel meiner Bildungspolitik sein.«1987 Das Konzept der gegliederten Leistungsschule lieferte insofern für Maier eine gute Grundlage: Soziale Integration in Vor- und Grundschule, die den sozialen Ausgleich schafft, verbunden mit zunehmender berufsbildbezogener Differenzierung im Anschluss an die Orientierungsstufe in den verschiedenen Schul-
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Maier, Hans, »Wider das bildungspolitische Konsumdenken«. In: Die Zeit 9/1971. Maier, Bildungspolitik am Scheideweg, S. 9. Maier, Böse Jahre, S. 167. BHStA MK 80676, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Kultusminister Professor Hans Maier weist FDP-Angriffe zurück: Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit bilden die Grundlage der Bildungspolitik, 24. 02. 1971.
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formen entsprachen an sich Maiers Idee zusätzlicher Verteilerkreise1988 unterhalb des Abiturs und der Gleichstellung von beruflicher und allgemeiner Bildung ohnehin. Dies verband soziale Integration mit einem sich nach oben hin ausdifferenzierenden Schulwesen. Zum einen wollte er so den sozialen Ausgleich schaffen. Zum anderen proklamierte er Differenzierung: »Die künftige Schule wird hochdifferenziert und -spezialisiert sein, entsprechend der Differenzierung der Industriegesellschaft. Sie wird über mehr Formen und Angebote verfügen, als das heutige Schulwesen.«1989 Insbesondere die aus der gegliederten Leistungsschule hervorgegangenen Konzepte für die berufliche Bildung, die im Berufsschulgesetz zusammengefasst wurden, trafen Maiers Geschmack1990 : »Es macht deutlich, dass der Weg über den frühzeitig erlernten Beruf ein durchaus attraktiver Weg ist, der den geeigneten Schülern zu im Vergleich zum allgemeinbildenden Schulwesen zwar anders gearteten, aber gleichwertigen schulischen Abschlüssen führen und Berechtigungen zum Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen ebenso wie das allgemeinbildende Schulwesen vermitteln kann.«1991 Allerdings rückte mit dem Weggang Hubers auch das Thema Schule in der Bayerischen Bildungspolitik auf Jahre in den Hintergrund. Die Hochschulen waren das Thema, in dem Maier sich auskannte, und sie dominierten seit 1968 zunehmend die Debatte. Aus Perspektive der Hochschule schaute Maier aufs Gymnasium und auf die Gesellschaft. Daneben traten die bislang weniger berücksichtigten Randbereiche wie die Erwachsenenbildung, die Vorschulbildung und erneut die Lehrerbildung. Von neun Gesetzen, die Maier verantwortete, betrafen lediglich das erste noch von seinem Vorgänger ›geerbte‹ Gesetz über das berufliche Schulwesen von 1972 und das letzte, »eigentlich nur eine Novellierung«1992 darstellende Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen von 1983 das Schulwesen1993. Gleichzeitig nahm der Druck ab, den nach 1968 die Dominanz der emanzipativen Diskursformationen ausgeübt hatte. Es ließ sich wieder leichter von Differenzierung sprechen, auch die Betonung von Aspekten neben der Emanzipation, sei es Erziehung, sei es die Anwendungsorientierung, seien es die Kosten von Bildung, fiel wieder leichter. Die unbedingte Integration der Gesellschaft durch die Schule als omnipräsente Forderung wich mit dem 1988 Vgl. Maier, Anstöße, S. 478 (Aus einer Rede, gehalten vor der Hauptversammlung des Bayerischen Philologenverbandes in München am 28. November 1971). 1989 Maier, Anstöße, S. 439 (Rede, gehalten vor dem Bund Freiheit der Wissenschaft auf Bühler Höhe am 21. Januar 1972). 1990 Vgl. Maier, Böse Jahre, S. 200. 1991 Maier, Anstöße, S. 321 (aus einer Ansprache bei einer Tagung der Verbände der Lehrer an beruflichen Schulen in Bayern am 10. Oktober 1971 in Augsburg). 1992 Maier, Böse Jahre, S. 222. 1993 Vgl. Maier, Böse Jahre, S. 200.
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abnehmenden öffentlichen und medialen Interesse wieder einer nuancierteren Debatte. Hans Maier ließ im Laufe der siebziger Jahre wieder eine stärkere Akzeptanz für soziale Differenzierung erkennen. Im Gymnasium erkannte er öffentlich eine Gefahr für Schüler aus einfacheren Verhältnissen, »dass der junge Mensch sich zu sehr aus der sozialen Einbettung löst, so dass er seine Familie nicht mehr versteht und seine Familie ihn nicht mehr annimmt; dass er den Kontakt zu seinen Altersgenossen, mit denen er z. B. in der Grundschule zusammen war, völlig verliert – nicht nur äußerlich, sondern auch faktisch: dass man sich eben nichts mehr zu sagen hat.« Der intellektuelle Anspruch des Gymnasiums dürfe also nur »im Bewusstsein sozialer Verantwortung«1994 vollzogen werden. Die Volksschule Landschulreform und Volksschulreform Die Landschulreform Als Ludwig Huber 1964 Kultusminister wurde, hob er seine reformerischen Qualitäten hervor, indem er seine Rolle betonte, als die CSU im bayerischen Landtag ein Jahr zuvor der Einrichtung von Verbandsschulen zustimmte1995. Damit stellte er sich als Vorreiter einer Entwicklung dar, die in anderen Ländern mit Selbstverständlichkeit vollzogen wurde, die in Bayern nun allerdings erst beschlossen war und noch sehr lange ihrer Umsetzung harren sollte. In der Regierung selbst gab es vor dem Eintritt Hubers zwar den Willen, diese Entwicklung zuzulassen, aber öffentlich begrüßt oder gar vorangetrieben wurde die Zusammenlegung von Zwergschulen deshalb noch lange nicht1996. Zur Einrichtung einer Verbandsschule musste dies »nach den geographischen und verkehrsmäßigen Verhältnissen sowie aus pädagogischen Gründen zweckmäßig [sein] und die beteiligten Gemeinden und Erziehungsberechtigten dafür gewonnen werden können«1997. Gerade der letzte Punkt wurde sehr ernst genommen und führte unter Huber noch einmal zu einer veritablen Verzögerung der 1994 Maier, Anstöße, S. 468 (Aus einer Ansprache, gehalten bei der 25. Jahresversammlung der Landes-Elternvereinigung der Gymnasien in Bayern e.V. in Bad Brückenau am 20. April 1975. 1995 BHStA MK 66163, Lebenslauf Ludwig Huber, 1964: »Im Frühjahr 1963 wurde nach seinem Vorschlag das Ja der CSU-Landtagsfraktion zu den Verbandsschulen festgelegt.« 1996 Vgl. BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier: Aussprache über die Regierungserklärung im Bayerischen Landtag, München, 15. Januar 1963. 1997 BHStA MK 61235 Nr. IV 58 426, An die Regierungen, Betreff: Maßnahmen zur Verbesserung der Volksschule auf dem Lande; hier: Staatliche Federung von Volksschulbauten, 25. 07. 1963.
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Landschulreform. Huber konzedierte freimütig, er habe zwar einen von seinem Vorgänger Maunz »bis ins Detail mit viel Mühe und Sorgfalt ausgearbeiteten Plan für die Zusammenlegung von mehr als tausend wenig gegliederten Landschulen zu größeren Schuleinheiten vorgefunden«. Diesen wollte er aber noch nicht vorlegen, solange es »noch Gegenden [gibt], wo die Bevölkerung in gutgemeinter Sorge um das Wohl der Kinder, sich von der dorfeigenen Schule, für die sie in vielen Fällen nach dem Krieg erhebliche Opfer gebracht hat, nicht trennen will«. Das sei nämlich nicht seine »Auffassung von Demokratie, von der Schule als einer Einrichtung der Gesellschaft und nicht bloß des Staates und vom Recht der Eltern und der Gemeinden«. Er befürchtete gar »im Lande Unruhen […], die sich in Schulstreiks und demonstrativer Verletzung der staatlichen Autorität äußern«. Interessanterweise, aber folgerichtig setzte er seine Hoffnungen zur baldigen Durchführung der Reform in die Kirchen, die sich bereiterklärt hatten, flankiert von »Aufklärungsmaßnahmen der Staatsregierung« in den Gemeinden für die Landschulreform zu werben1998. Die Überzeugungsarbeit gegenüber Eltern und Gemeinden, an der sich gemeinsam mit der Staatsregierung auch die Kirchen beteiligten, fruchtete nur mäßig, führte allerdings allmählich dazu, dass vor Ort zunächst kleinere Zusammenlegungen und bald auch »größere Lösungen« beschlossen wurden. Huber weigerte sich aber weiter, diese Entwicklung von oben her stärker zu betreiben. Aufgabe des Gesetzgebers war es in seinen Augen, »Bestehendes [zu] ordnen«. Es gehe ihm nicht ums »Bremsen und Zögern«, sondern ums »Wartenkönnen und Reifenlassen«1999. Mit diesen Begründungsmustern befand sich Huber zunächst noch außerhalb des Bildungsdiskurses, war Teil des die Bildungspolitik betreffenden Nichtdiskurses2000. Er äußerte sich nicht zum Objekt der Bildung im politischen Kontext, sondern zu seinem Verständnis von Staatsorganisation und Demokratie, wodurch er die Verantwortung über die materielle Ebene delegierte. Seine Befürwortung zur Einrichtung von Verbandsschulen stand unabhängig von diesen Äußerungen zur Umsetzung. Während Huber sich an anderer Stelle klar zum Ziel Landschulreform bekannte, betonte er hier im Zuge der Umsetzung den Rahmen seiner Zuständigkeit. Ermöglicht wurde ein solches Ausklinken aus dem Bildungsdiskurs auch dadurch, dass zum prinzipiellen Ziel einer Landschulreform »im wesentlichen Übereinstimmung« innerhalb der interessierten Teilöffentlichkeit bestand. »Unterschiedliche Auffassungen gibt es jedoch über den besten Weg und vor allem über das einzuschlagende Tempo«2001, konzedierte 1998 BHStA MK 66163, Beantwortung der Interpellation der SPD (Landtagsbeilage 1484) betreffend Koordinierung der Kulturpolitik, 03. 12. 1964. Vgl. zur selben Argumentation noch zwei Jahre später auch Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 10. 1999 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 11. 2000 S. o. S. 56. 2001 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 10.
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Huber und musste sein Handeln daher auch im Prozess, nicht im Ziel begründen. Dass seine Betonung prinzipiell gleicher Ziele nicht völlig zutraf, lag maßgeblich an kritischen Stimmen in seiner eigenen Partei, mit denen Huber auch in seiner Kommunikation umgehen musste. Ministerpräsident Goppel argumentierte noch 1963 gegen eine für ihn zu schnelle, zu umfassende Landschulreform. Er rückte die Gefahren des Schülertransports in den Vordergrund seiner Überlegungen2002 und befürwortete nur die Zusammenlegung der Dorfschulen fußläufig zu verbindender Gemeinden: »Die Bayerische Staatsregierung […] stellt der Mittelpunktschule der SPD […] das Konzept der Verbandsschule gegenüber (Zusammenfassung von Kleinschulen zu mehrgliedrigen Schulen im überschaubaren Bereich der Gemeinden mit zumutbaren Schulwegen, Unterklassen nach Möglichkeit im Dorf, kein Schulbus).«2003 Auch das Kultusministerium selbst war, wohl mit Rücksicht auf die gespaltene Haltung in der CSU, noch lange zurückhaltend, was den Wegfall der Dorfschule anging2004. Die Einrichtung solcher Verbandsschulen – letztlich auch inklusive Schulbus – war damit nicht nur auf die bessere Organisation des Schulwesens gerichtet, sondern gleichzeitig gegen die Planungsvorstellungen dieser Zeit. Sie standen als Alternativkonzept zu den Mittelpunktschulen; und dabei handelte es sich nicht um bloße Semantik2005. Die Idee der Mittelpunktschule entsprach auch im Terminus den Vorstellungen der Raumordnungsverfahren. Mittelpunktschule, das war die Schule im nächstgelegenen zumindest kleinstädtischen Zentrum. Die Verbandsschule aber sollte die zusammengelegte Dorfschule sein, eine Schule mehrerer Dörfer. So sollten dörflicher Charakter und gesellschaftliche Rolle der Volksschule beibehalten werden, während die Qualität durch die Zusammenlegung verbessert werde. Die Schüler von Staats wegen aus ihrer Umgebung zu holen, betrachtete Goppel als eine nicht hinzunehmende Nebenwirkung solcher Planung. Verbrächten die Schüler aus den Dörfern den Tag über in der Stadt, weil sie dort eine Mittelpunktschule besuchten, würde dies zwar einerseits dafür 2002 Vgl. BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier : Regierungserklärung vor dem Bayerischen Landtag München, 19. Dezember 1962. 2003 BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, gez. Staibl, 20. 08. 1963. 2004 Vgl. Wiater, Verbandsschulen, S. 843. 2005 Werner Wiater begeht einen Fehler, wenn er seine Untersuchung zur »Geschichte der Verbandsschulen in Bayern« mit folgender Begriffsdefinition einleitet und diese für den bayerischen Weg elementare Unterscheidung zwischen Verbands- und Mittelpunktschule nicht trifft: »Unter einer Verbandsschule – andernorts auch Mittelpunktschule, Verbundschule oder Gemeinschaftsschule genannt – versteht man den Zusammenschluss mehrerer Einklassenschulen, Teilschulen oder wenig gegliederter Schulen meist mehrerer Gemeinden zu einer neuen voll ausgebauten Schule […].« Wiater, Die Geschichte der Verbandsschulen in Bayern, S. 842.
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sorgen, dass sie »in die Lage versetzt werden, fertig zu werden mit dem neuen Leben, mit den Maschinen und mit Atom und Kernspaltung und Maschinengenossenschaften und Vermarktung und wie das heute alles heißt«, aber andererseits würden sie auch aus ihrer dörflichen Lebenswelt herausgerissen – und nach seiner Lesart aktiv von dieser entfremdet2006. Großen Teilen der Landbevölkerung und nicht zuletzt dem Ministerpräsidenten Alfons Goppel war es wichtig, die ländliche Identität nicht preiszugeben2007. Goppel drückte das unverblümt aus: »Wenn ich immer das laute Geschrei um die sog. Mittelpunktschule höre, dann wird dieser Mittelpunkt nicht nur unsere Schulen, sondern demnächst auch unsere jungen Familien anziehen und anlocken und dort behalten; denn es ist immer schöner und besser und leichter, das alles um sich zu haben. Wir sollen den Mittelpunkt ins Dorf verlegen!« Die Heimat, gerade die dörfliche, war für Goppel zentral unter den Werten, die auch unter den sich ändernden Bedingungen erhalten werden sollten: »Wer die Heimat halten will, der muss sie erfahren, der muss sich daran gewöhnen.«2008 Die Bindung an die Heimat stand über dem Prinzip der Selbstentfaltung des Individuums. Das Gegenteil vom schon mehrfach zitierten »Zerbrechen aller ungefragten Bindungen« wurde verlangt, nämlich deren Stärkung, und Situationen zu vermeiden, in denen sie hinterfragt würden. Wo Anpassungen an soziale und demographische Entwicklungen nötig waren, wurde Wert darauf gelegt, dass nicht gleichzeitig unabsichtlich ins gesellschaftliche Gefüge eingegriffen wurde. Aber selbst gegen das Modell der dörflichen Verbandsschule formierten sich erhebliche Widerstände in der ländlichen Bevölkerung2009 : »Die Eltern stehen der Errichtung von Verbandsschulen zurückhaltend gegenüber«, führte ein Vermerk der Staatskanzlei auf, »weil sie befürchten, dass die Kinder dann weniger zur Arbeit zur Verfügung stünden«2010 ; und auch die Gemeinden sahen bereits durch die »Tendenz zur Schulverbandsbildung einen gewissen Eingriff in ihr 2006 BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier : Jahresversammlung des Katholischen Männervereins Tuntenhausen, Tuntenhausen, 12. Mai 1963. 2007 Vgl. ebd. 2008 BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier : Landesversammlung des Bayerischen Bauernverbandes München, 27. Mai 1963. 2009 Vgl. ebd.: »Die Opposition treibt weiter sehr auf die Einführung des 9. Volksschuljahres […] die den derzeitigen Lehrermangel wesentlich verschärfen würde. In dieser Frage wäre eine grundsätzliche Stellungnahme der Staatsregierung zweckmäßig die sich für 9 Schuljahre ausspricht und die Verwirklichung dieses Planes nach einer gewissen Linderung des Lehrermangels in Aussicht stellt.« 2010 BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, gez. Staibl, 20. 08. 1963.
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Selbstverwaltungsrecht«. Somit kann auch nicht gesagt werden, dass »sich die anfängliche Skepsis der Eltern gegen die Verbandsschulen mittlerweile gelegt hatte« und »der Trend eindeutig dahin [ging], dass die Eltern besser ausgebaute Volksschulen für ihre Kinder bevorzugten.«2011 In der politischen Sphäre wiederum machte die Opposition mit dem Konzept der Mittelpunktschule Druck von der anderen Seite. Allerdings war die Regierung mittlerweile selbst der Auffassung, dass eine Zusammenfassung von Landschulen nötig sei. Selbst die Kirchen standen hinter der Reform und waren »bemüht, die bei den Landpfarrern oft noch vorhandene Skepsis gegenüber den Verbandsschulen zu beheben.«2012 Einen ersten zaghaften Schritt zur Verbandsschule hatte das Schulverbandsgesetz von 1961 dargestellt, das es überhaupt nur in Ausnahmefällen ermöglichte, »aus erheblichen Gründen für mehrere Gemeinden […] eine Gemeinsame Volksschule (Verbandsschule)« zu errichten2013. Die kritische Anzahl an erwarteten Schülern für eine Schule, die dazu über mehrere Jahre unterschritten werden musste, betrug danach zwanzig. Der Wunsch der Opposition und bald auch der Regierung war es, diese Regelung möglichst bald umzukehren: Die Verbandsschule sollte die Regel und die gering gegliederte Dorfschule die begründungspflichtige Ausnahme werden. Dies wurde gegen die beschriebenen Widerstände allmählich vorbereitet, indem zunächst die Unterstützung der Kirchen gesichert und dann durch Vorlage eines Verbandsschulplans, der die Vorzüge deutlich machen sollte, die Gemeinden überzeugt wurden2014. Erst danach kam das Volksschulgesetz, das gesetzlich ab 1966 festlegte: »Die Volksschulen sind so zu errichten, dass die Schüler grundsätzlich auf Jahrgangsklassen, mindestens aber auf vier Klassen verteilt sind.«2015 Allerdings stand diese Regelung in Konflikt mit der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Bekenntnisschule als Regelschule, da wohl Verbandsschulen eingerichtet werden sollten, diese aber ohne die Zustimmung der Eltern noch konfessionsgebunden bleiben mussten und ein Bekenntnis – in der Regel das evangelische – somit nur Minderheitenstatus genoss2016. Der Einfluss der Kirchen Als die bayerische Landesregierung sich 1965 mit der Ausarbeitung des neuen Volksschulgesetzes befasste, um der Landschulreform und anderen die Volks2011 Müller, Schule und Schulpolitik 1950–1964, S. 725. 2012 BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, gez. Staibl, 20. 08. 1963. 2013 Seibert, Christliche Volksschule, S. 201. 2014 Vgl. ebd., S. 208. 2015 Art. 11, Abs. 1, VSchG 1966. 2016 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 758.
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schule betreffenden Maßnahmen einen rechtlichen Rahmen zu geben, war die größte Herausforderung, der Probleme der Bekenntnisschule Herr zu werden. Die Garantie einer dorfeigenen Schule, festgeschrieben im Schulorganisationsgesetz von 1950, konnte – gegen Widerstand – um einiges leichter abgeschafft werden als die über das Gesetz hinaus per Konkordat und Vertrag festgelegten Bekenntnisschulen2017. Das bayerische Bildungswesen war mehr als überall sonst in der Bundesrepublik von der Kirche geprägt2018. Nicht nur der Bestand entsprechender Verträge hielt diese Situation aufrecht, sondern auch der ihnen von der Politik beigemessene Stellenwert. Als »eine Forderung, die aus unserem Glauben kommt und aus unserer Überzeugung« bezeichnete Alfons Goppel folgenden Ausruf Alois Hundhammers, der nicht nur als erster Kultusminister des bundesrepublikanischen Bayerns die Anlagen des dortigen Schulwesens mitgeprägt hatte: »Wir wollen die Schule bei der Kirche lassen!«2019 Gemeint war die Volksschule. Ludwig Huber erklärte: »Die gleichberechtigten Partner regeln ihr Verhältnis auf der Grundlage der Anerkennung der Selbständigkeit und Eigenständigkeit durch völkerrechtliche Verträge (im katholischen) oder staatsrechtliche Verträge (im evangelischen Bereich). […] Man könnte das heutige Verhältnis von Staat und Kirche als das einer freundschaftlichen Partnerschaft bezeichnen. In dieser Bezeichnung kommt beides zum Ausdruck. Die Trennung und die Zusammenarbeit auf der Basis gleichberechtigter Eigenständigkeit.«2020 Davon betroffen waren maßgeblich die Volksschulen, die den allergrößten Teil der Schüler einschlossen und für die Kirchen in Anbindung an die Gemeinden besonders relevant waren. Ihr Erhalt als staatlich gewährleistete Bekenntnisschule, die inhaltlich stärker von der jeweiligen Kirche als von der Schulverwaltung beeinflusst werde, war das alte Kernanliegen der Kirchen. Insbesondere dort, wo eine Kirche selbst die Trägerschaft innehatte, hatte sie ein vitales Interesse daran, die staatliche Fi2017 Vgl. ebd., S. 755f. 2018 Zwar ist ein deutlicher Rückgang des Einflusses der Kirchen in den sechziger Jahren zu verzeichnen, Konkordate im Hochschulbereich (Pfahls, Staat, Kirche und Volksschule, S. 324) und das Fortbestehen der Volksschulordnung, die den Kirchen das Recht »auf einen angemessenen Einfluss bei der Erziehung der Schüler ihres Bekenntnisses« zugesteht (Pfahls, Staat, Kirche und Volksschule, S. 212) gewährten dennoch eine weitaus größere Verbindung als in anderen Ländern. Vgl. auch Böck, die Änderung des Konkordats von 1968, S. 27f. 2019 BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier : Jahresversammlung des Katholischen Männervereins Tuntenhausen, Tuntenhausen, 12. Mai 1963. 2020 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Kirche Staat und Gesellschaft im demokratischen Deutschland, Passagen aus einem Vortrag beim Centre Catholique des Intellectuels Francais in Paris zur Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. In: Bayerische Staatszeitung vom 12. 3. 1965.
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nanzierung des Schulwesens voranzutreiben, ohne eine Ausweitung inhaltlicher Befugnisse zu akzeptieren. Grundforderung der Kirche war allerdings die Zurückhaltung des Staates in der Ausgestaltung des Schulwesens. Das Elternrecht sicherte nicht nur die Subsidiarität des Bildungssystems, sondern auch den Einfluss der Kirche, die vor Ort mit viel stärkerer Autorität versehen war als staatliche Institutionen2021. Wie bedeutend dieser Einfluss war, wird daran deutlich, dass zur Überarbeitung der Volksschulrichtlinien die Kirchen nicht nur stark in deren Ausgestaltung eingebunden wurden, sondern sogar durch den Ministerrat die Bitte erging, »dass den Eltern von der Verpflichtung aus Kanon 1374 und einer etwaigen entsprechenden Verpflichtung des evangelischen Kirchenrechts Dispens erteilt wird.«2022 Die genannte Vorschrift des kirchlichen Gesetzbuchs regelte, dass »der Besuch der nichtkatholischen Schulen, ob weltliche oder Simultanschulen, also der Schulen, die unterschiedslos und ohne irgendwelche Absonderung von Katholiken und Nichtkatholiken offenstehen, den katholischen Kindern verboten [sic!] ist und dass der Besuch dieser Schulen nur mit Rücksicht auf bestimmte örtliche und zeitliche Verhältnisse unter besonderen Sicherungen geduldet werden kann, wobei einzig die Entscheidung des Oberhirten maßgebend ist.«2023 Offensichtlich wurde diese Macht der Kirche bereits bei der Durchsetzung der Landschulreform. Gegen die Widerstände vor Ort konnte der Gesetzgeber nichts tun, ohne wertvolles Porzellan zu zerschlagen. Auch innerparteilich hätte eine Landschulreform gerechtfertigt werden müssen, die den Interessen der Eltern, Gemeinden und Kirchen entgegengelaufen wäre. Die Regierung war insofern auf die Kirchen angewiesen, die es alleine vermochten, die Einstellung in dieser Sache vor Ort zu drehen2024. Um einiges größer schien nun die Herausforderung, Bekenntnisschulen wo nötig aufzulösen, die ein effektiveres, professionelleres Volksschulwesen auf dem Land, also die bereits behandelte Landschulreform, zunächst noch nahezu unmöglich machte2025. Zu beachten ist, dass die Lockerung des Bekenntnisschulprinzips nicht nur hilfreich gewesen wäre, sondern notwendige Bedingung für die gewünschte Neustrukturierung des Schulwesens, denn der Ausbau etwa der Schule eines Mehrheitsbekenntnisses unter Ausschluss der Minderheit hätte wiederum dem Gleichheitsgrundsatz des Grund2021 Vgl. Lehning I, S. 243–245, sowie BHStA MK 52241, Prälat Dr. Hubert Fischer an KM Maunz, 5. 7. 1963. 2022 BHStA MK 61213, B III – 4010-1 Bayerische Staatskanzlei an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Betreff: Neukodifizierung des Volksschulrechts, 15. 03. 1966. 2023 Seibert, Christliche Volksschule, S. 128. 2024 Vgl. Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 10f. 2025 BHStA MK 61214, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Das neue Volksschulgesetz, 22. 06. 1966.
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gesetzes widersprochen2026. Hier mussten also nicht nur die Kirchen als Autorität mit ins Boot geholt werden, sondern als Vertragspartner, die keinerlei Anreiz verspürten, ihr Privileg aufzugeben2027. Die Abschaffung der Bekenntnisschule fiel von daher zunächst als Ziel für die Landesregierung aus, die auch den Konflikt mit den Kirchen scheute. Der Ministerrat beschloss im März 1966: »Von der gesetzlichen Einführung von Minderheits-Planstellen an Bekenntnisschulen wird aus verfassungsrechtlichen Gründen abgesehen; eine Änderung der Bayerischen Verfassung wird nicht angestrebt.«2028 Die zähe Lockerung der Bekenntnisschule: Das Volksschulgesetz von 1966 So wurde für das neue Volksschulgesetz ein Weg gewählt, der bei Beibehaltung des Bekenntnisschulprinzips einen lockereren Umgang damit gewähren sollte. Noch bevor die Entwürfe in den parlamentarischen Prozess gegeben wurden, trat das Ministerium darum in Verhandlungen mit den Kirchen, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Am wichtigsten war es dabei, den Kirchen die Einwilligung abzuringen, künftig nicht mehr »im Hinblick auf die vorgesehene Aufhebung des Grundsatzes in jeder Gemeinde wenigstens eine Volksschule zu errichten, [und] insoweit nicht auf der Einhaltung der entsprechenden Bestimmungen der Kirchenverträge […] [zu] bestehen«2029. Einziges Kriterium für die Errichtung einer katholischen Volksschule in einer Gemeinde war nämlich bis dato gemäß Konkordat, dass »ein geordneter Schulbetrieb – selbst in der Form einer ungeteilten Schule – ermöglicht ist«2030. Ziel der Landesregierung war die »Durchbrechung des formellen Bekenntnisschulprinzips auf Schülerseite« in Verbindung mit der »Anstellung von Lehrern des Minderheitenbekenntnisses zum Schutz der konfessionellen Überzeugung«2031. Für die katholische Kirche gab es dazu zunächst wenig Anlass, denn der entsprechende »Art. 6 BK [Bayerisches Konkordat] müsse aber als ein Pfeiler für die Bekenntnisschule in der ganzen Bundesrepublik Deutschland angesehen 2026 Vgl. Seibert, Christliche Volksschule, S. 205. 2027 Vgl. BHStA MK 61213, Nr. M2867, IV 120 761, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 15. 11. 1965. 2028 BHStA MK 61213, B III – 4010-1 Bayerische Staatskanzlei an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Betreff: Neukodifizierung des Volksschulrechts, 15. 03. 1966. 2029 Ebd. 2030 Konkordat von 1924, zitiert nach Seibert, Christliche Volksschule, S. 167. Vgl. dazu auch ebd., S. 197f: »E. Pacelli hatte bei den Konkordatsverhandlungen von 1920 bis 1924 zur Wahrung der katholischen Konfessionsschule durchsetzen können, dass der Passus ›selbst in der Form einer ungeteilten Schule‹ in den Konkordatstext aufgenommen worden war. Damit gestand man ausdrücklich zu, dass eine einheitliche Erziehung im Geiste des katholischen Glaubens höher eingeschätzt wurde als die Vorzüge einer größeren Wissensvermittlung, die ausgebaute und besser gegliederte Schulen geboten hätten.« 2031 Seibert, Christliche Bekenntnisschule, S. 205.
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werden.«2032 Eine solche Zurückhaltung konnte angesichts der sehr rigiden Haltung etwa der »Kommission deutscher Bischöfe für Familie, Schule und Erziehung« bis in die sechziger Jahre hinein nicht verwundern2033, die weitgehenden Zugeständnisse am Ende des Prozesses hingegen schon. Der evangelischen Kirche ging es unterdessen weniger um die weltanschauliche Dominanz in der Schule als um die Zukunft ihrer Lehrer. Die evangelischen Schulen waren in der Regel Minderheitenschulen; und wenn diese nun statt durch reguläre Gemeinschaftsschulen lediglich durch katholische Bekenntnisschulen mit evangelischer Minderheit ersetzt würden, gab es für die evangelischen Lehrer keine Verwendung. Daher sah der Evangelisch-Lutherische Landeskirchenrat (LKR) die Verhandlungen mit dem Ministerium bald als gescheitert an2034. Hintergrund war, dass trotz Lehrermangels gemäß bestehender Gesetzeslage Gemeinschaftsschulen nur auf Antrag der Eltern errichtet werden durften, was den katholischen Eltern gleichzeitig vonseiten ihrer Kirche untersagt war. So blieb nur, an einer katholischen Bekenntnisschule evangelische Schüler mitzuunterrichten – wodurch diese zwar größer würden und einen höheren Lehrerbedarf hätten, den prinzipiell die Lehrer einer wegfallenden evangelischen Schule hätten kompensieren können, dies allerdings nicht durften, da an einer katholischen Bekenntnisschule nur katholische Lehrer erlaubt waren2035. Dem Anliegen der Einführung von Minderheitenlehrern entsprach die katholische Kirche dann überraschend und überholte damit die Position der Landesregierung. Der Apostolische Nuntius in Deutschland gab sein Einverständnis, dass bei Aufnahme nichtkatholischer Kinder »diesen Schülern bei Erreichen einer entsprechenden Zahl ein Lehrer ihres Bekenntnisses vor allem für die Erteilung des Religionsunterrichts zur Verfügung steht«. Die Vertreter des Ministeriums reagierten verblüfft: »Der Staat sei bisher noch nicht so weit gegangen wie die Kirche.«2036 Der Nuntius bekräftigte seine Offenheit aber noch einmal und unterstrich, »dass man kirchlicherseits den heutigen berechtigten organisatorischen Forderungen des Schulwesens gegenüber aufgeschlossen ist.«2037 Mit der folgenden Regelung2038 war das strikte Bekenntnisschulprinzip 2032 BHStA MK 61214, Besprechung Huber mit dem Herrn Apostolischen Nuntius in Deutschland, Betreff: Neues Volksschulgesetz; hier: Art. 6 und 5 BK, 23. 05. 1966. 2033 Vgl. Seibert, Christliche Bekenntnisschule, S. 206. 2034 BHStA MK 61213, Nr. M2867, IV 120 761, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 15. 11. 1965. 2035 Vgl. Seibert, Christliche Bekenntnisschule, S. 212. 2036 BHStA MK 61214, Besprechung Huber mit dem Herrn Apostolischen Nuntius in Deutschland, Betreff: Neues Volksschulgesetz; hier: Art. 6 und 5 BK, 23. 05. 1966. 2037 BHStA MK 61205, Apostolische Nuntiatur in Deutschland, an Staatsminister Huber, 07. 05. 1967. 2038 GVBl. 1966, S. 402.
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nach schwerem politischen Ringen erstmalig gebrochen. Die Bekenntnisschule, nun öfter mit Minderheitenkonfession und -lehrern, blieb jedoch weiterhin sowohl der faktische als auch der konstitutionelle Regelfall. Die Kirchen hatten sich zuletzt offen für die Veränderungen gezeigt, und zumindest für den evangelischen Landesbischof war dieser Schritt mehr als nur ein Kompromiss. In der zentralen Besprechung gab er »wiederholt seiner Überzeugung Ausdruck, dass ein Trend zur Gemeinschaftsschule einsetzen und dass dieser Trend das Ende der evangelischen Bekenntnisschule bringen werde«2039. Allerdings hatten die evangelische Kirche selbst wie auch ihre Mitglieder einen offeneren Zugang zur Veränderung des Bildungswesens, weshalb »es infolge der strukturellen Änderung der Gesellschaft und der Anerkennung des Elternwillens notwendig sei, ›die hergebrachten Organisationsformen der Bekenntnisschule zu modifizieren‹«2040. Im Gegenzug sollte die Volksschule ohne konfessionelle Bindung, also die Gemeinschaftsschule, im neuen Volksschulgesetz möglichst explizit auf eine gemeinsame christliche Grundlage gestellt werden. Zum einen sollte angesichts eines jüngst ergangenen Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofs zum Schulgebet durch die explizite Benennung des christlichen Charakters der Gemeinschaftsschule diese Praxis in den öffentlichen Schulen Bayerns abgesichert werden2041. Zum anderen gab es im Ministerium aber auch den expliziten Willen, dass im neuen Volksschulgesetz das christliche Fundament auch der Gemeinschaftsschulen – und nicht wie bisher nur der Bekenntnisschulen – unterstrichen werden sollte. Kritisiert wurde von den Kirchen insbesondere die Formulierung der alten Gesetzgebung, als Gemeinschaftsschulen errichtete Volksschulen hätten einen »christlich-abendländischen« – also »keinen eindeutig christlichen« Charakter2042. Mit der Änderung verbunden war gleichzeitig die Absicht, auch für alle anderen öffentlichen Schulen eine christliche Erziehung zu verankern, verbunden mit der Überlegung einer entsprechenden Verfassungsänderung2043. Dazu sollte der Terminus »Christliche Gemeinschaftsschule« eingeführt werden: »Es besteht Übereinstimmung unter allen Parteien des Bayeri-
2039 BHStA MK 61213, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes (VoSchG), Gez. MR Dr. Böck, 01. 04. 1966 [Treffen zw. Staatsminister Huber, Kardinal Döpfner, Landesbischof Dietzfelbinger]. 2040 Seibert, Christliche Volksschule, S. 208. 2041 Vgl. BHStA MK 61213, Nr. IV 120 761 Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 26. 12. 1965. 2042 Vgl. BHStA MK 61213, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes (VoSchG), Gez. MR Dr. Böck, 01. 04. 1966 [Treffen zw. Staatsminister Huber, Kardinal Döpfner, Landesbischof Dietzfelbinger]. 2043 Vgl. BHStA MK 61213, Nr. IV 120 761 Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 26. 12. 1965.
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schen Landtags, dass die Gemeinschaftsschule eine christliche Schule ist. Sie wird im neuen Gesetz künftig auch ausdrücklich als solche bezeichnet.«2044 Christliches Schulwesen statt Bekenntnisschulen – ein Tausch Was hier schwer errungen wurde, war allerdings nicht das Ergebnis, sondern erst die Grundlage eines viel weitergehenden, gerade in Schwung kommenden Prozesses, an dessen Ende 1968 doch die völlige Abschaffung der Bekenntnisschule stand. Zunächst kamen die Kirchen aufeinander zu und gaben Ende 1967 eine gemeinsame Erklärung zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsschule heraus, die dermaßen weitgehende Formulierungen enthielt, die die vorangegangene Debatte um die Bekenntnisschule im Nachhinein obsolet machten. Die Kirchen waren bereit, eine schwächere Betonung der Konfessionalität innerhalb der von ihnen dominierten Schulen gegen eine stärkere Betonung des gemeinsamen Christentums in allen Volksschulen einzutauschen. Was früher selbstverständlich gewesen war, nämlich dass jeder Aspekt volkstümlicher Bildung die christliche Sichtweise inkorporierte, drohte in dieser Zeit der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt zum Opfer zu fallen. Daher forderten die Kirchen gemeinsam – und diese Forderung galt damit umso nachdrücklicher –, dass das gesamte Schulwesen ein christliches sei, was insbesondere die Lehrer aller Fächer einschloss: »Wer um die Herrschaft Gottes und die in Christus geoffenbarte Liebe des Vaters zu uns Menschen weiß, wird auch für sein pädagogisches Handeln wichtige Impulse vom Menschenbild der Bibel her empfangen.«2045 Der Tausch der Bekenntnisschule gegen die überall christliche Volksschule wurde hier noch einmal bekräftigt. Damit öffneten die Kirchen einer Verfassungsänderung im folgenden Jahr die Tür. Für Ludwig Huber dürfte eine solche Stellungnahme insgesamt, aber nicht in den Details ausschließlich positiv gewesen sein. Außerhalb des direkten Einflusses der Kirchen auf einen großen Teil der Bildungseinrichtungen stellte das Christentum innerhalb der bayerischen Bildungspolitik nämlich kaum eine unmittelbare Bezugsgröße dar. Christliche Werte wie die genannten gehen aus den Quellen nicht als Deduktionspunkt für die Bildungspolitik der Landesregierung hervor. Wirklich auffällig wird dieses Phänomen angesichts der Tatsache, dass die Bayerische Landesverfassung nicht nur den Raum dazu gegeben hätte, sondern sogar die »Ehrfurcht vor Gott« als eines der obersten Bildungsziele vorschreibt. Ludwig Huber bezog sein politisches Handeln aber höchstens 2044 BHStA MK 61214, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Das neue Volksschulgesetz, 22. 06. 1966. 2045 BHStA MK 61205, Gemeinsame Erklärung der Kirchen, Brief an Huber, Gez. Döpfner, Dietzfelbinger, Anlage: Leitsätze für den Unterricht und die Erziehung nach gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse, 11. 11. 1967.
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sehr abstrakt und zu konkreten Anlässen wie Weihnachten2046 oder vor einem bestimmten katholischen Publikum auf den christlichen Glauben. Das fiel auch dem Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamt auf2047. Auch wo ganz konkret der christliche Glaube gestärkt wurde, nämlich in der Schaffung der explizit christlichen Gemeinschaftsschule, geschah dies sozusagen im Tausch mit den Kirchen gegen die Unantastbarkeit der Bekenntnisschule; und auch Hubers Formulierungen zur entsprechenden Verfassungsänderung lesen sich mehr wie ein Zugeständnis an die Kirchen2048. Er unterließ es andererseits nicht, gerade um die genannten politischen Ergebnisse zu erzielen, eine rhetorische Verbindung zu den Kirchen herzustellen – auch wenn diese dazu diente, die Zurückhaltung der Kirchen zu loben. Nach Huber war Bildungspolitik offenbar dann besonders christlich, wenn sie sich »dem einzigen Dogma der Sachgerechtigkeit aller Lösungen und Entscheidungen«2049 unterwarf, was letztlich mit den Dogmen oder zumindest Prinzipien hergebrachter christlicher Erziehung nicht mehr allzu viel zu tun hatte. Seine Rhetorik wurde umso katholischer, desto stärker er darauf abzielte, das Schulsystem zu modernisieren, von den volkstümlichen Inhalten und der kirchlichen Dominanz zu lösen und für Wissenschaft und Technik zu öffnen. So argumentierte er vor dem katholischen Landvolk: »Verbunden mit den ewigen Werten des Glaubens und der Sitte werden unsere Kinder unsere Zeit als einen neuen Abschnitt in der glanzvollen Geschichte des deutschen Katholizismus erkennen, einer Zeit der Offenheit, der Freiheit, des Wagemuts und des Fortschritts.«2050 Er wollte damit den katholischen Kräften, die sehr stark für eine Staatsferne und Kirchennähe des Schulwesens eintraten, eine argumentative Brücke zu staatlichen Modernisierungsmaßnahmen bauen. Was er als »Aufbruch des Christentums, auf evangelischer Seite befreit von den Fesseln des Staatskirchentums, auf katholischer Seite beflügelt vom Geiste des Konzils«2051, bezeichnete, war letztlich 2046 Vgl. BHStA MK 66163, ›Friede‹ Weihnachtsansprache 1964 von Staatsminister Dr. Ludwig Huber, 12.1964. 2047 Zumindest beklagte dieses in der Stellungnahme zum Entwurf der neuen Richtlinien für die Volksschulen, dass »innerhalb der Einzelfachgebiete Rückbezüge von Grundtatsachen christlichen Glaubens weithin fehlen.«, vgl. BHStA MK 62067, Evang.-Luth. Landeskirchenamt an das MK, Betreff: Richtlinie für die bayerischen Volksschulen – zum Schreiben vom 1. 12. 1965 Nr. IV 116 228, 10. 01. 1966. 2048 Vgl. BHStA MK 66165, Staatsminister Dr. Ludwig Huber in der Sendung ›Aus erster Hand‹, Bayerischer Rundfunk, 8. 11. 1967. 2049 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. 2050 BHStA MK 66164, Ansprache Ludwig Hubers anlässlich des traditionellen Lichtmesstreffens des Allgäuer Katholischen Landvolks und der Landjugend im Kornhaus von Kempten zur Frage des Bildungsrückstandes, 02. 02. 1965. 2051 Vgl. BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: Bayern-Kurier vom 24. 07. 1965.
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sein Appell an die Säkularisierung des Bildungswesens. Es sei notwendig, die historische Situation nunmehr »ernst zu nehmen, sie in sich und für sich zu bejahen, das Geistige in diese Welt zu inkarnieren, wie Christus sich in die Menschheit inkarniert hat. Dieses neue oder eigentlich dem Christentum gemäße, aber lange verschüttete Verhältnis zur Welt hat allenthalben einen Aufbruch des christlichen Geistes in Richtung auf eine positive und aktive Mitarbeit in allen Bereichen des modernen Lebens unserer Zeit hervorgerufen.« Die religiösen Bezüge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er hier, insofern man ihm nicht unterstellt, er habe hier eine zweite Reformation anzetteln wollen, von der Religion die Aufgabe ihrer traditionellen Dominanz im Bildungswesen verlangte. »Sie können das Vertrauen haben, dass wir nicht leichtfertig Bewährtes preisgeben«, versicherte Huber seinen Zuhörern, nur um dann zu erörtern, wie die Jugend für den »Existenzkampf der Zukunft« auszustatten sei: »mit unserem besten Rüstzeug, das Wissenschaft und Technik bereitstellen«2052. Das plötzliche Ende der Bekenntnisschule: die Verfassungsänderung von 1968 Für die Opposition im Bayerischen Landtag war die gefundene Regelung zusätzlicher Ansporn, die Gemeinschaftsschule zur Regelschule zu machen. Von der absoluten Einhaltung des Bekenntnisschulprinzips hatten die Kirchen zwar mittlerweile Abstand genommen. Konfessionell gebundene Schulen konnten aber nach wie vor nur in eine Gemeinschaftsschule umgewandelt werden, »wenn sich zwei Drittel der abstimmenden Erziehungsberechtigten für diese Schulart entscheiden und mindestens die Hälfte der Erziehungsberechtigten an der Abstimmung teilgenommen hat«2053. Gerade dort, wo das Verhältnis zwischen den Konfessionen sehr ungleich war, lag für die stärkere Konfession im Zweifel gar nicht die Notwendigkeit zur Einrichtung einer Gemeinschaftsschule vor. Just diese Mehrheit entschied aber darüber, ob die Schule im Sinne der Minderheitenkonfession eingeführt werde oder die Bekenntnisschule bleibe, was die FDP für verfassungswidrig hielt2054. Zunächst waren dementsprechend die Liberalen aktiv geworden und initiierten noch vor Verabschiedung des Volksschulgesetzes ein Volksbegehren zur Änderung der Bayerischen Verfassung. War bislang die Bekenntnisschule die Regel und die Gemeinschaftsschule nur auf Antrag hin vorgesehen, sollten künftig beide Schularten gleichberechtigt nebeneinander stehen2055. Die FDP scheiterte, zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Landtag vertreten, knapp am Quorum: Statt zehn Prozent der Wähler bekam sie 2052 BHStA MK 66164, Ansprache Ludwig Hubers anlässlich des traditionellen Lichtmesstreffens des Allgäuer Katholischen Landvolks und der Landjugend im Kornhaus von Kempten zur Frage des Bildungsrückstandes, 02. 02. 1965. 2053 Art. 11, Abs. 3 VschG 1966. 2054 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 758 und 240f. 2055 Vgl. ebd., S. 759.
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nur 9,4 Prozent an die Urnen2056. Die SPD, die diese Volksabstimmung diesmal noch abgelehnt hatte, strebte für das folgende Jahr ein erneutes Volksbegehren zur Verfassungsänderung an, mit dem die – nach Meinung der SPD gegen die Bayerische Verfassung getroffenen – Vereinbarungen zur Lockerung der Bekenntnisschule im Volksschulgesetz überhaupt erst sanktioniert worden wären und das gleichzeitig mit den vertraglichen Pflichten gegenüber den Kirchen in Einklang sein sollte2057. Ob der Möglichkeit eines Erfolgs und der aufkommenden Debatten begannen CSU und Regierung, selbst aktiv zu werden. Bereits im Zuge der Neufassung des Volksschulgesetzes hatte sich in Teilen des Kultusministeriums allmählich die Einsicht verbreitet, dass eine Verfassungsänderung zur sinnvollen Anpassung der Schulorganisation unausweichlich war. Die Idee war wiederum, die weitere Abschwächung der Bekenntnisschule mit der Stärkung des christlichen Charakters des gesamten Schulwesens zu verbinden, nämlich wie das Saarland den christlichen Charakter »auch für die Realschulen, Berufsschulen und Gymnasien« vorzuschreiben. Von Ministerialrat Müller lag sogar der Entwurf eines neugefassten Artikels 135 der Bayerischen Verfassung vor, der sich an dieser Idee orientierte2058. Selbst Ministerpräsident Goppel hatte sich schon zu dieser Zeit offen für eine Verfassungsänderung gezeigt. Für Huber aber war eine Verfassungsänderung »wegen des hohen Risikos nicht opportun«2059 gewesen – eine Haltung, der sich auch der Ministerrat 1966 noch angeschlossen hatte2060. Auch gegen das FDPVolksbegehren äußerte sich Huber noch völlig resolut, erklärte es als »unrealistische Forderung«, die »einen Kirchenkampf auslöst, den keine bayerische Regierung führen kann«2061. Erst nachdem die SPD einen weiteren aussichtsreichen, mit Konkordat und Kirchenverträgen wohl besser zu vereinbarenden Vorschlag vorgelegt hatte und in der CSU sich die Stimmen mehrten, sich einer Verfassungsänderung nicht weiter zu verschließen, lenkte Huber ein und ging zunächst auf die katholische Kirche zu. Diese befürwortete, dass die CSU einen
2056 Vgl. Seibert, Christliche Volksschule, S. 243. 2057 Seibert, Christliche Volksschule, zur Verfassungsgemäßheit des VoSchG vgl. ebd., S. 248– 250. Eine entsprechende Klage der SPD wurde abgewiesen. 2058 BHStA MK 61213, Nr. M2867, IV 120 761, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 15. 11. 1965. 2059 BHStA MK 61213, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes (VoSchG), Gez. MR Dr. Böck, 01. 04. 1966 [Treffen zw. Staatsminister Huber, Kardinal Döpfner, Landesbischof Dietzfelbinger]. 2060 Vgl. BHStA MK 61213, B III – 4010-1 Bayerische Staatskanzlei an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Betreff: Neukodifizierung des Volksschulrechts, 15. 03. 1966. Zu Hubers Haltung vgl. auch Lehning II, S. 816. 2061 Zitiert nach Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 758.
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eigenen Vorschlag zur Verfassungsänderung einbringen solle2062. Entsprechend eng fand die Absprache über den Wortlaut des Referendums statt. Ob »auch dann noch Einverständnis bestehe, wenn […] anstelle der ›christlichen Schule‹ eine ›christliche Gemeinschaftsschule‹ vorgesehen werde«, erfragte Huber telefonisch beim Vorsitzenden der Bayerischen Bischofskonferenz und bekam zur Antwort, dass damit die Nähe zum SPD-Antrag zu groß werde, weshalb diese Änderung abzulehnen sei2063, es blieb also bei »Schulen«2064. Die Bekenntnisschule sollte mit diesem Vorschlag aus der Verfassung verschwinden und im Ergebnis »die bestmögliche Schulgliederung […] sichergestellt«2065 werden. Das eigentlich Neue an der so entstandenen Situation war allerdings nicht auf Seiten der Politik zu suchen, sondern auf Seiten der Kirchen, die viel stärker die Rolle der letzten Instanz innehatte als Exekutive oder Legislative. Wie bereits gesehen, hatten die Kirchen sich auf einen gemeinsamen christlichen Weg geeinigt. Angesichts des so langen Festhaltens an der strikten Trennung der Bekenntnisse griff Huber nicht zu hoch, wenn er zur Überwindung der »Aufspaltung in Gemeinschaftsschulen, Bekenntnisschulen und Weltanschauungsschulen« im mit den Kirchen abgestimmten CSU-Vorschlag urteilte: »Es ist wahrhaft ein großes Ereignis, dass die beiden christlichen Konfessionen erstmals seit der Glaubensspaltung sich zusammengefunden haben, um dieses gemeinsame Fundament in einer pädagogisch brauchbaren Weise auszuformulieren.«2066 Die Kirchen verstellten sich nicht weiter der Entwicklung des Bildungswesens, in der der Primat religiös-kultureller Erziehung dem des sachorientierten Unterrichts wich. Dass Bayern hier einen völlig anderen Weg beschritt als der Rest Deutschlands, war keine Option mehr und auch nicht im Sinne der Kirchen. Im Tausch gegen die Aufgabe der von der jeweiligen Kirche dominierten Be2062 Vgl. ebd., S. 759. 2063 BHStA MK 61205, Vormerkung, Telefonat Huber mit Döpfner, Betreff: Änderung des Art. 135 der B. Verfassung, 19. 07. 1967. 2064 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 759. Der Antrag der CSU zum Volksbegehren sah nach diesen Abstimmungen folgenden Wortlaut für Artikel 135 vor: (1) »Die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) sind christliche Schulen. (2) In Klassen mit Schülern verschiedener Bekenntnisse wird nach den gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen; in solchen mit Schülern eines Bekenntnisses richtet sich die Erziehung nach den Grundsätzen dieses Bekenntnisses. (3) Wo die Schulgliederung es gestattet, sind Klassen für Schüler eines Bekenntnisses einzurichten, wenn deren Erziehungsberechtigte zustimmen. Der Besuch privater Volksschulen ist an keine anderen Bedingungen oder Kosten gebunden als der öffentlicher Schulen.« Vgl. BHStA MK 61205, Antrag der CSU vom 1. 9. 1967 zum Volksbegehren, Kennwort »CSU – Christliche Volksschule«, 01. 09. 1967. 2065 BHStA MK 61205, Antrag der CSU vom 1. 9. 1967 zum Volksbegehren, Kennwort »CSU – Christliche Volksschule«, 01. 09. 1967. 2066 BHStA MK 66165, Staatsminister Dr. Ludwig Huber in der Sendung ›Aus erster Hand‹, Bayerischer Rundfunk, 8. 11. 1967.
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kenntnisschule wurde aber in der Verfassung verankert, dass jede öffentliche Volksschule – aber nicht, wie zuvor noch angedacht, auch alle anderen öffentlichen Schulen2067 – in Bayern künftig »nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse« unterrichte und erziehe. Die Exekution dieses Prinzips oblag allerdings künftig alleine dem Staat, während die Macht der Kirchen in den Schulen sich nach der Anpassung von Konkordat und Kirchenverträgen auf den Religionsunterricht beschränkte2068. Allerdings wurde bereits in der auf die Verfassungsänderung hin nötig gewordenen Bereinigung des Volksschulgesetzes »nirgends die Christlichkeit der Schule garantiert«2069 ; die Lehrerbildung und die Lehrbücher wurden bekenntnisunabhängig und damit auch der Macht der Kirchen weitgehend entzogen2070. Die Volksschule hatte somit einen rasanten strukturellen Wandel einer Erziehungsinstitution von Kirche und Gemeinde hin zu einer staatlichen Bildungseinrichtung vollzogen. Die Neugliederung der Volksschule und die Einführung des neunten Schuljahrs 1964 hatten sich alle Länder im Hamburger Abkommen dazu verpflichtet, die Volksschule in operativ unabhängige Einheiten der Unter- und Oberstufe zu gliedern. Aus dem ersten bis vierten Schuljahr würde so die Grund- und aus dem fünften bis achten respektive neunten Schuljahr die Hauptschule werden, über deren Name allerdings noch Uneinigkeit herrschte. Bereits ab 1963 war die Regierung eine Aufgliederung der Volksschuloberstufe, horizontal in eine 5. / 6. und eine 7. / 8. Jahrgangsstufe sowie vertikal nach Fächern und Begabung angegangen, die zwei Aufgaben dienen sollte: »die Förderung einer für alle gleichen Grundbildung und die notwendige Weckung und Pflege der besonderen Interessen«2071. Diese Gliederung konnte aber nur in größeren Schulen vollzogen werden. Insbesondere auf dem Land wurde weiterhin im traditionellen Gleichgang gelernt, ohne die Möglichkeit spezifischer Förderung. Dennoch ging es ab Mitte der sechziger Jahre an die Umsetzung der Oberstufenreform. Wie problematisch es in Bayern war, größere Reformen durchzuführen, zeigte 2067 Vgl. BHStA MK 61213, Nr. M2867, IV 120 761, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 15. 11. 1965: »Es [das Saarland] hat nämlich in dem genannten Art. 27 seiner Verfassung nicht nur den christlichen Charakter seiner Volksschulen verankert sondern ihn als bisher einziges Land der Bundesrepublik Deutschland auch für die Realschulen, Berufsschulen und Gymnasien vorgeschrieben. Das Fehlen einer solchen Bestimmung in der Bayerischen Verfassung ist mehr als ein Schönheitsfehler. Ihn zu beseitigen bieten das gegenwärtige Vorgehen des LKR und das erwähnte Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs Anlass genug. Der Zeitpunkt für die vorgeschlagene Verfassungsänderung scheint daher auch politisch günstig zu sein.« 2068 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 763. 2069 Ebd., S. 767. 2070 Vgl. ebd., S. 763. 2071 Bayerischer Bildungsplan, 1963, S. 126ff. Zitiert nach Seibert, Geschichte des bayerischen Bildungswesens, S. 751.
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sich an der Zweiteilung der Volksschule in Grund- und Oberstufe. Schon in diesen Bezeichnungen zeichnet sich der verhaltene Reformeifer ab. Eine begriffliche Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule kam für Bayern lange noch nicht in Frage. Noch 1966 erklärte Huber öffentlich: »Erst nach ihrer [der Richtlinien] Überarbeitung und endgültigen Einführung soll mit der Konstituierung der neuen Schulart auch die Bezeichnung geändert werden. Es gäbe kein wirkungsvolleres Mittel, die Hauptschule zu ruinieren, als die Verleihung der Bezeichnung an eine Oberstufe, die eben keine Hauptschule ist. […] Die Hauptschule muss von ihrer berufs- und gesellschaftspolitischen Aufgabe her durchdacht und durchgeplant werden. Sie soll zu einem qualifizierten Abschluss mit einem entsprechenden Zeugnis führen.«2072 Intern hatte Huber allerdings noch wenige Monate zuvor andere Gründe benannt. Er trete demnach »für die Beibehaltung der Volksschule als Ganzes ein. […] Der Begriff der Volksschule ist durch die BV gesichert. Wir werden daher die Bezeichnungen Grundschule, Förderstufe und Hauptschule nicht gebrauchen, sondern nur von Stufen der Volksschule sprechen.«2073 Diese Zielsetzung hatte auch die »Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule« vertreten, die es als nötig erachtete, dass »der Oberstufe eine spezifische Aufgabe zugewiesen wird, die nur von ihr gelöst werden kann. In diesem Fall wendet sie sich an einen bestimmten Schülerkreis, dem sie die Möglichkeit eines qualifizierten Schulabschlusses bietet. Sie bildet die Grundlage des echten 2. Bildungsweges, der den Aufstieg bis zur Hochschulbildung innerhalb der einheitlichen beruflichen Laufbahn ermöglicht.«2074 Nachdem sich diese Kommission 1964 recht einvernehmlich auf das Wesen der Volksschule geeinigt hatte, kam es zu stärkeren Differenzen in der Frage ihrer Struktur2075. Denn gleichwohl die Oberstufe derart bedacht wurde, musste sie ja noch nicht operativ unabhängig werden. Gegen die Aufteilung sprach »die Gefahr einer völligen Verselbständigung dieser beiden Zweige in sich« sowie damals noch die möglichen Auswirkungen auf die Konfessionsschule. Damit war die Zweiteilung der Volksschule zunächst vom Tisch. Ministerialrätin Böhm fasste zusammen, dass eine Aufteilung weder eine »bloße Namensfrage« noch eine »reine Zweckmäßigkeitsfrage« sein könne und folgerte: »Wir wollen an dem 2072 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 8f. 2073 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 8. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 15. 01. 1965. 2074 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 1. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 21. 02. 1964. 2075 Vgl. BHStA MK 62069 Niederschrift über die 5. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 20. 10. 1964: »Die in dem Entwurf enthaltenen Ausführungen über die künftige Gliederung des Schulwesens sehen die Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule bereits als eine Realität an. Dieser Umstand gibt Anlass zu einer gründlichen Aussprache.«
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Faktum Volksschule als einer Ganzheit deshalb festhalben, weil ihre Sendung und Aufgabe unserem pädagogischen Gewissen entspricht.«2076 Die Volksschule sollte zwar, darin waren sich alle einig, eine Binnengliederung in Unter- und Oberstufe erhalten2077, aber nicht in Grund- und Hauptschule getrennt werden2078. In dieser Haltung wurde die Kommission bald auch durch vom Kultusminister bestätigt2079. So kam es auch, dass, obwohl bereits 1963 »Richtlinien für die Oberstufe« erlassen worden waren und eigentlich die für die Unterstufe auf dem Weg zur Teilung der Volksschule hätten folgen sollen, die nächste Auflage der Richtlinien für die bayerischen Volksschulen 1965 wieder für den »1. mit 9. Schülerjahrgang« galt – also die gesamte Volksschule umfasste2080. Auch im Entwurf des Volksschulgesetzes 1966 wurde noch die geringste Offenheit für die Aufspaltung der Volksschule kritisiert: »Artikel 2 […] lässt die Möglichkeit selbständiger Grundschulen und selbständiger Hauptschulen offen. Damit wird eine Entwicklung angebahnt, die mit der Beseitigung des Begriffes ›Volksschule‹ enden wird.«2081 Im Jahr darauf änderte sich die Haltung, und Huber sah die Hauptschule bereits als weiterführende Schule vor, die wie Gymnasium und Realschule auf die Grundschule folge2082. Erst in der Novellierung des Volksschulgesetzes im Anschluss an die Verfassungsänderung 1968 wurde die Trennung zwischen Grund- und Hauptschule klar formuliert2083. Der tatsächliche Vollzug der Trennung, also die Einführung der Hauptschule, fand erst im Zuge der verbindlichen Einführung der neunten Jahrgangsstufe im März 1969 statt. Die Hauptschule bekam zugleich auch eine weitere Ausdifferenzierung in ihrem Abschluss. Neben dem Entlasszeugnis stand künftig ein Zeugnis über den erfolgreichen Hauptschulabschluss sowie eines über den Qualifizierten Haupt2076 BHStA MK 62069 Niederschrift über die 5. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 20. 10. 1964. 2077 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 7. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 11. 12. 1964: »Die Kommission ist übereinstimmend der Meinung, dass an der Stufung 1. Mit 4. Schülerjahrgang = Unterstufe, 5–9. Schülerjahrgang = Oberstufe festgehalten werden soll, wobei die Oberstufe wieder in 5. Mit 6. Schülerjahrgang (die auf alle Fälle im Rahmen der Volksschule zu führen sind) und 7. Mit 9. Schülerjahrgang untergliedert wird.« 2078 BHStA MK 62069 Niederschrift über die 5. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 20. 10. 1964. 2079 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 8. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 15. 01. 1965. 2080 Vgl. BHStA MK 62067, Nr. IV 116 228, Betreff: Richtlinien für die bayerischen Volksschulen (1. Mit 9. Schülerjahrgang), 01. 12. 1965. 2081 BHStA MK 61213, Gez. Ref. 25, Böhm, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 25. 02. 1966. 2082 BHStA MK 66165, Huber, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967. 2083 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 764–767.
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schulabschluss, der durch eine landesweite zentrale Prüfungsleistung erlangt wurde. Eine Ausdifferenzierung fand aber nicht nur in den Abschlüssen, sondern auch im Unterricht statt. Neben der Einführung von Wahlpflichtfächern wurde die Aufteilung in A- und B-Kurse in bestimmten Fächern möglich2084. Hubers Würdigung der Einführung von Grund- und Hauptschule: »Die neue Gliederung der Volksschule ermöglicht ihren gleichwertigen und gleichberechtigten Einbau in ein leistungsfähiges, differenziertes Bildungswesen des Landes, das jede Sackgasse vermeidet und das allen Kindern den Zugang zu allen Ebenen des Schulsystems ermöglicht. Es liegt mir viel daran, diese Gliedfunktion der neuen Grund- und Hauptschule hervorzuheben. Diese beiden neukonzipierten Schularten sind wesentliche Elemente in einer Gesamtkonzeption vom Aufbau eines Schulsystems, das seinerseits wiederum Ausdruck einer Bildungskonzeption auf der Grundlage gesicherter anthropologischer und soziologischer Voraussetzungen ist.«2085 Dass sich die Einführung der Hauptschule so lange hinzog, hing auch mit der Verzögerung zur Einführung des neunten Schuljahres zusammen. Im Hamburger Abkommen, in dem 1964 zwischen den Ländern auch die Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule vereinbart wurde, fand sich gleichermaßen die Übereinkunft, die Volksschule generell von acht auf neun Jahre auszuweiten. Schon zwei Jahre zuvor war dieses Ziel offiziell im Amtsblatt des Kultusministeriums verkündet worden: »Die Erweiterung um ein 9. Schuljahr wird vorbereitet; seine Verwirklichung wird aber eine lange Zeit der Entwicklung erfordern.«2086 Auch Ministerpräsident Goppel betonte dieses Ziel, benannte aber gleichfalls die Hindernisse auf dem Weg dorthin: »Ein neuntes Schuljahr freilich, so sehr es zu begrüßen wäre, wird sich nicht einführen lassen, solange nicht der Mangel an Lehrern und Schulräumen behoben ist, den zu beheben die Staatsregierung besonders bemüht sein wird.«2087 Im Weg stand vor allem der Lehrermangel, Druck kam von der Opposition2088. Der Termin für die Einführung verschob sich, 1967 wurde von Huber angedacht, was wegen des Haushaltsdefizits – und der Prioritätensetzung – nach Beschluss der Landesregie-
2084 Vgl. ebd., S. 788f. 2085 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 11. 2086 BHStA MK 62071, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. 19, Seite 387: Bekanntmachung über den Unterricht in der Volksschuloberstufe vom 12. Juli 1961 Nr. IV 57 288. 2087 BHStA MK 61214, Äußerungen des Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über das Schulwesen auf dem Lande (1962/63), Zusammengestellt von der Bayerischen Staatskanzlei, 25. Juni 1963, hier: -Regierungserklärung vor dem Bayerischen Landtag München, 19. Dezember 1962. 2088 Vgl. BHStA StK 17488, Betreff: Schwerpunkte der Bayerischen Kultuspolitik; hier : unmittelbar anstehende Probleme, 20. 08. 1963.
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rung, gegen die Stimme Hubers, nicht zu halten war2089 ; Huber führte darüber hinaus das Volksbegehren als Grund für die Verzögerung an2090. Die Einführung des neunten Pflichtschuljahres fand in Bayern als letztes Bundesland erst 1969 statt. Hans Maier übernahm im Jahr darauf eine Grund- und Hauptschule, die er nicht weiter anrührte. Der Lehrermangel blieb noch lange ein Problem, das es zu bewältigen galt; und allmählich hatte er sich gegen die »schrillen Schlagworte von der Hauptschule als ›Restschule‹« zu wehren. Der Unterricht der Volksschule Die Richtlinien für die Volksschule von 19662091 »Die Zwergschule ist tot. Die alte Volksschule gibt es nicht mehr.«2092 – So schaute Ludwig Huber 1969 auf die Landschulreform zurück, die erst durch eine völlige Neudeutung der Volksschule möglich wurde2093, die weiterentwickelt wurde, um ihren Erhalt zu sichern. Wie andernorts die jeweiligen Reformen, war in Bayern der Erhalt der Volksschule besonders begründungspflichtig, da ihre Rolle nicht mehr als unbedingt selbstverständlich anerkannt wurde. Bereits ab 1964 hatte sich eine Kommission mit »Wesen und Gestalt der modernen Volksschule« auseinandergesetzt2094, worauf zwei Jahre später die neuen Richtlinien für die Volksschule aufbauten. In der ersten Sitzung wurde entsprechend darüber gesprochen, wodurch die Volksschule ihre »Existenzberechtigung« erfahre, nämlich »wenn ihr auch auf der Oberstufe eine spezifische Aufgabe zugewiesen wird, die nur von ihr gelöst werden kann«. Die Volksschule sollte demnach nicht alleine aus ihrer Tradition heraus begründet werden, sondern eine spezifische, durch die Herausforderungen der Zeit gestellte Aufgabe zu bewältigen haben. So 2089 »Magna Charta«. In: DER SPIEGEL 6/1967. 2090 Huber, Entscheidung für Bildung. Haushaltsrede 1968, S. 19. 2091 In den Volksschulen galt bis 1966 der Bildungsplan von 1955, ergänzt durch die »Richtlinien für die Oberstufe der Volksschule«, die 1961 herausgegeben und 1963 ergänzt wurden. Ab 1966 galten für weitere elf Jahre die »Richtlinien für die bayerischen Volksschulen« , nach der Aufspaltung galt für die Grundschule ab 1971 ein eigener Lehrplan. Vgl. KMBl. 15 1966, S. 181ff, abgedruckt in: Kurzka, Winkler, Kommentar zu den Richtlinien für die bayerische Volksschule – Grundschule; KMBl. 9, 1971, S. 3333ff. 2092 BHStA MK 66166, Huber, Bewegte Kulturpolitik: Rüstzeug für das 20. Jahrhundert. In: Bayern-Kurier 14. 06. 1969. 2093 BHStA MK 66166, Wir sprachen mit Dr. Ludwig Huber. In: Bamberger Volksblatt, 27. 01. 1969. 2094 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 1. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 21. 02. 1964. Mitglieder der Kommission: Rektor Dr. Josef Schwandner, Oberverwaltungsdirektor K.A. Ederer, Oberstudienrat Ferdinand Kopp, Schulrat a.D. Dr. H. Hermann, Lehrer Konrad Fritsche, Frau Direktorin Anna Schimmel, Professor Dr. Guthmann, Regierungsschuldirektor Wimmer, Rektor Emil Ammon.
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hieß es ganz grundsätzlich: »Die Volksschule ist charakterisiert durch das Elementare ihrer Bildungsvermittlung, nicht aber durch den eingeengten Begriff der Volkstümlichkeit.«2095 Damit setzte die Kommission sich die Aufgabe, dieser Bildungsform ein neues Fundament zu geben. Die Debatten über »die Eigengestalt der Volksschule«, deren Erörterung die neuen Richtlinien einleiten sollte, boten keine großen Kontroversen. Über ihren Verlauf hinweg gingen die werterzieherischen Formulierungen des ersten Entwurfs weitgehend verloren, darunter Sätze wie die »Forderungen nach einem möglichst geschlossenen geistigen Standort, einer einheitlichen Weltsicht und Weltdeutung und einem engen Kontakt mit den Erziehungsberechtigten und den anderen Erziehungsmächten [gemeint sind die Kirchen]«2096 ; selbst die explizite Bindung an den Elternwillen (»Indem sie die Erziehung im Elternhaus fortführt und ergänzt«2097) fiel weg. Aus der von der Kommission am 1. 9. 1964 verabschiedeten Version spricht nur noch am Rande die werterzieherische Konzeption: »Die Volksschule ist, den Voraussetzungen geistigen Wachstums beim Kind entsprechend, auf die heimatliche Erfahrungswelt und die von ihr umschlossenen Güter und Werte bezogen. […] Gebunden an die allgemeinen menschlichen und die religiösen Werte führt sie in das technische und wirtschaftliche Leben in unserem Industriezeitalter und in unserer freiheitlichen Gesellschafts- und Staatsordnung ein. […] Die Gefährdung unserer Jugend in der Gegenwart erhöht den Erziehungsauftrag der Volksschule.«2098 Stärker kam aber nun die neuhumanistische Konzeption zum Tragen. Eingehend beschäftigte sie sich daher anhand eines zweistündigen Referats von Prof. Johannes Guthmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) mit dem Erziehungs- und dem Bildungsbegriff sowie deren Unterscheidung. Nach der der Entfaltung der Begriffe in den historischen Bildungsplänen Bayerns, im Vergleich mit den anderen Bundesländern, mit bundesweit relevanten Papieren und sogar mit dem Ausland, grenzte das Gremium sie wie folgt ab: »Erziehung ist Funktion der menschlichen Gemeinschaft, natur-notwendig, umfasst den ganzen Menschen von Geburt an. Bildung hat den einzelnen Menschen im Auge, in seinem Verhalten und in seiner Haltung. Sie ist nicht das
2095 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 1. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 21. 02. 1964. 2096 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. Vgl. BHStA MK 62069, Niederschrift über die 3. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 1964. 2097 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. 2098 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 4. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 01. 09. 1964.
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Erreichen eines bestimmten Erkenntnisgrades, sie ist ein ständiger Prozess.«2099 Als besonderes Kennzeichen von Bildung wurde formuliert, sie führe zu »Ausgewogenheit und innerer Stimmigkeit, Tiefe und Echtheit« und sei – im Gegensatz zur Erziehung – »individuell und personell« sowie ein »unbeendbarer Vorgang«. Als solche sollte die Bildung die Richtlinien dominieren, während als »Erziehungsziel« nur der Hinweis auf die Verfassung formuliert werden sollte. Da Bildung ein reflexiver Vorgang sei, den der Mensch an sich selbst vollziehe, würden die Maßnahmen »Hilfen zur Bildung« darstellen2100. Selbst »die Formulierung, dass ›Bildung vermittelt‹ wird«, so Böhm, »ist heute nicht mehr tragbar«2101. Für die Volksschule sollten als Erziehungsziele lediglich die Vorgaben der Verfassung gelten, das Element der Bildung aber dominieren2102. Das »Lehrgut« Die Richtlinien legen als Kategorien für die Unterrichtsgegenstände »die Bereiche des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, Natur und Religion« fest. Das »eigene Ich«, bei der Planungskommission ursprünglich noch als eigener Gegenstandsbereich genannt2103, wurde in der finalen Version zu einer Grundlegung über die Reflexivität von Bildung: »Erziehung ist Hilfe, die dem jungen Menschen zu Weckung und Festigung einer selbstverantwortlichen sozialen, sittlichen und religiösen Haltung gegeben wird. Der Lehrer hat hier eine verpflichtende Aufgabe als Vorbild. Unterricht und Erziehung dienen der Bildung. Diese reift in der Auseinandersetzung mit der Welt; sie bleibt immer unabgeschlossen und kann nur vom einzelnen für sich selbst errungen werden.«2104 Dieser Absatz legt, wie schon die Ideen der Planungs-
2099 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. Weiter : »Bildung befähigt dazu, dass der Mensch weiß, wie es mit der Welt um ihn herum steht. Bildung ist ein Wert und ein Geschehen. Erziehung und Bildung haben die durch Anlagen gegebene untere Grenze gemeinsam. Die obere Grenze ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Kern im Menschen durch keine pädagogischen Maßnahmen erreicht werden kann. Ideengeschichtlich: Das transitive ›Bilden‹ ist reflexiv zum ›sich bilden‹ geworden und wurde dann auf den Menschen übertragen.« 2100 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. 2101 BHStA MK 61213, Gez. Ref. 25, Böhm, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 25. 02. 1966. 2102 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. 2103 BHStA MK 62069, Niederschrift über die 10. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 09. 03. 1965. 2104 BHStA MK 61213, Richtlinien für die bayerischen Volksschulen (1. Mit 9. Schülerjahrgang), München 1966, S. 3f.
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kommission, eine neuhumanistische Diskursformation nahe, aus der heraus die Richtlinien entstanden sind. Der – gleichwohl abgeschwächte – Subjektivismus der neuhumanistischen Konzeption lässt sich auch in zahlreichen Formulierungen Ludwig Hubers finden, wie der folgenden: »Staat und Gesellschaft können dafür nur die Voraussetzungen schaffen, das meiste bleibt jedem selbst zu tun. Die besten Schulen sind nur Hilfen, bilden und ausbilden muss jeder sich selbst.«2105 Hier klingen Hubers neuhumanistische Bildungsideale durch, die er zu Beginn seiner Amtszeit in Grundsatzreden öfter herausstellte. Eindrucksvoll klar bekannte er sich auf dem Kulturkongress der CDU/CSU 1964 zum klassischen Bildungsideal. Er setzte dies explizit als Kontrapunkt gegen die »eindrucksvollen, gewichtigen und richtigen Anliegen aus der berechtigten Sorge um die Bewältigung einer unsicheren Zukunft«, zu denen er vor allem die gerade aufwallenden grundsätzlichsten Argumente der Bedarfskonzeption zählte2106. Im Anschluss hielt er ein beeindruckend luzides Referat zur »Bildung als Hilfe zur Entfaltung und Vollendung seiner Persönlichkeit«, in der »der Mensch um seiner selbst willen« gebildet werde, einer »materiell determinierten Außenwelt« zu widerstehen. Huber bemühte den reflexiven Bildungsbegriff so weit, dass er mithin den Begriff Bildung nur für den subjektiven Prozess, für den Dienst von Schule und Lehrer aber den Begriff »Bildungshilfe« verwendete2107. Aber Huber grenzte sich nicht nur – womit er voll auf der Linie einer klassisch-neuhumanistischen Interpretation der Bildungsgeschichte wäre – von den als Fehlentwicklungen des Humboldt’schen Bildungsideals begriffenen Verfestigungen, dem »großbürgerlichen Bildungsindividualismus des 19. Jahrhunderts« ab, sondern gleichsam vom »philosophischen Idealismus, dem dritten Humanismus« und machte »das Fehlen einer gesunden Integration unserer Gesellschaft […] für die nationale Katastrophe und für den Bildungsmaterialismus unserer Tage verantwortlich«, um dann die »Einbettung der Persönlichkeit in die soziale Wirklichkeit unsers Volkes« zu fordern. Die Unschärfe dieses Satzes, der zumal im Verhältnis zu einer neuerlichen Abgrenzung »zur totalen Sozialisierung des Menschen, zur Verplanung des Individuums, zur Erniedrigung des Menschen zur bloßen gesellschaftlichen Funktion« steht, deutet darauf hin, dass 2105 BHStA MK 66164, Huber, Ludwig, Fragen von Heute – Antworten für Morgen. In: BayernKurier vom 24. 07. 1965. 2106 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964. Zentrale Punkte des Referats gibt Huber kurze Zeit später als Gastbeitrag im Bayernkurier wieder, BHStA MK 66163, Huber, Bildung als permanente Aufgabe: Keine Verplanung des Individuums. Abgrenzung gegenüber der SPD. Neue Initiativen in Bayern. Gastbeitrag im Bayern-Kurier, 21. 11. 1964. 2107 BHStA MK 66163, Rede des Herrn Staatsministers Dr. Ludwig Huber auf dem Kulturkongress der CDU/CSU in Hamburg am 9./10. 11. 1964.
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er mehr als formale Relativierung, als rhetorische Abschwächung seiner vorangehenden sehr langen und dezidierten Position pro klassisches Bildungsideal zu werten ist2108. Die Ausdeutung der Unterrichtsinhalte in den Richtlinien bewegte sich sprachlich auf der Grenze zwischen werterzieherischer und neuhumanistischer Konzeption, inhaltlich aber stärker bei Letzterer. Zwar hieß es: »Das Lehrgut muss Bildungsgehalt in sich tragen, der personal ergriffen wird, gültige Einsichten lebendig werden lässt und auf Haltungen hinwirkt.« Eine Konkretisierung dieser Einsichten und Haltungen findet aber nicht statt, stattdessen heißt es weiter : »Das Lehrgut muss wahr sein in dem Sinne, dass es ganz vom Gegenstand bestimmt ist, nicht verfälscht durch außersachliche Interessen oder durch erzieherische Verfärbung.«2109 Dieser Wahrheitsbegriff wird noch einmal dadurch erörtert, dass ein behandelter Gegenstand nicht ihm fremden Interessen dienen darf. Darin enthalten ist auch noch einmal die explizite Abwendung von einer werterzieherischen Konzeption: »Die früher so gern angehängten moralischen Belehrungen müssen sachlichen Erkenntnissen und Darlegungen weichen, die sich aus dem jeweils behandelten Stoff ergeben.«2110 Entsprechend veränderten sich auch die Inhalte. Während der musische und der sprachliche Bereich dominant blieben, ging eine Stärkung des »naturwissenschaftlichen, technischen und mathematischen Bereichs sowie [des] sozialen Lebens«2111 mit einer Reduktion der Bedeutung der Heimat einher. Diese, insbesondere auf dem Lande, wurde zwar neben der Integration ins Lehrgut noch einmal mit positiver Prägung hervorgehoben: »Die Vorteile der ländlichen Schule im naturnahen und überschaubaren Lebensbereich wird der Lehrer erziehlich und unterrichtlich nutzen«, heißt es in den Richtlinien. Dieser Satz muss allerdings gleichsam ins Verhältnis gesetzt werden zu den vorherigen Bildungsplänen, die ein ganzes Kapitel der Landschule gewidmet hatten. Unterricht als Hilfe zur Bildung Auch die Vorstellung von der Form des Unterrichts deutet auf einen neuhumanistisch geprägten Diskurs hin. Dieser sei »mehr als bloßes Vermitteln von Kenntnissen und Fähigkeiten« und ziele »auf lebendiges Wissen und Können, auf geistige Selbständigkeit und verantwortungsvolle Haltung« ab, stehe dazu aber lediglich dem Schüler beim Bildungsvorgang als Hilfe zur Seite. Diese Begrenzung der dem Unterricht zugestandenen Möglichkeiten in der Beeinflussung der 2108 Ebd. 2109 BHStA MK 61213, Richtlinien für die bayerischen Volksschulen (1. Mit 9. Schülerjahrgang), München 1966. 2110 Kurzka, Kommentar, S. 33. 2111 Ebd., S. 29.
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Schüler wurde im offiziellen Kommentar zu den Richtlinien2112 noch in einem anderen Kontext als der prinzipiellen Reflexivität von Bildung begründet: Weil die wachsende politische Abhängigkeit der einzelnen Schule, ihre »Einordnung […] in das Leben von heute mit all seinen Gliederungen und Verflechtungen« sowie die Versuche externer Beeinflussung die Freiheit und Selbständigkeit der Institution gefährde, müsse diese sich auf jene Hilfsfunktion beschränken2113. Gleichfalls auf den neuhumanistischen Bildungsbegriff deutet die Ausführung zur Amtsautorität der Schule2114. Diese habe »in den vergangenen Zeitläufen großen Schaden angerichtet und ist dadurch auch zu Schaden gekommen. Daher muss heute jeder Erzieher bestrebt sein, eine Autorität zu erringen, die an seiner Persönlichkeit haftet und die in einem guten Verhältnis zwischen ihm und seinen Zöglingen ihren schönsten Ausdruck findet.«2115 – Der Lehrer als Vorbild, die Besonderheit der Beziehung zwischen Erzieher und Zögling, das sind die Mechanismen, innerhalb derer der Schüler nach neuhumanistischer Konzeption zur Selbstbildung geführt werde. Als Instanz der Wahrheit hingegen wurde, was diesen Eindruck noch einmal bestärkt, dem Wort des Lehrers das Gewicht genommen. Nicht das Erlernen des Gesagten führe zur Erkenntnis, sondern »das unmittelbare Erleben der Wirklichkeit, der handelnde Umgang mit den Dingen«2116. In der Summe kann den Richtlinien für die bayerischen Volksschulen attestiert werden, dass sie sich zwar an vielen Stellen auf neue didaktische Erkenntnisse stützten und die Modernität sowohl im Lehrgut als auch in den zu berücksichtigenden lebensweltlichen Bedingungen betonten, sich aber in diesem Zuge nicht den Zielstellungen der emanzipativen oder funktional geprägten Diskursformationen annäherten. Ludwig Huber wandte sich explizit gegen eine »Umfunktionierung der Bildungsarbeit in pseudodemokratische, anarchistische Debattierklubs. Die Schule ist eine Ausbildungsstätte und darf nicht zu einer Brutstätte revolutionärer Ideen werden.«2117 Bleibt der schmale Grat zwischen werterzieherischer und neuhumanistischer Diskursformation zu betrachten. Dass viele Argumentationen, insbesondere aber der genutzte Bildungsbegriff letztgenannter Konzeption entstammten, wurde bereits deutlich. Wie aber im konzeptionellen Teil dieser Arbeit ausge2112 Die Verfasser des Kommentars waren als Ministeriumsmitarbeiter durchaus zur verbindlichen Auslegung der Richtlinien befugt. 2113 Kurzka, Kommentar, S. 17. 2114 BHStA MK 61213, Richtlinien für die bayerischen Volksschulen (1. Mit 9. Schülerjahrgang), München 1966. 2115 Kurzka, Kommentar, S. 17. 2116 BHStA MK 61213, Richtlinien für die bayerischen Volksschulen (1. Mit 9. Schülerjahrgang), München 1966, IV.5. 2117 Huber, Schul- und Hochschulreform. Haushaltsrede 1969, S. 21.
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führt wurde, kippte sie bereits an dem Punkt hin zu einer werterzieherischen Konzeption, an dem der radikale Subjektivismus gebrochen wurde und doch wieder Vorstellungen eines objektiven Geistes, ein festgesetzter Wertekanon oder gar die Frage nach dem materiellen Nutzen der Bildung Einzug hielten und auch angesichts der im Diskurs thematisierten Fragestellungen eine immer untergeordnetere Rolle im Gesamtdiskurs spielten. Die Richtlinien entstanden unter Bedingungen, aus denen sich stark wertende Vorgaben ergaben. Gemäß Artikel 131 Bayerische Verfassung waren »Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne« vorgegeben, außerdem war die Schule dem »Geiste der Demokratie, […] der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volke« sowie der Völkerverständigung verpflichtet. Daneben hatten die Kirchen noch eine erhebliche Macht, nicht nur als Autorität im Volk, sondern auch durch die noch existenten rechtlichen Privilegien. Als die Entwürfe der Richtlinien Anfang 1966 »den Schulaufsichtsbeamten, den Kirchen, den Pädagogischen Hochschulen sowie den Gremien der kommunalen Selbstverwaltung und der Wirtschaft« zur Stellungnahme vorlagen2118, lehnte das katholische Schulkommissariat sie zunächst ab, da sie »bestenfalls dem Charakter einer christlichen Gemeinschaftsschule« entsprächen2119. Das Ministerium verteidigte sie zwar2120, allerdings setzte sich die staatliche Seite in den Verhandlungen nicht ungeteilt für einheitliche Richtlinien für alle Volksschulen ein. Ministerialrat Müller erklärte, er »halte die Initiative der Kirche für das einzig Richtige. Der Lehrer braucht klare Anweisungen, wie er in der Konfessionsschule zu unterrichten hat«, und wähnte sich im Einvernehmen mit dem Minister2121. Durchgesetzt zu haben scheint sich aber Ministerialrätin Dr. Böhm, die sich für die Entwurfsfassung aussprach2122. Es blieb also bei den einheitlichen Richtlinien, die im Juni 1966 erlassen und bereits im darauffolgenden Jahr veranlasst durch die mittlerweile erfolgte Verfassungsänderung überarbeitet wurden. Der Oberstufenteil wurde weitgehend aus den Oberstufenrichtlinien von 1963 übernommen2123. Angesichts dieser Grundbedingungen muss trotz einiger Hinweise auf die Religion und Überresten an Heimatverbundenheit die neuhumanistische Diskursformation ob der Konsequenz, mit der sie explizit 2118 Huber, Kultur, Staat, Gesellschaft (Haushaltsrede 1966), S. 30. 2119 BHStA MK 62067, Niederschrift über die Besprechung vom 5. Januar 1966 im […] über die Einwendungen des kath. Schulkommissariats zum Entwurf der Richtlinien für die bayerischen Volksschulen, 05. 01. 1966, hier : Prälat Dr. Fischer. 2120 Ebd., hier: MD Dr. Kessler. 2121 Ebd., hier: MR Müller. 2122 Ebd., hier: MR Dr. Böhm. 2123 Vgl. Kurzka, Kommentar, S. 5.
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darin vertreten wurde, als die maßgebliche Diskursformation, aus der die Richtlinien hervorgingen, gelten. Da der bundesrepublikanische Gesamtdiskurs zum Objekt der Bildung im politischen Kontext Aussagen dieser Diskursformation fast nur noch als Abgrenzung zuließ, muss hier genauer betrachtet werden, wie solche Richtlinien überhaupt zustande kommen konnten. Ein Hinweis lässt sich in den herangezogenen Bezügen der Planungskommission 1 sowie der Kommentatoren der Richtlinien finden. Zum Bildungsbegriff nahm die Planungskommission Bezug auf die »maßgebenden Autoren« Heinrich Döpp-Vorwald, Rudolf Lochner, Erich Weniger, Alfred Petzelt, Theodor Litt, Herman Nohl sowie Franz Xaver Eggersdorfer2124. Im Kommentar zu den Richtlinien werden unter vielen anderen Werke von Otto Willmann, Joseph Göttler, Johann Baptist Westermayr, wiederum Eggersdorfer, Josef Dolch, Hubert Henz, und Wilhelm Flitner empfohlen. Zu demonstrieren ist hier nicht, dass diese Autoren die neuhumanistische Diskursformation bedienen, wenngleich dieser Nachweis nicht schwer fiele. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass den Richtlinien keinerlei Werke zugrunde liegen, die im beschriebenen Gesamtdiskurs der interessierten Teilöffentlichkeit eine relevante Rolle spielten. Ausnahmen sind zum einen Hans Aebli und Wolfgang Klafki, die im Literaturverzeichnis des Kommentars genannt sind, zum anderen die Autoren, auf die gleichwohl in der neuhumanistischen Diskursformation Bezug genommen wurde, wie Flitner, Nohl oder Litt. Auch der Wirkungszeitraum vieler der genannten Autoren lag bereits in der Vergangenheit. Die für die Abfassung der Richtlinien relevanten Personen hatten also keinen Zugang zur interessierten Teilöffentlichkeit, nahmen nicht am Gesamtdiskurs teil, hielten sich also in gewisser Weise gemeinsam mit einer Zahl von Pädagogen und Hochschullehrern in einer Enklave der neuhumanistischen Diskursformation auf. Das war in der Zeit der Entstehung der Richtlinien 1964 bis 1966 offenbar noch möglich, wenig später schon nicht mehr. Lehrpläne ab 1970 1970 reformierte das Kultusministerium die Lehrpläne mit Blick auf das folgende Schuljahr und den Unterricht der neu entstandenen Grund- und Hauptschule; auf die Rolle der Orientierungsstufe wurde bereits hingewiesen2125. 2124 BHStA MK 62069, zu Nr. IV 18 411, Niederschrift über die 2. Sitzung der Planungskommission I – Wesen und Gestalt der modernen Volksschule, 08. 05. 1964. Die Autoren sind ausschließlich mit Namen und Zitaten angegeben, ein weiterer mit »Schwarz« benannter konnte nicht eindeutig zugeordnet werden. 2125 Bereits 1969 wurde ein neuer Lehrplan für die nunmehr verbindliche 9. Jahrgangsstufe der Hauptschule erlassen, der allerdings explizit darauf hinwies, dass Leitgedanken, didaktische und methodische Hinweise sowie Anlagen sich nicht änderten; Bekanntmachung über den Lehrplan für den 9. Schülerjahrgang der Hauptschule. In: Amtsblatt des Baye-
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Dass diese Lehrpläne zur Erprobung in dieser Form keine allgemeine Verbindlichkeit erlangen würden, entsprach nicht dem damaligen Sinn des noch amtierenden Kultusministers Huber, von daher müssen sie anders als etwa die stets skeptisch gesehenen Schulversuche mit der Integrierten Gesamtschule als vollwertiger Reformschritt gewertet werden. Entstanden waren sie nicht mehr unter alleiniger Ägide des entsprechenden Fachreferenten im Kultusministerium mit von diesem zusammengesuchten Planungskommissionen, sondern unter der Integration von »350 Wissenschaftlern, Lehrern aller Schulgattungen, Fachleuten der Schulverwaltung und Vertreter freier Trägerverbände und der Wirtschaft«2126. Wenngleich die komplett einheitliche Grundschule ohnehin Schüler aller sozialen Gruppen vereinte, wies der neue Lehrplan2127 ausdrücklich und als erste Funktion auf das Ziel »der sozialen Integration« hin, wozu ein »Bemühen um den Ausgleich soziokultureller Startnachteile« explizit gefordert wurde: »So wird die Grundschule mit den Bildungseinrichtungen der Vorschulzeit eine Stätte ausgleichender Erziehung. Schichtenspezifisch bedingte Rückstände, vor allem im sprachlichen Bereich, im übrigen kulturellen Standard und in der Lernmotivation, sollen abgebaut werden.« Einher ging damit die Veränderung des zugrundeliegenden Begabungsbegriffs: »Lernen wird nicht mehr in gleichem Maße wie bisher als Reifungsprozess betrachtet, sondern weit mehr in seiner Abhängigkeit von der Umwelt, von Lernanregungen und Lernanforderungen.« Die stärkere mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung der Grundschule wurde mit »den Bedürfnissen unserer industriellen Gesellschaft« begründet, und die didaktischen Methoden des programmierten Unterrichts unter Hinweis auch auf die »Steuerbarkeit der Lernprozesse« und »Anreize zu weiterem Lernen« fanden Eingang in den Unterricht2128. Hinzu kam nunmehr die Betonung der sozialen Integration oberhalb der Grundschule. Der Lehrplan für die Orientierungsstufe im 1970 erarbeiteten Konzept sollte gleichermaßen für die Jahrgangsstufen fünf und sechs der Gymnasien, Real- und Volksschulen gelten. Die Aufgabe sozialer Integration sollte sich hier also fortsetzen, etwas abgeschwächt diente sie dabei allerdings rischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. 10 (18. 4. 1969), S. 441–446; 450–454. Aus: Comenius-Projekt. Onlinesammlung bayerischer Lehrpläne. URL: http:// www.comenius.gwi.uni-muenchen.de/index.php/Bayern:_Lehrplan_Geschichte_Haupt schule_1969. 2126 BHStA MK 62067, Nachrichten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Kultusminister Dr. Huber : Neukonzeptionen der Lehrpläne bildet Grundlage der inneren Schulreform und des künftigen Schulaufbaus, 19. 01. 1970. 2127 KMBl. 1971, Nr. 9, S. 333ff, publiziert in: Bayerisches Staatministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.), Lehrpläne für die Grundschule, Orientierungsstufe und Hauptschule, München 1970 (Schulreform in Bayern, Bd. 1). 2128 Lehning I, S. 15f.
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»vor allem einer sicheren Begabungsfindung, die es ermöglicht, die Schüler in die ihnen gemäße Schulart zu lenken. […] Zugleich trägt sie zum weiteren Ausgleich regionaler und sozialer Bildungsunterschiede bei.«2129 Für die siebte bis neunte Jahrgangsstufe der Hauptschule war »eine doppelte Aufgabe« vorgesehen: zum einen der Weg in Lehre und Beruf, zum anderen die Fortsetzung des Bildungswegs über Berufsaufbauschule oder Berufsfachschule. Inhaltlich hieß das, neben der »Vermittlung einer gediegenen […] Bildung«, die offensichtlich rein materiell gefasst wurde, »bereitet sie auf die Ansprüche der Wirtschafts- und Arbeitswelt vor«. Daneben stand eine Vorstellung von politischer Bildung als Staatsbürgerkunde, die die Schüler »mit Institutionen und Organisationen, mit Ordnungen und Konflikten vertraut […] macht, die für unsere Gesellschaft kennzeichnend sind«, um sie auf ihre »Verantwortung in Gesellschaft und Staat« vorzubereiten. Die Aufgabe sozialer Integration scheint in der Orientierungsstufe ihren Abschluss gefunden zu haben, innere und äußere Differenzierung zur Förderung der unterschiedlichen Begabungen waren nun eine »Notwendigkeit«2130. Der Kontrast zu den Richtlinien 1966 ist augenscheinlich. Der geisteswissenschaftliche wich einem sozialwissenschaftlichen Ansatz. Auf die Hervorhebung eines reflexiven Bildungsbegriffs wurde völlig verzichtet, die Herausbildung der eigenen Persönlichkeit durch die Auseinandersetzung mit der Sache war zugunsten einer auf nutzbare Fähigkeiten und Kenntnisse gerichteten Ausbildung verschwunden, die ehemalige Volksschule nahm nunmehr eine politisch-soziale, keine subjektiv-persönliche Funktion mehr ein. Auch die Inhalte änderten sich dementsprechend: Statt eines musisch-sprachlichen Schwerpunkts sollten nun mathematisch-naturwissenschaftliche Stoffe in den Vordergrund gerückt werden. Versuchten die Volksschulrichtlinien noch, sich aktiv von den äußeren Einflussfaktoren abzugrenzen, wurden diese hier nun nicht nur bereits bei Erstellung der Lehrpläne berücksichtigt, sondern auch spätestens im Abschnitt für die Hauptschule offen einbezogen. Der Versuch einer neuhumanistischen Konzeption von Bildung als ideelle Grundlage der Volksschule blieb Episode. Die bayerische Kulturadministration unter Minister Huber hatte binnen weniger Jahre eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Noch 1965 im Vorlauf zur Herausgabe der neuen Richtlinien betonte dieser mit größter Entschlossenheit: »Unverrückbar über allem Bedarf der Wirtschaft, über allen Erfordernissen der Gesellschaft steht als oberstes Ziel des Bildungsbemühens nach wie vor der Mensch, seine Würde und seine Freiheit. Ohne dieses Ziel wird die Bildung zur Zucht und Dressur, der Mensch zum Werkzeug. Bildung um ihrer selbst und des 2129 Ebd., S. 113. 2130 Ebd., S. 195.
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Menschen willen schließt keines der berechtigten Anliegen der Zeit aus, aber Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Menschen, brauchen Persönlichkeiten und nicht nur Arbeitskräfte und Planstelleninhaber, in der Zukunft noch mehr als im Obrigkeitsstaat der Vergangenheit. Darum sagte vor kurzem der Chef einer der größten deutschen Firmen: ›Bringen Sie den jungen Menschen bei, was Sokrates über das Leben und das Sterben des Menschen gedacht hat, die Elektrotechnik werden wir ihnen dann schon lernen.‹ Diese etwas überspitzte Formulierung zeigt, was gehütet und bewahrt zu werden verdient.«2131 Von dieser Haltung war 1970 keine Spur mehr vorhanden. Huber sprach selbst von »tiefgreifenden Veränderungen […], deren Ursachen ebenso in den fortschreitenden Erkenntnissen der Wissenschaften wie in gesellschaftlichen Entwicklungen liegen«, aber das bezog er auf die strukturellen Änderungen im Bildungswesen, nicht auf die Achsenverschiebung im geistigen Fundament der Lehrpläne, welche er überhaupt nicht thematisierte. Insbesondere hatte nun, naheliegend auch durch die bei der Erarbeitung maßgeblichen Personenkreise, eine szientistische Konzeption von Bildung plötzliche Bedeutung erlangt, die auf den Lernerfolg, auf die maximale individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers abzielte. Nur allgemeine Verweise auf den ökonomischen Bedarf genügen nicht, die Bedarfskonzeption zu erkennen, demgegenüber ist durch die »Individualisierung und Differenzierung«2132 spätestens in der Hauptschule bei gleichzeitigem Bemühen um Kompensationsmaßnahmen eine deutliche Komponente der individualrechtlich-emanzipativen Konzeption zu erkennen. Auf Wertaussagen verzichteten die neuen Lehrpläne völlig, was bereits eine gewisse Distanz zum bald nach ihrer Veröffentlichung vereidigten Kultusministers Maier erahnen lässt. Die 1969 erarbeiteten, 1970 veröffentlichten und 1971 in breitere Anwendung gekommenen Lehrpläne entsprangen nicht dem Geist des Kultusministeriums. Während für 1966 eine Distanz der verantwortlichen Kräfte zum bundesrepublikanischen Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit festgestellt wurde, wurde nun die Erstellung der Lehrpläne genau in diese interessierte Teilöffentlichkeit hineinverlagert, indem die Aufgabe mit externen Kräften besetzten Fachkommissionen übertragen wurde. Dort wurde der Anschluss an die Vorstellungen der szientistischen Konzeption gesucht. Der Lehrplan für die Grundschule von 1970 wurden bereits 1974 überarbeitet und der Anspruch an Qualität und individuelle Förderung den ernüchternden Erfahrungen ange-
2131 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 2132 Lehning I, S. 196.
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passt, völlig ersetzt wurde er 1981 durch einen Lehrplan, der »nicht mehr die scharfen Forderungen der pädagogischen Neuerer von 1971«2133 enthält.
Die Höhere Schule Trotz steter Expansion lehnte das Bayerische Kultusministerium eine grundlegende Neustrukturierung des Bildungssystems zunächst konsequent ab, und gerade das Gymnasium wurde über den Betrachtungszeitraum hinaus nicht in seinen Grundfesten berührt. Reformen unterblieben zwischen der Reorganisation der Binnengliederung des höheren Schulwesens in der Unterstufe 1964 und der Oberstufenreform 19722134. Nichtsdestotrotz blieb die Höhere Schule nicht unbeeinflusst, gerade von der Schöpfung der Begabungsreserven, die ja zu guten Teilen dem Gymnasium zugeführt wurden. Voraussetzung für diese Expansion des höheren Schulwesens war eine gezielt herbeigeführte Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, die Begabtenförderung sowie der Ausbau des zweiten Bildungswegs und die stärkere Öffnung der staatlichen höheren Schulen für Mädchen2135, nicht zuletzt aber Hubers aktive Bildungswerbung. Eine Steigerung der Schülerzahl an den Gymnasien um 50 % brachte Kapazitätsprobleme mit sich, die die Schulverwaltung vor große Herausforderungen stellten2136. Theodor Maunz hatte noch 1961 angenommen, dass die jährlichen Abiturientenzahlen die 10.000er-Marke langfristig nicht überschreiten würden2137. Das sollte sich schon bald als Irrglaube herausstellen. Nur neun Jahre später – also in der Zeit, in der ein Schüler das Gymnasium durchlief – betrug die Zahl der Abiturienten 11.500, bis Ende der siebziger Jahre überstieg die Zahl der Abiturienten die Marke von 20.000 deutlich. Die Schülerzahlen an den bayerischen Gymnasien erhöhten sich binnen zehn Jahren um knapp 100.000 Jungen und Mädchen2138. Die für die Höhere Schule zuständige Abteilung im Ministerium erhob vor diesem Hintergrund bereits 1966 eindringlichen Widerspruch gegen eine Fortführung der Bildungswerbungsmaßnahmen: »Sie kann m. E. im Hinblick auf die Verhältnisse, die in dem nächsten Jahrzehnt zu erwarten sind, nicht mehr verantwortet werden«, warnte der Leiter Dr. Ernst Höhne und berichtete bereits von Klagen durch Lehrer und Eltern und bekam dazu Rückendeckung aus dem Ministerium bis hin zum Staatssekretär Lauerbach. Huber blieb davon aber 2133 2134 2135 2136 2137
Apel, Curriculum-Entwicklung, S. 873. Vgl. Lehning II, S. 651. Vgl. Lehning I, S. 639f u. Lehning II, S. 652. Vgl. Lehning II., S. 832f. BPV, Neues Land (1962), S. 28: Theodor Maunz auf dem Bayerischen Philologentag vom 29.-31. 10. 1961, zitiert nach Lehning I, S. 637. 2138 Lehning II, S. 1168f.
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unbeeindruckt und setzte die Aktion fort, nicht ohne wiederum für die Gewinnung weiterer Lehrkräfte für die Höheren Schulen entsprechende Werbemaßnahmen einzuleiten2139. Alleine im Haushaltsjahr 1965/66 wurden 1000 zusätzliche Lehrerstellen für die Höheren Schulen eingeplant2140. Neben der kapazitären Überlastung kam auch die kritische Frage auf, ob die Steigerung der Quantität nicht zwangsläufig zu einem Absenken der Qualität der höheren Bildung führe2141. Insgesamt gab es andauernd Widerstände gegen Veränderungen im höheren Schulwesen. Nicht zuletzt Ministerpräsident Alfons Goppel pflegte seine Vorbehalte gegen diese Entwicklung: »Mit wacher Skepsis und kritischer Aufmerksamkeit verfolgt er die Entwicklungen in Schule und Hochschule«2142, bemerkte Ludwig Huber wohlgesonnen und meinte damit, dass die mit ihrer Expansion einhergehende Hinwendung der höheren Schule zu den Realien nicht auf dessen Zustimmung, sondern höchstens seine Kompromissfähigkeit zählen konnte. Für Goppel waren Realgymnasien angesichts der »seit langem vorgetragenen Wünsche der Bevölkerung« und der gegenwärtigen äußeren Entwicklungen wie die »zunehmende Verflechtung Europas« sowie einer Notwendigkeit zur Förderung verschiedener Begabungen unvermeidbar, sodass er sich zu deren Ausbau bekannte, aber gleichzeitig betonte: »Daneben soll das Höhere Schulwesen grundsätzlich auf die geisteswissenschaftliche Bildung ausgerichtet sein und bleiben.«2143 Das Humanistische Gymnasium blieb für Goppel »die beste Schulform zur Erlangung der Hochschulreife«2144. Die Entwicklung des Gymnasiums gehorchte ebenfalls dem Prinzip stetiger Differenzierung. Seit den 50er Jahren hatte sich neben dem Humanistischen Gymnasium das Realgymnasium (ab 1965 Neusprachliches Gymnasium) und bald auch das Mathematisch-naturwissenschaftliche (aus der Oberrealschule hervorgegangen) sowie das Wirtschaftswissenschaftliche Gymnasium (ehemals Wirtschaftsoberrealschule) etabliert, zuvor schon das Musische, ehemals Deutsche Gymnasium, das ursprünglich auf den Beruf des Volksschullehrers vorbereitet hatte2145. Trotz harten Ringens um diesen Schritt ging diese Ent-
2139 Vgl. ebd., S. 833f. 2140 Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 772. 2141 BHStA MK 66164, Jahrestagung des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger, 27.10.65 in Würzburg, Grußwort Huber. 2142 Vgl. Huber, Ludwig, im Mittelpunkt steht der Mensch, S.XVf. In: Huber (Hrsg.), Bayern – Deutschland – Europa: Festschrift für Alfons Goppel, Passau 1975, S. IX–XVIII. 2143 Regierungserklärung Alfons Goppel 1962, zitiert nach Lehning I, S. 521. 2144 Rede Goppels zur Einweihung eines Neubaus eines Regensburger Gymnasiums, 1965, zitiert nach Lehning II, S. 982. 2145 Vgl. für eine Übersicht über die Formen des Höheren Schulwesens in Bayern Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 773. Zur Entwicklung des Deutschen Gymnasiums vgl. Lehning I, S. 331–334.
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wicklung in den sechziger Jahren weiter. Bis 1972 waren nur noch sieben der bayerischen Gymnasien ohne neusprachlichen Zug2146. Ab 1968 setzte man sich in Bayern wie in vielen anderen Ländern mit einer Reform der gymnasialen Oberstufe auseinander2147. Angeregt vom Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik ging es ab 1969 darum, die gymnasiale Oberstufe komplett zu überarbeiten, 1970 ging das erste Modell der Kollegstufe in die Versuchsphase. Ziel war »eine wirkungsvollere Sicherung der Studierfähigkeit des Abiturienten« und gleichzeitig den Weg zu einer Berufsausbildung zu öffnen. Dazu wurde einmal mehr dem Differenzierungsprinzip gefolgt: »Die starke Differenzierung der Kollegstufe lässt Begabung und Neigung des einzelnen wirksam zur Geltung kommen.« Statt Klassenverbänden gab es eine in Pflichtund Wahl- sowie Grund- und Leistungskurse unterteilte Kursstruktur, und der Kollegiat erhielt »das Recht, die seinen individuellen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsschwerpunkte selbst zu bestimmen«2148. Obwohl die Oberstufenreform im Nachhinein zu einigen Verwerfungen führte, da die Differenziertheit im einen wie im anderen Bundesland doch sehr unterschiedlich aussehen konnte, geschah sie in enger Absprache mit der Kultusministerkonferenz im ganzen Bundesgebiet ähnlich und wies außer dem besonderen Augenmerk auf den Anspruch keine bayernspezifischen Eigenheiten auf2149.
Das Gymnasium und die Curricularen Lehrpläne Die höheren Schulen erfuhren bis Anfang der siebziger Jahre keine nennenswerten Reformen in ihrem Innern2150. 1964 erschienen »Lehrpläne für höhere Schulen in Bayern«2151, die allerdings maßgeblich eine organisatorische Bereinigung des höheren Schulwesens darstellten2152. Eine grundlegende Überarbeitung fand erst Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Oberstufenreform und der parallelen Einführung der »Curricularen Lehrpläne« statt2153. Eine der bedeutendsten Veränderungen hingegen war eine, die ohne Reformen, Lehrplanänderungen oder große Debatten vonstattenging, nämlich die Verschiebung der Gymnasialbildung von humanistischen Inhalten zu den Realien. Dies passierte alleine über die Veränderung der Nachfrage, die den traditionell dominanten 2146 Vgl. Lehning I, S. 519–523. 2147 Vgl. Wiater, Reform der Gymnasialen Oberstufe, S. 929–932. 2148 Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Nr. II/12-8/90 584, 21. 10. 1970, zitiert nach Wiater, Reform der Gymnasialen Oberstufe, S. 935. 2149 Vgl. Wiater, Reform der Gymnasialen Oberstufe, S. 942. 2150 Vgl. Lehning II, S. 651. 2151 KMBl. Nr. 16, 1964, S. 341ff. 2152 Vgl. Apel, Curriculum-Entwicklung, S. 889. 2153 Vgl. ebd., S. 858.
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humanistischen Zügen an den Gymnasien gegenüber alle anderen Ausprägungen stärkte, sodass das Gymnasium seinen philologisch-geisteswissenschaftlichen Charakter allmählich komplett verlor2154. Die Einlassungen zur Oberstufe im Zuge der »Neuorganisation des höheren Schulwesens« 1964 hatten, angesichts der Ergebnisse für die Volksschulrichtlinien von 1966 nicht überraschend, vor allem eine bedeutende neuhumanistische, aber ebenfalls eine werterzieherische Komponente. Die Entwicklung der Persönlichkeit galt als zentral, verdeutlicht insbesondere in der Betonung der Sprachen. Den modernen Fremdsprachen wurde allerdings neben ihrem Bildungs- auch ein Gebrauchswert beigemessen und sogar dem Prozess der europäischen Einigung als deutlich externes Ziel zugeordnet. Die alten Sprachen wiederum wurden vor allem aufgrund ihrer Eigenschaft als Kulturgut und ihrer traditionellen Bedeutung betont. Als Ziele galten vor allem die Studierfähigkeit der Schüler sowie ihre materiellen Kenntnisse und Fähigkeiten. Für »menschliche Freiheit und Entfaltung, Anregung zur Entwicklung der Persönlichkeit im Rahmen subjektiver Möglichkeiten« war lediglich der musisch-ästhetische Unterricht gedacht2155. Ludwig Huber sah 1968 »die Zukunft des Gymnasiums gesichert im Zusammenspiel von Humanismus und Naturwissenschaften unter Einbeziehung sozialkundlicher und wirtschaftspädagogischer Überlegungen«, also geteilt in eine persönlich-geistige Funktion und eine extern vorgegebene Funktion, die auf das berufliche und soziale Leben vorbereiten sollte2156. Darin setzt sich die stärkere Betonung des ökonomischen Bedarfs in der Betrachtung der Gymnasial- beziehungsweise im Anschluss der Hochschulbildung fort, die insbesondere im Abgleich zur Volksschulbildung bereits zu den strukturellen Aspekten festgestellt wurde. Währenddessen verstärkten sich die Tendenzen, die kanonische Allgemeinbildung durch »eine vertiefte, an persönlichen Interessen orientierte spezielle Bildung«2157 zu ersetzen. Ihre Vollendung fand diese Tendenz dann in den Schulversuchen zur Kollegstufe und der einhergehenden Reformierung des Unterrichts, die den Schülern größere individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnen sollten. Angestoßen unter Kultusminister Huber, unterzeichnete das Vorwort des 1972 als Band 2 der »Schulreform in Bayern – Kollegstufe am Gymnasium« veröffentlichten bayerischen Kollegstufenmodells in seiner strukturellen und
2154 Vgl. Lehning II, S. 982. 2155 Vgl. Apel, Curriculum-Entwicklung, S. 889–891. 2156 BHStA MK 66166, Rede des BSMfUuK Dr. Ludwig Huber anlässlich der Tagung des Gesamtvorstands des Deutschen Philologenverbandes am 24. Mai 1968 über »Die Rolle des Gymnasiums in der bayerischen Schul- und Kulturpolitik«, 24. 05. 1968. 2157 Apel, Curriculum-Entwicklung, S. 891.
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inhaltlichen Ausgestaltung als Schulversuch2158 sein Nachfolger Hans Maier. Grundlage der Kollegstufe waren freilich die Absprachen der Kultusministerkonferenz zur Reformierung der gymnasialen Oberstufe, weg vom verbindlichen Fächerkanon, hin zu einer Aufteilung in allgemein zu erfüllende Grundanforderungen und individuelle Spezialisierungen2159. Damit, so Maier selbst, »ordnet sich [das bayerische Kollegstufenmodell] in die auf Bundesebene geführten Diskussionen und geplanten Entwicklungen ein«. So war also auch die Integration der Mitte der sechziger Jahre noch getrennten Diskurse abgeschlossen. Dies rührte nicht zuletzt daher, dass das Prozedere der Erstellung der Lehrpläne für Grund- und Hauptschule sowie Orientierungsstufe zwei Jahre zuvor noch einmal weiterentwickelt worden war. Fanden sich damals organisiert durch das Ministerium 350 Fachleute in Kommissionen zusammen, war mittlerweile der gesamte Prozess der Lehrplanerstellung an das neu gegründete Staatsinstitut für Schulpädagogik ausgelagert worden. Somit fand sich die operative Verantwortung spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr auf Seiten der Politik, sondern wurde von dieser – als politische Entscheidung – auf ein externes wissenschaftliches Institut verlagert. Damit entsprach die Politik einer Grundforderung der szientistischen Diskursformation, für die die Wissenschaftlichkeit in der Planung des Unterrichts essentielles Merkmal war. Mit dieser Entscheidung ging zumal die Verlagerung der Ziele von der materiellen auf die formal-funktionale Ebene einher. Relevant waren nun die allgemeine Anwendbarkeit in Stadt und Land, die Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern und die optimalen Voraussetzungen zur Anwendung moderner didaktischer Methodik. Dabei handelte es sich bei der Entscheidung zur Einrichtung des Staatsinstituts nicht um eine politische Hinwendung zur szientistischen Konzeption, sondern eigentlich um eine Reaktion zur Abwehr der szientistischen Maximalforderung, nämlich der Einrichtung eines CurriculumInstituts der Länder, das die Erarbeitung der Unterrichtsdidaktik bundesweit zentralisiert hätte. Der Gedanke dazu kam schon 1968 auf, als die bundesweite Implementierung des bedarfsorientierten Weizsäcker-Modells zur Debatte stand. 1969 drehte sich bei der Kultusministerkonferenz dann die Diskussion um ebenjenes Curriculuminstitut. Das bayerische Kultusministerium bekundete zu dieser Zeit zwar Verständnis für eine stärkere Verwissenschaftlichung der Unterrichtsplanung, vertrat aber gleichzeitig den Standpunkt, dass ein solches Institut, das zwingend in letzter Instanz »Aufgaben der Forschung und der Bildungspolitik zugleich zu lösen haben wird«, nicht geeignet sei: »Die Überlegung, wie viel an den Gymnasien Latein oder Chemie getrieben werden soll und mit 2158 An dem Schulversuch nahmen vor der Veröffentlichung des Bandes 1972 schon 37 Gymnasien teil. Vgl. Schulreform in Bayern 2, S. 13. 2159 Vgl, Schulreform in Bayern 2, S. 8.
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welchen Inhalten und Lernzielen, ist exakt und auf dem Wege der Forschung nicht ganz zu lösen. Es wird immer ein Teil bildungspolitischer Entscheidung miteingebracht werden müssen, ja es geht um Fragen, die die Kulturpolitik als Ganzes berühren.«2160 Dass Bayern sich mit diesem Thema überhaupt anfreundete, war also dem bildungspolitischen Gesamtdiskurs in der Bundesrepublik geschuldet. Hinter dem als objektive Lösung ohne weltanschaulichen Einfluss daherkommenden Curriculumkonzept vermutete das Ministerium »bildungspolitisch brisante Zielsetzungen« des politischen Gegners2161. Befürchtet wurden Einseitigkeit und die vorschnelle Aufgabe der geisteswissenschaftlich bestimmten Grundidee des Gymnasiums durch die Dominanz von Soziologen, Psychologen und Futurologen (»Futurologen werden eine große Rolle spielen, um für die Beurteilung der Lebenssituation des Jahres 2000 und darüber hinaus, auf die die Schule vorbereiten soll, Anhaltspunkte zu liefern.«) Insbesondere die absehbare Schwächung der humanistischen Komponente, für die auf dem Feld der empirisch arbeitenden Wissenschaften nicht viele Argumente ins Feld zu führen wären, besorgte das bayerische Kultusministerium: »Es kann womöglich vordergründig leicht bewiesen werden, dass z. B. Griechisch zur Bewältigung moderner Lebenssituationen nur wenig Hilfen bieten kann; dass das Gymnasium der sprachlich-verbalen Komponente in seinem Bildungskanon zu viel Platz einräumt; dass studienbezogene und praxisbezogene Fächer auf gleichhohem intellektuellen Anforderungsniveau gelehrt werden können, und dergleichen mehr.« Aus dieser Ablehnung heraus wurde die Idee geboren, dass statt eines bundesweiten Instituts »verschiedene Ansätze an verschiedenen Orten unterstützt würden«. Zunächst wurde dabei an Forschungsaufträge an verschiedene Universitätsinstitute gedacht2162, dann aber das bislang maßgeblich mit der Lehrerfortbildung betraute Institut für Gymnasialpädagogik zum »Staatsinstitut für Schulpädagogik« (ISP) ausgebaut.
2160 BHStA MK 81212, Betreff: 131. Plenarsitzung der KMK, TOP 9: Fragen der CurriculumReform; hier : Vorschlag zur Gründung eines Curriculum-Instituts der Länder, 03. 07. 1969. 2161 BHStA MK 81212, Betreff: 131. Sitzung des Schulausschusses der KMK; hier : TOP 7 – Frage der Errichtung eines Curriculum-Instituts der Länder, 27. 10. 1969, gez. Knauss. 2162 Ebd. Bereits die Einrichtung des ISP-Vorgängers, des nunmehr integrierten »Instituts für Gymnasialpädagogik«, das sich vor allem mit der Lehrerbildung auseinandersetzte, war bereits 1963 als Universitätsinstitut unter Leitung des neuernannten Münchner Ordinarius auf dem Lehrstuhl für Pädagogik, Prof. Richard Schwarz, angedacht. Nachdem dieser in der Öffentlichkeit stark beschädigt war, wurde – auch um die größere Nähe zur Schulpraxis zu gewährleisten – ein Staatsinstitut eingerichtet. Vgl. dazu BHStA MK 52134, Vormerkung, Betreff: Errichtung eines Instituts für Gymnasialpädagogik, gez. Abteilung II, Höhne, 23. 08. 1963.
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Das Staatsinstitut für Schulpädagogik – bedingte Curriculumforschung Als Hans Maier Ende 1970 Kultusminister wurde, stand die Eröffnung des ISP kurz bevor, die Verordnung seiner Errichtung trug dann bereits seine Unterschrift2163. Dabei hatte er selbst eine gute Portion Spott für die »CurriculumScholastiker – eine Quelle unfreiwilligen Witzes, eine Orgie teutonischer Wortrevolution«2164 übrig, aber sonst nicht viel. Seine Kritik galt der ganzen Breite der Curriculum-Forschung, die »noch kein realisierbares Know-how entwickelt« habe, aber mithin große Ansprüche formulierte2165. Nichtsdestotrotz nahm Maier sich der Sache an, der curriculare Ansatz wurde zur Grundidee des Instituts, ohne grundsätzliche Einschränkungen zu erfahren, lediglich unter dem Namen Curriculare Lehrpläne durch den Anspruch von Praxisnähe, also insbesondere größeren integrierten Freiräumen für die Lehrer, und pragmatischer, zeitnaher Umsetzung relativiert2166. Im ISP machte neben der Begleitung von Schulversuchen und der Planung der Lehrerfortbildung die Lehrplanentwicklung für die Gymnasien den Großteil der Arbeit aus. Dazu wurden zunächst mehr als 200, bald über 800 Gymnasiallehrer in die »curricularen Arbeitskreise« des ISP integriert2167. Entsprechend stolz verkündete das Ministerium: »Eindeutig an der Spitze steht es im Hinblick auf Praxisnähe und demokratische Beteiligung der Lehrer.«2168 Ziel war die Erarbeitung von Curricula, die einem »Primat der Ziele vor den Stoffen« folgten. Die Begründung dazu war, dass der Stoff, »das Wissen der Menschheit« sich zu stark vermehre und eine regelmäßige Aktualisierung immer schwieriger werde. Stattdessen sollten künftig die Bildungsziele fixiert und die Stoffe flexibilisiert werden. Darüber hinaus bedeutete dies aber gleichermaßen, dass die Curricula »von klar definierten und damit überprüfbaren Lernzielen ausgehen«2169. In dieser Vorstellung finden sich zwei kategorische Widersprüche zur neuhumanistischen Diskursformation. Zunächst konnte eine abstrakte Zielstellung (Persönlichkeit, Humanität, Bildung) nicht mehr berücksichtigt werden. Ziele aus diesem Bereich müssten zur Formulierung einer allgemein nachprüfbaren Zielstellung konkretisiert werden (welche Persönlichkeit? Welche Humanität? Welche Bildung?). Des Weiteren war der Bildungsprozess ein anderer. Nicht die Auseinandersetzung des Einzelnen mit einem Unterrichtsgegenstand führte zur 2163 2164 2165 2166 2167 2168
Knauss, Lehrplanentwicklung in Bayern, S. 37f. Maier, Zwischenrufe, S. 11, vgl. auch ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 26f. Vgl. ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 7. Ebd., S. 5. Vgl. BHStA MK 81124, Auflistung der Teilbereiche des Zentrums für Bildungsforschung (Arabellastr. München) zur PK zu dessen Einrichtung, 10. 02. 1972. 2169 BHStA MK 81212, ISP, Abt. Allgemeine Wissenschaften, Entwurf: Einführung in den Curricularen Lehrplan – Begründung und Begriffe, gez. Westphalen, 12. 06. 1972.
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individuell geprägten Bildung, sondern einem vorgegebenen Erkenntnisziel (Qualifikation) für alle wurde ein Gegenstand als Mittel zugeordnet. Auf den Schüler bezogen hieß dies: »Erfolgreiches Lernen drückt sich nach verbreiteter Anschauung durch eine Verhaltensänderung des Schülers aus.«2170 Maiers Vorstellungen entsprach das insofern, als der Anwendungsbezug auch in der Kollegstufe deutlich erkennbar werde. Auch explizit griff Maier die neuhumanistische Vorstellung von Bildung als radikal subjektivem Akt ohne weiteren Außenbezug immer wieder an; und ebenfalls der ISP-Mann Klaus Westphalen attestierte dem Humanismus mitsamt seinen Erben, dass »auch hier kein Menschenbild mehr aufgehoben« sei2171. Die »Wiedergewinnung des Erzieherischen« Die szientistische Diskurformation blieb bis zu diesem Punkt die dominante im Konzept der Curricularen Lehrpläne. Allerdings war Hans Maier selbst ein anderer Aspekt in der Schule viel wichtiger : die Erziehung, die er in den Entwicklungen der vorangegangenen Jahre vermisste. Dabei kritisierte er just, was bis wenige Jahre zuvor Selbstverständnis der bayerischen Bildungspolitik war, nämlich gesellschaftlichen Entwicklungen zu folgen und sie nicht zu betreiben: »Die Veränderungen des Bildungswesens kommen mehr von außen, aus Anpassung an gesellschaftliche Trends, als von innen, aus neuen pädagogischen Bewegungen.« Aus Maiers Wunsch einer »Wiedergewinnung des Erzieherischen«2172 erwuchs auch ein entsprechender Anspruch an die Curriculumarbeit des ISP, ihre Grundsätze anzupassen. Der Curriculum-Forschung an sich – und somit dem Kern der szientistischen Diskursformation – attestierte Maier nämlich, sie leide »an einem erzieherischen Defizit, soweit sie sich – wie bisher – im Wesentlichen an der Gesellschaftsadäquanz der Lehr- und Lerninhalte orientiert. Hier wird Modernität zu einem Reduktionsvorgang; die ›Entrümpelung‹ der Lehrpläne führt zu einer radikal tagesbezogenen Sicht der Dinge; Erziehung wird wesentlich Einweisung in den erreichten Zivilisationszustand, wobei die Gegenwart als Maß von Herkunft und Zukunft genommen wird. Oft spielt ein unreflektierter Utilitarismus mit: Bildung dient wesentlich als Orientierungsmittel in den komplexen Zusammenhängen der Gegenwartsgesellschaft, Traditionsorientierung wird höchstens unter dem Gesichtspunkt notwendiger Verfremdung zugelassen. Erziehung wird Andacht zum Faktischen.«2173 Der ISPAbteilungsleiter Klaus Westphalen, später Pädagogikprofessor in Kiel, Vater des Curricularen Lehrplans, widersprach ihm nicht. Er differenzierte zwischen 2170 2171 2172 2173
Ebd. Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 66. Maier, Zwischenrufe, S. 57f. Ebd., S. 29f.
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»Bildung als den umfassenderen Begriff […], als die Gesamtheit dessen, was der einzelne Mensch sich aneignet, um eine unverwechselbare Individualität zu gewinnen«, also dem neuhumanistischen Bildungsbegriff auf der einen, und »Erziehung im engeren Sinne [als] jene ethisch-charakterliche Ausformung eines Menschen […], die zu bestimmten Verhaltensweisen gegenüber Mitmenschen und gesellschaftlichen Gruppen führt«2174 auf der anderen Seite. Gerade unter der Prämisse dieser Unterscheidung ist interessant, dass die bayerische Erziehung sich im Rahmen der Curriculumentwicklung zwar einer Wiedergewinnung des Erzieherischen verschrieb, aber von einer Wiedergewinnung des Bildenden nichts zu lesen war. Wo Maier also selbst eine größere Weltzugewandtheit und einen stärkeren Anwendungsbezug der Schule forderte und sich damit von der – allerdings gleichfalls von Erziehung in diesem Sinne baren – neuhumanistischen Konzeption absetzte, glich er diesen Utilitarismus durch die Forderung nach paralleler aktiver Erziehung anhand überzeitlicher Werte aus. Die Schule müsse »mehr darauf bedacht sein, die mitgebrachten Vorstellungen zu ordnen und die Unterscheidungs- und Kritikfähigkeit in den Mittelpunkt der pädagogischen Anstrengungen zu stellen«2175, und dazu »durch Informationskritik, Medienkritik, Pressekritik, Sprachkritik den einzelnen fähig machen, das Zweithandgewirkte, Vermittelte, manipulativ Gefärbte zu durchdringen, die Unterschiede der Geister zu bewirken und sich den Weg zu kontrollierter Erfahrung […] zu öffnen«2176. Mit Kritikfähigkeit war an dieser Stelle nicht das Infragestellen tradierter Strukturen gemeint. Sie wandte sich viel mehr direkt gegen die als Manipulation und Indoktrination wahrgenommenen Ansätze der Schulreformen nach gesellschaftlich-emanzipativer Konzeption. Interessant ist, wie Maier selbst seinen Blick auf den Bildungsdiskurs offenbart, in dem »Erziehung […] ein schwindender Begriff« sei – »Kaum ein Kulturpolitiker redet von Erziehung, kaum ein Kommentator greift die entsprechenden Formeln der Verfassungs- und Schulgesetze auf, ganz zu schweigen von der wissenschaftlichen Pädagogik, die das Feld der Erziehungslehre ebenso kümmerlich bestellt, wie sie den Bezirk der Unterrichtslehre (Didaktik) fast ins Uferlose ausgedehnt hat.« Zwar komme der Erziehungsbegriff noch im Rahmen der Diskussion um die Vorschulerziehung zum Tragen, müsse aber Maiers Ansicht nach darüber hinausreichen2177. Mit Erziehung meint Maier hier nicht den formalen Aspekt des Vorgangs, sondern deutet ihn unmittelbar materiell aus. Was aktuell die seiner Ansicht nach entstandene »erzieherische Lücke« 2174 2175 2176 2177
Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 57. Ebd., S. 43. Maier, Zwischenrufe, S. 57f. Vgl. ebd., S. 31f.
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füllte, galt ihm nicht gleichermaßen als Erziehung nach anderen Maßstäben, sondern als »neue Ideologien […], die dem verunsicherten jungen Menschen Führung und Sicherheit versprechen«2178, oder genauer »ein Pathos der Erziehung und des Erziehers […], das an die Systemprogramme der klassischen Pädagogik des Deutschen Idealismus erinnert«, den er bei Herbert Marcuse ausmacht, und darüber hinaus die (dann doch wieder) »Erziehung zur Revolution« innerhalb der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation2179. Wie im ersten Teil ausgeführt, berühren sich hier gesellschaftlich-emanzipative und werterzieherische Diskursformationen materiell, unterscheiden sich aber durch die gegenseitige Nichtanerkennung, die Abgrenzung vom jeweils anderen. Etwas mehr Anerkennung fand die formale Tatsache der Erziehung bei ISP-Leiter Westphalen, der unverblümt erklärte: »Die emanzipatorische Bewegung dreht sich demgegenüber fast ausschließlich um Erziehung.«2180 Gegen diese »kritische Erziehung« wendete sich laut Westphalen eine Gegenströmung der »Pädagogischen Erneuerung« mit Hans Maier an der Spitze. Für diese Bewegung sei neben gleichermaßen »Mündigkeit, Verantwortungsfähigkeit, sogar systematischer Kritikerziehung« vor allem »das eigentlich Pädagogische« wichtig, worunter Westphalen »die Einweisung in die Kultur, die Ordnung der Vorstellungswelt, das Erkennen des Allgemeinen, die Erschließung sozialer und beruflicher Dimensionen, die Nutzung des erworbenen Wissens, […] ferner Selbstbeherrschung, Individualität, gesellige und politische Kultur, […] die Bildungsziele der Verfassung wie Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen«, im Grunde »Maßstäbe für sittlich zu verantwortendes Handeln«2181 verstand. Noch einmal: Nicht die Erziehung zu wertgeleitetem Handeln, sondern die Vorgabe eines Maßstabs macht die werterzieherische Diskursformation aus und unterscheidet sie von der neuhumanistischen. Westphalen schlug dazu vor, aus der »conditio humana, […] der Sonderstellung des Menschen in Abhebung vom Tier« gewisse verallgemeinerbare »Grundtatsachen humaner Bildung« abzuleiten. Aus der Tatsache des Logos schloss er als »pädagogische Konsequenz […] das entschiedene Festhalten an sprachlich-philosophischer Bildung«; aus der Möglichkeit, Vergangenheit und Entwicklung zu reflektieren, schloss er die Notwendigkeit, Geschichtsbewusstsein zu vermitteln; aus der Fähigkeit des Menschen, »mittels seiner Arbeit Objekte zu schaffen«, folgerte er, »die Naturwissenschaften, die Gegenstände der Kunst, die menschlichen Konstruktionen aus Ideen, Überzeugungen und auch Materialien« zu unterrichten, allerdings »wieder deutlich unter 2178 2179 2180 2181
Maier, Haushaltsrede 1973, S. 224. Ebd., S. 32f. Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 61f. Ebd., S. 63.
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anthropozentrischem, vielfach auch ethischem Vorzeichen«; weil der Mensch sich distanzieren kann, solle die Fähigkeit der Kritik zwischen einem »eventuellen Nonkonformismus« und einem »kritischen Ja […] humanistisches Prinzip aller Fächer sein«; aus der Fähigkeit, »Triebe zu sublimieren und sein Streben auf sog. höhere Werte zu richten« heraus sollte eine »Reflexion und Diskussion von Normen und Werten«, wertpluralistisch aber ohne »Scheu vor Qualitätsbestimmungen« unter besonderer Berücksichtigung des »Verhältnisses des Menschen zu Gott«, durchgeführt werden; aus dem Sozialcharakter des Menschen schloss Westphalen die Unterrichtung über die Rolle der »sozialen Umwelt«; und zuletzt sollte der Mensch doch wieder »als ein Individuum«, als das er sich »im christlichen Humanismus« fühlt, zum selbständigen Denken angehalten werden – einhergehend mit der Heraushebung des »großen und einzigen Menschen, des Genies«, wie in der Renaissance, als Ausgleich zur Massengesellschaft2182. So sehr Westphalen sich hier um abstrakte Begriffe und objektive Ableitung bemühte, so sehr standen diese Aspekte den Zielen anderer Diskursformationen als der werterzieherischen entgegen, und so sehr demonstrierte er den für diese Konzeption bedeutenden Schluss vom Sein aufs Sollen. Hans Maier selbst stellte bezüglich einer solchen Erziehungsleistung die sich aufdrängende »Gretchenfrage an die heutige Schule […]: Woher nimmt sie in der dünnen Luft wertfreier Ideenkonkurrenz die Legitimation zum Normativen?«, verzichtete aber auf die Antwort zugunsten »einiger pragmatischer Hinweise«. Zu diesen zählte er die »Einweisung in die Kultur« als für jegliche Schule eine »indispensable Aufgabe, soll nicht jede Generation wieder unter den zivilisatorischen Standard fallen, den die Gesamtgesellschaft erreicht hat«. Die Erhebung des Existenten zur Norm entspricht wiederum der werterzieherischen Konzeption von Bildung, Maier nennt sie selbst – und hier liegt die Schnittstelle zur Bedarfskonzeption – Systemerhaltung. Schule sei »zu einem wesentlichen Teil stets Aneignung des individuell Unverfügbaren […], dennoch (oder deshalb) von der Gesellschaft für das Individuum für wichtig Gehaltenen, ja ihm verpflichtend Auferlegten«2183. Maier ging also von einem grundsätzlichen kulturellen Konsens aus, von dessen objektiver Gültigkeit und von einem Bildungsbegriff, der von außen gegeben sei und nicht ausschließlich die individuelle Persönlichkeit des Einzelnen zum Vorschein bringe. Intensiver setzte Maier sich Jahre später in seinem Band Anstöße mit der »Frage der Grundwerte« auseinander. Dort betonte er noch einmal, dass der Staat zwar »kein moralischer Zwingherr« sei, aber aus einem »sittlichen Bewusstsein seiner Bürger«, einem »freien Konsens in einer 2182 Ebd., S. 71–74. 2183 Maier, Zwischenrufe, S. 59. Dieselben Formulierungen schlug Maier für den Kulturteil des neu zu erarbeitenden CSU-Grundsatzprogramms vor, vgl. BHStA MK 66503, Maier, Zwischenbericht über die bisherige Arbeit der Unterkommission ›Bildung und Wissenschaft‹ der Grundsatzkommission der CSU, 1973.
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offenen Gesellschaft« eine »objektivierte öffentliche Moral« entstehe2184. Konkurrierende Werte kamen bei Maier dabei nicht vor. Er stellte fest, »dass die Entwicklung und Pflege des Wertbewusstseins gemeinsame Aufgabe von Staat, Gesellschaft, Kirche ist – man kann auch sagen: von Politikern, Bürgern, Christen […].« Der Schritt zum hegelschen objektiven Geist ist von diesen Formulierungen aus nicht mehr weit. Dem Problem, dass an dieser Stelle der Staat Werte durch das Recht erzwingen kann, begegnete Maier mit dem Hinweis darauf, dass »Recht zur Fassade« werde, wenn sich die moralischen Auffassungen in der Gesellschaft wandelten.2185 Für Maier bedurfte es demnach eines »Wertkonsenses als Werk der Freiheit« – nicht zu verwechseln mit einem Wertkonsens der Freiheit –, der dem Einzelnen in der prinzipiellen Offenheit von Wahlalternativen Orientierung in der Wahl gebe2186. Hier zeigte sich die Vorstellung eines formierten Pluralismus. Dass sich die Manifestation von Werten in Recht und Gesetz von der Implementation von Werten über die Schulen unterscheide, thematisierte Maier nicht näher. Die Auffassungen im ISP waren nicht ganz unähnlich zu Maiers, wobei noch härter der politische Zugriff auf die Erziehung legitimiert wurde. In Anlehnung an Montesquieus »Esprit des Lois«, das eine »doppelte Wurzel: das Prinzip der Freiheit und das Prinzip der Staatsraison« habe, erklärte Ludwig Bittlinger : Für die »sich pluralistisch-freiheitlich verstehende Gesellschaft ist die eine Wurzel dieses Geistes die Freiheit der Persönlichkeit, die andere Wurzel ist der common sense – das gemeinsame Verständnis – der Institution(en) des Staates, ausgedrückt und manifestiert in der Verfassung, den sie begleitenden Gesetzen und politischen Willensbildungen.«2187 In explizitem Widerspruch zur lauter werdenden Forderung des Bildungsrates nach mehr Autonomie für die einzelnen Schulen sah das ISP seine Aufgabe zur Unterrichtsorganisation auch darin, die »Gefahr einer Entfremdung von Schule und Staat, von Jugend und Staat«2188 zu bannen. Klaus Westphalen wiederum beantwortete die Legitimationsfrage weniger theoretisch, sondern funktional: Für ihn stand fest, dass »jedermann weiß, dass die Institution Schule intentionale Erziehung betreibt«, und es sei »demokratische Selbstverständlichkeit, die Zielvorstellungen zur schulischen Erziehung […] zugänglich zu machen«. – Ohne normative Grundlagen gehe es nicht, sie ließen sich höchstens verschleiern; und sie zu benennen, sei lediglich Transparenz2189. Otmar Schießl hingegen, Mitarbeiter im ISP, konzedierte freimütig: »Die Verallgemeinerung affektiver Verhaltensweisen ist in der Tat problematisch, 2184 2185 2186 2187 2188 2189
Maier, Anstöße, S. 182. Maier, Böse Jahre, S. 185f. Vgl. ebd., S. 192. Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 102f. ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 6. Westphalen, Zum Richtzielkatalog des Staatsinstituts für Schulpädagogik, S. 149f.
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vor allem bezüglich der aktionalen Komponente. Es ist offenkundig, dass affektive Zielsetzung als gefährliches Instrument ideologischer Uniformierung missbraucht werden kann.« Diese Gefahr relativierte er jedoch durch die Annahme, dass »andere Interessengruppen« Einstellungen prägen würden, wenn die Schule darauf verzichte – was in jedem Falle schlechter sei2190. Maier wandte sich allerdings nicht nur gegen die drohenden ErziehungsSubstitute von links, sondern problematisierte auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, denen besonders mit der Vermittlung von Werten begegnet werden müsse. Durch zunehmende Spezialisierung und wachsende Freizeit verlören Menschen die Möglichkeit, »zu sich« zu kommen. Die Sucht nach »Zonen […], die dem Menschen Einheit, ›Ganzheit‹, humane Erfüllung, unentfremdetes Dasein versprechen – oder auch nur vorgaukeln«, münde ohne bewusste Kanalisierung in »der allgegenwärtigen Sexualisierung nicht weniger als jenen Demokratisierungs- und Partizipationsmodellen, in deren Hintergrund ein Rousseau’scher Begriff universeller Einheit von Mensch und Gesellschaft steht.«2191 An anderer Stelle geht der Kultusminister dann auch dezidierter auf den materiellen Gehalt seiner formalen Erziehungsforderung ein. In Berufung auf Kant nennt er die Eigenschaften »diszipliniert, kultiviert und zivilisiert« als Orientierungspunkte für eine »Neubesinnung auf den Gedanken der Erziehung«. Ausdekliniert ging die Disziplin von der Selbstbeherrschung über den Triebverzicht (mit Bezug auf Freud die »Grundlage jeder Kulturleistung«) bis hin zur »Fähigkeit zur Zeit- und Handlungsdisposition«. Kultiviert bedeutete für Maier die Herausbildung der individuellen Persönlichkeit. Zivilisiert sollte zuletzt »die Einfügung in den sozialen Zusammenhang durch die Ausbildung ›ziviler‹ Sitten und Umgangsformen, sozialer Tugenden […] mit einem heute fast verschwundenen Nebenton auf Höflichkeit, Geselligkeit und Aufgeschlossenheit für den Nebenmenschen«2192 bedeuten. Eine Wiedergewinnung des Erzieherischen wie von Maier proklamiert, stand insofern im Gegensatz zur Curriculumtheorie, die streng wissenschaftlich in der szientistischen Diskursformation angesiedelt war. Das Problem der Lernzielfindung Für die Lernzielfindung – das ungelöste Problem der szientistischen Diskursformation – erkannte man darüber hinaus bereits frühzeitig an, dass sich »Lernzielreihen […] niemals einwandfrei logisch induzieren oder deduzieren [lassen]. Man kommt also nicht folgerichtig von einem Leitziel, z. B. Emanzi2190 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 132f. 2191 Maier, Zwischenrufe, S. 39. 2192 Maier, Anstöße, S. 355f (Vortrag vor dem Kultur-Kongress der Christlich-Sozialen Union in Augsburg am 28. Oktober 1972).
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pation, auf ganz bestimmte Richtziele, Grobziele, Feinziele. Auch der umgekehrte Weg führt nicht zu einheitlichen Ergebnissen.« Damit nahm man den Curricula von vornherein den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität2193 und ohnehin: selbst wenn es für einige Bereiche eine theoretische Möglichkeit wissenschaftlicher Deduktion gibt – »mit welcher charakterlichen Erziehung er [der Schüler] aber auszustatten sei, darüber vermag keine Wissenschaft Auskunft zu geben, das ist eine Frage der Wertung.«2194 Entsprechend stellte Westphalen klar : »›Allgemeine‹ Lernziele orientieren sich an gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen, nicht an wissenschaftlichen Prinzipien.«2195 Das ISP schlug zunächst vor, aus einer »umfangreiche Sammlung allgemeiner LZ aus der veröffentlichten Meinung« zu Lernzielen – konkret »normative Pädagogik (z. B. Hentig, Edding), mehrheitlich anerkannte polit. Zielvorstellungen (nach Möller), Futurologie, Kulturphilosophie, Fachdidaktik, Anthropologie u. a.«, angereichert durch die »Deduktion von allgem. LZ« und die »Erweiterung durch konsistente LZ (z. B. Roman – Theater)« sowie durch die »Induktion fachspezifischer LZ« aus Unterrichtserfahrung und vorhandenen Lehrplänen ein konsistentes Lernzielkonstrukt zu bilden, mit dem operiert werden könnte2196. Aus der Distanz erscheint der Unterschied zu Saul B. Robinsohns Vorschlag zur Lernzielfindung nicht zu gewaltig zu sein. Zur Erprobung der Kollegstufe wurde eine vereinfachte Version der Lernzielfindung benutzt und »bewusst auf selbständige Grundlagenforschung verzichtet«. Die Lernziele setzten sich damit aus den bekannten Erkenntnissen der Curriculumforschung und weiterer »Sichtung der ›veröffentlichten Meinung‹ über Lern- bzw. Bildungsziele«, der Inbetrachtnahme der »Sicht der Jugend«, der »Anforderungen der Wissenschaft« zur Studienvorbereitung sowie »auf Grund der Praxis der Schulfächer und lernpsychologischer Erfahrungen« zusammen2197 und bezogen sich nur auf die jeweiligen Fächer. Allgemeine Lernziele wurden nicht genannt, was wohl maßgeblich mit den unter Zeitdruck während der ersten Versuche zur Kollegstufe fertiggestellten Handreichungen zusammenhängt2198. Die zur Erprobung der Kollegstufe 2193 BHStA MK 81212, ISP, Abt. Allgemeine Wissenschaften, Entwurf: Einführung in den Curricularen Lehrplan – Begründung und Begriffe, gez. Westphalen, 12. 06. 1972. Vgl. auch ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 17: »Somit stellt der vorliegende Katalog einen Kompromiss vieler erörterter Meinungen dar, der nichts sein will als ein Diskussionsangebot, da Lernziele – entgegen den Hoffnungen der Curriculumtheorie – bisher noch nicht wissenschaftlich ableitbar sind.« 2194 Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 61. 2195 Westphalen, Zum Richtzielkatalog des Staatsinstituts für Schulpädagogik, S. 149. 2196 BHStA MK 81071, Westphalen, Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik, Papier : Methoden der Lernzielfindung, 09. 03. 1971. 2197 Westphalen, Klaus, Beschreibung des Projekts ›Curriculare Lehrpläne für die Kolleg-Stufe‹ am Staatsinstitut für Schulpädagogik München. In: Schulreform in Bayern 2, S. 382. 2198 Vgl. ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 12f.
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herausgegebenen Curricula waren letztlich zu guten Teilen das, was man mit der Einrichtung des ISP gerade hatte vermeiden wollen, nämlich ein nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft aus rein didaktischen Überlegungen zusammengefasster und ausschließlich funktional begründeter Plan für die Bewältigung der Oberstufe, Frucht der szientistischen Diskursformation, in die die Didaktiker des ISP aufgrund ihrer fachlichen Beschäftigung integriert waren. In den Lehrplänen gingen »alle erreichbaren Erfahrungsberichte aus anderen Ländern, die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates sowie die in der Kultusministerkonferenz festgelegten Grundsätze«2199 auf, wie Maier selbst verkündete, aber keine erzieherischen Leitbilder. Die Orientierung des Unterrichts an durch Lernziele festgelegte Lerninhalte beschränkte diesen also entgegen Maiers erzieherischen Vorstellungen zunächst auf das Gegenständliche, was nach ihrer Veröffentlichung auch als »planmäßig angelegter Verlust des Erzieherischen«2200 erkannt wurde. Das wurde noch einmal offenbar, als das ISP 1973 erste allgemeine Lernziele zur Diskussion stellte2201. Diese gaben übergeordnete Ziele an, die die einzelnen fachdidaktischen Ziele verbanden, waren aber nicht systematisch auf allgemeine erzieherische Maximen hin ausgerichtet. Laut Einleitung waren die Ziele, »insbesondere das in ihnen erkennbare Menschenbild«, zwar vom deutschen Grundgesetz sowie der bayerischen Verfassung abgeleitet2202. Ihre Erarbeitung folgte dabei aber dem Prinzip einer Reproduktion des Status quo, was Maier ja nicht zuletzt als »Andacht zum Faktischen« kritisiert hatte und auch von den Autoren selbst problematisiert wurde: »Der vorgelegte Versuch eines allgemeinen Richtzielkatalogs ist dabei nicht frei von dem Dilemma jeder Curriculumtheorie: Sie will Bildungsreform durch Wendung von den Stoffen zu den Zielen ermöglichen, scheut aber vor einer letzten Wertausfüllung dieser Ziele zurück, da sie pluralistisch offen bleiben und Einseitigkeiten vermeiden will.«2203 Im Nachgang bezeichnete auch Westphalen die Curriculumentwicklung in Bayern bis zu diesem Zeitpunkt als »ohne Zweifel unzeitgemäß«, da statt dem Fokus auf den Erziehungsauftrag »Strukturfragen wie die Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe oder die Orientierungsstufe«2204 im Vordergrund gestanden hatten. Zwar habe die Veränderung in den Fächern gemäß jeweiliger Ziele stattgefunden, »doch was Bil2199 Bildungspolitik am Scheideweg, S. 21. 2200 Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 92. 2201 Staatsinstitut für Schulpädagogik, Allgemeine Lernziele für unsere Schulen. In: Schulreport 2/1973, S. 17f. Trotz der extra für diese Lernziele eingerichteten neuen Kategorie »Zur Diskussion gestellt« wurden die Lernziele weder weiter diskutiert noch abgeändert. Sie finden sich genauso bspw. wieder in: Institut für Schulpädagogik, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 17. 2202 Ebd. 2203 ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 17. 2204 Westphalen, Zum Richtzielkatalog des Staatsinstituts für Schulpädagogik, S. 142.
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dung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule sind und wozu sie dienen, diese Kernfrage hat die Curriculumreform aus dem Auge verloren.«2205 Das ISP hatte zunächst, ausgerechnet auf Hartmut von Hentig rekurrierend, Veröffentlichungen zu Bildungsfragen auf allgemeine Vorstellungen vom Auftrag der Schule untersucht und – ein typischer Schluss der szientistischen Diskursformation – festgestellt, »dass Richtzielvorstellungen über schulische Inhalte in der pluralistischen Gesellschaft keineswegs so sehr verschieden sind«. Diese Vorstellungen wurden dann »mit Verantwortungsgefühl« beurteilt und zusammengestellt2206 ; Lernziele wurden nicht in den Katalog aufgenommen, wenn sie »monistische Anschauungen, die mit dem Anspruch der Alleingültigkeit auftreten«, widerspiegelten. So wurde etwa »die Systemveränderung als Wert an sich ausdrücklich abgelehnt«2207. Eine endgültige Erschließung von Leitzielen wurde bei der Veröffentlichung der Lernziele in Aussicht gestellt, ohne dass dies jedoch noch umgesetzt wurde. Eine erste Mutmaßung über mögliche Leitziele lässt aber bereits tief blicken: »Leitziel könnte sein, den künftigen Bürger zu befähigen, innerhalb der Ansprüche einer demokratischen, industriellen und offenen Gesellschaft seinen eigenen Standort zu finden.«2208 Der jedem eigene Platz in der Gesellschaft war eine Vorstellung aus der werterzieherischen Diskursformation und auch der mittlerweile zum Leiter des ISP avancierte Klaus Westphalen mahnte nun an, die Curricularen Lehrpläne mit Werten anzureichern: »Gegenüber dieser Beliebigkeit muss der Staat dafür Sorge tragen, dass bestimmte Ziele erfüllt, bestimmte Werte gesetzt werden.«2209 Westphalen bemängelte die Selbstverleugnung von konservativer Seite, die sich formalistisch hinter Verfassungen verschanze2210. Diese Kritik ging nicht zuletzt an die politischen Entscheider, denn »der vom Staatsinstitut für Schulpädagogik erarbeitete Katalog fachübergreifender Richtziele […] versucht zwar bereits, solche Einstellungen und Werthaltungen zu erfassen, die Wertausfüllung des übergeordneten Zielbereichs ist jedoch Sache der Bildungspolitik«2211 – und diese blieb, bei aller abstrakter Auseinandersetzung mit dem Thema vonseiten Maiers, in ihrer konkreten Ausgestaltung aus. 2205 Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 64. Für eine genauere Analyse der unsystematisch in den Curricula der einzelnen Fächer indizierten Wertaussagen vgl. Knewitz, Werte im Diskurs, S. 91–96. 2206 Westphalen, Klaus, Zum Richtzielkatalog des Staatsinstituts für Schulpädagogik, S. 143. 2207 Ebd., S. 147. Bezug wird dabei genommen auf Lernziel 12.3 des Katalogs: »Bewusstsein von der Veränderbarkeit der Welt. Einsicht, dass Veränderungen hilfreich, aber auch gefährlich sein können.« 2208 Staatsinstitut für Schulpädagogik, Allgemeine Lernziele für unsere Schulen. In: Schulreport 2/1973, S. 17f. 2209 Westphalen, Klaus, Praxisnahe Curriculumentwicklung, S. 16f. 2210 Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 65f. 2211 Schulreport 6/1974, S. 29.
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Affektive Lernziele oder der Lehrer als Mittel der Erziehung? Obgleich die selbst beklagte Scheu vor einer bewussten Setzung wertender Leitziele dazu führt, dass keine großen Linien, kaum greifbare Wertsetzungen in den so entstandenen Curricularen Lehrplänen nachzuzeichnen sind, enthalten sie bereits die formale Anlage affektiver Lernziele als »Lernziele aus dem Gefühls-, Interessen-, Einstellungs- und Wertbereich, z. B. Bereitschaft zur Toleranz; Freude an musikalischen Werten«2212. Auf Betreiben des Kultusministers wurde der erzieherische Fokus noch einmal geschärft2213. Das ISP musste – und wollte – entsprechend der politischen Zielstellung, erzieherisch zu werden und nicht durch pure Wissenschaftlichkeit einen erziehungsfreien Unterricht entstehen zu lassen, die Idee des Curriculums nämlich dahingehend weiterentwickeln. Als Prämisse galt: »Didaktische Entwürfe, das sind im Rahmen der Arbeit des ISP die Curricularen Lehrpläne (CuLP) und was zu ihnen gehört«, müssten im Rahmen der »Wiedergewinnung des Erzieherischen« die »Reintegration von Lernen (der Sachen) und Erziehung (Sinn- und Wertorientierung)« bewältigen. Hieraus ergab sich die Frage, »wo der systematische Ort innerhalb der didaktischen Entwürfe (CuLP) ist, an dem die Integration geleistet werden muss, wie sie (technisch) geleistet werden kann und auf welchen Sinn sie sich richten soll.«2214 Früh war so der Gedanke gekommen, an der Spitze der pyramidenartig aufgebauten »Curricularen Lehrpläne« neben kognitiven und psychomotorischen auch sogenannte »affektive Lernziele« zu verankern. Diese sollten »Lernziele aus dem Gefühls-, Interessen-, Einstellungsund Wertbereich, z. B. Bereitschaft zur Toleranz; Freude am musikalischen Werken« darstellen. In der Schwierigkeit, affektive Lernziele im Unterricht umzusetzen, wurde zwar ein didaktisches Problem erkannt2215, aber in ihrer Zielsetzung kein grundsätzliches. Wo zuvor eine abstrakte Persönlichkeitsbildung durch die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Sache gestanden hatte, wurde nun die Option eröffnet, konkrete Werte zu setzen, die vom Einzelnen anerkannt werden sollten: »Affektive Lernziele beschreiben Einstellungen zu Sachverhalten, Objekten und Personen. Einstellungen können geprägt sein durch Werthaltungen, Interessen, Gefühle oder Triebe. […] Im Rahmen der schulischen Möglichkeiten versuchen affektive Lernziele Werthaltungen wenigstens anzubahnen, die für den Aufbau einer selbst- und sozialverantwortlichen Persönlichkeit notwen-
2212 ISP, Curriculumarbeit in Bayern 2, S. 23. 2213 Vgl. Westphalen, Klaus, Zum Richtzielkatalog des Staatsinstituts für Schulpädagogik, S. 143. 2214 Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 91. 2215 BHStA MK 81212, ISP, Abt. Allgemeine Wissenschaften, Entwurf: Einführung in den Curricularen Lehrplan – Begründung und Begriffe, gez. Westphalen, 12. 06. 1972.
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dig sind.«2216 Dabei sollten sogar »Situationen, in denen entsprechendes affektives Verhalten erwünscht ist«, beschrieben werden2217. Im Grunde war also die Verallgemeinerung bestimmter Maßstäbe für ganz konkretes Handeln, also letztlich die Setzung von Werten, durch Staat und Schule dezidiert vorgesehen2218. Dazu wurde im ISP bereits ein detailliertes curriculares Verfahren erarbeitet. Bezüglich dessen Durchsetzung im Unterricht erklärte Schießl, dass auch ein »Erziehungsweg der Gewöhnung […], d. h. Handlungen ohne eigene Wertreflexion, während umgekehrt ein Weg der Identifikation angestrebt wird«, je nach Alter »gerechtfertigt, vielleicht sogar erforderlich« sei. Statt also Werte zu fördern, aus denen bestimmte Handlungen erwüchsen, sollte sich durch die Einübung auf der Handlungsebene eine unreflektierte Identifikation mit den vorgesehenen Werten ergeben. Erst mit zunehmendem Alter werde dieses Schema allmählich umgekehrt und die »eigene Wertreflexion« stehe vor der Handlung. Zur Überprüfung des Lernerfolgs, einer curriculumgemäßen Lernzielkontrolle, schlug Schießl »verschiedene Beobachtungsmethoden und Einstellungstests« vor, warnte allerdings davor, dass bei einer Bewertung dieser Ergebnisse »heuchlerisches Verhalten« die Folge sein könne2219. Statt der Benotung werde gemäß Curriculum-Theorie bei nicht erfüllter Erwartung der Lernschritt wiederholt bis das Ergebnis den Vorgaben entspreche. Schießls Kollege am ISP Ludwig Bittlinger äußerte eine alternative Herangehensweise. Er sah nicht die allgemeinen Lehrziele, sondern die Ebene des Lerninhalts als die richtige für die Implementierung erzieherischer Ziele an: »Wer dieses Erzieherische festhalten will, muss es am Gegenstand festhalten.« Dementsprechend müsse künftig jedem Gegenstand gleichzeitig ein ihm nicht bereits innewohnender erzieherischer Sinn zugeschrieben werden2220. Methodisch war der Unterricht so vorgesehen, dass er sich nicht durch Konditionierung, sondern durch Erziehung auszeichnete, unterschieden dadurch, dass
2216 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 130–132. Vgl. auch: »Affektive Lernziele verhelfen dazu, dass der Schüler neben kognitiven Fähigkeiten auch Einstellungen und Werthaltungen gewinnt, und zwar zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu den Gegenständen und Verfahren des Unterrichts, zu seinen künftigen Aufgaben in Gesellschaft und Staat.« Schulreport 6/1974, S. 29. 2217 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 134f. 2218 Vgl. beispielhaft Ideen zur Objektivierung der Bewertung eines Jugendbuchs bei Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 130–132. Vgl. auch: »Affektive Lernziele verhelfen dazu, dass der Schüler neben kognitiven Fähigkeiten auch Einstellungen und Werthaltungen gewinnt, und zwar zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu den Gegenständen und Verfahren des Unterrichts, zu seinen künftigen Aufgaben in Gesellschaft und Staat.« Schulreport 6/1974, S. 29. 2219 Schießl, Affektive Lernziele in der Lehrplanarbeit, S. 134–136. 2220 Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 94f.
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Letztere eine Einsicht sei2221. Die Wiedergewinnung des Erzieherischen bedeutete in diesem Sinne: »Aufklärende Einstellungsbeeinflussung nach bestem Gewissen und Wissen ist das vornehmste Geschäft des erziehenden Unterrichts.«2222 – und diese hatte das ISP zu planen. All diese Ansätze im ISP, die die formalen und methodischen Möglichkeiten zur Implementierung werterzieherischer Elemente im Unterricht über das Mittel der Lehrplan- beziehungsweise Curriculumarbeit ausführlich behandelten, liefen ins Leere. Die Zielstellung der Politik, der Wille des Instituts, die methodische Anlage in den Curricularen Lehrplänen – die Bedingungen für eine Wiedergewinnung des Erzieherischen waren in der ersten Hälfte der siebziger Jahre gegeben. Aber aus keiner der verfügbaren Quellen geht der Versuch zur Ausarbeitung konkreter affektiver Lernziele hervor. Sie wurden immer wieder erwähnt, aber als Abstraktum und ohne inhaltliche Ausfüllung2223. Die Curricularen Lehrpläne, die in der Folge herausgegeben wurden, werden sogar alle mit einer Präambel eingeleitet, die formuliert, dass »dieser Lehrplan darauf verzichtet, erzieherische Handlungen bis ins einzelne festzulegen«2224. Bis zur Umstellung der Grundschullehrpläne 1985, die die Erziehung vor die Wissensvermittlung setzten2225, bleibt in den bayerischen Lehrplänen ein Vakuum in der intendierten Wertvermittlung zu verzeichnen. Es hatte sich während dieser Zeit schlichtweg kein allgemeines Lernziel, kein externer Deduktionspunkt ergeben; nicht aus der Wissenschaft, der die Mitarbeiter des ISP gehorchten, nicht aus politischen Vorgaben, denen die Institution hätte folgen können. Noch 1975 hieß es: »Verstärkte Hinwendung zum Erzieherischen bleibt guter Wille und Deklaration, wenn sie nicht im Curricularen Lehrplan ihren Ausdruck findet. Es wird eine der wichtigen Aufgaben sein, pädagogische Impulse in den Plänen zu lokalisieren und affektive und psychomotorische Lernziele und Aspekte so einzubringen, dass sie von der Schulpraxis angenommen und verwertet werden.«2226 Welche das waren, blieb auch hier offen. Der Grund dafür mag gewesen sein, dass die Schulen ab Anfang der siebziger Jahre aus dem politischen Fokus gerieten und mit der Abnahme des öffentlichen Interesses auch die Bereitschaft der Politik, hier kontrovers zu agieren, zurückging. Dass die Trennung politischer Entscheidungsmacht und operativer Ausarbeitung durch die Einrichtung des ISP zu einem Auseinanderfallen der wert2221 Ebd., S. 99. 2222 Bittlinger, Lerntheorien und Erziehung, S. 99. 2223 Etwa 1974 bei der Erstellung des Curricularen Lehrplans für Geschichte, Vgl. Arbeitskreis »Curricularer Lehrplan Geschichte – Kollegstufen«, 30. April 1974 (BHStA Vorläufige Nr. 737, Curricularer Lehrplan Kollegstufe). 2224 KMBl So.-Nr. 18/1979. 2225 Vgl. Seibert, bayerisches Bildungswesen 1964–1990, S. 828. 2226 Scheid, Perspektiven eines Schulpädagogischen Instituts, S. 52.
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erzieherischen Bestrebungen durch das Kultusministerium und einer szientistischen Veranlagung des wissenschaftlichen Instituts geführt habe, kann hingegen ausgeschlossen werden. Der Einfluss des Ministeriums auf die Abläufe im ISP, und nicht zuletzt en detail auf die herausgegebenen Curricularen Lehrpläne, lässt sich gut nachweisen. Das Ministerium hielt sich zu jeder Zeit die Möglichkeit der Einwirkung offen: »Generalinstanz ist der politische Entscheidungsträger.«2227 In welchem Ausmaß das Ministerium auf die Erstellung der Curricularen Lehrpläne im Einzelnen Einfluss nahm, ist zwar anhand der zur Verfügung stehenden Akten nicht umfassend nachvollziehbar. Einzelne bekannte Vorgänge lassen aber darauf schließen, dass das Ministerium sehr genau verfolgte, was an die Schulen kam und sich aktiv einmischte2228. Selbst in den Druckfahnen Curricularer Lehrpläne korrigierte »Änderungen rein sprachlicher Natur« wurden dem Kultusminister persönlich noch einmal zur Billigung vorgelegt2229. Während ISP und Ministerium also ohnehin keine größeren Diffe2227 Dokumentation des CERN/IPN-Seminars, 28. September bis 11. Oktober 1975 in Schliersee / Obb., Aufzeichnungen zum Referat »Verbindung von Forschung, Schulpraxis und Politik im und über das Staatsinstitut für Schulpädagogik (ISP) in München« von Georg Scheid, S. 17–21. 2228 Ein kritischer Brief des Psychologischen Instituts der Universität Würzburg wurde vom Kultusminister dem ISP weitergeleitet mit den Worten: »Das Staatsinstitut wird gebeten, bei weiteren Beratungen des Curricularen Lehrplans Psychologie […] die kritischen Äußerungen Professor Arnolds zu berücksichtigen«, Kultusministerium an ISP, ohne Datum (BHStA MK Vorläufige Nr. 737, Curricularer Lehrplan Kollegstufe). Auf dem Durchschlag eines Briefes, der die Rücksendung des entsprechenden Lehrplans bestätigt, wurde intern vermerkt: »Der CuLP Psychologie wurde am 28. Mai 1974 von OStD Dr. Scheid ISP zurückerbeten, damit die Kritik des Prof. Dr. Arnold eingearbeitet werden kann.« (Ebd.). Ein weiteres Beispiel gezielter Einflussnahme ist bei den Lehrplänen für Erdkunde erkennbar: »In der Anlage reicht das Staatsministerium dem Staatsinstitut für Schulpädagogik den ›Curricularen Lehrplan für den Erdkundeunterricht in der Kollegstufe‹ mit der Bitte um Überarbeitung zurück. Dabei mögen folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Dem Lehrplan liegt eine moderne Auffassung von Geographie zugrunde, die – stark gesellschaftswissenschaftlich ausgerichtet – vor allem der sog. »Länderkunde« eine Absage erteilt. Diese Auffassung ist in der Tat weithin der Trend in der Geographie; sie bedeutet freilich – auch in dem vorliegenden Lehrplan –, dass die Grenzen zu den Gesellschaftswissenschaften fließend werden. In der Praxis dürfte ein großer Teil jener Geographen, die das Fach in Verbindung mit den Naturwissenschaften studiert und betrieben haben, als Kursleiter für die Kollegstufe ausfallen.« Brief des Kultusministeriums an das ISP, 18. Juli 1974: Kollegstufe; hier: Curricularer Lehrplan Erdkunde, (BHStA MK Vorläufige Nr. 737, Curricularer Lehrplan Kollegstufe). Weiterhin wurde in einem internen Rundschreiben des Kultusministerium angewiesen (ebd.): »Die zuständigen Fachreferate werden gebeten, eine kritische Durchsicht dieser vorgelegten Curricularen Lehrpläne trotz der Überlastung […] mit einzuplanen.« 2229 Vgl. BHStA MK 81216, zu Nr. A/8-8/136 276, Betreff: Curriculare Lehrpläne für die Orientierungsstufe (KMB vom 7. 3. 1974 Nr. A/8-8/136 276); hier : Drucklegung des Curricularen Lehrplans für Erdkunde, 07. 03. 1974: »Bei der Korrektur der Druckfahnen des Curricularen Lehrplans Erdkunde für die Orientierungsstufe wurden auf Bitten des Arbeitskreisleiters GP Dr. Jahn und Oberstudienrat Dr. Kistler (ISP) gegenüber der von Herrn
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renzen zu überwinden hatten, war gleichsam der politische Zugriff auf die Lehrplanarbeit stets eng genug, um entscheidenden Einfluss zu nehmen. Lehrer statt Lernziele Letztlich waren es für Maier selbst wohl nie die Curricula, nie die »affektiven Lehrziele«, die er mit seinem Ruf nach Erziehung gemeint hatte, wenngleich er sie gewiss als Integrationsformen zwischen einer anwendungsorientierten und einer werterzieherischen Bildung keineswegs ausschloss. Maier begriff sich als Geisteswissenschaftler auf der intellektuellen, als Pragmatiker auf der politischen Ebene, die empirischen Bildungswissenschaften, die szientistische Diskursformation blieben ihm fremd. Von Anfang an war das ISP vor allem eine Notwendigkeit, als formale Anpassung an die Anforderungen der Zeit, als Demonstration der Offenheit und auch zur operativen Professionalisierung des Unterrichts. Aber bereits im Verzicht auf Feinziele in den Curricularen Lehrplänen, um dem Lehrer mehr Freiraum zu geben, wurde deutlich, an welcher Stelle für Maier eine »Wiedergewinnung des Erzieherischen« alleine möglich war – nämlich zwischen Lehrer und Schüler : »Fest steht auch, dass die Erziehungsarbeit größere Verantwortung in die Hand eines jeden Lehrers legt. Probleme müssen gelöst und Entscheidungen getroffen werden, häufig auch ohne Absicherung durch behördliche Regelungen.« Seine nie ganz konkret werdenden Vorstellungen zur materiellen Richtung des von ihm geforderten Erziehungsauftrags speisten sich aus der Vorstellung, dass es ein ganz konkretes, objektives Wertegerüst gebe, das allgemein schwer zu beschreiben sei, aber situativ und intuitiv angewendet werden könne. Sein Appell ging insofern vor allem an die Lehrer und deren Selbstbewusstsein: »Ich bitte alle Lehrer, im Erziehungsfeld dieses Kapital des Vertrauens zu mehren in geduldiger Kleinarbeit. Dabei sollte das alte pädagogische Hausrezept immer wieder verwendet werden, wonach ein freundliches, aufbauendes Wort ohne sich anbiedernden Beigeschmack viel mehr bewirkt als eine mathematisch korrekt festgelegte und als gerecht empfundene Zensur für intellektuelle Leistung.«2230 Auch ISP-Abteilungsleiter Klaus Westphalen relativierte den Einfluss und die Möglichkeiten politischer und administrativer Vorgaben im Verhältnis zur Spontaneität des Lehrers: »Der personale Bezug ist stark, Bildung und Erziehung haben hic et nunc, d. h. an einer konkreten Sache mit lebendigen Menschen zu geschehen.«2231 Er ging davon aus, dass »die Staatsminister gebilligten Fassung die in der Beilage rot gekennzeichneten Änderungen rein sprachlicher Natur vorgesehen. Ref. A/8 glaubt, dies zur Kenntnis geben zu müssen und bittet um Billigung dieser Korrekturen, die lediglich eine sprachliche Verbesserung bedeuten, von den oben Genannten und Ref. II/4 aber als erwünscht angesehen werden.« 2230 Maier, Anstöße, S. 458 (aus einer Rede, gehalten zur Eröffnung des Hauptschulkongresses am 18. Oktober 1976 in Nürnberg). 2231 Westphalen, Bildung und Erziehung im Curriculum der modernen Schule, S. 59.
Das Beispiel Bayern
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Pädagogische Erneuerung […] von einer breiten Mehrheit der Lehrer ideell und praktisch unterstützt werden«2232 dürfte. Diesem Ansatz nahm sich auch eine eigens eingerichtete Arbeitsgruppe Führungsstil im ISP an, die etwa empfahl, den Übergang von Grund- zu weiterführender Schule möglichst fließend zu gestalten, dass also die Lehrer die Schüler in der Sekundarstufe I noch duzen, aber auch Leistung verlangen sollten2233 ; und auch der für Lehrerfortbildung zuständige Ausschuss im Kultusministerium schloss sich diesen Ideen an2234.
Zwischenresümee: Bayern Als 1974 die CSU-Grundsatzkommission ihre »Allgemeinen Leitsätze zur Bildungspolitik« beschloss, fand sich darin auch die Rückkehr der Landesregierung zum Pfad von vor 1969 wieder. Bereits die erste These bekundete: »Bildung dient nicht nur der sozialen Integration und dem sozialen Aufstieg. Sie wendet sich in erster Linie an den Einzelnen. Sie orientiert sich am Menschen und seiner Freiheit.« Zwar habe Bildungspolitik »soziale Sperren« zu beseitigen, müsse aber nicht nur die Anstrengung, sondern auch die autonome Motivation des Einzelnen vor den Erfolg stellen2235. Alle Maßnahmen, die rund um den Kultusministerwechsel ein Mehr an Integration versprachen, wurden allmählich wieder abgewickelt. Nicht nur die von Anfang an ungeliebten Versuche mit der Integrierten Gesamtschule, sondern auch die mit dem kooperativen Modell, ehemals als Fortführung des gegliederten Schulwesens angepriesen, wurden bis Anfang der 90er Jahre sukzessive eingestellt – der Kurs dahin wurde bereits 1973 eingeschlagen2236. Dasselbe Schicksal erreichte, absehbar ab 1975, die ebenfalls zeitweise in Erprobung befindliche Orientierungsstufe2237. Während also in Hessen in diesem Zeitraum die angestoßenen Reformen konsolidiert wurden, stand in Bayern die Selbstvergewisserung in der Opposition zu den Reformdiskursen der vergangenen Jahre auf dem Plan. Das Schulwesen hatte sich auch in Bayern binnen zehn Jahren völlig verändert. Die Volksschule war in ihrer ursprünglichen Form völlig verschwunden, und zwar nicht nur strukturell, 2232 Ebd., S. 64. 2233 Fachkommission für die Eingangsstufe – Arbeitsgruppe Führungsstil: Überlegungen und Empfehlungen (BHStA MK 52991). 2234 Schulreport 6/1974, S. 29 : Erziehungsziele im Rahmen der Curriculumarbeit (Entnommen aus: Protokoll der Sitzung des Koordinierungsausschusses für Lehrerfortbildung im Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus vom 2. 5. 1974). 2235 BHStA MK 66503, Maier, CSU-Grundsatzkommission: Allgemeine Leitsätze zur Bildungspolitik, 1974. 2236 Vgl. Lehning I, S. 1041f. 2237 Vgl. ebd., S. 1044.
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sondern vor allem in ihrer alten Funktion. Sie diente nicht mehr der volkstümlichen Bildung, der Einweisung ins gesellschaftliche Leben der jeweiligen Gemeinschaft in ihrem sozialen, wirtschaftlichen, und bis in die Konfession hereinreichenden kulturellen Charakter. Diese Aufgabe blieb nur noch in Rudimenten der Grundschule vorbehalten. Die Hauptschule hingegen war zur weiterführenden Schule geworden, die ohne Bindung an Kirche und Gemeinde oder Heimat den einzelnen Schüler bilden sollte. Dieser Wandel war auch Ausdruck einer Verschiebung der Anordnung des Bildungswesens als solches. Wie bereits zu Beginn dieser Studie festgestellt wurde, löste sich erst zu Beginn der sechziger Jahre die Bildungspolitik aus der Kulturpolitik als eigenständiges Politikfeld heraus. In Bayern sind diese Entwicklung und der einhergehende Bedeutungswandel besonders gut zu sehen. Die Volksschule rückte aus dem Zentrum der jeweiligen Gemeinde, nicht nur administrative Verwaltungseinheit, sondern vor allem kleinster kultureller Identifikationsrahmen oberhalb der Familie, in den Aufgabenbereich des Staates, wodurch sie neuen Funktionen geöffnet und Teil einer politischen Gesamtschau wurde. Aber auch die unterste subsidiäre Einheit über dem Individuum, die Familie selbst, verlor damit an Einfluss auf die schulische Sozialisationsleistung, was auch auffiel. Ministerialdirigentin Böhm formulierte selbst zur Reform des Volksschulgesetzes: »Es ist sehr wenig, wenn Gemeinden, Elternbeiräte und Kirchen vor der Entscheidung nur zu ›hören‹ sind. Sollte man nicht weitergehen? Bisher war ›Einvernehmen‹ notwendig. Die neue Regelung ermöglicht einen staatlichen Dirigismus.«2238 Alleine, diesen zu ermöglichen, die Bildung vor Ort politisch disponibel zu machen, bedeutete eine Achsenverschiebung. Gleiches galt für die höhere Mädchenbildung, auf die zuvor die Kirchen exklusiven Anspruch erhoben hatten und die nun in das bislang maßgeblich auf Jungen abzielende höhere Bildungswesen eingegliedert wurde. Alleine der massive Zuwachs staatlicher Schulen durch den Ausbau der weiterführenden Schulen marginalisierte die Privatschulen2239. Gleiches galt für die Berufsschulen, die immer stärker verstaatlicht wurden2240. Der Prozess der Verstaatlichung und Politisierung des Schulwesens war abgeschlossen, als Hans Maier Kultusminister wurde. Er bekannte freimütig und ohne erheblichen Widerstand zu ernten: »Bildungseinrichtungen sind keine ›Freiräume‹ – schon der Begriff gehört in die vorkonstitutionelle, vorstaatliche Sphäre wie viele ›explodierende Altertümlichkeiten‹ (Th. Mann) der neuen Linken; Bildungseinrichtungen sind vielmehr ein Teil der Demokratie.«2241 Den Bildungsreformern von 2238 BHStA MK 61213, Gez. Ref. 25, Böhm, Betreff: Entwurf eines Volksschulgesetzes, 25. 02. 1966. 2239 Vgl. Lehning I, S. 980f. 2240 Vgl. Demmel, Berufliches Schulwesen, S. 978 (Liedtke). 2241 Maier, Zwischenrufe, S. 71f. Vgl. ausführlicher ders., Anstöße, S. 504ff.
Das Beispiel Bayern
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links zu unterstellen, sie hätten keinen politischen Anspruch an die Schule, wäre allerdings verwegen. Maiers Vorstellung von Schule als »Teil der Demokratie« war affirmativ, was er von der Vorstellung abgrenzte, Schule für die Demokratie müsse emanzipativ wirken. Politisch war die Schule damit auf allen Seiten, womit wieder die Ausgangshypothese bestätigt wird, dass der Diskurs um das Objekt der Bildung im politischen Kontext gleichfalls als Ganzes zu fassen ist – in Abgrenzung vor allem zu einem Nichtdiskurs, der Bildung nicht als politisches Objekt sah, sondern beispielsweise Eltern, Gemeinden, Kirchen in der Verantwortung wissen wollte; und gleichzeitig macht dieser Satz auch noch einmal klar, dass innerhalb dieses einen Diskurses eine Bestimmung sehr unterschiedlicher, sich aktiv voneinander abgrenzender Diskursformationen nicht nur möglich, sondern nötig ist. Der Begründungszusammenhänge der Bedarfskonzeption bediente Huber sich in der Regel nur widerwillig. Die Ausnahme bildeten die höhere Bildung und vor allem die Akademisierung. Ausgerechnet dort, wo die humanistische, die Persönlichkeitsbildung ihren ureigensten Ort hatte, kehrte in Bayern der Funktionalismus ein. Die Erklärung hierfür dürfte außerhalb des Bildungsdiskurses selbst zu suchen sein, nämlich in der Demokratisierung und Politisierung des Bildungswesens. Wo Abitur und Studium nach wie vor, und nachhaltiger als andernorts, ein Privileg gesellschaftlicher Eliten waren, das von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurde, musste es eine Rechtfertigung geben, die außerhalb eines völlig auf sich selbst gerichteten Bildungsinteresses jedes einzelnen Gymnasiasten und Studenten lag, also im Nutzen der Gesellschaft. Die Breitenbildung aber, also vor allem die Volksschule, galt in Bayern viel länger als in anderen Teilen der Republik als Teil der Kultur in Abgrenzung zur Politik, der Gesellschaft in Abgrenzung zum Staat, der Gemeinde in Abgrenzung zum Land – und da in jedem dieser Bereiche die Kirche bedeutender Faktor war, war die Volksschule auch nicht nur rechtlich, sondern auch in ihrem Selbstverständnis zu guten Teilen von den Kirchen bestimmt. Aber auch, als sich diese Orientierungen änderten und Politik und Planung die Volksschulen zu dominieren begannen, wurden diese nicht nach gesellschaftlichen Bedarfen ausgerichtet. Stattdessen fand sich, aufgrund ihrer Traditionen eher im werterzieherischen Kontext eingebettet, ausgerechnet hier eine neu errichtete letzte Bastion der neuhumanistischen Diskursformation, die in gewisser Weise als Versuch der Demokratisierung des dieser Konzeption inhärenten reflexiven Bildungsgedankens verstanden werden kann; natürlich in völlig anderem Sinne als in den emanzipativen Diskursformationen. Diese blieben in Bayern vor allem Antithese. Lediglich die individualrechtlich-emanzipative Variante hielt unter Huber kurzzeitig gegen Ende seiner Amtszeit Einzug. Hans Maier hingegen distanzierte sich wieder aktiv, wandte sich gegen das, was er »bildungspolitisches Konsumdenken« nannte, und lehnte
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es ab, Bildung gemäß Nachfrage bereitzustellen. Demgegenüber war er es, der seine Argumentation wieder stärker an der Orientierung am ökonomischen Bedarf ausrichtete. Planung befand er wieder als möglich, warnte davor, dass die Zahl der Akademiker überhandnehme, und wollte die Schule maßgeblich nach der beruflichen Zukunft der Schüler ausrichten. Gleichzeitig wandelte er an der vorgegebenen Schnittstelle zur werterzieherischen Konzeption: Beide Diskursformationen waren auf eine langfristige Stabilisierung hin ausgerichtet: die Bedarfskonzeption mit Blick auf das sozialökonomische System, die werterzieherische Konzeption mit Blick auf Kultur und Werte.
4.
Schluss
4.1. Die Länderbeispiele im Vergleich »Schule soll zur Freiheit erziehen. […] Aber welche Freiheit ist gemeint?«2242 – Hans Maier brachte den Konflikt zwischen den Ländern Hessen und Bayern, ihren bildungspolitischen Vorstellungen und ihren jeweiligen Kultusministern auf den Punkt, als er zum Jahresende 1973 in der ZEIT seine Vorstellungen von Schule darlegte – in direkter Konkurrenz zu Ludwig von Friedeburg, der in derselben Ausgabe zu Wort kam2243. Freiheit! Aber welche? Die Gesellschaft der Bundesrepublik änderte sich in den Jahren zwischen 1963 und 1973 in besonderem Maße. Diese Veränderung hatte starke Auswirkungen auf das Bildungswesen. Dessen Expansion war bereits in vollem Gange und die Politik begann nun, sich seiner zu bemächtigen. Warum? Weil der Bildungsdiskurs nun ein politischer war, und die Politik sich unweigerlich zur Bildung verhalten musste. Bildung wurde nicht mehr als Teil von Kultur, sondern als Teil von Politik verstanden. Ursächlich dafür war der allgemeinere Trend, die gesamthafte Steuerung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung als politische Aufgabe zu fassen und gleichzeitig zu begreifen, dass Bildung ein relevanter Faktor für beides war. Diese Tendenz zur Politisierung der Bildung – ob widerstrebend, wie bei Huber, ob freudig, wie bei Hamm-Brücher – führte erstmalig in der Bundesrepublik zu genuiner Bildungspolitik, die die Strukturen wie auch die Inhalte betraf und Bildung nicht mehr als Teil des Kultus-Bereichs betrachtete2244. Aus dieser Dynamik heraus entstanden in beiden betrachteten Ländern, Hessen wie Bayern, durchaus vergleichbare Muster : Die Rechtfertigung von Investitionen durch deren erhoffte soziale oder ökonomische Rendite; die Bildungsexpansion selbst, die bald nicht mehr spontan, sondern politisch sortiert 2242 Maier, Die Schule ist eine Vor-Gesellschaft. In: Die ZEIT 50/1973. 2243 Von Friedeburg, Die Schule ist ein Teil der Gesellschaft. In: Die ZEIT 50/1973. 2244 S. o. S. 45–49.
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Schluss
vonstattenging; die Betrachtung des Bildungssystems als einheitliches Ganzes, statt seiner einzelnen Teile. Auch die Hinwendung zur Curriculumtheorie ähnelte sich in beiden Ländern als Frucht eines sehr spezifischen Diskurses, nämlich der noch neuen empirischen Bildungsforschung. In diesem Diskurs wurde das pädagogische Prinzip durch wissenschaftlich erschlossene Didaktik ersetzt. Es war ein Diskurs, der sich von den Universitäten in die Lehrerbildung, die Studienseminare und die Kultusministerien ausbreitete und von dort seine eigene Institutionalisierung im Aufbau von zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis agierenden Instituten zur Ausarbeitung des Unterrichts betrieb. Interessanterweise löste sich mit den Curricula ein Instrument der szientistischen Konzeption in beiden Ländern vom unmittelbaren szientistischen Diskurs und wurde als ideales Werkzeug für die eigenen, der szientistischen Konzeption widersprechenden, da politisch gesetzten Zielstellungen von den dominanten Diskursformationen absorbiert2245. Die hessische Entwicklung ging zunächst von der puristisch der szientistischen Konzeption entspringenden Curriculumtheorie aus, um vier Jahre später bei den polarisierend in der gesellschaftlich-emanzipativen Konzeption anzusiedelnden Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre zu landen. Bayern schuf Curriculare Lehrpläne in der Absicht, über affektive Lernziele überzeitliche Werte zu vermitteln, zu verorten in der werterzieherischen Konzeption. Während in beiden Ländern ab Mitte der sechziger Jahre ein weitgehend reflexiver Bildungsbegriff vorherrschte, in Hessen mit Blick auf die Emanzipation des Einzelnen durch einen Anspruch auf ein möglichst individuelles Bildungsangebot zur Eröffnung subjektiver Handlungsräume und Freiheiten, in Bayern als neuhumanistische Herausbildung der eigenen Persönlichkeit zur individuellen Menschwerdung und somit umfassender Humanität, verkehrte sich diese Zielstellung um das Jahr 1969. Jeweils kam eine transitive Ausdeutung von Bildung und Erziehung zum Tragen. In Hessen sollte nunmehr Veränderung, in Bayern Bewahrung über das Bildungssystem betrieben werden. Während in Hessen Begriffe wie die Selbst- und Mitbestimmung, Konflikt, Interesse und nicht zuletzt die Emanzipation den Diskurs dominierten, lag in Bayern der Fokus auf der »Wiedergewinnung des Erzieherischen«, auf Kultur und Pädagogik, auf sozialer Ordnung und auf Grundwerten. Der Chancengleichheit, freilich, waren alle zu jeder Zeit verschrieben. Nur was darunter zu verstehen war, waren durchaus verschiedene Dinge. Ein regionaler Ausgleich durch den Aufbau eines engmaschigeren Netzes an weiterführenden Schulen und durch die Professionalisierung der Volks-, beziehungsweise Grund- und Hauptschulen war überall angedacht. Während die Landschulreform in Hessen allerdings schon zu Beginn des Betrachtungszeit2245 Gleiches gilt in begrenztem Rahmen für die programmierte Unterweisung.
Die Länderbeispiele im Vergleich
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raums kein wirklich erwähnenswertes Vorhaben mehr war, begann sie in Bayern zu diesem Zeitpunkt überhaupt erst. Auch die Abwägung fiel in Bayern schwerer, da die konfessionell gebundene Gemeindeschule nicht nur rechtlich, sondern auch kulturell verankert war ; und während die hessische Bildungspolitik freimütig eine Reform des Bildungswesens als für alle Beteiligten durchweg positiv betrachten konnte, standen Neuerungen in Bayern immer im Widerspruch zu Tradition und Selbstverständnis der Gemeinden und Kirchen, allerdings nicht als politischer Widerspruch zur Landesregierung, sondern als gemeinsames Grundverständnis. Chancengleichheit mit Bezug auf den Zugang zu Gymnasien und Hochschulen wurde grundlegend verschieden diskutiert. In Hessen herrschte die Ansicht, dass Chancenungleichheit sich aus dem tradierten System selbst ergäbe, dass sich die soziale Differenzierung entlang vordemokratischer Gesellschaftsstrukturen durch die Gliederung des Bildungswesens reproduziere, also strukturelle Veränderung zur Herstellung von Chancengleichheit unabdingbar und ein Ausgleich nur durch aktives Eingreifen zu schaffen wäre. In Bayern hingegen wurde angenommen, dass Chancengleichheit herzustellen wäre, wenn der Zugang zu den verschiedenen bestehenden Schulformen jedem Kind im gleichen Maß möglich würde, also institutionelle und soziale Hürden abgebaut würden. Ziel war in Bayern nicht die Integration der Gesellschaft durch die Schule, um familiär und sozial bedingte Unterschiede verschwinden zu lassen, sondern die Beibehaltung, sogar eine Ausweitung und dann die Umwidmung der Differenzierung, um jeden Einzelnen in ein möglichst adäquates Bildungsangebot zu lenken. Dabei wurde aber auch von kompensatorischen Maßnahmen weitgehend abgesehen, die wiederum in der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation, die in Hessen lange trug, maßgeblich waren. Dass in Bayern mit der Differenzierung ein diametral entgegengesetztes Mittel zu den ab Mitte der sechziger Jahre einsetzenden integrativen Maßnahmen in Hessen gewählt wurde, ist Niederschlag einer grundverschiedenen Diskursformation, aus der heraus dort auf die Analyse einer infrastrukturell unterprivilegierten Landbevölkerung (also auf geographische, nicht auf soziale Unterschiede) reagiert wurde. Galt eine qualitative Differenzierung des Bildungswesens in der gesellschaftlich-emanzipativen Diskursformation als abzuwehrendes Erbe einer vordemokratischen Gesellschaftsordnung, wurde sie in Bayern als weitgehend gegeben gesehen; geändert werden sollte lediglich die Formel, nach der zu differenzieren sei: Leistung statt Herkunft. Gleichwohl sah Huber in dieser Veränderung, der Abkehr von »Sozialprestige von Ständen« sowie dem »Nachwuchsbedarf bestimmter Berufe« als Differenzierungsmaßstab und der Hinwendung zur »vollen Entfaltung der Persönlichkeit nach ihrer Eignung und Neigung« eine »kaum geahnte Umorientierung der Bildungspoli-
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Schluss
tik«2246. Die technische Möglichkeit zur »Entfaltung der Persönlichkeit« war letztlich tatsächlich gegeben und damit gab sich die bayrische Bildungspolitik weitgehend zufrieden. Als Erfolg verbuchte man den gestiegenen Schulbesuch, insbesondere der höheren Bildungseinrichtungen. Die Angleichung der Geschlechter- und Konfessionsverhältnisse belegten, dass sich »dieses verschobene und unklare Verhältnis in den letzten Jahren zumindest ganz deutlich in Richtung einer besseren Beteiligung der bisher Zurückgesetzten«2247 entwickelte. Dass »Eignung und Neigung« dabei weiterhin übermäßig stark mit dem sozialen Status der Eltern zu korrelieren schien2248, focht die verantwortlichen Personen nur bedingt an. Eine »nachhaltige Korrektur der sozialen Disparitäten«2249 war in diesem Bundesland nämlich nicht Ziel der Bildungspolitik gewesen. Ein aktives Eingreifen in die soziale Differenzierung der Gesellschaft verbot sich die bayerische Bildungspolitik: »Die gesellschaftlichen Bildungsveranstaltungen […] sind nicht pures Instrumentarium der Gesellschaftsveränderung, sondern erhalten ihr Maß vom Bildungswillen des Einzelmenschen«2250. Wer trotz Heranrückens der nächstgelegenen weiterführenden Schule und finanzieller Begabtenförderung nicht den Schritt aus dem traditionellen, schichtgemäßen Bildungsweg hinaus wagte, dem fehlte wohl Eignung oder Neigung. Der Neigung versuchte man überdies mittels aktiver Bildungswerbung nachzuhelfen, selbst unter Einbeziehung der Kirchen. Die Eignung hingegen überließ man in strikter Berufung auf das Elternrecht der Begabung eines jeden Kindes innerhalb seiner Verhältnisse. Damit gelangt diese Analyse zum Hauptunterschied zwischen der hessischen und der bayerischen Bildungspolitik im Untersuchungszeitraum: Ob in individualrechtlich-emanzipativ oder gesellschaftlich-emanzipativ dominiertem Diskurs – in Hessen stand abseits der starken bedarfsorientierten Komponente die Emanzipation, die Überwindung starrer Strukturen, die den Schülern aus ihrer sozialen und familiären Prädisposition heraus bestimmte Wege erleichtern und bestimmte Wege erschweren, im Vordergrund. Die bayerische Bildungspolitik hatte demgegenüber dauerhaft ein starkes affirmatives Moment, Schüler wurden in die existente Kultur eingewiesen, deren Wert im Vordergrund stand – und nicht deren Kritik. Wo Veränderungen eingeführt wurde, wurden diese als notwendig und äußeren Zwängen geschuldet verteidigt – in der Regel der Veränderung des Sozial- und Wirtschaftslebens sowie der Demokratisierung. Am klarsten wird das in der Behandlung der Heimat, insbesondere der dörflichen, deren Veränderung zwar Teil der Lehrpläne wurde, aber nicht als begrüßenswert 2246 2247 2248 2249 2250
BHStA MK 66165, Haushaltsrede 1967, 13. 06. 1967. Hans Maier in der Aussprache zur Haushaltsrede 1971, zitiert nach Lehning, S. 985. Vgl. Lehning, S. 984f. Lehning, S. 984. Maier, Haushaltsrede 1971, S. 9.
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galt, sondern als zu bewältigender Wandel. Der Wandel war passiv, die Tradition aktiv. In Hessen war das genau umgekehrt, das Bestehende wurde kritisiert, die Einweisung in die Kultur geschah passiv als ohnehin durch allgemeine Sozialisation gegebene Pfadabhängigkeit, die Kritik daran und das Betreiben von Wandel – oder zumindest der Ermöglichung von Wandel – waren aktives Ziel der Bildungspolitik. Zuletzt drückten sich diese Unterschiede auch in einer sehr unterschiedlichen Art und Weise aus, Politik zu betreiben. In Hessen entwickelte sich ein ohnehin der Öffentlichkeit stärker zugewandter Kommunikationsansatz zu einer Transparenz- und Partizipationsoffensive, die erst um das Jahr 1969 herum wieder der Funktionalität halber eingeschränkt wurde. In Bayern genau andersherum: Statt öffentliche Debatten anzustoßen wurden lediglich Ergebnisse kommuniziert, die vorher in möglichst exklusiven Kreisen vorbereitet und getroffen wurden; um das Jahr 1969 herum begann wiederum in Bayern der Einzug partizipativer Elemente in die Erstellung von Lehrplänen und auch die Kommunikation der Regierung wurde spätestens unter Kultusminister Maier offensiver gehandhabt. Am Vergleich zwischen der Politik in Bayern und in Hessen ist auch eins zu sehen: Die Aufgabe der klaren hierarchischen Entscheidungswege zugunsten größerer Gremien und partizipativer Strukturen in Hessen hat nicht zu einer breiteren Basis politischer Entscheidungen geführt, sondern zum Gegenteil. Während der bayerische Kultusminister Maier quasi jede Änderung in den Lehrplänen persönlich abzeichnete, nahm der hessische Kultusminister von Friedeburg die Position ein, für die Ausgestaltung im Einzelnen nicht verantwortlich zu sein, sondern nur für die Prozesse. Genau diese diffuse Verantwortlichkeit, gepaart mit der sukzessiven Homogenisierung der partizipierenden Kreise, führte in Hessen zu den Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre und Deutsch, die vor einer breiten Öffentlichkeit scheiterten. Die Curricularen Lehrpläne in Bayern hingegen mussten an jeder einzelnen Stelle vom Minister persönlich vertreten werden können und konnten von daher nie eine Position enthalten, die diesem politisch riskant erschienen wäre.
4.2. Der Widerhall der einzelnen Diskursformationen in den Bildungspolitiken Bayerns und Hessens Zuletzt soll noch einmal versucht werden, die Antwort auf den letzten Teil der Fragestellung dieser Arbeit zusammenzufassen, nämlich nach der Wirkung der einzelnen Diskursformationen im politischen Handeln.
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Schluss
Die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation Ein großes Delta zwischen der Bedeutung im Diskurs der interessierten Teilöffentlichkeit und der (direkten) politischen Wirksamkeit ist der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation zu attestieren, zumindest in den hier näher betrachteten Bundesländern. In Bayern erfuhr diese Konzeption von Bildung Ablehnung aus zwei Richtungen: Zunächst widersprach die bayerische Bildungspolitik schlichtweg der Grundannahme dieser Diskursformation, dass Bildung alle ungefragten Bindungen zerbrechen solle. Der Auftrag des Bildungswesens war nicht die Erziehung zur Kritik, sondern affirmativ. Nach einer kurzen Phase der Annäherung zu individualrechtlich-emanzipativen Vorgehensmodellen kurz bevor Huber das Amt verließ, wandte Maier sich aus einer anderen Richtung und besonders explizit gegen die Ideen der individualrechtlich-emanzipativen Diskursformation, deren Verständnis von Bildung als Bürgerrecht seiner Meinung nach zu einem »bildungspolitischen Konsumdenken« führte. Für Bayern, wo Hildegard Hamm-Brüchers Eintreten für Ideen dieser Konzeption von den Bänken der Opposition lange Jahre als Gegenpol zur Regierungspolitik gelten konnte, lässt sich somit keine bedeutender Einfluss dieser Diskursformation auf das Regierungshandeln feststellen, wenngleich sie zum Ende der Amtszeit Ludwig Hubers in Teilen nachzuweisen ist. In Hessen hingegen stellt sich dieses Bild komplexer dar. Dort griff während einer diffusen Phase der Zuwendung zu qualitativen Aspekten der Bildungspolitik die individualrechtlich-emanzipative Diskursformation in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Raum, was auch mit der Berufung der gerade genannten Hamm-Brücher zur Staatssekretärin im Bildungsministerium einherging. Von Anfang an aber konnte diese Konzeption den Diskurs nicht beherrschen. Die von Hamm-Brücher antizipierten Ansätze, deren Voraussetzung eine grundlegende Veränderung der politischen Herangehensweise an die Reformen gewesen wären, etablierten sich nicht. Als sie das Ministerium bereits nach zwei Jahren verließ, hatte sich bereits auf operativer Ebene (nicht jedoch beim neuen Minister von Friedeburg) maßgeblich die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation etabliert. Die individualrechtlich-emanzipative Konzeption stellte auch im Anschluss an den Betrachtungszeitraum lange ein Grundrauschen dar, dem sich niemand wirklich explizit zu verschließen vermochte: Die Durchlässigkeit des Schulsystems, Chancengleichheit und Demokratie wurden prinzipiell anerkannt. Sie wurde allerdings kaum konsequent angegangen, sondern stets mit einem kräftigen »ja, aber« den greifbareren Zielen und Mitteln anderer Diskursformationen nachgeordnet.
Der Widerhall der einzelnen Diskursformationen in den Ländern
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Die gesellschaftlich-emanzipative Diskursformation Diese spielte damit in Hessen die bedeutendste Rolle. In verschieden starker Ausprägung bestimmte sie die Schulpolitik unter Ludwig von Friedeburg bis zum Ende des Betrachtungszeitraums, während selbiger von dieser Diskurformation eher einverleibt wurde, als dass er ihr Treiber gewesen wäre. An von verschiedenen Seiten unter demselben Begriff gestützten Vorhaben wie der Gesamtschule, der Demokratisierung, der Integration wurde deutlich, wie unterschiedlich die dahinter stehenden Konzepte waren. Nahezu in Reinform kulminierte eine starke Homogenisierung des innerinstitutionellen Diskurses im gesellschaftlich-emanzipativen Spektrum zuletzt im Entstehen der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre. Deren Konfliktpotential entfaltete sich erst vollends, als durch ihre Veröffentlichung die verschiedenen Diskursformationen wieder aufeinander trafen. Für Bayern spielte diese Konzeption von Bildung keine Rolle. Sie wurde lediglich von der Regierung als abzuwehrende Gefahr thematisiert. Die gesellschaftlich-emanzipative Konzeption war langfristig erfolgreicher als es von einer derart polarisierenden Diskursformation zu erwarten gewesen wäre, insbesondere auf der strukturellen Ebene. Zwar wurde die Integrierte Gesamtschule nicht zur Standardschulform, aber sie reüssierte über Jahrzehnte. Insgesamt fand eine integrativ verstandene Horizontalisierung statt. Die damals gerade entstandene Hauptschule existiert heute nur noch in zwei Ländern der Bundesrepublik, die Förder- oder Orientierungsstufe fast überall. Die Ausweitung staatlicher Fürsorge von frühster Kindheit bis zum Studienabschluss, möglichst ganztags, ist als politisches Ziel nie verschwunden und wird auch immer häufiger umgesetzt. Selbst die Egalisierung aller Schüler findet sich heute so stark wie nie im Inklusionsgedanken wieder.
Die szientistische Diskursformation Die szientistische Diskursformation erlangte in beiden Bundesländern eine qualitativ ähnliche Bedeutung. Sie etablierte sich, als die Schulverwaltung schnell durch junges Personal ausgeweitet wurde, wodurch die gerade vollzogene Wandlung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zur empirisch arbeitenden Bildungswissenschaft an den Hochschulen plötzlich in die operativen Teile der Administration – Studienseminare, Lehrplankommissionen, Referate an den Ministerien etc. – einzog. Damit etablierte sich erstmals ein wissenschaftlicher Anspruch, der seither die Unterrichtsplanung prägt. Insbesondere die Vorstellung, Unterricht nicht mehr von den Inhalten her zu konzipieren, sondern vom Ausbildungsziel für die Schüler, entstammt dieser Diskursfor-
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mation. Die damit einhergehende von empirischen Versuchen unterlegte Herangehensweise an die Didaktik hatte gleichermaßen nachhaltigen Einfluss auf die Methoden. Der genuin politische Aspekt der szientistischen Konzeption aber, nämlich die Herauslösung der Schule aus der politischen Entscheidungsgewalt und die Übertragung der Konzeption des gesamten Schulwesens von der Struktur über die Methoden bis hin zu den Inhalten an eine neutrale Wissenschaft, die ohne politische Verzerrung sogar die zugrundeliegenden Ziele entwickeln sollte, hatte nur geringen Erfolg. Zwar hatte die wissenschaftliche Politikberatung im Bildungsbereich schon seit Beginn der sechziger Jahre zugenommen, allerdings war das lediglich die Integration von Wissenschaft in politisch gesetzte Gremien und deckte sich nicht mit dem in der szientistischen Diskursformation formulierten Anspruch. Nicht nur die formale Entscheidungsgewalt, sondern auch die Deutungshoheit über die Rahmenbedingungen und die Inhalte ließ sich die Politik nicht vollends aus der Hand nehmen. Begriffe wie das Curriculum verloren dadurch ihre ursprünglich sehr spezifische Bedeutung. Gleichwohl die Zielstellungen der Landesregierungen in Bayern wie in Hessen denkbar unterschiedlich waren, verfolgten sie ihre jeweiligen Zielstellungen mit Rekurs auf diese Diskursformation. Eine Entmachtung der Politik zugunsten der Wissenschaft hat nie stattgefunden, es entstanden keine großen Forschungsprojekte, effizientes Lernen wurde nie antizipiert.
Die bedarfsorientierte Diskursformation Der Blick auf die gesellschaftlichen Bedarfe an einer bestimmten Ausbildungsstruktur war ebenfalls sowohl für Hessen als auch für Bayern ein signifikantes Momentum in der Bildungspolitik. In beiden Ländern wurden die strukturell expansiven Vorhaben stets auch ökonomisch begründet, mithin auch die inhaltlichen. In Hessen diente die Bedarfskonzeption der Staatskanzlei noch lange viel stärker dazu, das Bildungsprogramm der Regierung zu begründen, als das Kultusministerium sie dazu verwendete. Ende der sechziger Jahre, als es eine Art Bildungskonsens gab und die Begründungspflicht für Ausgaben in die Bildung fast nicht vorhanden war, verschwand diese Diskursformation. In Bayern blieb die Begeisterung für die Bildung als ökonomisches Investitionsgut durchmischt, da ihre kulturelle Funktion – insbesondere in Korrespondenz mit den ländlichen Gemeinden – dadurch bedroht gesehen wurde. Die bedarfsorientierte Diskursformation griff daher vor allem die Höheren Schulen und Universitäten betreffend Raum. Besondere Bedeutung erhielt sie noch einmal, als Anfang der siebziger Jahre nicht die weitere Expansion, sondern deren gewünschtes Ende mit dem Szenario eines Überangebots an Akademikern begründet wurde.
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In der Summe wurde die Bedarfskonzeption zwar oft angeführt, aber in der Umsetzung häufig anderen Zielen untergeordnet. Sie galt als grundsätzliches Argument für jeglichen Eingriff zur Verbesserung des Bildungssystems und war somit zwar prominent, aber selten ursächlich für politische Entscheidungen. Die Planungsbegeisterung schwand zwar, nicht aber die Debatte um die Frage, ob es zu wenige oder zu viele Gymnasiasten, Abiturienten, Studenten und Akademiker gäbe oder geben würde, nicht die Diskussion, welche Schul- und Studienfächer nützlich oder unnütz wären und ab dem Jahr 2000 konnte selbst die OECD wieder an ihre Rolle als Zahlenlieferant einer Bildungsdebatte anknüpfen: PISASchock statt Bildungskatastrophe. Langfristig verfestigte sich so die Vorstellung des Bildungswesens als Zubringer des Arbeitsmarktes.
Die neuhumanistische Diskursformation Die neuhumanistische Diskursformation bekam sowohl in den Diskursen der interessierten Teilöffentlichkeit, als auch in Hessen nur zur Abgrenzung Bedeutung beigemessen, wurde aber nicht auf politischer Ebene vertreten. Umso bemerkenswerter ist, dass sie in Bayern Mitte der sechziger Jahre bei der Ausarbeitung eines neuen Volksschullehrplans noch einmal einen starken Einfluss bekommen sollte. Die dafür Verantwortlichen befassten sich auf einer ganz anderen Ebene als die sonstige interessierte Teilöffentlichkeit mit dem Bildungsthema, nämlich noch alleine vor einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund und ohne Bezug zur aktuellen bildungswissenschaftlichen Forschung. Dem kam zugute, dass Kultusminister Ludwig Huber, gleichermaßen ein passionierter Geisteswissenschaftler und zu Beginn seiner Amtszeit noch wenig in genuin bildungspolitische Diskurse eingebunden, diese Denkweise alles andere als fremd war. Diese Entwicklung blieb allerdings Episode. Neuhumanistische Bildungsideale sind seit diesem letzten Aufwallen komplett verschwunden. Subjektivität als Prinzip der Bildung des Einzelnen wird in Schulen kaum noch zugelassen, geschweige denn gefördert. Insbesondere die immer stärker betonte Frage der Vergleichbarkeit von Prüfungsleistungen als Folge der Aufwertung der Abschlussnote als Selektionskriterium für Studium und Arbeitsmarkt sowie die Frage der Operationalisierbarkeit von Unterrichtsinhalten ist, verlangt stärker nach objektivierbaren Prüfkriterien als nach einem subjektiven Bildungserlebnis.
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Die werterzieherische Diskursformation Ebenfalls keine Rolle in der hessischen Bildungspolitik spielte die werterzieherische Konzeption. In Bayern wiederum war diese Diskursformation ein entscheidender Einflussfaktor. Das galt über große Teile des Betrachtungszeitraums vor allem für die oberste politische Ebene, die sich jenseits der operativen Befassung mit der Bildungspolitik und ihren Bedingungen viel näher an der Schnittstelle zu den Wählern und den einzelnen Interessengruppen befand. Durch den starken Einfluss der Kirche war die Konzeption wohl auch dann vor Ort dominant, wenn die Politik sie nicht explizit forderte. Als dieser Einfluss aber wegbrach, füllte Kultusminister Hans Maier diese Lücke bald mit seinem Appell zur »Wiedergewinnung des Erzieherischen«. Die werterzieherische Konzeption existiert insofern fort, als nach wie vor immer wieder versucht wird, insbesondere in den kulturell geprägten Fächern Deutsch, Musik, Kunst oder Religion einen Bildungskanon zu bestimmen, was sich weiterhin ohne größere Debatte in Schulbüchern, Lehrplänen und seit einigen Jahren sogar dem Zentralabitur niederschlägt. Die Pflicht, Inhalte für die Schule wertunabhängig begründen zu versuchen, dürfte in jedem Fall geschwunden sein. Immer wieder stößt sie auf allgemeinere Ebene wieder an die Oberfläche eines Breitendiskurses, ob in den Kommunitarismusdebatten der achtziger Jahre, der Diskussion um die Leitkultur Ende der neunziger Jahre oder im seitdem währenden Dauerbrenner der Integration ausländischer Mitbürger in die deutsche Gesellschaft.
4.3. Conclusio und Ausblick Ziel dieser Untersuchung war es, die bereits zu Beginn formulierte Hypothese zu belegen und auszuführen, dass die Bildungspolitik der sechziger und siebziger Jahre erheblich differenzierter zu betrachten ist, als dies bislang geschehen ist. Dass bayerische und hessische Bildungspolitik sich grundlegend unterschieden, wurde bereits zeitgenössisch diskutiert und nie bezweifelt. Allerdings wurde, wie eingangs beschrieben, die bayerische Bildungspolitik zumeist lediglich als in der Entwicklung hinter der hessischen stehend, beziehungsweise anderen Bedingungen obliegend, dargestellt. In dieser Untersuchung wurde nun klar, dass die Unterschiede maßgeblich mit unterschiedlichen Konzeptionen von Bildung und Funktionszuschreibungen zusammenhängen, die in den beiden Ländern Anwendung fanden, während in Teilbereichen auch stärker als nun vermutet werden könnte, ganz ähnliche Vorstellungen zugrunde lagen. Als Beispiel kann hier der Einfluss szientistischer Vorstellungen vonseiten der Expertengremien in
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beiden Ländern dienen, die jeweils mit der auf der politischen Ebene vorherrschenden Diskursformation integriert wurden. Eine dezidierte Herausarbeitung solcher Begründungszusammenhänge, die nicht einfach unterschiedliche Tempi, sondern verschiedene politische Ziele begründeten, fand bislang noch nicht statt. Eine solche Analyse der tatsächlichen Politik überhaupt zu ermöglichen, indem eine systematisch unterscheidende Kategorisierung der verschiedenen Diskursformationen und Konzeptionen deutscher Bildungspolitik während des Betrachtungszeitraums geschaffen wurde, ist das bedeutendste Ergebnis dieser Arbeit. Fortan lässt sich der bundesrepublikanische Diskurs zur Bildungspolitik in den sechziger und siebziger Jahren in jeder Ausprägung auf sechs klar herausgearbeitete Konzeptionen von Bildung beziehen. Die erarbeitete Vorgehensweise lässt sich also weiterhin sowohl in der konkreten Anwendung auf weitere bildungspolitische Vorhaben dieser Zeit – etwa in anderen Ländern –, als auch abstrakter zur Bewältigung ähnlicher Fragestellungen in anderen Politikfeldern oder anderen Zeiträumen künftig nutzbar machen. Die in dieser Arbeit vorgenommene Analyse konkreter Politik anhand der im ersten Teil erarbeiteten Diskursstruktur zeichnet zumindest für die Länder Hessen und Bayern das Bild einer sehr uneinheitlichen Verbindung zwischen bildungspolitischen Konzeptionen und dem politischen Handeln. Dabei konnte demonstriert werden, wie dynamisch dieser Zusammenhang zwischen konkreter, letztlich stets auch akuter Bildungspolitik und den abstrakteren, sich langfristiger entwickelnden Diskursformationen sich darstellt. Durch die klare Differenzierung wird auch augenscheinlich, welches durchgängige Merkmal für die Zeit der Bildungseuphorie über den Gesamtdiskurs hinweg wirklich beobachtet werden kann, nämlich die gesamthafte Politisierung des Bildungsbereichs. Im Zeitraum zwischen Anfang der sechziger und Mitte der siebziger Jahre rückte die Bildung aus dem Kontext von Kultur, Familie und sozialer Einbettung heraus und wurde zum politischen Objekt. Bildungspolitik entstand als eigenes Politikfeld jenseits von Kultus und verknüpfte sich immer stärker horizontal auch mit anderen Politikbereichen wie der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, oder der Frage der Demokratisierung. Äußerungen zum Bildungswesen, die unabhängig von der politischen Komponente standen, konnten nicht mehr in den Diskurs integriert werden. Der Adressat kultureller, pädagogischer, organisatorischer oder jedweder anderer Vorstellungen zur Bildung war nunmehr die Politik. Aber selbst diese einheitliche Tendenz der Verstaatlichung kam wiederum nur in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Tragen, die durch die vorgenommene Gegenüberstellung klar werden: Mag man für sich betrachtet in der bayerischen Landesplanung »einer Tendenz in allen In-
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dustriestaaten folgend«2251 die stärker werdende Rolle des Staates als Dienstleister öffentlicher Aufgaben finden, so sieht man im Vergleich zu anderen Bundesländern, dass gerade in diesem Aspekt die Bayerische Landesregierung sich der Begrifflichkeiten und einiger Maßnahmen zwar nicht erwehren konnte, aber in Bezug auf diese Tendenz ein retardierendes Moment darstellte und kein beschleunigendes, wie beispielsweise die Regierungen von Hessen oder auch Baden-Württemberg. Nicht zu vernachlässigen ist, dass für die vorliegende Untersuchung ein bedeutender Teil der Bildungsdebatte quellenmäßig erfasst und ausgewertet wurde, was in diesem Umfang ebenfalls ein Novum darstellt. Dieser Arbeit ist es also gelungen, die Sicht auf die Bildungspolitik der sechziger und frühen siebziger Jahre vielleicht etwas komplizierter, aber vor allem sehr viel differenzierter und genauer gemacht zu haben. Der Blick auf diesen Teil der Bildungsgeschichte als einheitliche, lineare und von äußeren Faktoren bestimmte Entwicklung des Bildungswesens ist so nicht mehr zu halten. Zwar gab es äußere Einflüsse, denen sich die Politik in den einzelnen Ländern nicht entziehen konnte, und auch der Wandel der Gesellschaft gehörte dazu. Aber die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Einflüsse in den sichtbaren politischen Entscheidungen waren auf Vorstellungen von der Welt und auf Werte zurückzuführen, die den bundesdeutschen Diskurs über Bildung in unterschiedliche Konzeptionen von Bildung strukturierten. Diese bedienten sich zwar nicht selten ähnlicher, aber unterschiedlich ausgedeuteter Begriffe und sogar gleicher Konzepte zum Erreichen unterschiedlicher Ziele, existierten nebeneinander oder verschwammen vordergründig. Aber der Bildung – oder dem politischen Auftrag zu deren Gestaltung – maßen sie stets eine andere Funktion zu. Ist das langfristige Ergebnis dieser Tendenz eine »Bildungsrepublik Deutschland«? Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte die Feierlichkeiten zu »60 Jahre Soziale Marktwirtschaft« im Juni 2008 dazu, das Thema Bildung ganz oben auf ihre politische Agenda zu setzen: »Ich sage es mit einem Satz: Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden. Das ist es, was unsere Zukunft für die nächsten Jahrzehnte sichert.«2252 Die wirtschaftliche Verfassung der Bundesrepublik Deutschland fuße auf dem Wettbewerbsgedanken und damit dieser weiter überzeugen könne, müsse die Gesellschaft durchlässig sein, mit den Worten Ludwig Erhards jedem Einzelnen »Einstieg und Aufstieg« ermöglichen –
2251 Lehning, Bayerns Weg in die Bildungsgesellschaft, S. 151. 2252 Merkel, Rede auf der Festveranstaltung »60 Jahre Soziale Marktwirtschaft« am 12. Juni 2008 in Berlin, S. 10
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durch Bildung2253 : Bildung als Voraussetzung für eine prosperierende Gesellschaft mit »genügend Facharbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern, um die besten Produkte der Welt entwickeln und Verkaufen zu können«, Bildung für mehr Arbeit, für weniger Schulden, für soziale Absicherung, und zuletzt dafür, »dass mehr Menschen die komplizierten Zusammenhänge unserer einen Welt verstehen«. Ihre Ankündigung einer Bildungsreise durch diese Republik hörte sich noch nach dem Auftakt für ein Programm an, das sie selbst als »zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts« beschrieb. Der abschließende Bildungsgipfel im Oktober 2008 ging allerdings unter, zwischen der Pleite der Bank Lehman Brothers im Monat davor, einem Weltfinanzgipfel im Monat danach und während eines weltweiten Einbruchs der Finanzmärkte. Die Idee, dass das gesellschaftliche Wohlergehen einzig davon abhängt, dass »wir die Talente von allen Menschen bei uns fördern«, wich dem Eindruck, viel mehr Spielball der Banken, Zentralbanken und Finanzministerien zu sein. War ihr Satz, »Wohlstand für alle heißt heute Bildung für alle«2254 eine sinngleiche Umkehrung von Pichts Satz, »Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand«2255, flossen plötzlich statt Millionen in die Bildung Milliarden in die Banken, im Glauben eine Katastrophe abzuwenden. Widerspruch zur »Bildungsrepublik Deutschland« gab es keinen, und wann immer es um höhere Steuern geht, oder darum, gewählt zu werden, um Lösungen für akute Probleme oder um die globale Zukunft auf lange Frist – der Verweis auf das staatliche Bildungswesen fehlt nicht. Aber wie Anfang der siebziger Jahre schwoll der Diskurs, acht Jahre zuvor wiederum mit Zahlen der OECD angefacht, just nach seinem Höhepunkt wieder ab. An ihrem Jahrzehntversprechen einer Bildungsrepublik wird Angela Merkel zehn Jahre später nicht mehr gemessen. Ein weiteres Jubiläum, nämlich das fünfzigste, beging im November 2015 Ralf Dahrendorfs »Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik«. Dessen Schlusssätze lesen sich angesichts der vorangegangenen Jahre noch nicht aus der Zeit gefallen – liegt darin doch immer noch gleichzeitig Zustimmung wie Widerspruch zu den Vorstellungen der Bundeskanzlerin von 2008 als auch den politischen Antworten auf die Herausforderungen dieser Zeit: »Es ist also nicht wirtschaftliche Notwendigkeit und auch nicht eine internationale Prestige-Konkurrenz der Abiturientenzahlen, die uns heute zu einer aktiven Bildungspolitik zwingt. Vielmehr lässt uns die Sorge um den Bestand einer inneren Ordnung moderner Liberalität keine andere Wahl als die Bildungspolitik 2253 Ebd., S. 8. 2254 Ebd., S. 10f. 2255 Picht, Bildungskatastrophe (1965), S. 9.
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zum Kernstück der zweiten Etappe westdeutscher Sozialentwicklung zu machen. Diese Bildungspolitik wird aktiv bleiben, wenn sie sich das Versprechen unserer Verfassung auf gleiche Bürgerrechte für alle zur Richtschnur nimmt. Dieses Versprechen zu erfüllen aber ist Pflicht, Recht und Chance jedes Einzelnen. Bildung ist Bürgerrecht.«2256
2256 Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, S. 151.
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Personenverzeichnis
Adorno, Theodor 59, 109, 113, 120, 127, 129, 349, 361 Aebli, Hans 486 Arnold, Wilhelm 59 Ballauff, Theodor 207 Barzel, Rainer 83 Baumgart, Franzjörg 26 Becker, Hellmut 51, 53, 60, 80, 82, 91f, 95, 97, 137, 159 Becker, Karl 70 Bittlinger, Ludwig 501, 507 Blankertz, Herwig 132, 242 Böhm (Ministerialrätin) 476, 481, 485, 512 Bourdieu, Pierre 36 Brandt, Willy 76, 78, 91, 393, 397 Combe, Arno 110 Cube, Felix von 23, 79, 81, 88, 250 Dahrendorf, Ralf 18f, 59, 62, 65, 70, 76, 78f, 82, 86, 88f, 91, 96, 99, 188, 191, 222, 294, 401, 421, 458, 527 Dönhoff, Marion Gräfin 60 Edding, Friedrich 62, 82, 92, 98, 145, 174, 175, 186, 192, 266, 416, 421, 503 Edelstein, Wolfgang 327f, 331f Ehrhardt, Karl 344, 362, 365, 371, 391, 393 Erhard, Ludwig 43, 526 Evers, Carl-Heinz 19, 79f, 98, 105, 117, 122, 128, 294, 361
Fichte, Johann Gottlieb 211 Filbinger, Hans 42 Flitner, Andreas 73, 486 Foucault, Michel 33f, 36f, 59, 64, 135, 343 Freyh, Richard 346 Friedeburg, Ludwig von 19, 115, 255, 279–281, 283, 285, 298, 315, 361f, 367f, 288, 396, 515, 519–521 Frommelt, Bernd 344 Giesecke, Herrmann 50, 59, 352, 384, 399 Girgensohn, Jürgen 53 Goethe, Johann Wolfgang 227 Goppels, Alfons 405, 407, 414, 429, 462f, 465, 473, 478, 491 Gruschka, Andreas 114 Guthmann, Johannes 480 Habermas, Jürgen 59, 112f, 116, 131, 185, 192, 349f, 361f Hahn, Wilhelm 18, 52, 60, 62, 65, 69f, 96, 174, 199, 401 Haller, Ingrid 346, 369, 371, 388, 393 Hamm-Brücher, Hildegard 19, 30, 44, 48, 52, 62, 75, 77, 78, 80, 83, 94, 95, 97, 98, 271f, 287–292, 299, 301, 302, 304f, 307f, 315, 320–322, 326, 330–334, 341, 348, 351, 359–362, 367–369, 394, 397f, 515, 520 Hartwig, Helmut 340, 349f, 353 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 129 Heidegger, Martin 203 Heimann, Paul 50, 146
556 Hentig, Hartmut von 50, 62, 97f, 104, 106, 109f, 118, 120, 132f, 154, 327–332, 359, 361, 503, 505 Hepp, Gerd F. 27 Hitpaß, Josef 451f Höhne Ernst 448f, 390 Huber, Ludwig 18, 30, 60, 405, 407–420, 424–429, 432, 434f, 437–444, 450, 452– 465, 470–379, 482, 484, 486–493, 513, 515, 517, 520, 523 Humboldt, Wilhelm von 67, 182, 200, 206, 211f, 220f, 230, 231, 254, 283, 295, 421f, 482 Hundhammer, Alois 401, 465 Jahr, Friedrich 343f, 390f Jensen, Stefan 186 Jüchter, Heinz-Theodor 62 Kant, Immanuel 229, 502 Keynes 177, 192 Kielmannsegg, Peter Graf 20, 22 Kiesinger, Kurt Georg 78 Klafki, Wolfgang 31, 51, 62, 118, 128f, 132f, 146, 157, 321, 325–334, 340–342, 347, 350–353, 359f, 363–367, 377, 379, 394, 398, 486 Knab, Doris 325 Kolatz (Stv. Staatssekretär) 290 Laurien, Hanna-Renate 451f Lempert, Wolfgang 294 Litt, Theodor 201, 486 Lundgreen, Peter 21 Luther, Martin 229 Maier, Hans 19, 62, 182, 231, 232, 237, 419, 420–422, 426, 433, 437, 438, 440, 455, 457–460, 479, 489, 494, 496–505, 510, 512f, 515, 519f, 524 Mann, Golo 233, 244 Marcuse, Herbert 55, 112, 250, 499 Merkel, Angela 526f Mikat, Paul 18, 65, 70, 401 Molitor, Bruno 293 Mollenhauer, Klaus 86, 88, 132
Personenverzeichnis
Moos, Gerhard
320, 362–364, 367, 388
Neidhardt, Ursula 39 Neill, Alexander Sutherland 57 Nicklas, Hans W. 295, 298, 333, 337, 339 Oertzen, Peter von 361 Osswald, Albert 276, 361 Pestalozzi 129, 234, 433 Picht, Georg 17f, 42–45, 60, 62, 70, 110, 168, 172, 182f, 188, 197, 199, 232, 412f, 416, 420f, 427 Raschert, Jürgen 322, 324 Rau, Johannes 101, 110f, 361 Reich, Wilhelm 113 Robinsohn, Saul B. 44, 49, 55, 62, 76, 151, 152, 153–155, 158, 167, 321, 325, 327, 331, 338, 394 Rolff, Hans-G. 327 Rommel, Hans-Georg 300, 309, 363 Roth, Heinrich 156 Rüegg, Walter 112 Schelsky, Helmut 201, 220, 225, 297 Schießl, Otmar 501, 507 Schmittlein, Konrad 417f Schreiber, Waltraud 62, 333, 344 Schulz, Wolfgang 294f Schütte, Ernst 116, 255–257, 261, 262, 263, 265, 267, 283, 286f, 292–294, 301– 305, 326, 333, 359, 361 Stachowiak, Herbert 60, 144 Stein, Erwin 283 Strauß, Franz Josef 457 Tenorth
24
Vogel, Bernhard
97, 174, 454
Weinstock, Heinrich 201 Weizsäcker, Carl Christian von 60, 418, 494 Weizsäcker, Carl Friedrich von 176 Weizsäcker, Richard von 60
Personenverzeichnis
Westphalen, Klaus 497, 499–505, 510 Wolf, Hartmut 327, 330, 342
557 Zinn, Georg-August 257f, 261, 270, 272f, 305, 319, 361, 394 Zworowsky, Wolf von 303f
Stichwortverzeichnis
68er
13, 51–53, 65, 83, 111–117, 451, 458
Abitur 99, 419f, 431, 442, 453, 459, 513, 524 Abiturienten / -quote / -zahlen 41, 44, 49, 165, 171, 173, 188, 195f, 198f, 208, 254, 257, 267, 309, 410, 413, 420f, 424, 490, 492, 523, 527 Akademikerschwemme 197 aktive Bildungspolitik 76, 82, 231, 249, 332, 405, 416, 527 Allgemeinbildung 90, 101, 143, 166, 168, 181, 197, 216, 218, 228, 254, 321, 414, 433, 493 Allgemeine Lehrplankonferenz 341 Alliierte 283 Anthropologie 158, 202, 234, 245, 338, 478, 503 anthropologische Neubesinnung 117 Apostolischer Nuntius 468 Arbeitsgemeinschaft Programmierte Instruktion e.V. 264 Arbeitsmarkt 27, 40, 91, 126, 173, 180, 191, 194, 196, 396, 428, 523 audiovisuelle Medien 162, 236 Aufklärung 26, 74, 75, 83, 86f, 128, 188, 215, 335, 348, 350, 362 Auslese / Selektion 59, 64, 95, 99, 136, 138, 165–167, 178, 194, 199, 207f, 210f, 221, 267, 284, 295, 297f, 320, 342, 344, 402, 424, 427, 434, 437f, 440–443, 448, 450, 457, 523
Bayerische Landesverfassung 247, 470 Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) 480 Bedarfsfeststellung 25, 44, 267, 410–412, 417, 430 Begabungsreserven 20, 27, 173, 188, 262, 264, 267, 269f, 273, 284, 298, 317, 408, 420, 422–432, 436, 490 Beirat für Bildungsplanung 62, 69f Bekenntnisschule 13, 240, 400, 402, 425, 438, 464–474 Berliner Erklärung 44 Berliner Schule 26 Berufsausbildung / Berufsbildung 49, 90, 93, 128, 143f, 182, 206, 217f, 228, 253, 279, 432, 442 Berufsfachschule 99, 436, 448 Berufsschulgesetz 436, 459 Bildung ist Bürgerrecht / Bürgerrecht auf Bildung / Bildung als Bürgerrecht 18, 41, 62, 68, 73f, 76, 78f, 91, 95, 171, 231, 288, 306, 320, 419, 421 Bildungsbericht ’70 40, 47 Bildungsexpansion 17, 20, 22, 25, 30, 41f, 48f, 168, 187f, 197–199, 225, 247, 254, 276, 313, 395f, 403, 415, 419, 421, 457f, 490f, 515, 522 Bildungsforschung 29, 39, 44, 46, 153, 184, 189, 319, 321, 331f, 419, 422, 456, 516 Bildungsgeschichte 20f, 23–26, 28, 39, 482, 526
560 Bildungsgut 95, 142, 148, 157, 215, 238, 242, 272, 458 Bildungskatastrophe 17, 42–44, 56, 62, 168, 188, 197, 199, 215, 413, 416, 420, 428, 482, 523, 527 Bildungsökonomie 27, 168f, 174, 185, 187, 191, 198, 416 Bildungsplanung 18, 40, 44, 46f, 52, 54, 62, 69f, 145, 152, 169–177, 180, 185–198, 257, 262f, 265–267, 269, 276, 281, 308, 311 Bildungsrat (Deutscher Bildungsrat) 40, 43f, 54, 59, 62, 70f, 80f, 93, 100, 205, 226, 265, 286, 302, 419, 451, 454, 457, 501, 504 Bildungstechnologischen Zentrum BTZ 265, 363–366 Bildungswerbung 426f, 436, 456, 490, 418 Bindung 73–75, 79, 133f, 239, 214, 295, 365, 463, 469, 480, 512, 520 Bremer Plan 43 Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft / Bundesbildungsministerium 52, 361 Bundesregierung 65, 74, 100, 397, 418 Caritas 61 CDU 18f, 54, 65, 70, 96, 174, 281, 302– 304, 401, 424, 436, 440, 444, 452, 482 Chancengleichheit 13, 20, 22, 27, 65, 73f, 77–80, 85, 95, 97–99, 104, 135f, 150–152, 168, 171, 208f, 273, 275f, 278, 285, 297, 302, 305–307, 311, 317f, 374, 380, 382, 401, 408, 427, 437, 458, 516f, 520 Club of Rome 53 CSU 70, 401–405, 413, 449, 452, 454, 457, 460, 462, 473f, 482, 511 Curriculare Lehrpläne 371, 492, 496f, 505f, 508–510, 516, 519 Darmstädter Erklärung 61 DDR 55, 97, 259, 288 Deidesheimer Leitsätze 444, 454 Demokratisierung 22f, 26f, 30, 80, 87, 103, 115, 122f, 127, 132, 144, 154, 231, 244, 271, 273, 280, 282, 287f, 290f, 295,
Stichwortverzeichnis
305, 308f, 311, 316, 339, 340, 352, 382, 385, 396, 408, 427, 502, 513, 518, 521, 525 Deutscher Ausschuss für das Erziehungsund Bildungswesen 42f, 59, 285, 286, 303, 441 Deutscher Jugendhilfetag 125 Didaktik 26, 50f, 146f, 156, 160f, 263, 329, 341, 345, 366, 380, 391, 393, 398, 494, 498, 503, 516, 522 Diskursanalyse / Diskurstheorie 33, 35f, 44, 53, 68, 71, 186, 394 Durchlässigkeit 43, 96, 99–101, 253, 267, 287, 289, 374f, 404, 434, 439f, 442f, 447f, 453f, 490, 520 Elite 58, 197, 207, 210, 217, 221, 222, 295, 297, 389, 513 Eltern / Elternhaus 77, 94, 98, 110, 116f, 124–128, 150, 210, 214, 220, 244, 284, 285, 291, 296–299, 303, 305, 311, 315, 341, 383, 386, 392, 396, 401f, 425–427, 439, 442, 446, 461, 463f, 466, 468f, 480, 490, 513, 518 Elternbeirat / Landeselternbeirat 303, 340, 512 Elternrecht 243, 297, 406, 466, 518 Emanzipation 13, 23, 57, 66, 74–76, 81– 83, 86–91, 103–105, 113, 120, 125, 129– 144, 154, 182, 193, 216, 227, 231, 237– 239, 250, 254, 277f, 295, 298, 315, 317, 335–340, 349–355, 359, 376, 379–383, 391, 458f, 516, 518 Erziehungsziel 26, 124, 143, 153, 158, 214, 225, 231, 247, 284, 296, 481, 511 Etatismus 47f Europa 44, 52, 55, 85, 174, 177, 183, 186, 188, 190, 196, 232, 265, 301, 414, 493 Evangelisch-Lutherische Landeskirchenrat (LKR) 468 Fachhochschule 99, 415 Fachschulen / Berufsfachschule 219, 268, 269, 432, 436, 488 Fahrstuhleffekt 188
99, 115,
Stichwortverzeichnis
Familie 32, 50, 121, 125–127, 137, 150, 190, 213 f, 242–244, 266, 275, 299, 386, 392 f, 406, 426, 460, 463, 468, 512, 525 FDP 19, 97, 287, 302, 397, 402, 453, 458, 472 Föderalismus / Bildungsföderalismus / Kulturföderalismus 40, 48, 42, 60, 95, 166, 189, 397, 418 Förderstufe / Orientierungsstufe 39, 99, 281, 283–287, 293, 297, 306, 309, 312, 314f, 320, 345, 440f, 453, 458, 476, 486– 488, 494, 504, 511, 521 Frankfurter Schule 19, 55, 65, 113f, 118 Frankreich 48, 195, 288f Funkkolleg Erziehungswissenschaften 132 Ganztagsschule 128, 253, 279, 281, 306 Gegliederte Leistungsschule 439, 443f, 452–455, 458f gegliedertes Schulsystem / dreigliedriges Schulsystem 19, 21, 40f, 65, 96, 98f, 166, 190, 193, 219, 283f, 287, 289, 293f, 297, 302, 304, 310f, 313, 401, 432–435, 439, 444f, 448f–452, 511 Gemeinsame Synode der katholischen Kirche 61 Gesellschaft für Programmierte Instruktion 145 Gesellschaft zur Förderung eines freien öffentlichen Schulwesens 56 Gesellschaftspolitik 48, 76, 79–81, 83, 86, 107, 113, 123, 131, 145, 149, 151, 274– 277, 287, 303f, 316, 319, 323, 331, 343, 375, 381, 387, 395, 453, 476 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – GEW 60f, 303f Globalsteuerung 176, 185 Groß-Britannien / England 48, 288f, 291, 446 Grundgesetz – GG 40, 47, 52, 79–82, 91, 93, 95, 102, 105, 108, 122, 124, 139, 189, 190, 242–244, 247, 315, 384, 504 Gruppenuniversität 52, 116
561 Hamburger Abkommen 43, 475, 478 Hamburger Modell 146 Haushalt / öffentliche Haushalte / Haushaltsplanung / Kulturhaushalt / Haushaltsdefizit / Fiskus 175, 188, 272, 281, 396f, 403, 420, 478, 491 Heimat 248, 402, 406, 446, 463, 480, 483, 485, 512, 518 Hessisches Institut für Lehrerfortbildung / Lehrerfortbildungswerk (HILF) 344, 368 Hochschulautonomie 123 Hochschulgesetz 112, 116 Hochschulpolitik 40, 44, 230, 269f, 272, 307 Hochschulreform 115, 222, 444 Höhere Schule / Höheres Schulwesen / Höhere Bildung 20, 26, 46, 170, 175, 182, 188, 198, 199, 209, 232, 241, 257, 286, 402f, 405, 410, 414, 416, 422, 423– 436, 439–442, 449, 456, 490–492, 512f, 518, 522 Humanismus 102, 155, 188, 200, 215, 226, 228f, 252, 482, 493, 497, 500 Humankapital 49, 180, 183, 261 Idealismus 109, 129f, 206, 211f, 216, 218, 228f, 230, 234, 252, 482, 499 Individualisierung und Differenzierung 80, 95–97, 99, 101, 139, 167, 315, 489 Individualismus 117f, 120, 180, 228, 239, 422, 482 Industrialisierung 83, 105, 176, 243, 250 Industriegesellschaft 44, 83, 105–107, 113, 118, 129, 132, 153f, 193, 198, 236, 280, 281, 294, 459 Kanon / Bildungskanon / Fächerkanon 45f, 88, 101f, 143, 147, 157, 181, 216, 217, 222, 230, 233f, 263, 324, 329, 340, 345, 363, 377, 381, 466, 493–495, 524 Kapitalismus 105–108, 111, 129, 137, 138, 184–186, 259, 294, 392 Keynesianismus 174, 177, 185, 396 Kindergarten 30, 39f, 61, 99, 100, 150, 205
562 Kinderladenbewegung 32f, 65, 113–117, 125 Kirchen 47f, 61, 94, 116, 169, 211, 214f, 242, 247, 327, 348, 400–406, 416, 461, 464–475, 480, 485, 501, 512f, 517f, 524 Klassenkampf 76, 89, 125 Kollektivismus 117–119, 172 Kommunismus 215, 232, 345 Kommunitarismus 87, 118, 524 Konkordat 47, 220, 400, 465, 467, 473, 475 Konservativismus / konservativ 26, 31, 50, 52, 58f, 63, 65, 67, 97, 118, 123, 130, 176, 186, 198, 200, 218, 226, 233, 242, 271, 309, 335, 343, 370, 404f, 407, 416, 427, 505 Kritische Theorie 113f, 120, 129, 132f, 399 Kybernetik 160f, 197 Landesentwicklungsplan 274–279, 282, 311, 316, 379, 409 Landschulreform 47, 61, 188, 255, 257, 270, 278, 282, 283, 403, 405, 417, 425, 427, 438, 456, 460–462, 464, 466, 479, 516 lebenslanges Lernen 92, 100, 101, 198, 219, 279 Lehrerausbildung / Lehrerbildung 23, 29, 101, 162, 270, 289, 300, 309, 311f, 334, 343, 369, 398, 402, 410, 459, 475, 495, 516 Lehrerverband / Deutscher Lehrerverband / Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände 43, 340, 369, 452 Lehrmaschine 163, 263, 367 Lehrmittel 162, 256, 339 Leistung / Leistungsprinzip / Leistungsdruck 19, 77, 82, 97f, 106, 109, 110f, 119, 126, 136, 150, 159, 161, 165, 186, 201, 236, 247f, 267, 278, 295–299, 316, 318, 332, 338, 340, 427, 434f, 437–450, 455, 510, 511, 517 Leistungsgesellschaft 110, 135, 172, 294, 318, 437, 455 Lernprogramme 162, 202, 367, 398
Stichwortverzeichnis
Liberalismus / liberal 26, 31, 65, 70, 74, 75, 76, 79, 82, 83, 86, 91, 94, 117f, 120, 123, 129, 180, 185, 230, 237, 259, 315, 356, 393, 397, 421, 422, 472, 527 Marktwirtschaft 124, 127, 184, 185, 282, 526 Marxismus / marxistisch 26, 32, 75, 89, 90, 110, 124, 129, 133, 155, 184, 185, 250 Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 44, 153, 184, 321, 331f, 343 Mengenlehre 137 Mitbestimmung 77f, 86, 89, 94, 103, 114, 123, 139, 142, 150, 154f, 277, 376, 383– 386, 516 Nachkriegszeit 19, 21, 48, 54f, 116, 283, 288, 401, 410, 415, 417, 432 NASA 55, 308 Nationalsozialismus 21, 25f, 47, 59, 113f, 117, 120, 148, 164, 183, 215, 228, 295, 345, 362, 396, 400, 405f, 421, 446 Neigung 74, 95, 140, 148, 159, 229, 238, 246, 266, 278, 289, 312, 315f, 318, 321, 427, 434, 442, 492, 517f Neue Linke 31, 58, 111, 113, 128, 512 NPD 272 Objektiver Geist 129, 216, 227, 230, 235– 237, 240, 245, 250, 485, 501, 67 OECD 43, 55, 173f, 192, 194, 289, 417, 523, 527 Paideia 105, 212, 214, 229, 234 Philologenverband 60, 452 Planification 47, 55, 289, 309 Platon 105f, 132, 212, 226 Pluralismus 21, 52, 77, 88f, 119, 136, 147, 153, 179, 186, 211, 219, 227, 231f, 236f, 239f, 245f, 250, 254, 295, 407, 448, 500f, 504f Politikberatung 145, 522 Politische Bildung 23, 41, 48, 102, 108, 121, 125, 135–137, 144, 223, 248, 289, 344f, 362, 391, 393, 399, 449, 488 Poststrukturalismus 33, 35
563
Stichwortverzeichnis
Programmierte Instruktion / Programmierter Unterricht 145, 149, 150, 160, 162, 263f, 316, 366, 390, 398, 487, 516 Psychoanalyse 59, 113 Psychologie 59, 115, 133, 165, 190–192, 202, 287, 318, 509 Rahmengesetzgebung 52 Rahmenplan der KMK 43, 175, 285, 303, 364, 381, 441 Raumordnung 169, 274, 404, 409, 462 Reinhardwaldschule 324, 328, 341 Religion 34, 46, 156, 202, 210, 223, 246, 472, 481, 485, 524 Schulautonomie 93, 289 Schulbau 263, 268, 282, 306, 311, 396 Schulentwicklungsplan 279–281, 404f, 417, 425, 427–431 Schulpflicht 48, 78, 100, 244, 458 Schulversuche 20, 54, 264, 285, 301, 303, 305f, 309–313, 317, 397, 445, 447–452, 455, 487, 493f, 496 SDS 123, 362 Selbstverwaltungsrecht 410, 464 Solidarität / Solidarisierung 118, 121f, 134, 136, 294, 354, 386 Sozialdemokratie / sozialdemokratisch 22, 70, 176, 156, 187, 290, 444 soziale Gerechtigkeit 27, 94, 172, 271, 301, 323, 458 Sozialisation / Sozialisierung 50, 59, 106f, 125–127, 133, 140, 149f, 162, 164f, 209, 249, 254, 278, 336, 356, 357, 383, 482, 512, 519 Sozialismus / sozialistisch 26, 46, 55, 65, 75, 105, 110, 111, 113, 118, 124, 128, 148, 155, 164, 184–187, 195, 208, 259, 302, 309, 392, 396, 422 Sozialprodukt / Inlandsprodukt 175, 184, 186, 190, 261 Sozialwissenschaft / Soziologie / Soziale Handlungswissenschaft 18, 27, 31, 59, 66, 89, 102, 115, 145, 147, 165, 179, 187, 191, 202, 222, 272, 308, 312, 325, 233,
269, 334, 348f, 361, 387, 391f, 410, 413, 421, 428, 478, 488, 495 SPD 19, 44, 54, 79, 105, 116, 118, 290, 292, 303, 361, 393, 402, 440, 444f, 447–450, 453, 454, 455, 456, 462, 473f Staatsinstitut für Bildungsforschung und -planung 404, 419, 456 Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik / Staatsinstitut für Schulpädagogik (ISP) 491, 494–511 Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik 452, 492, 495 Strukturalismus 33f, 89, 178, 343 Strukturplan des Bildungswesens (Dt. Bildungsrat) 40, 71, 204, 330, 359, 454 Studentenbewegung 55, 58, 112–116, 244, 314, 444 Subjektivität 67, 87f, 201, 203, 217, 222f, 237, 523 Subsidiarität / subsidiär / Subsidiaritätsprinzip 40, 54, 103, 142, 291, 307, 316, 406, 418, 466, 512 Summerhill 57 UNESCO 289 Unterschicht 88, 126f, 165, 357 USA 55, 155, 168, 288f Utilitarismus 169, 201, 497f Verband Deutscher Studentenschaften 172 Volkswirtschaft 168, 173, 188, 289, 387 Vorkriegszeit 59, 113 Vorschulerziehung 104, 114, 116f, 272, 288, 306, 455f, 498 Weltbürger 223 Wertewandel 31f Wiedergewinnung des Erzieherischen 231, 497f, 502, 506, 508, 510, 516, 524 Wirtschaftspolitik 27, 46, 53, 174, 261, 416, 525 Wirtschaftswachstum 53, 64, 177, 294, 414
564 Zugangsbeschränkung / Numerus Clausus 116, 199
Stichwortverzeichnis
Zukunftsforschung / Futurologie 178, 191, 503
172f,