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German Pages 536 [538] Year 2015
Christian W. Denker Vom Geist des Bauches
Edition Moderne Postmoderne
Christian W. Denker (Dr.), geb. 1965, lehrt am Fachbereich für Philosophie und Literatur und am Institut Universitaire de la Vigne et du Vin an der Universität des Burgund, Frankreich, nach Stationen in Hamburg, Paris und Wien. Seine wissenschaftlichen Forschungen bewegen sich um den Schnittpunkt von Geschmack, Umwelt und Kunst.
Christian W. Denker
Vom Geist des Bauches Für eine Philosophie der Verdauung
Mit freundlicher Unterstützung der Firma F. Trenka / EUCARBON, Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Arnulf Rainer, Übermalter Bauchraum. Mit freundlicher Genehmigung von Michaela Kamler. Korrektorat: Melanie Horn, Münster Satz: Christian Denker Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3071-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3071-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Meiner lieben, geliebten Frau Brigitte
Herzlich bedanke ich mich bei Richard Shusterman, bei Konrad Liessmann und bei Martin Seel für die Ermutigungen, bei Heidulf Gerngross für die Versuppung, bei Michaela Kamler für den Anstoß, bei Ursula Duschanek für die anhaltende Geduld, bei Gunnard Keil für die beratende Begeisterung, bei Richard Heinrich für den passenden Lehrauftrag, bei Arnulf Rainer für den übermalten Bauchraum, bei Emmanuel Alloa für den Titel, bei Fabian Goppelsroder für den guten Willen, bei Flora Schöller für die Logistik in Wien und Berlin, bei Marie-Pierre für die Tipps zur Wesensverwandlung, bei Harald Lemke für das Treffen in der Marktstraße, bei Daniel Spoerri für den versteinerten Echsenkot, bei Melanie Horn für die aufgeweckte Korrektur, beim Archiv des Wiener Volksliedwerks für die linguistische Beratung, bei den Damen vom Café Goldegg für das Gebäck und last but not least: bei meinem Sohn Ernest für seine Freude bei Tisch und Topf.
Inhalt
Bedürfnisse des Bauches Von Konrad Paul Liessmann | 9
Fröhliche Verdauung Von Michaela Kamler | 11
Einleitung | 15 1. Wurzeln Von altägyptischen Texten zu Epikur | 25 2. Exzesse Von Cicero zu Montaigne | 121 3. Freuden Von Helmont zu Nietzsche | 219 4. Unterscheidungen Von Freud zu Shusterman | 341 Nach der Verdauung... ...ist vor der Verdauung | 4 65 Literatur | 473 Index | 521 Ausführliches Inhaltsverzeichnis | 535
Bedürfnisse des Bauches Von Konrad Paul Liessmann
Diogenes, der Ahnherr der kynischen Philosophie, fand nichts dabei, öffentlich zu masturbieren. Darauf angesprochen, soll er geantwortet haben: »Wenn man nur auch den Hunger stillen könnte, indem man sich den Bauch reibt.« Die obszöne Geste des Philosophen stellt nicht nur ein Lehrstück in angewandter Triebtheorie dar – das Problem ist der Hunger, nicht der Sex –, sondern verweist auf zwei zentrale Organe einer praktischen Philosophie: das Geschlechtsteil und den Bauch. Dass davon in der Philosophie in den vergangenen Jahrtausenden eher wenig die Rede war, hat nicht nur mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun, sondern vor allem mit einem Selbstverständnis von Philosophie, die sich als Geist begriff, der das Geistige erfassen wollte, als Denken, dem es um das Denken ging. Die Leibfeindlichkeit des Christentums und die spätestens seit Descartes tradierte Spaltung des Menschen in einen Körper und einen Geist, in eine res extensa und eine res cogitans, verhinderten lange den Blick auf den von Diogenes noch so drastisch demonstrierten Zusammenhang von Körper und Denken. Dass es der Körper und seine Funktionen waren, die dem Denken selbst die Bilder und Metaphern für seine Tätigkeit lieferten, wurde zwar akzeptiert, ohne jedoch darin ein Potential für die Reflexion auf das Verhältnis von Körper und Geist zu sehen. Immerhin: Der leere, der ungefüllte Bauch wird zum wirkmächtigsten Bild des Erkenntnisstrebens selbst. Der ›Wissenshunger‹ und der ›Wissensdurst‹ zeigen, dass wir uns die Erkenntnis selbst analog zur Nahrungsaufnahme denken. Dass auch der Geist ›Nahrung‹ braucht, um sich entfalten zu können, dass auch Ideen, Konzepte, Argumente und Thesen ›verdaut‹ werden müssen, um ihre Wirkung zu entfalten, dass Unbrauchbares und Unnützes, Irriges und Falsches ›ausgeschieden‹ werden muss, um der Wahrheit eine Chance zu geben, verweist auf die Nahrungsaufnahme und die Verdauung als prominentes Modell für geistige Prozesse und Aktivitäten. Nahrung und Verdauung sind allerdings nicht zufällig zu solch einer starken Metapher für das Denken selbst geworden. Es waren Arthur Schopenhauer und vor allem dann Friedrich Nietzsche, die in den Aktivitäten des Kör-
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pers, vor allem im Rumoren des Bauches mehr sahen als nur eine materielle Bedingung für das, was der Kopf dann anrichten kann. Was dieser Kopf denkt, ist selbst in hohem Maße Ausdruck und Übersetzung dessen, was der Bauch vollzieht. Nietzsche konnte in einer letzten kühnen Volte die Moral selbst als eine Physiologie der Verdauung begreifen, die Termini ›gut‹ und ›böse‹ bzw. ›schlecht‹ haben nach diesem Konzept ihren Ursprung in jenen Speisen, die wir ›gut‹ verdauen können oder eben ausspeien müssen, weil uns ansonsten ›schlecht‹ werden würde. Und der Ekel, der nach Nietzsche den Gebildeten zum Beispiel angesichts der Sprache des Journalismus erfassen müsste, hat seinen Ursprung ebenfalls im Anblick jener verdorbenen Speisen, von denen wir uns auch in höchster Not nur angewidert abwenden können. Solche Thesen, die ins Innerste der menschlichen Befindlichkeit und Bedürftigkeit führen, waren allerdings nicht nur für die Zeitgenossen schwer verdaulich. Höchste Zeit also, dem Bauch und seiner Verdauungstätigkeit eine eigene Philosophie zu widmen. Die Philosophie wendet sich damit nicht einem exotischen Gegenstand zu, sondern kehrt gleichsam zu einer ihrer Wurzeln zurück. Dies scheint umso dringender, als wir in einer Zeit leben, in der Fragen der Nahrungsaufnahme und der Verdauung selbst zu einem ganz zentralen Moment des ›guten Lebens‹ geworden sind. Oft einander widersprechende Ratschläge, wie man sich richtig ernährt, füllen mittlerweile nicht nur reale und virtuelle Bibliotheken, sondern bestimmen das Leben der Menschen in immer höherem Maße. Gerade weil die Bedürfnisse des Bauches nicht durch Reiben zu befriedigen sind, dreht sich fast alles um die Frage, was man eigentlich noch essen darf. Eine Philosophie der Verdauung enthält so auch eine notwendige Diagnose unserer Zeit, ihrer Sehnsüchte und Ängste, ihrer Verdrängungen und Verirrungen. Christian Denker ist zu danken, dass er sich der Aufgabe unterzogen hat, dem Geist des Bauches beredten Ausdruck zu verleihen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Urgeschichte der Philosophie und zur Aufdeckung der verborgenen Voraussetzungen unseres bewussten Lebens zu leisten. Wien, im März 2015
Fröhliche Verdauung Zur Erinnerung an die Nacht, in der Herr Denker EUCARBON entdeckte. Von Michaela Kamler
Im Sommer 2006 klingelte Herr Denker1 an meiner Bürotür: »Ach«, klagte er, »mir ist versichert worden, dass das Leben in Wien die Geldtasche entlaste«. Tatsächlich sei sein Einkommen externer Lehrender am Institut für Philosophie der hiesigen Universität nun aber leider derart knapp bemessen, dass sich sein Bauch schon bei der Zahlung der monatlich fälligen Mietzinsen verdrießlich verstimme. Es blieben ihm kaum noch die zum Genuss einer Wiener Melange im Café Goldegg erforderlichen Mittel. Ob ich nicht einen gut bezahlten persönlichen Sekretär in Dienst stellen wolle oder seine Situation auf andere Weise erleichtern möge? Dem Mann soll geholfen werden, dachte ich bei mir, der ist bei mir genau an der richtigen Stelle! Mit den wunderbaren Wirkungen von EUCARBON auf verdrossene Bäuche bin ich als Geschäftsführerin der Firma Trenka ja aus eigener Erfahrung bestens vertraut. Die EUCARBON-Tabletten, die ich in aller Welt erfolgreich vertreibe, wirken in geringer Dosierung gegen milde Formen von Durchfall und in höherer Dosierung als mildes Abführmittel. Dadurch ist EUCARBON weder ein reines Laxativum noch ein reines Antidiarrhoikum, sondern ein natürliches Darmregulans, das noch die klügsten Bäuche beim Erreichen von geistigem Gleichgewicht unterstützt. Geradezu ideal, um weinende Philosophen zum Lachen zu bringen. Allerdings kannte ich Herrn Denker noch nicht allzu gut und wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es ist höchst erstaunlich, aber die Erfahrung lehrt uns, dass sich nicht alle vernünftig wirkenden Menschen für gastrale Freuden begeistern. Deshalb klopfte ich zunächst nur vorsichtig an: »Hätten Sie vielleicht Freude daran, philosophische Essays zum Thema Verdauung abzu-
1 | Der Mann heißt tatsächlich so.
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fassen, zur Begleitung von EUCARBON-Werbeeinschaltungen in Ärztezeitschriften?« Herr Denker sah mich verwundert an: »Ja, selbstverständlich, gerne!« platzte es dann aus ihm heraus. Da habe ich ihn auf einen ganz wunderbaren Gedanken gebracht. Verdauung gehe uns doch alle an! Gerade auch Philosophen! Von Platon bis Searle sei es ja immer wieder die gleiche Geschichte: kein Geist ohne Verdauung. Manch eine Philosophin würde wohl lieber auf lusterfüllte Sexualität verzichten als auf lusterfüllte Verdauung! Und verhält es sich bei manchen Philosophen nicht ganz ähnlich? Und da stellte mir Herr Denker die folgenreiche Frage, die sich für die weitere Zusammenarbeit als bahnbrechend erweisen sollte: »Vielleicht mögen Sie mich einmal mit einer EUCARBON-Probepackung versorgen, damit ich mich mit der Wirkung Ihres formidablen Kohleprodukts vertraut machen kann?« Das tat ich selbstverständlich gern. So verließ mich Herr Denker mit einer 100er-Packung, um am nächsten Morgen erneut bei mir zu klingeln. »Großartig!« frohlockte er, »Was für eine Nacht! Pracht-, würde- und glanzvoll! Bitte, ich muss schreiben, schreiben, schreiben.« Es sprudelte nur so aus ihm heraus: »Verdauung bei Pythagoras, Verdauung bei Hippokrates und Platon, Verdauung bei Diogenes, Aristoteles und Epikur, Verdauung bei Philon, Augustinus, Aquin und Montaigne, Verdauung bei Descartes, Diderot, Kant und Lichtenberg. Verdauung bei Hegel, Schopenhauer, Fechner, Feuerbach und Nietzsche! Verdauung bei Freud, Wittgenstein, Derrida und Shusterman! Und, und, und...«. Aus meiner Hand habe er den Schlüssel zum Ur-Grund des sinn- und bedeutungsvollen Fragens entgegengenommen: Freudig wolle er ihn an seine Kolleginnen und Kollegen weiterreichen. Im Wesentlichen sei doch alles ganz einfach: Der Geist schwinge auf Flügeln, die ihm die Verdauung verleihe. Das legte Herr Denker dann tatsächlich und ausführlich dar. Besonders in der Universität Wien soll sein engagiertes Eintreten gegen systematischen Durchfall und verbale Verstopfung wahre Wunder gewirkt haben.2 Ich selbst hatte das Vorrecht, eine Sternstunde der 2 | »Herr Dokda Denga? Dångsche mecht i eam sogn, dem Herrn Denga!« flüsterte mir ein inzwischen emeritierter Wittgenstein-Experte zwischen zwei geschlossenen Türen zärtlich ins Ohr. »Dånge, vümois dånge fia den schdoagn Einsods fia de Foaschung wengan ›Geist von da Wåmpn‹ gegn de I-Dipfalreidar und denan ihr FoatssbiarnvoiseinG’füh. I söba woa jå imma scho dafía: ›Des is leiwånd‹ hab i eam g’sågt ›wea rülpst und foatsd dea braucht kan Oadsd!‹« Und von der durchschlagenden Wirkung des gastrischen Paradigmas wusste er auch lebhaft zu berichten: »De gscheidn Oidschbodsn ham’s a glei beschdädigd: ›Des is jå wirkli a woares Wunda, a Weana Glåndsnuma, des EUCARBON!‹ hams gruafn, ›a Piefke håt uns de Freid an dera Weisheid neich beibråcht.‹ Mia håbm se dschewad! Owa kennan’s eana dös vuaschdön? Grod de denans eh ins Gsicht gschmiad schded, doss se am Heisl ka Hetz ham, grod de ham daun gschbreitsde
Vor wor te
Verdauungsphilosophie miterleben zu dürfen, hier bei uns in Wien, am 21. Oktober 2006, anlässlich der Eröffnung des Meidlinger-Markt-WCs. Jan Tabor vom »Forum für Experimentelle Architektur« hatte zum »1. Wiener Soachfest« geladen und Herr Denker hatte mit einem meisterhaften Vortrag zu »Verdauung und Architektur« seinen ersten Auftritt als philosophischer Spezialist für die Wirkung froher Bäuche auf die Gestaltung der Umwelt. Einsichten in das kulturelle Interesse am Bauch vermittelte mir Herr Denker aber nicht nur auf dem Marktplatz des XII. Wiener Gemeindebezirks, sondern auch anlässlich der Feier zum 100jährigen Bestehen meiner Firma im MQ Wien, im Verlauf von Daniel Spoerris »Palindromischem Diner«. Zu meiner Freude publizierte Herr Denker über die Jahre eine Reihe verdauungsphilosophischer Texte. Besonders eindrücklich waren die Artikel im legendären ST/A/R-Printmedium, Wien, für Hochkultur, Mittelmaß und Schund. Aber auch in der Ärztezeitung erschien Artikel auf Artikel. Herr Denker unterstreicht zu Recht, dass Kunst und Philosophie gute Verdauung fördern können, nicht nur bei einzelnen Personen, sondern auch bei ganzen Kulturen. Wo es um Geschmack, Gesundheit, Freude, Genuss und ökologische Verträglichkeit geht, da steht Verdauung Pate. Allerdings gibt es eine Kluft zwischen dem, was wir verdauen wollen und dem, was wir verdauen können. In manchen Fällen kann philosophische Reflexion Abhilfe schaffen. Da gilt es abzuwägen zwischen den Bedürfnissen organischer und gedanklicher Verdauung. Aber nicht alle Probleme lassen sich mit guten Gedanken aus der Welt schaffen. Nicht einmal unter Philosophen herrscht einhelliges Interesse an der Behandlung von Verdauungsproblemen. Einerseits ist das wohl bedauerlich, andererseits freut es mich selbstverständlich, denn es erklärt den anhaltenden Erfolg der von mir vertriebenen Produkte. »Vor der Verdauung ist nach der Verdauung ist vor der Verdauung.« Ich genieße die fröhlichen Texte von Herrn Denker immer wieder mit Gewinn.3 Dass Philosophie aus Wien die Welt beschwingt, kommt nicht von ungefähr. Wien, im Juli 2014
Faxn gmåcht, de faden Blidsgneisa, de Studien-Programm-Leita-Drotteln, de sekkanten Schneebrundsa.« Namen wolle er nicht nennen, aber es sei ja offensichtlich, welche Damen und Herren sich bei der Beerdigung lebensfreudiger Philosophie dienstbeflissen in erster Reihe hervortun. »Un dea Dingsda, no dea Dokda Denga? Ogrissn is’a ins Burgund. Háwediéare!« 3 | Die Texte sind verfügbar über www.denker-bercoff.com/verdauung/.
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Einleitung
Für das philosophische Schweigen zur Verdauung gilt in etwa das, was Foucault zum Schweigen zur Sexualität in den Lehranstalten des 18. Jahrhunderts erklärt: Der erste Eindruck täuscht.1 Für abendländische Vorstellungen vom erfüllten Leben sind die Freuden und Leiden der Verdauung grundlegend.2 Doch wie sich ein Wald hinter Bäumen verbergen kann, bleiben Vorgänge der Verdauung oft gerade dort unentdeckt, wo Bäuche die Köpfe dominieren.3 Das bestätigt sich immer dann, wenn Bemerkungen zu Bezügen zwischen Geist
1 | Foucault, 1976, S. 39. 2 | In seinen Erklärungen zur Metaphorik der Erfüllung in der antiken Philosophie erklärt Gerhard Baudy: »Der mit Nahrung gefüllte bzw. sich füllende Magen – die wohl alltäglichste Art, Lust zu gewinnen – erscheint als Urbild von Lust überhaupt, ja eines im Sinne der Erfüllung sich vollendenden Lebens.« Baudy, 1981, S. 8; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1173b.13ff. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in der Tora: Abraham stirbt »erfüllt« bzw. »lebenssatt«. 1.Mose 25:8, vgl. 1.Mose 35.29. Das gelingende Leben geht mit vollen einher, Leere erscheint als ein Synonym für Wertlosigkeit. Dass Philosophen gerne um den heißen Brei herumreden, unterstreicht die anhaltendende Diskussion um die pythagoreische Abneigung gegen Bohnen. Eine kulturübergreifende Untersuchung philosophischer Wertschätzung der Verdauung ist ein Desiderat. 3 | Manche Bauchfeinde würden gerne Wald und Bäume verbergen. In gängigen Übersetzungen klassischer Texte werden ›anrüchige‹ Begriffe derart verblümt, dass der Bezug auf Verdauungsprozessen verloren geht: Geht Saul laut Luther in eine Höhle, um seine »Füße zu decken« (1 Sam 24:3), so steht dahinter die Entlastung eines königlichen Enddarms. Von den Ideen bauchfreundlicher Autoren wissen wir mitunter nur das, was ihre Gegner über sie schrieben, Beispiele liefern Erasistratos (* um 305 v. Chr. Iulis auf Keos; † um 250 v. Chr.) und Jovinianus (* 4. Jh.; † um 405, vermutlich in Rom). Wenn philosophische Enzyklopädien den ›Bauch‹ übergehen, wenn sogar in Indexen zu den Schriften Nietzsches das Schlagwort ›Verdauung‹ fehlt, so ist das kaum einfacher Zufall. Hinweise auf akademische Schwierigkeiten mit allzu menschlichen Aspekten des Lebens gibt es zuhauf.
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und Verdauung in Kreisen der Weisheitsliebe eher gerümpfte Nasen als tiefgehende Reflexion provozieren. Gerade in aktuellen Debatten zum philosophischen Umgang mit Speise ist ›Gastrophobie‹ bzw. ›Bauchverachtung‹ weit verbreitet. Sie gründet auf einer langen Tradition der Unterdrückung von Bauchgefühlen, sowohl in Hinblick auf Sexualität als auch auf Verdauung.4 Das scheint widersinnig, denn Verdauung verbindet unser ›privates‹ Erleben mit ›öffentlichem‹ Wohl und Weh, sei es durch hungerleidende Not oder durch kulinarische Maßlosigkeit. Schweigen zur Verdauung kann nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich sein: für die ›gelehrten Eingeweide‹5 und für das internationale Miteinander, in dem Hunger und Übergewicht zur Tagesordnung gehören.6 Die spezifisch philoso4 | Tatsächlich ist es schwer, die erotische und die kulinarische Bildlichkeit gänzlich voneinander zu trennen. Vgl. Stoichita, 2013, S. 181. Aber damit nicht genug: hinter den Bildern steckt ›wirkliches‹ Leben, in dem eine gänzliche Trennung zwischen Sexualität und Verdauung weder undenkbar noch wünschenswert ist. Die Annahme einer unauflöslichen Spannung zwischen ›Kopf‹ und ›Bauch‹ ist insofern irreführend, als sie zu einer kulturellen Tradition der Unterordnung gehört. Für die Annahme, dass Geschichten zur Verdauung und zur Sexualität einem gemeinsamen Fluss entspringen, sprechen aber gewichtige Argumente, etwa bei Philon, Montaigne, Hegel und Foucault. Durch Verdauung, Sexualität, Atmung und Blutkreislauf verbinden sich Mensch und Welt in ursprünglichen Weisen. Verdauung kann als »Similie für menschliches Produzieren«, Krüger u.a., 2013, 13f, herangezogen werden und als Metapher für Prozesse des Scheiterns und der Zerstörung. Das ›wirkliche‹ Leben prägt Bilder der Verdauung, Bilder der Verdauung prägen das ›wirkliche‹ Leben. 5 | S.u.: Abschnitt zu Georg C. Lichtenberg. 6 | Die Zahl der an Unterernährung bzw. an quantitativer Mangelernährung leidenden Personen steigt. Das gilt auch für Übergewicht und Fettleibigkeit, deren Verbreitung weltweit steigt. Vgl. Ng, Fleming, Robinson u.a., 2014, sowie FAO, 2011, S. 44. Die mit Fehlernährung verbundenen Probleme sind enorm. Kinder mit einem fettleibigen Elternteil entwickeln als Erwachsene doppelt so oft eine Fettleibigkeit wie andere Kinder. Für Kinder mit zwei fettleibigen Eltern ist das Risiko um das Sechsfache erhöht. Die Konsequenzen von Übergewicht sind zahlreich: Neben Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Verkalkung der Herzkranzgefäße, Diabetes Typ 2, Krebs und verschiedenen orthopädischen Leiden sind verstärkt geringeres Selbstwertgefühl, schlechtere Berufsaussichten, erschwerte Partnerschaften und ökonomische Schwächung zu beobachten. Unterernährung, als Krankheit klassifiziert nach ICD-10: E40-E46, kann verschiedene Symptome verursachen, insbesondere Blässe, Schwäche, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Antriebsarmut, entzündliche Hauterkrankungen, verzögerte Wundheilung, geschwollene Lippen, Einrisse an den Mundwinkeln, Entzündungen der Schleimhaut des Mundes und der Zunge, Haarausfall, Mangel an roten und weißen Blutkörperchen, Abnahme der Muskelmasse, verlangsamten Herzschlag, Herzrhythmusstörungen, Herzschwäche, Verminderung des Sehvermögens,
Einleitung
phische Bedeutung der Verdauung ergibt sich aus Vorgängen, die unser Wissen um uns selbst und unsere geistigen Fähigkeiten unmittelbar betreffen, nicht nur bei der ästhetischen Bewertung von Bäuchen im Erscheinungsbild unserer Artgenossen.7 Die Verdauung schafft soziale, kulturelle und politische Fakten.8 Die Behandlung der materiellen und ideellen Bedürfnisse von Bäuchen ist schon deshalb ein Anliegen philosophischer Reflexion, weil es akademische Sprachspiele an das alltägliche Leben und Überleben bindet. 9
Wachstumsstörungen, Verlust der Knochenstabilität, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, gestörte Urinproduktion, vermehrte oder verminderte Ausscheidung von Nahrungsbestandteilen und von Flüssigkeit, Leberschwäche, Konzentrationsstörungen, Gedächtnislücken, Orientierungsverlust, Verwirrung und Depression. Protein-EnergieMangelernährung kann zur Entwicklung von Kwashiorkor führen, d.h. zu verminderter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, beeinträchtigter Fruchtbarkeit, erhöhter Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, ausgeprägten Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe, sogenannten Ödemen in Form geschwollener Füße, Beine und Hände, Schwellungen im Gesicht und sogenannten Hungerbäuchen, aber auch zu Marasmus, d.h. zu starker Gewichtsreduzierung mit Verlust des Unterhautfettgewebes, Muskelschwund, verringertem Wachstum, Erniedrigung von Körpertemperatur, Blutdruck und Herzschlag, greisenhaft eingefallenen Gesichtszügen bei Kindern und aufgetriebenen Bäuchen, und marasmischem Kwashiorkor, wobei die Beschwerden des Marasmus und des Kwashiorkor auch gemischt auftreten. 7 | Etwa im Fall von Fettleibigkeit. ›Dick‹ wird häufig mit ›doof‹ assoziiert. Vgl. Datar u.a., 25.06.2015, S. 58ff. Rigotti erinnert daran, dass dem italienischen Wort ›matto‹, ›dumm‹, ›blöd‹, ›einfältig‹, die indogermanische Wurzel ›mag‹, ›dick sein‹ zugrunde liegt. Vgl. Rigotti, 2002, S. 45. Levinas hat sicher recht, wenn er das Angesicht als Anhaltspunkt unserer Bezüge zum Anderen versteht. Aber die Zustände des Bauches erscheinen im Angesicht, um menschlichen Urteilen und Vorurteilen zu begegnen. 8 | Brecht formuliert treffend: »Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt, / Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« »Ballade über die Frage: ›Wovon lebt der Mensch?‹«, in: Dreigroschenoper. 9 | Zur Beschäftigung mit philosophischen Begriffen der Verdauung regte mich Frau Michaela Kamler an. Als Geschäftsführerin des Wiener Traditionsunternehmens TRENKA ist sie mit der Behandlung von Verdauungsproblemen bestens vertraut: Seit Wittgensteins Kinderzeit produziert die Firma EUCARBON Kohletabletten mit einer legendären Wirkung auf Geist und Bauch, in mehr als 70 Ländern rund um den Erdball. Frau Kamler bat mich, philosophische Texte für pharmazeutische Werbeanzeigen zu verfassen. Was ich zunächst als kurzen Ausflug verstand, wurde zu einer weitläufigen Gedankenreise durch die Begriffsgeschichte, in der Verdauung einen grundlegenden Aspekt des philosophischen Umgangs mit Welt bildet. Die Anzeigen erschienen in medizinischen Fachzeitschriften und im ST/A/R-Printmedium, Wien, gemeinsam mit recht
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Die machtvollen Wirkungen gastraler Fülle und Leere haben wohl seit jeher Anlass zum Staunen gegeben, dafür sprechen frühe ägyptische, hebräische und griechische Bemerkungen zu Bezügen zwischen Verdauung und Welt.10 Für das abendländische Philosophieren ist die Behandlung von Bezügen zwischen gastralen und gedanklichen Aktivitäten ein Grundmotiv. Selbst bauchfeindliche Weisheitsfreunde wie Platon verstehen Verdauung als unverzichtbare Voraussetzung für kulturelle und philosophische Entwicklungen.11 Verdauung erfolgt im Bauch und im Kopf, metaphorisch und konkret. Wer sich ›vernünftig‹ ernährt, muss Speise und Wissen gedanklich und organisch assimilieren. Wer gut leben möchte, muss Hirn und Verdauungsschlauch mit passender Nahrung versorgen, sonst wird ihm weder das eine noch das andere viel nützen. Das soll meine Arbeit unterstreichen, gerade weil es im akademischen Alltag oft leichtfertig vergessen oder scheinheilig ausgeklammert wird. Wollen wir dauern, müssen wir verdauen, wollen wir verdauen, müssen wir andere gebrauchen,12 im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Essobjekt und -subjekt modifizieren sich in der Verdauung miteinander. Über die Teilnahme der Speise am Wesen des Speisenden bestimmt allerdings – im ›Normalfall‹ – der Speisende. Die Einverleibung erfolgt unvollständig. Von seiner Speise nimmt der Speisende nur das in Besitz, was sich sinnvoll in seinen Körperhaushalt einfügen lässt. Anderes wird abgelehnt oder abgegeben. Das berühmte Diktum Feuerbachs ›Man ist, was man isst‹ trifft insofern zu, als die Wahl unserer Speise Teil unserer kulturellen Identität ist und unsere Verdauung bestimmte Teile der Speise assimiliert, um uns zu ernähren, andere aber ausscheidet.13
ausführlichen Abhandlungen, wofür ich meinem Freund Heidulf Gerngross danke. Einige der Texte können im Internet eingesehen werden: www.denker-bercoff.com/verdauung. 10 | Das Staunen bleibt aktuell. Viele Gründe dafür nennt etwa Giulia Enders, deren Monografie Darm mit Charme (2014) eine populäre Lichtung in das Dickicht der medizinischen Fachliteratur schlug. Es bleibt ein Skandal der Philosophie, das Dasein der Aktivitäten in unserem Verdauungsschlauch nicht in Begriffe geistiger Gewissheit überführen zu können. Aber – Skandal hin, Skandal her: Die Verdauung geht weiter, das Staunen auch. 11 | Vgl. Platon, Philebos, 31b-36c u. Ders., Timaeus, 72e-73a. 12 | Vgl. Diaconu, 2005, S. 328. 13 | Der ökologische Kreislauf, innerhalb dessen wir unsere Speisen genießen, verbindet eine äußere mit einer inneren Umwelt. Bei der Verdauung geht es nicht allein um die Erhaltung unserer selbst, sondern auch um die Erhaltung einer innerkörperlichen Lebenswelt. Unsere Darmmikrobiota wiegt bis zu zwei Kilogramm und beherbergt rund 100 Billionen Bakterien, vgl. Enders, 2014, S. 155f. Sie könnte sich ohne uns ebenso wenig erhalten wie wir uns ohne sie: Wir verdauen nicht allein aus Eigennutz oder zur
Einleitung
Widersprüche zwischen Kopf und Bauch stehen der reflektierten Assimilation von Nahrung nicht im Weg. Im Gegenteil: Gastrale Spannungen im Urgestein der abendländischen Begriffsgeschichte inspirieren noch heute psychologische, postmoderne und sprachanalytische Erklärungen. Gerade mit den Mitteln aufgeklärter Vernunft lässt sich leicht nachvollziehen, warum Verdauung einprägsame Gewissheiten schafft: Die Freude am Leben motiviert zur Aufnahme, zur Verdauung und Ausscheidung von Nahrung, sei es in organischer oder in gedanklicher Hinsicht. Werden die mit der Verdauung verbundenen Gewissheiten vernachlässigt, entstehen Probleme. Einerseits kommt es zu physischen Fehlfunktionen, andererseits zu irrationalen Meinungen.14 Sicher können sich philosophische Debatten zum Umgang mit Lust auch auf andere Quellen der Freude beziehen als ausgerechnet auf die Lust an Verdauung. Wird philosophisch über Lust gesprochen, gerade auch in Zusammenhang mit Liebe und Sexualität, liegen Bemerkungen zu Magen und Darm in der Regel nicht weit. Ursprünglich symbolisiert der Bauch den Sitz aller Formen des Appetits.15 Entsprechend eng sind die Bezüge zwischen Sexualität und Verdauung, sei es bei Hippokrates, Augustinus, Montaigne, Descartes, Kant oder Nietzsche. Gerade in Hinsicht auf die Entwicklung philosophischer Umgangsformen mit Geschlechtskonstruktionen, Reproduktion, Selbsterhaltung und alltäglicher Kommunikation lohnt es sich genauer hinzusehen, was neben rationaler Körperverachtung noch hinter dem vordergründigen Schweigen zum Bauch steckt. Überraschungen sind zu erwarten, gerade für jene Geister, denen der Umgang mit Bäuchen schon aus gender-spezifischen Gründen schwerfällt. Zersetzung anderer Lebewesen, sondern auch um eine ›hungrige Schar‹ im Darm zu füttern, vgl. Haarmann, 2008, S. 95. 14 | Die auf irrationalen Bezügen zwischen Bauch und Geist aufbauende Gewalt zeigt sich schon bei radikalen Auslegungen der Speiseregeln des Pythagoras und wirkt über die auf digestive Funktionen ausgerichteten ›Teufelsfolterungen‹ des Mittelalters, vgl. Uther, 2005, S. 8590f., bis zu Klobürsten im Darm, Amphibiengeburten, geplatzten Mägen und Dämonen im gastralen Zwischenraum in zeitgenössischen Boulevardblättern und in Internetforen. Vgl. Ebbing, 2008, 391ff. Medizinische Aufklärungsarbeit zum Umgang mit dem Verdauungstrakt wirkt da mitunter wie ein verzweifelter Aufschrei nach geistiger Notfallbetreuung. Wenn Münzen bei pädiatrischen Patienten mancher Krankenhäuser bis zu 80 Prozent der verschluckten Fremdkörper ausmachen, vgl. Muensterer u. Wallner, 2002, so ist das physiologisch wohl nicht sonderlich problematisch – verschlucktes Kleingeld kann über sieben Tage im Magen beobachtet werden, ehe eine endoskopische Bergung als angebracht gilt –, unterstreicht aber die Dringlichkeit philosophischer Klärung der Bezüge zwischen gastralen, geistigen und wirtschaftlichen Prozessen. 15 | Vgl. Forth u. Carden-Coyne, 2005, S. 4.
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In radikaldigestiver Perspektive kann der Körper selbst zum digestiven Ausscheidungsprodukt werden, so bei Fechner: »Der ganze Leib ist ja eigentlich nur ein Exkrement des Magens, das sich, wie eine Kruste, um ihn ansetzt, ein Pelzwerk um ihn, das ihn weich und warm halten soll, eine Schale, die ganz unnütz und tot daliegen würde, wenn die Nuss des Magens nicht darin wäre.«16 Aber müssten wir dann nicht – konsequent gedacht – noch den Magen als Kruste seines nährenden Inhalts betrachten?17 Liegt das Ziel der menschlichen Verdauung nicht eigentlich in der Erhaltung eines ökologischen Gefüges, dessen Zentrum unsere Darmflora bildet? Gegen die philosophische Einordnung des Kopfes unter den Bauch spricht mehr als nur die physiologische Anordnung von Organen bei aufrechtem Gang. Gedankliche und gastrale Verdauung sind keine durchweg austauschbaren Begriffe. So können wir mit Rudolf Steiner bemerken, dass das Denken sich selbst reflektieren kann, die Verdauung sich nicht selbst verdaut.18 Zwar können wir dem Satze: »Wir müssen denken, bevor wir das Denken betrachten können« gleichberechtigt entgegenstellen: »Wir können auch mit dem Verdauen nicht warten, bis wir den Vorgang des Verdauens beobachtet haben«.19 Das erinnert Steiner aber an einen Einwand Pascals gegen Descartes: »Ich gehe spazieren, also bin ich«. Sicher müssten wir verdauen, bevor wir den physiologischen Prozess der Verdauung studieren können, aber mit der Betrachtung des Denkens lasse sich das nur dann vergleichen, wenn wir die Verdauung essend und verdauend betrachten, nicht denkend. Dagegen lässt sich nun wiederum einwenden, dass eine Verdauung der Verdauung nicht nur gedanklich, sondern auch organisch erfolgen kann, nicht nur im Falle von Magengeschwüren.20 Dem Verständnis der Zusammenhänge
16 | Fechner, 1824, S. 22. 17 | Ist die Form unseres Selbst nicht treffend als Extension eines Bonbons in unserem hingebungsvoll lutschenden Mund vorstellbar? »Man selbst wird eingerundet und existiert schließlich nur mehr als die feine, immer gespanntere Peripherie dieser Süßkugel; man schließt die Augen und implodiert endlich: Selber Kugelcharakteristik annehmend, bildet man einen Gegenstand mit der im Süßen rundgewordenen Welt.« Heubach, 1987, S. 163. 18 | Vgl. Steiner, 1985, S. 48. 19 | Ebd. 20 | Was immer uns auch zur Ernährung dient, entstammt einem ökologischen Kreislauf, in dem sich Verdautes in Verdauendes wandelt und umgekehrt. Steiner selbst scheint den Bezug zwischen Selbstreflexion und Selbstverdauung eingesehen zu haben, als er das Bild einer Schlange, die sich ihren eigenen Schwanz einverleibt, also einen sogenannten Ouroboros, mit der Inschrift »ERKENNET SICH« versah: Siegelbild für Steiners viertes Mysteriendrama Der Seelen Erwachen, 1913.
Einleitung
zwischen organischer und geistiger Verdauung steht der philosophische Vorrang der Köpfe nicht unbedingt entgegen. Entscheidend scheint eher die Einsicht, dass philosophische Umgangsweisen mit Köpfen zu Verantwortlichkeiten gegenüber dem Bauch führen und umgekehrt. Wenn wir einmal die klassische Metapher von Pferd und Reiter bemühen – der Kopf lenkt, der Bauch pariert –, so sollte die gedankliche Behandlung des Bauches doch so ausfallen, dass gemeinsame Ausritte nicht mit Stürzen von den Klippen solipsistischer Selbstgefälligkeit enden. Ein Reiter, der seinem Pferd keine Achtung zollt, kann schnell zum Fußgänger werden. Ein Kopf, der seinen Bauch ignoriert, riskiert unkontrollierte Verdauungsprobleme, die noch den fruchtbarsten Geist schnell zur Erschöpfung führen können. Funktionstüchtige Verdauungsschläuche gehören zu den entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen funktionstüchtiger Nervenzentren.21 Neuere Forschungsergebnisse zu enteralem und zerebralem Nervensystem unterstreichen die Zusammenhänge zwischen neuralen Aktivitäten in Darm und Großhirn. Die Feststellung ›Kein Geist ohne Bauch‹ wäre aber trivial, wenn sie nur deshalb gelten würde, weil die Fähigkeit zur Assimilation von Nah21 | Schon einfache Lebensformen verdauen. Der biologische Vorgang kann ein Modell für literarische Betrachtungen der Verdauung liefern. So stellt etwa Flusser die Verdauung der Amöbe als Metapher sprachlicher Übersetzungsprozesse dar. Vgl. Flusser, 1999, 61f.; dazu Guldin, 2005, 187f. Zunächst bewegt die Amöbe Pseudopodien in eine unbesetzte Richtung. Mit diesen finger- bzw. zungenartigen Fortsätzen erreicht sie ihre Nahrung und bildet eine Verdauungsvakuole, also ein Bläschen, das die Nahrung umschließt. Die Nahrung befindet sich nun im System der Amöbe, aber noch nicht in ihrem Metabolismus. Bei der folgenden Verdauung im engeren Sinne wird die umschlossene Nahrung in Protoplasma umgewandelt. Bei sprachlichen Übersetzungen entspricht das Ausstoßen des Pseudopodiums laut Flusser dem Nennen, die Vakuole dem Eigennamen und ihr Inhalt der extralinguistischen Realität, bzw. dem Nichts. Die Umbildung der Nahrung zu Protoplasma entspräche dem allgemeinen Gespräch, die Amöbe der ganzen Sprache. Der Unterschied zwischen Vakuole und Protoplasma entspräche der Differenzierung in Eigennamen und sekundäre Worte. Die durch Sprache nicht assimilierten, unverdauten Eigennamen bleiben als Fremdkörper zurück und regen durch ihre Gegenwart den Metabolismus der Amöbe an, im übertragenen Sinne also das Gespräch. Die poetische Intention führt dem Gespräch neue Eigennamen zu, die es aus dem Nichts schöpft: »Die Eigennamen werden in dieser intuitiven Tätigkeit aus dem Chaos des Werdens herausgezogen.« Guldin, 2005, S. 188. Auch wenn wir solchen Erklärungen nicht zustimmen mögen, bringen sie doch in Erinnerung, dass die Gestalt wissenschaftlicher Erklärungen literarische Elemente umfasst und umgekehrt. Dabei steht weder für wissenschaftliche noch für literarische Modelle der Verdauung von vornherein fest, ob sie Wirklichkeit vor- oder nachbilden.
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rung eine ontogenetische und genotypische Voraussetzung der Entwicklung von Gehirnen ist. Sicher kann gastrale Verdauung auch ohne Selbstbewusstsein funktionieren, wogegen sich kein Selbstbewusstsein ohne gastrale Verdauung entwickelt. Aber biologische und entwicklungsgeschichtliche Erklärungen zu den gastralen Voraussetzungen geistiger Tätigkeit helfen bei der Erklärung der philosophischen Bedeutung der Verdauung nur bedingt weiter. Auch ohne Blutkreislauf, Zellteilung und Hirntätigkeit bliebe die Welt ja wohl geistlos. Sicher beeinflusst die Funktion von Atmung und Blutkreislauf unsere Gedanken – deutlich wird das im Falle von Fleischwunden oder Luftknappheit –, aber die Bezüge zwischen Hirn und Verdauungstrakt sind in besonderer Weise auffällig.22 Kulturelle, persönliche und sprachliche Entwicklungen beeinflussen unseren Umgang mit Verdauung, aber Verdauung beeinflusst auch unsere kulturellen, persönlichen und sprachlichen Entwicklungen. Tatsächlich gründet das philosophische Interesse an der Verdauung denn auch weniger auf Einsichten in biologische Gegebenheiten als auf dem Erstaunen darüber, wie ein Glucksen im Bauch zuweilen gedankliche Berge versetzt. Umgekehrt ist bemerkenswert, dass geistige Freuden positiv auf die Verdauung wirken können: Große Geistestaten können wissenschaftliche, künstlerische, religiöse und alltägliche Sprachgewohnheiten beflügeln, aber eben auch die ›kleinen Geschäfte‹ des Alltags. Will sich die Existenz geistiger Flügel nicht leicht aus der Struktur des vernünftigen Denkens heraus ergeben, so leistet einfache gastrale Freude mitunter Abhilfe, in theoretischer, praktischer oder ästhetischer Hinsicht.
22 | Viel Aufsehen erregte wohl zu Recht der Neurobiologe Michael Gershon mit seinen Forschungen zum ›zerebralen‹ bzw. ›viszeralen‹ Gehirn. Seine Ausführungen zum Bauchhirn bezieht er auf den 1862 durch den Anatom Leopold Auerbach beschriebenen ›Plexus myentericus‹ (›Auerbach’scher Plexus‹), ein in die Darmwand gebettetes Netzwerk aus Nervenzellen und -strängen, das die Motilität und Peristaltik des Verdauungssystems steuert. Entwicklungsgeschichtlich sind die im Verdauungstrakt konzentrierten Nerven zellen älter als das Gehirn. Ihre Menge übersteigt die der Nervenzellen im Rückgrat. Die Macht der digestiven Schaltzentrale wurde im Laufe der Entwicklungsgeschichte wohl in manchen Hinsichten beschnitten, aber im Wesentlichen scheinen die ›alten‹ Strukturen intakt. Jedenfalls führen entscheidend mehr Nervenstränge vom Bauch zum Kopf als umgekehrt: 90 Prozent der Verbindungen verlaufen von unten nach oben. Die meisten Botschaften vom Darm an das Gehirn entziehen sich der Wahrnehmung. Bewusst erlebbare Alarmbotschaften wie Übelkeit oder Brechreiz sind eher die Ausnahme als die Regel. Das spricht aber nicht gegen die philosophische Bedeutung der Fülle von Signalen, mit denen der Bauch unser Hirn versorgt. Offensichtlich wirkt Verdauung – ähnlich wie Schlaf, Atmung, Kreislaufgeschehen etc. – auf unsere Bereitschaft und Fähigkeit, Gedanken zu entwickeln. Vgl. Gershon, 1998.
Einleitung
Trotz mancher Grobheit scheint mir mein Bild von philosophischen Umgangsformen mit Verdauung doch hilfreich für das Verständnis von Wechselwirkungen zwischen ›geistigen‹ und ›organischen‹ Prozessen. Das Ziel meiner Arbeit ist die Anregung zu frohsinniger Erforschung, oder lieber noch, frei nach Kant, zu zwerchfellerschütterndem Lachen.23
23 | Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 281.
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1. Wurzeln Von altägyptischen Texten zu Epikur
Die ursprüngliche Annahme eines lebensspendenden Hauches einheitlichem Prinzip zur Erklärung der Lebendigkeit wurde im Verlaufe der Geistesgeschichte ausgiebig verändert. Insbesondere der Begriff des Geistes wurde komplex und kontrovers debattiert. Die Bedeutung des Begriffs schwankt entsprechend der kulturellen, religiösen und medizinischen Zusammenhänge, in denen er auftritt. Gewöhnlich bezieht sich die Rede von geistiger Aktivität zuweilen auf eine Reihe kognitiver Fähigkeiten, insbesondere auf Wahrnehmung, Erinnerung, Lernfähigkeit, Denken und Bewusstsein. Die Klärung der Beiträge des Körpers zu diesen Fähigkeiten ist ein zentrales Anliegen der Philosophie des Geistes. Offensichtlich stellt sich die Gretchenfrage nach dem Anteil des Körpers am Geiste nicht allein für Verdauung, sondern auch für Atmung, Sexualität, Blutkreislauf oder Nervensystem. Die Verdauung ist dabei insofern von besonderem Interesse, als dass sie ein Zusammenspiel unbewusster Bauchvorgänge mit bewussten Entscheidungen zur Auswahl und Abgabe von Nahrung beinhaltet, das schon in der klassischen Philosophie die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist veranschaulichte. Gerade aus diesem Grunde gibt die Untersuchung der Verdauung Einblick in die Motive des philosophischen Umgangs mit Geist und Körper. Schon zu Zeiten der klassischen Philosophen prägte Verdauung die Vorstellungen von Geist. Die Begriffsgeschichte folgt dabei wohl der biologischen Entwicklungsgeschichte: Hätte der Verdauungsschlauch nicht von der Entwicklung eines neuronalen Zentrums an seinem Eingang profitiert, so hätte es wohl kein bewusstes Denken gegeben. Der Einfluss der Gefühle von Hunger und Durst auf geistige Aktivitäten ist mitunter stark. So mancher Arbeiter des Geistes reagiert verstört oder gar verärgert, wenn die Bedürfnisse des Bauches die Höhenflüge seiner Gedanken beschränken. Nicht von ungefähr sind gastrophobe Schläge in den Unterleib in der Geschichte der Philosophie eher die Regel als die Ausnahme. Die diskri-
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minierende Herabsetzung der Freuden des Bauches gehört zur Tagesordnung, wobei die Abwertung der Verdauung die Schwierigkeit des Geistes, sich selbst als ein von der Verdauung unabhängiges Vermögen zu denken, nicht unbedingt erleichtert. Im Gegenteil: Der Unwille gegenüber den Impulsen des Bauches wirkt selbstzerstörerisch, wenn der Geist sich dem Bauch entgegenstellt und ihm den Gehorsam verweigert, womöglich bis zum Eintreten des Todes durch Fehlernährung. Geistiger Widerstand hindert den Bauch aber nicht daran, seine Unbefriedigung nachdrücklich zu signalisieren. Hunger oder Durst erschweren die Entwicklung klarer Gedanken merklich. Ein revoltierender Bauch kann selbst logische Gewissheiten zum Verschwimmen bringen. Vergleichbare Blockaden geistiger Freiheit können auch durch Sauerstoffmangel und Blutverlust verursacht werden. Es sei dahingestellt, wie körperlose Geister es mit der Verdauung halten. Geister in menschlichen Körpern müssen sich arrangieren. Wollen wir vernünftig denken, müssen wir den Bauch befriedigend bedienen. Wird die Bedienung zum monotonen Zwang, finden Kopf und Bauch wenig Freude an Verdauung. Doch auch wenn wir an den Vorrang des Gehirns gegenüber dem Verdauungsschlauch glauben, bleibt die Entwicklung des vernünftigen Umgangs mit der Verdauung doch philosophisch bedeutsam, denn eine gut durchdachte Verdauung kann zu einem gelingenden Leben beitragen. Zum Beispiel dann, wenn die gedankliche Erfassung der Sinnlichkeit des Verdauungsschlauchs es erlaubt, gewohnte Umgangsformen mit Nahrungsmitteln zu hinterfragen. Die richtige Diät für Körper und Geist ist ohne Bezug auf die Verdauung schwer zu finden. Dafür sprechen jedenfalls die Erklärungen zur diätischen Regulierung seelischer und digestiver Vorgänge in der frühen Philosophie der Griechen, aber auch Zeugnisse aus der ägyptischen und hebräischen Kultur, die ich einleitend skizzieren möchte. In der Folge werde ich, ausgehend von pythagoreischen Lehren, grundlegende Motive verschiedener Ansätze griechischer Philosophen zur asketischen Lebensführung aufgreifen, insbesondere Bezüge zwischen Geist und Verdauung bei Platon, Aristoteles und Epikur. Ansatzpunkte für das philosophische Interesse an der Verdauung bieten schon kultische und medizinische Gewohnheiten in frühen ägyptischen Kulturen (ab dem 20. Jh. v. Chr.). Die Verdauung wird nicht nur in Hinblick auf das irdische Leben, sondern auch auf die Zeit nach dem Tod gepflegt. Im Umgang mit Sorgen um die Existenz jenseits des irdischen Daseins und dem Wunsch nach der Bändigung der wuchtigen Verdauungsgewalten zu Lebzeiten fehlen eindeutige Grenzen zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen. Ähnliches lässt sich auch für die Behandlung der Verdauung im Alten Testament sagen (ab dem 10. Jh. v. Chr.). Geistige und körperliche Aspekte der Verdauung entwickeln sich in einer kaum hinterfragten Einheit. Die Vorstellung eines erfüllten Lebens gründet dabei auf der Vorstellung eines gefüllten
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Bauches. Physische Bauchorgane werden bei rituellen Opferhandlungen mit geistiger Bedeutung aufgeladen, wobei man etwa Nieren als Sitz des Lebens, der Gefühle und moralischer Einstellungen behandelt. Lebendige Bäuche gelten als privilegierte Orte menschlicher und göttlicher Strafen und Freuden. Zwischen Wissen, Sprache und Verdauung werden funktionelle Bezüge angenommen. Die Freude an sättigender Speise kontrastiert mit der Angst vor sexuellen und digestiven Baucherscheinungen. Die Verdammung der Schlange zum Kriechen auf der Erde und zur Ernährung durch Staub unterstreicht die symbolische Bedeutung des Bauches für menschliche Begriffe von Freude und Leid. Auch in der griechischen Mythologie (ab dem 7. Jh. v. Chr.) werden Verdauungsvorgänge als Mittler zwischen Körper und Geist vorgestellt. Die orphischen Mythen, aber auch die Kulte der Demeter, des Dionysos und des Apollon sind reich an Hinweisen auf das Bewusstsein für die Machtfülle der Bäuche. Die wortreichen Klagen der homerischen Helden über üble Bäuche unterstreichen den Befund. Die pythagoreischen Lehren (ab dem 6. Jh. v. Chr.) entwickeln sich vor dem Hintergrund gastraler Selbstgestaltung und der mit ihnen einhergehenden Hoffnungen und Sorgen. Die Debatten um den mystischen Gehalt diätetischer Lehren zur Regulierung der Verdauungsgewohnheiten halten bis in die Gegenwart an. Das frühe philosophische Interesse am »inneren« Erleben bezieht sich in wichtigen Hinsichten auf Bauchzustände, eine strenge Trennung zwischen physischem und geistigem Wohlsein wird nicht angenommen. Das unterstreichen die hippokratischen Ratschläge zum Umgang mit Speise, die sich ihrerseits auf körperliche und auf geistige Heilung richten (ab dem 5. Jahrhundert v. Chr.). Hinweise zur medizinischen und gymnastischen Pflege der Bauchorgane folgen dem Wunsch nach einem umfassenden Wohlbefinden, wobei der Pflege der organischen Verdauung viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Spätestens mit Platon (* 428/427 v. Chr., † 348/347 v. Chr.) gewinnt der Gegensatz zwischen Kopf und Bauch scharfe Kontraste. Das gastrale Verdauungssystem erscheint einerseits als niederster Teil der menschlichen Seele, dem wenig philosophische Aufmerksamkeit zukommen soll, andererseits als notwendige Voraussetzung zur Entwicklung von Kultur und Philosophie, die gerade auch Platons Aufmerksamkeit beansprucht. Die Verdauung von Wissen und die Verdauung körperlicher Nahrung bezieht Platon in komplexer Weise aufeinander. Gastrale Verdauung dient ihm als Modell zur Erklärung gedanklicher Verdauung, wobei das Modell abgewertet und aus der idealen Wirklichkeit ausgegrenzt wird. Dabei vermischen sich metaphorische Betrachtungen zu Geist und Bauch mit konkreten Anweisungen zur Verbesserung digestiver Praxis durch Vorgaben zu Person und Gesellschaft. Erklärungen zur Ernährung, zu intellektueller Kompetenz und zum sozialen Verhalten werden eng verknüpft.
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Platons Versuche zur Beschränkung gastraler Triebhaftigkeit kontrastieren mit Vorstellungen anderer Philosophen. Wenn etwa Diogenes von Sinope (* ca. 410 v. Chr., † ca. 323 v. Chr.) bedauert, dass sich seine gastralen Bedürfnisse nicht durch das Reiben des Bauches beseitigen lassen, so ist das nicht nur ein Plädoyer für das Recht auf öffentliche Selbstbefriedigung, sondern unterstreicht die Grenzen geistiger Entscheidungsfreiheit gegenüber der Unlust des hungernden Bauches. Seine Bemerkungen zum Bauch unterstreichen, dass zur philosophischen Zufriedenheit die Möglichkeit zur Wahl verdaulicher Nahrungsmittel gehört. Dass eine unzureichende materielle Grundlage zur Befriedigung des Bauches Krankheit und Tod verursachen kann, unterstreicht Diogenes mit seinen gastralen Selbstversuchen. Zur Befriedigung des Verlangens nach verdaulicher Speise gehört ein gewisser Wohlstand, der für Diogenes keine Selbstverständlichkeit ist. Wer seinen Hunger mit unverdaulichen Dingen stillt, riskiert dabei Leib und Leben. Aristoteles (* 384 v. Chr., † 322 v. Chr.) wundert sich über die unterschiedlichen Wirkungen, die Nahrung und Medikamente auf Menschen haben können. Seine Erklärungen hierzu beruhen auf der Unterscheidung von drei Funktionen des Lebens: Aufnahme von Speise, Ausscheidung von Exkrementen und Kontrolle der vitalen Gesamtfunktion. Seine Ausführungen zur Psyche leitet er mit Überlegungen zur Aufnahme und Verdauung von Nahrung ein. Rationale Entscheidung beruhe auf physiologischen Voraussetzungen, einem Zustand des Gleichgewichts, Eukrasia. Geistiges Erleben und körperliche Aktivität wirken dabei zusammen: Warum sonst kann uns Angst Magen und Blase umdrehen? Dass Verdauung nicht als rein materieller Prozess zu behandeln ist, der künstlich nachvollzogen werden kann, begründet Aristoteles nicht mit einer mysteriösen Qualität der physischen Abläufe, sondern mit der speziellen formalen bzw. seelischen Beschaffenheit der verdauenden Organismen. Die Psyche eines jeden Lebewesens beinhalte bestimmte Formen der Verdauung. Insofern Aristoteles Bewusstseinszustände nicht streng von der Welt trennt, hat Verdauung Anteil an der Psyche – sei es bei Mäusen oder bei Menschen. Der Besitz einer menschlichen Psyche gehe mit speziellen, menschlichen Verdauungsfähigkeiten einher. Epikur (* ca. 341 v. Chr., † 271 oder 270 v. Chr.) bezieht seine Weisheit in sehr direkter Weise auf die Freuden des Bauches. Die Lust des befriedigt ruhenden Magens, das sättigungsspezifische Wohlbehagen, schätzt er höher als die Lust am Essen, aus der sie hervorgeht. Indem er die »statische« Lust der Erinnerung über die »bewegte« Lust der stetigen Füllung und Leerung stellt, versucht er, der schwankenden Lust des Magens Kontinuität zu verleihen. Dem epikureischen Weisen hält die Erinnerung den einmal gefüllten Magen für immer präsent. So begehrt er nichts andres als statische Lust. Man könne sich seinen Magen zwar immer aufs Neue füllen, aber an seinem Umfang und der
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Intensität der Lust ändere das wenig. Die Magenwand wird so zur Grenze seelischer Bedürfnisse.
B egriffliche I nseln der alten Ä gyp ter Das Interesse der abendländischen Philosophie an der Verdauung wurzelt in der Kultur der alten Ägypter, wo pflegender Umgang mit der Verdauung zum Alltag gehörte. Manche damalige Gewohnheit ist sicher nur unvollkommen nachvollziehbar. Das erklärt sich einerseits durch den erheblichen zeitlichen und kulturellen Abstand zu uns selbst, andererseits durch die internen Veränderungen, die in der über 3000 Jahre anhaltenden Entwicklung der altägyptischen Kultur auftraten. Ungeachtet dieser Schwierigkeit und den entsprechend kontroversen Bewertungen in der Ägyptologie, lassen sich charakteristische Muster aufzeigen, die für das philosophische Interesse an der Verdauung richtungsweisend sind. Das irdische Leben galt den alten Ägyptern als kurz,1 die Gegenwart als flüchtig.2 Die Vorbereitung auf die Zeit nach dem Tode erschien ihnen angeraten.3 Die Ausbildung eines verlässlichen, eigenständigen Charakters sollte auf Zustände innerer Verzweiflung, Krankheit, Ruin und Einsamkeit inmitten einer feindlichen Umwelt vorbereiten. Weise Menschen sollten sich auf ihre eigenen moralischen Grundlagen verlassen können.4 Die Feststellung ›In einem Dorf, in dem du keine Verwandten hast, ist dein Herz dir verwandt‹ charakterisiert diese Tradition der Weisheit.5 Die wissenschaftlichen, mystischen und diätischen Ansätze zum Umgang mit dem Bauch entwickelten sich im Zusammenhang mit Lehren des Lebens, aus denen die ägyptische Literatur – von ihren Ursprüngen bis zu ihrem Erlöschen – ihre kennzeichnende Moral bezog.6 Effiziente Tätigkeit, gebettet in ruhiges und klares Denken, sollte die pessimistischen Aspekte des Wissens um die Endlichkeit des Daseins abmildern.7 Dieser Grundhaltung entsprach eine durch Ratschläge, Formeln, Rezepte und Anweisungen bestimmte Praxis. Das Wissen um die kurze Dauer des irdischen Lebens sprach für die Gestal-
1 | Vgl. Merikare, E39-42, Quark, 1992, S. 29. 2 | Vgl. Die Prophezeiung des Nfr.tj, 12 u. 14. Nach Helck, 1970, vgl. Cenival, 1991, S. 86. 3 | Vgl. Cenival, 1991, S. 79. 4 | Vgl. ebd. 5 | pInsinger, 25,16, nach Cenival, 1991, S. 79. 6 | Vgl. Cenival, 1991, S. 91. 7 | Vgl. ebd., S. 89.
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tung von Momenten des Glücks.8 Aufmerksamer Umgang mit der Verdauung schien angeraten.9 Allerdings vertraten nicht alle altägyptischen Autoren eine gastrophile Position im Sinne dessen, was uns später bei Epikur oder Montaigne begegnet. Schon in der Lehre an Kagemni, um 2360-2205 v. Chr., deuteten sich Forderungen zur Disziplinierung des Bauchs an.10 Die Stellung der inneren Organe in altägyptischen Lehren folgte mesopotamischen Auffassungen, die Herz und Leber als Zentren des Lebens darstellten.11 Dem Zusammenhang 8 | Vgl. Ankhsheshonq 8,7-8; dazu Harfnerlied des Antef, 8-16. Die Feststellung »Ein Krokodil stirbt nicht aufgrund von Sorgen, sondern aufgrund von Hunger.« (Ankhsheshonq, 10,5), lässt sich pragmatisch deuten: Die Versorgung des Bauches hat Vorrang vor den Sorgen des Alltags. 9 | Vgl. Stele BM 147; Reymond, 1981, Bd. I, S. 171. Angeblich soll Darmentleerung ein wichtiger Bestandteil des altägyptischen Hofzeremoniells gewesen sein. Vgl. Mörgeli, 1997. 10 | »When you sit with company, Shun the food you love; Restraint is a brief moment, Gluttony is base and is reproved, A cup of water quenches thirst, A mouthful of herbs strengthens the heart [...]« Kagemni, I,8ff, nach Lichtheim, 1973, S. 59f. Ähnlich in der Lehre des Amen-em-opet, um 1300-1075 v. Chr.: »If you are sated pretend to chew, content yourself with your saliva. Look at the bowl that is before you, And let it serve your needs.« Amenemope, 23.15ff., nach Lichtheim, 1976, S. 160. Auch der Papyrus Insinger, um 305-30 v. Chr., scheint spätere griechische oder christliche Motivationen zur Askese vorwegzunehmen, schon ab den ersten, nur fragmentarisch erhaltenen Seiten: »Good food in his time and his ------.« pInsinger, 2,1, nach Lichtheim, 1980, 186ff. »Weigh his wish in the time of feebleness ------ because of it. Do not eat your fill of what you love at [the moment when] he desires it. Do not outdo him in dress in the street, so that one looks [at you more than on him].« Ebd., 2,3ff. »[The] evil that befalls the fool, his belly and his phallus bring it.« Ebd., 6,1. »He who eats for the sake of his belly is violated by his companions. He who is gluttonous through lack of shame draws all kind of blame to himself.« Ebd., 6,21f. »The little he has is good if he is sated with plenty of food. Hunger is good for him who can be sated so that harm does not befall him. Lawful punishment attains the man who is foolish because of his belly. A shameless glutton draws all kind of blame to himself. He who is abstemious with his belly and guarded with his phallus is not blamed at all.« Ebd., 7,7ff. »Do not love your belly, know shame in your heart, do not scorn the voice of your heart.« Ebd., 25,18 »Do not flatter nor be rude in any house because of love of your belly.« Ebd., 26,5. »He who controls himself in his manner of life is not reproached on account of his belly.« Ebd., 26,17. 11 | Vgl. Pichot, 1983, S. 13. Laut Alfred Jeremy sprachen die Babylonier in etwa dann von der Leber, wenn wir vom Herzen sprechen würden. Das sumerische Wort für Bauch ›karsu-karasu‹, auch ›kabittu-kabattu‹, bedeutete zunächst Leber, als ›das Schwere‹ des Leibesinnern, konnte sich aber auch auf den konkreten Bauch oder das Innere des
Wurzeln
zwischen Verdauung und Leben wurde Rechenschaft gezollt, es wurde angenommen, dass Speise sich wie die Atemluft über Lunge und Herz im Bauch verteilt.12 Das Herz galt als Durchgangsorgan für Speisen,13 mit dem auch Brot angenommen werden konnte.14 Bezüge zwischen Herz und Verdauung veranschaulichen die entsprechenden Bildzeichen. Der Begriff ›Magen‹ bzw. ›Ausmündung des Herzens‹ setzt sich aus den Zeichen für Mund und Herz zusammen.15 Das Herz erscheint dabei vor dem Magen wie ein Gott vor einer Kapelle.16 In der neueren Forschung besteht Uneinigkeit darüber, ob der Begriff ›jb‹ ausschließlich als metaphorische Bezeichnung für das Herz verwendet oder ob er auch auf den Magen, mehrere Organe des Bauches oder gar auf den ganzen Körper bezogen wurde.17 Möglicherweise wurde zwischen Herz und Magen nicht klar unterschieden.18 Ein ägyptischer Begriff für das Zwerchfell bzw. für die Abgrenzung zwischen Herz und Magen ist nicht bekannt. Der verwandte Begriff ›r3-jb‹ wurde mitunter pars pro toto für ›jb‹ verwendet.19 Die Bedeutung der altägyptischen Begriffe für Herz und Magen ist im Rahmen unserer gewohnten Denkstrukturen nur bedingt widerspruchsfrei fixierbar. Möglicherweise wurden die Begriffe weniger auf physiologische Organe, als auf spürbare Bereiche des Leibesinneren bezogen. Diese Bereiche wären dabei in mehr oder weniger festem Bezug zu organischen Gegebenheiten definiert.20 Entsprechend der flexiblen Struktur phänomenologischer ›Leibesinseln‹ wurde die Struktur der fraglichen Begriffe auf ein Gewoge verschwommener Landflecken zurückgeführt, die sich Leibes als Empfindungszentrum beziehen. Neben der Leber wurde auch das Herz als ein Sitz der Empfindungen angesehen. ›Was hat ihr Herz getrieben, was hat ihre Leber bewegt?‹ soll das göttliche Wesen Ištar in der Unterwelt gefragt worden sein. Vgl. Jeremias, 1929, S. 94ff. 12 | Vgl. pEbers, 855a. (99, 12 - 99, 14) 13 | Vgl. Westendorf, 1999, S. 109. 14 | Vgl. pEbers, 284 (50, 21-51, 3). 15 | ›𓂋𓄣‹ (›r3-jb‹), aus ›𓂋‹, (Gardiner D21, ›r‹ bzw. ›rw‹) und ›𓄣‹, (Gardiner F34, ›jb‹); die Übersetzung mit ›der Raum der Psyche‹ wurde ebenfalls erwogen, Walker, 1996, 128f. 16 | Vgl. Westendorf, 1999, S. 188N190. Dieser Zusammenhang wirkt in der hellenistischen Terminologie nach: Das griechische Wort ›καρδία‹ wird nicht nur als ›Herz‹, sondern auch als ›Magenmund‹ übersetzt. Die begriffliche Nähe zwischen Herz und Magen prägt auch die aktuelle Verwendung des Wortes ›Cardia‹ für den Übergang der Speiseröhre in den Magen. Westendorf, 1999, S. 189N191. 17 | Vgl. Nyord, 2008, S. 55ff. 18 | Vgl. Grapow, 1954, Bd. I, S. 63f. 19 | Vgl. Gödel, 1957-1958, S. 649. 20 | Vgl. Rappe, 1995, S. 279 und Nyord, 2008, S. 112.
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ohne stetigen Zusammenhang bilden, umbilden und auflösen oder mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung beharren, besonders im oralen und analen Bereich.21 Das Widerspiel von expandierender Weitung und zusammenhaltender Engung der Leibesinseln schaffe einen vitalen Antrieb, »gleichsam den Dampf, unter dem ein Mensch steht wie ein Kessel«.22 Es sei dahingestellt, ob Schmitz bei dieser Formulierung an das Bildzeichen ›𓄣‹ dachte. Für elastische Definitionen sprechen jedenfalls nachweisbare Verschiebungen in den altägyptischen Sprachgewohnheiten, etwa im Falle des Begriffs ›h3tj‹, der zur Bezeichnung des Herzens zunächst neben ›jb‹ trat und sich später zu einer umfassenden Bezeichnung für Herz und Magen entwickelte.23 Der Verwendungsumfang beider Begriffe ist weit und kann neben den Körperorganen den Verstand, die Persönlichkeit, die Emotionen, Wünsche u.a. betreffen.24 Inwieweit der Terminus für Herz die Psyche oder das Organ bezeichnet, ist nicht immer mit Sicherheit zu entscheiden.25 Tendenziell bezog sich der Begriff ›h3tj‹ schon in den Pyramid Texts eher auf den Herzmuskel, der Begriff ›jb‹ dagegen auf moralische und psychische Aspekte.26 Allerdings dürfte keiner der Begriffe ursprünglich eine immaterielle oder geistige Entität bezeichnet haben.27 Wenn die alten Ägypter emotionale oder kognitive Prozesse mit dem Herzen oder dem Magen in Verbindung brachten, so bedeutet das nicht, dass sie zwischen Körper und Geist im heutigen Sinne unterschieden hätten.28 Übersinnliche 21 | Anhaltspunkte hierzu bieten Ausführungen von Hermann Schmitz, vgl. Schmitz, 2007, S. 16. 22 | Schmitz, 2007, S. 19. 23 | Vgl. Firchow, 1955; Westendorf, 1999, Bd. 1, S. 109 u. 189. Hintze, 1955, S. 140 ff., erinnert an unscharfe Differenzierungen zwischen Herz und Magen in anderen Sprachgemeinschaften. Anhand von Belegen aus dem Alten Reich versuchte Stracmans, 1961, S. 126, den einen der Begriffe systematisch als Bauch, den anderen als Herz zu deuten. Long, 1986, S. 488, konstatiert Zusammenhänge zwischen ›jb‹, Mut, Liebe, Intelligenz, Bewusstsein, Verlangen, Gedächtnis, Befriedigung, Gefühl, Geschmack, dem Magen, den Därmen dem Zwerchfell und dem, was sich in der Mitte befindet. Walker, 1996, S. 174, wendet sich gegen anatomische Zuschreibungen von ›jb‹ zu Herz, Magen oder Magengrube und interpretiert es als Person oder Selbst. 24 | Rueda, 2003, 119ff. 25 | Ebd., S. 31. 26 | Vgl. Piankoff, 1930, S. 13. 27 | Vgl. Nyord, 2008, S. 66. 28 | Vgl. ebd. Die ursprüngliche Vermischung zwischen geistigen und organischen Vorgängen unterstreicht ein Text aus der späten XI. bis frühen XII. Dynastie, in dem ein Bittsteller einem Vorsetzten gegenüber seinen »Bauch ausfegt« und sein »Herz wäscht«. Wir würden heute vielleicht sagen, er habe frei von der Leber weg geredet. Die Lehre des Ptahhotep, P264-268. Zitiert nach Rueda, 2003, S. 149f.
Wurzeln
und organische Aspekte treffen auch im Sammelbegriff ›ẖ.t‹29 zusammen, geformt aus den Begriffen ›Brotlaib‹ und ›Unterseite eines Säugetiers‹, der sich auf die Region unterhalb der Brustpartie bis zum Unterleib bezieht und in etwa dem entspricht, was wir heute Bauch nennen.30 Die transzendentale Bedeutung des Begriffs deutet sich in seiner Verwendung in den Namen von Göttern an: ›die sich im Bauch des Osiris befinden‹, ›die aus einem Bauch herauskommen‹ oder ›die das Kind im Bauch der Mutter erhalten‹.31 Für das werdende Leben war der Bauch ein Mutter-Leib.32 Innerhalb des Bauches wurde zwischen Leber, Milz und Nieren unterschieden. Die entsprechenden Begriffe treten in den medizinischen Texten aber vergleichsweise selten auf.33 Wichtiger scheinen die Eingeweide. Die schlängelnden Windungen der den Darmschleifen entsprechenden Bildzeichen ›𓄲‹, ›𓄳‹, ›𓄵‹, ›𓄴‹, ›𓄶‹34 erscheinen insbesondere in Bezeichnungen für räumliche Bewegungen.35 In medizinischen Texten liegen Assoziationen zu Schlangenleibern und Darmwürmern nahe.36 In den Sargtexten können Därme und ihre Windungen immer auch zu einem schlangenartigen Wesen gehören,37 das sich seinerseits in den Windungen anderer Wesen befinden kann.38 Vergleichbare Windungen erscheinen auch im Zusammenhang mit Opferhandlungen. Beachtenswert ist auch die Ähnlichkeit zwischen den Zeichen für Darmwindungen und dem Zeichen für ›opfern‹, einer Blume am gewundenen Stab: ›𓆻‹.39 Die Bezüge zwischen dem Geschehen im Inneren des Bauches und übersinnlichen Erscheinungen unterstreichen die Worte des Gottes Atum, die über den Weg der Windungen (›q3bw‹) aus dem Herzen (›ib‹) dringen: »Ich bin der, der sich in den Windungen hält, der seinen Sitz in den Windungen genommen hat.«40
29 | Unterseite eines Säugetiers ›‹, (Gardiner F32, ›ẖ‹), Brotlaib, ›𓏏‹, (Gardiner X1, ›t‹). 30 | ›hrj-h.t‹ u.a., vgl. Westendorf, 1999, S. 193. 31 | Vgl. Leitz, 2003, S. 27, 95, 176, 595. 32 | Vgl. pEbers, 798, 800. Ähnliche Vorstellungen finden sich später im Alten und im Neuen Testament 33 | Vgl. Westendorf, 1999, 186ff. 34 | Vgl. Gardiner, F46-F49. Vgl. Vomberg u. Witthuhn, 2008, S. 131. 35 | Etwa als Determinativ ›wdb‹, für umwenden, zurückkehren oder als Phonogramm ›dbn‹, für umdrehen, umhergehen. 36 | Vgl. Westendorf, 1999, S. 193N205. 37 | Vgl. Nyord, 2008, S. 135, vgl. Coffin Texts, VII, 110u (905). 38 | Vgl. Coffin Texts (CT), VI, 345m (716), nach Buck, 1935ff. 39 | Vgl. Gardinier M11, vgl. Vomberg u. Witthuhn, 2008, S. 133. 40 | CT, IV, 147g. Vgl. Nyord, 2008, S. 371.
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Es ist nicht leicht zu bestimmen, inwiefern die alten Ägypter eine Vorstellung umfassender Zusammenhänge zwischen den Organen des Verdauungskanals hatten. Eine Verbindung zwischen Blase und After wurde wohl angenommen.41 Anscheinend konnte sich die Bezeichnung für die Öffnung am Darmausgang42 auch auf den untersten Teil der Gedärme beziehen, ein Zauberspruch im Papyrus London spricht von den »Eingeweiden des Afters und des Bauches«.43 Im Papyrus Ebers ist vom Absteigen eines Leidens aus dem Magen zum Mastdarm und After die Rede.44 Anscheinend gingen die alten Ägypter davon aus, dass die Verteilung von Speise über die Gefäße in etwa so funktioniert wie der Transport von Lasten auf dem Nil. Jedenfalls werden Termini aus der Nilschifffahrt verwendet, wenn Verstopfungen mit Stauung, Austrocknung, Quertreibern und der Bildung von Ufern und Sandbänken in Bezug gesetzt werden.45 Verdauungsphilosophisch bedeutsam ist auch die Verbindung zwischen After und Herz durch Gefäße. Ein Einfluss der Funktion des Darmausgangs auf das Herz wurde angenommen: »Wenn das Herz Ekel empfindet, so ist es die Bitterkeit des Herzens aufgrund von Entzündung am After.«46 Bezüge zwischen organischer Funktion und emotionalem Erleben liegen auch hierbei nahe. Wird von der Kühlung des ›ib‹ gesprochen, muss sich dies nicht unbedingt auf das Herz oder ein anderes, spezielles Organ beziehen, sondern kann auch das Innere allgemein betreffen.47 Das könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass die Verbindung zwischen Zuständen im Herzen und im Bauch nicht nur auf Organe eines objekthaften Körpers, sondern auf den Ort individueller Gefühle und Emotionen bezogen werden konnte. Die Pflege der Bauchorgane diente nicht allein der Erhaltung des Lebens während des relativ kurzen Daseins im Hier und Jetzt, sondern auch zur Vorbereitung auf ein wirkliches und ewiges Leben nach dem Tode. Es bestand Hoffnung, Speise und Trank in der Nachwelt ebenso genießen und ausscheiden zu können wie zu Zeiten der irdischen Existenz.48 Die altägyptischen 41 | Vgl. pEbers, 27, 139, 265. 42 | ›ph.wj‹, später auch ›phwj.t‹. 43 | pLondon, 33 (10,7) [45 (14,7)]. Nach Westendorf, 1999, S. 205. 44 | Vgl. pEbers, 194. (38,10-17). 45 | Vgl. pEbers, 198, 204, 205. Ähnliche Analogien prägen auch physiologische Vorstellungen im 20. Jahrhundert, etwa bei Cannon: »In funktionaler Hinsicht stellt das Distributionssystem [Kanäle, Flüsse, Straßen, Eisenbahnlinien, mit Booten, Motorfahrzeugen und Zügen] in allen seinen Aspekten das nächste Äquivalent der fluiden Matrix des Körpers dar.« Cannon, 1932, S. 296. 46 | pEbers, 855f. (100, 16-100, 17). 47 | Vgl. Nyord, 2008, S. 69. 48 | Vgl. TB, Kap. 163, Barguet, 1967, S. 235.
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Lehren zur Verdauung entwickelten sich im Zusammenhang mit kultischen Aktivitäten. Bei Grablegungen wurden neben den Leichnamen verschiedene Verdauungsorgane in Kanopenkrügen beigesetzt.49 Die Schutzgötter der vier Kanopen, Begleiter des Toten auf seiner Reise in das Jenseits, waren je einem Organ zugeteilt: Amset der Leber, Hapi der Lunge, Duamutef dem Magen und Kebechsenuef den Gedärmen. Herz und Nieren verblieben in der Regel im Körper, das Gehirn wurde transnasal entnommen und anderwärtig entsorgt.50 Bei der Vorbereitung eines Leichnams zur Erscheinung vor Osiris wurden die Ausgänge des Hauptes und des Bauches mit heiligen Instrumenten geöffnet.51 Schon in den Pyramiden-Texten wird nicht nur um Brot und Bier gebeten, sondern auch um einen funktionstüchtigen Mund und Anus.52 Die im Jenseits drohende Umkehr des Verdauungsprozesses wurde also mit der Umkehr des Leibes und dem Essen der Exkremente verbunden.53 In den Sargtexten fallen unter einer Vielzahl von Sprüchen zum Essen und Trinken Formeln auf, die den Toten davon befreien sollten, auf dem Kopf zu gehen, Kot zu essen und Urin zu trinken. Um der Umkehrung entgegenzuwirken, wurde für die Ankunft im Totenreich u.a. folgende Erklärung vorgesehen: »Mein Abscheu, mein Abscheu, Ich will keinen Kot essen und keinen Urin trinken, Ich will nicht kopfüber gehen (müssen)!«54 Die Verdauung nach dem Tod stellte sich als Inversion der Vorgänge im vorhergehenden Leben dar, gegen die es die Verstorbenen zu schützen galt.55 Auch die Berührung von Kot mit Händen oder Sohlen versuchte man den Anwärtern auf das ewige Leben zu ersparen.56 Manchem ägyptischen Schriftgelehrten scheint die genaue Bedeutung der Textstellen entgangen zu sein, vielleicht waren die mit ihnen verbundenen Vorstellungen einfach zu erschreckend. Jedenfalls weisen manche Abschriften sinnwidrige Ersetzungen auf,57 so etwa ein Sargtext Zur Vermeidung von Arbeit in der Totenstadt aus dem frühen mittleren Reich, in dem die Rede 49 | Vgl. Ghalioungui, 1983, S. 73. 50 | Vgl. Pahl, 2004. 51 | Vgl. Champdor, 1963, S. 62. 52 | Vgl. Pyramid Texts (PT), 1060b u. 1; 1061a (Nt. XXVII 704; N. 1055 u. 49): »that N. may eat with his mouth like him who separates Wp-šn.wi (the two tuffs (of hair), and drop with my (or, his) anus like Śerket.« Mercer, 1952, S. 185. 53 | Vgl. Hornung, 1979, S. 446. 54 | Totenbuch (TB), Spruch 53, vgl. 82, 102, 116, 124, 189. Die Erklärung soll auf insgesamt 99 Objekten vorkommen und die Häufigkeit betreffend an 129. Stelle stehen. Vgl. Das altägyptische Totenbuch – ein digitales Textzeugenarchiv. Beispiele liefern auch verschiede Sargtexte (CT): 199, 223, 772. 55 | Vgl. Assmann, 2003, S. 205. 56 | TB, 189. 57 | Vgl. Barguet, 1967, S. 42, Anm. 1.
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von einem »Gefräßigen« ist, der sich mit den Därmen des »Hundsköpfigen« nährt.58 Als gesichert gilt dagegen, dass der Magen als prototypischer Ort zur Speicherung von Magie angesehen wurde.59 Die Magie wurde dabei als eine Art Getränk oder Speise verstanden, die über die Speise- bzw. Luftröhre in den Magen des Toten gelangte.60 Durch das Verschlingen von Feinden oder anderen Wesen konnte in einer Art magischer Nahrungskette überirdische Macht im Bauch gesammelt werden.61 Diese Macht konnte auch wieder verloren gehen, etwa infolge der Begegnung mit einem »Krokodil, das sich von Magie ernährt«.62 Wie die Magie konnte auch die Sprache über Kanäle aus dem Bauch in den Mund dringen.63 Der Bauch hatte die Macht den Mund zu versiegeln und somit nicht nur die Aufnahme von Nahrung, sondern auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit zu behindern.64 Das Verschließen des Mundes konnte die im Bauch gespeicherte Magie wirkungslos machen.65 Verschiedene Textstellen legen auch einen funktionellen Zusammenhang zwischen Bauch und Gedächtnis nahe: »Ich kann mich an alle Magie erinnern, die in meinem Magen ist.«66 Dabei ist unklar, ob die Rede von der Erhaltung der Magie im Bauch einfach nur bedeutete, dass die Magie in der Erinnerung bewahrt oder dass sie als eine Voraussetzung für die Erinnerung angesehen wurde.67 Die Sorge der Priester galt aber nicht allein der magischen Machtfülle des Bauches nach dem Ableben. Auch die Behandlung der Verdauung lebendiger Menschen fiel in ihren Tätigkeitsbereich. Im digestiven Alltag vor dem Tode scheint die Behandlung des körperlichen und seelischen Befindens oft bruchlos zusammengefallen zu sein. Durch lebenspraktische Erfahrung etablierte Traditionen wirkten bestimmend. Wer eine Lehre erhalten und für sich umgesetzt hatte, wurde ermutigt, sie durch sein lebendiges Beispiel zu verbrei58 | CT, 431, zitiert nach Barguet, 1967, S. 42. 59 | Vgl. Nyord, 2008, S. 379. 60 | Vgl. CT, VII, 236h-i. 61 | Vgl. Nyord, 2008, S. 379. 62 | »The deceased takes on the identity of Ra and drives back eight crocodiles with a spear. Get back you crocodile of the West, who lives on the Unwearying Stars!Detestation of you is in my belly, for I have absorbed the power of Osiris, and I am Seth.Get back, you crocodile of the West! The nau-snake is in my belly, and I have not given myself to you, your flame will not be on me.« TB, 32; vgl. TB, 31; CT, IV, 347g (342). 63 | Vgl. Nyord, 2008, S. 380. 64 | Vgl. CT, V, 322e, (453). 65 | Vgl. Nyord, 2008, S. 381. 66 | CT, VI, 278r (657). Vgl. CT, V, 364a-b (467), CT, V 368c (467) 381i, 383e. Vgl. Nyord, 2008, S. 360. 67 | Vgl. Nyord, 2008, S. 360.
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ten: »Wenn Du Dein Leben mit diesen Worten im Herzen verbringst, werden Deine Kinder Dich beobachten.«68 Das zeigt sich gerade bei der Pflege des Bauchgeschehens.69 Auch zahlreiche Rezepte gegen Erkrankungen der Verdauungswege, Lehrtexte zur Behandlung von Magenleiden, Zahnkrankheiten und schlechtem Atem sowie Heilmittel für Leber- und Bauchkrankheiten, Blasen- und Harnwegserkrankungen, Ess- und Verdauungsstörungen wurden übermittelt. Im Papyrus Ebers70 erscheint das Thema Verdauung in über 30 Paragraphen, der Papyrus Hearst71 kommt verschiedentlich darauf zu sprechen und das Papyrus Chester Beatty VI72 bezieht sich nahezu vollständig auf den Umgang mit Anus und Rektum. Die medizinische Bedeutung dieser Texte geht mit einem grundlegenden Interesse für die Entwicklung philosophischer Umgangsformen mit der Verdauung einher. Die Aufteilung der Zuständigkeiten für bestimmte Organe oder Körperregionen auf priesterliche Fachleute scheint ›ganzheitlichen‹ Formen der Behandlung nicht widersprochen zu haben. Es gab Spezialisten für den Bauch (›swnw khet‹), für die »vor Blicken verborgenen Organe«73 und für zahnärztliche und proktologische Aufgaben. Dessen ungeachtet konnte ein »Chef der Zahnärzte« gleichzeitig als »Hirt des Anus« praktizieren.74 Die Untersuchung von Exkrementen war eine verbreitete Praxis.75 Das Schriftzeichen ›𓄽‹76 wurde als Determinativ von ›Exkrement‹ und ›Scheißkerl‹ verwendet. Die ägyptischen Sorgen um Verdauungsvorgänge und ihren Einfluss auf das Leben können wir aus unserer eigenen Alltagspraxis heraus zumindest teilweise nachvollziehen. Unsere Bezüge zur Welt verändern sich mit unseren Bauchzuständen, nicht nur dann, wenn wir eine Tätigkeit für eine Essenspause oder einen Toilettengang unterbrechen. Hat unser Bauch Freude, scheint inneres Lächeln die Welt zu umfassen, Verdauungsprobleme gehen mit weniger frohen Aussichten einher. In ägyptischen Erklärungen kamen da68 | Amen-em-apat, 5. Kapitel, 3, 9-10. Diese Lehre stammt aus der Zeit zwischen 1292-1075 v.u.Z. (XIX./XX. Dynastie), zu der die Hebräer Ägypten verlassen haben dürften. Vgl. Modrzejewski, 1995, S. 16. 69 | Vgl. Ghalioungui, 1983, S. 151. 70 | Entstanden im 9. Jahr des Pharao Amenopis I., dessen Regierung von 1525 bis 1504 v.u.Z. gedauert haben soll. Vgl. Ebbel, 1937. 71 | Anfang des Neuen Reiches, ca. 1400 v.u.Z. 72 | Ca. 1200 v. Chr. 73 | Halioua, 2002, S. 13f. 74 | Vgl. Viso, Uriach, 1995, S. 229ff. 75 | Vgl. Scholl, 2002, S. 19f.; Ghalioungui, 1983, S. 145. 76 | ›hs‹, · Gardinier, F52.
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rüber hinaus übersinnliche Faktoren ins Spiel. Herumspukende Totengeister konnten zum Beispiel Erbrechen verursachen.77 Die genaue Klassifizierung der beschriebenen Bauchvorgänge entsprechend aktueller Krankheitseinteilungen ist zuweilen schwierig, etwa wenn »Unruhe im Hause« Hautveränderungen verursacht78 oder wenn eine »Bitternis-Krankheit« auftritt.79 Andere Krankheitsbilder lassen sich recht eindeutig in den Bereich gastroenterologischer Praxis einordnen. Beschrieben werden u.a. Erbrechen,80 Harnstau,81 Harnüberschuss,82 Inkontinenz,83 Blähungen,84 Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme,85 verklumpte Exkremente,86 Magenkollern,87 Magenverhärtung88 und Magenblutungen.89 Die zur Heilung empfohlenen Rezepte erscheinen mitunter als exotisch. Ein charakteristisches Beispiel aus dem Papyrus Ebers: »Wenn du einen Mann untersuchst mit einer Verstopfung seines Magens; er erbricht sich sehr schmerzhaft; er leidet daran wie an einer sh.t-Krankheit. Dann sollst du sagen: Das ist eine Packung von Kot, die sich noch nicht festgesetzt hat. Dann sollst du ihm ein Trankmittel machen: Feigen 1/8 ro; Milch 1/6 ro [laut Westendorf, 1999, Bd. II, S. 583, evtl. auch Weintrauben], angeritzte Sykomorenfrüchte 1/8 ro; werde nachts stehengelassen in süßem Bier 10 ro, werde durchgepresst; werde sehr oft getrunken, bis dass er schnell gesund wird.« 90
Verstopfungen und erhöhte Temperatur im Darmausgang91 traten anscheinend häufig auf – die Vielzahl entsprechender Rezepte legt das nahe –, wogegen Maßnahmen gegen die im heutigen Ägypten weit verbreitete Diarrhoe vergleichsweise selten beschrieben wurden. Eine Vielzahl von Rezepten richtet sich auf die Behandlung des Uterus, vor allem im Zusammenhang mit Schwangerschaften. Die thematische Spannweite kommender Einlassungen 77 | Vgl. pEbers, 191 (=194). 78 | Vgl. ebd., 197 (39,12-21). 79 | Vgl. ebd., 303 (52,19-20). 80 | Vgl. ebd., 192 (=195) (37,17-38,3). 81 | Vgl. ebd., 261 (48,21-22). 82 | Vgl. ebd., 274 (50,2-3). 83 | Vgl. ebd., 276 (50,5-6). 84 | Vgl. ebd., 207 (42, 8 – 43, 2). 85 | Vgl. ebd., 205 (41,13-21). 86 | Vgl. ebd., 190, 193 (37,4-10). 87 | Vgl. ebd., 855f. (100,16-17). 88 | Vgl. ebd., 189 (36,17-37,4). 89 | Vgl. ebd., 211 (43,13-15). 90 | Ebd., 202 (40,10-14). 91 | Vgl. P. Chester Beatty, 22-25, Hearst, 93.
Wurzeln
zum Bauch in der hellenistischen Philosophie ist damit weitgehend erreicht. Empfohlen wurde neben Verbänden und Eingüssen zumeist die Einnahme bestimmter Lebensmittel. Neben Angriffen von Verstorbenen wurden Einflussnahmen von Göttern, Dämonen und Phantomen als Ursache für Verdauungsstörungen angenommen, aber auch hinterhältige Tätigkeiten von Zeitgenossen und Verstöße gegen die ›Maat‹, die Verkörperung von Recht und Ordnung.92 Das Weisheitsbuch des Amen-em-opet (um 1300–1075 v. Chr.) warnt insbesondere vor der Gier nach dem Brot eines Armen: Es bleibe im Hals stecken und errege den Schlund zum Erbrechen.93 Wer falsches Zeugnis ablege, der pervertiere sein Herz mit dem Bauch. Auch vor Übermaß wird gewarnt: Wer einen zu großen Bissen schlucke und wieder erbreche, der leere sich vom Guten.94 Die Bezüge zwischen Bauch und Lebenswandel: Man solle seinen Bauch nicht gegenüber jedermann öffnen, noch sich selbst allzu sehr mit Angelegenheiten des Herzens assoziieren. Wer seine Worte im Bauch belasse, sei ein besserer Mensch.95 Auch die Worte der Weisen sollen im »Sarg des Bauches« ruhen, damit sie ein Schlüssel im Herzen sein können.96 Das erinnert an eine Passage aus dem Weisheitsbuch des Ani (um 1100-800. v. Chr.), demzufolge der Bauch eines Menschen weiter ist als ein Speicherhaus und voll von jeder Art Antwort.97 Die guten Antworten sollen ausgewählt und ausgesprochen werden, die schlechten sollen im Bauch verschlossen bleiben. Es scheint oft zur Behandlung von Übersättigung und Trunkenheit gekommen zu sein.98 Die Folgen von Fehlernährung auf die äußere ästhetische Erscheinung des Bauches dürften ebenfalls berücksichtigt worden sein. Die körperliche Harmonie der Darstellung von Menschen durch altägyptische Kunstwerke täuscht.99 Nicht alle Ägypter – schon gar nicht die Reichen und Vornehmen – dürften über einen schlanken Körper verfügt haben. Dafür sprechen enorme Hautfalten der sterblichen Überreste der Pharaonen Ramses III, Merenptah und Thoutmosis II.100 Die Mumie des Generals und Hohenpriesters Masahirte, heute im Museum von Kairo, legt eine besonders extreme Dickleibigkeit zu Lebzeiten nahe: Der Vorderbauch war derart überladen, dass die
92 | Vgl. Westendorf, 1999, S. 106. 93 | Vgl. Pritchard, 1955, 423b. 94 | Vgl. ebd., 423b. 95 | Vgl. ebd., 424b. 96 | Vgl. ebd., 421d. 97 | Vgl. ebd., 420d. 98 | Vgl. Ghalioungui, 1983, S. 150f.. 99 | Vgl. ebd., S. 173. 100 | Vgl. Halioua, 2002, S. 179.
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Hände nach dem Ableben entgegen der Gewohnheit nicht vor seinen Genitalien gekreuzt werden konnten.101 Das Ideal der Schlankheit tat der Wahrheitsnähe künstlerischer Darstellungen Abbruch. Vor den Göttern wollten die ägyptischen Herrscher so jung und schlank erscheinen, wie sie in die Ewigkeit einzugehen gedachten. Dagegen erscheinen Nebendarsteller wie Köche, Torwächter oder Ausländer auf verschiedenen Abbildungen der Epoche in voller Fleischesfülle.102 Dass Darstellungen von Mächtigen aus der ptolemäischen Epoche auffällig dralle Formen zeigen, dürfte allerdings weniger für eine radikale Veränderung der ägyptischen Verdauungsgewohnheiten unter der Herrschaft Kleopatras sprechen als für einen Wandel der Moden künstlerischer Darstellung. Auf manchen Bildern weisen auch die ptolemäischen Krokodile die entsprechenden Rundungen auf.
F urcht und F reude im A lten Testament Das Alte Testament unterstreicht die Bezüge zwischen Verdauung und Geist in verschiedenen Hinsichten. Die Organe des Bauches erscheinen als Ort göttlichen Einwirkens auf Herzen und Seelen.103 In den Organen des Bauches fließen konkrete und metaphorische Bedeutungen ineinander.104 Die Über101 | Vgl. Momplaisir, 2003, S. 275. 102 | Vgl. Ghalioungui, 1983, S. 173. 103 | Vgl. Jer, 4:19. Das mit den Organen aus tierischen Bäuchen verbundene Interesse zeigt sich bei kultischen Opfern, siehe Lev 3:3f: »Und er soll von dem Dankopfer dem HERRN opfern, nämlich das Fett, welches die Eingeweide bedeckt, und alles Fett am Eingeweide und die zwei Nieren mit dem Fett, das daran ist, an den Lenden, und das Netz um die Leber, an den Nieren abgerissen.« Vgl. Lev 3:10, 3:15, 4:9, 7:4, 8:16, 8:25, 9:10, Ex 29:13, 29:22. Dass den Priestern Teile der Opfergaben zustanden, spricht dafür, dass sich im Kult gedankliches und gastrales Interesse begegneten, wenn nicht gar vermengten. 104 | ››( ‹ן ֶט ָבbeh‘-ten‹, Strong’s, 990) kann unter anderem Magen, Uterus, innere ֺ ֹ ›( ‹ ׁש ֶמ kho‘-mesh ‹, Strong’s, 2570) Organe, Abdomen, Bauch und Körper bedeuten; ›ח Rippe, Bauch, kräftig, fett; ››( ‹ תֹוח ֻטtoo-khaw‘‹, Strong’s, 3516) innere Teile; ›‹ד ֵב ָּכ (› kaw-bade‘‹, Strong’s, 3516) Leber, schwerstes Organ; ››( ‹ תֹוי ָל ְּכkil-yaw‘‹, Strong’s, 3629) Niere, Inneres, Gefühle, Geist; › ›( ‹ ׂש ֵר ְּכker-ace‘‹, Strong’s, 3770) Magen, Bauch; › ›( ‹ י ֵע ְמmay-aw‘‹, 4578) Magen, Darm, Uterus, Herz, innere Organe, Körper, Innen, Geist, Seele; ››( ‹ ת ַר ֵרְמmer-ay-raw‘‹, Strong’s, 4845) Galle, Bitterkeit; ››( ‹ּה ָת ָב ֳקko‘baw‹, Strong’s, 6897) Bauchhöhle, Bauch; › ›( ‹ב ֶר ֶ קkeh’-reb ‹, Strong’s, 7130) innerer Teil, Körper, Innen, Mitte; › ›( ‹ם ֶח ָ רrekh‹-em‹, Strong’s, 7358) Uterus, Matrix, vgl. ›‹ם ַח ָ ר (› rakh’-am‹, Strong’s, 7356) Mitgefühl; ››( ‹ ה ָּכ ְפ ָׁשshof-kaw‘‹, Strong’s, 8212) Hoden.
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schneidungen und reichhaltigen Konnotationen führen zwar zu nachhaltigen Unklarheiten bei der Übersetzung, öffnen aber einen weiten Spielraum für Interpretationen und ermöglichen Einblicke in umfassende Bezüge zwischen Bauch und Geist.105 Auffällig ist die verbreitete Angst vor Bäuchen, in deren Verdauungsorganen das eigene Dasein sein Ende finden könnte. Der Bauch ist somit nicht nur ein Ort der Entstehung und Erhaltung des Lebens, sondern auch des Todes. Dazu kommen die Furcht vor Krankheit, Schmerzen und Hunger, oftmals als Folge göttlicher Bestrafung von individuellem oder kollektivem Fehlverhalten. Allerdings werden auch die Freuden des Bauches thematisiert, wobei sexuelle, geschlechtliche und digestive Lüste nicht immer klar voneinander getrennt werden. Das innerste Wesen des Menschen wird in den Nieren verortet.106 Zwischen Bauch und Sprache wird eine intensive Wechselwirkung angenommen, wahrhaftes und lügnerisches Sprechen wird unmittelbar auf gute und schlechte Verdauung bezogen. Besonders eindrücklich erscheint der Zusammenhang zwischen Sünde und Bauchgeschehen in der Metapher des Sündenfalls.107 Eine listigste Schlange verführt die ersten Menschen, vom verbotenen Baume des Wissens zu kosten. Als Ort der Schwangerschaft muss der menschliche Unterleib von nun an schmerzvolle Entbindungen ertragen und Speise muss erarbeitet werden. Die Bestrafung der Schlange zielt ebenfalls auf den Bauch.108 Auf dem Boden, von dem Adam sich nunmehr ernährt, soll sie kriechen und sich von Staub ernähren, zu dem der sterbliche Adam einmal werden wird. Die erzwungene Annäherung zwischen ihrem Bauch und der Erde macht die Schlange abscheulich, dementsprechend wird der Verzehr von Kriechtieren im weiteren Verlauf der Ereignisse ausdrücklich untersagt.109 Die Schlange, die in verschie-
105 | Aufschlussreich ist der Bedeutungsreichtum des Begriffs › ›( ‹ ׁש ֶפ ָ נneh‘-fesh‹, Strong’s, 5315). Er wurde mit Seele, Leben, Selbst, Person, Appetit und Verlangen übersetzt und bezeichnet ein Zentrum der Vitalität und Lebensfreude, einen Sitz von Hunger und Durst im lebendigen Menschen, der auch unmittelbar auf die Kehle wirken werden kann, die einerseits nach Nahrung und Luft verlangt, andererseits der seelischen Stimmung Ausdruck verleiht: »im Jodeln und Singen, Schluchzen und Weinen, Im Hecheln und Winseln, im Rufen und Schreien, im Kichern und Lachen, im Grunzen und Grölen, im Brummen, Raunen oder Summen«. Schroer, 1998, S. 61ff. Der orale Ausdruck scheint hier einer ursprünglichen Einheit aus Seele und Bauch zu entspringen. 106 | Vgl. Ps, 26:2. 107 | Vgl. Gen, 2,8-3,4. 108 | Vgl. ebd., 3:14. 109 | Vgl. Lev, 11:42.
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denen Kulturen des Nahen Ostens Weisheit und Leben symbolisiert,110 wird zur Verkörperung des todbringenden Willens des Teufels, eben weil den Menschen gottgleiche Weisheit und ewiges Leben nicht vergönnt sind.111 Dass manche Schlangen ihrem Verdauungsschlauch lebendige Beute zuführen, wird in der Metapher des Sündenfalls nicht ausdrücklich bemerkt, dürfte aber unterschwellig bedeutungsvoll sein.112 Das aus Texten der ägyptischen Kultur bekannte Bild von Schlangen im Inneren von Schlagen (siehe oben) erscheint auch im Alten Testament: Der Stab Aarons wird in eine Schlange verwandelt, in deren Bauch die in Schlangen verwandelten Stäbe der ägyptischen Zauberer ihr Ende finden.113 Die Furcht vor der Zerfleischung des eigenen Körpers zu Speisebrei macht die Öffnung des Verdauungsschlauchs zu einem Ort des Schreckens: »Rette mich vor dem Maul des Löwen.«114 Als Mund115 wird im Alten Testament nicht nur der Zugang zum Verdauungsschlauch, sondern auch die Öffnung von Säcken,116 Höhlen,117 Gräbern,118 Abgründen,119 Idolen120 oder der Erde121 bezeichnet. Ein offener Schlund kann ganze Armeen und Völker bedrohen.122 Er kann nicht nur auf ungehemmtes
110 | Beispiele geben die Göttin Tiamat in der babylonischen Kultur (Mutter und materia prima et confusa der Schöpfung, bei den Assyrern ein drachenartiges Wesen) und der Gott Ningizzida der sumerischen Kultur, dessen von Schlangen umwundener Stab als möglicher Prototyp der Hermes- und Äskulap-Stäbe gilt. Der gottgefällige Umgang mit Schlangen war auch in der frühen hebräischen Kultur verbreitet, Hinweise darauf bieten Ex, 7:12 und 4 Mos, 21:8. Vgl. Coppens, 1948, S. 92ff. und Lambert, 1954, 917ff. Auf mazedonischen Vasen und Skulpturen erscheinen Schlangen und Schlangensymbole, auf Bäuchen, Brüsten und Phalli schon in der Jungsteinzeit. Vgl. Gimbutas, 1974, S. 203. 111 | Vgl. Weish, 2:24. 112 | In ägyptischen Gräbern wurden Beschwörungen gegen Schlangen gefunden. Weil Schlangen eine Bedrohung für lebendige Menschen darstellten, sollten wohl auch die zur Auferstehung bestimmten Mumien vor ihnen geschützt werden. Vgl. Pritchard, 1955, S. 326. 113 | Vgl. Ex, 7:9ff 114 | Ps, 22:21. 115 | › ›( ‹ה ֶּפpeh‹, Strong’s, 6310). 116 | Vgl. Gen, 42:27. 117 | Vgl. Jos, 10:18, 22, 27. 118 | Vgl. Ps, 141:7. 119 | Vgl. Jer, 48:28. 120 | Vgl. Ps, 115:5; 135:16. 121 | Vgl. Gen, 4:11, 4 Mos, 26:10. 122 | Vgl. Klgl, 3:46. Vgl. 1 Sam, 2:1.
Wurzeln
Verlangen nach Speise, Getränk oder Luxus verweisen, sondern auch auf trügerische Sprache, Hass, böse Pläne und gierigen Charakter.123 Die Angst vor dem Schlund geht mit Angst vor dem Körperinneren einher. Der Schrecken des Jonas, der betend drei Tage und Nächte im Bauch eines ungeheuerlichen Fisches verbrachte, wirkt in den Bildern menschenverschlingender Bestien nach, gerade auch in Kinofilmen wie Der Weiße Hai von Steven Spielberg. Das Innere des Meeresungeheuers, der »Bauch der Hölle«,124 ist im Alten Testament assoziativ mit Grube, Grab und Unterwelt, Finsternis, Trostlosigkeit und Tod verbunden.125 Dabei ersetzt die Furcht vor dem Bauch nicht die Furcht vor dem Schlund. Eine Angst verstärkt hier die andere.126 Die Schrecken der Zerfleischung werden durch die unheimliche Tiefe des Verdauungsschlauches erhöht, aus der die Rückstände von Fleisch zurück zur staubigen Erde dringen.127 Ein für den Zusammenhang zwischen Angst und Verdauung aufschlussreiches Bild gibt das Buch Jeremiah: »Nebukadnezar der König zu Babel hat mich gefressen und umgebracht/Er hat aus mir ein leeres Gefäss gemacht/Er hat mich verschlungen/wie ein Drache/Er hat seinen Bauch mit meinem Niedlichsten gefüllt/Er hat mich verstossen.« 128
Ein gieriges Ungeheuer verschlingt hier ganz Israel.129 Das Tod und Verderben verkörpernde Monstrum130 – der Bezug zu Schlangen, Drachen und Seemonstern liegt etymologisch nahe – versinnbildlicht die Folgen der hebräischen Niederlage im Krieg gegen Babylon. Die Auflösung der Verlierer im Verdauungsschlauch der Sieger endet im Rinnstein.131 Eroberung und Plünderung von Land und Städten werden hier mit dem Verzehren und Verdauen eines Beutekörpers assoziiert. Das Verschlucken der Beute erinnert an den Abtransport von Sklaven und anderer Güter. Dem Verschlingen folgt die Verdauung. Materiell betrachtet füllen die in Jerusalem eroberten Schätze den Bauch Babylons, in geistiger Hinsicht sind die gefangenen Hebräer im Exil gezwungen, den Feinden ihr Bestes zu geben, etwa durch Arbeit am Hof. Am Ende der Ausbeutung entledigen sich die Sieger von den Überresten ihrer ausgelaugten Opfer, indem sie diese wegspülen wie Kot. 123 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 95f. 124 | ››( ‹ לֹוא ְׁשsheh-ole‘‹, Strong’s, 7585); › ›( ‹ן ֶט ָּ בbeh‘-ten‹, Strong’s, 990), s.o. 125 | Vgl. Jona, 2:2, vgl. Spr, 30:16. 126 | Vgl. Jes, 5:14. 127 | Vgl. Koh, 12:7. 128 | Jer, 51:34, Übers. Luther. 129 | Vgl. Spr, 1:12, Ijob, 24:19. 130 | ››( ‹ןי ִ ּנ ַּתtan-neen’‹, Strong’s, 8577). 131 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 96.
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Aber der Bauch erscheint im Alten Testament nicht nur als übermächtiges Ungeheuer. Er wirkt auch als empfindliche und verletzliche Schwachstelle. Das gilt schon dann, wenn Menschen ihr Leben infolge offener Bauchwunden verlieren.132 Doch nicht nur blanke Waffen richten sich als tödliche Bedrohung gegen Bäuche, sondern auch Pestilenz und Hunger.133 Wallende Eingeweide schaffen Unruhe in schweren Zeiten.134 Ärger kann auf den Magen schlagen oder – nach Luther – den Bauch betrüben.135 Die Verdauung spiegelt die moralische Haltung von Personen, sündige Taten und digestiver Niedergang gehen miteinander einher: Heuchler bringen Ärger in die Welt, ihr Bauch bereitet Betrug vor.136 Ein gerechter Mensch kann seinen Appetit essend befriedigen, der Magen des Ungerechten muss Hunger leiden.137 Im Alten Testament betrifft die Freude an der Füllung des Bauches die menschlichen Befindlichkeiten in einem weitgefächerten Sinne. Die Stillung von Hunger kann auf Seele, Leben und Selbstgefühl wirken. Mit der Leere oder Fülle des Bauches verändert sich die moralische Haltung von Personen.138 Bauchzustände und die Aufnahme von Weisheit stehen in Wechselwirkung.139 Das gilt auch im Unglück: Ist unsere Seele in den Staub gesunken, liegt unser Bauch auf der Erde.140 Seelische und organische Befindlichkeiten können einander bedingen, etwa dann, wenn Augen, Seele und Bauch gemeinsam lei132 | Ein berühmtes Beispiel ist die Ermordung von Zimri, einem israelitischen Prinzen und Kosbi, seiner midianitischen Geliebten. Die Bäuche der Liebenden wurden im Zuge einer mosaischen Kampagne gegen Hurerei und Götzendienste in ihrem Zelt mit einem Speer tödlich durchbohrt. Vgl. Num, 25:8. Ein anderes Beispiel gibt der Bauch von Eglon, einem König der Moabiter, der verstarb, weil ihm Ehud, ein späterer Richter, ein zweischneidiges Schwert in den Bauch stieß, »so tief, dass Fett das Heft verschloss«. Vgl. Ri, 3:21-22. Weitere Beispiele finden sich in 2 Sam, 2:23, 3:27, 4:6, 20:10. 133 | Vgl. Ez, 7:15, Mi, 6:14. 134 | Vgl. Ijob, 30:27. 135 | Vgl. Hab, 3:16, in der ganzen heiligen Schrift von 1545: »Weil ich solchs höre / ist mein Bauch betrübt / Meine Lippen zittern von dem geschrey.« 136 | Vgl. Ijob, 15:35. 137 | Vgl. Spr, 13:25, Ez, 7:19. 138 | Vgl. Spr, 30:8. 139 | Vgl. Spr, 22:17f.: »Neige deine Ohren und höre die Worte der Weisen und nimm zu Herzen meine Lehre. / Denn es wird dir sanft tun, wo du sie wirst im Sinne behalten [bzw. in deinem Inneren: ›‹ ָך ֶנ ְט ִב ְּב, (› bə-ḇiṭ-ne-ḵā;‹ von ›‹ן ֶט ָּ ב, ›beh‘-ten‹, Strong’s, 990, s.o.) / und sie werden miteinander durch deinen Mund wohl geraten.« Vgl. Weisheitsbuch des Amen-em-opet, Pritchard, 1955, 421d: »To put them [the teachings] in thy heart is worth while, / (But) it is damaging to him who neglects them. / Let them rest in the casket of thy belly, / That they may be a key in thy heart.« 140 | Vgl. Ps, 44:25.
Wurzeln
den.141 Die Beachtung von Speiseregeln betrifft das menschliche Heil in einem sehr allgemeinen Sinne, zu dem gastrale Verdauung beiträgt.142 Den brudermordenden König Joram soll YHWH nicht nur durch Stärkung seiner Feinde, sondern auch durch eine schmerzhafte, unheilbare und tödliche Bauchkrankheit geschwächt haben.143 Ein Heuchler muss reiches Essen erbrechen, wenn YHWH sich seines Bauches bemächtigt.144 Er finde keine Freude an Gütern, er kann sie nicht schlucken.145 Innere Ruhe habe er nicht, auch keine Freude.146 Sein Reichtum vergehe, er könne nichts essen.147 Wenn er seinen Magen fülle, treffe die Wut YHWHs seine Gedärme.148 Wer Böses unter der Zunge trage, dessen Nahrung verwandle sich im Bauch in Schlangengift bzw. Otterngalle.149 Die Zunge der listigen Schlange werde den Heuchler töten.150 Der werde umkommen wie Kot.151 YHWHs Strafen treffen mitunter den Darmausgang.152 Der Umgang mit den ›anrüchigen‹ Textstellen fällt manchen Interpreten schwer. Was Luther als »heimliche Plage an heimlichen Orten« wiedergibt, erscheint später auch als ein »Ausbruch von Beulen«.153 Das öffnet Spielraum für Interpretationen, etwa 141 | Vgl. Ps, 31:9. 142 | Nach rabbinischer Überzeugung soll keine milchige Speise verzehrt werden, bevor eine vorhergehende fleischige Mahlzeit verdaut worden ist. Einerlei ob die alttestamentarischen Speiseregeln als Qualifikation zur Heiligkeit anzusehen sind, als Schutz gegen maßlosen Genuss, als Schlüssel zur Unterscheidung zwischen Gutem und Schlechten oder als Maßgabe zum Schutz von seelischem Zartgefühl: Sie richten sich auf körperliches und auf geistiges Wohlsein. 143 | Vgl. 2 Chr, 21:18-19. 144 | Vgl. Ijob, 20:12-15. 145 | Vgl. ebd., 20:12-17. 146 | Vgl. ebd., 20:20. 147 | Vgl. ebd., 20:21. 148 | Vgl. ebd., 20:23. 149 | Vgl. ebd., 20:14. 150 | Vgl. ebd., 20:16. 151 | Vgl. ebd., 20:7. 152 | Beispiele finden sich in 1 Sam, 5:9 sowie 1 Sam, 5:6, 5:12, 6:4. Die Erklärung der Vorgänge durch ein einfaches Vergeltungsdogma eines direkt eingreifenden Gottes kann durch die Vorstellung einer Weltordnung vermieden werden, in der bestimmte Tätigkeiten kurz- oder langfristig gutes oder schlechtes Ergehen nach sich ziehen. Vgl. Schroer, 1998, S. 37. 153 | 1 Sam, 5:9. King James Bible: »he destroyed them, and smote them with emerods.« Laut Adam Clarke legt die Vulgata mit »Et computrescebant prominenter extales eorum« das Auftreten von Dysenterie, Analfisteln oder Hämorrhoiden nahe, vgl. Commentary on the Bible, 1831. Von dem Zusatz »Et fecerunt sibi sedes pelliceas«
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bei Haydock: Ihr Dickdarm drang faulend heraus, die Hämorrhoiden griffen sie von innen an, mit qualvollsten Schmerzen, für die sie keine Medizin fanden.154 Die im Alten Testament erwähnte Bestrafung von Ehebrechern mit »bleibender Wunde und Unehre«155 könnte mitunter ebenfalls zu Verletzungen des Darmausganges geführt haben.156 Sprachliche Schleier umhüllen nicht nur Eingriffe im Analbereich durch Menschen und Götter, sondern auch gewöhnliche Vorgänge der Entleerung. Der Raum, in dem Ehud Eglons Bauchwand mit seinem Schwert durchstieß,157 erscheint in der Elberfelder Bibel als »kühle Kammer«, bei Luther als »Sommerleube«. Tatsächlich dürfte es sich um ein »stilles Örtchen« gehandelt haben, an dem der König nach Luther »zu Stuhl ging« bzw. laut Elberfelder Bibel »seine Füße bedeckte«.158 Allerdings erscheint der Bauch auch als ein Ort der Freude, wenn Liebende die Schönheit der Bäuche ihrer Geliebten besingen, wenn Früchte des Mundes den Bauch eines Menschen füllen bzw. wenn der Ertrag der Lippen ihn be(»Und sie setzten sich auf Tierhäute«) gibt es Spuren in der Septuaginta, aber keine Entsprechung im hebräischen Text. Der Zusatz legt nahe, dass die betreffende Krankheit sitzend leichter zu ertragen war. George L. Haydock deutet die Häute als medizinische Windel bzw. als »Hosenersatz«, zur Fixierung von Pflastern und anderen Arzneien. Vgl. Haydock’s Catholic Bible Commentary, 1859. 154 | Vgl. Haydock, 1859. 155 | Spr, 6:33. 156 | Der Bibelkommentar von Adam Clarke stellt die hebräische Strafpraxis in unmittelbaren Zusammenhang mit der griechischen ›Rhaphanidosis‹ (›Ραφανιδόω‹) bzw. ›Rettichstrafe‹ für Ehebrecher: »[…] when a man was caught in the fact, the injured husband took the law into his own hand; and a large radish was thrust up into the anus of the transgressor, which not only overwhelmed him with infamy and disgrace, but generally caused his death.« Clarke, 1831. Vgl. Aristophanes, Die Wolken, 1082, Bannert, 1977. 157 | Vgl. Ri, 3:21-22. 158 | Vgl. Ri, 3:21-24. Eine vergleichbare Formulierung findet sich in 1 Sam, 24:3. Der König dürfte ein weites Gewand getragen haben, welches seine Füße bedeckte, als er sich zu seinem Geschäft niedersetzte. Es wurde auch vermutet, er könnte seine Füße zum Schlafen bedeckt haben. Vgl den entsprechenden Kommentar bei Barnes; dazu Clarke; auch Wesley. Laut John Gill spricht die Bedeutung der Rede von den bedeckten Füßen in der späteren Entwicklung der hebräischen Sprache für die »Toilettenthese«: »he covereth his feet in his summer chamber; that is, was easing nature; and, as the eastern people wore long and loose garments, when they sat down on such an occasion, their feet were covered with them; or they purposely gathered them about their feet to cover them, and so this became a modest expression for this work of nature, [...]. Indeed, the Jews in later times used the phrase in the first sense, which seems to be taken from hence.« Vgl. Gill, Exposition of the Old and New Testaments.
Wurzeln
friedigt.159 Erscheint ein geliebter Mensch, gerät der Bauch in Erregung.160 Die Abtrennung zwischen der ästhetischen Erscheinung des äußeren Unterleibs und sexuellen Freuden verschwimmt auch dann, wenn der Bauch als Elfenbeinschnitzerei mit eingelegten Saphiren erscheint,161 als ein von Blumen umsäumter Weizenberg oder als Nabel zum immer vollen Kelch.162 Dass sexuelle Freude an äußeren Baucherscheinungen Folgen für das Innere von Bäuchen haben kann, etwa im Falle von Schwangerschaft, war zur Zeit der Abfassung des Alten Testaments gut bekannt. Dementsprechend wird der Bauch als Ursprungsort des Lebens verstanden, in dem auch Menschen ihre Form erhalten: Aus dem Bauch kommen wir nackt in die Welt, die wir auch wieder nackt verlassen.163 Dabei entstammen nicht nur einzelne Menschen einem Bauch, sondern auch die verschiedenen Völker.164 Die Schwangerschaft gilt als ein Wunder der Schöpfung: So wie wir den Weg des Windes nicht kennen und Gottes Werk nicht verstehen, bleibt es uns ein Geheimnis, wie sich in einem Bauch bzw. Uterus ein Körper bilden kann.165 Wie die Organe der Verdauung stehen auch die Organe des Gebärens unter YHWHs Kontrolle, der die Bäuche zu öffnen oder zu verschließen vermag.166 Schon im Bauch forme er seine Diener167 und das Innerste des Menschen.168 Sein Prophet Jeremiah sei ihm sogar bekannt gewesen, noch bevor er im Bauch erzeugt wurde.169 Schlechte Menschen seien schon beim Verlassen des Bauches Fremde, Betrug führe zur Irrung von der Geburt an.170 Einflüsse von Vorgängen der Verdauung auf Vorgänge der Reproduktion werden unterstellt: Während der Schwangerschaft sollen starke Getränke und unreine Nahrung vermieden werden.171 YHWH kann Bäuche ebenso fruchtbar machen oder Gravidität verhindern, wie er in der Lage ist, die Verdauung zu stärken oder zu schwächen.172 Die negative Bewertung des Bauches beschränkt sich nicht auf
159 | Vgl. Spr, 18:20. 160 | Vgl. Hld, 5:4. 161 | Vgl. ebd., 5:14. 162 | Vgl. ebd., 7:2. 163 | Vgl. Koh, 5:15. 164 | Vgl. Gen, 25:23. 165 | Vgl. Koh, 11:5. 166 | Vgl. Schroer, 1998, S. 79. 167 | Vgl. Jes, 49:5. 168 | Vgl. Ps, 139:13. 169 | Vgl. Jer, 1:5. 170 | Vgl. Ps, 58:3, Jes, 48:8. 171 | Vgl. Ri, 13:7, Jer, 30:6. 172 | Vgl. 1 Sam, 1:5-6, Dtn, 7:13, Gen, 29:31.
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die Verdauung. Auch ein verschlossener Mutterleib wird im Zusammenhang mit Hölle, Erde und Feuer zum Sinnbild unerfüllbarer Leere.173 Die Hochschätzung der Gebärmutter geht weit.174 Hiob steht vor der Frage, aus wessen Bauch denn das Eis und der himmlische Frost auf der Welt entstammen.175 Wollen wir nicht davon ausgehen, dass der Winter über einen Darmausgang oder einen Harnleiter in die Welt gelangte, liegt es nahe, dass unsere Welt in einer göttlichen Gebärmutter heranreifte.176 Sollte sich die Schöpfung als Geburt vollzogen haben, so bedeutet das selbstverständlich nicht, dass wir uns YHWH als Frau vorstellen müssen. Eva wurde bekanntlich durch Schnittgeburt aus Adams Seite entbunden, bis dahin waren Sex und Gender der biblischen Akteure weitgehend ungeklärt.177 Die geschlechtliche Differenzierung der Bäuche erfolgte erst infolge des Bauchfalls der Schlange mit der Zuteilung von Geburtsschmerzen an Frauen. Erst infolge dieses ursprünglichen Bauchfalls konnten menstruierende Bäuche als »unrein« oder gar als »verachtenswert« angesehen werden.178 Nichtsdestoweniger bleibt das Mitgefühl und Erbarmen YHWHs an Vorstellungen von Mutterliebe gebunden, deren organische Anbindung im Gebrauch des Begriffs der Gebärmutter179 deutlich wird. YHWH behandelt das Volk wie eine Mutter ihr widerspenstiges, doch geliebtes Kind.180 YHWHs Gefühle für seine Schöpfung wurzeln begrifflich in der Gebärmutter.181
173 | Vgl. Spr, 30:16. 174 | Vgl. Schroer, 1998, S. 79ff. 175 | Vgl. Job, 38:29. 176 | Dafür spricht auch Jes, 42,14: »Ich schweige wohl eine Zeitlang und bin still und halte an mich; nun aber will ich wie eine Gebärerin schreien; ich will sie verwüsten und alle verschlingen.« Vgl. Job, 38:8. 177 | Einführende Erklärungen zu Gender und Sex im Alten Testament liefern Thatcher, 2007 und Bird, 2005. Die Vorstellung der Weltschöpfung wurde auch in benachbarten Kulturen an die Gebärmutter gebunden, etwa im Reich von Akkade: »The goddess they called […], [the mot]er, / The most helpful of the gods, the wise Mami: / ›Thou art the mother-womb, / The one who creates mankind.‹« Pritchard, 1955, S. 100. 178 | Vgl. Schroer, 1998, S. 90f. 179 | › ‹ם ֶח ָ ר, › rekh‘-em‹, Strong’s, 7358. 180 | Vgl. Hos, 11:8ff. 181 | Vgl. Ps, 116:5 u.v.m. Das arabische Wort ›rahman‹, bekannt insbesondere aus der Bismillah-Formel, die mit einer Ausnahme jede Sure des Korans einleitet (»مسب «ميحرلا نمحرلا هللا, » bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi«, »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes«) führt auf den hebräischen Begriff für Gebärmutter zurück. Obwohl der Begriff im Alten Testament auffallend häufig auftritt, wurde er von der traditionellen Forschung häufig außer Acht gelassen. Vgl. Schroer, 1998, S. 79.
Wurzeln
Unter den digestiven und geschlechtlichen Organen des Bauches gesteht das Alte Testament den Nieren182 eine besondere Bedeutung zu. Sie gelten als Sitz des Lebens, der Emotionen und der moralischen Gefühle,183 außerdem wird ihnen ein besonderes Urteilsvermögen zugesprochen.184 Sie können auch synonym für Willen oder inneres Wesen stehen und das gesamte Bauchgeschehen beeinflussen, besonders bei Schwangerschaft.185 Wie schon die Ägypter vermuteten auch die Hebräer den Sitz der Erkenntnis nicht im Gehirn, sondern im Herzen, das sie in engen Bezug zu den Nieren stellten: »Da es mir wehe tat im Herzen und mich stach in meinen Nieren/da war ich ein Narr und wusste nichts; ich war wie ein Tier vor dir.«186 Die Prüfung von Herz und Nieren ist ein wiederkehrendes Bild: »Prüfe mich, HERR, und versuche mich; läutere meine Nieren und mein Herz!«187 Über die Nieren belehre YHWH die Menschen188 und über sie könne sein Zorn eine Person in ihrem innersten Wesen treffen und vernichten: »Er hat meine Nieren gespalten.«189 Die Ruhe oder Unruhe der Nieren wird zum Anzeichen der Ruhe oder Unruhe des Gewissens. Eine Bedeutung der Nieren für die moralischen Sprachhandlungen wurde offensichtlich angenommen: »Meine Nieren sind froh, wenn deine Lippen reden, was recht ist.«190 Die ausgeprägte Wertschätzung der Nieren zeigt sich in der Verwendung des Organs bei Opfergaben: Die Fettschicht der Nieren ist von besonderer Reinheit und symbolisiert besondere Güte.191 Durch ihre Lage im Körper sind die Nieren die letzten Organe, die von den Priestern erreicht werden. Das entspricht ihrem Ruf als geheimstem Ort des Menschen,192 als innerem Sitz des moralischen Anstands und der emotionalen Impulse.193
182 | ›‹ תֹוי ָל ְּכ, (› kil-yaw‘‹, Strong’s, 3629, s.o.) 183 | Vgl. Black, 1894, S. 379. 184 | Vgl. Ijob, 19:27. 185 | Vgl. Ps, 139:13 nach Luther: »Denn du hast meine Nieren in deiner Gewalt, du warest über mir im Mutterleibe« oder Ps, 16,7 nach Luther: »Ich lobe den Herrn, der mir geraten hat, auch züchtigen mich meine Nieren des Nachts.« 186 | Vgl. Ps, 73:21f. 187 | Vgl. Ps, 7:9, 26:2, 73:21, Jer 11:20, 17:10, 20:12 ›‹י ּ ִֽב ִל ְו, (›ve·lib·bi‹, Strong’s, 3820), Herz, inneres Wesen, Geist, Wille u.a. 188 | Vgl. Ps, 16:7. 189 | Ijob, 16:13. 190 | Spr, 23:16. 191 | Vgl. Lev, 9:19. 192 | Vgl. Ps, 139:13. 193 | Vgl. Easton, 1915.
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In dem Vorschlag, den Begriff ›Nieren‹ in allen Passagen des Alten Testaments gleichbedeutend mit ›Bewusstsein‹ zu verwenden,194 können wir ein mehr oder weniger sinnvolles Zugeständnis an den Zeitgeist vermuten. Er unterstreicht aber die Bedeutung physiologischer Verdauungsorgane für geistige Entwicklungen. Sicher ist jedenfalls, dass Bauch und Geist im Alten Testament nicht immer strikt getrennt wurden.195 Das gilt auch für die geistigen Wirkungen anderer Organe des Bauches, u.a. der Leber,196 der im Alten Testament ebenfalls ein wichtiger Anteil an geistigen Entwicklungen beigelegt wird. Die Wertschätzung der Verdauungsorgane entwickelt sich dabei in engem Anschluss an altägyptische und sumerische Gewohnheiten.197 194 | Vgl. ebd. 195 | ›‹ תֹוי ָל ְּכ, (› kil-yaw‘‹, Strong’s, 3629, s.o.) wird zuweilen mit ›Geist‹ übersetzt, ein Beispiel gibt Ps, 26:2 in der King James Bible von 2003: »Examine me, O LORD, and prove me; try my heart and my mind.« Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Vorstellungen psychosomatischer Verbindungen die ursprüngliche Bedeutung der Organe in den hebräischen Schriften nur unvollkommen erfassen. »[Die Gotteskraft] mahnt mich nachts durch Träume und tags durch Intuition« ist insofern eine sehr schlechte Übertragung von Ps, 16:7, als sich die Rede von den Nieren eben nicht nur auf etwas bezieht, was wir heute als psychische Erfahrung bezeichnen, sondern auch auf Organtätigkeit. Vgl. Schroer u. Staubli, 1998, S. 31 196 | Die Leber wurde als organischer Sitz von Stimmung, Gemüt, Charakter, Freude und Trauer angesehen. Wahrsagung mittels Untersuchung der Leber von Opfertieren bezeugt die Bibel für den König Nebukadnezar, Ez, 21:21. Sie war ein geweihtes Organ bei Opferhandlungen, allerdings gibt es Unklarheiten darüber, welche Teile der Leber zu welchen Handlungen verwendet wurden. Verletzungen der Leber galten als unbedingt tödlich, Spr, 7:22, Klgl, 2:11. In manchen Texten des Alten Testaments werden Verwechslungen zwischen ›‹ד ֵב ָּכ, Leber (›kaw-bade‘‹, Strong’s, 5315) und ›‹דֹוב ָּכ, Ruhm (›kaw-bode‘‹ Strong’s, 3519) angenommen, vgl. Ps, 19:9, Luther übersetzt mit ›Herz‹ und ›Ehre‹. ›Ruhm‹ wurde in der jüdischen Tradition wiederum synonym mit ›Seele‹ verwendet. Vgl. Encyclopaedia Biblica, Bd. 3, 2805f.; ISBE, Bd. 3, 1905f; JE, Bd. 8, S. 140f. 197 | Auffällig ist insbesondere der Rückgriff auf das altägyptische Ritual der Mundöffnung. Vgl. Ps, 51, Urrutia, 1982. Die Sitte der Leberschau lässt sich in der sumerischen Kultur bis in die erste Hälfte des 3. Jahrtausends zurückverfolgen. Die Leber galt den Sumerern als ein Kosmos im Kleinen. Es bestand die Annahme göttlicher Ordnungen auf ihrer Oberfläche, in Parallele zur Ordnung einer kosmischen Schrift der Gestirne am Himmel. Auf der Leber wurden verschiedene Regionen unterschieden, insbesondere nach geographischen und organischen Begriffen wie Berg, Straße, Palast, Tor, Bein, Finger, Ohr, Zahn, Vulva und Hoden. Laut Jeremias betrachteten die Sumerer die Leber als »Lebensträger im eminenten Sinne«. Neben der Leber zogen die Sumerer auch benachbarte Eingeweide wie Magen und Darm heran. Vgl. Jeremias, 1929, S. 95 u. 259ff.; Ez, 21:21.
Wurzeln
Auch die Sprache stellt das Alte Testament in Zusammenhang mit Verdauung. Eine funktionelle Ähnlichkeit zwischen Hör- und Verdauungsapparat wird angenommen: Das menschliche Ohr unterscheide Worte wie der Gaumen Nahrung.198 Dass manchen Organen des Mundes ein wichtiger Anteil an der Sprachbildung zugestanden wird, ist nicht sehr überraschend: YHWH öffnet seinen Mund, damit er nicht mehr schweigen muss.199 Er legt Worte in den Mund der Propheten.200 Die Geschäfte der Zunge, Synonym für Sprache,201 sind ihm wohl vertraut.202 Menschen rufen ihn mit ihrem Mund und preisen ihn mit ihrer Zunge.203 Daneben werden die Organe des Mundes als gefährliche Waffen beschrieben: Der Tadel des Mundes treffe die Gottlosen wie ein Stab.204 Der Mund des Auserwählten sei scharf wie ein Schwert.205 Die Zunge gilt als wohltätig, wenn sie zur Lobpreisung YHWHs spricht und singt,206 die Wahrheit sagt, das Leben fördert und heilt. Andererseits wirkt sie gefährlich, denn sie kann Unwahrheit äußern, den Geist böswillig zerstören, Knochen zerbrechen und Tod bringen.207 Die digestiven Leistungen wirken auf die sprachlichen Aktivitäten. Hungernde Menschen sprechen zuweilen mit anderen Ansprüchen als Menschen mit vollem Bauch: »[Die falschen Propheten] predigen, es solle wohlgehen, wo man ihnen zu fressen gebe; wo man ihnen aber nichts ins Maul gibt, da predigen sie, es müsse ein Krieg kommen.«208 Hinter der Macht der Sprache erscheint die Macht der Verdauung. Wer Brot bei einem Neidischen isst, dessen Worte nicht sagen, was ihn bewegt, der muss ausspeien, was er gegessen hat und die freundlichen Worte werden ihm vergehen.209 198 | Vgl. Ijob, 34:3, auch 6:30. 199 | Vgl. Ez, 33:22. 200 | Vgl. Dtn, 18:18. 201 | Vgl. Ps, 45:1, Jes, 30:27, Gen, 11:1. Es wurde vorgeschlagen, das Wort ›‹ןֹוׁש ָל, (›law-shone‘‹ Strong’s, 3956), systematisch als Zunge und das Wort › ש ָפה ׂ ָ ‹ (›saw-faw‘‹ Strong’s, 8193) als Sprache zu deuten. Mercier, 2002, S. 17. Es bestehen aber Zweifel, ob eine solche Trennung im Sinnzusammenhang anderer Textstellen durchgängig haltbar ist. 202 | Vgl. Ps, 139:4. 203 | Vgl. Ps, 66:17. 204 | Vgl. Jes, 11:4. 205 | Vgl. ebd., 49:2. 206 | Vgl. Ps, 126:2. 207 | Vgl. Spr, 15:4, 18:21, 25:15; Ps, 57:4, 64:3, 109:2; Sirach, 5:9. 208 | Vgl. Mi, 3:5. 209 | Vgl. Spr, 23:6-8. Ähnlich Amen-em-opet, 11,1ff, nach Pritchard, 1955, 423b: »Be not greedy for the property of a poor man, / Nor hunger for his bread. / As for the pro-
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Wenn Heiden mit Lippen und Zungen über das verwüstete und vertilgte Heer der Israeliten lästern,210 steht sprachliche Handlung im Vordergrund, aber Eingedenk der grundlegenden Angst vor offenen Mäulern – siehe oben – können wir die sprachlichen Handlungen schon als Ankündigung von Schluckbewegungen verstehen. Lippen stehen im Alten Testament für Sprache und Gespräch, aber auch für Grenze und Rand und stellen als solche auch das obere Ende des Verdauungsschlauches dar. Die Formulierung ›die Zunge klebt oben im Gaumen‹211 bringt Respekt, Angst, Furcht oder Not zum Ausdruck. Sie berücksichtigt die digestive und sprachliche Funktion der Zunge gleichermaßen, insofern eine fixierte Zunge nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim Essen zu Schwierigkeiten führen kann. Die Wirkungen von Sprache und Speise sind auch dann miteinander verwoben, wenn ein Bauch durch die Frucht eines Mundes und den Eintrag der Lippen befriedigt wird,212 wobei wir uns die Frucht sowohl als weise Worte, als physische Nahrung oder als ein Zusammenspiel von Worten und Nahrung vorstellen können. Nicht nur sättigende Speise, sondern auch sprachliche Aktivität kann unserem Bauch Freude und Leiden bereiten. In diesem Sinne erfüllt Sprache eine digestive Funktion. Eine richtige Antwort ist wie ein Kuss der Lippen.213 Der versöhnliche Charakter der Zunge zeigt sich nicht allein in der Sprache, sondern in einer ins Erotische weisenden Sinnlichkeit, an der Sprache und Verdauung mehr oder weniger stark beteiligt sein können. Sicher beruht die Lust an Honig und Milch unter der Zunge einer schönen Braut214 nicht ausschließlich auf verbalen Sprachakten. Wenn Gaumen, Lippen und Geruchssinn sich gemeinsam erfreuen, so braucht dabei nicht gesprochen zu werden. Allerdings kann Sprache an digestiver Freude Anteil nehmen: »Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und deiner Nase Duft wie Äpfel und deinen Gaumen wie guter Wein, der meinem Freunde glatt eingeht und der Schläfer Lippen reden macht.«215 Allerdings ist Vorsicht geboten. Der silberne Glanz brennend heißer Lippen könnte sich als trügerisch erweisen.216 Die Lippen einer Ehebrecherin gelten dann als gefährperty of a poor man, it (is) a blocking to the throat, / it makes a vomiting to the gullet. / If he obtained it by false oath,/his heart is perverted by his belly…/ The mouthful of bread (too) great thou swallowest and vomitest up, / And art emptied of thy good.« (S.o., Abschnitt Ägypten). 210 | Vgl. Ez, 36:3. 211 | Vgl. Ijob, 29:10; Ps 137:6; vgl. 22:15. 212 | Vgl. Spr, 18:20. 213 | Vgl. ebd., 24:26. 214 | Vgl. Hld, 4:11. 215 | Vgl. ebd., 7:8-9. 216 | Vgl. Spr, 26:23.
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lich, wenn Honig von ihnen tropft und sie einen Gaumen verbergen, der weicher ist als Öl.217 Das dürfte sich nicht nur auf die Gefahren rhetorischer Verführung beziehen lassen. Gegenüber Verführungen kann der Gerechte seine Zähne zeigen, was uns wiederum an die kämpferischen Seiten der Verdauung erinnert, denn wie Mund und Zunge werden im Alten Testament auch die Zähne mit Schwertern verglichen.218 Zieht gar ein ganzes Volk mit den Zähnen eines Löwen und den Kiefern einer Löwin durch das Land, sind Verwüstungen zu erwarten, trockene Felder, verkümmerte Äcker, verdorbenes Getreide, kahle Bäume, verlorene Ernten und weinende Weintrinker.219 Drohen gesetzlose Menschen den Gerechten mit knirschenden Zähnen,220 spielt die sprachliche Funktion der Kauwerkzeuge wohl allenfalls eine Nebenrolle. Verunsichert das mahlende Geräusch einen Gerechten, können wir dahinter wiederum die Furcht vor Zerfleischung und dem Tod im Verdauungsschlauch vermuten.221 Umgekehrt droht Hunger, wenn die eigenen Zähne »unschuldig« bleiben.222 Dabei steht die Funktion von Zähnen in Zusammenhang mit dem moralischen Verhalten ihrer Besitzer. Werden etwa saure Weintrauben gegessen – will sagen: wird sündhaft gelebt –, so hat das stumpfe Zähne zur Folge.223 Die Bilder knirschender Zähne, aufgerissener Mäuler, todbringender Zungen und verführerischer Lippen lassen sich nahezu beliebig kombinieren, da ihre digestive Ursprünglichkeit auf animalischen Trieben beruht: »Das Blut der Feinde sollen Hunde mit ihrer Zunge lecken.«224 Wenn wir die sprachliche Funktion der Zunge betrachten, so sollten wir ihre digestiven Aufgaben nicht unterschätzen. Bleibt der Mund geschlossen, verursachen Lippen, Kiefer, Zähne und Zunge kein Unheil. Die Umschreibung stiller Unterwerfung durch die Formulierung ›die Hand auf den Mund legen‹225 assoziiert verbales Schweigen. Wir dürfen annehmen, dass ein durch Verdeckung behinderter Mund wohl auch mit einem freiwilligen oder erzwungenen Verzicht auf Speise verbunden wurde. Wenn ein geschlossener Mund das Leben verlängert, offene Lippen dagegen Ruin bringen,226 wenn das Hüten von Mund und Zunge der Seele Gutes 217 | Vgl. ebd., 5:3. 218 | Vgl. ebd., 30:14. 219 | Vgl. Joel, 1:5-10. 220 | Vgl. Ijob, 16:9, 37:12, 112:10. 221 | Vgl. Ps, 124:3-6. 222 | Vgl. Am, 4:6. 223 | Vgl. Jer, 31:30, Ez, 18:2. 224 | Ps, 68:23. 225 | Vgl. Ri, 18:19; Ijob, 29:9; Mi, 7:16. 226 | Vgl. Spr, 13:3.
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tut,227 so steht hinter der Ermahnung zu verbaler Bescheidung die Warnung vor Fresslust: Wenn es ratsam ist zu schweigen, dann ist auch Zubeißen selten hilfreich. Das organische Zusammentreffen von Sprache und Speise betrifft im Alten Testament nicht nur die Organe des Mundes, sondern auch den Bauch. Scheinen die Organe des Mundes vorwiegend dem Willen der Menschen zu gehorchen, wirkt in den Organen des Bauches eher der Wille YHWHs. Der dringt in die innerste Kammer der Bäuche, indem er sie mit Hilfe des menschlichen Geistes ausleuchtet wie mit einer Kerze.228 Insofern das Alte Testament einerseits Verdauung und Seelenheil in Zusammenhang stellt und andererseits Wechselwirkungen zwischen Seele und Sprache akzeptiert, ist es nicht überraschend, wenn Sprache auch im Bauch Wirkungen zeigt. Tatsächlich wird angenommen, dass Sprache die Bauchhöhle recht unvermittelt erreichen kann: Worte wirken wie Speise, wenn sie das »Innere des Bauches« mit Geist erfüllen.229 Worte einer göttlichen Botschaft können verschlungen werden, konkret und metaphorisch,230 aber auch Worte eines Verleumders.231 Der Bauch eines Menschen soll sich an den Früchten des Mundes erfreuen, der Ertrag der Lippen soll ihn füllen.232 In diesem Sinne ist der Magen ein realer und symbolischer Behälter zur Auf bewahrung von Erinnerungen.233 Ähnliches wird in sumerischen Schriften überliefert.234 Wenn Worte in ihn hineinfallen, können sie vollkommen in ihn eingehen. Überfüllen Worte das Innere eines Menschen mit Geist, erinnert der Bauch an einen übervollen Weinschlauch, der kurz vor dem Platzen steht.235 Sprechend können die Lippen erleichternden Raum schaffen.236 Ein weiser Mann solle seinen Bauch gar nicht erst mit »windigem« Wissen auf blasen.237 Einen verdauungsphilosophischen Höhepunkt erreicht das Alte Testament im Buch Hesekiel, demzufolge YHWH seinen Propheten eine Botschaft schlucken ließ: 227 | Ebd., 21:23. 228 | Vgl. Spr, 20:27. 229 | Vgl. Ijob, 32:18. 230 | Vgl. Ez, 3:1-5. 231 | Vgl. Spr, 18:8 und 26:22: ››( ‹־י ֵר ְד ַחkheh‹-der‹, Strong’s, 2315), Schlafzimmer, innerer Raum; › ›( ‹׃ן ֶט ָֽבbeh‹-ten‹, Strong’s, 990), Bauch, Körper, Gebärmutter. 232 | Vgl. Spr, 18:20. 233 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 16f. 234 | Asurbanipal erklärt am Anfang seiner großen Inschrift, dass er die gesamte Weisheit in seinem Bauch aufgenommen hat. Vgl. Jeremias, 1929, S. 38. 235 | Vgl. Ijob, 32:18, 32:19. 236 | Vgl. ebd., 32:20. 237 | Vgl. ebd., 15:2.
Wurzeln »Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was vor dir ist, iss diesen Brief, und gehe hin und predige dem Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir den Brief zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, du musst diesen Brief, den ich dir gebe, in deinen Leib essen und deinen Bauch damit füllen. Da aß ich ihn, und er war in meinem Munde so süß wie Honig. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, gehe hin zum Hause Israel und predige ihnen meine Worte.« 238
Zwischen Wort und Speise besteht mehr als eine Ähnlichkeit. Die digestive Assimilation der Worte hütet hier die Reinheit der Botschaft, um den Empfänger rein und unverdorben zu erreichen.239 Die Worte stammen dabei nicht aus dem Mund, sondern durchqueren ihn. Der Mund wird so zum Mittler einer in der Tiefe des Bauches bewahrten Wahrheit. Der Einfluss des Verdauens auf die Erinnerung ist aus heutiger Sicht nicht offensichtlich. Eine Idee gibt die ›Ruminatio‹, eine klösterliche Übung, die im wiederholenden Murmeln bzw. Wiederkäuen von Texten der Bibel besteht, die dabei nicht nur auswendig gelernt, sondern digestiv verinnerlicht werden. Worte werden dabei als Speise verstanden, deren Nährwert steigt, wenn sie gut ›durchgekaut‹ wird.240 Die Metaphorik des Wiederkäuens zeigt den menschlichen Körper als Wissensspeicher: nicht nur in dem trivialen Sinne, dass alles, was wir essen, als Information gedeutet werden kann,241 sondern auch, weil Ernährung an neuronale Aktivitäten gekoppelt ist, deren Muster unsere Ernährungsweise beeinflussen und die sich entsprechend unserer Ernährungsweise verändern. Werden in der jüdischen Tradition Buchstaben mit Honig bestrichen, damit Kinder sie nach dem Lesen ablecken können, so ist damit eine Wirkung verbunden, an der Bauch, Gaumen und Geist Anteil haben. Wir können uns fragen, in welcher Weise Bauchzustände unser Wissen prägen, aber wir können nicht so tun, als stammten Sprache, Geist und Verdauung aus hermetisch getrennten Bereichen des Daseins. Die Bezüge sind sicher nicht immer leicht zu klären, aber so viel erscheint doch klar: Ohne Ei und Henne gibt es auch keinen Hahn. 238 | Ez, 3:1-5. Die Aufnahme von Wissen durch den Bauch ist auch aus der isländischen Mythologie bekannt. Der Genuss des Honigweins ›Óðrœrir‹ vermittelt dort das zum Dichten notwendige Wissen. Der Gott Óðinn raubte den Trank vom Riesen Suttungr, indem er ihn einverleibte, sich in einen Adler verwandelte und entflog. Der Riese verfolgte den Gott, doch letztlich gelang es Óðinn, den Met in die Gefäße der Asen zu spucken. Die Befähigung zu vollkommener Dichtkunst war damit zu den Göttern gerettet. Doch von einem Teil des Mets musste Óðinn sich auf der Flucht erleichtern. Der fiel als ›Adlerkot‹ (›Skaldfifl‹) auf die Erde. Dort inspiriert er seitdem schlechte Dichter zur Abfassung sogenannter ›Kothaufen‹ (›leirburður‹). Vgl. Poestion, 2011, S. 27. 239 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 115. 240 | Vgl. Rath, 2011; Leclercq, 1957. 241 | Vgl. Nagenborg, 2009, S. 225ff.
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Der Umgang mit den Wechselwirkungen zwischen Sprache, Geist und Verdauung kann auch gefährliche Formen annehmen, etwa in der Art eines Reinheitstests für Ehefrauen eifersüchtiger Männer: Der Priester soll Flüche auf einen Zettel schreiben, sie mit Wasser abwaschen und das Wasser der Frau zu Trinken geben. Dann soll der Bauch entscheiden: »Jst sie vnrein vnd hat sich an jrem Man versündigt / So wird das verfluchte Wasser in sie gehen / vnd jr bitter sein / das jr der bauch schwellen vnd die hüffte schwinden wird / vnd wird das Weib ein Fluch sein vnter jrem volck. / Jst aber ein solch Weib nicht vervnreinigt / sondern rein / So wirds jr nicht schaden / das sie kan schwanger werden.« 242
Wenn wir zwischen den Bauchgefühlen befriedigter und unbefriedigter Menschen unterscheiden können, wenn Bauchzustände das soziale Verhalten beeinflussen, wenn sich geistige und digestive Prozesse bereichern können, so spricht das für philosophische Achtung gegenüber der Verdauung. Sicher fallen Sprach- und Verdauungsvorgänge nicht in eins. Aber gerade deshalb scheint es philosophisch bedeutungsvoll, die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Verdauung zu erfassen. Schweigen ist vielleicht nicht das beste Mittel, wenn es gilt, die Macht von Bauchgefühlen in zivilisierten Bahnen zu halten.
G riechische K ulte und M y then Wollen wir verstehen, wie die Macht der Bauchgefühle in unseren aktuellen Vorstellungen einer zivilisierten Speisegemeinschaft wirkt, sind die Riten der frühen griechischen Kultur aufschlussreich.243 Hier entwickelten sich Überlegungen zum Umgang mit dem Bauch, die frühe Ansätze zum philosophischen Umgang mit Sein, Bewusstsein und Sprache prägten. Wo sich die Kenntnisse unserer selbst und der Welt entwickelten, gerade in Hinblick auf Personen, Tote und Götter, da war der Bauch mittenmang. Den frühen Griechen war wohl bekannt, dass in Ägypten mitunter im Beisein getrockneter Leichen getafelt wurde.244 Auch sie selbst verdauten geistige und materielle Speise gelegentlich angesichts von Toten: Laut Homer wurde der Leichnam des griechischen Helden Patroklos, anlässlich seiner Totenfeier,
242 | 4 Mos, 5:27-28. 243 | Laut Detienne u. Vernant, 1979, S. 95, kennzeichnet der Magen die menschlichen Lebensbedingungen im Allgemeinen: »Il [la γαστήρ] marque la condition humaine dans son ensemble.« 244 | Vgl. Herodot, Historien, 3:24,4; Lucian, De luctu, 21.
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zusammen mit Schafen, Rindern, Pferden, Hunden, Honig, Öl und zwölf von seinem Freund Archilles persönlich hingeschlachteten Troern verbrannt.245 Die griechischen Bemühungen um gastrische Befindlichkeiten toter Helden erinnern zumindest insofern an Praktiken der alten Ägypter, als Aktivitäten lebendiger Bäuche in den Bauch der Erde hineinprojiziert wurden. Ein bekanntes Beispiel liefert Odysseus, den Homer Honig, Wein, Wasser und Mehl mit dem dampfenden Blut frisch geschlachteter Schafe in eine Grube schütten lässt, um Tote, bzw. ihre Seelen zu partiellem Leben zu erwecken.246 Trankopfer auf Grabstätten waren in Griechenland weit verbreitet.247 Das Versickern von Flüssigkeit im Erdreich liefert ein augenfälliges Bild für die Durchdringung eines Körpers mit Speise, auch im Sinne eines Verdauungsvorgangs.248 Insofern die Einrichtung von Röhren für Trankopfer auf Grabstätten im Zuge eines andauernden und wiederholbaren Seelenkultes erfolgte, dürfen wir annehmen, dass Griechen nicht von jeher an eine vollkommene Scheidung zwischen Körper und Seele nach dem Tod glaubten.249 Auch hinter Feueropfern stand die Vorstellung einer Speisung der Verstorbenen.250 Motivierend waren die Angst vor mächtigen Totengeistern und die Überzeugung, dem Toten sei Nahrung für seine jenseitige Existenz nützlich.251 Die lebenserhaltende Macht der Verdauung nährte Wünsche nach einer über das irdische Leben hinausreichenden Speisegemeinschaft. Epiphanius überliefert eine Einladungsformel, mit der Verstorbene zum Mahl gerufen worden sein sollen: »Steh auf […], iss und trink und lass es dir gut gehen«.252
245 | Vgl. Homer, Ilias (Il.), 23:163-175. 246 | Vgl. Homer, Odyssee (Od.), 11:24-50. 247 | Das belegen Röhren, durch welche Flüssigkeiten in die Tiefe von Grabstätten geleitet werden konnten. Vgl. Nilsson, 1992, S. 176f.; Bruck, 1970, S. 318. Vergleichbare Röhren finden sich in Grabstätten der Sumerer. Der sumerische Begriff für Grab, ›anag‹ bzw. ›kianag‹, soll geradezu jenen Ort bedeuten, an dem man die Toten trinken lässt, insbesondere Bier soll als Grabbeigabe verbreitet gewesen sein. Vgl. Virolleaud, 1910, 198f. In römischen Grabanlagen führen Libationsröhren oftmals direkt in die Mundöffnung der bestatteten Leichname und auch in Aschenurnen. Vgl. GebhardtJaekel, 2007, S. 67. 248 | Vgl. Klauck, 1982, S. 77. Trankopfer brachten dabei die Unterscheidung zwischen Außen und Innen zum Verschwimmen, da das Verschütten von Flüssigkeit nicht immer auf Befriedigung des Durstes der Verstorbenen zielte, sondern mitunter auch auf ihre Reinigung. Vgl. Burkert, 1977, S. 116. 249 | Vgl. Rohde, 1898, S. 33f. 250 | Vgl. Klauck, 1982, S. 78f. 251 | Vgl. ebd., S. 77. 252 | Epiphanius, Ancoratus, 86,5.
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Sicher bleibt uns die Vorstellungswelt früher Kulturen zur Ernährung der Toten bzw. ihrer Seelen mitunter rätselhaft.253 Vielleicht war der Verzicht auf Speise zugunsten einer höheren Macht viel wichtiger als das, was im Bauche der Toten geschah?254 Jedenfalls unterstreichen die vielfältigen Spuren gastraler Freuden und Leiden in zentralen Motiven der griechischen Mythologie eindeutig und anschaulich die Aufmerksamkeit der frühen Griechen für das gastrale Wohl toter Personen. Sicher hatte die Verdauung auch Bedeutung für die lebendigen Griechen. Aussagekräftig sind hierbei etwa die Mythen um die als ›Nabel‹ (›Omphalos‹, ›ὀμφαλός‹) bezeichneten Opfersteine. Berühmt wurde insbesondere der ›Nabel‹ in Delphi, den die Griechen nicht nur als Zentrum des Heiligtums, sondern der Welt ansahen.255 Die beim delphischen Omphalos affichierte Aufforderung zur Selbsterkenntnis (›Γνῶθι σεαυτόν‹) ist für Vorgänge im Umfeld unserer eigenen Nabel bedeutungsvoll.256 Sehen wir in dieser Aufforderung einen frühen Anstoß zu dem, was wir heute als philosophische Einsicht verstehen, so erfolgte dieser Anstoß in einem Umfeld, dem ein Omphalos als absoluter und göttlich gegebener Mittelpunkt der Welt galt. Sicher erlaubt philosophische Einsicht die Distanzierung von einer um ein Orakel zentrierten Welt. Nichtsdestoweniger symbolisiert der delphische Omphalos einen kulturellen Dreh- und Angelpunkt, in dessen Umfeld es zur Entwicklung erster philo253 | Vgl. Burkert, 1977, S. 116. 254 | Vgl. ebd., S. 116. 255 | Rom übertrug den Anspruch, ›Nabel der Welt‹ zu sein, auf sein Forum: Der umbilicus urbis ist allerdings erst seit dem frühen 3. Jahrhundert u.Z. belegt. DNP, VIII, S. 1201. Der ›Nabel‹ der Grabes- bzw. Auferstehungskirche in Jerusalem erinnert an hebräische Ansprüche auf ein Leben im Zentrum der Welt. Vgl. Ez, 38:12. 256 | Nach Christoph Auffarth ist im Konzept des Omphalos nicht die geometrische Mitte, sondern die zentrale Bedeutung ausgedrückt. Vgl. Art. »Omphalos«, in: DNP, Bd. 8, S. 1201. Allerdings bezeichneten die frühen Griechen auch das hervorstehende Zentrum von Kampfschilden als Omphalos, die Höhlung der Schilde als ›Bauch‹. Es sei dahingestellt, ob sie ihre organischen Nabel wie Vitrus – fälschlich – als das Zentrum des menschlichen Körpers ansahen. (»Item corporis centrum medium naturaliter est umbilicus.« Vitruvius, de Architectura, 3.1.3. Leonardo da Vinci veranschaulicht diesen Satz eindrücklich in seiner Federzeichnung homo vitruvianus.) Mit Georg Groddeck sei an die unmittelbare Bedeutung des organischen Nabels für die Entwicklung menschlicher Verdauung erinnert: als Rest der Nabelschnur, die nach einer Geburt in der Nähe der kindlichen Bauchhaut durchgeschnitten wird, sei der Nabel ein Mysterium der Menschenwelt. Vgl. Groddeck, 1933, 124f., auch S. 120. Es scheint demnach naheliegend, das Urbild für den ›Nabel‹ in Delphi sowie symmetrische Ideale der griechischen Waffenbaukunst in der Verbindung zwischen den organischen Bäuchen von Mutter und Fötus zu suchen.
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sophischer Einsichten im engeren Sinne kam. Hätte es die Sorge um gastrale Verdauung nicht längst gegeben, so hätten griechische Philosophen sie erfunden! Griechische Mythen veranschaulichen die zentrale Bedeutung der Verdauung für die Entwicklung klassischer Philosophie. Nach gängiger Überlieferung soll der Omphalos die olympischen Götter vor dem Ende im Verdauungskanal ihres Erzeugers Kronos bewahrt haben.257 Kronos war es gewohnt, seine Kinder zu verschlingen, aus Gründen der Machterhaltung. Seine titanische Gattin, Rhea, versuchte den jüngsten Sohn, Zeus, zu retten, indem sie den schon erwähnten Omphalos in Windeln kleidete und ihn Kronos zur Speise reichte. Die Täuschung gelang: Der Gatte verschlang den Omphalos anstelle des Sohnes. Der konnte nun unbehelligt heranwachsen, um seinen Vater mit List und Gewalt zu entmachten. Kronos soll er sogar dazu gebracht haben, den ›Nabel‹ und alle verschlungenen Göttergeschwister zu erbrechen. Der Omphalos soll dann genau an jener Stelle zur Ruhe gekommen sein, die Zeus zum Mittelpunkt der Welt bestimmte: Delphi. Und die Moral von der Geschicht? Gut geschluckt heißt nicht unbedingt gut verdaut! Diese Moral ist für körperliche und auch für geistige Nahrung einleuchtend.258 Der delphische ›Nabel‹ ist ein Sinnbild für den harten Fels, an dem sich unsere Spaten zurückbiegen, wenn sich die Begründungen erschöpfen.259 Wer diesem Bild Überzeugungskraft zuspricht, sollte beachten, dass die Bedeutung des Omphalos nicht allein auf seiner physischen Erscheinung eines Steins im Heiligtum beruht, sondern auch auf symbolischen Bezügen zu organischen Bäuchen. Gewissheit ist als harter Felsen und als Verdauungsbrei vorstellbar.260 Als Metaphern für kulturelle Veränderung sind die Ereignisse um den delphischen ›Nabel‹ von der Aktivität lebendiger Bäuche inspiriert.261 257 | Vgl. Hesiod, Theogonie, 453ff. Eindeutige materielle Zuordnungen der verschiedenen als ›Nabel‹ bekannten Steine zu den mythischen Überlieferungen sind zweifelhaft. Vgl. Art. »Omphalos«, in: DNP, Bd. 8, S. 1201. 258 | Frei nach Marx ließe sich die geistige Funktion des ›Nabels‹ als Aspekt eines kulturellen Überbaus deuten, die organische Funktion als Aspekt einer materiellen Basis. 259 | Vgl. Wittgenstein, PU, § 217. Laut Vossenkuhl lässt Wittgenstein unseren Sprachgebrauch und unsere Wahrheitswerte auf einer unmittelbar praktischen Evidenz gründen. Vossenkuhl, 1995, S. 315. Den delphischen ›Nabel‹ verstehe ich als einen sinnfälligen Anhaltspunkt für das Verständnis der gastralen Fundierung solcher Evidenz. 260 | »Warum so hart! – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle […]«, Nietzsche, Zarathustra III, § 29, 1884. Die intellektuelle Freude an Nietzsches Tafel »Werdet hart« sollte uns die digestive Freude an Butter aber nicht verderben. Siehe dazu die Fotomontage von John Heartfield, »Hurrah, die Butter ist alle!«, 1935. 261 | Georg Groddeck unterstreicht das humorvoll: »Die Etymologie […] spielt ein wenig damit, dass im Lateinischen Nabel umbilicus heißt und Schild umbo, dass das griechi-
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Die Gültigkeit philosophischer Paradigmen muss sich auch an den Notwendigkeiten der Bäuche bewähren. Nicht nur in der frühen griechischen Kultur! Der Sieg des Gottes Apollon über ein schlangenartiges Erd-Ungeheuer, Delphyne bzw. Pythia,262 das den delphischen Omphalos bewachte, wurde als ein wichtiger Schritt für die Entwicklung einer philosophischen Theorie zu Mensch und Welt gewürdigt.263 Nachdem Apollon die chthonische Bestie besche omphalos (›ομφαλος‹) dem umbilicus gleichsteht und dass Nabe des Wagenrades dem Wort Nabel nahe verwandt ist. Und sonst gibt sie keine Auskunft, es sei denn, dass sie den Verdacht in uns zurücklässt, die Gelehrten seien der Meinung, dass der Wagen älter sei als die Schwangerschaft.« Groddeck, 1933, 120f. 262 | Nach einer Formulierung von Peter Forchhammer wurde Delphyne erschlagen, um als Python zur Bedingung der aufsteigenden Dünste im Orakel zu werden. Vgl. Forchhammer, 1837, S. 255. Die Bezeichnung des delphischen Ungeheuers als ›Pythia‹ dürfte ihren Ursprung in der Bezeichnung des Ortes (›Πυθώ‹, ›peithó‹, Hymnos an Apollon, 372) nehmen, an dem es nach seinem Tod verfaulte. Sei auch der etymologische Konnex mit ›faulen‹ (›πύθεσθαι‹, ›pythesthai‹) sekundär gegenüber der primären Verbindung mit ›Boden‹ (›πυθμήν‹, ›pythmen‹), so legt die anzunehmende Deutung als ›Erdschlund‹ doch ebenfalls Bezüge zwischen Bauch und Boden nahe. Vgl. Art. »Pythia«, in: DNP, Bd. 10, S. 663. Auch die Überlieferung des Namens des Ungeheuers als ›Delphyne‹ (›Δελφύνη‹) spricht für einen Bezug zwischen den mythischen Ereignissen und Bäuchen, insbesondere mit weiblichen, aufgrund der gemeinsamen etymologischen Wurzel des Namens mit dem griechischen Begriff für Uterus (›δελφύς‹, ›delphys‹) und dem Standort des ›Nabels‹ (›Δελφοί‹, ›Delphoi‹). Die Nähe zu Erde, Dunkelheit, Höhlen, Verwesung und Schleim macht Delphyne bzw. Pythia zu charakteristischen Vertreterinnen der allgemeinen Typologie griechischer Drachinnen, vgl. Fontenrose, 1959, 94ff., die Ähnlichkeit mit Schlangen im Alten Testament haben. Die Furcht vor Verdauung und Sexualität spiegelt sich in ursprünglichen Assoziationen von Bauch, Höhle und Hölle. So galt auch Gaia, als segenspendende Urgottheit und Mutter der Delphyne und anderer Ungeheuer, den frühen Griechen als personifizierte Erde. Die Beseitigung der Drakaina in Delphi soll sich gegen die Macht der Muttergottheit gerichtet haben, die sich der patriarchalen Verfügungsgewalt über die delphische Erdspalte, den Schoß der Gaia, widersetzte. Vgl. Buche, 2002, S. 15. In das Bild männlicher Machtentfaltung über weibliche Bäuche passt wiederum Forchhammers Deutung der »ungebändigten Drachenschlange« als Wasserstrom im Zuge seiner Ausführungen zur Feuchtigkeit in den ausgehöhlten Betten und Bäuchen von Flüssen, deren Bekämpfung der »Erdentwässerer« und »Schlangentöter« Apollon durch die Trockenlegung des »kotigen Bodens« einleitete. Vgl. Forchhammer, 1840, S. 11-18. 263 | »Grenzenloser Apollinismus« erscheint bei Nietzsche als Stichwort zwischen theoretischen Menschen, Kausalität, Genuss im logischen Erkennen, maßloser Erkenntnissucht und unerschrockenem Zweifel. Nietzsche, NF-1870,6[13]. Apollinisch zu werden, das heißt für Nietzsche »seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu
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siegt und getötet hatte, soll ihr ungeheurer Leichnam unter den Strahlen der Sonne verfault sein.264 Der siegreiche Gott des Lichts, der sittlichen Reinheit und der Mäßigung richtete sich sein Heiligtum in Delphi ein. Die Aktivitäten des altertümlichen Erdorakels ließ er weiterführen.265 Laut Erwin Rohde wurde die von Gaia beauftragte Hüterin des ›Nabels‹ nach ihrer Niederlage nicht bedeutungslos, sondern blieb im Untergrund tätig.266 Den Rücken zur Erde, den Bauch zum Himmel gewendet,267 mag ihr Leichnam in der schwarzen Erde entschwunden sein, doch den Omphalos, um den sich das Ungeheuer zu seinen Lebzeiten gewunden hatte, ließ sie den Sterblichen zurück.268 Porphyrios überrascht mit der Angabe, das Ungeheuer habe Apollon besiegt und in Delphi begraben, nicht umgekehrt.269 Wir brauchen dem keinen Glauben zu schenken, um dem Bauch des dephischen Ungeheuers bleibenden Einfluss auf das Geschick der Griechen zuzusprechen.270 Besonders ein aus den Tiefen der Erde hervorsteigender Atem (›πνεῦμα‹, ›Pneuma‹), der die Priesterinnen des Orakels in Ekstase versetzt haben soll, wurde verschiedentlich in Hinblick auf das Monster untersucht.271 In der Praxis dürfte das Ungeheuer als
brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff.« Nietzsche, NF-1888,14[14]. 264 | Vgl. Homer, Hymnos an Apollon, 300ff., 356-374; Apollonios von Rhodos, Argonautika, 2.706; Nonnos von Panopolis, Dionysiaka, 13.28. 265 | Vor Apollon soll Themis über das Orakel in Delphi verfügt haben, das sie selbst von Gaia übernommen hatte. Aischylos, Eumeniden, 2-4. 266 | Vgl. Rohde, 1908, S. 125. Die Form des ›Nabels‹ erinnert an gewölbte Grabbauten, sogenannte Schatzhäuser (›θησαυρός‹, ›thesaurós‹). Vielleicht wurde das Ungeheuer unter dem von ihm bewachten Nabel begraben? Vgl. Rohde, 1908, S. 123. 267 | Vgl. Lucians Bemerkung zu Wechselwirkungen zwischen dem Drachen in Delphi und dem gleichnamigen Sternbild am Himmel. Lucian, Astrologie, 23. 268 | Frei nach Georg Groddeck stellt sich die Frage, welche Bäuche eine zum ›Nabel‹ gehörige Nabelschnur wohl ehemals verbunden haben könnte. 269 | Vgl. Porphyrios, Vita Pyth., 16. Sollte die Legende von der Inkarnation des Apollon in der Person des Philosophen Pythagoras glaubwürdig scheinen, so musste der Gott ja zumindest verstorben sein. Suárez de la Torre, 2002, S. 174. 270 | Vgl. Strabo, Geography, IX:3(5). 271 | Was da tatsächlich aus der Erde drang, ist schwer zu sagen. Ein Erdbeben 373 v.u.Z., verschiedene Plünderungen und die Zerstörung des Tempels durch Theodosius im Jahre 390 v.u.Z. u.a. erschweren die Rekonstruktion. Die Suche nach Erklärungen hält an. Vgl. Boer u.a., 2001 u. 2003, Etiope, 2006.
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mehrdeutige Synthese von Leben und Tod die »Autorität unterirdischer Stimmen« im Orakel verstärkt haben.272 Stellen wir uns den aufsteigenden Atem als Ausdünstungen aus einem faulenden Bauch vor, so ergibt sich ein Bild, das wir in ein Muster für kulturelle Veränderung überführen können. Im mythischen Miteinander der alten und der neuen Hüter des Omphalos verklärt sich die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie bei einem Verdauungsvorgang, der ehemaliges Leben in zukünftiges Leben überführt. Die anrüchigen Überreste der Besiegten werden zu einer Nahrung, aus der die Sieger Kraft zur Gestaltung neuer Kulturstufen beziehen. Wenn aus einem Drachenbauch Dünste in die Welt der Sterblichen aufsteigen, warum soll nicht auch etwas von dort aus in den Untergrund gesunken sein?273 Sterbliche Priester und unsterbliche Götter wurden verschiedentlich beim Ausschütten von Trankopfern auf den Nabel abgebildet.274 Trankopfer wurden sowohl für Tote unter der Erde, als auch für Götter auf den olympischen Höhen vergossen. Wir dürfen uns wundern, wie die Flüssigkeit aus dem Boden zu den himmlischen Göttern gelangte.275 Lucians Annahme von Wechselwirkungen zwischen dem Drachen im delphischen Erdreich und dem Sternbild Drache am Himmel wurde schon erwähnt.276 Beim digestiven Austausch zwischen Menschen, Toten und Göttern verschwimmen Unterscheidungen zwischen oben und unten.277
272 | Vgl. Bachelard, 1948, S. 218, 233. In diesem Sinne soll die Sibylle von Cumae in ihren Ekstasen Geräusche unterirdischer Wasser- oder Luftbewegungen interpretiert haben. Vgl. Norbert Casteret, Au Fond des Gouffres, Paris, Perrin, 1936, S. 197, zitiert nach Bachelard, ebd. 273 | Zahlreiche Abildungen zeigen Apollon sitzend auf dem ›Nabel‹. Auch die Priesterinnen sollen über dem ›Mund der Erde‹, (›γη˜ς στόμα‹, vgl. Stobaeus, Eclogues, 1.42; ›Gähnender Abgrund‹, ›χάσμα‹, vgl. Diodorus Siculus, Library, Diod. 16.26; ›Mund der pythischen Höhle‹, ›Πυθικο`ν στόμιον‹, vgl. Lucian, Nero, 10, D. C. 63.14.) Platz genommen haben. Vgl. Burkert, 1985, S. 181. Es sieht ein bisschen so aus, als säßen sie auf einer Toilette. Ein Bezug zur Reinigung liegt insofern nahe, als über Gräbern vergossenes Wasser mitunter ›Badewasser‹ für die Unterirdischen genannt wurde. Vgl. Burkert, 1977, S. 117. 274 | Vgl. Patton, 2009, S. 16, 91f. u.a.; Burkert, 1977, S. 117; Holland, 1933, S. 210. 275 | Vgl. Burkert, 1977, S. 114. 276 | Vgl. Lucian, Astrologie, 23. 277 | Fast wie im echten Leben, wenn die Bratwurst aus Leberkäse und Leberkäse aus Bratwurst entsteht. Wer mag schon gerne daran denken? In Hinblick auf die Entwicklung einer Ästhetik der Verdauung und zur verbesserten Regulierung der abendländischen Verdauungshygiene scheinen weitere Untersuchungen dennoch wünschenswert.
Wurzeln
Die griechischen Sorgen um Bäuche betrafen nicht nur die Unterwelt, sondern auch die Magenzustände lebendiger Personen. Im 18. Gesang der Odyssee nennt Antinoos das Menü, um das die beiden Bettler des Palastes, Iros und der verkleidete Odysseus, zu kämpfen bereit sind: mit Fett und Blut gefüllte Ziegenmägen.278 Die Mägen von Tieren wurden von den Griechen also mitunter als Behältnis zum Garen von Speise verwendet – wie heute der Darm einer Grützwurst, bemerkt Jean-Pierre Vernant.279 Den Gedankensprung von dem mit Speise gefüllten Magen über dem Feuer zum nach Speise verlangenden Magen im Bauch des Odysseus neben dem Feuer vollzieht Homer explizit.280 Sein ›böser‹ Bauch habe Odysseus zum Kampf um die Speise getrieben, nicht die Lust auf Schläge von einem jüngeren und stärkeren Gegner.281 Mit der Macht des Bauches dürfte Odysseus wohl vertraut gewesen sein. Nicht umsonst gilt er als geistiger Vater des mit Kriegern gefütterten Pferdes, aus dessen Innerem heraus er mit seinen Kampfgefährten über Troja herfiel.282 Die Schlechtigkeit des Bauches wird in der Odyssee jedenfalls mit einer gewissen Besessenheit beklagt.283 Der Bauch bereite den sterblichen Menschen Sorgen und vielfältige Übel, er sei schamlos, elend und beklagenswert.284 In ähnlicher Weise beklagt Pindar die eifrige Mühe, die Menschen darauf verwenden, das grässliche Übel des Hungers von ihren Mägen abzuwenden.285 Wer Überleben will, muss seinen Bauch füllen und wer seinen Bauch füllen will, muss etwas zu seiner Füllung beschaffen. Wer keine ausreichenden Mittel zur Stillung seines Hungers hat, wird zum »Bauch« reduziert, bzw. zum »Sklaven des Bauches«.286 In diesem Sinne beschimpfte 278 | Vgl. Homer, Od., 18,44 »γαστέρες αϊἵδ‘ αἰγῶν«, 18,118f. »γαστέρα θῆκεν, ἐμπλείην κνίσης τε καὶ αἵματος«. Eine inhaltliche Parallele findet sich in Herodots Beschreibungen skythischer Opferriten. Auch hier tritt der Magen als Umhüllung für Speisen auf. In Ermangelung von Feuerholz und Kochtöpfen soll das Fleisch von Opfertieren mit Wasser gemischt und in der Haut des Magens über ein Feuer gehängt worden sein, in dem auch die Knochen verbrannt wurden. »So kocht das Rind sich selber gar, und die anderen Opfertiere ebenso.« Herodot, Historien, 4,61. Auch der in einem Dreifuß über das Feuer gehängte Topf wurde als Bauch bezeichnet, der Bezug zwischen Bauch und Kochgerät erinnert an den Topf als Zeichen für Körperorgane in altägyptischen Schriften. 279 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 94. 280 | Auf die Zweideutigkeit der Bewertung des Feuers im Bauch werde ich im Zusammenhang von Hesiods Bemerkungen zur Sexualität hinweisen. 281 | »γαστὴρ ὀτρύνει κακοεργός«, Homer, Od., 18,53f. 282 | Vgl. ebd., 8.490. 283 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 95. 284 | Vgl. Homer, Od., 7,216; 15,344; 17,286; 17,473f. 285 | Pindar, Isthmian, I.1,49: »γαστρὶ δὲ πᾶς τις ἀμύνων λιμὸν αἰανῆ τέταται« 286 | Detienne u. Vernant, 1979, S. 95.
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Epimenides die Kreter nicht nur als »Lügner und gefährliche Tiere«, sondern auch als »faule Bäuche«.287 Die negative Grundhaltung gegenüber dem Bauch ergibt sich auch aus der mythischen Bemühung um einen Ausgleich zwischen göttlichen und menschlichen Bauchinteressen. Ursprünglich erschien der Magen als mögliche Speise für Menschen und Götter. Bekanntlich überließ Prometheus Zeus die Wahl der Opferteile, auf welche die Menschen bei künftigen Speiseopfern zu Gunsten der Götter verzichten sollten. Um die schwächlichen Menschen zu stärken, spielte Prometheus ihnen den Fleischanteil zu, – und zwar durch eine List. Er legte die Teile eines geschlachteten Opfertiers auf zwei Haufen. Hier das, was später als Anteil der Götter auf dem Altar verbrannt wurde: die fleischlosen Knochen, verborgen unter einer appetitlich wirkenden Fettschicht. Dort das Fleisch und die Eingeweide, also alles, was an dem Tier überhaupt essbar ist, zur Tarnung umwickelt mit der unappetitlichen Haut des Magens, die den Griechen als ungenießbar galt.288 Der essbare Anteil wurde in den Magen eingeschlossen wie der Hunger in die Menschen.289 Zwar durchschaute Zeus die List, wählte aber dennoch Fett und Knochen. Die List des Prometheus macht die Menschen zu Bäuchen bzw. zu Fleischsäcken, die ihre Kraft durch die Aufnahme von Nahrung erhalten müssen.290 Für die Beschränkung des Bauches gibt es bei den Griechen Regeln. Ein Beispiel gibt Euripides in seinem an Homer anlehnenden Text Der Zyklop (entstanden um 410 v. Chr.). Polyphemus, der Zyklop, kommt verschiedentlich auf die Bedürfnisse seines Bauches zu sprechen. Gewöhnlich ernähren sich Zyklopen von Milch, Käse und Fleisch von Schafen, Löwen und Hirschen, aber auch
287 | »Κρῆτες ἀεὶ ψεῦσται κακὰ θηρία γαστέρες ἀργαί.« Titus, 1,12; Diels, Kranz, I 3B1. Die digestiven Aspekte des Lügner-Paradoxons werden oft vernachlässigt, mitunter völlig unterschlagen. Der digestive Zusammenhang unterstreicht, dass Logik die Zusammenhänge von Wahrheit und Lüge nur bedingt klären kann. So kann die Aussage ›Ich bin satt‹ gleichzeitig wahr und falsch sein, etwa wenn sich Wahrnehmung und Überzeugung widersprechen: Eine Person kann sich für gesättigt halten, ohne sich gesättigt zu fühlen. Einerseits gehören Urteile über die innere Empfindung zum Grundbestand unserer Gewissheiten, andererseits führen sie uns irre. Dass sich die Gewissheit unserer gastralen Urteile nicht mit den Mitteln der Logik steigern lässt, spricht nicht gegen das grundlegende philosophische Interesse an ihrer Beurteilung, im Gegenteil: Die Bedürfnisse des organischen Körpers stehen in Zusammenhang mit unseren logischen Einsichten, vermutlich sogar in einem universellen Sinn, wenn wir Logik als ein Mittel zur Befriedigung von Hunger und Durst begreifen. 288 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 93. 289 | Vgl. ebd., S. 96. 290 | Vgl. ebd., S. 97.
Wurzeln
Fleisch von Menschen wird gerne genossen. Die schiff brüchige Gefolgschaft um Odysseus erscheint dem Zyklopen als willkommener Leckerbissen. Bevor es Odysseus gelingt, den Menschenfresser betrunken zu machen, zu blenden und sich durch Flucht das Leben zu retten, diskutiert er Speiseregeln. Bei Euripides erscheint der Zyklop als leidenschaftlicher Esser und Trinker, der das Wohl und Übel der Welt nach den Bedürfnissen seines Bauches beurteilt. Er will nur leben lassen, wen er nicht gut verdauen kann.291 Menschenfleisch ist verdaulich und der Zyklop kennt verschiedene Methoden der Zubereitung. Odysseus ermahnt den Zyklopen: Er solle lieber dem Gesetz der Gastfreundschaft folgen, kein Blut verschütten, kein schreckliches Fest anrichten, nicht der Lust seiner Kiefer folgen und keine Bestrafung für perverse Genusssucht durch Zeus riskieren.292 Doch wo der Bauch sein Recht verlangt, scheinen auch die besten Reden vergeblich.293 Jedenfalls pariert der Zyklop provokant: Zeus’ Zorn fürchte er nicht. Es sei ihm ganz unverständlich, worin dieser ihm selbst überlegen sein könne. Wenn die Götter Regen und Schnee senden, pflege er sich in einer Höhle zu verbergen, in Felle gewickelt, ein Feuer zu entzünden und seinen Bauch mit einer Flasche Milch zu erfreuen. Der Lärm, den er dabei mache, könne mit jedem Donner rivalisieren. Er lädt Odysseus ein, dem Gott in der Höhle zu huldigen, und meint damit sich selbst.294 Seine Speise opfere er seinem eigenen Bauch, der höchsten Gottheit überhaupt.295 Von Tag zu Tag zu essen und zu trinken: das sei die höchste Erfüllung für Leute mit Sinn. Warum solle er, der mächtige Polyphemos, darauf verzichten, sich selbst gut zu behandeln? Wozu solle er sich unnötige Mühen bereiten? Warum solle er Odysseus nicht verspeisen? Wer sich das Leben durch Gesetze erschweren wolle, solle sich besser aufhängen. Die Erklärung der Gottgleichheit des Bauches durch einen Menschenfresser erinnert an die Furcht der Hebräer vor dem Verdauungsschlauch des Nebukadnezar. Polyphemos huldigt seinem eigenen Bauch, seine Gesetzlosigkeit entspringt der Missachtung der Opfer-Traditionen, mit der er den höchsten Gott furchtlos herausfordert. Die Opfergabe an den Bauch wird hier zur Opfergabe an die eigene Person stilisiert. Der Bauch erscheint dabei als ein Ort monströser Gefahren für das Leben, nicht nur für schiff brüchige Helden: Wer seinen Bauch zum Gott erklärt, riskiert den Bruch mit elementaren Regeln des
291 | Vgl. Euripide, Le Cyclope, 220, S. 24. 292 | Vgl. ebd., 298-312, S. 27. 293 | Vgl. Heines Gedicht Die Wanderratten im Abschnitt zu Freud. 294 | Das Manifest des Zyklopen greift Plutarch, in einer Polemik gegen die Verwechslung zwischen sich selbst, seinem Magen und traditioneller Pietät auf. Vgl. Plutarch, Moralia, Bd. V, S. 483, Ders., De Defectu Oraculorum, 435b. 295 | Vgl. Euripide, Der Zyklop, 334-335.
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Zusammenlebens unter Menschen. Die Verdauung wird zur Gefahr, weil sie wahllos und ohne ethische Einsicht verarbeitet, was ihr zugeführt wird. Wenn Homer selbst den Bauch als Ort eines tierischen, wilden und hitzigen Verlangens betrachtet, so betrifft das nicht nur digestive, sondern auch sexuelle Aktivitäten. Das unterstreichen seine herabsetzenden Betrachtungen zu weiblichen Bäuchen. Odysseus lässt er Beschwerde über die weitreichende Macht des Bauches führen: Was kann denn »hündischer« sein als ein hungriger Bauch?296 Im Zusammenhang mit der Ermordung Agamemnons durch Klytaimnestra formuliert er eine analoge Beschwerde. Die richtet sich allerdings nicht gegen den hündischen Bauch, sondern gegen die hündische Frau.297 Negativ bewertete Bindungen zwischen sexuellen und digestiven Antrieben des Bauches wurden auch von Hesiod vorzugsweise auf Frauen projiziert. Zwar umfasste der weibliche Bauch in der griechischen Begrifflichkeit die Matrix als Ort des heranreifenden Lebens, aber bei Hesiod erscheinen Frauen dennoch als konsumierend, Männer als produzierend: Was männliche Mühen an Nahrung zusammenschaffen, diene zur Füllung weiblicher Bäuche.298 Die negative Bewertung weiblicher Bäuche charakterisiert auch die mythische Erklärung der Teilhabe der Menschen an schlechten Werken (›kakà érga‹), ausgelöst durch die Erscheinung einer Frau, Pandora, als Rache der Götter für den Opferbetrug des Prometheus.299 Mit dem Erscheinen der Pandora ging das goldene Zeitalter unwiderruflich verloren.300 Alles trägt seitdem immer schon seine Umkehrung in sich: der Tag die Nacht, das Leben den Tod, die Speise das Exkrement.301 Das Verlangen weiblicher Bäuche stellt Hesiod als ein von Zeus gesendetes, verzehrendes Feuer dar, als ein Gegenstück zu jenem Feuer, das Prometheus den Menschen zuspielte.302 Wie die Gabe des Fleisches zur Verdauung erscheint die Gabe der sexuellen Lust als zweischneidig, insbesondere in Hinblick auf den alimentären und sexuellen Appetit weiblicher Bäuche.303 296 | »γαστέρι κύντερον«, Homer, Od, 7,216. 297 | »κύντερον ἄλλο γυναικός«, Homer, Od, 11,427. Ebendiese Formulierung schrieb Clemens von Alexandria den Orphikern zu. Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 105. 298 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 96. Vgl. Hesiod, Werke und Tage, S. 374, 704. 299 | Vgl. ebd., S. 114. 300 | Vgl. Hesiod, Werke und Tage, S. 90ff. 301 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 116. 302 | Ebd., S. 104ff., vgl. Euripides, 1981, Bd. V, Fragment 429: »denn anstelle des Feuers entstanden wir Frauen als neues, größeres Feuer, das weitaus schwerer zu bekämpfen ist«. 303 | Vgl. Aristophanes, Lysistrata, 839 u. 844.
Wurzeln
Der törichte Epimetheus ging in die Falle der eben erst von den Göttern erschaffenen Pandora. Weil Epimetheus die Jungfrau nicht an die Götter zurückzusendete und das bösartig schöne Geschenk zur Braut nahm, müssen Menschen töten, koitieren und essen.304 Zwischen all den Übeln, die Pandora in ihrer mythischen ›Büchse‹305 in die Welt trug, stilisiert Hesiod das gierige Verlangen weiblicher Bäuche nach Füllung zu einem besonderen Problem. Frauen leben nicht mit Männern zusammen, um deren Not zu teilen, sondern um ihren Bauch mit fremdem Ertrag zu füllen. Sie erscheinen als Inkarnationen des fleischlichen Verlangens, stets bereit zu feiern und zu schlemmen.306 Wer einer Frau vertraut, der vertraut laut Hesiod einem Dieb.307 Eine Frau sei dem Fleißigen, was dem Faulenzer der Hunger ist.308 Drohnen seien für Bienen, was Frauen für Männer sind.309 Neben der Sorge um das Wohl ihrer eigenen Bäuche sieht Hesiod rechtschaffende Männer vor der Qual der Wahl: Entweder sie hinterlassen nach ihrem Tode keinen Erben oder sie erklären sich dazu bereit, trotz aller Sorge um ihren eigenen Hunger, den Bauch eines zum selbstständigen Leben ungeeigneten Geschöpfes zu befriedigen.310 Die Abwertung des Kontaktes zu Frauen zu einem zur Erlangung von Vaterschaft unvermeidbaren Übel ist hier aber nur eine Seite der Medaille, beinhaltet ein Übel doch Gutes, das es ohne das Übel gar nicht gäbe.311 Die Funktion der schrecklichen Falle der Pandora beruht auf Schönheit, in der sich Menschen freudig verlieren.312 Schönheit verknüpften die frühen Griechen aber eng mit dem Guten. So gesteht Hesiod den Männern denn auch zu, sich im Herzen darüber zu freuen, ihr eigenes Verderben liebend zu umarmen.313
304 | Vgl. Hesiod, Werke und Tage, 513. 305 | Die Büchse (›πίθος‹, ›pithos‹) war eigentlich ein großer, bauchiger Vorratskrug. Die Analogie zwischen Krug und Uterus liegt insofern nahe, als Pandora die Hoffnung unter den Lippen des Kruges dort zurückhielt, wo zuvor alle Übel wie in einem Haus oder einem Tempel gewohnt hatten (»μούνη δ᾽ αὐτόθι Ἐλπὶς ἐν ἀρρήκτοισι δόμοισιν ἔνδον ἔμιμνε πίθου ὑπὸ χείλεσιν, οὐδὲ θύραζε ἐξέπτη.« Hesiod, Works and Days, 96f.). 306 | »δειπνολόχης«, Hesiod, Werke und Tage, 585ff., 703f. 307 | Vgl. Hesiod, Werke und Tage, 375, vgl. auch 67 u. 78. 308 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 104. Vgl. Hesiod, Werke und Tage, 302f. 309 | Vgl. Hesiod, Werke und Tage, 590ff. 310 | Vgl. ebd., S. 111. 311 | Vgl. ebd., S. 119. 312 | Vgl. ebd., S. 114. 313 | Vgl. Hesiod, Werke und Tage, 58.
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Laut Hesiod sind Brot und Fleisch für die Ernährung, was geschlechtliche Vereinigung für den sexuellen Appetit ist.314 Wenn eingedenk der verlorenen Zustände des Goldenen Zeitalters sowohl der Zwang zur Fortpflanzung als auch der Zwang zur Selbsternährung qualvoll scheinen, so dürfen wir annehmen, dass neben dem Übel der Sexualität auch das Übel der Verdauung seine guten Seiten hat. Im griechischen Denken sichert die Fähigkeit zum geregelten Umgang mit Ernährung und Sexualität den Menschen ihre Position zwischen Tieren und Göttern. Sie konstituiert Riten, die Menschen den Kontakt mit den Göttern erlauben.315 Der Glaube an Ausstrahlungen göttlicher Liebe aus dem Verdauungstrakt war weit verbreitet. Sie war ein Aspekt des attischen Staatskultes, der sich aus der Vorstellungswelt des Ackerbaus heraus entwickelte, inspiriert von Fruchtbarkeitsriten und dem homerischen Demeter-Hymnus.316 Bezüge zwischen dem Bauch der Erde und dem Bauch der Göttinnen ergeben sich insbesondere aus der mythischen Entführung der Persephone in das unterirdische Reich des Hades.317 Der göttlichen Mutter schlug die Trennung von ihrer Tochter derart auf den Magen, dass sie jede Speise verweigerte. Erst die Bemühungen einer Dienerin namens Baubo bzw. Iambe318 verhalfen Demeter wieder zum Lachen und ließen ihren Appetit erneut erwachen. Der Zusammenhang zwischen Verzweiflung und Bauchtätigkeit sollte bei Erklärungen zum philosophischen Umgang mit sexuellen und digestiven Freuden beachtet werden.319 Auffäl-
314 | Vgl. Detienne u. Vernant, 1979, S. 114. 315 | Vgl. ebd., S. 115. 316 | Vgl. Klauck, 1982, S. 98; dazu Kloft, 1999, S. 19. — Eine grundlegende Bedeutung der Verdauung für Bezüge zwischen Menschen und Göttern ist auch im Zoroastrismus erkennbar, dem ein aus der ›Haoma-Pflanze‹ bereitetes Rauschgetränk als Garant für Leben, Unsterblichkeit und göttliche Macht galt. Vgl. Klauck, 1982, S. 138f. Die Pflanze selbst soll an Zarathustra herangetreten sein: »[K]eltere mich, dass man (mich) trinke, preise mich, so wie mich die künftigen Heilande preisen werden.« Yasna, 9:2. Wer Haoma lobte wie einen jungen Sohn, dem soll es sich zur Heilung des Leibes bereitgestellt haben. Yasna, 10:8. 317 | Vgl. Evelyn-White, 1914; Bachofen, 1948, S. 354ff., Kerényi, 2006, 117ff., Göttner-Abendroth, 1980, S. 48ff. 318 | Der Name der Dienerin wird nicht einheitlich überliefert. Vgl. Homer, Hymne an Demeter, 200-05; Olender, 1985. 319 | Insbesondere der Fall Kant scheint hier aufschlussreich. Auch bei Montaigne, Nietzsche, Freud und Wittgenstein finden sich Hinweise darauf, dass Widersprüche zwischen Lehre und Leben die Fähigkeit zum frohen Umgang mit dem Bauch erschweren können.
Wurzeln
lig ist hier die Verschränkung von sexuellen und digestiven Motiven.320 Laut Clemens von Alexandria soll Baubo zur Belustigung der betrübten Göttin ihr Kleid gelüftet haben, um »die ganze Bildung des Leibs« zu entblößen.321 Was es da zu sehen gab, verschleiern Nebel der Spekulation. Streng ›gesittet‹ dürfte es nicht zugegangen sein.322 Gängige Interpretationen der Geste stellen sexuelle Aspekte in den Vordergrund.323 Aber die Schaustellung muss sich nicht auf Sexualorgane beschränkt haben. Die polemisch gefärbte Wortwahl durch Clemens lässt Raum für Interpretationen.324 Was brachte Demeter zum Lachen? Baubos Brüste? Ein ›babyhautglatt‹ rasierter Schamhügel? Ein auf ihren Bauch gemaltes Bild, des Iaachos, des Dionysos? Ein fürchterliches Medusenhaupt? Die Öffnungen des Unterleibs? Klitorale, vaginale oder anale Masturbation? Die Kulte der Fruchtbarkeit um Demeter legen die Annahme von Bezügen zwischen den Höhlen der Unterwelt und den lebensspendenden Höhlen des menschlichen Körpers nahe. Da den Griechen nicht nur Sex, sondern auch Verdauung als lebenswichtig und als peinlich erschien – wir sahen das etwa bei Hesiod –, könnte Baubo eine umfassende Demonstration ihrer Ansichten zur Lebenslust geliefert haben. Der Mythos unterstreicht die Bedeutung der Verdauung recht eindeutig: Baubos Obszönitäten stimulieren die Verdauungslust der betrübten Demeter. Deren Appetit kehrte mit dem Lachen zurück, sie
320 | Empedokles soll ›Baubo‹ mit Abdomen oder Körperhöhlung (›κοιλία‹) gleichgesetzt haben. Hesychios von Alexandria, nach Kern, 1897, S. 150. Bei Herodas erscheint ›βαυβών‹ als Kodewort für ›ὄλισβος‹, also einen aus Leder nachgeformten Penis. Vgl. Stern, 1979; Johns, 1982; Skinner, 2001. Sicherlich kann ein aus Leder nachgeformter Penis nicht nur in eine Vagina, sondern auch in andere Körperöffnungen eingeführt werden. 321 | »ὣς εἰποῦσα πέπλους ἀνεσύρατο, δεῖξε δὲ πάντα/σώματος οὐδὲ πρέποντα τύπον παῖς δ’ἦεν ῎Ιακχος/χειρί τέ μιν ῥίπτασκε γελῶν Βαυβοῦς ὑπὸ κόλποις.« Clemens, Protrepticus, 2:21,2. 322 | Vgl. Olender, 1985, S. 15. 323 | Ein Beispiel gibt Devereux, 1983. 324 | Clemens schreibt in seiner Mahnrede an die Heiden (Protreptikus) von ›Körperform‹ (»σώματος τύπος«.) Wenn er das Kind Iakchos Baubos ›Höhlung‹, (»κόλπος«) berühren lässt, so ist nicht von vornherein klar, ob dabei ihr Busen oder eine Körperöffnung gemeint ist. Auch Clemens’ Überlieferung des Kennspruchs der Mysterien bietet Raum für sexuelle und digestive Motive: »Ich fastete, ich trank den Mischtrank, ich nahm aus der Kiste, ich tat etwas und legte dann in den Korb und aus dem Korb in die Kiste.« Ebd. Laut Arnobius bezieht sich Vorgänge auf den Körperteil, durch den Frauen Kinder gebären und zu Müttern werden, aber er schreibt auch von »allen schamhaften Körperteilen« (»omnia illa pudoris loca«), Arnobius, adversus, 5.25.6. Vgl. Olender, 1985, S. 15, auch Kaufman, 1988, S. 196ff.
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erbat sich Kykeon.325 Das Kultgetränk brachte die göttliche Verdauung wieder in Schwung und Demeter wendete sie sich erneut dem Leben zu. Mit dem Genuss des Kykeons verbanden die Anhänger der griechischen Mysterienkulte die sichtbare Hoffnung und das handfeste Versprechen auf Ernte, aber auch geistige und physische Freude vor und nach dem Tod durch direkte Gemeinschaft mit der Muttergöttin.326 Kykeon soll symbolisch, heilsam und sättigend gewirkt haben.327 Die Bedeutung digestiver Momente scheint offensichtlich.328 Zur Entfaltung der medizinischen, magischen und erfrischen-
325 | Kykeon (›κυκεών‹) war das Kultgetränk der eleusinischen Mysterien. Es wurde aus Getreidegrütze, Flüssigkeit, Kräutern und variierenden Zutaten gemischt. Seine Ursprünge liegen in der Zeit vor der Entwicklung des Backens und feiner Mahltechniken. Krech, 2007, S. 99; Theophrast, IV,1, S. 49. Nach dem Genuss des Kykeon soll sich Demeter dem digestiven Wohl eines Prinzen gewidmet haben, tagsüber stillte sie ihn mit Ambrosia, nachts steckte sie ihn in ein Feuer. Als die leibliche Mutter Metaneira darüber erschrak, hinderte Demeter das Korn am Wachsen. Die anderen Götter befürchteten das Ausbleiben von Opfergaben und gestatteten Persephone die Rückkehr zu Demeter. Allerdings blieb Persephone für ein Drittel des Jahres an die Unterwelt gebunden. Seitdem gedeiht das Korn nur noch im Sommer. Auferstehung und Fruchtbarkeit erinnern an Motive bei Adonis, Attis, Osiris und Dionysos. Das mythische Zusammenspiel zwischen sexuellen und digestiven Motiven bei Geburt, Tod und Wiedergeburt wird später in christliche Motiven überführt. Vgl. Burkert, 1977, 309ff.; Frazer, Bd. II., 1957, S. 558. 326 | Vgl. Jevons, 1902, S. 365f. Rosen, 1987, S. 423. 327 | Der Dichter Hipponax erbat Kykeon als Heilmittel gegen Hunger. Vgl. Hipponax, Fr. 48, Degani, 1983. Hermes empfahl Kykeon als Mittel gegen Magenverstimmungen nach längerem Fasten. Aristophanes, Peace, 712, vgl. 1169. Heraklit zelebrierte die Zubereitung von Kykeon als Lehre zu Bescheidenheit und nonverbaler Verständigung. Vgl. Plutarch, De garrulitate, 17 (511B), S. 447. Bei Homer verwandelt es die Gefährten des Odysseus in Schweine. Vgl. Od. 10,234-6. Laut Rosen dürfte Kykeon Nahrung, Medizin und (psychotropes) Rauschmittel zugleich gewesen sein. Vgl. Rosen, 1987, S. 425f.Die mit ihm verbundenen Glücksversprechen seien auf Körper und Geist zu beziehen. Vgl. ebd. S. 423. 328 | Das Interesse der Athener für Bezüge zwischen Sexualität und Verdauung unterstreicht Aristophanes in der Komödie Die Acharner: Ein Vater, der seine Töchter als Ferkel verkaufen will, rät den Mädchen, weniger auf ihren Geist (›νόος‹, ›nóos‹) zu horchen als auf die hungrige und kriegslüsterne innere Stimme ihres Bauches (›γαστήρ‹, ›gastēr‹). Zweideutigkeiten zwischen Ernährung und Geschlecht durchziehen die ganze Szene, wobei die Mädchen als leere Gefäße vorgestellt werden, die auf zweierlei Weise gefüllt und konsumiert werden können. Vgl. O’Higgins, 2003, S. 173. Wir dürfen hoffen, dass Baubo Demeters Verdauung mit besseren Scherzen anregte.
Wurzeln
den Wirkungen329 musste das Getränk nicht nur glühend verehrt und getrunken, sondern auch verdaut werden. Mit Nietzsche dürfen wir uns fragen, ob der griechische Name für Wahrheit nicht eigentlich Baubo lauten sollte und ob die Wahrheit ein Weib ist, mit Gründen, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.330 Der griechische Begriff der Wahrheit (›ἀλήθεια‹, ›alētheia‹, das Unverhüllte, Unverborgene, Unverdeckte) lässt sich auf ›nackte‹ Tatsachen beziehen, die wir unverschleiert kaum zu ertragen vermögen, weil sie Geburts- und Todeswissen umfassen.331 Das spricht für eine grundlegende Bedeutung des schamvollen Umgangs mit Verdauung für Schwierigkeiten bei der Annährung an ›Wahrheit‹. In Nietzsches Lob der griechischen Achtsamkeit für Oberflächen, Falten und Haut gehen sexuelle und digestive Motive miteinander einher. Die Offenlegung ›versteckter‹ Aspekte weiblicher Sexualorgane, die dem öffentlichen Blick ›normalerweise‹ verborgen bleiben,332 ist schon aufgrund physiologischer Gegebenheiten nicht unbedingt von der Schaustellung digestiver Organe trennbar. Die Verbindungen zwischen sexueller Symbolik und der Hoffnung auf reiche Ernte erhielten eine digestive Pointe, wenn während der Thesmophorien Gebäck in Form der Genitalien beider Geschlechter verzehrt wurde.333 Als Personifizierung der Wachstumskraft des Getreides soll Demeter die kultischen Riten an ihrer eigenen Person durchlebt haben.334 Das mag uns als »magisch-
329 | Vgl. Rosen, 1987, S. 425f. 330 | Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft: Vorrede, 1887. 331 | Vgl. Schulte, 2000, S. 2. Fortpflanzung ist nicht die einzige ›nackte‹ Wahrheit des Lebens! Nietzsches Zweifel an der Liebe zu einem Weibe zugunsten eines »neuen Glücks« betrifft sicherlich auch die Freuden und Leiden der Verdauungsorgane, nicht nur in Hinblick auf das homosexuell orientierte ›Zeugen im Schönen‹ bei Platon. Nietzsches Überzeugung, das Philosophen »keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir- Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden« sind, untergräbt Umgangsformen mit Wahrheit, denen die Freuden und Leiden des Bauches fremd geworden sind, nicht nur in sexueller Hinsicht. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede, 1887. 332 | Vgl. O’Higgins, 2001, S. 52, 141 333 | Vgl. Olender, 1985, S. 35. Frazer formuliert seine Annahmen zum sakramentalen Verzehr von Gottheiten insbesondere in Hinblick auf den Demeter-Kult. Vgl. Frazer, 1957, S. 629ff., 648ff.; Nullens, 1957, 2.2.3. 334 | Vgl. Frazer, 1957, S. 520. Bei solcher Vermengung von sexuellen und digestiven Motiven geht Liebe buchstäblich durch den Magen. Das gilt auch für das zum Abschluss der Eleusischen Mysterien vergossene Trankopfer, Speisung und Fruchtbarkeit verbinden sich mit Rufen an Himmel und Erde: ›ὕω κύε‹ (›Hye-kye‹, ›Regen-empfange‹). Vgl. Cook, 1925, Bd. II, S. 299; Anton, 1899, S. 65.
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animistischer Vegetationszauber« erscheinen,335 dessen symbolische Form allerdings Zugänge zur Welt öffnen kann, die dem rationalen Denken ansonsten fremd blieben.336 Die von Diels nach Baubo benannten Skulpturen aus der Opfergrube neben dem Tempel von Demeter und Kore in Priene (4. bis 2. Jh. v.u.Z.) unterstreichen diesen Befund.337 Die Skulpturen liefern uns einprägsame Bilder von Bezügen zwischen Kopf, Bauch und Genitalien, jenseits formeller Konventionen.338 Die Gestalt der Baubo erscheint dabei als mutige und außerordentliche Verkörperung sexueller und digestiver Kräfte, die in der Philosophie gerade in Hinblick auf den philosophischen Umgang mit weiblichem Selbstverständnis allzu oft peinlich übergangen werden. Die Annäherung des Mundes an die Vulva weist auf Bezüge und Wechselwirkungen hin, die dem gewöhnlichen Blick leicht entgehen: Der ›Kurzschluss‹ zwischen den oberen, horizontalen und den unteren, vertikalen Lippen lässt keinen anatomischen Raum für die Organe der Atmung.339 In der Antike wurde der Wunsch nach einem Tod durch Erstickung vornehmlich Frauen unterstellt, die sich von erstickendem Blut in der Matrix befreien wollten.340 Da nicht nur ›Verstopfungen‹ im Uterus, sondern auch diejenigen in den Verdauungsorganen als Ursache solcher Krankheiten angesehen wurden, sollte die Annäherung zwischen Mund und Vulva auch im Falle der Skulpturen nicht auf rein sexuelle Motive reduziert werden. Für Vermengungen zwischen sexuellen und digestiven Motiven in den Fruchtbarkeitskulten spricht auch die rätselhafte Überlieferung des Kennspruchs der Mysterien, die durch Clemens vorliegen: »Ich fastete, ich trank
335 | Klauck, 1982, S. 35. 336 | Vgl. die Ausführungen zum Mythos bei Cassirer, 1996. 337 | Die Skulpturen tragen ihr Gesicht auf dem Unterleib. Unter dem Kinn, beim Übergang des Bauches zu den Beinen, sind Vulven angedeutet. Die Arme entspringen in Höhe der Ohren. Die Köpfe ziert volles Haar, große Knoten halten es zusammen. Die Skulpturen befinden sich im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin, Stiftung preußischer Kulturbesitz. 338 | Vgl. Olender, 1985, S. 54. Allerdings bestehen in Hinblick auf die Plastiken wissenschaftliche Unklarheiten, etwa dahingehend, ob sie überhaupt ›Baubo‹ zeigen. Vgl. Marcovich, 1988, S. 26f., Reinach, 1996, S. 151, Nilsson, 1992, Bd. 1, S. 657ff. 339 | Vgl. Olender, 1985, S. 53f. 340 | Die medizinische Betrachtung des weiblichen Körpers stützte sich dabei auf die verbreitete Annahme eines Kanals zwischen unterem und oberen Mund, der auch den Hals zwischen Kopf und Schultern und den Hals der Matrix miteinander verbinde. Gemeinhin galt der Erstickungstod als schändlich; insofern die Atmung das Innere mit dem Äußeren verband, wurde der Tod durch Ersticken als ewige Einsperrung verstanden. Vgl. Loraux, 1984, S. 216f u. 205.
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den Mischtrank, ich nahm aus der Kiste, ich tat etwas und legte dann in den Korb und aus dem Korb in die Kiste.«341 Laut Diedrich legt die euphemistisch verschweigende Redewendung des mystischen Spruchs (insbesondere in Hinblick auf ›εργασαμενος‹) den Bezug auf ein ›pudentum‹ nahe.342 Clemens habe Belege für die ganz besondere Schamlosigkeit der Mysterien beibringen wollen, in diesem Sinne habe er ja auch die obzöne Geschichte von Baubo angeführt. Diedrich vermutet nun, dass ein Phallus aus der Kiste genommen wurde, um in den Korb gelegt zu werden – und dann aus dem Korb wieder in die Kiste. Der Vorgang dürfte nach seiner Vermutung in etwa dem entsprochen haben, was mit der Schlange geschah, die den einzuweihenden Mysten rituell durch den Schoß gezogen wurde, um eine geschlechtliche Vereinigung mit der Gottheit zu symbolisieren, vor der alle Menschen weiblich erschienen.343 Aber was die kultische »Kiste« der Mysten auch tatsächlich enthalten haben mag,344 dürfte sich symbolisch auf intime Aspekte der Fruchtbarkeit bezogen haben. Wenn die Kulthandlungen Aspekte der Fruchtbarkeit beinhalten, die Clemens als peinlich erscheinen, so sind Referenzen an die Verdauung nicht ausgeschlossen. Wenn wir den Zusammenhang zwischen Korb, Kiste und Körper nicht auf sexuelle Momente reduzieren wollen, drängen sich Gedanken an die Aufnahme und Abgabe von Nahrung geradezu auf. Ähnliches gilt für die von Clemens aus dem Attis-Kult überlieferte Initiationsformel ›Ich habe aus der Trommel gegessen; ich habe aus dem Zymbal getrunken; ich habe den Kernos getragen; ich habe die innere Kammer betreten‹. Zumindest das Interesse an der Aufnahme von Nahrung wird hier recht eindeutig nahegelegt.345 Allerdings erscheinen Speise und Trank hier als ge-
341 | Clemens, Protreptikòs, 2:21,2: »ενηστωσα· επιον τον κυκεωνα· ελαβον εκ κιστης, εργασαμενος απεϑεμην εις καλαϑον, και εκ καλαϑου εις κιστην.« Auch kultische Handlungen in Ugarit setzen Speise, Trank, Erde und Gottheit in Bezug: »Serves Puis[sant] Baal, Ministers to the Prince, Lord of Earth. He rises, …, and gives him to eat. He cuts the fat meat before him, With bounteous knife fatling’s tender’s tenderness. He stands, serves liquor, and gives him drink. He places a cup in his hand, A flagon in the gasp of his hand; A vessel large and conspicuous. A jar to dumbfound a mortal; A holy cup of woman ne’er seen, Only Asherbah behold such a flagon.« Pritchard, 1955, 135f. 342 | Vgl. Dietrich, 1910, S. 125f. 343 | Vgl. ebd. S. 124. 344 | Erwogen wurden insbesondere Schlange, Ei, Phallus und geheiligte Samen. Apuleius, zitiert nach Taylor, 1891, S. 65. 345 | Ein Zusammenhang mit der eleusinischen Kultformel wird angenommen. Klauck, 1982, 121.
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heiligt und in besonderer Beziehung zur Göttin.346 Trommel und Becken sollen die Lieblingsinstrumente der Muttergottheit gewesen sein, so kann es fast natürlich scheinen, wenn sie im Kult zu Speisegegenständen werden. Etwas verzwickter ist es mit der »inneren Kammer«, die verschiedentlich als Tempel oder als Brautgemach aufgefasst wurde, im Sinne des Ortes einer »heiligen Hochzeit«.347 Diese Interpretation scheint insofern naheliegend, als das Wort ›παστόν‹ in griechischer Kirchensprache ja geradezu stereotypisch eben genau den Ort bezeichnet, an dem sich die Gottheit mit den Menschen vermählt.348 Eingedenk der in den hellenistischen Kulten verbreiteten Tendenz, die Gottheit in den eigenen Leib aufnehmen zu wollen, ist auch hier nach der Rolle der Bauchorgane zu fragen, durch die Speise und Trank vor dem Betreten der inneren Kammer in den Körper gelangt sein dürften. Vielleicht trug der Gläubige die Gottheit vor dem Eintritt in das Heiligtum schon in seinem Bauch? Mutmaßung hin, Mutmaßung her: Wir brauchen nicht anzunehmen, dass Mysten Kotstangen aus Körben in Kisten legten oder dass Gottheiten ihre Hochzeit in Körperhöhlen feierten, um der Verdauung hilfreiche Beiträge zu der im Kult beschworenen Fruchtbarkeit zuzusprechen. So bemerkt Klauck zum AttisKult: Die Nahrungsverarbeitung erscheint hier als Durchgangsphase auf dem Weg zur höchsten Weihestufe.349 Firmicus Matemus dürfte die Speise der Mysterien nicht von ungefähr einen ›verpesteten Giftschleim‹ genannt haben, der zu Strafe und Tod führe.350 Wer so etwas einverleibe, bringe den Wohnsitz der Seele in Unordnung. Zum Heil, zum Leben und zur Sättigung des menschlichen Wesens empfiehlt er ›Christi Brot und Kelch‹. Die Weise, in der Firmicus die todbringende Speise der Mysten mit der lebensspendenden Speise der Christen kontrastiert, spricht allerdings dafür, dass Verdauungsschläuche bei der Entwicklung kultischer Freuden nicht erst mit dem Gebrauch von Brot und Wein in christlichen Kulthandlungen zur Mode wurden. Die zentrale Bedeutung des Bauches in den Mythen der frühen griechischen Kultur unterstreichen Motive aus der orphischen Weltentstehungslehre. Als oberster der olympischen Götter soll Zeus die Substanz aller Wesen ehemals in seinem hohlen Bauch umschlossen haben (›enì gastéri koílēi‹).351 Wie es dazu kam, lässt sich aus den Überlieferungen nicht eindeutig bestimmen.
346 | Vgl. Nilsson, 1992, Bd. II, S. 648. 347 | Ebd.; auch Dietrich, 1910, S. 123. 348 | Vgl. ebd., S. 126. 349 | Vgl. Klauck, 1982, S. 121. 350 | Vgl. Firmicus, De errore profanarum religionum (de errore prof. rel.), S. 18. 351 | Vgl. Kern, 1963, 167a u. 168,31-32.; auch Detienne u. Vernant, 1979. S. 83N2.
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Zunächst könnte eine kreative Urgottheit ein Welt-Ei hervorgebracht,352 Zeus überwältigt und mitsamt des Eies verschlungen haben. Dazu soll die in früheren Texten mit dem Chaos verbundene Vorstellung eines verschlingenden oder gähnenden Schlundes auf ihn übertragen worden sein.353 Zeus trug nunmehr die Totalität des Universums in seinem Bauch. Indem Zeus die Kraft und Macht der Urgottheit verdaute, befähigte er sich zur Schöpfung eines neuen Universums, Göttinnen und Götter inklusive. Das in seinem Bauch verborgene Universum soll er ans Licht gebracht haben, indem er es aus seinem Herzen hervorholte (›apo kradíēs‹). Auch im Dionysos-Kult spielt Verdauung eine tragende Rolle. Dem Mythos zufolge wurde Dionysos von den Titanen getäuscht und zerrissen, nachdem Zeus ihn zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Verschiedene Versionen des Mythos existieren. Entweder wurde Dionysos in der Folge gekocht, gebraten oder einfach roh verspeist.354 Zeus vernichtete die Titanen daraufhin mit einem Blitz, der verbleibende Rauch wurde zu dem Stoff, aus dem die Menschen geschaffen wurden. Wenn neben dem Titanisch-Bösen auch das Dionysisch-Göttliche in uns wirken kann, so muss es den Tod der Gottheit – mehr oder weniger gut verdaut – im Bauch der Titanen überstanden haben. Die mythische Theophagie nimmt der Dionysus-Kult auf, indem er die Grenzen zwischen Gott und Opfergabe verschwimmen lässt.355 Die Verehrer sollen die Gottheit ihrem eigenen Bauch in Form von blutigem Fleisch übereignet haben. Angeblich sollen im Zuge der Entwicklung des Kultes auch Menschen zerrissen und verspeist worden sein.356 Als gesichert gilt, dass kleine Fleischstücke an die Gläubigen verteilt wurden, als Ersatzhandlung für den blutigen Zerreißungsakt.357 Laut Dietrich kennzeichnet die Vereinigung zwischen Mensch und Gottheit das höchste Ziel aller Mysterien. Eine ineinandergreifende Reihe von Bildern zur körperlichen Aufnahme, zum Essen des Göttlichen, zur Liebesvereinigung, zur Gotteskindschaft und zur Wiedergeburt umfasse die Formen,
352 | Die Vorstellung eines Welteies auf den Urwassern ist ein wiederkehrendes Motiv in ägyptischen Kosmogonien. Vgl. Woschitz, 2005, S. 197. In der orphischen Theogonie variiert der Name des ursprünglichen Schöpfers des Eies zwischen Métis und Pháne¯s, vgl. Müller, 1841, S. 426. In späteren Überlieferungen wird Kronos als Schöpfer des Eies genannt, nicht aber Zeus. Vgl. Cook, 1925, S. 1051. 353 | Vgl. Cook, 1925, S. 1051. 354 | Vgl. Klauck, 1982, S. 116. 355 | Vgl. ebd., S. 111. 356 | Vgl. ebd., S. 110, FN 124. 357 | Vgl. ebd., S. 112.
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in denen sich das religiöse Denken des niederen Volkes und der erhabensten Mystik bewege.358 Verstehen wir den Leib als einen Tempel, kann der Umgang des Gläubigen mit seiner Speise das Innere des Bauches zum Heiligtum machen. Diese einfache Einsicht ist für das Verständnis des Geistes des Bauches insofern nützlich, als der Umgang mit dem ›Heiligtum‹ Zugang in einen privilegierten Bereich menschlicher Aufmerksamkeit bietet, die unser Selbstverständnis wesentlich prägt.
P einliche Pannen bei P y thagor as Den Erklärungen, die Pythagoras von Samos (* um 570 v. Chr. auf Samos; † nach 510 v. Chr. in Metapont in der Basilicata) zu Seelenwanderung und Verdauung gegeben haben soll, ist zumindest eines gemeinsam: Sie liegen verborgen hinter einer widerspruchsvollen Überlieferungsgeschichte.359 Wortwörtliche, ritualistische und rationale Auslegungen seiner Lehren stoßen oftmals unvermittelt aufeinander. Durch metaphorische Auslegung wurde der ursprüngliche Bestand der Lehren verändert und ergänzt. Anleihen aus verschiedenen Kulturkreisen, ernsthafte Mahnungen, parodistische Nachahmungen, primitive Magie und Ansätze zu wissenschaftlichem Denken bilden ein buntes Gemenge360 – die Überlieferungen der pythagoreischen Gebote zum angemessenen Umgang mit Bohnen bilden hier nur die Spitze des Eisbergs. Zur Entwicklung einer Philosophie der Verdauung trägt die Beschäftigung mit Pythagoras Wichtiges bei.361 Auch an der pythagoreischen Achtsamkeit 358 | Vgl. Dietrich, 1910, S. 209. 359 | Allgemein wird angenommen, Pythagoras sei, ähnlich wie später Empedokles, als charismatischer Wundertäter, als Thaumaturg, aufgetreten. Er habe eine Reihe moralischer Gebote zur rituellen Regelung des Lebens ersonnen, darunter ein seine Lehren betreffendes Schweigegebot, was die Bildung von Legenden und literarischen Erfindungen begünstigte. Was die Pythagoreer der zweiten und dritten Generation lehrten, kann ebenfalls nur mit großen Vorbehalten angegeben werden. Die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung steigt mit der Spaltung zwischen verschiedenen Schulen. 360 | Vgl. Fritz, 1963, S. 194f. 361 | Die philosophische Bedeutung von Pythagoras scheint kaum bestreitbar. Angeblich wurde das griechische Wort für Philosoph gar nicht verwendet, bevor Pythagoras den Weisheitsliebenden (»φιλόσοφος«, »philó-sophus«) vom Weisen (»σοφός«, »sophus«) unterschieden haben soll. Vgl. Cicero, Tusculanae Disputationes (Tusc. Disp.), Buch V:3[8], auch Diogenes Laertios, Leben und Lehren berühmter Philosophen (Philosophen), VIII:1,8. Die Verlässlichkeit der antiken Zuschreibungen ist allerdings zweifelhaft, vgl. Burkert, 1960. Die Goldenen Verse belegen das Interesse
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gegenüber Fragen der Verdauung bestehen kaum Zweifel, warnen die überlieferten Lehrsprüche doch davor, unser Gesäß nicht mit einer Fackel abzuwischen und nicht in Sonnenrichtung oder auf abgeschnittene Nägel und Haare zu urinieren.362 Sicher bleibt hier manches obskur, aber die Debatten um die pythagoreischen Lehren helfen uns dennoch, Zusammenhänge zwischen der Pflege der Verdauung in Ägypten und in Griechenland zu begreifen. Wir dürfen annehmen, dass Reinheit für Pythagoras eine Voraussetzung philosophischer Tätigkeit war. Dazu brauchte es ›askesis‹, also Übung und Training. Die Beachtung von Speiseregeln spielte dabei eine wichtige Rolle. Fraglich ist allerdings, inwieweit die Speiseregeln mystisch, hygienisch, diätisch oder digestiv motiviert waren. Einen Vorschlag zur digestiven Motivation liefert Iamblichos: Die Ernährung sollte körperliche Ausgeglichenheit fördern, um die tugendhafte Seelenverfassung zu stärken. Speisen, die Gase erzeugen oder Unruhe im Köper schaffen, habe Pythagoras deshalb verworfen, stopfende Speisen dagegen empfohlen.363 Allerdings gilt Iamblichos als unkritischer und wenig verlässlicher Biograph. Inwiefern entspricht seine Erklärung dem gegenwärtigen Stand der Forschung? Für den pythagoreischen Abscheu vor Fleischnahrung und blutigen Opfern sprechen die Erklärungen zur Seelenwanderung bei Empedokles. Weil alle Lebewesen Seelen hätten, die früher oder später in Menschengestalt inkarniert werden könnten, führe Fleischgenuss zu Kannibalismus.364 Jedenfalls wird Pythagoras bis heute in enge Verbindung mit vegetarischer Lebensweise gebracht. In Ovids poetischer Spekulation über die Gründe für das Fleischverbot läutet die Versenkung leiblicher Speise in den gierigen Bauch eines Unheilstifters das Ende des goldenen Zeitalters ein. Die karnivore Lebensweise sei ein verfehltes Zugeständnis an die Gier des gefräßigen Bauches.365 Den ursprünglichen Gehalt der pythagoreischen Lehre erfasst das wohl kaum. Als Grund für die Gebote zur Fleischnahrung wird insbesondere eine der pythagoreischen Schule an der Verdauung: Vor allem über den Bauch, den Schlaf, die Geilheit und den Zorn sollen wir Herrschaft erlangen. 9ff. 362 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen: Pythagoras, Lehrsprüche, 17. 363 | Vgl. Iamblichus, The Life Of Pythagoras, XXIV. 364 | Vgl. Fritz, 1963, S. 195. 365 | Die Verbindung zwischen pythagoreischen Lehren zur Seelenwanderung und den Freuden des Bauches fasst Ovid in wohlklingende Worte: »Weißt du nimmer die Gier des gefräßigen Bauches zu stillen, / Der zum Schlimmen gewöhnt, als wenn du vernichtest den Andern?« / Aber dasselbe doch ist; so bleibt auch, lehr’ ich, die Seele / Immer sich gleich und begibt sich nur in verschiedene Formen. / Drum, dass achtende Scheu nicht weiche den Lüsten des Bauches, / Hört mein göttliches Wort: Lasst ab, zu verdrängen verwandte / Seelen mit schändlichem Mord, und Blut nicht nähret mit Blute.« Ovid, Metamorphosen, 15. Buch.
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Oppositionshaltung gegen die Inszenierung einer heteronormen Sozialordnung durch die Fleischverteilung bei staatlichen Opferfesten angenommen.366 Der Verzicht auf den Fleischanteil, die Moira, wäre dann als Aspekt einer Strategie zur Verringerung elementarer Abhängigkeiten von der sozialen Umwelt zu verstehen, in der durch Asketismus die zur inneren Erfüllung notwendigen Güter verringert werden. Wer das Maß der Füllung seines Körpers selbst bestimmt, lernt seinen Hunger zu beherrschen. Für die Erklärung der Speiseregeln im Rahmen einer Strategie zur Mäßigung und nicht einer Seelenwanderungslehre spricht auch die Widersprüchlichkeit der Darstellung bei Empedokles, dem zufolge auch pflanzliche Lebensformen wie Lorbeerblätter in den Kreislauf der Seelenwanderung einzubeziehen wären. Auch Diogenes Laertios hielt die Berufung auf die Seelenverwandtschaft zwischen Mensch und Tier für einen Vorwand zum genügsamen Lebensunterhalt. Ziel sei eine Lebensweise gewesen, bei der die Beschaffung der Lebensmittel keine Sorgen bereite. Ungekochte Nahrung und Wasser hätten dem Körper zur Gesundheit und der Seele zur Schärfe verhelfen sollen. Im Rahmen einer mäßigenden Verdauungspflege sind auch die pythagoreischen Plädoyers für leicht verdauliche Nahrungsmittel erklärbar, da sie Zeitgewinn für philosophische Aktivitäten schaffen, nicht nur durch verkürzte Bemühungen um die Beschaffung der Lebensmittel, sondern auch durch vereinfachte Aufnahme, Verdauung und Abgabe. Das gilt auch für die Abneigung gegen Trunkenheit, Übersättigung und große Körperfülle. Wenn andere ihre Energie und Zeit mit Gelagen, Sex, Rausch, Krankheit und ausgedehnten Toilettensitzungen verschwendeten, konnten Pythagoras und seine Anhänger philosophieren. Die aktuelle Debatte um Slow und Fast Food legt nahe, dass die Verdauung schnelles Essen nicht immer leicht verkraftet und dass ein kurz gegrillter Hamburger im Darm eher zu Tempolimits und Stauentwicklung führt als zum Beispiel gut gekaute Rohkost. Für die ›richtige‹ Nahrungsaufnahme ist die Wirkung der Nahrung auf die Verdauung von entscheidender Bedeutung. Für die Lehren vom Zusammenhang zwischen Seele und Körper ist Verdauung insofern bedeutsam, als die Assimilation bestimmter Stoffe unsere geistigen Aktivitäten unmittelbar beeinflusst. Ein Beispiel gibt der Genuss alkoholhaltiger Getränke, von deren Wirkung Pythagoras nicht viel hielt. Zwar muss eine hart arbeitende Verdauung nicht unsere gesamte Denkfähigkeit behindern, aber eine überforderte Verdauung ist erst recht kein Garant für philosophischen Fortschritt. Für eine pragmatische Konzeption zur digestiven Mäßigung sprechen Zweifel an einer konsequenten Anwendbarkeit der Seelenwanderungslehre
366 | Vgl. Baudy, 1981, S. 23.
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auf die ursprünglichen Diätregeln der Pythagoreer.367 Möglicherweise sind die Speiseregeln ein Aspekt umfassender Bemühungen zur Beruhigung von Körper, Seele, Bauch, Gesellschaft und sozialem Umfeld. Bei Porphyrios finden wir dafür folgendes Indiz: Wir sollen den Körper vor Krankheit bewahren, die Seele vor Ignoranz, den Bauch vor Luxus, die Stadt vor Aufruhr, die Familie vor Dissonanzen und alle Dinge vor Unmaß.368 Die Pflege des Körpers und der Seele sollen dabei einem umfassenden Prinzip folgen: Durch passende Diät wird der Körper in einem gleichmäßigen Zustand gehalten: Er ist nicht bald gesund und bald krank oder bald dick und bald dünn. Für die Seele wird ein ähnlicher Zustand angestrebt: Sie soll weder durch Freude beschwingt, noch durch Trauer entmutigt werden. Damit wäre zumindest erklärt, warum Pythagoras weder gejubelt noch gejammert haben soll.369 Viel Diskussionsstoff liefert Pythagoras’ Umgang mit Ackerbohnen (›Vicia faba‹/›Faba vulgari‹).370 Laut Luciano de Crescenzo durften Bohnen in seiner Gegenwart nicht einmal beim Namen genannt werden.371 Da widerspricht wiederum Aristoxentos: Pythagoras habe Bohnen und Gemüse wegen ihrer anregenden Wirkung auf die Darmtätigkeit ganz besonders geschätzt.372 Das Verbot hätte sich nicht auf Hülsenfrüchte, sondern auf Hoden bezogen. Damit steht er jedoch recht einsam gegen eine Vielzahl von Bestätigungen bei Aristoteles, Heraklit, Kallimachos u.a.m.373 Überraschend wäre das Verbot nicht, denn zu Lebzeiten von Pythagoras war Abscheu gegen Bohnen kein Einzelfall. Den Orphikern wird folgender Vers zugeschrieben: ›Ebenso grässlich Bohnen zu essen, wie Häupter der Eltern.‹374 Die bis in die Gegenwart anhaltendende Debatte über das Bohnenverbot wirkt verwirrend, mitunter auch konfus und spitzfindig. Viele Erklärungsansätze nehmen Bezug auf Seelenwanderungslehren. So nimmt Diogenes Laertios die hauchartige Beschaffenheit von Bohnen als Indiz für ihren besonderen Anteil am Seelenhaften. Dabei bringt er das Streben nach digestiver Mäßigkeit erneut ins Spiel: Ein Bohnenverzicht verhelfe dem Leibe zu größerer Bescheidenheit und Ruhe. Damit würden die Traumbilder gemildert. Allerdings verweist er auch auf verschiedene Begründungsansätze bei Aristoteles: Pythagoras habe zur Enthaltung von Bohnen entweder wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Schamteilen angemahnt oder wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem 367 | Vgl. Fritz, 1963, S. 196. 368 | Vgl. Porphyrios, Leben des Pythagoras, S. 22. 369 | Vgl. ebd., S. 35. 370 | Vgl. Riedweg, 2002, S. 95. 371 | Vgl. de Crescenzo, 1990, S. 65f. 372 | Vgl. Fritz, 1963, S. 191. 373 | Vgl. Burkert, 1974, S. 183. 374 | Vgl. Plutarch, Quaest conviv., 2.3.1.
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Tor zum Hades oder wegen ihrer Schädlichkeit oder wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Ganzen der Welt oder weil er in ihnen ein politisches Symbol erkannte. Der Spielraum für Interpretationen wurde schon frühzeitig weit geöffnet und in der Folge offen gehalten. Etwa von Clemens von Alexandrien. Ihm zufolge liegt der Grund für das geheimnisvolle Verbot, Bohnen zu essen, nicht darin, dass diese Hülsenfrucht Blähungen verursacht, schwer verdaulich ist, unruhige Träume hervorruft oder einem Menschenkopf ähnelt. Der wirkliche Grund sei vielmehr, dass das Essen von Bohnen zu weiblicher Unfruchtbarkeit führe.375 Eine wichtige Spur zur Erklärung der Bohnenfurcht weist nach Ägypten, wo Pythagoras einen Teil seiner Ausbildung bei Priestern absolviert haben soll. Laut Herodot galten Bohnen in Ägypten als unrein. Sie wurden weder roh noch gekocht verzehrt und wurden nicht ausgesät oder ausgerissen, wo sie von selber wuchsen.376 Die Priester hätten nicht einmal ihren Anblick ertragen können.377 Ursprünglich könnte dieses Grauen im Rahmen von Totenkulten und dem Eindringen von Dämonen in den Körper entstanden sein.378 Die Annahme seelischer Präsenzen in den Bohnen könnte sie zur Verkörperung des Prinzips der Fortpflanzung gemacht und eine Ähnlichkeit zwischen Bohnenund Menschenfleisch nahegelegt haben.379 Laut Porphyrios sprossen bei der Entstehung der Lebewesen Bohnen und Menschen aus demselben fauligen Brei hervor. Grund genug, sich sowohl der Bohnen als auch des Menschenfleisches zu enthalten! Dafür spreche auch, dass sich Bohnenblüten in vergrabenen Tongefäßen nach gewisser Zeit in Schamlippen oder in Kindsköpfe verwandelten…380 Ein wirksames Mittel gegen wuchernde Spekulationen scheinen neuere medizinische Forschungen zu Ursachen von Erkrankungen an Favismus bzw. an Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel zu liefern. Der Genuss von Ackerbohnen und das Einatmen von deren Pollen kann eine Hämolyse auslösen und in seltenen Fällen sogar zum Tod führen.381 Damit wäre aber nicht erklärt, warum sich Pythagoras lieber hätte erschlagen lassen, als eine Flucht über ein Bohnenfeld anzutreten. Für das Auftreten von Favismus bei ihm oder seinen Schülern liegt im Übrigen auch gar kein schlüssiger Beweis vor.382 Die Annahme, die Pythagoreer hätten eine Tradition der Vorsicht und Furcht 375 | Vgl. Clemens, Stromateis, III:3, §24. 376 | Laut Burkert, 1974, fehlt hierzu eine ägyptologische Bestätigung. 377 | Vgl. Herodot, Hist., Kap. 37. 378 | Vgl. Haussleiter, 1935, S. 86. 379 | Vgl. Andrews, 1949, S. 278. 380 | Vgl. Porphyrios, Pythagórou bíos (Pyth. bíos), S. 44. 381 | Vgl. Art. »Favismus«, Wikipedia. 382 | Vgl. Burke, 1995, S. 2266.
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gegenüber Bohnen aus einer gesundheitlichen Gefahr abgeleitet und enthusiastisch verteidigt – ohne die Gründe jemals zu nennen – wurde dennoch verfolgt. Anzeichen für Favismus bei sephardischen Juden, die um 586 v.u.Z. (von König Nebukadnezar, der uns im Abschnitt zum Alten Testament als gieriges Verdauungsmonster begegnete) ins babylonische Exil gezwungen wurden, führten zu der Annahme, dass Favismus auch im Umfeld von Pythagoras aufgetreten sein könnte.383 Stützende Hinweise in der antiken Literatur fehlen allerdings. Da retrospektive Diagnosen aus medizinischer Sicht als heikel gelten384 und die Erstbeschreibung des Favismus 1894 erfolgte, ist hier Vorsicht geboten. Ob Favismus überhaupt ein gewichtiger oder gar ausschlaggebender Grund für das Bohnenverbot war, ist schwer zu entscheiden.385 Für die Bohnenvermeidung gilt ähnliches wie für den Tempel auf dem Weg von Athen nach Eleusis, wo angeblich Kyamites verehrt wurde, der Beschützer der Bohnen und Bohnenmärkte:386 Vieles bleibt spekulativ. Obwohl er es wohl polemisch meinte, könnte Aristoxenos doch den Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefern, wenn er behauptet, Pythagoras hätte Bohnen gerne gegessen, weil sie die Verdauung anregen: Vielleicht besorgte sich der asketische Meister um seine Blähungen? Sicher fördert der Verzehr von Bohnen die Entwicklung von Gasen in Magen oder Darm: Methan, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid, Schwefelwasserstoff, um nur einige zu nennen. Im Falle rektaler Entweichung in die Umwelt wirken diese Gase mitunter wenig anziehend. Der Zusammenhang zwischen Bohnen und Flatulenzen war in der Antike gut bekannt. Die Vielzahl klassischer Bemerkungen zur blähenden Wirkung von Bohnen ist auffällig.387 Laut Hippokrates fördern Bohnen Flatulenzen, weil sie die Verdauung durch überreiche Versorgung überfordern und verstopfen. Erbsen verursachen weniger ›Wind‹ und lassen sich leichter ausscheiden.388 Cicero erklärt das 383 | Vgl. Arie, 1961, S. 709. 384 | Vgl. Leven, 1998. 385 | Vgl. Scarborough, 1982, S. 355; auch Harris u. Ross, 1987, S. 151. Eine Zusammenfassung gewichtige Argumente gegen die Favismus-Begründung liefert Simoons, 1998, 216ff. 386 | Vgl. Pausanias, Description of Greece, I, 1.37.4. 387 | Folgende Liste von Texthinweisen liefert Andrews, 1949, S. 286: Ps.-Hippocr. De diaet. 2.45; Aristot. H. A. 3.107; Plut. Quaes. conv. 8.10.1; Diog. Laert. 8.24; Iamblich. Vit. Pythag. 109; Ovid. MHg. fac. 70; Galen. Alim. fac. 1.19; XI, 373; XLI, 44, 49; XV, 465 Kühn; Ruf. Eph. frg. p. 542, Daremb.; Diosc. 2.127 W.; Paul. Aeg. 1.79; Actuar. De spir. an. 2.5.22, in Ideler, Pltys. et mHg. gr. min., I,361; Psell. Carm. de re mHg. 141; Simeon Seth pp. 113 and 131; Anon. De alim, in Ideler, op. cit. II,270. 388 | Vgl. Hippokrates, Regimen (Acut), II, 45. Allgemein gesprochen ist Verdaulichkeit bei Hippokrates ein wichtiger Aspekt bei der Auswahl passender Nahrung, s.u.
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pythagoreische Bohnenverbot ausdrücklich in Hinblick auf Ausdünstungen, welche die Seele auf der Suche nach Wahrheit in einen Kriegszustand versetzen.389 Wir sollen unseren Körper vor dem Schlafen in einen Zustand bringen, der geistiger Verwirrung und Täuschung vorbeugt. Weil Bohnen ausgeprägte Flatulenzen verursachen und die Seele bei der Suche nach Wahrheit stören, sei den Pythagoreern das Essen von Bohnen verboten gewesen.390 An anderer Stelle bemerkt er allerdings scherzhaft, dass eigentlich der Magen, nicht die Seele, mit dem Wind von Bohnen gefüllt sei.391 Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, ob das Bohnenverbot zur Vermeidung von Verdauungsgasen erlassen worden ist. Eine Verbindung zwischen Bohnenverbot und Flatulenzen liegt etymologisch nahe. Das übliche griechische Wort für Bohnen, ›κύαμος‹, ist verwandt mit ›κυεῖν‹, geschwollen, gedunsen sein, vergleichbar mit der anzunehmenden Abstammung des deutschen Wortes ›Bohne‹ von einem indogermanischen Wort ›*bhound‹, was anschwillt.392 Das passende Bild zu dieser Wortentwicklung könnte neben der Anschwellung keimender Bohnen und blähender Faulgasentwicklung bei deren Verzehr auch der bei Schwangerschaft anschwellende Bauch geliefert haben. Nicht von ungefähr galten Bohnen als Symbol der Fruchtbarkeit. Kennzeichnend wirken die Fragen von Plutarch: Sollen wir Bohnen vermeiden, weil sie eine besondere Rolle bei Beerdigungen und Totenfesten spielen? Oder weil wir unsere Körper sauber und rein für das heilige Leben halten sollen und Bohnen Flatulenzen verursachen und Reinigung erfordern? Oder weil uns die windige und blähende Beschaffenheit Lust verursacht?393 Da wir davon ausgehen können, dass Pythagoras von sexuellen Aktivitäten und den damit verbundenen Schwellungen wenig hielt, ist kaum anzunehmen, dass er verdauungsbedingte Blähungen als lustvoll empfunden hat. Selbst wenn er zwischen den unterschiedlichen Funktionen von Magen, Darm und Uterus eindeutiger unterschied als etwa Plutarch oder die Autoren des Alten Testaments, dürfen wir doch annehmen, dass er, der weder beim Verrichten seiner Notdurft noch bei Liebesakten oder im Zustand der Trunkenheit angetroffen wurde, es auch peinlich vermied, in der Öffentlichkeit zu pupsen. In verschiedenen Kulten, insbesondere den Eleusischen Myterien war der Genuss von Bohnen an heiligen Orten und bei Feiern verboten.394 Ausschlaggebend für den Wunsch zur Vermeidung von Blähungen müssen aber nicht soziale Konventionen im heutigen Sinne gewesen sein. Dafür spricht Diogenes Laertios: 389 | Vgl. Cicero, De Divinatione (De Div), I, 30; Bailey, 1961, S. 708. 390 | Vgl. ebd., 1.30.62. 391 | Vgl. ebd., 2.58.119. 392 | Vgl. Strömberg, 1940, S. 51. 393 | Vgl. Plutarch, Quaest. Rom., 95, 286E. 394 | Vgl. Artemidor von Daldis, Traumkunst, 1.68; dazu Kleijwegt, 1994, S. 212.
Wurzeln »Der Bohnen aber müsse man sich enthalten, weil sie infolge ihrer hauchartigen Beschaffenheit mehr Anteil am Seelenhaften hätten; überdies verhelfe Verzicht dem Leibe zu größerer Bescheidenheit und Ruhe und mache dadurch auch die Traumbilder milder und weniger aufregend.« 395
Wenn in der Antike geglaubt wurde, dass Bohnen schlechte Träume verursachen, könnte schon das ein hinreichender Grund dafür gewesen sein, sie nicht mehr zu essen. Entscheidend könnte dabei die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Flatulenzen und Seelenheil gewesen sein, frei nach dem Motto: ›Im Wind der Bohnen treibt die Essenz des Lebens.‹396 Während man gute Träume von den Göttern zu empfangen glaubte, waren schlechte Träume von bösen Geistern zu erwarten. Speisen, die den Einfluss solcher böser Wesen verstärken könnten, waren zu vermeiden. In den ungünstigen Winden, die das Essen von Bohnen verursachte, könnten die Griechen eine Gefahr für ihre kontemplativen Aktivitäten vermutet haben. Andrews bringt es auf eine einfache Formel, der Art des Denkens entsprechend, die wir von frühen Gesellschaften erwarten können: ›Die Seele ist Luft, Bohnen erzeugen Luft, also sind Seelen in den Bohnen‹. Die Rückkehr der Seelen zur Erde durch Bohnen erfolgen.397 Sicher könnte Pythagoras die Angst geplagt haben, die Seelen seiner philosophischen Freunde als unreinen Verdauungshauch durch seinen Darmausgang zurück in die Welt zu quälen. Dass leichte Diät die spirituelle Wahrnehmung schärfe, während der Fleisch- und Bohnengenuss die Seele beschwere, wurde wohl ebenfalls angenommen. In Verbindung mit dem pythagoreischen Streben nach Ausgeglichenheit dürfte der Verdauung eine tragende Rolle als Regenerations- und Heilmittel für unausgeglichene Zustände von Körper und Seele zugekommen sein. Jedenfalls schien es unsinnig, der Verdauung schwerere Lasten aufzubürden als unbedingt nötig. Letztlich sollten die mit Bohnenverdauung verbundenen Störungen des Philosophierens nicht unterschätzt werden. Vielleicht bezeichnete Aristoteles Bohnen eben deshalb als schädlich, weil ein gesunder Geist zu keinem pupsenden Körper gehören mag?398 Burkert erinnert daran, dass Seher oder Weise
395 | Diogenes Laertios, Philosophen, 8.24. 396 | Vgl. Andrews, 1949, S. 288. 397 | Vgl. Burkert, 1974, S. 183. Zur Erklärung könnte die Annahme einer Verbindung zwischen Bohnen und Schwangerschaft dienen, welche verschiedene indogermanische Sprachen nahelegen, im Griechischen etwa zwischen ›kyamos‹ (›κύαμος‹) für Bohne und ›kyein‹, (›κυέω‹) für schwellen, schwanger sein, vgl. Leven, 2005, S. 171. Im Sinne solcher Mutmaßungen wäre auch der Hinweis von Aristoxenos auf eine mögliche Sinnvermengung zwischen Bohnen und Hoden zu überdenken. 398 | Vgl. Albala, 2007.
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bekanntlich »sehr empfindlich für kleine körperliche Störungen« sind.399 Leider führt er diese Feststellung nicht weiter aus, sondern kommt lediglich auf einige Ergebnisse der modernen Ernährungswissenschaft zu sprechen: Von aller vegetarischen Kost seien Bohnen am ehesten mit Fleischkost vergleichbar. Diese Einsicht findet sich aber auch schon bei Clemens von Alexandria, der das Verbot der Bohnen ausdrücklich in den Zusammenhang mit dem Verbot von Fleischnahrung stellt, die eher für Tiere geeignet sei, da die von ihr erzeugten Ausdünstungen unrein seien und die Seele verfinsterten.400 Denken wir nochmals zurück an den Zusammenhang von Bohnen und Seelenheil: Weil der Geist des Lebens als etwas nicht Substanzielles angesehen wurde – und zwar als Luft, Atem oder Wind, der im Moment des Todes den Körper verlässt – konnte er Unterschlupf in Bohnen finden, weil Bohnen Wind, das Wesen des Lebensgeistes, erzeugen. Darauf baute die Überzeugung der Ähnlichkeit zwischen Bohnen und Menschenfleisch auf, die Annahme sexueller und generativer Kraft und das Verbot der Speise für auf Reinheit bedachte Personen.401 Klar lässt sich erkennen, dass hier zuerst die Blähung auftreten musste, bevor es zu einer Entwicklung des Bohnenverbotes kommen konnte. Auch wenn wir nicht bereit sind, Blähungen als Anhaltspunkt bei der Entwicklung metaphysischer Theorie zu akzeptieren, können wir sie dennoch im Rahmen sozialer Gewohnheiten betrachten. Auch heute gilt das Auslassen von Afterwinden ja als peinlich, und nicht nur im Rahmen philosophischer Lehrveranstaltungen. Im Zusammenhang mit den Bildern, die wir uns von asketischen Philosophen der Antike machen, scheinen knurrende Bäuche als Fauxpas und pupsende Hintern als No-Go. Wo Tugend, Harmonie, Gesundheit und Freundschaft durch Reinheit, Sühne, Bäder, Enthaltsamkeit und Sauberkeit in jeglicher Hinsicht erlangt werden, sind Flatulenzen kaum erwünscht. Aber lässt sich aus der Furcht vor peinlichen Pannen in den erhabenen Kreisen der Weisheitsliebhaber die pythagoreische Abscheu vor Bohnen tatsächlich abschließend erklären? Kann die Vermeidung von Peinlichkeit ein hinreichender Grund dafür sein, den Tod dem Betreten eines Bohnenfeldes vorzuziehen? Sicherlich nicht! Und kann der Wille zur Vermeidung schlechter Verdauungswinde folgende Geschichte erklären, die Iamblichos erzählt?402 Zwei pythagoreisch inspirierte Eheleute, Myllias und Timycha, wurden im Gefängnis von Dionysos I. befragt, warum ihre Religionsgenossen eher bereit wären zu sterben, als Bohnen niederzutreten. Die Antwort »Wir würden lieber auf Bohnen treten, als dir das Geheimnis verraten« befriedigte den Tyran-
399 | Burkert, 1974, S. 184. 400 | Vgl. Clemens, Paidagogos, II., §11, S. 19f. 401 | Vgl. Andrews, 1949, S. 279. 402 | Vgl. Iamblichos, De vita Pythagorica (Vit Pyth), S. 31.
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nen nicht. Er ließ die schwangere Timycha foltern. Die soll sich daraufhin die Zunge abgebissen und ihrem Peiniger ins Gesicht gespuckt haben. Es ist also schwer zu entscheiden, ob der historische Pythagoras seine Tage lieber pupsend auf Bohnenfeldern verbracht hätte, als solche diätetische Radikalisierung zu provozieren. Sicher ist dagegen, dass Nahrungsverbote die Gemüter vor und nach Pythagoras bewegten, vor allem im Zusammenspiel mit kultischen und religiösen Motiven. Durch die Hinterfragung der Gründe radikaler Aversionen können verdauungsphilosophische Überlegungen zur kulinarischen Beruhigung beitragen.
V erdauungspflege im C orpus H ippocr aticum Im Corpus Hippocraticum (entstanden zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr.) erscheint die Versorgung der Verdauung mit passender Nahrung als Mittel zur Erhaltung der Gesundheit, im Rahmen medizinischer Krankheitsbehandlung. Da die Beobachtung und Beeinflussung von Aufnahme und Abgabe ein elementarer Aspekt für die Bestimmung und Behandlung von Krankheiten ist,403 richtet sich ein wesentlicher Teil der ärztlichen Bemühungen auf die Funktion der Verdauung: »Was die Erde für die Bäume, ist für die Lebewesen der Bauch.«404 Dabei betrifft die hippokratische Auffassung des Bauches das Leben sowohl in Hinblick auf seine Erhaltung als auch seine Erschaffung.405 Allerdings ist die hippokratische Behandlung der Verdauung in heutiger Begrifflichkeit nicht leicht zu fassen.406 Der Begriff für Bauch, ›stomachus‹ (›στόμαχον‹), abgeleitet von ›stoma‹ (›στόμα‹, Mund), wurde zur Zeit Hippokrates’ im Allgemeinen zur Bezeichnung des Speisekanals oder des unteren Teils der Speiseröhre verwendet. Den Magen behandeln die hippokratischen Schrif403 | Vgl. Potter u. Gundert, 1998, S. 596. 404 | Hippocrates, Humours (Hum), 11.1. 405 | Die Bedeutung des Bauches für Philosophie und Medizin wird in den hippokratischen Schriften recht ausführlich untersucht. Die verschiedenen Ansätze gründen auf der philosophischen Unsicherheit über die Anzahl und Beschaffenheit der ursprünglichen Elemente. Forderungen nach medizinischer Autonomie werden insbesondere in den Texten Alte Medizin (Vet med) und Menschliche Natur (Nat hom) erhoben. Vgl. Jouanna, 1992, S. 366ff. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Behandlung der Verdauung nach den Hippokratikern nur noch Ärzte beschäftigt hätte. 406 | Jones erklärt in seiner Einleitung zur Alten Medizin, dass im griechischen Text ein halbes Duzend Worte das beschreiben, was wir als Verdauung bezeichnen. Vgl. Hippocrates, Vet med, S. 10; vgl. Jones Einleitung zu Hippocrates, Nutriment (Alim); auch Jouanna, 1992, S. 441.
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ten vergleichsweise stiefmütterlich. Der Begriff, der sich zu seiner Bezeichnung etablierte, war ›gaster‹ bzw. ›gastros‹ (›γαστήρ‹), womit Bauch in einem sehr allgemeinen Sinne bezeichnet wurde, u.a. als Organ der Verdauung und des Geschlechts. An die begrifflichen Gegebenheiten der Thora erinnert auch die Bezeichnung des Magens, des Unterbauches oder der Därme durch die Begriffe ›kolia‹ (›κοιλία‹) und ›nedyus‹ (›νηδύς‹) für Höhle bzw. Bauchhöhle. Die Gewichtung der Aufmerksamkeit, die einzelnen Bauchorganen zukommt, kann ebenfalls überraschen. So behandelt ein Text zur ursprünglichen Entstehung des Menschen Über das Fleisch zwar ausführlich Hirn, Herz, Lunge, Milz und Niere, erwähnt den Magen aber nur beiläufig. Nichtsdestoweniger bilden Überlegungen zur Verdauung einen Ausgangspunkt der Entwicklung medizinischer Gesundheitspflege. Würden sich Menschen nicht um eine harmonische, zu ihrer Konstitution passenden Ernährung bemühen, sondern sich wie Tiere mit Früchten, Holz und Grass zufrieden geben, um furchtbar darunter leiden, so wäre es wohl überhaupt nicht zur Entwicklung der Medizin gekommen.407 Aber wie bei der Entwicklung gymnastischer und athletischer Übungen, sei auch die Ernährung in einer Weise verbessert worden, die zu verbesserter Assimilation und zur Stärkung der Menschen geführt habe.408 Die Einflussnahme auf die Verdauung zur Wahrung und Verbesserung der Gesundheit ist bei den Hippokratikern gängige Praxis. Eine typische Empfehlung aus den Aphorismen: Wird bei Verdauungsstörungen und bei spontan auftretendem Erbrechen abgeführt, was abgeführt werden muss, so ist das nützlich, die Kranken fühlen sich besser, wenn nicht, sei das Gegenteil der Fall.409 Das gelte auch bei künstlicher Entleerung, wobei bei der Entscheidung über die Behandlung u.a. die Jahreszeit zu beachten sei. Im Winter und im Frühjahr sei der Bauch von Natur aus am wärmsten und brauche deshalb mehr Nahrung.410 Was abgehe, solle nicht nach der Menge, sondern nach dem Zustand des Kranken beurteilt werden. Wenn nötig, könne man bis zur Ohnmacht purgieren, aber bei akuten Krankheiten solle man Abführmittel nur nach sorgfältiger Prüfung verwenden.411 Neben der Bedeutung von Körperflüssigkeiten für die Diagnose und die Behandlung von Krankheiten wird die medizinische Bedeutung von Luft oftmals stillschweigend vorausgesetzt, mitunter aber auch ausdrücklich untersucht.412 Ihre Verdichtungs- und Verdünnungsformen waren zuvor von den Philosophen Anaximenes von Milet und Diogenes von Apollonia zum Ursprung der 407 | Vgl. Hippocrates, Vet med, 3. 408 | Vgl. ebd. 4. 409 | Hippokrates, Aphorismen (Aph), 1.2. 410 | Vgl. ebd., 1.15. 411 | Vgl. ebd., 1.22ff. 412 | Vgl. Diller, 1962, S. 176.
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Dinge erklärt worden. Auch der hippokratische Text Über die Winde greift auf diese Ansätze zurück, indem er nicht nur an die lebenswichtige Funktion der Atmung erinnert, sondern auch die gesundheitliche Bedeutung von Lüften würdigt, die mit der Nahrung in den Körper dringen. Ausgangspunkt des Textes ist eine Lehre von den Gegensätzen: Speise sei das Heilmittel gegen die ›Krankreit‹ des Hungers, Trinken gegen Durst, Füllung gegen Leere und Abgabe gegen Überfüllung.413 Menschliche Nahrung gebe es in drei Formen: Speise, Trank und Luft.414 Der Luft komme die größte Macht zu: als strömender Wind könne sie Bäume entwurzeln und Schiffe zerschmettern.415 Auch die im Körper befindliche Luft habe gewaltige Kraft.416 Krankheiten entstehen durch verdorbene oder überschüssige Luft, etwa dann, wenn ein Übermaß an Nahrung Verstopfungen und Blähungen verursacht. Wechselspielen zwischen Luft und Verdauung könne auch Fieber verursachen: Werde dem Körper mehr Nahrung zugeführt, als er vertrage, und dem Übermaß keine körperliche Anstrengung entgegengesetzt oder würden verschiedenartige Nahrungsmittel sich nicht miteinander vertragen, so werde langsamer verdaut.417 Da mit der Speise viel Luft in den Körper gedrungen sei – wir könnten das daran erkennen, dass viele Menschen nach dem Essen aufstießen – fülle sich der Körper mit Luft, solange die Speise in ihm verbleibe. Die große Menge der eingeschlossenen Luft könne den Unterleib nicht durchlaufen, versperre ihn gar, verbreite sich im ganzen Körper, stoße an die blutreichen Teile und kühle sie ab. Schüttelfroste und Fieber seien die Folge. Vielleicht war Pythagoras mit einer ähnlichen Theorie vertraut. Es würde zumindest seine Abscheu vor Bohnen hinreichend erklären. Im Text Über die alte Heilkunst erscheint die Verdauung als eine Art von Kampf zwischen Mensch und Nahrung, der im Idealfall mit dem Sieg des Menschen endet. Die Gefahr der Überladung wird dabei einleuchtend beschrieben: Wer esse, ohne dass es ihm bekömmlich ist, beschwere sich geistig und körperlich, sei müde und durstig. Werde dann noch weiter gegessen, kommen Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall hinzu. Für viele Menschen sei dies der Anfang einer schweren Krankheit, selbst wenn sie beginnen ihre Verdauung zu schonen.418 Ungewohnter Verzicht auf Nahrung könne zu 413 | Vgl. Hippokrates, Breaths (Flat), 1. 414 | Vgl. ebd., 3. 415 | Vgl. ebd. 416 | So könne ein Mensch tagelang ohne Speise und Trank überleben, nicht aber ohne Luft. Vgl. ebd., 4. Diese Feststellung unterstreicht das philosophische Interesse an Atmung und guter Luft, auch beim Gebrauch des Begriffs der Atmosphäre in der ökologischen Naturästhetik. 417 | Vgl. ebd., 7ff. 418 | Hippokrates, Vet med, 10.
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Schwäche, Zittern, Atemnot, ausgehöhlten Augen, auffällig gelbem und warmem Harn, bitterem Geschmack im Munde, Ziehen in den Därmen, Schwindel, Depression, Arbeitsunlust und Appetitlosigkeit führen. Bei der Erklärung der Ursachen für diese Symptome scheint der hippokratische Autor mit verschiedenen Modellen der Verdauung zu spielen, die gleichermaßen als eine Art Kochvorgang und Fermentation erscheint.419 Die Bedeutung der Verdauung für hippokratische Überlegungen zur richtigen Diät unterstreicht die Feststellung, dass schwerste Nahrung den Menschen am meisten und am offensichtlichsten schädige.420 Das scheint für eine durch mehr oder weniger starre und ritualisierte Speisevorschriften geprägte Diät im Sinne der Pythagoreer zu sprechen. Da schwere Nahrung aber nicht immer schädigt, leichte ihrerseits nicht immer nützt und ernährt, reiche es nicht aus, immer nur bescheidene Diät zu empfehlen. Es sei überaus schädlich, wenn Menschen weniger Nahrung zu sich nähmen, als sie brauchten. Die Kraft des Hungers sei eine gewaltige Macht, die Krankheit und Tod mit sich führen könne.421 Entscheidend sei die maßvolle Mischung der Nahrung, besonders in Hinblick auf Trockenes und Feuchtes, Warmes und Kaltes, Süßes, Bitteres, Saures, Herbes, Fades und unzähliges andere, das nach Quantität und Qualität verschiedenste Kräfte besitze.422 Nahrung wirke auf das, was sich innerhalb des Körpers absondere.423 Gemessen an der großen Menge von Nahrung, die unsere Körper aufnehmen, sei die mögliche Schädigung durch Nahrung vergleichsweise gering. Die ägyptisch-hebräischen Vorstellungen eines lebensbringenden Lufthauches erscheinen auch in der hellenistischen Idee einer Seele bzw. Psyche, die den Körper verlassen konnte, zeitweilig im Schlaf und in Zuständen von Ekstase, endgültig beim Tod. In den hippokratischen Schriften wird die Beziehung zwischen Körper und Seele lebhaft diskutiert. So fällt auf, dass in der Schrift Über die heilige Krankheit – einem Versuch zur Erklärung von Epilepsie ohne Rückgriff auf übernatürliche, dämonische Mächte – das Wort Seele nicht einmal vorkommt und alle geistigen Vorgänge auf das Gehirn bezogen werden,424 das hier als eine Art Dolmetscher dessen erscheint, was die Luft uns zuträgt. Die Seele sitze nicht im Zwerchfell, das seinen Namen zu Unrecht, durch Zufall und Gewohnheit erhalten habe.425
419 | Vgl. Jouanna, 1992, S. 442. 420 | Vgl. Hippokrates, Vet med, 6. 421 | Vgl. ebd., (588). 422 | Vgl. ebd., (602). 423 | Vgl. ebd., (603-04). 424 | Vgl. Eijk, 2007, S. 20. 425 | ›φρήν‹, ›phren‹, bedeutet im Griechischen sowohl Seele als auch Diaphragma.
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In der Schrift Über die Lebensweise (De victu, wohl um 390 v.u.Z.) wird die Seele als materialisiert dargestellt, als Zusammensetzung aus zwei Grundelementen: Feuer und Wasser. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente ergäben sich unsere Charaktere und geistigen Fähigkeiten sowie auch deren Störungen wie Wahnsinn und Depressionen. Was der Gesundheit oder Krankheit zugrunde liege, erscheine sowohl geistig wie körperlich.426 Weil das ganze geistige Leben in körperlichen Zuständen und Vorgängen bestehe, sei es auch möglich, es durch Essen und Trinken und andere körperliche Eingriffe zu beeinflussen, Intelligenz erscheint hier in Abhängigkeit von passender Ernährung.427 Die Ursache von Krankheiten wird demnach weniger in seelischen Störungen gesucht, als dass seelische Störungen als Folge von Krankheit erscheinen. Der aufmerksame Umgang mit der Verdauung ist für die Hippokratiker charakteristisch. Mit der einsetzenden Entwicklung der Medizin als eigenständiger Disziplin verlassen wichtige Aspekte der gesundheitsfördernden Verdauungspflege den Rahmen der Philosophie. Das spricht jedoch nicht gegen das anhaltende philosophische Interesse an der Verdauung, das sich einerseits aus grundlegenden Fragen im Bereich der Medizin speist und andererseits aus dem klärungsbedürftigen Zusammenhang zwischen Geist und Körper. Allerdings führt die Unterscheidung zwischen körperlichen und geistigen Aspekten der Verdauung zu einer Schräglage. Wird der Philosophie ihre Zuständigkeit für körperliche Pflegeaufgaben entzogen, so verbleibt ihr die Sorge um einen volatilen Geist, den sie in der Folge gegen physische Interessen des Körpers und besonders der Verdauung zu verteidigen hat. Physiologisch orientierte Medizin riskiert umgekehrt, die Bedeutung geistiger Zustände für die Gesundheit zu vernachlässigen.
D ualistische E nt z weiung bei P l aton Auf den ersten Blick erscheint Platons (* 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; † 348/347 v. Chr. in Athen) Position klar und einfach: Wer schlecht verdaut, hat dies selbst zu verantworten. Ärztliche Bemühungen um Menschen, die durch Trägheit und durch üppiges Leben von Flüssen und Winden voll geworden sind wie ein überlaufender See, hält Platon für schimpflich.428 Fragen zur Verdauung scheinen der philosophischen Aufmerksamkeit unwürdig. Dass Ärzte
426 | Vgl. Eijk, 2007, S. 21. 427 | Vgl. Hippokrates, Regimen (Acut), I.35f. 428 | Vgl. Platon, Politeia, III, 405d.
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Worte wie Blähungen und Katarrh verwenden, ist Platon ganz unverständlich: Zur Zeit des Asklepios hätte es dergleichen gewiss nicht gegeben!429 Wer seine Krankheit durch Abführmittel, durch Brennen oder durch Schneiden lindern möchte, dem sei eine Diät zu verschreiben. Der Kranke kehre dann geschwind zu seiner gewohnten Lebensweise zurück und könne gesund und glücklich von seiner Arbeit leben. Andernfalls – wenn der kranke Körper mit der Störung nicht fertig wird – könne er sich aller Mühen entledigen und beruhigt sterben.430 Platons Position wird von Betrachtungen zur Beziehung zwischen Seele und Körper getragen. Dabei deutet sich eine positive Funktion der Nahrung für das körperliche Wachstum an.431 Allerdings meldet Platon Zweifel daran an, ob Speise und Trank die wirkliche Ursache für das Wachstum von Knochen und Fleisch sein können. Wäre die Aufnahme von Speise ein hinreichender Grund für das Wachsen, wie ließe es sich erklären, dass Menschen nicht immer weiter wachsen, obwohl sie weiterhin essen?432 Doch selbst für den Fall, dass Speise eine notwendige Voraussetzung für das Körperwachstum wäre, führt das Platon nicht notwendig zu einer positiven Bewertung gastraler Verdauungstätigkeiten. Ausschlaggebend hierfür ist seine Geringschätzung des Körpers. Dieser orientiere sich an Vergänglichem und behindere damit die unsterbliche Seele bei ihrem eigentlichen Geschäft: der Schau des wahren und idealen Seins.433 Unsterbliches und Unzerstörbares gehe dem Tod ohne Schaden aus dem Wege.434 Mit ihm befreie sich die unsterbliche und unzerstörbare Seele von der Herrschaft körperlicher Lüste.435 Aber können wir uns wirklich sicher sein, dass die vom Körper getrennte Seele beim Tode nicht doch einfach wie ein Hauch oder Rauch vergeht?436 Selbstverständlich, antwortet Platon, denn wie sonst wäre die Bitte des sterbenden Sokrates erklärbar, dem Asklepios ein Huhn zu opfern? Dem allgemeinen Gebrauche entsprechend wurden dem antiken Gott der Heilkunst solche Opfer nach der Gesundung eines Kranken dargebracht, nicht aber nach einem Todesfall. Es kann also nur wahr sein: Der Tod führt zur Gesundung der Seele von ihrer irdischen Krankheit, dem Körper. Besser ein Huhn wird geopfert als gastral verdaut.
429 | Vgl. ebd., 405e. 430 | Vgl. ebd., 406d-e. 431 | Vgl. ebd., 96d. 432 | Vgl. Ebert, 2004, S. 341. 433 | Vgl. Platon, Phaidon, 62. 434 | Vgl. ebd., 106e. 435 | Vgl. ebd., 64c. 436 | Vgl. ebd., 70a.
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Allerdings bemerkt Platon auch positive Aspekte der gastralen Verdauung. Hunger und Durst versteht er als Hinweise auf eine Leere in unserem Körper.437 Wer Nahrung zu sich nimmt, sei es zur Speisung des Körpers oder der Seele, bei dem finde eine Art Anfüllen statt.438 Die offenkundigste der menschlichen Begierden,439 das Verlangen nach Speise und Getränk, sei grundsätzlich gut, weil sich alle unsere Begierden auf das Gute richten. Darum wollen wir auch Gutes essen und trinken.440 Die Freude des Bauches an Speise stellt Platon in direkte Analogie zu ›höheren‹ Werten. Seine Überlegungen zu lustvoller Füllung und schmerzhafter Leerung bezieht er zuweilen auf körperliche Gefäße,441 zuweilen auf seelische.442 Mitunter ist es nicht leicht nachvollziehbar, ob und inwiefern Platon seine Erklärungen zu Füllung, Sättigung, Ausleerung und Hunger auf seelische Zustände bezieht.443 Dass die Seele in Platons Vorstellungen nach Speise verlangt, ist aber ganz offensichtlich: Sokrates sei wie ein Krug aus fremden Quellen durch Zuhören angefüllt worden.444 Wie der Körper nach Speise und Getränk verlange, so dürste und hungere auch die Seele nach Wissen und nach Verstand. Als bevorzugte Speisen der Lernenden gelten also nicht Wein und Brot, sondern philosophische Lehren. Ernährung zielt vorzugsweise weniger auf den Erwerb von Größe oder Kraft als auf das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Teilen der Seele.445 Charakteristisch ist die begriffliche Bindung zwischen Speise und Erziehung bzw. Aufzucht und Ausbildung (»τροφή τε καί παιδεία«),446 die letztlich zu einer Einheit verschmelzen, in der sich seelische und körperliche Vorgänge komplex verbinden.447 437 | Vgl. Platon, Politeia, IX, 585b, S. 317. 438 | Vgl. ebd., IX, S. 585. 439 | Vgl. ebd., IV, 438, S. 137. 440 | Vgl. ebd. 441 | Vgl. Platon, Philebos, 31b-36c. 442 | Vgl. Platon, Politeia, IX, 585ab; vgl. Platon, Protagoras, 313c-314b. 443 | Besonders im Philebos 32-36 bleibt der Zusammenhang zwischen körperlicher und seelischer Lust an Ernährung – nicht zuletzt aufgrund aufwendiger Denkmuster und trotz gegenteiliger Ankündigung – weitgehend unklar. 444 | Vgl. Platon, Phaidros, 235d, auch Grupen, 1998, S. 34ff. 445 | Vgl. Grupen, 1998, S. 35. 446 | Für das Hendiadyoin ›τροφή τε καί παιδεία‹ gibt Platon achtzehn Verwend ungs beispiele in zehn verschiedenen Schriften. Vgl. Grupen, 1998, S. 30. 447 | Der Begriff ›trophé‹ (›τροφή‹) wurde besonders mit intellektuellen Wirkungen assoziiert, etwa bei gymnastischen und musikalischen Übungen, vgl. Platon, Politeia, III, 410bc, und ›παιδεία‹ insbesondere mit körperlicher Ernährung im Kindesalter, vgl. Platon, Gesetze, VII, 822e2. Die ursprüngliche Bedeutung von ›παιδεία‹ bzw. Erziehung wurde mitunter auf ›τροφή‹ bzw. Speise übertragen, vgl. Platon, Siebter Brief, 343d.
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Die Paarung zwischen Essen und Wissen prägt die Sprache des Alltags bis in die Gegenwart. Essen und Erkennen erscheinen dabei mitunter als mehr oder weniger austauschbare Entitäten.448 Eingedenk der alltäglichen Verwendung von Begriffen wie Erkenntnishunger, Wissensdurst, Informationsgier u.a. werden Worte zur Speise des Geistes erklärt und Ideen zur Nahrung, die durch die Öffnung des Mundes in das Gefäß unseres Leibes eingehen, um dort von der Zunge verrührt, im Magen verdaut und im Darm aufgenommen zu werden. Aber wenn wir Platon ernst nehmen und die Wirkung von Worten als einen Beitrag zu unserer Selbstbildung verstehen, wie haben wir uns das intellektuelle Äquivalent zur Ausscheidung von Überresten der gastralen Verdauung vorzustellen?449 Lagert sich Wissen nicht auf unbestimmte Zeit in uns ein? Wenn dieser Ausscheidung eine entlastende Funktion zukommt, ja zuweilen gar eine entgiftende Funktion, so scheint die Aufnahme von Wissen gerade deshalb als gefährlich, weil schädliche Speise den Geist bleibend belasten kann, etwa in dem Sinne, in dem der Körper schädliche Schwermetalle dauerhaft einlagert. Möglicherweise ließe sich die Parallele zwischen intellektueller und gastrischer Ernährung durch eine Betrachtung der entlastenden Wirkung des Vergessens weiterführen. Mit Platon lässt sich weder die Annahme einer Identität von Wort und Speise, noch die einer selbstverständlichen Affinität zwischen Erkenntnis, Erinnerung und Ernährung verlässlich stützen. Wenn Platon den Exzess an materiellen Speisen in Bezug zu dem Exzess an Worten setzt, ist damit keine Gleichsetzung in jeder Hinsicht verbunden, wie etwa Rigotti suggeriert.450 Das ist schon deshalb offensichtlich, weil Brot, Getränk, Fleisch und überhaupt jeder körperlichen Speise bei Platon weniger Wahrheit und Wirklichkeit zukommt als den ewig gleichen und unsterblichen Dingen zur seelischen Speisung.451 Die Freuden der Seele und des Bauches fallen also nicht einfach in eins, sondern geraten mitunter in einen unversöhnlichen Gegensatz: »Diejenigen also, welche im Reich des Gedankens und der geistigen Stärkung Fremdlinge, bei Schmausereien aber und dergleichen Freuden des Fleisches immer zu Hause sind, die bewegen sich also nach unserer Sprache nur nach Unten, von da wiederum nach der Mitte und fahren in dieser Region ihr ganzes Leben lang herum, über diese hinaus zu dem wahrhaft Oben haben sie weder je aufgesehen noch darauf einmal losgeDer Begriff der Speisung beinhaltet also die Zuführung schädlicher oder nützlicher Lerninhalte. Eine eingehende Darstellung liefert Grupen, 1998, S. 35f. 448 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 16. 449 | Vgl. Gander, 2001, S. 31. 450 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 16, 32. 451 | Vgl. Platon, Politeia, IX, 585-86.
Wurzeln steuert, haben niemals sich mit dem höheren wesenhaften Sein wirklich angefüllt, nie ein unvergängliches und reines Vergnügen gekostet, sondern nach Art der Rinder immer mit dem Blicke nach Unten gerichtet, zur Erde und zur Krippe gebückt, liegen sie nur auf den Weideplätzen, indem sie sonst nichts tun als sich den Magen anfüllen, sich bespringen, wegen des gegenseitigen Wegschnappens dieser Genüsse mit eisernen Hörnern und Hufen sich stoßen, treten und infolge der Unersättlichkeit ihrer Begierden sich den Tod antun, eben weil sie mit den Dingen besseren Seins nicht sich, nicht das bessere Sein ihres Selbst, nicht den das wahrhafte Sein festhaltenden Teil ihrer Seele angefüllt haben.« 452
Als entscheidender Unterschied zwischen körperlicher und seelischer Nahrungsverarbeitung erscheint die Stofflichkeit der gastralen Verdauungsobjekte. Die Schwierigkeit der Bewahrung von Lerngegenständen in der materiellen Welt erklärt Platon ausdrücklich durch die nicht-stoffliche Natur der seelischen Nahrung.453 Die heilsame oder schädliche Wirkung solcher Gegenstände sei unwiderruflich, weil die zur Speisung der Seele geeigneten Kenntnisse nicht wie körperliche Nahrung in Fässern oder Speisekammern zwischengelagert werden können. Zur Erzeugung von Lust an der Auffüllung von körperlichen oder seelischen Gefäßen sei weniger der Zustand bleibender Füllung als die Freude an Zufluss bzw. Bewegung erstrebenswert.454 Schlechte Nahrung gefährde die Seele mehr noch als den Körper, weil Kenntnisse direkt von einer Seele in die andere gelangten. Der Ausgang des platonischen Philosophen aus der unterirdischen Höhle zum Licht beinhaltet eine intellektuelle Kampfansage an die Bauchhöhlen. Platon bestärkt eine Tradition der Bauchfeindschaft, die noch in der Gastrosophie der Gegenwart spürbar ist. Dass er der Seele wirklichere Freud- und Lustempfindungen zuschreibt als dem Körper, ist insofern bemerkenswert, als ihm die Freude an gastraler Verdauung zunächst als Modell zur Erklärung der Freude an seelischen Aktivitäten dient und die Freude an seelischen Aktivitäten sodann zur Abwertung der Freude an gastraler Verdauung. Zu solch verachtungsvoller Behandlung der Verdauungsfreuden könnten kultische Praktiken auf Höhlenfesten beigetragen haben, in deren Verlauf es auch zur Vorführung
452 | Platon, Politeia, IX, 586. 453 | Vgl. Platon, Protagoras, 313. Wir können einwenden, dass geistige Nahrung sich zum Beispiel in Büchern konservieren lässt. Mit Vor- und Nachteilen schriftlicher Überlieferung beschäftigt sich Platon u.a. im Phaidros, 275a-e. Gegen die Idee von nutzbringendem und schädlichem Lernstoff spricht das aber nicht. 454 | Vgl. Platon, Georgias, 494ab; Protagoras-Prolog.
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von Schattenbildern kam.455 In der Dunkelheit verschmelzen Grotten und Bäuche zu einem gemeinsamen Urbild.456 Für die hellenistische Philosophie war der achtsame Umgang mit dem Bauch von zentraler Bedeutung. Aufschlussreich ist die Formulierung von Baudy: Den mit Nahrung gefüllten bzw. sich füllenden Magen – die wohl alltäglichste Art Lust zu gewinnen – können wir als Urbild von Lust überhaupt ansehen, im Sinne der Erfüllung sich vollendenden Lebens.457 Platons Lusttheorie stehe in der Tradition einer vortheoretischen Idealisierung dauernder Fülle. Grundlegend sei hierbei die pythagoreisch-demokritische Auffassung der Lust als Indikator eines naturgemäßen Sich-Füllens, das keine negative Bewertung impliziere.458 Platon beziehe sich in seiner Theorie der Lust auf das Leitmotiv der pythagoreischen Tradition, den Krug als Symbol der Idealisierung dauernder Fülle.459 Einen negativen Beigeschmack entwickele wohl erst Antisthenes, der den leeren Krug mit Schmerz, den sich mit Lust füllenden und den gefüllten Krug mit dem allein erstrebenswerten optimalen Zustand der Ruhe gleichsetzte. Platon habe auf diese Theorie zurückgegriffen, indem er Lust nicht mehr nach dem Schema Übermaß, ideale Mitte und Mangel bewertete, sondern in den Begriffen Fülle und Leere. Dem positiven Erfüllungsbegriff korrespondiere nunmehr ein negativer Entleerungsbegriff.460 Grundlage dazu ist Antisthenes diätisch gefärbte Ethik des Maßes: Nur die Lust, die wir nicht zu bereuen brauchen, gelte als Gut. Was zu groß sei, um durch die obere Öffnung des Verdauungsschlauches in den Organismus zu dringen und diesen durch die unteren wieder zu verlassen, gelte als unangemessen.461 Antisthenes behaupte, Genuss nicht von käuflichen Esswaren, sondern aus der Vorratskammer seiner Seele zu beziehen. Sein innerer Reichtum, den er gerne mit anderen Menschen teilen wolle, sei für ihn das spirituelle Analogon eines gefüllten Magens, die Grundlage seiner philosophischen Autarkie.462 Wir können uns fragen, ob der Funktionskreis der Ernährung nicht der griechischen Ethik schlechthin – also keineswegs nur der Lustethik – die entscheidenden Modellvorstellungen und Begriffe lieferte.463 455 | Vgl. Schuhl, 1968; Bachelard, 1948, S. 228. 456 | Vgl. Bachelard, 1948, S. 231. 457 | Vgl. Baudy, 1981, S. 8. 458 | Vgl. ebd., S. 13. 459 | Vgl. ebd., S. 10. 460 | Vgl. ebd. 461 | Vgl. ebd., S. 13. 462 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, 6.11; Baudy, 1981, S. 15. 463 | Vgl. Baudy, 1981, S. 15.
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Die Rückbindung der Lust am Wissenserwerb an das konkrete Bauchgeschehen legt es nahe, die Rede von geistiger Verdauung nicht auf ihren metaphorischen Gehalt zu reduzieren. Der platonischen Gleichsetzung von Sättigung mit Erfüllung und Lust und von Hunger mit Auflösung und Unlust liegt neben der metaphorischen eine beispielhafte Bedeutung bei. Die Spannkraft der vergleichenden Bilder beruht zu einem guten Teil auf dem Transfer zwischen Sache und Bild.464 Das philosophische Werkzeug des Sprachbildes hat in Platons Erklärungen zur nährenden Füllung die »Funktion eines veritablen Erkenntnisinstruments«.465 Hunger und Durst sind keine Schattenbilder der Unlust, sondern werden mitunter explizit mit ihr gleichgesetzt. Sattheit erscheint als Lust wie Platon als Grieche.466 Platons Argumente für den Vorrang intellektueller gegenüber gastraler Lust als Aspekt eines Lebens fernab von Wahrheit und Gerechtigkeit grenzen den Bereich dessen, was sich mit den Mitteln der Vernunft beurteilen lässt, gegen Sinnesfreuden ab.467 Wenn Platon sich weigert, der Lust des Leibes auf deren eigenem Grund zu begegnen, so entspringt diese Weigerung Gründen der Vernunft, die sich dabei ihrer eigenen Überlegenheit versichert. Nur scheinbar ermöglicht die Trennung zwischen rationaler und gastraler Freude eine rationale Ausgrenzung der letzteren aus dem Bereich der Philosophie. Die grundlegende Verbindung zwischen gastraler und philosophischer Aktivität unterläuft das rationale Fassungsvermögen schon deshalb, weil menschliches Wohl ohne gastrale Verdauung undenkbar ist. Das unterstreicht Platon in seiner politischen Philosophie, in der er die Ausgewogenheit individueller Diät in der gerechten Nahrungsverteilung zwischen den Bürgern der Polis modellhaft nachbildet. Die Parallelität von Arzt und Politiker findet Ausdruck in der Rückübertragung des medizinischen Begriffs des Organismus auf den Staat. Individuelle Gesundheitsnorm und politisches Optimum koinzidieren.468 Im Modell der Seelenfunktionen, das Platon in der Republik entwirft, und das der Vorläufer des Modells im Timaeus ist, erscheint die Zügelung gastraler Verdauung als Bedingung für gelingende Gemeinschaftlichkeit zwischen Menschen. Bekanntlich unterscheidet Platon drei Teile der Seele. Der obere, nach Weisheit, Wahrheit und Wissenschaft strebende Seelenteil sei für Menschen charakteristisch. Den mittleren Teil hält er für ehrliebend und streitlustig. Er eifere nach Macht, Sieg und Ruhm und sei einem Löwen vergleichbar. 464 | Vgl. Grupen, 1998, S. 49f. 465 | Ebd., S. 157. 466 | Vgl. Platon, Philebos, 31ff.; Grupen, 1998, S. 52. 467 | Vgl. Grupen, 1998, S. 95. 468 | Vgl. Baudy, 1981, S. 19, siehe auch Platon, Politeia, 577c1-2: »Die Ähnlichkeit zwischen Staat und Mann im Sinne behaltend…«.
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Den untersten, auf materielle Speisung gerichteten Seelenteil stellt sich Platon als ein vielköpfiges Ungeheuer vor.469 Es sei eine begehrliche, eigennützige Zusammensetzung von Chimaira, Skylla, Kerberos und anderen sagenhaft bösartigen Tiergestalten, mal zahm, mal wild und dabei imstande, sich in alle Tiere zu verwandeln oder diese aus sich hervorzubringen. Tue ein Mensch Unrecht, so sei das einer Schwelgerei vergleichbar, die das Ungeheuer und den Löwen stärke, den Menschen dagegen durch Hunger abzehre und derart entkräfte, dass er sich von den Tieren dorthin schleppen lassen müsse, wo es ihnen gefalle. Die Neigung der Tiere, einander zu zerbeißen, sich zu bekämpfen und aufzufressen, vereinfache die Lage des Menschen nicht. Sinnliche Ausschweifung der Begierlichkeit gelte von alters her als tadelnswert, weil sie dem großen, bösen und vielgestaltigen Ungeheuer im Bauch allzu freies Spiel erlaube. Wer die Tiere in sich nicht durch Schwelgereien stärke, sondern die Nahrung der Wissenschaften ehre, lasse sich beim Unterhalt seines Körpers nicht von Lust und Unlust leiten. Bei der Regulierung von Körperstärke, Gesundheit und Schönheit solle Vernunft den Ton angeben, damit keines der drei Seelenvermögen in Folge von Übermaß oder Mangel aus der ihm zuträglichen Stellung verrückt werde.470 Die Verfassung im Inneren des vernünftigen Menschen sei eine Richtschnur für den Umgang mit dem Körper und für den Erwerb von Reichtum und Ehren. Zur Befreiung der Vernunft von störenden Emotionen sind nicht nur gastrale, sondern auch intellektuelle Schwelgereien zu vermeiden. Platons Überlegungen zur passenden Seelendiät fußen auf Beobachtungen im Bereich der körperlichen Ernährung.471 Die Verdauungsmetapher verbindet die menschliche Seelenverfassung und den Staatsauf bau in ihrem organischen Auf bau unmittelbar und konkret. Die drei Stände des platonischen Staates sind den drei Teilen der Seele zugeordnet. Zu ihrer Unterscheidung trägt die unterschiedliche Nahrung, die sie während des Reifungsprozesses erhalten, wesentlich bei. Die Aufgaben eines philosophischen Staatsmannes ähneln den Aufgaben eines Diätikers.472 Dabei sind wiederum Körper und Seele betroffen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Annahme einer Bindung zwischen »nachahmenden Künsten« und dem unteren Seelenteil. Laut Platon ist Nachbildnerei etwas Schlechtes, das sich mit Schlechtem befasse und Schlechtes erzeuge.473 Die grundlegende Ähnlichkeit zwischen Produkten von Kunst und gastraler Verdauung legt er nahe, indem er unsittliche Bilder 469 | Vgl. Platon, Politeia, IX, 588. 470 | Vgl. ebd., X, 591. 471 | Vgl. ebd., VI, 491. 472 | Vgl. Baudy, 1981, S. 19N; vgl. Platon, Politeia, IX, 579. 473 | Platon, Politeia, X, 603b.
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als schlechtes Futter bezeichnet,474 das geeignet sei, in den schlechten Teilen der Seele wilde Gefühle zu nähren.475 Wie die Wirkung von Nahrung muss sich die Wirkung von Kunst nicht auf die Seele beschränken. Laut Platon können Nachahmungen auch Körper, Sprache und Gesinnung verändern.476 Murdoch spielt mit der Idee einer körperlichen Infektion durch die Rolle, die wir spielen oder bewundern.477 Platons Warnungen vor schädlicher Nahrung478 erhalten hier eine politische Bedeutung, insofern gesetzliche Maßnahmen gegen die Verbreitung immaterieller Seelengifte in Bild und Wort zur Stärkung der idealen Republik gefordert werden. Die mit gestörter Verdauung verbundenen Probleme, gesundheitliche Schäden, soziale Unzufriedenheit, Verteilungsungerechtigkeit u.a. scheinen eine Unterdrückung entbehrlicher Ernährungstriebe im Sinne Platons zu rechtfertigen. Problematisch bleibt allerdings die Aufspaltung der Verdauung in ein zur Erhaltung des Körpers notwendiges Übel und ein zur Entfaltung der Seele notwendiges Gut. Tatsächlich ist die Entgegensetzung von körperlicher und seelischer Speise ja auch von Platon nur partiell durchgeführt, da die Entfaltung der seelischen Kräfte – zumindest für die Dauer ihrer irdischen Existenz – von einer passenden körperlichen Diät abhängig bleibt. Platon zielt dabei weniger auf einen gottähnlichen Zustand der Bedürfnislosigkeit im Sinne von Demokrit als auf die Freude an bleibender Füllung. Er setzt körperliche und seelische Lustzustände in Beziehung, etwa indem er die Unlust eines durstigen bzw. ausgeleerten Körpers mit der freudvollen Erinnerung an eine ursprüngliche Fülle vergleicht. Die Lust an der Fülle hat dabei eine positive Bedeutung, insofern ein durstiger Körper das Wissen um diese Freude nicht aus seinem eigenen Zustand der Entleerung gewinnen kann, da diese Freude erst durch die seelische Fähigkeit zur Wiedererinnerung an eine vorhergehende Erfülltheit ermöglicht wird.479 Mit der Fähigkeit zur Erinnerung an eine ursprüngliche Erfülltheit – Voraussetzung für seine reine Kontemplationslust – bereitet Platon einen Aspekt der Vergegenwärtigung vergangener Fülle in der epikureischen Zustandslust vor.480 Platons Haltung gegenüber gastraler Verdauung ist also nicht rein ablehnend. Das unterstreicht er besonders im Timaeus, wo er sie als Voraussetzung für Liebe zur Wissenschaft und zur Kunst erklärt. Auf den ersten Blick kann die Verbindung zwischen gastraler Verdauung und Wissenschaft überraschen. 474 | Vgl. ebd., II, 401bc. 475 | Vgl. ebd., IX, 605b. 476 | Vgl. ebd., III, 395d. 477 | Vgl. Murdoch, 1977, S. 5. 478 | Vgl. Platon, Protagoras, 314ab, s.o. 479 | Vgl. Platon, Philebos, 34. 480 | Vgl. Baudy, 1981, S. 28.
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Im Seelenmodel des Timaeus spielt der Bauch eine ähnlich niedere Rolle wie in dem aus der Republik bekannten Modell (siehe oben). Allerdings bereichert er das Modell durch manche detaillierte Erklärung. Den Sitz der ewigen, unsterblichen Teile der Seelenvermutet er weiterhin in den Köpfen von Menschen. Die vergänglichen, todgeweihten Teile siedelt er immer noch in der Rumpfgegend an, dort, wo auch die beängstigenden, aber unvermeidlichen Emotionen hausen: Lust, Schmerz, Ungeduld, Angst, Wut und Hoffnung. Um unseren unsterblichen Seelenteil gegen die Vergiftung von unten zu schützen, hätten die überirdischen Schöpfer unsere Köpfe durch Nacken vom restlichen Körper getrennt. Der sterbliche Abschnitt unserer Seelen im Rumpf sei seinerseits zweigeteilt. Über dem Diaphragma lokalisiert Platon den besseren Teil, den schlechteren darunter.481 Die guten Eigenschaften der unteren Seelenvermögen, etwa Mut und Siegeswillen, seien nahe beim Kopf eingerichtet worden, um der Vernunft dienlich zu sein.482 Im oberen Teil des Rumpfes ringe der ehrbegierige Teil der Seele tapfer und mutig im Auftrag der Vernunft. Er sei bemüht, die unter ihm drängenden Begierden im Zaum zu halten. Platon ›nobilitiert‹ das Affektgeschehen in der Brust, indem er den ursprünglich als eine destruktive Kraft empfundenen Zorn mit Mut und Scham vermählt.483 Das Herz als Statthalter solle mit dem Blut die Befehle der Vernunft in alle Zonen des Körpers pumpen. Dass dies zu einer aufreibenden Arbeit werden könnte, hätten die Götter geahnt und dem Herzen für den Fall allzu großen Zorns angesichts der Zumutungen der Begierden die Lunge als ›Kühlmittel‹ zur Seite gegeben. Die niedrigste Begierde, der Appetit auf Nahrung und Getränk, sei mit anderen Bedürfnissen des Körpers unter dem Diaphragma zusammengebunden worden wie ein wildes Tier, das aber mit der Seele verbunden bleiben und ernährt werden müsse, damit der sterbliche Körper überhaupt existieren könne:484 »Denjenigen Seelenteil aber, dessen Begehren auf Speise und Trank sowie auf alles gerichtet ist, dessen Unentbehrlichkeit für ihn in der Natur des Leibes begründet ist, verlegten sie in die Gegend zwischen dem Zwerchfell und der durch den Nabel bezeichneten Grenzlinie, indem sie diesen ganzen Raum zu einer Art Krippe für die Ernährung des Körpers machten. An diesen Raum ketteten sie denn diesen Seelenteil wie ein wildes Tier, dem man aber wegen seiner Untrennbarkeit von dem Ganzen Nahrung gewähren müsste, wenn überhaupt ein sterbliches Geschlecht entstehen sollte.« 485
481 | Vgl. Platon, Timaeus, 69c-e. 482 | Vgl. ebd., 70c-e. 483 | Schroeder, 2002, S. 44. 484 | Platon, Timaeus, 70c-e. 485 | Ebd., 70cd.
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Das steht im Zusammenhang mit Beschreibungen zur Funktion verschiedener Verdauungsorgane, die Nahrung im Wechselspiel von Hitze und Luft auflösen. Dem Magen werden dabei tierische Züge zugeschrieben.486 Er hätte gar keinen Anteil an Meinung oder Vernunft, sondern nur an Lüsten und Gefühlen, angenehmen oder schmerzhaften, sei ganz passiv und ohne Fähigkeit zur Unterscheidung oder zur Reflexion seiner eigenen Erfahrungen.487 Der nach körperlicher Speise verlangende Seelenteil erinnert Platon an ein leckes Fass, das unselige Menschen mit lecken Sieben zu füllen trachten.488 Weil der niedere Teil der Seele dem göttlichen Logos nicht gehorche, sich aber von Bildern und Phantasien bezaubern lasse, sei ihm die Leber als eine Art Agent der oberen Seelenteile beigestellt worden, um ihn bei Tage und bei Nacht zu lenken. Der Verstand beherrsche den Unterleib, indem er ihm über die Leber nicht nur einschüchternde Bilder vorführe, sondern auch Bilder der Freude und Ruhe, die uns Sterblichen im nächtlichen Schlummern angenehme Träume bereiten.489 Dabei werde die Leber von den Nieren unterstützt. Diese seien für die Seele das, was ein Schwamm für einen Spiegel sei. Sie saugten den Schmutz auf, der die Leber durch unsaubere Nahrung erreiche.490 Gastrale Verdauungsvorgänge könnten schlechte Einflüsse der materiellen Welt auf die Seele bereinigen! Eine positive Wirkung der Verdauung für unsere seelische Entwicklung erscheint, etwas überraschend, auch ausgerechnet in Platons Erklärungen zum Darm, der von der obersten Seelenetage ja noch weiter entfernt liegt als manch anderes Organ der Verdauung. Seine Artgenossen hält Platon für unmäßig, unersättlich und gefräßig. Der verdauungsphilosophische Clou besteht nun darin, dass Platon hieraus eine positive Funktion der Verdauungsvorgänge ableitet. Weil unsere himmlischen Schöpfer um die Zügellosigkeit ihrer Kreaturen wussten, handelten sie bei der Gestaltung der Verdauung gleichermaßen vorausschauend und nachbessernd. Um unser unmäßiges Verlangen nach Speise und Trank zu beruhigen, sei im Unterleib ein Lagerraum für überflüssige Nahrung geschaffen worden. Durch die Möglichkeit zur Lagerhaltung könne eine allzu schnelle Passage der Nahrung verhindert werden. Ohne die Därme als Nahrungsspeicher wäre unser Appetit unstillbar. Eine stetige Suche nach Nahrung wäre notwendig. Die durch die Verdauung verursachte Verzögerung der Ausscheidung von Nahrung befreie uns von den Bedürfnissen stetiger Völlerei. Damit sei die Grund486 | Vgl. ebd., 77e-79a. 487 | Vgl. ebd., 78b-c. 488 | Vgl. Platon, Georgias, 493b. 489 | Vgl. Platon, Timaeus, 71d. 490 | Vgl. ebd., 72c.
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lage geschaffen zur Beschäftigung mit Dingen von unmittelbarer Bedeutung für das Heil unserer Seele. Die Möglichkeit zur Beschäftigung mit Philosophie und zum Auf bau von Kultur verdanken wir laut Platon der Verdauung. »Die Bildner unseres Geschlechts erkannten nämlich die Unmäßigkeit im Essen und Trinken voraus, welche bei uns herrschen würde, so dass wir aus Schlemmerei viel mehr, als hinlänglich und notwendig wäre, zu uns nehmen würden. Damit also nicht ein schneller Untergang des menschlichen Geschlechts eintrete und es hinstürbe, noch ehe es vollendet wäre, bildeten sie, um dem vorzusehen, als einen Behälter zur Aufnahme der überschüssigen Speisen und Getränke die sogenannte untere Bauchhöhle und legten in ihr die Windungen der Gedärme im Kreise herum, damit nicht ein schnelles Hindurchgehen der Nahrung durch diese Höhlung dem Körper schnell wieder das Bedürfnis nach neuer Nahrung aufnötigte und so durch Erzeugung unersättlicher Fressgier das ganze Geschlecht der Liebe zur Wissenschaft und Kunst entfremde und taub mache gegen die Stimme des Göttlichsten in uns.« 491
Dieses Zugeständnis an die Verdauung ist beachtlich. Sie wird hier nicht allein als Voraussetzung des biologischen Lebens behandelt, sondern als Ausgangspunkt für die menschliche Entfernung vom tierischen Dasein und als eine Grundlage kultureller Aktivität. Sie bringt keine Gefahr unersättlicher Fressgier mit sich, sondern ist ganz im Gegenteil ein Mittel zu deren Bewältigung! Die Freude an der Füllung des Bauches erscheint bei Platon insofern als vernünftig, als angemessene Ernährung des Leibes der Entfaltung der Seele förderlich sein kann. Die Pflege des Leibes hat Anteil an der Wahrheit, auch wenn er gegenüber dem Anteil der Pflege der Seele gering erscheint.492 Die Auszeichnung der Funktionen des Darms als notwendige Bedingung des Philosophierens verdeutlicht das philosophische Interesse, Wechselwirkungen zwischen Bauch und Kopf zu ergründen. Verdauungsprobleme können die Harmonie des vernünftigen Umgangs mit der Welt stören: »Schließlich ist auch die Seele von dem verstärkten Interesse am Körper angesteckt worden, wie wir an der gewaltigen Zunahme neuer körperorientierter Psychotherapien und anderer somatischer Disziplinen erkennen können, deren Ziel geistige Gesundheit und Glück sind.« 493
Der Austausch zwischen Kopf und Bauch trägt zur seelischen Entwicklung positiv bei. Das Wohlgefühl des sich füllenden Bauches steht rationalen Einsichten nicht in jedem Falle entgegen, sondern ist – zumindest für eine an 491 | Ebd., 72e-73a. 492 | Vgl. Platon, Politeia, 585d1-4. 493 | Shusterman, 2005, S. 142.
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körperliche Existenz gebundene Seele – eine Bedingung der Möglichkeit philosophisch motivierter Überwindung ihrer körperlichen Bindungen. Das platonische Bild des Geistes scheint insofern problematisch, als es dazu tendiert, die Abhängigkeit zwischen gastraler und gedanklicher Verdauung einseitig aufzufassen und die Möglichkeiten einer gastralen Selbstorientierung zu unterschätzen. Aber nicht alles, was in der Welt erscheint, ist einfach verdaulich und die gastrale Verdauungslust findet ihre Grenzen mitunter auch ohne gedankliche Zügel. Zur Korrektur gedanklicher Entgleisungen bei der Bestimmung passender Diäten sind die Freuden an gastraler Verdauung wohl unersetzlich.
D iäte tische F reiheit bei D iogenes Überlegungen zur peinlichen Vermeidung von Flatulenzen durch angemessene Diät oder zur Gefährdung reiner Lust durch Fraß und Brunst dürften Diogenes von Sinope (* vermutlich um 410 v. Chr. in Sinope; † vermutlich 323 v. Chr. in Korinth) fremd gewesen sein. Seine bissigen Kommentare zu Welt und Mitmenschen öffnen dennoch ein neues Kapitel des philosophischen Umgangs mit dem Bauch. Seine zentrale verdauungsphilosophische Frage zielt nämlich nicht auf das ab, was er essen soll, sondern darauf, ob überhaupt etwas Essbares zu finden ist. Diese Frage ist sicherlich nicht neu und keineswegs originell in einer Welt, in der Hunger als Teil der menschlichen Lebensbedingungen angesehen wird. Sie führt den philosophischen Umgang mit Speise hinaus aus den Kreisen der erhabenen Priester und Weisen zurück auf die Straße, dorthin, wo die gemeinen Menschen sich zum Kampf um ihr tägliches Essen gezwungen sehen. Dabei ist Diogenes weit entfernt von einer philosophischen Rechtfertigung von Fressorgien. Die menschliche Intelligenz stellt er in unmittelbaren Zusammenhang mit den Speisegewohnheiten. Auf die Frage, warum die Athleten stumpfsinnig seien, antwortete er: »Weil sie aus Schweine- und Ochsenfleisch aufgebaut sind.«494 Die Verteidigung seines Ernährungsstils fügt sich unmittelbar in seine Liebesschwüre an die Freiheit. Als Platon ihm vorhielt, er bräuchte keinen Kohl zu waschen, hätte Diogenes sich nur dem Tyrannen Dionysos fügsam gezeigt, soll er ihm entgegnet haben: »Und hättest du dich zum Kohlwaschen herabgelassen, so hättest du dich nicht Dionysos dienstbar gemacht.«495 Schmeichelreden nannte er Honigschlingen und hatte den Zusammenhang zwischen Sprache und Speise also klar im Blick.496 494 | Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 51. 495 | Ebd., VI, 58. 496 | Vgl. ebd., VI, 51.
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Hunger scheint Diogenes gut gekannt zu haben. Zu seiner Vermeidung setzt er sich jedenfalls ungeniert über Konventionen hinweg. So soll er seinen Hunger dort befriedigt haben, wo er ihn plagte, etwa öffentlich auf dem Markt.497 Berühmt-berüchtigt wurde sein Hinweis auf die Übermacht des Verlangens nach Speise gegenüber sexuellen Begierden: »Als er einst auf dem Markte Onanie trieb, sagte er: ›Könnte man doch den Bauch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‹«498 Diogenes scheint die tierischen Seiten des Menschlichen positiv bewertet und keine Abspaltungen des Niederen oder Peinlichen gestattet zu haben.499 Den Magen nannte er die Charybdis des Lebens.500 Das Bild scheint klar: Der mythologischen Überlieferung nach saugte das Ungeheuer Charybdis das Wasser des Meeres dreimal am Tage ein – gemeinsam mit allem, was in Reichweite darauf herumschwamm – um es anschließend wieder auszuspeien. Im Zustand des Hungers saugt der Magen alles in sich hinein, was unser Leben unterhält. Oder soll eher gesagt werden, dass alles Lebendige letztlich in einem Magen sein Ende finden wird? Das Bild des ungeheuren Magens – wir erinnern uns an die entsprechenden Darstellungen in der Thora – wird hier entscheidend bereichert, indem der Magen ursprünglich nicht als Monster erscheint – war die Charybdis doch eine hübsche Najade, bevor Zeus sie in ein Ungeheuer verwandelte. Als Tochter von Gaia und Poseidon muss sie aber über enorme Kraft verfügt haben, denn noch vor der Verwandlung soll sie Strände, Wälder und ganze Städte in das feuchte Reich ihres Vaters gezogen haben. Den Umgang mit den monströsen Kräften des Magens wollte auch Diogenes durch Askese erleichtern. Übung mache das Schwerste leicht, nur nachlassen dürfe man dabei nicht, wobei Diogenes von einer Einheit von Leib und Seele ausging.501 Wir dürfen annehmen, dass Diogenes zur erleichternden Askese einfache Ernährung bevorzugte. Die Götter hätten das menschliche Leben leicht eingerichtet, aber auf der Suche nach Leckerbissen, Wohlgerüchen und Ähnlichem sei das in Vergessenheit geraten.502 Bedürfnislosigkeit sei ein göttliches Privileg und wer nur wenig benötige, ähnle den Göttern. In diesem Sinne muss Feinschmeckerei das Streben nach Armut behindern, die Diogenes für eine Vorsehung der Tugendhaftigkeit hielt.503 497 | Vgl. ebd., VI, 58. 498 | Ebd., VI, 69. 499 | Sloterdijk vermutet dahinter ein frühes ökologisches Bewusstsein für den Wert von Abfällen, die nun keine niedere oder lästige Nebenerscheinung mehr seien, sondern ein Grundprinzip. Vgl. Sloterdijk, 1990, S. 378. 500 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 51. 501 | Vgl. ebd., VI, 11 und Schulz-Falkenthal, 1991, S. 299. 502 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 44. 503 | Vgl. Göttling, 1851, S. 53.
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Von der Erklärung ›Nach richtiger Einsicht ist Alles, in Allem, durch Alles‹, die Diogenes zugeschrieben wird, wissen wir nur durch seine Anwendung auf das tägliche Brot: Im Brot sei Fleisch und im Gemüse sei Brot, durch unsichtbare Poren finden Partikel aus allen Körpern zueinander.504 In jedem Bissen können wir deshalb alles genießen, wenn wir es nur zu schmecken verstehen, denn die Wirkung aller Speise sei dieselbe: Sie mache satt. Auch den Genuss von Menschenfleisch zieht Diogenes dabei in Betracht. Der Magen könne mit wenig zufriedengestellt werden, wenn man ihn nur recht einübe und nicht nachlasse ihm zuzusetzen.505 Zur Sättigung mag ihm als geeignet erschienen sein, was einmal die Passage des Gaumens überwunden habe. Es wurde vermutet, dass die Zahl seiner Schüler aufgrund verdorbener Mägen recht klein geblieben sei.506 Die Motivation seiner Versuche, sich von Vegetabilien – u.a. Lupinen – und rohem Fleisch von Land- und Meerestieren zu ernähren, könnte die Ablehnung des Gebrauchs von Feuer gewesen sein. Seine eigene Verdauung dürfte Diogenes die Grenzen seiner Versuche aufgezeigt haben, insbesondere soll sie sich gegen den Verzehr von rohem Fleisch gewehrt haben,507 eine Vergiftung infolge des Genusses von rohem Tintenfisch wird gar als mögliche Todesursache genannt.508 Diese Grenzen zeigen sich auch in seinem Verlangen nach Armut, die ihm im Alter als ein Übel erscheint. Auf die Frage, ob die Weisen Kuchen essen, soll er geantwortet haben: »Just wie die übrigen Menschen.«509
P sychische A k tivitäten bei A ristoteles Für die philosophische Bedeutung der Verdauung ist Aristoteles (* 384 v. Chr. in Stageira; † 322 v. Chr. in Chalkis) ein Kronzeuge, denn er unterstreicht den ursprünglichen Bezug zwischen der Fülle des Magens und dem erfüllten Leben.510 Die Verdauung beinhaltet bei Aristoteles so manches Problem.511 Seine Überlegungen zur Verdauung betreffen zumeist die Gesundheit und ihre Aus504 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 73. 505 | Vgl. Göttling, 1851, S. 52. 506 | Vgl. ebd., S. 53. 507 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 34. 508 | Vgl. ebd., VI. 76, Athenaeus, Deipnosophists (Deipn.), 8.341. 509 | Diogenes Laertios, Philosophen, VI, 56. 510 | Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1173b.13ff. (»ἡ δόξα δ᾽ αὕτη δοκεῖ γεγενῆσθαι ἐκ τῶν περὶ τὴν τροφὴν λυπῶν καὶ ἡδονῶν: ἐνδεεῖς γὰρ γενομένους καὶ προλυπηθέντας ἥδεσθαι τῇ ἀναπληρώσει«). 511 | Sicherlich stammen nicht alle in den Problemen angestellten Überlegungen in den entsprechenden Schriften von ihm selbst, respektieren aber seine Weise
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wirkungen auf das Verhalten von Menschen. Etwa seine Überlegungen zum Mundgeruch: Warum haben fastende Menschen stärkeren Mundgeruch als jene, die gegessen haben?512 Sollte es sich nicht genau umgekehrt verhalten? Kommt es daher, dass die warme Luft bei leerem Magen den Atem und die Ausscheidungen faulig werden lässt? Die Luft werde wärmer, das hält Aristoteles für bewiesen, weil Fasten zu Durst führe, Essen den Geruch aber vermindere, weil der Geruch der Getränke schwächer sei als der Geruch der Speisen. Die Wärme des Essens bezwinge die Wärme des Durstes. Sie übersteige die Wärme des Körpers und nehme ihr damit die Wirksamkeit. Der stechende Geruch von Exkrementen wird zum Ausgangspunkt von Überlegungen zu Gestank.513 Warum riecht Urin stärker, wenn er lange im Körper verblieb, Kot dagegen weniger? Liegt es daran, dass Kot mit der Zeit austrocknet, während Urin sich verdickt und seine Ähnlichkeit mit dem eingenommenen Getränk dabei verliert?514 Wie kommt es, dass manche Speisen schlecht riechen, aber wenig Geschmack haben? Die durch gestörte Verdauung hervorgerufenen Flatulenzen riechen ebenfalls schlecht. Einerseits mögen wir über die kindlich anmutende Verwunderung schmunzeln, die aus solchen Erklärungen zu sprechen scheint. Andererseits macht sich hier bester Menschenverstand auf die Suche nach schlüssigen Erklärungen für die wunderbare Welt der Verdauung. Die vielschichtigen Rätsel berühren hier derart unterschiedliche Bereiche, dass die Suche nach stimmigen und umfassenden Erklärungen aller Facetten aussichtslos erscheint. So ist es nicht überraschend, wenn manche Erklärung letztlich nicht vollkommen befriedigend ausfällt, das Problem betrifft nicht nur Aristoteles, sondern die Erforschung der Verdauung allgemein. Gerade in der Gegenwart liefert die Wissenschaft zu Fragen der Verdauung nicht immer eindeutige oder intuitiv leicht nachvollziehbare Antworten.515 des Philosophierens weitgehend, jedenfalls nach Ansicht fachwissenschaftlicher Spezialisten. 512 | Vgl. Aristotle, Problems, XIII,7. 513 | Sicherlich ist Aristoteles nicht der Autor der Texte über die Gerüche, die vermutlich von einem unbekannten Aristoteles-Kenner aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus verfasst wurden. Vgl. Louis, 1993, S. 33. 514 | Vgl. Aristotle, Problems, XIII,1. 515 | Stellvertretend seien einige Fragen aus dem Forschungsbereich der Gastroenterologie genannt: »Was ist die Bedeutung von Zytokinen und T-Zell-Homing für die Untersuchung von funktioneller Dyspepsie?«, »Welchen Stellenwert hat die endoskopische Mukosaresektion bei der Entfernung von großen, sessilen Kolonpolypen?«, »Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Serumkonzentration der Aminosäure Cystein, die an zahlreichen immunmodulatorischen, antioxidativen und antikarzinogenen Stoffwechselvorgängen beteiligt ist, und dem Ösophagus- und Magenkarzinomrisiko?«
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Für die philosophische Betrachtung ist das aber insofern kein Problem, als sich Kopf und Bauch nicht immer nach passenden Antworten sehnen, sondern sich auch über manche treffende Frage freuen können. In diesem Sinne führen gerade die Überlegungen von Aristoteles zu jenen Ursprüngen, aus denen heraus sich der beständige Fortschritt des Wissens um funktionierende Verdauung entwickelt. Speziell gilt das für die medizinische Forschung, deren Emanzipation aus dem Kanon des philosophischen Denkens zu Aristoteles’ Lebzeiten langsam fortschritt. Durchaus vergleichbar mit den hippokratischen Überlegungen zur Verdauung, erscheinen in seinen Schriften Fragen zum Flüssigkeitshaushalt: Warum wirken manche Medikamente abführend auf die Blase, nicht aber auf den Darm? Warum wirken manche Medikamente abführend auf den Darm, nicht aber auf die Blase? Die Antwort unterstreicht den Einfluss des Bauches auf geistige Kreativität: In der Blase befinden sich Flüssigkeiten, die im Magen nicht verdaut wurden. Diese Flüssigkeiten bleiben nicht in der Blase, sondern werden ausgeschieden, ohne verändert zu werden. Erdartige Substanzen führen zur Entleerung des Magens.516 Gerade die Anwendung allgemeiner Einsichten zu Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit auf die Verdauung stellt das Gehirn vor komplexe Aufgaben, deren Lösung mal mehr, mal weniger überzeugend gelingt. Soviel scheint klar: Rationales Interesse für die Funktion der Verdauung ist eine bleibende Herausforderung für die geistige Durchdringung des Seienden. Der aristotelische Wissensdurst scheint schier unstillbar. Warum bewegen sich manche Medikamente in den oberen Magenteil, andere in den unteren? Liegt es daran, dass mache warm sind und andere kalt?517 Warum wirken manche Medikamente abführend, während andere – obwohl sie bitterer, strenger sind oder andere, ähnliche Qualitäten besitzen – nicht abführend?518 Liegt es daran, dass ihre abführende Wirkung nicht auf den Qualitäten beruht, sondern darauf, dass sie nicht verdaut werden? Ist es nicht wert zu erwägen, ob alles, was exzessiv Wärme oder exzessiv Kälte hervorruft, auch in geringer Masse der Verdauung widersteht? Aristoteles nimmt an, dass Stoffe, die der tierischen Wärme widerstehen, sich leicht in den verschiedenen Magenteilen verteilen und dort als Medikamente wirken. Gelangen sie in den Magen, werden sie von dort aus wie Nahrung in die Blutadern weitergeleitet. Insofern sie der Verdauung widerstehen, können sie auch Verstopfungen beseitigen, die ihren Weg behindern. Das werde dann Purgation genannt. Honig, Milch Forschung aktuell, gesichtet 10.01.2012. Populäre Darstellungen wie Enders, 2014, sind leider die Ausnahme. 516 | Vgl. Aristotle, Problems, I, 40. 517 | Vgl. ebd., I, 41. 518 | Vgl. ebd., I, 42.
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und Ähnliches sollen reinigend wirken; wenn sie sich aufgrund ihrer Masse nicht vermischen, auch abführend. Nahrungsmittel seien von Medikamenten zu unterscheiden, weil sie nicht aufgrund von Säure, Bitterkeit und schlechtem Geruch reinigten, was für Medikamente charakteristisch sei. Was durch natürliche Verdauung in den Körper gelange, sei Nahrung, was der Körper nicht bewältige und was durch Wärme und Kälte Störungen verursache, sei ein Medikament.519 Aber warum wirken bittere und übel riechende Medikamente in der Regel reinigend? Weil sie schwer verdaulich sind? Werden sie in zu großer Dosis verabreicht, führen sie zum Tod. Führen schon kleine Mengen zum Tod, werden sie Gifte genannt.520 Wie schon Platon das Diaphragma zur Scheidewand zwischen einem unteren und einem mittleren Teil der Seele erklärte, vermutet auch Aristoteles hier einen Schutz der sensitiven bzw. empfindenden Seele im Herzen gegen die Ausdünstungen der in den Verdauungsorganen wirkenden vegetativen Seele.521 Wichtige Ansatzpunkte für die Untersuchung anthropologischer Gegebenheiten findet Aristoteles im Tierreich. Warum haben Menschen feuchtere Exkremente als Pferde? Liegt es daran, dass Pferde trockenere Nahrung zu sich nehmen? Liegt es daran, dass Menschen viel flüssige Nahrung zu sich nehmen? Laut Aristoteles entstehen alle Exkremente aus Nahrung und durch viel Nahrung entsteht viel Exkrement. Außerdem fressen manche Tiere flüssigere Nahrung als andere. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, das erstere von Natur aus trockener sind, letztere feuchter. Die von Natur aus Trockeneren verlange es nach feuchter Nahrung, weil ihnen diese stärker fehle, und jene, die von Natur aus feucht sind, ziehe es in Richtung trockener Nahrung, denn sie bräuchten diese dringender.522 Ein anderes Beispiel, die Zähne betreffend: Warum leben Menschen mit porösen Zähnen nicht lange? Kann es daran liegen, dass langlebige Wesen mehr Zähne haben? Männer hätten mehr Zähne als Frauen. Widder mehr als weibliche Schafe. Menschen mit porösen Zähnen ähneln Wesen mit wenigen Zähnen.523 Sicher steht die Verdauung auch im Zusammenhang mit der Fortpflanzung. Laut Aristoteles entsteht Samen in der letzten Verdauungsphase.524 Genau genommen handelt es sich um Speise, die noch nicht assimiliert wurde, bzw. um Blut, das sich zwar schon in den Gliedern verteilt hat, aber noch nicht 519 | Vgl. ebd. 520 | Vgl. ebd., I, 47. 521 | Vgl. Lloyd, 1995, S. 153. 522 | Vgl. Aristotle, Problems, X, 59. 523 | Vgl. ebd., XXXIV,1. 524 | Vgl. Reynolds, 1999, S. 9; Aristoteles, De generatione animalium (De gen. anim.), 725a11-21, 725a24-25, 72a26-28, 726b1-5.
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von ihnen aufgenommen wurde. Weil Samen aus der Speise stammt, produzieren dicke Männer, die alle überflüssige Speise in Fett verwandeln, weniger Samen und haben weniger Bedarf zu koitieren als dünne.525 Menstruationsblut habe den gleichen Ursprung wie Samen. Es sei nur nicht vollständig gekocht, weil der weibliche Körper kälter sei als der männliche.526 Solche und ähnliche Einlassungen entspringen einem besonderen Interesse für drei grundsätzliche Funktionen des Lebens: die Aufnahme von Speise, die Ausscheidung von Exkrementen und die Kontrolle der vitalen Gesamtfunktion.527 In diesem Zusammenhang untersucht Aristoteles, ob bestimmte Gruppen niederer Lebensformen Exkremente produzieren, indem er versucht, Spuren von Verdauungsgasen zu identifizieren. Im Hinblick auf blutlose Lebensformen diskutiert er die Funktion der Verdauung, sagt aber wenig oder gar nichts zu Atmung oder Hirnfunktion, wobei er keinen Begriff von einem Nervensystem hat.528 Sein philosophisches Interesse an diesen Fragen begleitet die Einsicht, dass freier Wille und rationale Entscheidung nur unter entsprechenden physiologischen Voraussetzungen möglich sind.529 Diese Voraussetzungen beschreibt Aristoteles als einen Zustand des Gleichgewichts, Eukrasia, das geistige Vorgänge überhaupt erst ermöglicht. Geistiges Erleben und körperliche Aktivität wirken zusammen. Das bemerkt er in Hinblick auf Angst: Warum dreht sie uns den Magen und die Blase um?530 Versucht Wärme der Angst zu entfliehen? Bewirkt die Angst im Inneren des Körpers in der Umgebung der Blase Wärme und löst damit ihre Funktion aus? Dafür spräche die wärmende Wirkung von Diuretika wie Absinth und Dill. Angst verursache rektale Entweichungen, weil sie Blut und Wärme nach unten streben lasse und damit das Nachlassen des Bauches531 und Flatulenzen verursache.532 Die Seele hat auf diese körperlichen Vorgänge insofern Einfluss, als Aristoteles in ihr ein für die Funktion der Verdauung grundlegendes Prinzip vermutet. Die verschiedenen an der Verdauung beteiligten Organe: Mund, Zähne, Lippen, Zunge, Magen, Leber, Nieren, Blase u.a. dienen der ersten Seelenfunktion.533 Wenn die Seele das Prinzip sei, das die Assimilation von Nahrung in 525 | Vgl. Aristoteles, De gen. anim., 725b31-34. 526 | Vgl. ebd., 738a34-36. 527 | Vgl. Lloyd, 1995, S. 155. 528 | Vgl. ebd. 529 | Vgl. Eijk, 2007, S. 29; vgl. Tracy, 1969. 530 | Vgl. Aristotle, Problems, XXVII, 10. 531 | Vgl. ebd., XXVII, 3. 532 | Vgl. ebd., XXVII, 9. 533 | ›ψυχὴ θρεπτική‹ (›Psychē threptikē‹, lat. ›anima vegetative‹), vgl. Lloyd, 1995, S. 149. Kein Teil des lebendigen Körpers sei unbeseelt, vgl. De gen. anim.
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den Körper erlaube, so bedeute das nicht, dass sie die Nahrung in irgendeiner Weise verändere.534 Eher sei anzunehmen, dass das Lebewesen durch seine seelisch bzw. natürlich gegebenen Eigenschaften die Nahrung bzw. die Nahrung aufgrund ihrer Beschaffenheit das Lebewesen verändere. Nichts weist zunächst darauf hin, dass die Vorgänge der Verdauung sich nicht rational verstehen und erklären lassen. Dennoch beschränkt sich die Verdauung nicht auf einen rein materiellen Prozess, der künstlich nachvollzogen werden kann. Das liegt aber nicht an einer mysteriösen Qualität der physischen Abläufe, sondern daran, dass Verdauung als künstlicher Prozess anders zu beschreiben wäre als Vorgänge in einem Lebewesen, sowohl in den Details als auch im Großen und im Ganzen.535 Was die Verdauungsvorgänge zu dem macht, was sie sind, ist die spezielle Beschaffenheit des zur Verdauung befähigten Organismus. Jeder Verdauungsprozess ist ein natürlicher bzw. physischer Prozess, der genau dem entspricht, was ein Lebewesen dank seiner formalen bzw. seelischen Eigenschaften leistet.536 Aristoteles spricht von der Seele wie von einer Reihe von Fähigkeiten des Organismus, bestimmte für seine Art charakteristische Dinge zu tun. Die spezielle Natur eines Organismus ist in dem Sinne bedeutungsvoll, wie zum Beispiel Baukunst bei der Errichtung eines Gebäudes von Bedeutung ist.537 Gewisse Aspekte des Geschehens könnten wir auch ohne Erklärungen verstehen, so wie wir nicht jede spezifische Eigenheit oder die umfassende Bedeutung eines Vorgangs kennen müssen, um zu begreifen, dass etwas vor sich geht. In diesem Sinne versteht Aristoteles die seelische Beschaffenheit, die den Organismus dazu befähigt, Nahrung in genau der charakteristischen Weise zu verarbeiten, in der Organismen seiner Art es eben zu tun pflegen. Wie alle Affekte der Seele habe auch die Verdauung eine materielle und eine formelle Seite. Zur vollständigen Beschreibung der mit Verdauung verbundenen Körpervorgänge seien beide Seiten zu beachten, der materielle Prozess sowie der Ablauf einer natürlichen Gegebenheit.538 Die Psyche sagt uns, was es bedeutet, ein Organismus zu sein, und auch, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, wobei die menschliche Version eine spezielle, menschliche Form der Verdauung beinhaltet.539 Verdauung sei – sowohl bei Mäusen wie auch bei Menschen – eine ebenso psycho-logische Erscheinung wie die Einbildungskraft.540 Durch die Abgrenzung zwischen Bewusstseinszuständen und 534 | Vgl. Frede, 1995, S. 104. 535 | Vgl. ebd. 536 | Vgl. ebd. 537 | Vgl. ebd., S. 105. 538 | Vgl. ebd., S. 106; vgl. Aristoteles, De anima, 403d 26-7. 539 | Vgl. Frede, 1995, S. 114. 540 | Vgl. ebd., S. 116.
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dem Rest der Welt trenne der gegenwärtige Begriff des Geistes den mentalen Eisberg von seiner Spitze.541 Im Sinne von Aristoteles betrifft die Psyche sowohl unsere Ernährung als auch unser Denken. Die Einlassungen zur Verdauung bei Aristoteles unterstreichen eindrucksvoll die Verstrickung zwischen mentalen und physischen Funktionen bei Mensch und Tier. Die körperlichen Aspekte der Wahrnehmung finden ihre Entsprechung in den seelischen Aspekten der Verdauung. Nicht von ungefähr leitet Aristoteles seine Ausführungen zur Seele mit Überlegungen zur Aufnahme und Verdauung von Nahrung ein, denn er erklärt unsere Wahrnehmungen als ein Vermögen unseres Bewusstseins zur Aufnahme und Verarbeitung sinnlicher Eindrücke.542
D ie W urzel des G uten bei E pikur Berührungspunkte zwischen Ernährung und Denken beschäftigen auch Epikur (* um 341 v. Chr. auf Samos; † 271/270 v. Chr. in Athen), der Lust zum Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens erklärt.543 Seinen Begriff der Lust bezieht Epikur weitgehend auf die Freuden am Essen und Trinken. Sexuelle Lust spielt dabei eine untergeordnete Rolle.544 Besonders erhellend ist die Erklärung von Athenaius, mit Epikur sei die Freude des Magens als Ursprung und Wurzel des Guten anzusehen. Alle Weisheit müsse auf den Magen bezogen werden.545 Diese Erklärung entspricht einer Besonderheit der Epikureischen Philosophie: der Wertschätzung instinktiver und natürlicher Sensibilität.546 Jede Lust gilt als wirklich und gut.547 Das ist ein wichtiger Unterschied zu den Lehren Platons, in denen Lust als Übel erscheint, wenn sie bei der Erlangung größerer Lüste hinderlich ist, und Schmerz als Gut, wenn er vor schlimmeren Schmerzen schützt.548 Eine Trennung zwischen der Ernährung von Geist und Körper scheint Epikur nicht angenommen zu haben.549
541 | Vgl. ebd., S. 117. 542 | Vgl. Kosman, 1995, S. 344. 543 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, S. 128. 544 | Vgl. Baudy, 1981, S. 29. 545 | Vgl. Epikur, U409; Athenaeus, Deipnosophists (Deipn.), XII. S. 875. 546 | Vgl. Lalande, 1926, S. 82. 547 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, 129. 548 | Vgl. Platon, Protagoras, 355c-357b. 549 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 77.
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Mit Schmerz, Sühne und Demütigung verbundene Askese ist Epikur fremd.550 Die Sprengkraft seines »theoretischen Dynamits«551 wurde durch polemische und bösartige Auslegungen noch erhöht, wobei den Kritikern in der Regel klar war, dass die Epikureischen Lehren im Grunde auf nicht viel mehr abzielten als auf die Vermeidung von Beschwerden.552 Bekanntlich nennt schon Epikurs philosophischer Biograph, Diogenes Laertios, verschiedene Fälle der Rufschädigung. Verwechslungen zwischen der Position Epikurs und seiner Reputation als hemmungsloser Lüstling waren häufig und oftmals beabsichtigt.553 Dazu haben die Epikureer mit griffigen, aber provokanten Formulierungen zur philosophischen Bedeutung der Verdauungslust ihrerseits beigetragen. So forderte Metrodor von Lampsakos, ein enger Freund Epikurs, seinen abspenstigen Bruder Timokrates dazu auf, alles, was zum glücklichen Leben gehöre, allein nach dem Magen abzumessen. Als Philosoph müsse er sich nicht damit beschäftigen, die griechische Wohlfahrt zu befördern oder Kronen der Weisheit zu erringen. Seine würdigste Bestimmung sei es zu essen und süßen Wein zu trinken, ohne sich den Magen zu verderben.554 Der Bauch sei auf die beste Art zu pflegen: denn hierin läge das höchste Gut. Alle großen und weisen Erfindungen seien in und zu der Absicht gemacht, den Bauch zu befriedigen, oder auch in der Hoffnung, ihm zu frönen und auf eine angenehme Art zu schmeicheln. Epikur bemüht sich nachdrücklich um Entschärfung seines philosophischen Sprengsatzes, etwa wenn er erklärt, dass weder die Lüste der Hemmungslosen noch Trinkgelage, Umzüge, das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und von allem Übrigen, was eine aufwendige Tafel biete, zum lustvollen Leben in seinem Sinne beitrage. Erfordert sei vielmehr ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspüre.555 Nicht alle Philosophen überzeugen solche Erklärungen von der Harmlosigkeit seiner Lehren. Die Epikureische Lobpreisung der Verdauungslust wird verschiedentlich mit Fressbegierde, Sinnlichkeit, Faulheit und Lüsternheit assoziiert.556 Dabei sollte die Erklärung des Bauches zum moralischen Souverän weniger Exzessen Vorschub leisten als daran erinnern, dass Durst und Hunger die Erlangung von Glück und Gesundheit für Körper und Seele behindern. 550 | Vgl. Lalande, 1926, S. 82. 551 | Kenney, 1977, S. 40. 552 | Vgl. Boulogne, 2003, S. 141 u. 154. 553 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 64ff. 554 | Vgl. Plutarch, That Epicurus Actually Makes a Pleasant Life Impossible (Non posse) 2,16; Athenaeus, Deipn., III,12:67. 555 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, S. 131f. 556 | Vgl. Boulogne, 2003, S. 164.
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In diesem Sinne dürfen wir bezweifeln, ob ›wahrer‹ Epikurismus sinnvoll als eine Ethik des kulinarischen Wohllebens ›als einem Guten an sich‹ gedeutet werden kann.557 Jedenfalls hält Epikur Lust und Speise für voneinander trennbar.558 Aber seine Lehren gelten manchen Liebhabern seelischer Erbauung schon deshalb als brenzlig, weil sie der Vermeidung von Hunger eine philosophische Bedeutung beilegen und die Stimme des Fleisches zu Wort kommen lassen: »nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren.«559 Müssen Menschen, die dieser Stimme folgen, sich nicht zwangsläufig wie Schweine benehmen und wahllos in sich hineinstopfen, was ihnen irgendwie verdaulich erscheint? Wir können anführen, dass Epikur die Lust an Speise nicht auf das Abfüllen des Magens reduziert. Im Gegenteil: Bei der Wahl der Speise sollen wir uns nicht an der Menge, sondern an der Lust orientieren, die sie uns spendet.560 Für die philosophische Unterscheidung zwischen Menschen und Schweinen ist dieses Argument allerdings wenig überzeugend, insofern Schweine, die mit ca. 10.000 Geschmacksknospen versehen sind, über einen deutlich besser ausgerüsteten Geschmacksapparat verfügen als Menschen mit ca. 6.000 Knospen.561 Da bei Menschen ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Geschmacksknospen und der Qualität des Geschmackserlebens nachweisbar ist, liegt die Annahme nahe, dass ein durchschnittliches Hausschwein qualitativ feinere Geschmackslust empfindet als wir selbst.562 Allerdings hinkt der Vergleich zwischen Mensch und Schwein. Frei nach Wittgenstein können wir die Lüste anderer Lebensformen eben nicht verstehen.563 Auch die biomedizinische Forschung erachtet Vergleiche der Geschmacksempfindungen verschiedener Arten für problematisch.564 Sicher ist allerdings, dass viele Tiere zur Unterscheidung feinerer Geschmacksnuancen fähig sind als wir Menschen. Ob wir deshalb jedoch einen schlechteren Geschmack haben als Hausschweine oder nicht, ist fraglich. Aber zurück zu Epikur, dessen Philosophie sich ja an Personen richtet. Seine Aufforderung zur klugen Wahl der Speise stellt er in unmittelbaren Bezug zur menschlichen Lebensführung. Zur Entfachung kulinarischer Lust brauche es keine lukullisch bestückte Tafel: »Bescheidene Suppen verschaf-
557 | Vgl. Lemke, 2007, S. 344. 558 | Vgl. Diogenes Laertios, Philosophen, X, 138. 559 | Epikur, Weisungen, S. 33. 560 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, 126. 561 | Vgl. Hellekant, Danilova, 1999. 562 | Vgl. ebd. 563 | Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (PU), S. 568. 564 | Vgl. Hellekant, Danilova, 1999.
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fen ebenso starke Lust wie ein aufwendiges Mahl.«565 Wobei es auch ohne die Suppe geht: »Brot und Wasser spenden höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt.«566 Mit spärlicher Speisung verbindet Epikur überquellende Lust für sein »Körperchen.«567 Dessen ungeachtet erklärt er karge Mahlzeiten nicht zum einzigen Schlüssel der Glückseligkeit. Einschränkungen sind bei ihm kein Selbstzweck, sondern dienen der Vorbereitung auf Zeiten, in denen aufwendige Speisen nicht verfügbar sind.568 Diese Haltung erläutert er damit, dass das Naturgemäße leicht zu beschaffen sei, das Ziellose dagegen nicht. Selbstgenügsamkeit erleichtere die Anforderungen des Lebens, stärke uns für aufwendigere Mahlzeiten und entlasse uns angstfrei gegenüber dem Zufall. Erhebt Epikur dabei seine eigene Not zur allgemeinen Tugend? Die Einsicht, dass Armut großem Reichtum gleiche, wenn sie dem Ziel unserer Veranlagung entspreche, unbegrenzter Reichtum dagegen großer Armut,569 könnte dem Lebensgefühl eines ›armen Schluckers‹ entspringen. Vielleicht waren die Ernteerfolge in Epikurs Garten nicht immer üppig? Die berühmte Bitte an Menoikeus: »Schicke mir ein Töpfchen mit Käse, damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann«,570 könnte doppelt motiviert sein: durch Armut auf der einen Seite und durch kulinarische Weisheit auf der anderen. Knappe Lebensmittelversorgung und Lust an Speise schließen sich nicht aus, im Gegenteil! Kulinarische Weisheit kennt verschiedene Attitüden. Wo ein derber Gourmand sein kulinarisches Interesse auf den Sättigungswert deftiger Hausmannskost richtet, beschäftigt sich ein elitärer Gourmet eher mit feiner Nouvelle Cuisine. Ich möchte die Unterscheidung zwischen Gourmandismus und Gourmetentum mit der Unterscheidung zwischen Bauch und Gaumen in Bezug setzen. Dabei vertrete ich die Auffassung, dass Epikur seine Lust weniger auf eine Ess- als auf eine Verdauungspraxis ausrichtet. Der zentrale Bezugspunkt für die Lust an Speise ist nicht unbedingt ihr guter Geschmack. Die verdauungsfreundlichen Tafelgenüsse von Gourmanden lassen sich mit Epikur leicht befürworten. Überzogene feinschmeckerische Ansprüche scheinen ihm eher fremd. Epikur dürfte philosophisches Wissen und guten Geschmack nicht so einfach in eins fallen gelassen haben, wie manche gastrosophischen Texte es nahe legen.571 Jedenfalls gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, dass er der Lust an feinschmeckerischen Gaumenfreuden wenig abgewinnen konnte, beson565 | Epikur, Brief an Menoikeus, S. 130. 566 | Ebd., S. 131. 567 | Epikur, Brief an Anaxarchos, 1.3.2. 568 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, S. 131. 569 | Vgl. Epikur, Weisungen, S. 25. 570 | Diogenes Laertios, Philosophen, X, 11. 571 | Vgl. Rigotti, 2002, S. 75.
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ders wenn er – wie eingangs erwähnt – das Gute im Magen verwurzelt, nicht aber im Mund. Kulinarisches Wohlleben im Sinne Epikurs ist nicht auf einen Kult des Wohlgeschmacks beschränkt. Epikur tut das Verlangen nach Speisefinessen nicht als unbedeutenden Nebenaspekt der Lust an Speise ab, sondern verbindet es mit seelischer Undankbarkeit, die Lebewesen grenzenlos lüstern mache.572 Bei der Vermeidung aufwendiger Mahlzeiten dürfte er – Armut hin, Not her – recht konsequent gewesen sein.573 Zwar werden Epikurs Intentionen in stoisch oder christlich inspirierten Überlieferungen oft verzerrt wiedergegeben, es gibt aber nachhaltige Tendenzen zur Anerkennung seiner kulinarischen Bescheidenheit: Epikur habe sich billiger Speisen bedient, um Hunger und Durst zu stillen, ohne ein Verlangen nach Luxus zu entfachen.574 Gegen Epikurs Sympathie für Feinschmeckerei spricht auch, dass er verschiedene Speisen in einen einzigen Topf wirft. Von Geschmack ist dabei wie schon gesagt weniger die Rede als von Mangel: »Einfache Suppen bereiten den gleichen Genuss wie ein üppiges Essen, wenn nur der Schmerz des Mangels behoben wird; auch Brot und Wasser spenden höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt.«575 In der Not lässt die Lust des Bauches wenig Freiraum für oralfetischistische Feinsinnigkeiten. Epikurs philosophische Wertschätzung der Speise — und die anhaltenden Proteststürme gegen seine Lehren — erklären sich aus der Sorge um die Vermeidung von Hunger und der damit einhergehenden Leiden. Wird das Verlangen nach Speise überwältigend, geraten Geschmackserlebnisse zur Nebensache. Mangel lässt uns kulinarischen Ekel unterdrücken und gustatorische Tabus vergessen. Er kann unsere Erkenntnisse, Handlungen und Empfindungen allesamt zu Grunde richten. Die physische und psychische Gewalt, mit der ein leerer Magen unsere Taten und Gedanken beeinflusst, spottet jeder Philosophie. Böser Hunger bringt unsere Lust an Gesundheit und Geschmack zum Verblassen. Wer dauerhaft hungert, riskiert sein Leben. Anders verhält es sich bei Fülle. Wer satt ist, kann sich überlegen, welche Genüsse er seinem vollen Bauch noch zumuten möchte, eine Petite Pâtisserie, ein Plateau de Fromages oder einen Cognac zur guten Verdauung? Fülle verleiht dem Feingeschmack Flügel. Kritisch bemerkt Epikur: »Wenn ich nun erkläre, dass die Hēdonḗ das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer oder die Lüste, die im Genießen selbst liegen.«576 Seine Ablehnung schlemmerischer Freuden erläutert Epikur unter Hinweis auf ihre Konsequenzen: »Ich pfeife auf die Freuden eines üppigen Mahles nicht dieser 572 | Vgl. Epikur, Weisungen, 69. 573 | Vgl. ebd., S. 36. 574 | Vgl. Hieronymus, Against Jov., II,11. 575 | Epikur, Brief an Menoikeus, S. 130f. 576 | Ebd., S. 58.
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Freuden wegen, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die ihnen auf dem Fuße folgen.«577 Unter dem Eindruck der Widerstände gegen die Lehren Epikurs können wir die Philosophiegeschichte als eine Serie von Vorkehrungen gegen die Herrschaft des Bauches über die Geister interpretieren. Unsere Bäuche sind zwar mächtig, aber auch gutmütig. Sie lassen sich vielfach recht billig abspeisen. So kann sich die Philosophie des Geistes in unerschütterlicher Selbstgewissheit sonnen, solange die Bäuche nicht revoltieren. Ausreichende Nahrungsversorgung sorgt für gastrosophische Ruhe. Speisend, verdauend und fäkalisierend halten wir unseren Bauch in einem mehr oder weniger stabilen Zustand zwischen Leere und Fülle. Gewöhnlich füttern wir unseren Magen nicht bis an die Grenze seines Fassungsvermögens, und wenn wir uns ans Essen machen, dann ist unser Darm häufig noch gut beschäftigt. Laut Epikur betreffen unsere notwendigen Bedürfnisse Glück, Körper oder Leben.578 Bei Entscheidungen für oder gegen die eine oder andere Lust sollen wir der Gesundheit des Körpers und der Unerschütterlichkeit der Seele Beachtung schenken. Epikur versteht dies als das Ziel des glücklichen Lebens. Für die Lust am Leben hat die Verdauung eine tragende Funktion, da sie das Wohlergehen von Seele und Körper umfassend betrifft. Sind wir gesund, so verdauen wir leicht und lassen es uns gerne gut schmecken. Wird die Verdauung problematisch, mundet uns bald gar nichts mehr und wir werden krank. Das Interesse einer integrativen Gastrosophie, welche die Lust der Verdauungsorgane nicht auf die Lust von Geschmacksknospen auf Zunge oder Gaumen verengt, sollte damit deutlich geworden sein. Mit der Würdigung der Weisheit des Magens soll Epikur versucht haben, das ›Gastrosophische‹ zum höchsten Guten einer lustvollen Vernunft zu erheben.579 Aber inwiefern hält die glückliche Verbindung zwischen Bauchgefühl und Ethik philosophischer Kritik stand? Epikur schätzt die Lust des befriedigt ruhenden Magens, das sättigungsspezifische Wohlbehagen, höher als die Lust am Essen, aus der sie hervorgeht.580 Seine Philosophie richtet sich damit weniger auf die Freuden des Gaumens als auf den Zustand, in den ein gefüllter Magen die Seele versetzt. Offensichtlich motiviert quälender Hunger eher zur Suche nach Nahrung als zu gelassenem Nachdenken. Aber birgt die Kopplung der Philosophie an die Zufriedenheit des Magens nicht die Gefahr erheblicher Schwankungen in den Auffassungen, je nachdem, ob der Magen voll oder ausgeleert ist?
577 | Epikur, Brief an Anaxarchos, 1.3.3. 578 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, S. 127. 579 | Vgl. Lemke, 2007, S. 331. 580 | Vgl. Baudy, 1981, S. 29-30.
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Epikurs Lob der Sattheit ist erklärungsbedürftig, insofern die Periodizität der körperlichen Leerung und Füllung die mit ihr verbundene Lust zu einem episodischen Zustand macht. Epikur versuchte, seiner Lust Kontinuität zu verleihen, indem er die ›statische‹ bzw. ›katastematische‹ Lust der Erinnerung als höchstes Gut über die ›bewegte‹ bzw. ›kinetische‹ Lust stellte. Katastematische Lust bedeutet Freiheit von leiblichem Schmerz und seelischer Unruhe. Kinetische Lust ist die mit der Beseitigung eines Bedürfnisses einhergehende Empfindung.581 Katastematische Lust lässt sich, einmal erreicht, nicht mehr steigern, wurde aber als mit freudiger Empfindung verbunden gedacht.582 In diesem Sinne kann körperliche ›Vernunft‹ seelischen Entgleisungen vorbeugen. Epikur erinnert daran, dass der Bauch nicht unersättlich ist. Das begrenzte Fassungsvermögen des Magens setzt der Lust am Schlucken ihre Grenzen. Das motiviert die Zuspitzung des Epikureischen Lustprinzips durch Philodemos, der vorschlägt, nach einem einzigen vollkommen gelebten Tag den Rest unseres Lebens in einem Sterbegewand zu verbringen und sich durch keinen auf die Zukunft gerichteten Gedanken von der Gegenwart des wahren Lebens ablenken zu lassen.583 Sein Anliegen erklärt sich dadurch, dass gewonnene katastematische Lust sich nur noch wiederholen und variieren, nicht aber vergrößern lässt. Man kann sich seinen Magen zwar immer aufs Neue füllen, und das mit verschiedener Nahrung, aber seinen Umfang erweitert das letztlich nicht. Die Magenwand wird so zur natürlichen Grenze seelischer Bedürfnisse.584 Ein Glück für den Epikureischen Weisen: Seine ausgezeichnete Erinnerung mache seinen einmal gefüllten Magen seiner Seele für immer präsent. Der Weise verstehe seine Bedürfnisse derart zu kontrollieren, dass er nichts anderes begehre als katastematische Lust für Geist und Körper.585 An diesem Punkt greift die Kritik Plutarchs: Epikur sei die homogene Vermengung der Lüste von Bauch und Seele nicht gelungen. Einmal erscheine die Lust im Bauch, dann wieder in der Seele, der am Ende die Befähigung zu eigenständiger Lust abgesprochen werde.586 Die im Gedächtnis konservierte Lust schmerzfreier Sattheit vergleicht Plutarch mit abgestandener Nahrung, der man sich nur dann bediene, wenn frische nicht vorhanden sei. Mit der Behauptung, das höchste Gut liege in nichts anderem als augenblicklicher oder zu erwartender körperlicher Lust, werde der Seele schale Lust eingetrichtert, so als gelte es, Wein aus einem leck gewordenen Schlauch in einen neuen zu füllen, in dem er ruhig altern könne. Die Seele empfange dabei nichts wei581 | Vgl. Erler, 1997, S. 1138. 582 | Vgl. Cicero, De Fin, I, 37. 583 | Vgl. Schmid, 1984, S. 273. 584 | Vgl. Baudy, 1981, S. 35. 585 | Vgl. ebd., S. 31. 586 | Vgl. Boulogne, 2003, S. 176.
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ter als den mit der Erinnerung an vergangene Lust verbundenen Dunst. Was die Erinnerung von der Lust des Körpers bewahre, gleiche einem mulmigen Dampf.587 Plutarch scheint dabei zu unterstellen, dass Epikur die Lust des Bauches zugleich als Vorspiel und als Verlängerung der seelischen Lust ansieht. Es sei eine der Weisheit unwürdige Ansicht, wenn sich der Unrat der Lüste in der Seele des Weisen sammele wie Kot im Darm. Auf diese Weise sei vergnügtes Leben unmöglich.588 Da die Epikureer das auch selbst so empfinden, nehmen sie Zuflucht in ein schmerzloses Wohlsein des Fleisches, das sie aus dem Körper in die Seele versetzen und dann wieder aus dieser in den Körper.589 Dass Epikur die Hoffnung auf zukünftige Lust von der Seele tatsächlich in den Körper zurückleitete, kommt aber keinem Eingeständnis der Minderwertigkeit der Erinnerungslust gleich.590 Durch Vertrauen auf die Zukunft stabilisierte er seinen Seelenfrieden und sicherte ihn, wie oben bereits bemerkt, krisenfest ab: durch seine Freude an Brot, Wasser und einfachen Suppen. Vor diesem Hintergrund wirkt Plutarchs Ekel vor katastemischer Lust kulinarisch überspitzt. Speisekammern sind doch gerade deshalb eine nützliche Erfindung, weil viele Nahrungsmittel nicht jederzeit verfügbar sind. Sicher ist frisches Wasser nicht nur schmackhafter, sondern auch gesünder als abgestandenes, aber bei Wassermangel kann letzteres sich als lebenswichtig erweisen. Auch schmeckt und bekommt manche Leckerei nach der Lagerung einfach besser. Wenn die Epikureer Wein einlagern, dann muss das die Lust am Wohlgenuss nicht unbedingt schmälern.
587 | Vgl. Plutarch, Non posse, 1088e. 588 | Vgl. ebd., 1089b. 589 | Vgl. ebd., 1089. Ein dauerhaftes Wohlbefinden des Fleisches ist laut Plutarch zwar oft vorhanden, ein festes und beständiges Vertrauen darauf könne in einer verständigen Seele aber nicht entstehen. Vgl. ebd., S. 1090. Das scheint insofern irrig, als die lustspendende Funktion die Verdauung erweckt, solange sie nicht durch Krankheit gestört wird. Dass Epikur seine Position auf Gesundheit gründet, unterstreicht Karl Marx: »Wer den allgemeinsten Zustand als den wahren empfindet, der sorgt am besten dafür, ihn zu erhalten. [...] Ist [Epikur] krank, so ist ihm dies ein Verschwinden, das keine Dauer hat; ist er gesund, in seinem wesentlichen Bestehn, so existiert nicht für ihn der Schein, und er hat mehr zu tun, als dran zu denken, dass dieser sein könne. Ist er krank, so glaubt er nicht an die Krankheit, ist er gesund, so tut er so, als sei das sein ihm gebührender Zustand, d.h. er handelt als ein Gesunder. Wie jämmerlich ist gegen dies entschloßne, gesunde Individuum ein Plutarch, der an den Aeschylus, den Euripides und gar an den Doktor Hippokrates sich erinnert, um nur nicht der Gesundheit froh zu werden!« Marx, Engels, 1968, S. 97. 590 | Vgl. Baudy, 1981, S. 33.
Wurzeln
Ein Hinweis auf die Verlässlichkeit von katastemischer Lust bei aktuellem Leid ist Idomeneus Bericht vom Tod Epikurs.591 Trotz schlimmer Schmerzen in Blase und Magen habe der sterbende Epikur sich glücklich geschätzt. Nur Leiden schaffe Bedarf für zusätzliche Lust.592 Die Erfüllung von Begierden, die keine Schmerzen verursachen, wenn sie nicht erfüllt werden, sei nicht notwendig.593 Aus Vernunft könnten wir das Begehren nach unendlicher Lust korrigieren, wenn es aus dem durch die Notwendigkeit gesetzten Rahmen falle.594 Am Ende der Korrektionen kann der Raum für Lust allerdings enger ausfallen, als mancher Hedonist es wünschen mag. Seneca zeigt Sympathie für Epikurs Lehren, die er zutreffend findet, aber traurig, denn sie machen die Lust mager und klein. Wo Stoiker Gesetze auf die Tugend anwenden, da unterwirft Epikur die Lust der Natur. Für Ausschweifungen sei das zu wenig.595 Nur scheinbar teilt Nietzsche diese Einschätzung, wenn er Epikurs Üppigkeit mit einem Gärtchen, Feigen, kleinen Käsen und drei oder vier guten Freunden versinnbildlicht.596 Solche Üppigkeit wird missverstanden, wenn übersehen wird, dass eine aus magerer Notdurft heraus entwickelte Lust höchste Freude bereiten kann. Das sinnliche Element gastrosophischer Lust lässt sich unter der Einwirkung von Mangel zum ästhetischen Erlebnis erweitern. Nietzsche erklärt das anschaulich: »Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meereshaut sich nicht mehr satt sehen kann: Es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.«597 Auch aus dieser Perspektive betrachtet erscheint die Pointe der Kritik von Plutarch als stumpf. In gelassenen Betrachtungen führt Epikur die Freuden von Bauch und Seele zueinander. Im beständigen Übergang von Bewegungslust in Zustandslust füllt und leert die Verdauung ein Lustreservoir, von dem der ganze Mensch profitiert. Die Erinnerung an Füllungserlebnisse vervollständigt die ästhetische Qualität aktueller gastrosophischer Lusterlebnisse und gibt Freiraum zur Abwägung zwischen Freude an Gesundheit, Verdauung und Geschmack. Es bleibt die Einsicht, dass die Verdauung ihren eigenen Gesetzen folgt, nicht aber denen des Geschmacks. So formuliert es Lukrez in bester epikureischer Manier: 591 | Vgl. Rist, 1972, S. 120f. 592 | Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, 128. 593 | Vgl. Epikur, Entscheidende Lehrsätze, XXVI. 594 | Vgl. ebd., XX. 595 | Vgl. Seneca, Vita beata, XIII. 596 | Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II, WS-192. 597 | Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, §45.
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Vom Geist des Bauches »Nur bis zum Ende des Gaumens jedoch reicht unser Geschmackssinn; Wenn hingegen noch weiter der Saft durch die Kehle hinabrinnt Und sich in alle Gelenke verteilt, dann hört der Geschmack auf. Ohne Belang ist’s ferner, womit sich der Körper ernähre, Wenn man nur, was man gegessen, auch richtig verdaut an die Glieder Weiter verteilt und den Magensaft weiß feucht zu erhalten.« 598
Die Abwägung zwischen Verdauung und Geschmack ist eng mit unserer Gesundheit verknüpft. Die ›richtige‹ Ernährung beruht auf einem Kompromiss, der sich aus dem Zusammenspiel persönlicher Veranlagungen, sozialer Rahmung, Wechsel der Jahreszeiten u. ä. ergibt. Die Kenntnis der Zusammenhänge und Strukturen, mithilfe derer die Verdauung die Gesundheit fördert, erweitert unser Wissen über die Beziehungen zwischen der Welt und unserem Leben um wesentliche Aspekte. Gastrosophische Betrachtungen zum Zusammenhang zwischen Mensch und Welt sollten nicht auf orale oder anale Vorgänge verengt werden. Innerhalb des digestiven Gesamtprozesses zwischen Einverleibung und Ausscheidung bewirken alle Teilvorgänge spezifischen Genuss. Oftmals wird uns das erst dann bewusst, wenn die Lust an einem Verdauungsvorgang in Unlust umschlägt. Oberflächliche Betrachtungen der Freuden des Gaumens übersehen allzu oft die eigentlich gastrosophische Bedeutung Epikureischer Philosophie. Die Lust am Geschmack von Speise ist ebenso wie die Lust an ihrem Geruch, an ihrer visuellen Erscheinung und an ihren taktilen Eigenschaften mehr als ein Vorspiel der Lust an ›eigentlichen‹ Verdauungsvorgängen in Magen und Darm. Das ästhetische Erleben des Zusammenspiels unserer Verdauungsorgane mit anderen ›inneren‹ oder ›äußeren‹ Körperteilen ist ein konstitutives Element für den Umgang mit der Welt und mit uns selbst. Die Vor- und Zubereitung von Speise kann dazu ebenso beitragen wie die Verwendung von Kot und Urin bei der Bewirtschaftung eines Gemüsegartens. Die Freuden und Leiden im Garten Epikurs waren sicher nicht auf geteilte Mahlzeiten im Rahmen einer sich zeitweilig zusammenfindenden ›Tafelgemeinschaft‹ beschränkt. Die ›tiefe‹ Menschlichkeit der epikureischen Philosophie entspringt der Geborgenheit einer vertrauten Wohn-, Lebens- und Verdauungsgemeinschaft. In die glücklichen Erinnerungen, mit denen Epikur am Ende seines Lebens die Qualen seiner Verdauung überspielt, dürfte ein weites Spektrum gastrosophischer Lust eingeflossen sein. Unsere Verdauungsgewohnheiten betreffen unsere Persönlichkeit fundamental und besitzen darüber hinaus verbindliche, kollektive Bedeutung. In einer Welt, in der Menschen um Speise betteln, während andere sie zu Müll (nicht aber zu Kot!) verarbeiten,
598 | Lukrez, De rerum natura (De rer. nat.), S. 148.
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könnte eine defensive Ethik klug reduzierter Lebensansprüche599 zur Vermeidung mancher Geschmacklosigkeit beitragen. Epikurs gastrosophische Genügsamkeit soll die Lust an ›natürlich‹ begrenzter Fülle stärken. Wer auf Überflüssiges verzichtet, kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Einfache Speise kann höchste Lust bereiten, weil sie die Verdauung anregen, gut schmecken und die Gesundheit fördern kann. Diese Einsicht gilt in Epikurs Garten, in Verbreitungsgebieten sogenannter Wohlstandskrankheiten und auch dort, wo Menschen an Hunger leiden.
599 | Vgl. Schnädelbach, 1987, S. 289.
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2. Exzesse Von Cicero zu Montaigne
Mit der Verlagerung der politischen Macht nach Rom weichen die strengen Speiseregeln der hebräischen oder pythagoreischen Tradition einer Kultur kulinarischer Maßlosigkeit, zumindest dort, wo man es sich leisten kann. Der Widerspruch zwischen den Ansprüchen hellenistischer Askese und der ausufernden Freude an Genuss führt zu orgastischen Entfesselungen, gerade auch in Hinsicht auf die Grenzen dessen, was menschliche Verdauung leisten kann. Die verbreitete Maßlosigkeit provoziert radikale Bauchfeindschaft. Hatte Jesus von Nazareth die Verabschiedung verbindlicher Speiseregeln bestätigt, traten die frühen Christen schon bald für Beschränkungen ein: In der Tradition asketischer Übung zogen Mönche in die Wüste, um ihre Bäuche durch geistige Übung zu zügeln. Den Exzessen des Übermaßes begegneten sie mit Exzessen der Hungerkunst. Verbreitete Widerstände gegen eine allgemeine Kultur des konsequenten Fastens führte christliche Philosophen zur praktischen und theoretischen Unterhöhlung der wüstenväterlichen Freude am Hunger, bis hin zur Entwicklung einer Philosophie der bauchfreundlichen Selbstregulierung bei Montaigne, einem wahren Meister digestiver Lebenskunst. In der kulturellen Frühzeit Roms hatte der unmäßige Umgang mit Speisen kaum Probleme bereitet. Erst als mit wachsender Größe und Macht das Gefühl für Einheitlichkeit abhanden kam, wurden die kulinarisch bescheidenen Sitten der kleinbäuerlichen Vorfahren obsolet, an denen sich die römische Gesellschaft ursprünglich orientiert hatte. Als Grundlage des Aufstiegs wurde das Mos maiorum in Rom zwar wortreich beschworen, aber nicht hinreichend an die Bedürfnisse des Imperiums angepasst.1 So geriet der kulinarische Lebensstil der römischen Oberschicht in zunehmenden Widerspruch mit den Bedürfnissen der Bäuche, deren Verdauungsvermögen dem wachsenden Wohlstand nur beschränkt gewachsen war.
1 | Vgl. Fellmeth, 2001, S. 213.
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In Rom beklagten verschiedene Philosophen wortreich den Widerspruch zwischen dem kulinarischen Lebensstil der Oberschicht und den Bedürfnissen ihrer eigenen Bäuche, deren Verdauungsvermögen dem exzessiven Wohlstand nur als eingeschränkt gewachsen erschien. Insbesondere der römische Stoizismus stand dekadenten Entgleisungen zwischen Tischen und Betten unversöhnlich gegenüber. Die Kritik der kulinarischen Dekadenz umfasste geistige und körperliche Exzesse. Mahnungen zum Maßhalten von Politikern und Philosophen, die ihr eigenes Leben im Stil luxuriöser Maßlosigkeit gestalteten, blieben ohne Wirkung, ähnlich wie die Versuche, die Auswüchse gesetzlich zu unterbinden.2 Aber wie sollte sich die Moral der Bürger verändern, wenn die Gesetzgeber die kulinarische Maßlosigkeit verurteilten und dennoch praktizierten, wenn sie gleichermaßen als Verführer und Verführte (»corruptus simul et corruptor«) auftraten?3
2 | Das unterstreicht insbesondere die schwache Wirkung der gegen orgastische Auswüchse des gesellschaftlichen Zerfalls erlassenen Luxusgesetze, die sich zunächst gegen Unmaß bei Kleidung und Schmuck richten. Ab dem 2. Jahrhundert wurden ausführliche Speisevorschriften erlassen. Lex Orchia, Lex Fannia, Lex Didia und Lex Licinia sahen Einschränkungen bei Ausgaben und Gästezahl vor, verschiedene Delikatessen wurde verboten. Als Ausdruck des Zerfalls der römischen Gesellschaftsstruktur spiegeln die Gesetze politische und wirtschaftliche Eigeninteressen des Senatorenstandes, besonders offensichtlich bei Importverboten für ausländische Produkte, welche die Unfähigkeit zu sozialer Regulierung nachdrücklich unterstreichen. Für viele reiche Römer war die Übertretung der Speisegesetze ein Akt sozialer Selbstbestätigung. Die legal verordnete Austreibung der zeitgenössischen Ängste vor sozialem Wandel scheiterte. Vgl. Rosivach, 2006, S. 1. Wer es sich leisten konnte, der stellte es zur Schau, indem er speiste, wie es ihm gefiel. Wenn Cato die Lex Orchia von 182 v.u.Z. nicht nur mit Worten, sondern auch mit lebendigem Vorbild verteidigte, so dürfte er dabei die Ausnahme von der Regel gewesen sein. Vgl. Baltrusch, 1989, S. 84. Spätestens nach dem Ausbrechen der Bürgerkriege wurden die Speisegesetze öffentlich verspottet. Lucilius erwähnt ein Gedicht auf eine burleske Lex Tappula, einen fiktiven Gesetzesantrag, den ein gewisser Tappo, Sohn des Tappo, im Namen seiner Kollegen M. Multivorus, P. Prosperocius und M. Mero im Bezirk der Satten (›tribus Satureia‹) zur Abstimmung bringt. Vgl. Suerbaum, 2002, S. 322 u. Schanz, Hosius, 1979, S. 160. Kaiser Augustus plädierte an die Einsicht seiner Zeitgenossen, vergeblich. Die zu seiner Regierungszeit erlassenen Luxusgesetze waren Richtlinien ohne bindenden Charakter, die keine Wirkung zeigten. So bemerkt Augustus’ Nachfolger, Tiberius, dass mangelnder Wille zur Durchsetzung von Gesetzen, die Situation nur verschlimmert habe. Er förderte kontrollierbare Bestimmungen, etwa fixe Höchstpreise für bestimmte Produkte, hielt diese Gesetze aber für fragwürdig, solange sich die Moral der Bürger nicht verändere. Vgl. Tacitus, 1982, III, 53f. 3 | Vgl. Tacitus, 1982, III, S. 54.
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Cicero (* 106 v. Chr., † 43 v. Chr.) suchte den Ursprung der kulinarischen Entgleisungen nicht im Magen, sondern bei den Menschen, die sich mit Speisen und Getränken derart vollstopften, dass ihre geistigen Fähigkeiten Schaden nahmen. Die Freude am Speisen liege im Appetit, nicht in der satten Erfüllung von Lüstlingen. Ein gelassener Geist gleiche dem Meer bei Windstille, weder Furcht noch Betrübnis könne ihn erreichen und er erfreue sich nicht an leerer Lust. Selbst Hunger könne durch Gewohnheit erträglich werden. Zur glücklichen Erfüllung eines Menschen brauche es keine Speise, sondern Tugend. Ähnlich argumentiert Philon von Alexandria (* um 15-10 v. Chr., † um 40 n. Chr.). Bemerkungen zum Bauch erscheinen bei ihm als Dreh- und Angelpunkt von Warnungen vor exzessiven Verfehlungen jener Zeitgenossen, die sich zwischen Tisch und Bett volllaufen lassen und übereinander herfallen wie wilde Tiere. Wer dem Bauch sein Leben widme, verliere die souveräne Herrschaft über seinen Körper. Die Leidenschaften des Bauches seien wie Schlangen, die über schmutzige Erde kriechen und die himmlischen Prinzipien aus dem Blick verlieren. Die Schlange sei für den Menschen das, was Lust für die Seele sei und da eine Schlange nicht gezähmt werden könne, sei es sinnvoll, Lustgefühle des Bauches völlig zu vermeiden. Da ein Mensch zu Lebzeiten auf Nahrung nicht völlig verzichten könne, sei asketische Übung im Umgang mit Speise entscheidend für das Heil der Seele. Eine scharfe Kritik der gastrosophischen Doppelmoral liefert auch Seneca (* ca. im Jahre 1. n. Chr., † 65 n. Chr.). Angewidert von der Dekadenz seiner Mitbürger, mir der er als Erzieher des Kaisers aus eigener Anschauung bestens vertraut war, lobt er das einfache, zurückgezogene Leben und warnt insbesondere vor der Überlastung der Verdauung durch maßlose Feinschmeckerei. Als Steigerung sei nur noch zu erwarten, dass der Koch das Geschäft der Zähne besorge und die Speise fertig gekaut auftrage. Seine goldene Regel zur Füllung des Bauches »Du darfst nur so viel essen, wie du verdauen kannst«, wendet Seneca auch auf intellektuelle Entwicklungen an. Wer die Bücher vieler Autoren hastig und übereilt lese, ohne bei ausgewählten Geistern zu verweilen, in dessen Seele bleibe nichts haften. Der Bezug zum Körper bleibt dabei unmittelbar gegeben: Speise, die in den Körper gelange und ihn unverdaut verlasse, könne nicht nähren. Eine liberalere Variante liefert Plutarch (* ca. 45 n. Chr., † um 125 n. Chr.), dem die Gefährdung der Gesundheit bei Fehlernährung durch geschmacklose Kost mitunter gefährlicher scheint als die Freude an guter Speise. Unbekömmlichem Appetit gelte es entgegenzuwirken, schädlich sei aber die Unterdrückung des natürlichen Appetits. Werde dessen Lust derart geschwächt, dass sie nicht mehr auf das Begehrungsvermögen und die Willenskraft wirke, sei sie schwer wiederherstellbar. Also sollen wir uns eher vor Mangel als vor Überladung fürchten, die nur dann schade, wenn sie die Verdauung überfordere oder
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zu Krankheit führe. Mangel sei uns aber schon dann zuwider, wenn er sonst gar kein Übel anrichte. Jesus von Nazareth (* ca. 4 v. Chr., † um 30 oder 31 n. Chr.) begegnet den Widersprüchen zwischen Völlerei und Askese mit der Aufhebung verbindlicher Regeln zu Gunsten geistiger Freiheit. Worte gehen bei ihm über Mund und Bauch ein in Fleisch und Blut. Unrein mache nicht das, was in den Mund gelangt, sondern das, was vom Mund ausgeht. Geradezu revolutionär wirkt sein Aufruf zum Verzehr von lebendigem Brot, bzw. göttlichem Leib, in dem sich die Furcht vor dem eigenen Ende im Bauch unserer Nächsten mit gastral erfahrbarer Nächstenliebe verbindet. Aus intimen Begegnungen zwischen den Gläubigen und ihrem Messias im Verdauungsschlauch entwickelt sich ein zentrales Motiv der christlichen Philosophie. Die Fähigkeit zur Verdauung göttlicher Herrlichkeit macht den Bauch nicht zum Gott. Das unterstreicht Paulus (* ca. 5 n. Chr., † um 64 n. Chr.) mit seiner polemischen Aufforderung zum Essen und zum Trinken angesichts des bevorstehenden Todes. Nichtsdestoweniger können Speise und Trank nun lebensspendenden Geist vermitteln, ja ewiges Leben: Als geheiligte Speise übereignet die leibhaftige Gottheit Pneuma. Sakramentales und sättigendes Mahl gingen in den frühen christlichen Speisegemeinschaften ineinander über. Orientierung für gesunde Speisepraxis bieten Galens (* 129 oder 131 n. Chr., † um 199 oder 201 n. Chr.) Rückgriffe auf die hippokratische Tradition, wobei die Pflege von Leber und Nieren gegenüber der Pflege von Magen und Därmen in den Vordergrund tritt. Die Umwandlung von Nahrung versteht Galen als Beitrag zum humoralen Gleichgewicht des Körpers, wobei er Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Zuständen unterstellt. Mit Schärfe setzt er sich von Erasistratos ab, der Aktivitäten im Magen zum Ursprung von allem erklärt haben soll. Galen bringt die Philosophie in das Schlepptau der Medizin. Der wahre Arzt sei gleichzeitig Jünger der Wahrheit und ein Freund der Mäßigung, der wahre Philosoph pflege gesundheitsförderlichen Umgang mit Bauchfreuden. Wer sich den Freuden der Venus ergebe, dem drohe die Versklavung durch den Bauch und seine schlüpfrigen Neigungen. Sehr eindringlich erscheint die Bedeutung des Bauches für geistige Entwicklungen in den Schriften verschiedener Kirchenväter, gerade auch bei denen, die dem Hunger inmitten der ägyptischen Wüste trotzten. Demut galt ihnen als Grundtugend, Fresslust als Grundleidenschaft. Aus dem Triumpf über den Hunger, der fatalsten aller Versuchungen, der Adam nicht hatte widerstehen können, erwuchsen hier Vorstellungen einer veränderten Menschheit, die sich zur Herrschaft über ihre eigenen Lüste aufschwingen sollte. Die Bauch-Interessen der verschiedenen christlichen Denker unterscheiden sich aber stark. Athenagoras (ca. * 133, † 190) beschäftigen Fragen zur Aufnahme von menschlichem Fleisch durch menschliches Fleisch. Bei Clemens von Ale-
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xandria (* 150, † 215) erscheint Speise als Geist und als Logos, Milch, die wir aus der sorgenstillenden, liebenden Brust eines väterlichen Gottes saugen. Tertullian (* 160, † 225) verteidigt die Organe und kritisiert den Gebrauch, den wir von ihnen machen. Hieronymus (* 347, † 420) findet Hunger so erstrebenswert wie Armut und Anstrengung. Johannes Chrysostomos (* 349/44, † 407) versteht den Bauch als Metapher für moralisches Fehlverhalten. Augustinus (* 354, † 430) hält es für töricht den Hungrigen den Magen mit Brot vollzustopfen statt ihren Geist mit den Worten Gottes zu erfreuen. Laut Cassian († 430/35) ist der Genuss von Speisen keine vom Geist erwünschte Annehmlichkeit, sondern eine vom Leib auferlegte Last. Die Beschneidung gastrischer Bedürfnisse verliert spätestens mit Thomas von Aquin (* um 1225, † 1274) ihren Stachel, jedenfalls für vernünftige Christen. Zwar beschäftigt Verdauung Aquin auch im Zusammenhang der alten Fragen zur körperlichen Unversehrtheit im ewigen Leben, aber ausgehend von dem Diktum, dass Speise, die zum Munde eingeht, den Menschen nicht verunreinigen kann, stellt Aquin gute Argumente für und wider die Verurteilung von Gaumenlust vor. Am Ende wird jede Form von Speiseverhalten gerechtfertigt, bei der es nicht zu einer der Vernunft widersprechenden Begierde kommt. Insofern die Vernunft selbst erkennt, was ihr widerspricht, wird sie zum Richter über ihr eigenes kulinarisches Urteilsvermögen. Aquin stärkt nicht nur das Vertrauen in die Fähigkeit des autonomen kulinarischen Handelns, sondern liefert vernünftige Erklärungen für gastralen Überschwang. Montaigne (* 1533, † 1592) bemüht sich um die Auflösung der Zwickmühle zwischen asketischer Vernunft und randvollem Körper, indem er den Anteil des Körper am menschlichen Sein betont. Es sei nur recht und billig, dem Bau und der Gliederung des Körpers Beachtung zu schenken, denn im Menschen gebe es nichts, das nur rein geistig oder rein körperlich wäre. Dem Wohlbefinden sei moderater Genuss zuträglich, nicht Abstinenz. Lernerfolg bestehe nicht darin, Wasser in ein Fass zu gießen, sondern Geschmack zu wecken. Es gelte selbstständig zu urteilen und zu wählen. Wie der Magen Speise in ihrer Art und in ihrer Form verändert, sollen wir uns das Wissen anderer zu eigen machen. Seine eigenen Texte erscheinen Montaigne als Exkremente eines alten Geistes: mal härter, mal weicher und stets unverdaulich.
E ntgleisung vermeiden mit C icero Den Missständen der Entgleisungen zwischen Tischen und Betten begegnete der römische Stoizismus unversöhnlich. Als gefährlich galten insbesondere Lehren zur Befriedigung des Bauches, die mehr oder weniger gewissenhaft mit den Lehren Epikurs assoziiert wurden. Marcus Tullius Cicero (* 03.01.106
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v. Chr. in Arpinum; † 07.12.43 v. Chr. bei Formiae) gibt ein charakteristisches Beispiel. Die Schriften der epikureischen Schule hielt er für wertlos. Diese Einschätzung entspricht einer in Rom verbreiteten Sitte, sinnliche Ausschweifungen unter Berufung auf Epikur zu rechtfertigen oder die Beurteilung des Glücks den Standards des Bauches zu unterstellen.4 Cicero war wohl bewusst, dass das Problem eigentlich gar nicht im Magen entsteht, dessen Auf bau er ausführlich lobt: Im Magen komme es zu wunderbaren Effekten.5 Er könne sich erweitern und zusammenziehen, feste und flüssige Stoffe vermischen und Hitze zur Verdauung liefern. Diese Hitze müsse erheblich sein, denn alle Arten von Speise würden im Laufe eines Tages und einer Nacht verdaut und selbst die Exkremente seien warm.6 Problematisch sei es allerdings, wenn wir uns mit Speisen und Getränken derart vollstopfen, dass unsere geistigen Fähigkeiten Schaden nehmen.7 Zur Ernährung und Erhaltung unserer Seelen empfiehlt Cicero die himmlische Nahrung der Sterne, frei von feuchten und dunklen irdischen Ausdünstungen und den flammenden Fackeln des körperlichen Verlangens.8 Eben diesem Verlangen seien die Lehren der Epikureer aber förderlich. Wer die Lust zum obersten Prinzip erklärt, könne sie nicht in Grenzen halten. Der Angriff auf die epikureischen Lehren führt Cicero zu den sprichwörtlichen Ausschweifungen des assyrischen Herrschers Sardanapal. Dessen Grabinschrift »Trink, iss, sei fröhlich, alles andere ist kein Fingerschnippen wert«,9 erscheint Cicero als Inbegriff des lustgeleiteten Lebens: »Was hätte man sonst auf das Grab eines Ochsen schreiben sollen?«10 Aufschlussreich für Ciceros polemische Assoziation zwischen epikureischer Lust und digestiver Entgleisung ist auch seine Schmähschrift gegen einen politischen Gegner namens Piso, den er als ein Opfer Epikurs bezeichnet.11 Auf Piso habe Epikur nicht wie ein Lehrer der Tugend gewirkt, sondern als Meisterkünstler der Lüste. Als Piso von einem Philosophen hörte, der die Freude lobt, habe er keine weiteren Fragen gestellt und seinen Sinnen Lust verschafft. Die Lust des Bauches habe er vor die Genüsse seiner Augen und Ohren gesetzt und seine Freude am Leben
4 | Vgl. Cicero, De Nat. Deo., I:13: »in aluo multa sunt mirabiliter effecta«. 5 | Vgl. ebd., II:54. 6 | Vgl. ebd., II:9. 7 | Vgl. Cicero, Tusc. Disp., V:35 [100]. 8 | Vgl. ebd., I:19 [43]. 9 | Strabon, 2009, 14:5.9. Bei Cicero: »Was ich gegessen und genossen habe ist mir sicher, aber viel Exzellentes musste ich hinter mir lassen.« Tusc. Disp., V:35 [101]. 10 | Cicero, Tusc. Disp., V:35 [101] 11 | Vgl. Cicero, In Pisonem, S. 69.
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auf sexuelle Unmoral und Festessen reduziert.12 Inzwischen sei nicht einmal mehr festzustellen, ob Piso mehr trinke als er erbreche.13 Ob seine Darstellung die ursprünglichen Lehren Epikurs wirklich treffe, tut laut Cicero wenig zur Sache.14 Cicero verstören weniger Epikurs Lehren als vulgäre Auslegungen.15 So stilisiert Cicero Epikur zu einer Art Playboy der Lüste, der nicht durch Tugend sondern von animalischen Instinkten getrieben sei und das philosophische Gut im Körper suche, aber nicht in der Seele.16 Wer nach körperlichen Übungen hungrig und durstig zur Mahlzeit komme, dabei nur leicht verdauliche Speisen vom besten Wohlgeschmack esse, Wein in unschädlichem Maße genieße und alles besäße, was nach Epikur sonst noch zum höchsten Gute gehören könne, dessen Glück stehe dennoch unter dem Glück des Hungernden, dessen höchstes Prinzip von Tugend geleitet sei.17 Wenn Epikur behaupte, dass schlechte Lebensmittel und Getränke ebenso Lust gewähren können wie ein leckeres Gastmahl, so sei das nicht unbedingt falsch. Solche Behauptungen führen aber zu der Annahme, dass es gleichgültig sei, welche Nahrung man zu sich nehme.18 Der Hunger werde zum besten Koch und der Durst zum besten Mundschenk. Wer das für wahr halte und wer die Lust an kostbaren Dingen nicht der Lust an geringen vorziehe, dem fehle es an Herz und Gaumen. Wer behaupte, er ziehe den Hering dem Stör vor, der achte die Lust gering. Ein Weiser könne gut essen und Schlemmereien trotzdem verurteilen.19 Er könne Freude am Geschmack empfinden und doch bestreiten, dass nur der gut speise, dem die Lust das Höchste sei. Eine Mahlzeit sei nicht das Ziel allen Strebens, sondern solle die Bedürfnisse der Natur befriedigen. Gut zu speisen sei mäßig und anständig, schlecht zu speisen schändlich und hässlich. Für den Genuss sei nicht die Speise, sondern der Appetit entscheidend. Sokrates habe seinen Appetit durch Spaziergänge geschärft, um seine Speise daraufhin
12 | Vgl. ebd., S. 70. 13 | Vgl. ebd., S. 22. 14 | Vgl. ebd., S. 68. Mit den ursprünglichen Lehren Epikurs war Cicero wohlvertraut. Dafür sprechen seine lebhaften Ausführungen zu Epikurs Definition von Lust. 15 | Vgl. Cicero, De Fin., II:20ff. 16 | »Epicurus voluptatem, homo, ut scis, voluptarius«, Cicero, Tusc. Disp., II:7 [18]; vgl. ebd., III:21. Epikur liefere jungen Männern irreführende Argumente und sei gefährlich für Menschen von geringer Intelligenz. Ihn kümmere auch gar nicht, was Epikur behaupte oder bestreite, sondern das, was einer, der Lust zum höchsten Gut erhebt, folgerichtig sagen solle. Vgl. De Fin., II:22. 17 | Vgl. Cicero, De Fin, II:20. 18 | Vgl. ebd., II:28 [§ 90-91]. 19 | Vgl. ebd., I:8 [§ 24-25].
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besser genießen zu können.20 Der Genuss der schwarzen Suppe der Spartaner lasse sich durch eine passende ›Beilage‹ steigern: Mühe, Schweiß, Hunger und Durst.21 Wer sich über Gebühr um Lust besorge, erreiche sie am wenigsten.22 Die Freude am Speisen liege im Appetit, nicht in der Erfüllung von Lüstlingen, die rülpsen und schwitzen wie fette, überladene Ochsen. Gleich dem Meer bei Windstille, sei ein gelassener Geist nicht zu beunruhigen. Zur glücklichen Erfüllung eines Menschen sei Tugend ausreichend.23 Selbst Hunger werde durch Gewohnheit erträglich. Manche alte Person könne zwei oder drei Tage ohne Speise auskommen, wogegen manch junger Athlet die olympischen Götter anrufe, weil er einen Tag ohne Nahrung nicht ertrage.24 Lust führe zu immer neuem Verlangen. Wer reichlich von ihr trinke, den durste es umso heißer und intensiver.25 Die Trennung zwischen der Lust des Gaumens und der Lust des Magens gewinnt hier Form. Cicero bezieht klar Stellung: Der Weise genießt das schmackhafte Essen, aber er unterwirft sich nicht den frechen Ansprüchen seines Magens. Damit stellt sich Cicero recht eindeutig auf die Seite jener Philosophen, die feinsinnige Tafelfreuden zu schätzen wissen und steht im Gegensatz zu fresslustigen Hungerleidern, die nur danach trachten, irgendetwas zu finden, was ihren Bauch befriedigen könnte: Erst kommt die Moral, dann der erhabene Genuss.
S auber bleiben mit P hilon Anders bei Philon von Alexandria (* um 15/10 v. Chr.; † um 40 n. Chr.), dessen Polemik gegen die Vergöttlichung des Bauches sich auch gegen die Freuden des Gaumens richtet. Auch bei Philon ist der Bauch Dreh- und Angelpunkt wortreicher Warnungen vor exzessiven Verfehlungen jener Zeitgenossen, die sich zwischen Tisch und Bett mit Wein volllaufen lassen und wie wilde Tiere übereinander herfallen.26 Wer dem Bauch sein Leben widme oder ihm Tribut zahle, verliere die souveräne Herrschaft über seinen Körper.27 Der Bauch sei Grundlage und Reservoir aller Lüste und die Mutter des Bösen.28 Seine Macht 20 | Vgl. Cicero, Tusc. Disp., V:34 [97]. 21 | Vgl. ebd., [98]. 22 | Vgl. ebd., [102]. 23 | Vgl. ebd., V:6 [17]. 24 | Vgl. ebd., II:17 [40]. 25 | Vgl. ebd., V:6 [16]. 26 | Vgl. Philon, Vit Cont, 40, vgl. Sandnes, 2002, S. 131. 27 | Vgl. Philon, Spec, 4:113. (»οἷ ἐπί κοιλίαις«) 28 | Vgl. Philon, Leg, 3:138; dazu Sandnes, 2002, S. 117.
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bringe konstante Gefahr für rechtschaffende Menschen.29 Der Bauch sei ein Feind, der einen Menschen in die Sklaverei führen könne.30 Bei Philon setzt der Bauch praktische Maßstäbe, in negativem und buchstäblichem Sinn: Die Höhe des Altars im Tempel erkläre sich mit der Notwendigkeit, ein vielköpfiges Ungeheuer zu verbergen: den Bauch des Priesters und seine Lust.31 Die Kampfansage an den Bauch gründet Philon auf jüdische Traditionen sowie Motive der hellenistischen Philosophie. Die Seele, Zugang zum Gott Israels, versteht er als dreigeteilt: Die Vernunft sitze im Kopf, der Mut in der Brust und das Verlangen im Bauch.32 Zur Kontemplation göttlicher Dinge gelte es, die Leidenschaften des Bauches zu zügeln. Die Regulierung der Leidenschaften des Bauches erscheint als zentrales Anliegen des guten Lebens. Die Speise-Gesetze sollen vor Lust in ihrer gefährlichsten Form schützen.33 Moses habe sie eingeführt, um das Verlangen des Magens zu regulieren und damit die Macht der ersten und ältesten Lust einzuschränken.34 Durch allegorische Interpretationen platziert Philon den Willen zur Kontrolle der Lust des Bauches im Zentrum des Jüdischen Glaubens.35 Sein Verständnis einer Versklavung durch den Bauch illustriert er mit dem Beispiel von Esau. In Freuden des Bauches und der Genitalien schwelgend habe Esau sein Geburtsrecht aufgegeben, um seinen Hunger bzw. seinen Bauch zu befriedigen.36 Wenn Esau auf seinen Bauch falle, sei das wörtlich zu verstehen: Die Sklaven des Bauches erfüllen ihre Lüste liegend.37 Das Land Ägypten und seine Pharaonen verwendet Philon als Metaphern für die im Bauch beheimateten Lüste.38 Die Diener des Pharaos seien ihren Bäuchen ergeben. Wie die Sucht nach Wein könne die Sucht nach Speise einen Menschen dazu verleiten, den Bauch an die Stelle des Kopfes zu setzen.39 Die Flucht des Volkes Israel durch die Wüste erklärt Philon zu einer Bemühung um die Kontrolle der Lust des Bauches und der Genitalien. Diese sollen wir, ähnlich wie bei Platon, so beherrschen wie ein Wagenlenker wilde Pferde.40
29 | Vgl. Philon, QG, 2:39. 30 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 116. 31 | Vgl. Philon, QG, 2:100. 32 | Vgl. Philon, Leg, 1:70. 33 | Vgl. Philon, Virt, 134-6. 34 | Vgl. Philon, Spec, 4:97-131, 4:91. 35 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 113. 36 | Vgl. Philon, Virt, 208; auch QG, 4:225; Sacr, 17-18.81; Leg, 3:191. 37 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 119. »πεδῶν ἐπί γαστέρα« 38 | Vgl. Philon, Migr, 14f. 39 | Vgl. 1. Mos, 40:16; dazu ebd., 42:36; Philon, Somn. 2:206-14. 40 | Vgl. Philon, Sacr, 49.
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Die Lust krieche auf dem Bauch, schreibt Philon eingedenk der trügerischen Schlange aus der Genesis.41 Die verführerische Macht der sanften Worte, mit denen sich die Schlange an die ersten Menschen wendete, bezieht er auf den Bauch. Die Schlange symbolisiere an Lust orientierte Menschen, die sich dem Bauch untergeben und damit an die Erde binden, nicht an den Himmel.42 Die Leidenschaften des Bauches seien wie Schlangen, die, auf ihrem Bauch über schmutzige Erde kriechend, die himmlischen Prinzipien aus dem Blick verlieren.43 Die Schlange sei für den Menschen, was Lust für die Seele sei.44 Sie verkünde ihre Doktrin mit menschlicher Stimme.45 Insofern eine Schlange nicht gezähmt werden kann, scheint es sinnvoll, Lustgefühle des Bauches völlig zu unterbinden. Da ein Mensch sich zu Lebzeiten aber nicht von seinen materiellen Wurzeln zu trennen vermöge, könne auf Nahrung nicht völlig verzichtet werden.46 Entscheidend für das Heil der Seele sei demnach die Übung im Umgang mit Nahrung. Die Brücke zwischen hebräischer und hellenistischer Tradition schlägt Philon dabei explizit: Moses weise den Weg zwischen spartanischer Entbehrung und sybaritischem Luxus.47 Philon entwickelte seine Lesart der biblischen Geschichte in Hinblick auf die spezielle Situation seiner Zeitgenossen.48 Die Situation der Jüdischen Gemeinschaft in Alexandria war höchst prekär. Erinnert sei nur an den Versuch des römischen Herrschers Caligula zur Durchsetzung des Kaiserkultes und das gegen Juden gerichtete Pogrom nach dem Besuch von König Agrippa I. Philons Erklärungen zum Bauch beziehen sich unmittelbar auf heidnische Sitten.49 Die heidnische Elite verlasse ihre halb beendeten Mahlzeiten erschöpft und mache sich, mit verstopftem Bauch, unfähig zur weiteren Aufnahme von Speise, an die Getränke heran.50 Die Tempel werden zu Orten der Lust an Speise und Sex. Weil die heidnischen Künste die Lust des Bauches befriedigen und begünstigen, vertreiben sie Musik, Philosophie und Kultur aus der Seele.51
41 | Vgl. 1 Mos, 3:14. »τῆ κοιλία πορεύεσθαι« 42 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 117. 43 | Vgl. Philon, Leg, 2:72; vgl. ebd., 3:86; dazu QG 1:47; Opif 158; sowie im AT, Gen 3:14-17. 44 | Vgl. Philon, Leg, 3:76. 45 | Das könnte auf Epikur zielen. Vgl. Sandnes, 2002, S. 115N25. 46 | Vgl. Philon, Leg, 3:147, 151ff. 47 | Vgl. Philon, Spec, 4:102 48 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 120fN50f. 49 | Vgl. ebd., S. 127. 50 | Vgl. Philon, Vit Cont, 55 51 | Vgl. Philon, Cher, 93.
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Die Schädigung ihrer inneren Konstitution wandle kultivierte Menschen in Barbaren, ohne Gewalt über ihre eigenen Körper, vom sklavenhaften Geschmackssinn geleitet und aller anderen Sinne beraubt.52 Die Feste der Griechen verstärken die unersättliche Lust der Bäucheund fördernden Ausbrüche sexueller Leidenschaft. Ähnlich verhalte es sich bei den Römern, deren Gastmähler eigentlich Fressgelage seien, bei denen der Appetit bis zum Überdruss gereizt und sklavischer Instinkt geweckt werde.53 Laut Philon trennt der Umgang mit dem Bauch Juden von Heiden.54 Der Genuss von verbotener Speise sei ein Sakrileg. Nur Giermägen (»γαστρίμαργος«) überträten die Gesetze. Die Annahme unreiner Speise gleiche einer Unterwerfung unter den Bauch. Im Gegensatz zu den Exzessen der heidnischen Besatzer seien die einfachen und geregelten Speisen des Sabbats der Gesundheit dienlich und geeignet, die Lüste des Bauches zu bremsen.55 Der Übertritt zum Jüdischen Glauben ist laut Philon das sicherste Mittel zur Kontrolle gastraler Lust.56 Die Konversion beinhalte eine Einwilligung in einen geregelten Umgang mit den Leidenschaften des Bauches in Abgrenzung zu heidnischen Umgangsformen. Als Zeichen der Unterwerfung unter YHWH führe die Beachtung der Speise-Gesetze zur Befreiung von der Herrschaft des Bauches.57 Nach Philons Einschätzung vermeiden die Proselyten damit schlimmen Schaden von Leib und Seele. Auf dem Weg zu Selbstkontrolle und Menschlichkeitsei die Beschränkung der Macht des Bauches ein wichtiger Schritt.58 Das Leben sei ein andauerndes Fest, wenn Zunge, Magen und Genitalien nicht missbraucht werden.59 Warum sollte kultische Praxis der Lust des Bauches keine Grenze ziehen können? Als Beispiel für passenden Umgang mit dem Bauch nennt Philon die Therapeuten, eine Gruppe jüdischer Einsiedler in Ägypten. Bei ihnen stehe geistige Nahrung im Vordergrund: Das Mahl beginne mit tiefem Schweigen und einem darauf folgenden Lehrvortrag.60 Erst zum ›Nachtisch‹ werden Brot und Wasser gereicht. Das kontinuierliche Verschlingen der Lehren von Mose und die Speisegewohnheiten der Therapeuten ergänzen sich.61 Sein Lob der therapeutischen Lebensweise stellt Philon in Zu52 | Vgl. Philon, Vit Cont, 45. 53 | Vgl. ebd., 48f. 54 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 125. 55 | Vgl. Philon, Spec, 1:174; dazu Sandnes, 2002, S. 127, 131. 56 | Vgl. Philon, Virt, 181f.. 57 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 129. 58 | Vgl. Philon, Spec, 4:96f. 59 | Vgl. ebd., 2:42-5; ebd., 2:49f. 60 | Vgl. Philon, Vit Cont, 75f. 61 | Vgl. Ebner, 2007, S. 88.
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sammenhang mit jüdischen Festen, die ihm Anhaltspunkte für Erklärungen zu ethischem Verhalten geben. Dabei stellt er die jüdischen Feste der heidnischen Lüsternheit entgegen, insofern sie die Reinigung der Seele durch einfache Lebensführung und Selbstkontrolle ermöglichen. Das Pessach-Fest, gefeiert zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, diene der Erinnerung an die Überwindung des Verlangens.62 Es solle nicht zum Anlass genommen werden, den Bauch mit Wein und Fleisch zu verwöhnen. Wenn Philon die Beschränkung der Lüste von Bauch und Genitalien als Zweck des Erntedankfestes Schawuot bezeichnet,63 können wir das mit Sandnes als eine allgemeine Referenz auf alle Riten der Säuberung verstehen.64 Allerdings betreffen die mit Bauchfreuden verbundenen Gefahren nicht nur Heiden, sondern auch Juden. Aus dem Verlangen des Bauches erwachse die Neigung des Volkes zum Rückfall in ein zügel- und zuchtloses Leben nach ägyptischem Vorbild und die Versuchungen der Lust in der Wildnis.65 Nichtsdestoweniger wird manches Mitglied der alexandrinischen Gemeinde Gefallen an den Verlockungen der heidnischen Ess- und Festgewohnheiten gefunden haben. Gerade sein eigener Neffe, Tiberius Julius Alexander, dürfte Philon Kopfzerbrechen bereitet haben.66 Der soll nicht nur als römischer Prokurator in Judäa gewirkt, sondern später als Präfekt in Ägypten jüdische Unruhen in Alexandria niedergeschlagen und sich an der Belagerung von Jerusalem beteiligt haben, die der Zerstörung des Tempels vorherging.
D ek adenz bekl agen mit S eneca Der Einfluss der stoischen Ethik stimulierte zwar ablehnende Haltungen gegenüber orgastischem Speisekonsum, doch gerade stoische Philosophen zeigten sich anfällig für die Doppelmoral, die den Kaiser Tiberius an der Wirksamkeit von Speisegesetzen zweifeln ließ. Lucius Annaeus Seneca (* ca. 1 in Corduba; † 65 bei Rom) darf da wohl als ein Paradebeispiel gelten. Philosophisch beschäftigen Seneca Probleme einer Lebensführung, die den meisten Römern kaum vom Hörensagen bekannt gewesen sein dürfte, er schrieb für eine kleine, millionenschwere Elite.67 Den exzessiven Luxus der römischen Oberschicht kannte er nur zu gut. Angewidert von der Dekadenz 62 | Vgl. Philon, Spec, 2:145. 63 | Vgl. ebd., 2:163. 64 | Vgl. Sandnes, 2002, S. 124. 65 | Vgl. Philon, Post, 155ff. 66 | Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Dialogpartner Alexander in Philons Schrift De providentia um den besagten Neffen. Vgl. Colson, Philo, S. 447ff. 67 | Vgl. Grünbein, 2003, S. 62.
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seiner Mitbürger lobte er das einfache, zurückgezogene Leben und warnte insbesondere vor der Überlastung der Verdauung durch maßlose Feinschmeckerei. Sein hemmungsloser Umgang mit politischer Macht brachte ihm öffentliche Vorwürfe ein, aber auch riesige Ländereien und ein gewaltiges finanzielles Vermögen. Wortgewandt verurteilte er die Extravaganzen anderer, soll aber fünfhundert identische Tische aus Zitrusholz mit Elfenbeinfüßen zur Bewirtung seiner Gäste besessen haben.68 Sein Scheitern als philosophischer Pädagoge ist legendär. Nero, sein kaiserlicher Zögling, soll die Laster des Bauches in allen denkbaren Formen geliebt und praktiziert haben. Senecas Lehren zur Verdauung illustrieren eindrucksvoll, was Philon an den heidnischen Freunden verschreckt. Laut Seneca braucht ein Mensch wenig, der Überfluss sei ihm gefährlich, die Bedürfnisse seines Körpers seien gering: Kälte, Hunger und Durst wolle er abgewehrt wissen. Was man außerdem begehre, entspräche keinem wirklichen Bedürfnis und fördere Laster.69 Nur ein unersättliches Gemüt lasse sich nicht zufrieden stellen, ebenso wenig, als ein Getränk den befriedigen könne, dessen Begehr nicht aus Mangel, sondern aus der Hitze seiner brennenden Eingeweide entstehe; denn das sei nicht Durst, sondern Krankheit.70 Unser Körperumfang sei mäßig, der Magen nicht so unersättlich, dass wir die Gier der gefräßigsten Tiere übertreffen müssen. Leute die sich dem Bauche zum Dienst ergeben, seien nicht den Menschen, sondern den Tieren zuzurechnen, manche gar den Toten.71 Seneca illustriert seine Kritik der kulinarischen Entgleisung durch das Beispiel eines Gerichts aus Austern, Venus- und Stachelmuscheln, die durch dazwischenliegende Seeigel getrennt und aufgerollte Seebarben abgedeckt werden.72 Ihn ekele es schon, diese Speisen einzeln zu essen, aber hier geschehe auf der Tafel, was eigentlich im gesättigten Magen geschehen solle.73 Tausenderlei Leckereien seien erfunden worden, die den Hunger nicht stillen, sondern reizen. Was den Hungernden Nahrung war, werde den Gesättigten zur Last.74 »O die Beklagenswerten, deren Gaumen nur durch kostbare Speisen gereizt wird!« stöhnt Seneca in seiner Trostschrift an seine Mutter Helvia.75 Entschuldigende Worte für die kulinarischen Entgleisungen finden sich dort nicht. 68 | Vgl. Cassius Dio, Roman History, 61.10.3. 69 | Vgl. Seneca, Ad Helviam, 9:9. 70 | Vgl. ebd., 11:4. 71 | Vgl. Seneca, Ad Lucilium, 60, 3. 72 | Vgl. ebd., 95:26. 73 | Vgl. ebd., 95:27. 74 | Vgl. ebd., 95:15. 75 | Seneca, Ad Helviam, 9:11.
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Die Warnungen vor dem Übermaß beziehen sich direkt auf die desaströsen Folgen für die Verdauung. »Wie? Dass jene Austern, das unverdaulichste Fleisch, mit Kot gemästet, dir keine Schleimbeschwerden bereiten werden? Wie? Jene Lake aus der Provinz, der hochgeschätzte Saft von schädlichen Fischen, glaubst du nicht, dass sie dir durch ihre faulende Flüssigkeit die Eingeweide entzünde? Und glaubst du, dass jene Eitermasse, die fast unmittelbar aus dem Feuer in den Mund gelangt, ohne Schaden in den Eingeweiden selbst ihr Grab findet? Was für ein widerwärtiges, pesthauchartiges Rülpsen ist die Folge davon! Und wie stark muss der Ekel an sich selbst sein beim Aushauchen eines alten Rausches! Du musst wissen, dass das Genossene verfault, nicht verdaut wird.« 76
Vom entferntesten Ozean werde Nahrung herbeigeschafft, die der durch Leckereien zerrüttete Magen kaum vertragen könne. Verschiedenste Dinge gingen in widersprüchlicher Mischung durch den Schlund und würden schlecht verdaut. Schon wer an vielem herumkoste, verrate seinen verdorbenen Magen.77 Verschiedenartiges Mancherlei verunreinige ihn, aber nähre nicht. Aus der widerstreitenden Nahrung entstünden wechselnde und verschiedenartige Krankheiten, in deren Folge die aus entgegengesetzten Bestandteilen gewaltsam zu einer Speise verbundenen Nahrungsmittel wieder ausgebrochen werden müssten.78 Die ausgedehnten Mägen seien ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen und würden dennoch mit ungeheurer Gier belastet, so dass sie mit größerer Mühe alles von sich geben, was sie sich zugeführt haben.79 Die Mahlzeiten seien nicht einmal mehr der Verdauung würdig, man erbreche sich, um essen zu können, man esse, um sich zu erbrechen.80 Entsetzt bemerkt Seneca, dass Frauen und Männer sich beim Verbrauch von Öl und Wein zum Wettkampf herausgefordert und das in die widerstrebenden Eingeweide Hineingefüllte durch den Mund wieder von sich gegeben hätten, um dann Schnee zu lecken, als Linderungsmittel für den kochenden Magen.81
76 | Seneca, Ad Lucilium, 95:25. 77 | Vgl. ebd., 2:4. 78 | Vgl. ebd., 95:19. 79 | Vgl. ebd., 47:2. 80 | S.o.: Vgl. Seneca, Ad Helviam, 9:10. Die Einleitung von Erbrechen durch Sondierung des Magens war in Rom erst in der Kaiserzeit üblich, trotz früher Hinweise in der griechischen Literatur. Der Gebrauch von Brechmitteln konnte sich wohl aufgrund von Schwierigkeiten bei der Dosierung nicht durchsetzen. Da es als unfein galt, sich Finger in den Hals zu stecken, wurde das Erbrechen mit Hilfe einer Vogelfeder ›pinna vomitoria‹ ausgelöst. Vgl. Leube, 1879, S. 1ff. 81 | Vgl. Seneca, Ad Lucilium, 95:21.
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Seine Kritik an kulinarischer Enthemmung bezieht Seneca, wie bereits erwähnt, direkt auf geistige Fehlernährung.82 Speise, die in den Geist gelange, um ihn sogleich wieder unverdaut zu verlassen, könne nicht nähren.83 Die durch Üppigkeit verursachten Krankheiten seien unzählbar:84 Wassersammlung unter der Haut, Ergüsse fahlgelber Galle, missfarbige Gesichter kennzeichnen laut Seneca das Dahinschwinden der innerlich Faulenden.85 Seneca rät zu kräftigendem Weingenuss entsprechend einem geordneten Speiseplan, zu ärztlich angeratenen Körperübungen an der frischen Luft oder zu sanftem Durchschütteln des Unterleibes.86 Charakteristisch für Senecas Umgang mit den Freuden und Leiden an der Füllung von Geist und Körper bleibt letztlich seine Goldene Regel: »Du darfst nur so viel essen, als du verdauen kannst.«87
G esit te t diskutieren mit P lutarch Auch auf dem griechischen Festland stellen sich weiterhin Fragen zu kulinarischer Freude und gastralem Fassungsvermögen, etwa bei Plutarch (* um 45 in Chaironeia; † um 125). Sollen wir auf appetitliche Speisen verzichten, weil sie schwer zu verdauen sind?88 Sollen wir wenig schmackhafte Speisen vorziehen, mit denen unser Bauch leicht fertig wird? Sollen wir das Urteil darüber, was gute Speise sei, den Ärzten überlassen? Oder gilt es, den Genuss von Speise vor unnützer Furcht zu schützen? Die Debatte über die Freude an Speise findet bei Plutarch nach der Mahlzeit statt. Der Austausch von Argumenten für und gegen die Freude am Genuss von schwer verdaulicher Speise erfolgt also, nachdem alle Teilnehmer ohnehin längst gegessen haben, was sie für richtig erachteten. Die Gefahr einer möglichen Auflösung der Tischgesellschaft vor der Befriedigung des Bauches ist damit gebannt. Das Ergebnis der Debatte steht damit in gewisser Weise von vornherein fest: Reden ist Silber, Verdauen ist Gold. Seine Maßstäbe zur Orientierung kulinarischer Wünsche richtet Plutarch an Platon aus. Der habe seinen Mitbürgern vielfältige Genüsse gestattet, Zwiebeln, Oliven, Kohl, Käse und allerhand andere Gerichte, selbst Konfekt.89 Das spreche dagegen, dass verschiedenartige oder vermischte Speisen schwer ver82 | Vgl. ebd., 2:2. 83 | Vgl. ebd., 2:3. 84 | Vgl. ebd., 95:18. 85 | Vgl. ebd., 95:16. 86 | Vgl. ebd. 87 | Ebd. 88 | Plutarch, Symposiacs, 4, 136. 89 | Vgl. ebd., 4, 143.
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daulich sein müssen, abwechslungsarme Ernährung aber ungesund. Den zu seiner Erhaltung notwendigen Stoff könne ein Mensch eher aus mannigfaltiger denn aus einfacher Materie sammeln.90 Insofern alles Angenehme verlockend sei, verstärke schmackhaftes Essen allerdings den Appetit. Aber gesunde Diät bestehe dennoch nicht einfach in der Vermeidung des Vergnügens. Weil jede Form der Sättigung mit Lust verbunden sei, wäre es unsinnig, feines Mehl durch grobes zu ersetzen, Spargel durch Disteln oder duftenden Wein durch sauren.91 Für die Gesundheit sei Fehlernährung durch geschmacklose Kost mitunter gefährlicher als die Freude an guter Speise. Dem Unmaß eines unbekömmlichen Appetits gelte es einschränkend entgegenzuwirken, schädlich sei aber die Unterdrückung des natürlichen Appetits. Vielfältige Speise sei zuträglicher als einfache, weil es leichter sei, der Ausschweifung der Natur Einhalt zu gebieten, als ihre Entkräftung zu beheben. Wie schon gesagt: Plutarch zieht Überfüllung dem Mangel vor.92 Aber damit zielt er nicht unbedingt auf eine Entgrenzung digestiver Lust. Mit gutem Grund unterstreicht Lemke die Nähe zwischen Plutarchs Ideal einer permissiven Frugalität und den Lehren anderer stoischer Philosophen.93 Nichtsdestoweniger erscheint Plutarch nicht als ein Vorbote des ›Programms einer Abtötung des Fleisches‹ im Sinne christlicher Moral, sondern als Vermittler von Warnungen vor der Macht des Magens, wie sie vor ihm nicht nur von griechischen Asketen, sondern auch von Philosophen aus der hebräischen Tradition formuliert wurden. Lemke erklärt die Degradierung einer möglichen gastrosophischen Lebenspraxis unter Berufung auf die Devise ›Halte aus und enthalte dich‹ mit einer ›unterirdischen Geschichte‹ des abendländischen Zivilisationsprozesses.94 Die Assoziation zur Konfrontation zwischen apollinischer Vernunft und delphischer Beharrlichkeit liegt nahe. Die Geschichte beginnt, endet aber nicht bei Fragen des kulinarischen Genusses. Die Verdammung des Körpers in den Bereich von ›Schlamm und Dunkelheit‹ richtet sich, nicht nur bei den christlichen Asketen, gegen sehr viel mehr als nur die Freuden des Gaumens, insbesondere auch gegen Gastrosophie im eigentlichen Sinne.95 90 | Vgl. ebd., 4, 141. 91 | Vgl. ebd., 4, 142. 92 | Vgl. ebd., 4, 143, s.o. 93 | Vgl. Lemke, 2007, S. 82. Rumohrs Einschätzung, dass die Ursache für die ethische Vernachlässigung des Essens nicht in stoischer Weisheit zu suchen sei, könnte durchaus zutreffen. Vgl. Rumohr, 1832, S. X. 94 | Vgl. Lemke, 2007. 95 | Zur explosiven Ladung im Keller der Philosophiegeschichte leistet der Bauch einen wesentlichen, in Hinblick auf ethische Orientierung wohl auch entscheidenden Beitrag. Gastrosophie gefährdet den philosophischen Mainstream insofern, als sie sich dem
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G öt tlich verdauen mit J esus Eine der zentralen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Bauch sind unterschiedliche Auffassungen darüber, was gastral verdaut werden soll und was besser nicht. Bezugspunkte ergeben sich im Zusammenhang mit Opfergaben und heiligen Mahlzeiten. Mal speisen die Götter unter sich, mal essen sie von dem, was Menschen ihnen zubereiten, mal stiften sie den Menschen das Mahl, mal essen Götter und Menschen gemeinsam, mal speisen die Menschen zum Wohlgefallen der Götter, mal wird das tägliche Essen zum göttlichen Mysterium, mal werden die Götter verspeist, die Phantasie der Völker scheint hier grenzenlos.96 Jesus von Nazareth (* ca. 4 v. Chr., vermutlich in Nazareth; † 3031 in Jerusalem) forderte seine Anhänger zum Verzehr seines menschlichen Leibes nach seiner Hinrichtung auf. Worauf zielte diese schockierende Einladung? Im Neuen Testament wird die Bedeutung des Leibes von für das Leben gewürdigt, dabei klingen Motive des Alten Testaments an: Dem Willen des Herrn entsprechend gelangt Leben in unfruchtbare Bäuche97 und schon im Mutterleib erfüllt heiliger Geist die dazu Auserwählten.98 Soll Jonas drei Tage und Nächte im Bauch eines Fisches verlebt haben, so wird von Jesus von Nazareth gesagt, er habe dieselbe Zeit im Herzen der Erde verbracht.99 Die Bedeutung der Pflege des Bauches wird durch die Befähigung zur Heilung von Magenkrankheiten durch Handauflegen und Gebete verdeutlicht.100 Wein wird – zum maßvollen Genuss – ausdrücklich empfohlen als eine Wohltat für den Magen und zur Heilung von Krankheit.101 In dem griechischen Begriff ›koila‹, für Höhle und Bauchhöhle, schwingt im Neuen Testament das Unheimliche der Macht des Appetits dunkel mit.102 Bittere Galle wird mit moralischer Ungerechtigkeit verknüpft.103 Wenn aus dem Bauch der Gläubigen »lebendiges Wasser« fließt, dürfte die fragliche Flüssigkeit eher aus einer Harn- als aus einer
Verdacht aussetzt, die Bedürfnisse der gastralen Verdauung über die Bedürfnisse gedanklicher Verdauung zu setzen. Der philosophische Unwille zum Umgang mit Fragen zu kulinarischen Vorlieben des Gaumens ist sozusagen eine Oberflächenwirkung tiefer liegender Bezüge zwischen Geist und Verdauung. Gastrophobie gehört zu den Wurzeln der abendländischen Tradition, sei sie hebräisch, griechisch oder christlich orientiert. 96 | Vgl. Klauck, 1982, S. 31. 97 | Vgl. Lk, 1:13, 1:31. 98 | Vgl. ebd., 1:15. 99 | Vgl. Mt, 12:40. 100 | Vgl. Apg, 28:8. 101 | Vgl. 1. Tim, 5:23. 102 | Vgl. Mt, 12:40; 15:17; Mark, 7:19. 103 | Vgl. Apg, 8:14-25.
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Fruchtblase stammen.104 Wie im Alten Testament verbinden sich auch mit der Zunge verbale und digestive Anliegen. Einer, der mit der Zunge liebt, der seinen Worten also keine Taten folgen lässt,105 dem fehlen sozusagen die Schmetterlinge im Bauch. Wird eine Zunge von der Hölle entzündet, bringt sie Ungerechtigkeit, befleckt Leib und Wandel, als unruhiges Übel, voll tödlichem Gift, für Menschen unzähmbar.106 Das können wir im Zusammenhang verbaler Handlungen deuten, aber auch im Zusammenhang mit physischer Erkrankung kann eine höllisch entzündete Zunge Menschen ergreifen wie ein Gift, das durch ihre Vermittlung in den Verdauungsschlauch gelangt. In vollem verdauungsphilosophischem Glanzlicht erscheint der Zusammenhang zwischen Speise und Worten in der Offenbarung, in welcher der Apostel einen heiligen Text in ähnlicher Weise einverleibt, wie der Prophet Ezechiel im Alten Testament:107 »Und ich ging hin zu dem Engel und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sprach zu mir: Nimm hin und verschling es! und es wird dich im Bauch grimmen; aber in deinem Munde wird’s süß sein wie Honig. Und ich nahm das Büchlein von der Hand des Engels und verschlang es, und es war süß in meinem Munde wie Honig; und da ich’s gegessen hatte, grimmte mich’s im Bauch.« 108
Worte gehen hier über Mund und Bauch in Fleisch und Blut über.109 Auf die Differenz zwischen den Freuden von Mund und Bauch könnte auch Jesus’ 104 | Zur fruchtbringenden Wirkung von Urin vgl. Pradhan, 2009, 7612ff. Der in 1. Joh, 7:38 behauptete Bezug auf die Schrift (»καθὼς εἶπεν ἡ γραφή«, »kathōs eipen hē graphē«, wie die Schrift sagt) ist unklar, da im Alten Testament nirgends die Rede von lebendigem Wasser (»ὕδατος ζῶντος«, »hydatos zōntos«,) ist, das sich aus einem Bauch ergießt (»τῆς κοιλίας αὐτοῦ ’ῥεύσουσιν«, »tēs koilias autou«). Möglicherweise floss das Wasser aus Jesus oder seinen Anhängern, wie das Wasser in Ps, 105:41, das aus dem geöffneten Felsen wie ein Fluss in die Wüste strömt. Vgl. Wahlde, 2010, Bd. 3, S. 303ff.; Ex, 17:6, Num, 20:11, Ps, 78:15, 78:20. Damit könnte ein Bezug auf das Blut und das Wasser intendiert sein, das in Joh, 19:34 aus der Seite des geöffneten Körpers fließt. 105 | Vgl. 1. Joh, 3:18. 106 | Vgl. Jak, 3:6-8. 107 | Vgl. Ez, 3:1-5. 108 | Offb, 10:9f. 109 | Zum Verständnis der Bezüge zwischen heiliger Speise und heiligen Worten bei den Aposteln vgl. Justin der Märtyrer, 1. Apol., 64, LXVI; auch Jer, 15:16, wo gegessene Worte das Herz erfreuen. Das Auseinanderfallen der Freude des Gaumens und der Freude des Bauches in Offb, 10:9f, wurde dahingehend gedeutet, das mit dem Akt der freudigen Annahme des Buches unerwünschte Folgen verbunden sein könnten, sei es
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Erklärung zur Reinheit zielen: »Merket ihr noch nicht, dass alles, was zum Munde eingeht, das geht in den Bauch und wird durch den natürlichen Gang ausgeworfen?«110 Unrein werde ein Mensch nicht durch das, was durch seinen Mund in ihn eingehe, sondern durch das, was aus seinem Mund ausgehe. Insofern der Mund den Verdauungsschlauch nach oben hin gegen Speise abschließen oder sich für Speise öffnen kann, wurde die Textstelle mitunter als Beleg für den Bruch mit den jüdischen Speisegesetzen gedeutet. Mit einer gewissen digestiven Bosheit möchte sich diese Deutung dahingehend zuspitzen, dass mit Jesus alles gegessen werden darf, solange es nur in den Bauch eingeht. Schlecht wäre nur, was wieder vom Munde ausgeht. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob diese Deutung sinnvoll ist. Auf Petrus’ Bitte um Erklärung reagiert Jesus bekanntlich mit dem Hinweis darauf, dass Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis und Lästerung Ausgang im Herzen nehmen und den Menschen verunreinigen, indem sie aus dem Munde herausdringen. Essen mit ungewaschenen Händen verunreinige den Menschen dagegen nicht.111 Sein Hinweis auf Unreinheit im geistigen Haushalt krimineller Zeitgenossen macht Jesus nicht zwingend zum Befürworter eines kulinarischen Anything goes im Sinne von Diogenes, s.o. Nichtsdestoweniger spricht der offener Widerspruch zu hygienischen Grundsätzen dafür, dass Jesus über einen guten Magen verfügte, dem Bakterien und Vieren nicht viel anzuhaben vermochten.112 Tatsächlich kann übertriebene Hygiene ja die Entwicklung des Immunsystems schwächen, zu der insbesondere auch die Zusammensetzung der Darmflora beiträgt.113 So, wie manch ein Pythagoreer seine Zeit lieber der Philosophie widmete als der Suche nach aufwendiger Nahrung, gewinnen Christen, die ihre Gesundheit nicht mit langwieriger Suche nach reiner Nahrung erhalten müssen, Zeit für die Prüfung ihrer Herzen.114 Seine Erklärungen zum Herzen könnten weniger auf körperliche Reinheit abzielen als auf eine Säuberung eines Sprachorgans von boshaften Ausdrü-
in Hinblick auf den Inhalt der Schrift oder in Hinblick auf das Zusammenleben zwischen Menschen. Vgl. Barnes, Notes on the Old and New Testaments. Sicher scheint immerhin so viel: Nicht alles, was dem Gaumen gefällt, erfreut auch den Magen. 110 | Mt, 15:17. Zu Aspekten der hierauf aufbauenden mittelalterlichen Diskussion s.o., insbesondere bei Thomas von Aquin und René Descartes. 111 | Vgl. Mt, 15:18-19. 112 | Der Widerspruch besteht nicht nur zu historischen Positionen, etwa im Judentum, sondern auch zu aktuellen Überzeugungen. Vgl. WHO, 2009, S. 9. ff. 113 | Vgl. Mulder u.a., 2009. 114 | Zumindest metaphorisch lassen sich die Unreinheiten, die aus dem Inneren in den Mund dringen, auch mit Erbrochenem in Bezug setzen.
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cken, im Zuge einer gedanklichen Diät.115 Für eine Abstraktion von körperlichen Zusammenhängen spräche auch die Einlassung zu den ungewaschenen Händen. Ist es nicht unwichtig, was wir mit unseren äußeren Körperteilen anstellen, solange wir die Welt nicht mit Schmutz aus unserem Herzen belasten? Ob Jesus eine Trennung zwischen körperlicher und geistiger Reinheit anstrebte, ist allerdings ebenfalls fraglich. Insbesondere Händewaschen kann ja zu beidem beitragen. Dafür spricht im Neuen Testament die Geste des Pontius Pilatus zur Beteuerung seiner Unschuld und auch die aktuelle Hygieneforschung.116 In diesem Sinne wäre das Herz, von dem im Neuen Testament u.a. böse Taten ihren Ausgang nehmen können, weniger als ein Aspekt eines rationalen Bewusstseins zu verstehen denn als Ursprung emotionaler Verfehlung. Die Bezüge zwischen Organen und Geist sind hier klärungsbedürftig. Mit der Funktion des Verdauungssystems war Jesus möglicherweise schlecht oder gar nicht vertraut.117 Wie im Alten Testament und bei den griechisch-römischen Philosophen werden auch im Neuen Testament Wechselwirkungen zwischen Organen und ethischen Vorgaben angenommen: »hütet euch, dass eure Herzen nicht beschweret werden mit Fressen und Saufen.«118 Eine eindeutige Aufklärung der ursprünglichen Intentionen von Jesus in Hinblick auf den Bauch scheint schwierig, auch eingedenk der frühchristlichen Debatte um den Umgang mit der Verdauung (siehe die folgenden Abschnitte zu christlich inspirierten Asketen und Philosophen). In Hinblick auf die Entwicklung einer digestiv motivierten Philosophie bleibt vorerst festzuhalten, dass auch im Neuen Testament Zusammenhänge zwischen Herz, Mund, Geist und Bauch von zentraler Bedeutung sind. Die Ordnung des Geschehens im Mund entsprechend den Angelegenheiten des Herzens betrifft den Bezug zwischen Geist und Verdauung insofern, als scheinbar nach Herzenslust gegessen werden darf, was sich zur Speise anbietet. Wichtig scheint weniger, welche Speisen in den Verdauungstrakt gelangen, als die passende Einstellung der Verdauung auf die Reinheit des Herzens. Die Annahme einer kulinarischen Gesetzlosigkeit bei Jesus scheint nicht vollkommen abwegig. Für die weitere Entwicklung des Christentums ist die Debatte um die Mittel zur Befriedigung des Bauches höchst bedeutungsvoll. Willen zur digestiven Neubesinnung, eingedenk der anhaltenden Exzesse in Teilen der griechischen und der römischen Kulturkreise, zeigt das Neue Testament in der Metapher vom verlorenen Sohn. Hunger kann den Fraß von 115 | Dafür ließe sich etwa anführen, dass ein arbeitsamer Mann im Alten Testament nach dem Genuss von viel oder wenig Nahrung gut einschlafen kann, ein anderer Mann aber keinen Schlaf findet, obwohl er seinen Bauch gut gefüllt hat. Vgl. Sir, 5:12. 116 | Vgl. Zhong, Lilienquist, 2006. 117 | Vgl. Bede, In Matt., II (15:17), zitiert nach Reynolds, 1999, S. 6. 118 | Luk, 21:34.
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Schweinen zur begehrten Speise wandeln.119 Die Lücke zwischen kulinarischem Überfluss und gastrischen Notständen führt zur Neubesinnung auf das, was für den Bauch wichtig scheint. Vielleicht wollte Jesus den Hunger tatsächlich zum besten Koch erklären. Doch selbst damit wäre längst nicht erwiesen, dass er und seine Jünger keine Freude an guter Speise hatten. Gerade Hunger intensiviert bekanntlich die Geschmacksempfindung.120 Dennoch scheint es eher unwahrscheinlich, dass Jesus sehr viel Wert auf guten Geschmack legte. Wichtiger scheint ihm die gemeinschaftsstiftende Wirkung des Speisens und Verdauens gewesen zu sein. Die ungeheure Wirkungsgewalt seiner Aufforderung wird bis heute kontrovers diskutiert. Strukturvergleichende Forschung unterstreicht die Besonderheit des überlieferten Ausspruchs »Nehmet, esset; das ist mein Leib, Trinket, das ist mein Blut, vergossen für viele zur Vergebung der Sünden«,121 den Christus an einem Festabend, bei der Verteilung von Brot und Wein an seine Jünger, getätigt haben soll. Für die Philosophie ist die Entwicklung des ›heiligen Mahls‹ deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie die abendländische Sicht auf Bezüge zwischen Verdauung und Geist in einer recht eigentümlichen Weise prägt. Die Gleichsetzung von Blut mit Wein und Fleisch mit Brot wurde in Hinblick auf verschiedene mythische und kultische Vorbilder ausführlich untersucht.122 Dennoch scheint vieles unklar, jedenfalls aber umstritten. So etwa die Frage, wie buchstäblich es zu verstehen ist, wenn Jesus seine Anhänger zu Verzehr und Verdauung seines eigenen Fleisches und Blutes auffordert.123 Einerseits könnte der Ausspruch rein symbolisch gemeint gewesen sein, wie etwa die Metapher von Jesus als einem Bräutigam ja keinen Beischlaf unterstellt, und dürfte also nicht als Aufforderung zur ultimativen Vereinigung von Geist und Körper mit gastralen Mitteln interpretiert werden. Andererseits scheinen besonders die Formulierungen im Johannes-Evangelium doch recht eindeutig dafür zu sprechen, dass Jesus ernsthaft mit Gedanken an den physischen Verzehr seines eigenen Leibes durch seine Anhänger gespielt haben könnte. Der Wortlaut scheint eindeutig: 119 | Vgl. ebd., 15:16. 120 | Vgl. Zverev, 2004. 121 | Mt, 26:26ff. u.a. 122 | Insbesondere wurden Verankerungen in alttestamentlichen Modellen erwogen, etwa in Opfer-, Schaubrot-, Trauer-, Messias- und Paschamahlzeiten. Vgl. Aalen, 1963; Adam, 1963; Meding, 1975; Spitta, 1893; Jeremias, 1935. Aber auch frühjüdische Analogien sowie gnostische, mystische und hellinistische Ursprünge wurden als Quelle der Inspiration untersucht. Vgl. Johansson, 1925; Eichhorn, 1903; Loisy, 1914; Casel, 1941; Lietzmann, 1926; Marxen, 1966. Zur Übersicht vgl. Klauck, 1982, S. 8ff. 123 | Gerade zu dieser Frage hat die auf Justin folgende theologische Forschung weniger Klarheit als Verwirrung und Widersprüche geschaffen. Vgl. Johnson, 2010, S. 140.
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Vom Geist des Bauches »Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.« 124
Einerlei, ob wir die Rede als Aufforderung zum Kannibalismus oder zur Theophagie auffassen, ist es doch bemerkenswert, wie hier Brot mit Fleisch gleichgesetzt wird. Dass diese Gleichsetzung noch zu Lebzeiten von Jesus zum Streit führte, ist nicht überraschend. Der Verzicht auf menschliche Opfer galt als eine wichtige Errungenschaft der jüdischen Kultur, die Befreiung Isaaks gibt davon Ausdruck.125 Schon während einer öffentlichen Predigt in der Synagoge von Kapharnaum sollen manche Juden die Aufforderung zum Verzehr von menschlichem Fleisch und zum Trinken von menschlichem Blut als unzumutbar empfunden haben.126 Bekanntlich hatte Jesus insistiert: Wer nicht von seinem Fleisch esse und sein Blut nicht trinke, der habe kein Leben in sich, könne nicht ewig in ihm bleiben oder ihn ewig in sich haben.127 Es wurde vermutet, dass die grauenvolle Vorstellung seiner selbst als blutige Leiche Jesus zum Bruch dieses äußersten Tabus inspirierte.128 Die Austeilung von Brot und Wein als Ersatz für seine sterblichen Überreste wäre dementsprechend eine Generalprobe für die Initiation zum ewigen Leben zu verstehen, frei nach dem Motto: ›Bekundet euer Interesse an der gedanklichen Verdauung meiner Lehren durch die gastrale Verdauung meines Leibes‹. Letztlich bleiben solche Spekulationen aber wenig befriedigend, schon eingedenk der unsicheren Quellenlage und des synoptischen Problems bei der Erklärung der Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Matthäus-, Markus- und Lukas-Evangelium. Mit Gewissheit lässt sich immerhin feststellen, dass Blut in den kultischen Praktiken der damaligen Zeit Verwendung fand. Insbesondere die Hebräer sprachen ihm eine reinigende Wirkung zu.129 Die Mischung von Wein und Blut zu Getränken ist für die Römer belegt, die solche Getränke ›Assiratum‹
124 | Joh, 6:51f. 125 | Vgl. 1. Mos, 22:12. 126 | Vgl. Joh, 6:60. 127 | Vgl. ebd., 6:56. 128 | Vgl. Holl, 1993, S. 51. 129 | Vgl. Becker, 1999, S. 150. Schon Moses soll das Blut von Stieren zur Kräftigung des Bundes zwischen JHWH und den Menschen auf dem Altar und über seine Anhängerschaft versprengt haben und vor dem Auszug aus Ägypten sollen die Israeliten ihre Kinder vor dem Zorn JHWHs geschützt haben, indem sie die Türpfosten ihrer Häuser mit dem Blut eines einjährigen Schlachttiers bestrichen.
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nannten.130 Blut und Wein kam eine symbolische Bedeutung für die Lebenskraft zu,131 sie waren als räumliche und symbolische Pole des Opfergeschehens weit verbreitet.132 Trotz unklarer und widerspruchsvoller Zeugnisse legt auch der Gebrauch von Wein und Fleisch im Mithras-Kult Bezüge zwischen Gott und Magen nahe. Ein Opferstier wurde mit dem Gott assoziiert, dessen Tod das Prinzip des Lebens verkörpert haben soll.133 Dabei soll der Stier nicht Mithras geopfert worden sein, sondern selbst den göttlichen Geist verkörpert haben.134 Ihn verzehrend sollen seine Anhänger ihren Gott feiernd in sich aufgenommen und beim Mahl das ewige Leben in die Welt gebracht haben.135 Letztlich ist es aber unklar, ob und in welcher Form das Fleisch und Blut des Stiers genossen wurde und inwiefern die Opfermale eine Form von Theophagie darstellen.136 Die Einverleibung von Nahrung unterstützt gemeinschaftsstiftende Überschreitungen der Grenzen zwischen Körper und personaler Identität.137 Wenn sich Menschen von der gemeinsamen Verdauung göttlicher Nahrung höchste Befriedigung für Geist und Körper versprechen, so kann der symbolische Verzehr von göttlichem Fleisch und Blut besonders ausgeprägte Formen sozialer Identität stiften, gerade dann, wenn Jesus’ Auftrag zur Einverleibung von Fleisch und Blut nach seiner Hinrichtung tatsächlich nicht erfüllt wurde. Der letzte Auftrag des geliebten Lehrers an seine Jünger blieb unerledigt und lebt seitdem als unerfüllter und unerfüllbarer Anspruch einer utopischen Liebe 130 | Vgl. Festus, 1846, Buch I. Um zwischenmenschliche Bindungen auf Leben und Tod anzuzeigen und zu bewirken, wurde Blut auch unvermischt getrunken. Die bindende Macht der Blutsverwandtschaft dürfte das Vorbild für die bindende Wirkung der Blutgetränke gewesen sein. Nach Feuerbach, GdO, S. 57. Selbst wenn Jesus’ Worte von seinen Interpreten metaphorisch aufgefasst wurden, dürfte die Aufforderung zur ewigen Bindung durch gastrale Vermengung doch recht beeindruckend gewirkt haben. Gerade für Hebräer ist die Aufforderung zum Genuss von Blut schockierend: »Allein merke, dass du das Blut nicht essest, denn das Blut ist die Seele; darum sollst du die Seele nicht mit dem Fleisch essen, sondern sollst es auf die Erde gießen wie Wasser«. 5. Mos, 12:23f. 131 | Vgl. Becker, 1999, S. 151f. 132 | Vgl. Poux, 2007, S. 28. Im Heiligtum von Corent in der Auvergne weisen über 150.000 Tierknochen, mehrheitlich von Schafen und Ziegen, auf blutige Tieropfer hin. Daneben wurden fünf Tonnen Amphorenscherben geborgen, die auf die wichtige Rolle von importiertem Wein im Kultvorgang verweisen, der zum Teil als Opfergabe in Spendebrunnen ausgegossen wurde. Poux, 2007, S. 10. 133 | Vgl. Loisy, 1914, S. 195. 134 | Vgl. ebd., S. 196. 135 | Vgl. Klauck, 1982, S. 147; Loisy, 1930, S. 189ff. 136 | Vgl. Klauck, 1982, S. 146ff. 137 | Vgl. Krech, 2007, S. 40.
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weiter.138 Die Worte »das ist mein Leib, das ist mein Blut, vergossen für viele zur Vergebung der Sünden«139 wecken Gedanken an eine offene Schuld. Aber es muss ja nicht unbedingt Gottes- oder Menschenfleisch sein! Laut Simmel kann uns schon die ungeheure sozialisierende Kraft der alltäglichen Mahlzeit übersehen lassen, dass verschiedene Personen gar nicht wirklich ›dasselbe‹ zu sich nehmen, sondern exklusive Portionen essen und trinken: »Was der eine isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen.«140 Grundlegend für die gemeinschaftsbildende Wirkung sei die primitive Vorstellung, man stelle beim gemeinsamen Essen gemeinsames Fleisch und Blut her. Gemeinschaftsbildendes Essen grenzt ein und zugleich ab.141 Nur scheinbar schafft die Zulassung, die Verteilung, die Hierarchisierung und die Auswahl gemeinschaftlicher Speise eine Situation von Gleichen unter Gleichen. Die Strukturierung der Nahrungsaufnahme beinhaltet nicht nur kulturelle und soziale Unterschiede, sondern auch die Verschiedenartigkeit der Verdauungsvermögen. Digestive Ungleichheiten ändern aber wenig an den vereinenden Wirkungen der mit Theophagie verbundenen Vorstellungen. Die meisten Juden dürften bei der Teilnahme am Heiligen Abendmahl vor Entsetzen halb ohnmächtig geworden sein, selbst für den Fall, dass die angebotenen Speisen symbolisch begriffen wurden.142 Bei den Mahlzeiten nach dem Tode von Jesus behielten die frühen Christen die Gründe ihrer Ergriffenheit zumindest teilweise verborgen, insbesondere auch die Aufforderung zum Verzehr ihres Herrn.143 Noch im vierten Jahrhundert soll der Sinn des Mysteriums um Leib und Blut erst nach der Eingemeindung offenbart worden sein. Der fromme Schauer setzte sich dennoch oder gerade deshalb fort. Noch heute scheint der Eucharistie ein unerklärliches Geheimnis anzuhaften, obwohl jene Darstellungen der Kreuzigung, auf denen Jesus’ strömendes Blut in Kelchen aufgefangen wird, den Zusammenhang zwischen gastraler und intellektueller Verdauung der Lehren von Jesus doch recht eindeutig veranschaulichen. Das spricht selbstverständlich nicht dagegen, dass der Aufhebung der Distanz zwischen Menschen mit digestiven Mitteln soziale Widerstände entgegenstehen, die schon so manchen Mord und Totschlag verhindert haben dürften.
138 | Vgl. Holl, 1993, S. 52. 139 | Mt, 26:26ff. 140 | Simmel, 2001, S. 141. 141 | Vgl. Krech, 2007, S. 40. 142 | Vgl. Landmann, 1987, S. 316. 143 | Vgl. Mk, 14:30; Holl, 1993, S. 54.
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F eiern mit Paulus Die frühen christlichen Lehren bieten Ansatzpunkte zur Liberalisierung der Speisegewohnheiten. Jesus ermahnte seine Jünger nicht zum Fasten und pflegte Tischgemeinschaft mit ›unreinen‹ Personen.144 Der Hinweis auf einen Gegensatz zwischen zwei möglichen Herren, dem Sohn Gottes und dem Bauch, setzte der Ausbreitung des kulinarischen Anything goes Grenzen. So spricht Paulus von Tarsus (* ca. 5, vermutlich in Tarsus; † um 64, vermutlich in Rom) weinend von den »Feinden des Kreuzes Christi«, deren Ende die Verdammnis und deren »Bauch ihr Gott ist«.145 Wenn er an die christliche Gemeinde in Korinth schreibt: »Lasset uns essen und trinken / Denn morgen sind wir tot«,146 so ist das also polemisch zu verstehen und gilt nur für jene, die nicht an die christliche Botschaft glauben. Nach Paulus’ Auffassung trägt irdische Lust an Speise zum Leben nach dem Tode allerdings wenig bei. Speise sei nur für den Bauch da, dessen Bestimmung darin liege, die für ihn geschaffene Nahrung zu genießen.147 Am Ende wäre es demnach gleich, womit ein Mensch sich ernährt, denn die Speisen und der Bauch sind sinnlich, müssen verwesen und haben in guten Menschen so wenig moralischen Wert wie in bösen. Insofern der Körper als ein Werkzeug des Herrn betrachtet wird, muss er laut Paulus so gebraucht werden, wie es der Geist verlangt. Seine christliche Auffassung der Freiheit des Geistes richtet Paulus gegen gastrophile Positionen, wie sie etwa im Alten Testament und im Gilgamesch-Epos erscheinen.148 144 | Vgl. Mk, 2:16ff. 145 | Phil, 3:19: »ὧν ὁ θεὸς ἡ κοιλία«. 146 | 1. Kor, 15:33. 147 | Vgl. Schrader, 1835, 102f. 148 | Im Gilgamesch-Epos sucht der König der sumerischen Stadt Uruk nach Unsterblichkeit und betritt an der Grenze zum Jenseits ein Wirtshaus, wo ihm Ischtar, Göttin der Liebe, des Krieges, der Gasthäuser u.a., unter der Maske des Schankmädchens Siduri zu freudigem Leben rät: »Du, Gilgamesch — dein Bauch sei voll / Ergötzen magst du dich Tag und Nacht! / Feiere täglich ein Freudenfest! / Tanz und spiel bei Tag und Nacht! / Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, / Mit Wasser sollst du gebadet sein! / Schau den Kleinen an deiner Hand, / Die Gattin freu’ sich auf deinem Schoß! / Solcher Art ist das Werk der Menschen!« Dieser Rat ist insofern ernst zu nehmen, als menschliches Leben unausweichlich zum Tod führt. Nichtsdestoweniger scheint Gilgamesch ihn nicht beherzigt zu haben. Bemerkenswert ist die parallele Behandlung des Themas im Buch der Prediger, wo eine nahezu epikureische Position vertreten wird: »So gehe hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott. Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupt Salbe nicht mangeln. Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du liebhast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben
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Die Verbindung zwischen Verdauung und sexueller Unzucht schließt Paulus kurz: Speise gehöre zum Bauch, der Bauch zur Speise, beides könne der Herr zunichtemachen, er gehöre zum Leib, der Leib gehöre zu ihm, aber nicht zur Hurerei.149 Wer Jesus geringer schätze als den eigenen Bauch, der betrüge die Herzen der Unschuldigen.150 Der Anspruch der wohlhabenden Korinther auf himmlisches Heil scheint Paulus allzu selbstgerecht.151 Mit der Erinnerung an einen Tod ohne Hoffnung auf ewiges Leben verdirbt er ihnen sozusagen die gastrale Verdauung. Sollen Speise und Trank lebensspendenden Geist vermitteln oder gar ewiges Leben, dann bitte nicht in Form von physischer Nahrung. Aber wo liegt überhaupt der Unterschied? Die Trennung zwischen Eucharistie und gewöhnlichen Mahlzeiten trifft Paulus in einer Erklärung zu pneumatischer Speise und pneumatischem Trank, durch welche sich der Geist des Herrn152 mit den Essenden und Trinkenden vereine. Speise und Trank können dem Geist also wohltun, aber eben nur dann, wenn die Mahlzeit Christus in seine Anhänger hineinbringt und seine Anhänger in ihn. Wann das der Fall ist und wann nicht, scheint zunächst nicht ganz klar.153 In gewissem Sinn zeigt sich Paulus liberal: Er erlaubt er den Korinthern alles das zu essen, was auf dem Fleischmarkt käuflich ist, ohne ihr Gewissen währt; denn das ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der Sonne. Alles, was dir vor Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.« Ecc, 9:7ff. Vgl. Maul, 2005, S. 179; Haas, 1999, S. 93. Vgl. Ecc, 9:4: Warum ist ein lebendiger Hund denn besser als ein toter Löwe? Weil er seinen Herrn hoffentlich bei der Beschaffung von Speise unterstützen wird? Oder ist doch ein toter Löwe besser, weil sein Bauch keine verfehlten Ansprüche stellt? 149 | Vgl. 1. Kor, 6,13. 150 | Vgl. Röm, 16:18. 151 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 159; 1. Kor, 4:8. 152 | Vgl. 2. Kor, 3:17. 153 | Das sakramentale und das sättigende Mahl waren in den frühen christlichen Gemeinden wohl nicht streng getrennt. Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 146f. Benediktionen über Wein und Brot dürften ursprünglich ein Sättigungsmahl eingeleitet haben. Vgl. Niederwimmer, 1993, 179f. Während des eigentlichen Herrenmahls waren die Bäuche der Teilnehmer wohl schon mit der Verdauung einer vorhergehenden Mahlzeit beschäftigt. In der Didache, einer frühen Kirchenordnung, folgt auf die eucharistische Danksagung eine Danksagung für die Freude bzw. Füllung (»ἐμπίμπλημι«). Did, 10:1. Für Speise zum Genuss (»ἀπόλαυσιν«) und Speise für den Geist (»πνευματικός«) wird sozusagen im selben Atemzug gedankt. Ebd., 10:3. Dem Sättigungsmahl folgte ein dem jüdischen Nachtischgebet nachgebildetes Dankgebet, als Invitation zur Herrenmahlfeier. Vgl. Niederwimmer, 1993, 179f.
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darüber anzustrengen.154 Bei Mahlzeiten mit Ungläubigen solle einfach so genossen werden, dass sich weder Juden noch Griechen noch andere Christen verärgern.155 Doch gleichzeitig bemüht sich Paulus um Speiseregeln zur Abgrenzung von paganer Lebensweise, Völlerei und Sexgelagen.156 Dazu greift er Bezüge zwischen gewöhnlichen Speisen zum Erhalt des Körpers und der Speise für den Geist auf. Im frühchristlichen Denken symbolisiert ein großer, geöffneter Mund Vertrauen und Freude an guten Dingen.157 Wer seinen Verdauungsschlauch der Welt gegenüber weit öffnet, zeigt sich gewissermaßen bereit, geistig Gutes so in sich aufzunehmen wie organische Speise. Speise und Trank übereignen Pneuma.158 Sie stammen aus Jesus, dem geistigen Felsen, von dem die Christen trinken und essen.159 Der Herr, der Geist ist160 und der lebendig macht,161 ist in der Speise selbst gegenwärtig.162 Im Leib des Herren fallen Geist und Körper zusammen.163 Der Geber ist beim Herrenmahl die Gabe.164 Sollte Paulus eine somatische Realpräsenz vertreten haben, sollte er also davon ausgegangen sein, dass Leib und Blut von Christus in Leib und Brot tatsächlich gegenwärtig sein können, so ist das weniger als Parallele zum alttestamentarischen Denken zu verstehen, wo Theophagie nicht vorkommt, als zu hellenistischen Götzenopfermahlen.165 Die mit der Einverleibung einer Gottheit verbundenen Vorstellungen wurden in Korinth wahrscheinlich aus 154 | Vgl. 1. Kor, 10:25ff. 155 | Vgl. ebd., 10:31-32. 156 | Vgl. Stein, 2008, S. 151. 157 | Vgl. 2. Kor, 6:11, Eph, 6:19. 158 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 155. 159 | Vgl. 1. Kor, 10:3f. 160 | Vgl. 2. Kor, 3:17. 161 | Vgl. Joh, 6:63. 162 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 155. 163 | Ignatius von Antiochien: »[...] daß ihr alle Mann für Mann gemeinsam in der Gnade zufolge des Namens euch versammelt in einem Glauben und in Jesus Christus, der dem Fleische nach aus dem Geschlechte Davids stammt, dem Sohne des Menschen und dem Sohne Gottes, auf dass ihr untertänig seid dem Bischof und dem Presbyterium in ungeteilter Gesinnung, ein Brot brechend, das ist ein Heilmittel zur Unsterblichkeit, ein Gegengift, dass wir nicht sterben, sondern leben in Jesus Christus immerdar.« Ignatius, Brief an die Epheser, 20. In seinem Brief an die Römer erklärt sich Ignatius zum Weizen Gottes und hofft von den Zähnen der wilden Tiere zu reinem Brot Christi gemahlen zu werden. Als Garant für ewiges Leben erinnert das christliche Brot an die Speisen in altägyptischen Gräbern zur Verdauungspflege für das Erscheinen vor den Göttern nach dem Ende des irdischen Lebens. Vgl. Ignatius, Brief an die Römer, 4. 164 | Vgl. Klauck, 1982, S. 366. 165 | Vgl. ebd., S. 374; 1. Kor, 8-10.
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einer älteren Schicht der Opfermahlpraktiken abstrahiert, naheliegend aus Nähe zwischen Mensch und Gottheit in dionysischen oder orphischen Kulten, und mit ihrer stoffgebundenen Theophagie auf das Herrenmahl übertragen.166 Der Genuss geistiger Speise allein führt laut Paulus nicht automatisch zu Unsterblichkeit.167 Zwar fülle ein und dieselbe göttliche Speise die Bäuche der Korinther, »[a]ber an ihrer vielen hatte Gott kein Wohlgefallen.«168 Bei der geistigen Nahrung handelt es sich, in »streng christologischer Deutung«, um das am Kreuz vergossene Blut bzw. den für viele hingegebenen Leib,169 aber was nützt es, Brot und Wein im Gedenken an Jesus zu teilen, und sich gleichzeitig mit Götzen in heidnischen Mahlfeiern gemein zu machen?170 Salopp formuliert sollen zur Speise des Geistes ausschließlich das Fleisch und das Blut des Herrn verwendet werden, die dabei nicht zur Befriedigung des Bauches dienen, und ansonsten wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Die Rede von einem in der Speise gegenwärtigen Geist wäre ohne Bezug auf organische Verdauung sinnlos. Die Bedeutung von Brot und Wein für die christliche Praxis ergibt sich ja aus konkreten kultischen Handlungen, insbesondere beim gemeinsamen Mahl unter Gleichgesinnten, in denen sich organische und intellektuelle Freude bedingen und verstärken.171 Wie immer die Abfolge von Privatmahl, Agape, Wein- und Brotritus in den frühen Abendmahlfeiern variiert haben dürfte, jedenfalls wurde gemeinsam gegessen, gesungen, gebetet und verdaut.172 Die christliche ›Epiklese‹, also das Flehen um Gnade, Logos oder Geist als Antizipation der vollendeten Gottesherrschaft, dürfte nicht nur abstrakt geistig, sondern auch für alle Sinne erfahrbar gewesen sein.173 Christliche ›Übungen der Eingeweide‹ öffnen Möglichkeiten zur Repräsentation von Prozessen der Erhaltung und Entstehung.174 Die Bemü166 | Vgl. Klauck, 1982, S. 366ff. 167 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 155. 168 | 1. Kor, 10:5. 169 | Vgl. Wolff, 1990, S. 53. 170 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 158. 171 | Jesus von Nazareth feierte das letzte Abendmahl in der hebräischen Tradition der Mahlzeit am Sederabend des Pessach-Festes, im Gedenken an den Auszug aus der Sklaverei, dem der Empfang der Gebote folgte: »Und da sie Gott geschaut hatten, aßen und tranken sie.« 2. Mos, 24:11. Die bei katholischen und orthodoxen Christen verbreitete Fastenzeit vor Ostern und der Verzehr von Ostereiern unterstreichen die Verknüpfung von Bauchzustand und kultischem Gedenken an das letzte Abendmahl. »Als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden.« 1. Kor, 5:7; Joh, 1:36; 19:36. 172 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 161, vgl. 1. Kor, 14. 173 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 162. 174 | Laut Rousseau erinnert die Transsubstantiation an die Transmutation von fäkaler Materie in Hinblick auf eine ihrem Existenzmodus nützliche Reorganisation. Nach
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hung der frühen Christen, der Lust des Bauches Grenzen zu setzen, ist sicher ein wesentlicher Aspekt der paulinische Stiftung eines kritischen Sinnpotenzials vom ›Ostergeheimnis‹ her.175 Das bedeutet aber eben nicht, dass Paulus den Einfluss der organischen Verdauung auf das geistige Wohlbefinden ignoriert hätte. Bei ihm erscheint die im Mahl präsente Gottheit immer auch als der blutende Leib des Gekreuzigten, dessen Einverleibung auf den Geist und auf den Körper wirkt.176 Wenn die paulinische Gemeinde sich mit pneumatischer Speise und pneumatischem Trank dem ewigen Leben des Geistes annäherte, so war das, zumindest im Ursprung, auch eine Freude für den irdischen Leib.
K örpersäf te bei G alen Galenos von Pergamon (* 129-131 in Pergamon; † nach 199 in Rom) behandelt die Verdauung im Zuge einer Weiterentwicklung der Humoralpathologie bzw. der Lehre von den Köpersäften aus dem Corpus Hippocraticum. Er meinte dabei einen Weg gangbar zu machen, den Hippokrates nur angezeigt habe, ohne allzu weit auf ihm fortzuschreiten.177 Ob Galen sich zu Recht rühmte, für die Medizin etwa so viel geleistet zu haben wie der Kaiser Trajan durch den Bau von Brücken und Straßen für das Römische Reich, ist bis heute umstritten.178 Wahrscheinlich leistete er sogar noch einiges mehr, als er selbst vorgab. Jedenfalls wurden seine Lehren auch nach dem Niedergang des römischen Reiches weiterhin vertreten. In seiner Verdauungslehre unterscheidet Galen verschiedene Vorgänge, in denen die Nährstoffe den qualitativen Bedürfnissen des Körpers angepasst werden.179 Schwankungen bei der Zuordnung von Körpersäften zu Körperteilen betreffen auch die Verdauungsorgane. Gemeinhin stehen Leber und Nieren gegenüber Magen und Därmen im Vordergrund.180 Den Begriff der Verdauung Ferenczi entwickelt sich schon das kindliche Staunen darüber, dass die geschluckten Speisen nicht den Exkrementen gleichen, in einem dauerhaften Zirkel von Assimilation und Ausscheidung. Die Vorstellung der Ursünde und die Metapher von der verbotenen Frucht spiegeln Wünsche zur Wiederherstellung eines scheinbaren Widerspruchs zwischen Verdauungszyklus und Kausalität. Vgl. Rousseau, 2002, S. 91f. 175 | Vgl. Häußling, 1999. 176 | Vgl. Leinhäupl-Wilke, 2007, S. 150. 177 | Vgl. Galen, MM, Bd. 9, Kap. 8, S. 95ff. 178 | Vgl. ebd., S. 108; vgl. Black, 1872, S. 88. 179 | Vgl. Galen, Nat Fac, I.xii. 180 | Gemeinhin wird das Herz dem Blut (lat. ›sanguis‹) kindlich heiterer und aktiver Sanguiniker zugeordnet, die Leber der gelben Galle (gr. ›χολή‹, ›cholé‹) halbstarker,
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›πέψις‹ (›pepsis‹, aufweichen, kochen) verwendet Galen nicht im modernen Sinne einer chemischen Aufspaltung von Nahrung in einfachere Bestandteile zur Assimilierung, sondern bezieht ihn auf verschiedene Prozesse einer Umwandlung, die in mancher Hinsicht an Vorgänge des Kochens erinnern.181 Grob lassen sich drei verschiedene Umwandlungen unterscheiden:182 Eine erste Umwandlung findet im Magen-Darm-Kanal statt, wo die Speise durch mechanisches Zerreiben und Zersetzung zu Chylus gewälzt wird. Als Abfallstoff entsteht der Darminhalt. Eine weitere Umwandlung findet statt, wenn sich der Chylus in der Leber unter Einwirkung des physischen Pneumas (›Spiritus naturalis‹) als Gemisch der vier Körpersäfte zu Blut umbildet. Als Abfallstoff entsteht dabei Harn. Über die Venen gelangt das nährende Blut in die Organe, die es im Zuge der dritten Umwandlung ernährt. Als Abfallstoff entsteht Schweiß. Die Verdauung hat einerseits eine alle Prozesse der Ernährung umfassende Bedeutung, andererseits betrifft sie speziell die Aktivität des Magens. Die Därme erscheinen weniger als Organe der Assimilation von Nährstoffen denn als Abfluss der Überreste der Verdauung im Magen. Lebendige Wesen sind laut Galen nicht aus unveränderlichen Teilen zusammengesetzt, sondern werden durch eine dynamische Relation zwischen körpereigenen und -fremden Stoffen zielgerecht verwirklicht, die an einen Prozess bildnerischen Werdens erinnert.183 Unter expliziter Anlehnung an hippokratische Vorstellungen erklärt Galen, dass in der Natur Kräfte wirken, durch die jedes Organ den zu ihm passenden Saft anziehe, um ihn jedem seiner Teile vollkommen anzugleichen.184 Was nicht verarbeitet werden und was keine vollkommene Angleichung mit dem zu ernährenden Teil durchmachen könne, werde durch eine ausscheidende Kraft entfernt. Galen interessiert sich insbesondere für den Transport der Nahrung zu den Organen, von denen sie gebraucht werden.185 Dementsprechend steht sein Interesse an der Nahrungsverarbeitung in Magen und Darm hinter seinem Interesse an der Blutproduktion zurück. Deutlich wird das in seiner Kritik der Lehren seines Kollegen Erasistratos (* um 305 v. Chr. in Iulis auf Keos; † um 250 v. Chr.), Vertreter einer pneumatischen Pathologie, der auf diätische reizbarer und gleichsam kühner Choleriker, die Milz der schwarzen Galle (gr. ›μέλαινα χολή‹, ›mélaina cholé‹) gereifter, nachdenklicher, trotziger Melancholiker, das Gehirn dem Schleim (›φλέγμα‹, ›phlegma‹) der gealterten, passiven, trägen Phlegmatiker. 181 | Vgl. Powel, 2003, S. 23. 182 | Auch die Umwandlung von Luft in Pneuma in der Lunge wird als ›pepsis‹ bezeichnet, in Analogie zur Transformation der Nahrung in Blut durch die Leber. Vgl. Debru, 1996, S. 122. 183 | Vgl. Haarman, 2008, S. 87f. 184 | Vgl. Galen, Nat Fac, II.iv. 185 | Vgl. Haarman, 2008, S. 88.
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und medikamentöse Verfahren, insbesondere auf Nahrungsreduzierung bis hin zur Hungerkur vertraut haben soll.186 Von seinen Schriften sind uns, wie von mancher anderen verdauungsfreundlichen Abhandlung, leider nur Fragmente erhalten.187 Bedeutende Informationen zu den Lehren überliefert Galen selbst. Erasistratos habe die Aktivitäten im Magen zum Ursprung von allem erklärt: das Aufweichen von Nahrung, die Absonderung von Abfallstoffen und die Aussonderung der Nährstoffe aus dem Chylus.188 Er habe sich auch nicht geschämt, alle möglichen Formen gestörter Verdauung zu unterscheiden, Fragen der Blutproduktion aber nicht einmal erwähnt.189 Über die Entstehung der vier Säfte scheine Erasistratos überhaupt nichts gewusst zu haben. Galen fragt polemisch, ob wir unsere Aufmerksamkeit denn wirklich auf die Entsorgung der Körperkräfte konzentrieren sollen. Ist medizinische Vorbeugung gegen ihre Überproduktion nicht wichtiger als die Beseitigung eines entstandenen Schadens durch Ausscheidung? Hätte Erasistratos Recht und würde es keinen praktischen Unterschied machen, ob eine Flüssigkeit mit der Speise in den Körper gelange oder durch die Verdauung im Magen überhaupt erst produziert werde, müsste die Einnahme von Wein oder Rüben dann nicht schädlich sein, weil sie viel Galle enthalten?190 Entscheidend ist laut Galen, welche Speisen der Produktion von Blut dienlich sind, nicht ob sich der Magen mit ihrer Verdauung schwer tue.191 Das Gelingen der Umwandlung einer Speise in nützliches Blut sei wichtiger als ihre vollständige Umwandlung in Chylus durch den Magen. Blut könne mal dicker und mal dünner, mal röter, gelber, schwärzer oder phlegmatischer sein.192 Wer wie Erasistratos solche Vielfalt einfach ignoriere, könne etwa die Einflüsse von Milz, Uterus und Hämorriden bei der Entstehung von ›Wassersucht‹ nicht richtig verstehen. Die ursächliche Rolle des Blutes sei hier mit der ursächlichen Rolle unvollständiger Verdauung bei Durchfall vergleichbar. Der kleingeistige Erasistratos habe Verdauung mit Fäulnis verwechselt.193 Den Einfluss von Hitze auf die Befindlichkeit des Bauches habe er wohl eingestanden, denn er habe ja eingesehen, dass Fieber die Kontraktionen des Magens und damit
186 | Vgl. Nutton, DNP, S. 43. 187 | Moderne Darstellungen des Erasistratos wiederholen häufig unkritisch die Beschuldigungen Galens. Vgl. Nutton, DNP, S. 753. 188 | Vgl. Galen, Nat Fac, III.iv. 189 | Vgl. ebd., II.vii. 190 | Vgl. ebd., II.viii. 191 | Vgl. ebd. 192 | Vgl. ebd. 193 | Vgl. ebd.
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das Zerreiben der Nahrung erschwere. Aber was behindere den Magen denn bei seinen Aufgaben, wenn nicht die Hitze?194 Es sei dahingestellt, ob Galens Polemik uns über den Verlust der Schriften hinwegtrösten kann, in denen Erasistratos sich zur Verdauung äußerte. Jedenfalls hat auch Galen einiges zur Verdauung zu erklären. Die Umwandlung von Nahrung versteht er als Beitrag zum humoralen Gleichgewicht des Körpers. In Überlegungen zur Bedeutung von Träumen für Krankheitsdiagnosen bringt Galen die Sprache auf die Ernährung und Magenzustände,195 wobei er Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Zuständen annimmt.196 Die Verdauung im Magen sei mehr als eine Aufweichung fester Nahrung durch fortgesetzte Kontraktionen.197 Den Magen stellt er als ein aktives Organ vor, dass seine eigene Leere spüre, das Gefühl des Hungers hervorbringe und den Organismus zur Suche nach Nahrung treibe. Der Magen ziehe Nahrung durch die Speiseröhre »[w]ie eine Hand«.198 So wie ein Arbeiter Getreide von Erde, Steinen und fremdartigen Samen trennt, so reiße der Magen alles Mögliche in sich hinein, um es zu verbessern und in die Adern zu leiten.199 Die Aufnahme und Speicherung von Nahrung durch die passiveren Därme erfolge entsprechend ihrer physischen Länge und Dicke. Lange Därme seien Anzeichen für einen hohen Entwicklungsstand. Galen bezieht das auf Platon. Tiere, die ständig fressen und koten, hätten keinen Sinn für Philosophie und Musik, wogegen höhere Wesen nicht andauernd essen oder defäkieren.200 Die platonische Dreiteilung der Seele befürwortet Galen, obwohl er die Teilung zwischen Körper und Seele insofern in Frage stellt, als er die Abhängigkeit psychologischer und insbesondere rationaler Fähigkeiten von physischen Zuständen behauptet.201 Galen denkt praktisch. Nicht nur feste Speisen können schwachen Mägen Schwierigkeiten bereiten, sondern auch die Verdauung von Flüssigkeiten. Verdauung müsse deshalb mehr sein als einfache Umwandlung von Nahrung in 194 | Vgl. ebd. 195 | Vgl. Galen, Dign Insomn. 196 | Träume haben bei Galen göttlichen Ursprung oder entstehen in der Seele und gehen mit körperlichen Symptomen einher. Die Trennung verschiedener Traumbereiche sei schwierig. Vgl. Harrisson, 2013, 18ff. 197 | Vgl. Galen, Nat Fac, III.iv. 198 | Galen, Nat Fac, III.viii. (S. 271). Galen verwendet ›Stomachus‹ (›στόμαχος‹) mitunter als einen geläufigen Begriff zur Bezeichnung des ›Oisophagos‹, wobei Bezüge zum ›Mund des Magens‹ (›to stoma tês koilias / gastros‹, ›τό στόμα τἤς κοιλίας / γαστρός‹) bzw. zur ›Kardia‹ naheliegen. Vgl. Powel, 2003, S. 23ff. 199 | Vgl. Galen, UP, 204. 200 | Vgl. ebd., I, 241. 201 | Vgl. Gill, 2009, S. 263; Holmes, 2009, S. 563.
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Speisebrei bzw. Säfte.202 Wie zur Produktion von Blut und zur Ernährung der Organe qualitative Veränderungen gehören, so auch zur Umwandlung von Nahrung bei der Verdauung im Magen.203 Der Pylorus öffne sich auch für Flüssigkeiten nur nach dem Abschluss der Verdauung. Die qualitative Veränderung bei der Verdauung im Magen sei nicht in Hinsicht auf den Geschmack von Erbrochenem zu beurteilen.204 Wichtiger sei die mögliche Wirkung der verdauten Speise. Parallelen zwischen digestiver und sexueller Bauchaktivität zieht er ausgehend von Magen und Uterus. Beide Organe seien hohl und dazu geeignet, etwas aufzunehmen und wieder abzugeben. So wie ein Embryo bis zu seiner vollständigen Entwicklung im Uterus verbleibe, werde die Nahrung im Magen zurückgehalten, bis sie verdaut ist.205 Die Zeit zwischen Aufnahme und Abgabe sei wohl verschieden lang, aber die Vorgänge seien doch ähnlich, insbesondere in Hinblick auf die Erweiterung des Organs bei der Aufnahme und auf die Verengung bei der Abgabe.206 Bei guter Gesundheit gebe es weder im Uterus noch in Magen, Blase oder Darm freien Raum, weil sich die Organe ihrem Inhalt entsprechend zusammenziehen oder erweitern.207 Die christliche Affinität zu den Lehren des heidnischen Mediziners soll sich schon zu Anfang des III. Jahrhunderts entwickelt haben. Laut Eusebios beteten römische Christen Galen regelrecht an.208 Galen regte die weitere Entwicklung der christlich orientierten Verdauungslehren durch Erklärungen zu Nahrung und Temperament, wie die Ausführungen zur Nachordnung der Verdauung hinter das Blut und insbesondere die Annahme enger Bindungen zwischen sexuellen und digestiven Funktionen, an.209 Bei Galen lief die Philosophie gleichsam im Schlepptau der Medizin, der gute Arzt sollte ein Philosoph sein.210 Der wahre Philosoph wiederum zeichnet sich auch bei ihm durch seinen Umgang mit den Bauchfreuden 202 | Vgl. Galen, Nat Fac, III.iv. 203 | Vgl. ebd. 204 | Vgl. Boy-Stones u.a., OHHS, 2009, vgl. Galen, Nat Fac, III.viii. 205 | Vgl. ebd., III.ii. 206 | Vgl. ebd., III.iii. 207 | Vgl. ebd., III.iv. 208 | Vgl. Schulze, 2005, S. 197. 209 | Wenn Galen weniges selbst erfand, aber vieles wortgewandt weitergab, so gilt das auch hier, insofern die christliche Haltung zu Askese, Blut, Fleisch und Lust auf hebräischen, hellenistischen und römischen Vorbildern fußt und Galen eine Mischung aus mosaischem und materiellem Prinzip nutzbar macht, nicht etwa epikureische Lust. Gewisse Dinge versuche Gott eben einfach nicht, sondern wähle die beste der sich bietenden Möglichkeiten. Vgl. De usu partium, 11:14. 210 | Vgl. Schulze, 2005, S. 4.
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aus. Wer sich betrinke, mit Speise vollstopfe und den Freuden der Venus ausliefere, werde zum Sklaven des Bauches und unfähig zu harter Arbeit.211 Entscheidend für Galens Position war der Glaube an die Unfehlbarkeit des Hippokrates. Scheinbare Irrtümer des Vorbildes beruhten laut Galen auf Missverständnissen oder auf der Perversion von Patienten, die entsprechende Anweisungen nicht richtig ausführten.212 Körperliche Funktionen wurden auf eine Art göttliche Einsicht in die Notwendigkeit gegründet. Der »letzte große Arzt«, als den Galen sich selber verstand, unterstrich nachhaltig die Möglichkeit eines medizinischen Anspruches auf Unfehlbarkeit und uneingeschränkte Kompetenz.213 Mit den umfangreichen medizinischen Übersetzungen überschritten Wissenschaft und Philosophie die Grenzen der Religion und Sprache. Aus Galens Dogmen zweifelsfreier Heilsbotschaften für Körper und Geist formten sich umfassende Systeme der Moral und Sittenlehre, die sich über die christliche Rezeption auch in der arabischen Kultur verbreiteten. »Wenn Galen und Aristoteles in einer Sache übereinstimmen, dann verhält es sich auch so. Wenn sie unterschiedlicher Auffassung sind, ist es für den Verstand schwer, das Richtige zu finden«, soll der syrische Hofarzt Yūhannā ibn Māsawayh bemerkt haben.214
211 | Vgl. Galen, opt. med., S. 33. 212 | Vgl. Nutton, 1990, S. 4. 213 | Vgl. Nutton, 2004, S. 236. 214 | Vgl. Schulze, 2005, S. 5. Syrische Christenärzte sollen von einer geradezu überschwänglichen Begeisterung für Galen erfüllt gewesen sein und gut für Übersetzungen gezahlt haben. Vgl. ebd., S. 203. Der Weg von den Einsichten der Antike bis zur Aufklärung scheint nicht sonderlich weit, mag manche Nuance der ursprünglichen Auffassungen auch auf der Strecke bleiben. Franz Kienle, im Jahre 1784 Pfarrer zu Stetten bei Haigerloch, bringt die Quintessenz der antiken Diätetik auf den Nenner: »Der Arzt Galenus hielt allzeit den zehnten Tag einen Fasttag, um gesund zu bleiben; und Hippokrates lebte 140 Jahre; weil er, wie er sagte, niemals satt vom Tische aufgestanden ist.« Kienle, LCGS, 1784, S. 222.
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K irchenväterliche B auchbeschr änkung Der Einfluss des Bauches auf die Entwicklung des Geistes erscheint in den Schriften der Kirchenväter mit voller Brisanz.215 Die Auseinandersetzungen mit Nahrung, Schlaf und Sexualität werden zum Ausdruck eines Kampfes, dessen Ausgang über die Fähigkeit menschlicher Anpassung an den Willen Gottes entscheidet. Verglichen mit der Angst vor dem Hunger erscheinen die Versuchungen sexueller Lust allerdings harmlos.216 Als Grundtugend galt die Demut, als Grundleidenschaft die Fresslust.217 Gastrale Sattheit galt als Gefahr, denn es wurde angenommen, dass der Hunger nach physischer und nach geistiger Speise einander bedingten.218 Es sei dahingestellt, ob der Kampf gegen die Lust am Verdauen tatsächlich immer schwerer war als der Kampf gegen die sexuellen Freuden. Der Umgang mit der Verdauung erreicht bei den Kirchenvätern eine charakteristische Ausbildung. Die Ursünde wurde als Anfall heißhungriger Gier nach Nahrung interpretiert.219 Gerade für die Mönche in der ägyptischen Wüste, inmitten einer von menschlicher Nahrung entleerten Umwelt, war Furcht vor dem Hungertod konkret. Aus dem Triumpf über den Hunger erwuchsen Vorstellungen einer anderen, die eigenen Lüste beherrschenden Menschheit. Der Sieg über die fatalste aller Versuchungen, der Adam nicht hatte widerstehen können, schien greif bar.220 Mit einer aufs Notwendige beschränkten Nahrungsaufnahme galt es, eine ursprüngliche, gottebenbildliche Leiblichkeit zurückzugewinnen.221 In diesem Sinne fragt schon Abbas Poimen: »Wie sollen wir Gott gefallen, wenn wir den Bauch mit Käse und Konservenkost füllen?«222 Die um die Verdauung kreisenden Gedanken der christlichen Asketen stehen in widerspruchsvollen Bezügen zur Entwicklung insbesondere in Rom. Offensichtlich waren die zum Leben in der Wüste gehörenden Vorstellungen nicht reibungslos auf das Leben in der antiken Großstadt anwendbar und umgekehrt. Doch gerade auch deshalb liefern die Schriften der Kirchenväter reichhaltiges und vielfältiges Material für Überlegungen zum Umgang mit dem Bauch, sowohl in Hinblick auf Sexualität als auch auf Verdauung. Die 215 | Einen Eindruck der Macht, die gastraler Verdauung vor der Verbreitung des Christentums zugesprochen wurde, geben die Zauberpapyri der Mysterienkulte. Vgl. Klauck, 1982, S. 157ff. 216 | Vgl. Brown, 2008, S. 218f. 217 | Vgl. Ammonas, 1916, S. 144. 218 | Vgl. Sartory, 1993, S. 75. 219 | Vgl. Dodel, 1997, S. 94. 220 | Vgl. Brown, 2008, S. 220f. 221 | Vgl. Dodel, 1997, S. 94. 222 | Apophthegmata Patrum, 181.
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philosophische Bedeutung der Schriften ergibt sich schon aus dem Einfluss des christlichen Gedankenguts auf die Entwicklung des Denkens im abendländischen Mittelalter. Doch auch für das, was wir unter aufgeklärtem Denken verstehen, tragen die Kirchenväter bei, weil ihre Positionen uns in einem ähnlichen Sinne angehen wie die der klassischen Griechen: Die Antworten befriedigen kaum, aber manche Frage bleibt offen und aktuell.
Athenagoras’ Menschenleiber In einem Text Über die Auferstehung der Toten beschäftigt sich Athenagoras von Athen (* u. † im 2. Jh.) mit der Aufnahme, Verdauung und Ausscheidung von Leibern, und insbesondere mit der Aufnahme von menschlichem Fleisch durch menschliches Fleisch.223 Werden menschliche Leiber von Fischen oder anderen Tieren aufgezehrt und in Teile und Teilchen zerstückelt, so werden diese, Athenagoras zufolge, als Nahrung mit den Leibern der sich so ernährenden Wesen vereinigt und nicht wieder ausgeschieden.224 Wenn diese Tiere nun selbst in menschliche Mägen geraten und mit den Leibern der Essenden vereinigt werden, so wandern Teile des Menschen, die den auffressenden Tieren zur Nahrung gedient haben, in andere Menschenleiber hinüber. Gleiches gitt für den Verzehr von Kindern bei Hungersnot, Wahnsinn oder feindlicher Überlistung. Die Möglichkeit der Verteilung eines verspeisten Leibes in verschiedenen Menschen spricht laut Athenagoras gegen die Vorstellung einer Auferstehung von den Toten, insofern ein verzehrter Leib bei der Auferstehung unvollständig bleiben muss, oder – im Falle einer Rückerstattung der fehlenden Teile an den früheren Inhaber – die Leiber anderer Menschen ein Manko erleiden müssen. Athenagoras begegnet dieser Schwierigkeit mit einer Theorie der Verdauung, die zwischen vergänglichen und dauerhaften Nahrungsanteilen unterscheidet. Nicht alles vereinige und vermische sich mit jedem Leibe.225 Für jedes Lebewesen gebe es eine passende Nahrung. Manches verderbe schon beim Eintritt in die Gedärme. Es werde ausgespien oder gehe auf andere Weise ab. So komme es nicht zur naturgemäßen Verdauung und es werde von dem zu ernährenden Körper nicht assimiliert. »[…] ja es braucht sich nicht einmal alles Verdaute, das die erste Veränderung schon überstanden hat, unter allen Umständen mit den zu ernährenden Teilchen vereinigen; manches kann schon im Magen die ernährende Kraft verlieren, anderes kann bei der zweiten Veränderung und bei der in der Leber erfolgenden Verdauung ausgeschieden 223 | Vgl. Athenagoras, De Resurrectione, 4, S. 342ff. 224 | Vgl. ebd., 4, S. 342. 225 | Vgl. ebd., 5, S. 343.
E x zesse werden und sich zu einem anderen Teile hinwenden, der mit der Nährkraft nichts zu tun hat; selbst die in der Leber bewirkte Veränderung dient nicht ausschließlich der menschlichen Ernährung; sie liefert naturgemäß auch zu anderen Zwecken etwas ab; ja es kann sogar vorkommen, dass die überflüssige Nahrung selbst noch in den ernährten Teilen und Teilchen anderen Zwecken dienstbar gemacht wird, wenn nämlich Sättigung oder Überfüllung vorherrscht, die das Aufgenommene irgendwie unschädlich zu machen oder zweckmäßig zu verwenden pflegt.« 226
Zwischen den tierischen Organismen bestehe eine große Verschiedenheit, gerade die naturgemäße Ernährung sei bei jeder Art und bei jedem zu ernährenden Leibe eine andere.227 Ferner gebe es hinsichtlich der Ernährung eines jeden Organismus eine dreifache Reinigung und Aussonderung. Alles für die Ernährung eines Organismus Ungeeignete könne sich mit diesem nicht vereinigen, müsse vollständig zerstört werden und auf natürlichem Wege abgehen. Die Qualität des ernährenden Leibes müsse den Qualitäten des zu ernährenden Leibes angepasst sein, damit sie den naturgemäßen Weg durch die aussondernden Organe zurücklegen und ein Zuwachs zur Leibessubstanz werden könne. Überhaupt sei nur das Nahrung zu nennen, was frei von allem für den Bestand des zu ernährenden Organismus Ungeeigneten und Schädlichen sei, insbesondere von jener schweren Masse, die bloß zur Ausfüllung des Magens und zur Stillung der Begierde mitaufgenommen worden sei. Solche Nahrung vereinige sich unbestreitbar mit dem zu ernährenden Körper. Eine anders geartete und naturwidrige Nahrung werde dagegen entweder zerstört oder wirke zerstörend und gehe in schlechte Säfte und giftige Stoffe über, da sie dem zu ernährenden Körper nichts Verwandtes und Befreundetes zuführe. Werde Giftiges und Naturwidriges allzu gierig aufgenommen, so könne das den Organismus ganz zerstören, der nur durch Verwandtes und Naturgemäßes ernährt werden könne, durch Entgegengesetztes aber Schaden nehme. Aufgrund der Verschiedenheit der Organismen herrsche auch in der naturgemäßen Nahrung Verschiedenheit. Was nicht zur Vermischung geeignet sei, werde nicht »durch die einzelnen Verdauungsstufen geläutert und zur Einigung mit dem so oder so beschaffenen Leibe vollkommen umgewandelt«.228 Was keine naturgemäß passende Nahrung sei, das gehe entweder durch die Bauchhöhle ab, sei es in seinem ursprünglichen Zustand oder auch zerstört, oder aber verbleibe länger darin und erzeuge Unbehagen oder Krankheit. Würden solche Substanzen durch Arzneien, bessere Speisen oder durch die natürlichen Kräfte überwunden und abgeführt, so wirkten sie doch schon deshalb schädigend, weil sie der Natur des Körpers nichts Verträgliches zuführten. 226 | Ebd., 5, S. 344. 227 | Vgl. ebd., 6, S. 344. 228 | Ebd., 6, S. 345.
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Der Nahrungsbedarf ende mit den unvollkommenen und sterblichen Leibern. Für das Leben nach dem Tode seien Blut, Schleim, Galle und Atem ohne Bedeutung, die auferstehenden Leiber hätten kein Bedürfnis nach Nahrung und setzten sich aus den ihnen eigenen Teilen wieder zusammen.229 Von diesen Teilen müsse bei der Auferstehung nichts fehlen, denn selbst wenn ein Leib in einen anderen Leib gelange, würde das aufnehmende Fleisch das aufgenommene Fleisch nicht immer festhalten. Das Fleisch werde kein ständiger Teil des Fleisches, dem es einverleibt wurde. Der Nahrung komme weder die Beschaffenheit noch der Platz eines ständigen Teiles zu. Sie bleibe auch nicht für immer bei den zu ernährenden Teilen des Leibes und gelange nicht zu neuem Leben. Das aufnehmende Fleisch halte das Aufgenommene nicht dauerhaft fest. Allerdings könne es durch Arbeit, Sorgen, Schmerzen, Ermüdung, Krankheit, Unpässlichkeit, Erhitzung oder Erkältung in das ›Fettnetz‹ gelangen. Besonders Fleisch, das mit unpassenden Stoffen ernährt werde, könne anschwellen und fett werden oder durch Ausscheidung abmagern. Nur jenes Fleisch, welches von der Natur dazu auserlesen sei, bleibe bei jenen Teilen, die es zu verbinden, einzuhüllen oder zu erwärmen bestimmt sei. Man dürfe zwar nicht vergessen, dass es Bestien in Menschengestalt, Synthesen aus Mensch und Tier, wie phantasievolle Dichter sie ersinnen, auch wirklich geben könne. Doch würden auch Menschenleiber, die sich aufgrund von Unwissenheit, Sinnestäuschung oder Wahnsinn mit dem Leibe eines Gleichartigen beflecken, ihresgleichen nie assimilieren. Der Genuss menschlichen Fleisches durch Menschen sei scheußlich, verrucht und frevelhafter als jede andere verbotene und widernatürliche Speise, und könne nach seiner Bestimmung gar nicht zur Ernährung dienen.230 Gingen Menschenleiber infolge herben Missgeschicks durch einen menschlichen Magen hindurch, hätten sie keine ernährende Kraft und kehrten, sich auflösend, wieder zu den Elementen zurück. Von hier würden sie wieder ausgeschieden und vereinigten sich jedes mit jedem, sei es im Feuer verbrennend, im Wasser verfaulend, von Raubtieren verzehrt oder vom Gesamtorganismus getrennt, schon vor den anderen Teilen sich auflösend. Bei der Vereinigung erhielten die Teile ihren alten Platz, so dass der Leib wieder »harmonisch sich zusammensetze und das Entseelte oder auch schon ganz Verweste zu neuem Leben auferstehe«.231 Die Sache finde damit eine Erledigung, »die nur bei solchen auf Widerspruch stößt, die halb tierisch sind.«232
229 | Vgl. ebd., 7, S. 346. 230 | Vgl. ebd., 8, S. 348. 231 | Vgl. ebd. 232 | Vgl. ebd.
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Clemens’ Milch Mit Clemens von Alexandria (* um 150 in Athen; † um 215 in Kappadokien) können wir Speise als die Milch aus der Brust eines väterlichen Gottes begreifen, als Geist und als Logos, durch die allein wir Unmündigen gesäugt werden.233 Bei der Wandlung von Speise zu Blut, Blut zu Milch und Milch zu Fleisch spielt die Verdauung Clemens zufolge eine tragende Rolle. Der Bezug zwischen Speise, Verdauung und Sexualität erscheint dabei positiv: Wenn »die verdaute Speise in Blut, das Blut aber in Milch umgewandelt wird, so wird das Blut die Vorstufe der Milch wie der Same die des Menschen und der Kern der Weinbeere die des Weinstocks«.234 Sofort nach unserer Geburt seien wir mit der Milch des Herrn gesäugt worden. Sofort nach der Wiedergeburt soll es Honig und Milch regnen, und wir können »uns unter dem Bild der stofflichen Speise auch um die heilige Speise bemühen«.235 Fleisch erscheint als Sinnbild des Heiligen Geistes, der uns mit Blut auf den Logos hinweise.236 Gleichzeitig erscheint der Logos als über das Leben ausgegossenes Blut. Es gelte, die Speise der Wahrheit – den Logos –237 zu trinken, feste Speisen hingegen werden »zunichte gemacht«.238 Milchnahrung führe in den Himmel.239 Allerdings sei die Unterscheidung zwischen festen und flüssigen Speisen insofern hinfällig, als der Trank auch eine flüssige Speise genannt werde240 und »der Käse eine Verhärtung der Milch oder hartgewordene Milch ist.«241 Ein und derselbe Stoff könne beide Formen der Nahrung, Speise und Trank, darbieten.242 In diesem
233 | Vgl. Clemens, Paidagogos, I., 43, u. 46. 234 | Ebd., I., 45. Den engen Bezug zwischen organischen und geistigen Zusammen hängen in Clemens Erklärungen zur Verdauung von Milch unterstreicht er auch durch seinen Hinweis auf die Entstehung von Milch im menschlichen Körper: »Denn wenn sich im Winter die Körperoberfläche zusammenzieht und der innen eingeschlossenen Wärme keinen Durchgang gestattet, wird die Speise gekocht und verdaut und geht, in Blut umgewandelt, in die Adern; da diese aber keine Ausdünstung haben, werden sie ganz gefüllt und sehr stark gespannt und schlagen; deshalb haben auch die Ammen zu dieser Zeit den größten Überfluss an Milch.« Ebd., I., 44. Ausführungen zur Brust als einem Ort der Sexualität und der Speise finden sich auch bei Freud, s.u. 235 | Ebd. 236 | Vgl. ebd., 43. 237 | Vgl. ebd., 45. 238 | Ebd. 239 | Vgl. ebd. 240 | Vgl. ebd. 241 | Ebd. 242 | Vgl. ebd.
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Sinne erscheine der Logos bei Johannes 4:34 auch als Brot des Himmels.243 Das Brot werde Fleisch genannt, weil es im Feuer gebacken erstehe wie der Weizen aus Verwesung und Aussaat.244 Wer nach dem Logos hungere, der werde mit dem Geist ernährt.245 »Und Valentinus sagt in seinem Brief an Agathopus: ›Jesus ertrug alles und war enthaltsam; er suchte sich das Gottsein zu erwerben; er aß und trank auf eine nur ihm eigene Weise, indem er die Speisen nicht wieder von sich gab; so groß war die Macht seiner Enthaltsamkeit, dass die Speise in ihm nicht dem Verderben unterlag; denn er selbst unterlag dem Verderben nicht.‹« 246
Menschen, die leben, um zu essen, seien wie unvernünftige Tiere, für die das Leben nichts anderes ist als ihr Magen. Entsprechend »der Mahnung des Erziehers« sei es besser zu »essen, um zu leben«. Nahrung sei Mittel zum Zweck unseres Verbleibens auf dieser Erde, währenddessen uns der Logos zur Unvergänglichkeit erziehen wolle.247 Unsere Nahrung solle einfach und anspruchslos sein, wie es für das Leben, nicht für das Schwelgen erforderlich sei.248 Einfache Nahrung fördere die richtige Verdauung und die Beweglichkeit des Körpers und damit Wachstum, Gesundheit und Körperkraft. Der Geschmack könne durch verderbliche Kochkunst und unnütze Zuckerbäckerei verführt werden, aber vielgestaltige Speisen seien zu verabscheuen, denn sie verursachten mannigfache Schäden, wie Kränklichkeit des Körpers und verdorbenen Magen.249 Unter Berufung auf den Arzt Antiphanes aus Delos erklärt Clemens die Mannigfaltigkeit der Speisen als eine Krankheitsursache; mangelnder Geschmack an Wahrheit, bzw. an einfacher Nahrung, führe außerdem zu eitler Ruhmsucht und Lust auf überseeische Leckerbissen.250 Schlemmereisei nichts anderes als Unmäßigkeit im Verzehren von Leckerbissen, Gefräßigkeit ein Wahnsinn hinsichtlich Gurgel, Völlerei und Magen, im wahrsten Sinne des Wortes ›μάργος‹ (rasend, gierig, gefräßig). Gefräßige Leute, die »so rasch sich sättigen wollen, dass ihre Backen sich zugleich herauswölben und die Adern im Gesicht anschwellen«,251 ähneln weniger Menschen als Schweinen und Hunden. Clemens bedauert sie für den Schweiß, der 243 | Vgl. ebd., 46; vgl. Joh., 4:34. 244 | Vgl. Clemens, Paidagogos, I., §46. 245 | Vgl. ebd., 47. 246 | Clemens, Stromateis, III., 59.3. 247 | Clemens, Paidagogos, II., 1. 248 | Vgl. ebd., 2. 249 | Vgl. ebd. 250 | Vgl. ebd. 251 | Ebd., 11.
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an ihnen herunterströmt, die Atemknappheit infolge von Unmäßigkeit und die Eile, die anderen nichts gönnen will, mit welcher sie Nahrung in den Magen hineinstoßen, »gerade als wollten sie die Speisen als Reisevorrat auf bewahren, nicht zur Verdauung bestimmen.«252 Wer eine philosophische Lehre auf Lust auf baue wie Kyrenaiker und Epikureer oder wer gar die Abwesenheit von Hunger und Durst mit Glückseligkeit gleichsetze, stelle damit »einen Grundsatz für den glücklichen Sieg kotfressender Schweine« auf.253 Unter Hinweis auf pythagoreische Warnungen gegen die Verfinsterung der Seele durch unreine Ausdünstungen infolge des Genusses von Fleisch und Wein variiert Clemens sein Lob des rechten Maßes.254 Es sei keine Sünde, Fleisch zu genießen, aber man dürfe sich nicht der Gier ergeben.255 So genehmigt Clemens auch den Genuss von Schweinefleisch, weil es »am leichtesten vollständig verdaut werde« und deshalb besonders denen nützlich sei, die ihren Körper kräftigen wollen. Andererseits mache Fleischnahrung träge und sei dem Wachstum der Seele nicht zuträglich. Also werde ein Gnostiker sich ihm vielleicht doch enthalten, um sich in Selbstbeherrschung zu üben und sein eigenes Fleisch nicht lüstern auf Liebesgenuss zu machen.256 Ähnlich hält Clemens es mit dem Genuss von Wein. »Trink ein wenig Wein deines Magens wegen«257 habe der Apostel zu Timotheus gesagt, der nur Wasser trank.258 Als zusammenziehendes Mittel sei Wein für den kränklichen und erschlafften Körper demnach empfehlenswert. Aber nur in geringer Menge, denn bei zu reichlicher Verwendung könne das Hilfsmittel selbst zu Krankheit führen.259 Das Werk Gottes solle nicht um einer Speise willen zerstört werden.260 Im Zweifelsfall wird zur Zurückhaltung geraten: »Und wenn je Durst kommt, so möge man das Bedürfnis mit Wasser befriedigen, aber auch von ihm nicht viel trinken; denn auch mit Wasser darf man sich nicht im Übermaß anfüllen, damit die Nahrung nicht herausgewaschen, sondern für die Verdauung nur geglättet werde, so dass die Speisen in der Hauptsache verdaut und nur ganz wenige Teile ausgeschieden werden.« 261 252 | Ebd. 253 | Clemens, Stromateis, II., XXI, 127. 254 | Vgl. Clemens, Paidagogos, II., I, 11. 255 | Vgl. ebd. 256 | Clemens, Stromateis, VII., Kap. VI., 33. 257 | Ebd., 1. Tim, 5:23. 258 | Vgl. Clemens, Paidagogos, II., 19. 259 | Vgl. ebd. 260 | Vgl. Röm, 14:20. 261 | Clemens, Paidagogos, II., 21.
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Wahre und bleibende Schönheit beruhe auf gesunder, den Körper abhärtender Lebensweise, die eine körperliche Wärme entfacht, die alle Feuchtigkeit und kalte Luft an sich ziehe, den Überfluss der genossenen Speise erwärme und allmählich durch das Fleisch selbst verdampfen lasse.262 So könne die früher genossene Nahrung ausgeschieden werden. Werde der Körper nicht bewegt, könne er die genossene Speise nicht aufnehmen. Sie werde dann ausgestoßen wie von einem kalten Ofen das Brot.263 Urin und Kot gingen dann in übermäßiger Menge ab und auch andere Ausscheidungen seien im Übermaß vorhanden, besonders Schweiß, da die Nahrung nicht dem Körper zugeführt, sondern als überflüssig ausgeschieden werde.264 Das führe auch zu sinnlichen Begierden, da die überflüssigen Stoffe auch den Zeugungsgliedern zuströmten: »Deshalb muss man mit angemessener Bewegung diese überflüssigen Stoffe lösen und zur Verdauung zubereiten«.265 Der Gebrauch von Verdauungsorganen im Zuge geschlechtlicher Bewegungen sei unangemessen. Die Natur habe es nicht einmal den geilsten Tieren gestattet, sich durch den Verdauungsgang zu begatten.266 So wie Harn in die Blase, Nahrung in den Magen, Tränen in die Augen, Blut in die Adern, Schmutz in die Ohren, Schleim in die Nase gehöre, diene das Ende des Mastdarms, in unmittelbarer Verbindung zum After befindlich, der Ausscheidung von Kot.267 Zur Nachstellung sexueller Lust hinter den geordneten Ablauf der Verdauung passt auch das Plädoyer für harte Betten. Das Schlafen auf weichen, mit Flaumfedern gefüllten Kissen sei schädlich, denn ein solches Lager biete keinen Halt, wenn man sich umdrehen wolle, weil sich das Bett zu beiden Seiten des Körpers wie ein Berg auftürme.268 Wer sich dagegen auf einem ebenen Lager hin- und herwerfe, habe so eine Art natürlicher Körperbewegung beim Schlaf, verdaue die Nahrung leichter und mache sich tauglicher für die verschiedenen Umstände des Lebens.269
Tertullians Würste Auch Tertullian († um 220) brandmarkt den gastrophilen Luxus seiner Zeitgenossen in aller Schärfe. Manche seiner Ausführungen zu kulinarischen Exzessen erinnern an Beschreibungen bei Seneca. Was falle nicht alles der Lecker262 | Vgl. ebd., III., 66. 263 | Vgl. ebd. 264 | Vgl. ebd., 65. 265 | Ebd., §66. 266 | Vgl. ebd., II., 87. 267 | Vgl. ebd. 268 | Vgl. ebd., §77. 269 | Vgl. ebd.
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haftigkeit zum Opfer: Pfauen, Singvögel, Seebarben und Muränen. Anderes geht noch darüber hinaus: Ein gewisser Vedius Pollio habe seine Vögel gar mit dem Fleisch von Sklaven gefüttert, um Menschenfleisch in ihren Eingeweiden zu genießen.270 Wenn Bauch und Bosheit zueinander treten, so sind laut Tertullian nicht Organe Schuld, sondern der Gebrauch, den wir von ihnen machen. Unsere Geschlechtsteile zwingen uns nicht zu zuchtlosen Ausschreitungen, unsere Zunge nicht zu üblen Reden und unsere Bauch nicht zur Teilnahme an Schlemmereien.271 Was die Eingeweide passiere, sei gegenüber dem, was in Geist und Seele gelange, wohl sekundär. Nichtsdestoweniger empfiehlt Tertullian Mund und Bauch von Besudelungen freizuhalten.272 Eindrucksvolle Bilder zu digestiven Verirrungen des Geistes liefert Tertullian in den Kampfhandlungen gegen die »auswendigen und inwendigen Würste der Psychiker«.273 Deren Gott sei der Bauch, die Bauchhöhle ihr Tempel, der Wanst ihr Altar, der Koch ihr Priester, der Fettdunst vertrete ihnen den Heiligen Geist, die Gewürze seien ihre Charismen, ihre Prophezeiungen bestünden im Rülpsen.274 Der dem gemeinschaftlichen Essen bei der Agape dienende Aufwand sei im Namen der Frömmigkeit wohl gerechtfertigt.275 Die Bedürftige solle Erholung erquicken. Das rechtfertige aber nicht das Verhalten von Schmarotzern, die danach gierten, ihre Freiheit in Sklaverei zu verwandeln, um zum Lohn ihren Bauch unter Beschimpfungen füllen zu dürfen. Fleisches- und Gaumenlust scheinen Tertullian untrennbar miteinander vereint und verwachsen. Das zeige sich schon daran, dass die Schamteile am Bauch sitzen. Die Mästung des Bauches führe zu Wollust, Gefräßigkeit mache geil. Die Unterscheidung zwischen pneumatischen und psychischen Christen trifft Tertullian in Hinblick auf die Beflissenheit, die letztere auf Fleisch richten, sei es beim Fressen oder beim Heiraten.276 Ausgelassenheit und Wollust seien Anhängsel der Gaumenlust. Die Agape werde von den Psychikern nur deshalb so hoch angesehen, weil sie den Jünglingen Gelegenheit gebe, bei den Schwestern zu schlafen.277 Kon270 | Vgl. Tertullian, Über das Pallium, 5. 271 | Vgl. Tertullian, Über die Schauspiele, 2. 272 | Vgl. ebd., 13. 273 | Tertullian, Gegen die Psychiker, 1. 274 | Vgl. ebd., 16. 275 | Vgl. Tertullian, Über die Taufe, 20. 276 | Ähnlichkeiten zwischen den pneumatischen Xerophagien und dem Keuschheits fest der Isis und Cybele erklärt Tertullian so: Mitunter ahmt der Teufel göttliche Dinge nach. Vgl. Tertullian, Gegen die Psychiker, 16. 277 | Vgl. ebd., 17. Heinrich Kellner erklärt diese »gehässige Schilderung« mit dem Groll Tertullians über seinen Ausschluss von den Agapen. Kellner, 1915, S. 557.
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sequent müssten die Psychiker predigen: ›Lasset uns essen und trinken; denn morgen werden wir sterben!‹278 Zum Schutze des Lebens am morgigen Tage lege pneumatische Disziplin der Gaumenlust Zügel an, sei es durch gänzliche Enthaltung von Speisen, spätes Essen oder Verzicht auf feuchte Speisen – das gelte auch für die Sinnenlust. Tertullian stimmt zwar zu, dass den Werken der Gerechtigkeit und Unbescholtenheit Vorrang gegenüber der Enthaltung von Speisen zukommt, dass Unreinheit dem Mund nicht nur von außen, sondern auch von innen drohe. Daraus folge aber nicht, dass wir unseren Bäuchen willfährig werden sollen.279 Wer das Gesetz und die Propheten daran hänge, die Gottheit und den Nächsten zu lieben, ohne die Leerheit des Magens und der Eingeweide hoch zu schätzen, der sei verdächtig, Künste der Überredung zur Befürwortung des fleischlichen Wohllebens einzusetzen.280 Den Trieb nach Speise und Trank gelte es in besonders energischer Weise zu zügeln, denn die Befriedigung der Esslust habe den Anlass zur Erbsünde geliefert.281 Es gebe gute Gründe dafür, dass die Leerheit des Magens und der Eingeweide der Gottheit gefalle. Adam habe die Eingabe des Geistes, nicht vom Baume der Erkenntnis zu essen, nicht erfasst. Er habe mehr auf sein Futter geachtet als auf das Gebot und seinem Bauche nachgegeben. Hier liege der Grund für die Begierde nach den fleischlichen Dingen, sowie für den Widerwillen gegen geistige. Die Gaumenlust sei ein Mörder, der selbst dann noch durch die Schmerzen und Qualen des leeren Magens bestraft werden müsste, wenn das Fasten nicht von der Gottheit vorgeschrieben wäre. Nachdem Adam seinen Magen gesetzeswidrig gefüllt habe, sei es unangebracht, nach Belieben zu essen, wie und wann man könne. Hunger sei das reinigende Gegengift der uranfänglichen Todesursache.282 Auch das jüdische Volk sei mehr dem Bauche zugetan gewesen, als es sich am Anblick der vorratslosen Wüste ärgerte, über den Verlust der Fülle Ägyptens seufzte und sich zurück nach den Fleischtöpfen sehnte. Der Duft von Knoblauch und Zwiebeln sei den Juden lieber gewesen als der himmlische Wohlgeruch des Engelsbrotes. Eben darum wurden die Undankbaren gezwungen, ihre Gaumenlust zu züchtigen und Enthaltsamkeit zu üben. Sobald Gott die Juden zu seinem Volke auserwählt hatte, habe er ihnen Speiseverbote zur Strafe für ihre Gier gegeben.283
278 | Vgl. ebd. 279 | Vgl. Is, 58:4; Mark, 7:15; Tertullian: Gegen die Psychiker, 2. 280 | Vgl. Tertullian, Gegen die Psychiker, 2. 281 | Vgl. ebd., 3. 282 | Vgl. ebd. 283 | Vgl. ebd., §5.
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Magerkeit missfalle nicht.284 Gott habe dem Geist kein Maß gesetzt und wiege auch das Fleisch nicht nach dem Pfunde ab, aber ein abgemagerter Leib passe vielleicht dennoch leichter durch die schmale Pforte des Heils. Mästung passe zu Faustkämpfern und olympischen Spielern, bei Christen erfreue sie wohl Bären und Löwen, nicht aber Gott.285 Ein gefüllter Magen mache den Geist zu göttlichen Dingen unlustig.286 Seien wir nicht viel kräftigeren Geistes und lebhafteren Herzens, wenn sich nicht das ganze Gebäude des inneren Menschen von Speisen vollgestopft und von Wein überschwemmt an der Bereitung von Auswurfstoffen abarbeite und so zu einem Orte geworden sei, an dem nur an die bevorstehenden Stuhlentleerungen gedacht und auf Lüsternheit gesonnen werde?287 Wechselwirkungen zwischen geistiger und materieller Verdauung erscheinen bei Tertullian in verschiedenen Hinsichten. So bezeichnet er Poeten, die Götter mit menschlichen Leidenschaften schildern, als Toren, Philosophen, die an der Pforte der Wahrheit anpochen, aber als unverdaulich.288 Gezänk mit Heiden gelte es schon deshalb zu vermeiden, weil dabei weiter nichts herauskomme als Erschütterungen des Magens oder des Gehirns.289 Ein weiteres Beispiel liefern die Ausführungen zum Schlaf, den Tertullian als ein Bild des Todes und der Auferstehung auffasst.290 Schlaf wärme die Körper, weshalb die Zerteilung der Speisen im Schlafe leicht vor sich gehe. In diesem Sinne versteht Tertullian Schweiß als ein Zeichen der vor sich gehenden Verdauung, die ja auch als ein Verkochen bezeichnet werde.291 Wenn Schlaf die Verdauung erleichtert, was bedeutet das für Tod und Auferstehung, die der Traum abbildet? Den Einfluss materieller Verdauungsvorgänge auf das geistige Erleben gesteht Tertullian zu.292 Die betäubende Wirkung der »sehr weingeisthaltigen Säfte des Obstes«293 auf die Träume wäre ohne gastrale Einverleibung ja schwer erklärbar. Explizit unterstreicht er den Einfluss bei einer Betrachtung zur Lage des Körpers während des Schlafes. Wenn man nicht auf dem Rücken oder auf der rechten Seite ruhe, könne, bei ebenfalls rückwärtsliegenden Eingeweiden, gleichsam geöffneten Kanälen, der Sitz der Sinne in Fluss geraten oder Druck der Leber eine Beängstigung 284 | Vgl. ebd., §17. 285 | Vgl. ebd. 286 | Vgl. ebd., §6. 287 | Vgl. ebd. 288 | Vgl. Tertullian, Das Zeugnis der Seele, 1. 289 | Vgl. Tertullian, Prozesseinreden, 16. 290 | Vgl. Tertullian, Über die Seelen, 43. 291 | Vgl. ebd. 292 | Vgl. ebd., 48. 293 | Ebd.
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des Gemütes bewirken. Tertullian glaubt damit, ›geistreiche‹ Ansichten auszusprechen, ohne etwas Bestimmtes zu beweisen, insofern sich Träume nicht leiten lassen: Sie seien nicht dem freien Willen unterworfen, vielleicht gingen sie ganz zufällig vor sich.294 Dass Völlerei das Herz beschwert, scheint dennoch unumstößlich, zum Beleg zitiert Tertullian das Alte Testament: »Da aber Jesurun [Israel, der Aufrechte] fett ward, ward er übermütig. Er ist fett und dick und stark geworden und hat den Gott fahren lassen, der ihn gemacht hat.«295 In diesem Sinne erscheint Hunger als ein Geschenk des Himmels: »Elias hatte sich zuerst dadurch, dass er die Hungersnot herabrief, dem Fasten bereits hinlänglich geweiht. ›So wahr der Herr lebt‹, sagt er, ›vor dessen Angesicht ich stehe, es wird kein Tau oder Regen fallen in diesen Jahren.‹ [Er] kam, nachdem vierzig Tage hindurch sein Magen leer und sein Mund trocken gewesen, zum Berge Horeb, wo er in einer Höhle einkehrte. Zu welchem freundschaftlichen Verkehr mit Gott wurde er da zugelassen!« 296
Mit einer gewissen Ironie lässt sich das so zusammenfassen: Wer das Innere seines eigenen Bauches leer hält, findet sein Glück in göttlichen Höhlen. Der Abbruch an Speise und Trank mache den Menschen zu einem Hausgenossen Gottes, er erlaube den Gleichen zum Gleichen sich zu gesellen. Der Mensch werde ohne Nahrung leben wie der ewige Gott, der keinen Hunger kenne.297
Hieronymus’ Opfer Der »alte Fanatiker der Askese«,298 Sophronius Eusebius Hieronymus (* 347 in Stridon; † 30.09.420 in Bethlehem), sah Christen zu jeder Zeit verfolgt, insbesondere von ihren eigenen Bäuchen: »Gerade dann wirst Du am schärfsten angegriffen, wenn Du den Angriff gar nicht bemerkst. Unser Widersacher geht umher wie ein brüllender Löwe, suchend, wen er verschlinge. Und da meinst Du, es gäbe Frieden? Er liegt im Hinterhalte mit den Reichen, im Verborgenen sucht er, den Unschuldigen zu töten. Seine Augen blicken auf den Armen. Er lauert im Verborgenen, wie der Löwe in seiner Höhle; er lauert, um dem Armen nachzustellen. Da streckst Du Dich unter das schattige Laubdach nieder und gibst Dich in weichlicher Ruhe Deinen Träumereien hin, Du, der Du bald seine Beute sein wirst?
294 | Vgl. ebd. 295 | Tertullian, Gegen die Psychiker, 6. 296 | Ebd., 5. 297 | Vgl. ebd. 298 | Grützmacher, 1906, Bd. II, S. 181.
E x zesse Wenn ich derart sorglos dahinlebe, lockt mich bald die Genusssucht, dann droht mich die Habsucht zu beherrschen, oder der Bauch will an Christi statt mein Gott sein.« 299
Hieronymus dürfte mit der Macht des Bauches gut vertraut gewesen sein. So schreibt er, dass in seiner Heimat bäuerisches Wesen geherrscht habe und der Bauch Gott gewesen sei.300 Ihm selbst sei der Verzicht auf die reich gedeckte Tafel schwerer gefallen als der Abschied von Heimat, Eltern, Schwestern und Verwandten, doch in Rom habe er sich im Fasten geübt, während er Cicero las.301 Einen Anhaltspunkt für die Entwicklung der asketischen Position liefert die Beobachtung der motivierenden Kraft des Hungers auf animalisches Verhalten. Als junger Mann beobachtet Hieronymus, wie Luchse in den Zweigen dichtbelaubter Bäume lauern, sich auf Beute stürzen und sie mit ihrem furchtbaren Gebiss zerfleischen.302 Sobald die leeren Eingeweide gefüllt seien, setze das Vergessen mit der Sättigung ein und der Beutetrieb erwache erst dann erneut, wenn der Hunger an ihn erinnere. Überlegungen zum Zusammenhang zwischen gastralem Verlangen und menschlichem Verhaltens begleiten Hieronymus durch sein weiteres Leben. Der Kampf gegen die Freuden und die Freunde des Bauches wird bei ihm zu einem Leitmotiv des ethischen Handelns. Gegen den Bauch zieht Hieronymus alle Register seiner Rhetorik. Der Teufel habe Christus ausgerechnet dann versucht, als dieser in der Wüste hungerte.303 Die ersten Menschen seien aus dem Paradiese in dieses Tränental verstoßen worden, weil sie mehr dem Bauch als Gott dienten.304 Noch wenige Jahre vor seinem Tod wendet er das Bild der Bauchdiener gegen die hinterhältigen, durchtriebenen und verführerischen Schmeicheleien schön tuender Feinde.305 Beim Essen rät Hieronymus zu Mäßigkeit.306 Mit zwei Mahlzeiten am Tage wäre der Magen überladen, dafür spreche auch die von Philo und Livius überlieferte Speisepraxis der Essener.307 Besonders bei nächtlichen Gebeten wirke ein voller Magen belästigend, besser sei es, sich vom Hunger quälen zu las-
299 | Hieronymus, Briefe, 2b.14, An den Mönch Heliodor, 4. 300 | Vgl. ebd., 1.7., An Chromatius, Jovinus und Eusebius, 5. 301 | Vgl. ebd., 2a.22, An Eustochium, 30. 302 | Vgl. ebd., 1.9, An Chrysocomas. 303 | Vgl. ebd., 2a.22, An Eustochium, 10. 304 | Vgl. ebd. 305 | Vgl. Hieronymus, Dialog gegen die Pelagianer, 26. Vgl. Röm, 16, 18; vgl. Aristo teles, Ethica Nicomachea, 1107a, 27 ff. 306 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.22, An Eustochium, 17. 307 | Vgl. ebd., 35.
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sen.308 Als Elias sich auf der Flucht vor Jezabel unter einer Eiche niederließ, da habe ihm ein Engel ein schlichtes Brot und einen Krug mit Wasser gespendet.309 Hätte es denn nicht auch ein würziger Wein oder eine mit Öl zubereitete Fleischpastete sein dürfen?310 Nein, denn »der Glaube fürchtet den Hunger nicht.«311 Tägliches Fasten sei angeraten, völlige Sättigung gelte es zu vermeiden. Wer tagelang einen leeren Magen herumschleppe, um ihn dann zu überfüttern, der überlade seinen Geist, bringe ihn zur Erstarrung und lasse unter dem Feuerpfeilhagel des Teufels die Begierde erwachsen.312 Hunger führe Menschen in das Paradies zurück, aus welchen sie aufgrund ihres Mangels an Enthaltsamkeit vertrieben wurden.313 Besorgt zeigt sich Hieronymus in Hinblick auf die Gefahren, die das Leben mit seinen Genüssen für Frauen birgt. Besonders riskant scheint ihm Umgang mit jenen Jungfrauen und Witwen, deren Sorgen sich auf ihren Bauch und auf das richten, was ihm am nächsten liegt. Geilen Sinnes hecken sie Böses aus, stets bereit in Üppigkeit zu verfallen oder sich zu verheiraten.314 Hieronymus war bekannt, dass Askese die Gesundheit gefährden kann. So wundert er sich, dass die Nonne Asella, die gewöhnlich an zwei von sieben Tagen und zur Fastenzeit auch wochenlang Nüchternheit übte, das fünfzigste Lebensjahr ohne geschädigte Verdauungsorgane erreichte.315 Vielen anderen Nonnen dürfte die Askese schlechter bekommen sein. Aufsehen erregte der Tod von Blesilla. Die als fröhlich und talentiert beschriebene Aristokratin war die älteste Tochter der Paula von Rom, alleinerziehende Mutter von vier Kindern, in deren Haushalt Hieronymus ein- und aus ging. Blesillas Ehemann war sieben Monate nach der Hochzeit verstorben. Der Lebensstil der jungen Witwe erschien Hieronymus als zu mondän, ihre Hingabe zu den asketischen Idealen als zu lau.316 Hieronymus übernahm die Sorge um das seelische Wohl der jungen Frau, ungeachtet des Widerstandes in ihrem familiären Umfeld. Blesilla erkrankte daraufhin an Fieber und schwebte dreißig Tage zwischen Leben und Tod. Nach ihrer Gesundung brach sie radikal mit ihrem bisherigen Lebensstil. Sie änderte ihre Nahrungsgewohnheiten und entwickelte einen außerordentlichen Lerneifer. Hieronymus zeigte sich tief beeindruckt von der Standhaftigkeit ihrer Gebete, dem Glanz ihrer Sprache, der 308 | Vgl. ebd., 17. 309 | Vgl. 1. Kön, 19:5f. 310 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.22, An Eustochium, 9. 311 | Ebd., 2b.14, An den Mönch Heliodor, 10. 312 | Vgl. ebd., 2a.22, An Eustochium, 17. 313 | Vgl. ebd., 10. 314 | Vgl. ebd., 29. 315 | Vgl. ebd., 2a.24, An Marcella: Asellas Lebenslauf, 4. 316 | Vgl. Cavallera, 1922, S. 102.
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Zähigkeit ihres Gedächtnisses und der Schärfe ihres Geistes.317 Allerdings verfiel Blesillas Gesundheit, wiederum empörten sich Freunde und Verwandte. Hieronymus selbst beschreibt Blesillas blasses, zitterndes Gesicht, ihren unsicheren Schritt und ihren schwachen Hals, der den Kopf kaum noch zu tragen vermochte.318 Im Jahre 384 starb Blaesilla im Alter von 20 Jahren, drei Monate nach ihrer Konversion.319 Aus heutiger Sicht wurde Blesilla Opfer der Magersucht (›Anorexia nervosa‹). Der mit Selbstzerstörung durch Nahrungsverweigerung verbundene Schmerz, der, wie Hieronymus formuliert, bis auf den Grund unserer Eingeweide reicht,320 verweist im Fall von Blesilla auf ein mit dem Umfeld der erkrankten Person verknüpftes Problem.321 Zeitgenossen machten Hieronymus für den Tod seiner Schülerin verantwortlich. Insofern Hieronymus in Paulas Haushalt eine dem Pater familias verwandte Stellung einnahm, dürfte die Position der Haustochter Blesilla schwach gewesen sein.322 Das Umschlagen emotionaler Machtlosigkeit in einen Kampf gegen den eigenen Körper gilt heute als Auslöser von Magersucht,323 insbesondere als Folgeerscheinung religiös motivierter Nahrungsbeschränkung.324 Es ist müßig zu mutmaßen, ob Blesilla ihre Nahrungsverweigerung tatsächlich als Hebel gegen einen übermächtigen Sozialverband verstand, als eine Erklärung des Ausnahmezustands und dabei die Zerrüttung der sozialen Rollen und Funktionen intendierte.325 Fest steht dagegen, dass ihr Tod heftige soziale Erschütterungen provozierte. Blesilla Mutter schlug die Tragödie derart auf den Magen, dass sie sich ebenfalls zu Tode zu hungern drohte. Mit einem ›Trostbrief‹ versuchte Hieronymus die weitere Eskalation der Situation zu verhindern. Allerdings ist die Macht des Bauches mit den Mitteln des Geistes nicht immer leicht zu brechen. Hieronymus zog alle Register der Rhetorik, unter anderem, indem er Jesus von Nazareth selbst zu Wort kommen lässt: »›Zürnst Du etwa, o Paula, weil Deine Tochter meine Tochter geworden ist? [...] Du versagst Dir die Nahrung nicht aus Bußeifer, sondern im Übermaße des Schmerzes. Sol-
317 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2d.39, An Paula: zu Blesillas Tod, 1. 318 | Vgl. ebd. 319 | Vgl. Cavallera, 1922, S. 102 u. 111. 320 | Vgl. ebd. 321 | Vgl. Mannoni, 1983, S. 143-166. 322 | Vgl. Kaser, Knütel, 2008, S. 81. 323 | Vgl. Palazzoli, 2003, S. 91. 324 | Vgl. Habermas, 1994, S. 50ff. 325 | Vgl. Engel, 2009, S. 413; vgl. Agamben, 2004, S. 78f.
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Vom Geist des Bauches che Enthaltsamkeit liebe ich nicht. Wer in dieser Weise fastet, macht sich zu meinem Feinde. Ich nehme keine Seele auf, die sich wider meinen Willen vom Körper trennt.‹« 326
Jesus findet noch einige kritische Worte zur törichten Philosophie der Selbstmörder Zeno, Kleombrotos und Cato,327 bevor Hieronymus wieder selbst zu Wort kommt, mit recht unfassbaren Bemerkungen zum Triumpf des Bösen.328 Hatte Hieronymus sich vor der Begegnung mit Paula Hoffnungen auf den Titel des Pontifex Maximus, gemacht, so sah er sich nunmehr von allen gehasst.329 Obwohl Paula dem Hungertod entging, war die Rückkehr zu den gewohnten sozialen Rollen unmöglich. Hieronymus reiste ab in die Wüste und Paula folgte ihm, zur Klostergründung. Im Zentrum des römischen Machgefüges scheiterte Hieronymus an mangelnder Bauchfreude, wobei Paulas Verzicht auf sexuelle Aktivität gegenüber den Leiden Blesillas wenig Gewicht zukommt. Das tragische Ende seiner Schülerin führte Hieronymus aber nicht zur Hinterfragung oder zum Bruch mit dem asketischen Radikalismus. Ihn beschäftigen andere Dinge. In dem Brief, in dem er noch an Bord seines Fluchtschiffes mit den römischen Verhältnissen abrechnet, erscheint der Name Blesillas nicht einmal!330 Und wer wird sich darüber wundern?331 Auch ohne Antwort auf diese Frage unterstreicht das Schicksal der leidenden Witwen die Gewalt, die aus Widersprüchen zwischen intellektueller und digestiver Aktivität erwachen kann. Im Zusammenhang des sexuellen und digestiven Bauchgeschehens gerät das intellektuelle Fassungsvermögen offen326 | Hieronymus, Briefe, 2d.39, An Paula: zu Blesillas Tod, 3. 327 | Vgl. ebd. 328 | Ich zitiere etwas ausführlicher, als Hinweis auf den unmenschlichen Unfug, zu dem intellektuelle Kampfansagen gegen den Bauch führen können: »Als man Dich ohnmächtig mitten aus dem feierlichen Leichenbegängnis hinwegtrug, da fing die Menge an zu raunen: ›Haben wir es nicht oft genug gesagt, dass es so kommen wird? Sie weint um ihre Tochter, die ein Opfer des Fastens geworden ist. Sie ist untröstlich, dass sie nicht wenigstens aus deren zweiter Ehe Enkel zu sehen bekam. Wie lange mag es noch anstehen, bis man das abscheuliche Geschlecht der Mönche aus der Stadt vertreibt, mit Steinen zu Tode wirft oder in das Wasser stürzt? Sie haben die arme Frau verführt; denn jetzt zeigt es sich, dass sie keine Nonne sein wollte. Hat doch niemals eine heidnische Mutter so wie sie ihre Kinder beweint.‹ Wie mögen solche Worte Christus betrübt haben! Aber welch ein Triumph für Satan, der sich beeilt, jetzt Dir das Leben zu entreißen [...]. Du heulst und jammerst, und von einem inneren Brande verzehrt, tust Du fortgesetzt alles, was nur in Deinen Kräften liegt, um Dein eigener Mörder zu werden.« Ebd., 6. 329 | Vgl. ebd., 3a.45, An Asella, 3. 330 | Vgl. ebd. 331 | Vgl. Cavallera, 1922, S. 113.
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sichtlich an die Grenze zwischen dem, was Menschen kontrollieren können und was sich ihrer Kontrolle entzieht. 332 Hieronymus unterstreicht die Verquickung sexueller und digestiver Freuden mit seiner Polemik gegen den Diakon Sabinianus. Der aus Italien geflüchtete Ehebrecher hatte in Bethlehem versucht, eine Nonne aus dem Umfeld Paulas zu verführen. Hieronymus vergleicht Sabinianus mit dem verlorenen Sohn.333 Er habe seinen Bauch zum Gott gemacht, sich an den Trebern der Schweine gütlich getan, die Felsen des Hochmutes erklommen, sei jählings in den Abgrund gestürzt, zum Sklaven der Lust geworden und rühme sich obendrein seiner Zügellosigkeit.334 Auch in der Schrift über das Leben des Einsiedlers Hilarion von Gaza treten Hieronymus’ sexuelle und digestive Versuchungen zueinander, als der Teufel im heranreifenden Körper des jungen Einsiedlers die Flammen der Leidenschaft anheizt.335 Liebliche Bilder seien dem angehenden Streiter Christi vor die Seele getreten. »Eselchen«, habe Hilarion zu sich selbst gesagt, »ich will schon dafür sorgen, dass du nicht ausschlägst; nicht mit Gerste will ich dich füttern, sondern mit Spreu; durch Hunger und Durst will ich dich bändigen [...] damit du mehr auf Speise als auf Lüsternheit bedacht bist«.336 Daraufhin hätten ihn böse Geister durch mannigfache Angriffe beim Hungern gestört, etwa durch Phantasiebilder unbekleideter Weiber, die ihm mit üppigen Mahlzeiten aufwarteten.337 Doch Hilarion habe sich standhaft gezeigt und mancherlei Wunder gewirkt. Als ihn hungrige Menschen um Regen baten, habe er seine Hände und Augen zum Himmel gehoben. Da sei Regen gefallen, um den nach Feuchte lechzenden Sandboden zu tränken. Nun habe es plötzlich von Schlangen nur so gewimmelt. Viele Leute seien gebissen worden. Hilarion habe ihnen Schutz gegeben, ihre Wunden mit geweihtem Öl befeuchtet und sie sicher zur Heilung gebracht.338 Das Ereignis lässt sich als eine Kurzfassung der gastralen Philosophie bei Hieronymus lesen. Dem trockenen Boden vergleichbar entspringt dem ausgenüchterten Bauch Gefahr, wenn ihn lebensspendende Fruchtbarkeit erreicht. Die Schlangen gastraler Lust – Hieronymus war mit den Schriften Philos hinlänglich vertraut – bringen Krankheit und Tod, doch die Weihe durch den Asketen wandelt die giftige Bedrängung zum Segen. Die Spitze gegen die gesundheitsschädigenden Folgen der Völlerei scheint eindeutig, ebenso
332 | Vgl. Pagels, 1988, S. 128. 333 | Vgl. Luk, 15:13 ff. 334 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2b.147, An Diakon Sabinianus Mahnung zur Buße, 1. 335 | Vgl. Hieronymus, Leben des Hilarion, 5. 336 | Ebd. 337 | Vgl. ebd., 7. 338 | Vgl. ebd., 32.
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der polemische Seitenhieb auf jene Bäuche, die sich im Gewimmel begieriger Schlagen mit werdendem Leben füllen und dabei gar noch Lust empfinden! Seine Philosophie des Bauches formuliert Hieronymus gegen Epikur.339 Das unterstreicht seine Streitschrift Gegen Jovinian, in der Hieronymus seine »Geringschätzung des Bauchdienstes und der Gaumenlust«340 betont. Der Mönch Jovinian, Hieronymus nennt ihn den »Epikur der Christen«, lebte selbst zwar ehelos, hinterfragte aber den asketischen Umgang mit Speise und das Zölibat. In einer seitdem verlorenen Schrift soll er den Wert der Bemühungen um die Abtötung gastraler Lust in Frage gestellt haben.341 Laut Hieronymus hielt Jovinian Jungfrauen vor Gott nicht für besser als Ehefrauen und machte auch keinen Unterschied zwischen jenen, die sich der Speisen enthalten und jenen, die sie mit Dank genießen.342 Hieronymus verstand das als Kriegserklärung gegen seine persönlichen Auffassungen und das monastische Leben. In Rom hatten Jovinians Lehren wohl einigen Erfolg, jedenfalls vergleicht Augustinus sie mit einem schleichenden Gift und sorgt sich über Christinnen und Christen, die unter ihrem Einfluss das Gelübde zur Jungfräulichkeit brechen.343 Papst Siricius verurteilte Jovinian und seine Anhänger auf einer Synode im Jahre 390 und ein Jahr später folgte eine Verurteilung durch Ambrosius in Mailand. Trotzdem schien Jovinians Einfluss nicht vollkommen gebrochen. Der christlich gesinnte Senator Pammachius, der zur Verurteilung Jovinians beigetragen hatte, sendete die häretische Schrift nach Bethlehem, mit der Bitte um Widerlegung. Hieronymus hatte damit die Chance, seine Vorstellungen zur Askese in das rechte Licht zu setzen. Allerdings entgleiste ihm seine Streitschrift polemisch.344 Nach seinen eigenen Worten zog er das rhetorische Schwert, um einen Streich für die Jungfräulichkeit zu führen.345 Die Ansichten Jovinians wolle er aus den Büchern reißen wie Schlangen aus ihren Löchern, das giftige Haupt der Reptilien von dem sich windenden Körper zu trennen. Mit anderen Worten: Hieronymus nahm seine Erklärungen zur Unversöhnlichkeit von Bauch und Geist in gewohnter Weise auf. Kann die Perversität einzelner Individuen, zur allgemeinen Regel erhoben, den Bestand der Mensch339 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 4a.70, An Magnus, den Rhetor der Stadt Rom, 6. 340 | Ebd., 2a.58, An den Priester Paulinus, 6. 341 | Die Liste der verlorenen und verbrannten Schriften umfasst verschiedene verdauungsfreundliche Titel. Mit Onfray lässt sich fragen, inwiefern das Verschwinden dieser Schriften durch Zufälle zu erklären ist oder als Folge von Strategien zur Durchsetzung bestimmter Denkfiguren. Das Verhalten des Senators Pammachius (siehe unten) dürfte sich kaum auf eine einzelne Schrift bezogen haben. Onfray, 2006, Bd. II, S. 140. 342 | Vgl. Hieronymus, Against Jovinianus, I., Einl. 343 | Vgl. Augustinus, Retractationes, 2,22. 344 | Vgl. Schanz, Hosius, 1914, S. 475f., 495. 345 | Vgl. Hieronymus, Against Jovinianus, I., §1.
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heit gefährden, so gilt das auch für das zur Herrschaft gelangte Asketentum.346 Die asketischen Ideale der Wüste waren in Rom wiederum nicht durchsetzbar. Insbesondere seine Einlassungen zur Ehe, aber auch die Aufforderungen zur Disziplinierung der Verdauung führten zu Unmut. Der Kampf um Jovinians Lehren drohte in einen Kampf gegen Hieronymus umzuschlagen. Um den Schaden zu begrenzen, kaufte der Senator Pammachius alle Exemplare der Streitschrift auf, deren er habhaft werden konnte.347 Sie blieb dennoch erhalten, ein Mahnmal gegen radikale Entzweiung von Bauch und Geist. Von den Lehren Jovinians wissen wir dagegen nur, was ihre Gegner über sie schrieben.348 Der Wunsch nach geistiger Reinheit motiviert die Unterdrückung bauchfreundlicher Schriften und Personen. Die Kehrseite der abendländischen Freude am Geist ist die Verdammung des Bauches. Auch Hieronymus bemüht das bekannte Bild des klugen Kutschers und seiner weniger klugen Pferde.349 Die Freuden des Bauches attackiert er frontal, in Hinsicht auf Sexualität und Verdauung: Jungfräulichkeit sei besser als Ehe, Fasten besser als Fleischgenuss.350 Nichts sei für den Geist so zerstörerisch wie ein voller Bauch, der in alle Richtungen Gase abgibt, einem gärenden Weinfass vergleichbar. Was nütze alles Fasten, wenn uns die Mahlzeit vom Vortage aufblähe und unsere Gurgel zur Toilette werde? Was nütze langwierige Enthaltsamkeit, wenn wir daraufhin so viel essen, dass wir es nicht im Laufe eines Tages und einer Nacht verdauen können? Fasten solle nicht zu Schlemmerei und Verdauungsgeilheit führen. Also sollten wir unsere Speise mit Vernunft wählen, um die Bewegungen der Seele nicht durch körperliche Überladung zu behindern. Wir seien nun einmal gezwungen zu essen, zu schlafen und zu verdauen, aber es wäre unklug, sich viel damit zu beschäftigen. Schwer verdauliche Speisen sollten wir deshalb vermeiden. Hieronymus rät zu moderatem Gebrauch pflanzlicher Kost, die sei besonders leicht verdaulich, könne verschlungen werden ohne Gier zu erwecken und beuge so der Überlastung des Magens und Anschwellungen vor. Selbst Epikur habe Obst und Gemüse bevorzugt und zu billiger Speise geraten.351 Um der Glut des Körpers entgegenzuwirken seien hitzige Speisen zu vermeiden. 352 Das gelte nicht nur für Fleisch, sondern auch für andere Speisen, die auf blähen und schwer im Magen liegen. Wer ein keusches Leben führen wolle, dürfe sich den Magen nicht mit Hülsenfrüchten vollpfropfen. Mäßig und spärlich genossen seien sie zwar un346 | Vgl. Dürr, 1909, S. 61. 347 | Vgl. Schade, 1936-37, S. 148f. 348 | Vgl. Karsten, 1843, S. VII. 349 | Vgl. Hieronymus, Against Jov., II., 10. 350 | Vgl. ebd., 17. 351 | Vgl. ebd., 11. 352 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.54, An Furia, 10.
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schädlich, doch nichts rege den Körper so auf und reize die Geschlechtsorgane so sehr wie unverdaute Speisen und krampfhaftes Aufstoßen.353 Entscheidend sei aber nicht der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel. Wer von Christus’ Brote esse, der brauche sich nicht viele Sorgen darum zu machen, welch kostbare Speisen er in Form von Kot ausscheide.354 So wenig wie die »Jungfrauen des Teufels« die »wahre Jungfräulichkeit« verkörperten, so wenig verkörperten Anhänger der Isis und Cybele das »wahre Fasten«, besonders dann nicht, wenn ihre Askese auf Feste des Fleisches ausgerichtet sei.355 Jovinian habe frech daran erinnert, dass Pharisäer Christus als einen Völler und Weintrinker hinstellten.356 Tatsächlich habe Christus sich aber nicht um irdische Freude, sondern um ewige Speise bekümmert.357 Er habe gegessen, um seine Wundertätigkeit zu feiern und nach seiner Auferstehung Fisch und Honig zu sich genommen, um die Wirklichkeit seines Körpers zu beweisen, nicht um seinen Hunger zu stillen oder um seinem Gaumen zu schmeicheln. Keinesfalls habe er seinem Schlund oder seinem Bauch gedient.358 Dass der Bauch auch nach der Auferstehung von den Toten aktiv bleibt, hielt Hieronymus für ausgemacht. Die Auferstehung sei doch keine Geistererscheinung.359 Tatsache sei, dass Petrus den zum ewigen Leben erwachten Christus am Ufer stehend beim Verzehr einer Honigscheibe und eines Stück gebratenen Fisches beobachtete.360 Wenn Christus stand, habe er sicherlich Füße gehabt, zum Sprechen habe er Zunge, Gaumen und Zähne gebraucht.361 Dass Lazarus vier Tage nach seinem Tod gemeinsam mit Christus speiste, beweise die konkrete Leiblichkeit nach der Auferstehung von den Toten.362 Im Übrigen dürfe der Glaube an die Auferstehung nicht mit Fragen zur Speise lächerlich gemacht werden.363 Hieronymus dürfte seine Position bis an das Ende seiner Tage gehalten haben. Wenn er sich mit den Jahren in der Form mäßigte, so blieben inhaltliche Veränderungen seiner Betrachtungen zu Bauch und Geist doch wenig
353 | Vgl. ebd. 354 | Vgl. ebd., 2a.58, An den Priester Paulinus, 6. 355 | Hieronymus, Against Jov., II., 11. 356 | Vgl. ebd., 17. 357 | Vgl. Joh, 4:32. 358 | Vgl. Hieronymus, Against Jov., II, §17. 359 | Vgl. Hieronymus, Das Leben der hl. Witwe Paula, 24. 360 | Vgl. Lk, 24:42. Wenn Jesus im Stehen aß, so macht das Hieronymus, nebenbei bemerkt, sicher nicht zu einem Propheten göttlicher Freuden an Imbissbuden. 361 | Vgl. Hieronymus, Das Leben der hl. Witwe Paula, 24. 362 | Vgl. Joh, 12. 363 | Vgl. Hieronymus, Das Leben der hl. Witwe Paula, 24.
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spürbar.364 Allerdings gesteht er zu, dass geregeltes Essen dem Leib und der Seele nützlich ist.365 Daneben befürwortet er mäßiges Fasten, das den Magen nicht übertrieben schwäche und keine Lust nach einer größeren Stärkung entfache, die leicht zur Überladung des Bauches und zu Lüsternheit führen könne. Letztlich sei es aber viel besser, am Magen zu leiden als an der Seele.366 So rät Hieronymus auch weiterhin zur Abtötung der Regungen der Fleischeslust in jungen Mädchen durch verdoppeltes Fasten.367 Den Ehestand vergleicht er mit Wachtelfleisch, das bis zum Überdruss sättige und im Munde den bitteren Nachgeschmack von Galle zurücklasse.368 Warum solle eine Frau, die sich von diesen säureerregenden und schädlichen Speisen entlastet und ihren geblähten Magen erleichtert habe, von Neuem das anstreben, was ihr schädlich war?369 Warum soll sie wie ein Hund zu ihrem Erbrochen zurückkehren oder sich wie ein Schwein erneut im Schmutz wälzen?370 Hieronymus sagt das nicht, weil die Rückkehr zu Schmutz und Erbrochenem Ekel erzeugen könnte. Ganz im Gegenteil: »Was die Lust anregt, das sei Dir Gift!«371 Verdauung erscheint weiterhin als Metapher geistiger Aktivität. Hieronymus lobt »geistigen Hunger«372 und den Hunger nach dem Worte Gottes, nicht aber den Hunger nach Brot.373 Geistige Erlebnisse, etwa der Vortrag gewisser Stellen des Alten Testaments, können nach seiner Einschätzung den Widerwillen des Magens hervorrufen.374 Zur geistigen Erhebung sei es dienlich, sich mit leerem Magen niederzulegen.375 Umgekehrt gesteht Hieronymus dem Bauch einen Einfluss auf das christliche Verhalten zu. Magenschwäche entschuldige das Fernbleiben von der Pflege bedürftiger Kranker.376 Die Menschheit zerfällt damit in zwei Gruppen: die Hungrigen und die Satten. »Die sollen Dich loben, deren Magen knurrt, aber nicht jene, die sich bei üppigem Mahle übergeben.«377 Der geistliche Asket soll Mund und Herz in Einklang halten: Mit vollem Bauche solle nicht vom 364 | Vgl. Schade, 1936-37, S. 151. 365 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.125, An den Mönch Rusticus, 7. 366 | Vgl. ebd., 2b.79, An Salvina, 10. 367 | Vgl. Hieronymus, Das Leben der hl. Witwe Paula, 24. 368 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.54, An Furia, 4. 369 | Vgl. ebd. 370 | Vgl. 2. Petr, 2:22. 371 | Hieronymus, Briefe, 2a.54, An Furia, 10. 372 | Hieronymus, Briefe, 5.69, An Oceanus, 7. 373 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 4a.53, An den Priester Paulinus. 374 | Vgl. Hieronymus, Dialog gegen die Pelagianer, I., §34. 375 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 2a.58, An den Priester Paulinus, 6. 376 | Vgl. Hieronymus, Briefe, 5.69, An Oceanus, 6. 377 | Hieronymus, Briefe, 2a.130, An Demetrias, 14.
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Fasten gepredigt werden.378 Wer in einer Hungersnot Speise verteile, könne den Hungernden nicht vorschreiben, wie viel Speise ihr Magen brauche.379 Mit vollem Magen sei es leicht, vom Fasten zu reden. Aber man verdiene noch keine Anerkennung, wenn man in Jerusalem war, sondern erst dann, wenn man dort gut gelebt habe.380 Die Schwierigkeit der Wahl der richtigen Speise für Geist und Bauch ist damit allerdings nicht behoben. Der Bruch mit den Speisevorschriften des Alten Testaments führt zur kulinarischer Unsicherheit. Mit offensichtlichem Unwillen gesteht Hieronymus denn auch ein, dass seine eigenen Regeln der Askese auf Laien nur bedingt anzuwenden sind. Bei weltlichen Menschen sei ein anderer Maßstab anzulegen als bei gottgeweihten Jungfrauen und Mönchen, die beim Fasten von dem zehren könnten, was ihr Magen gespeichert habe und diesen dabei für die zukünftige Ernährung vorbereiteten, gleich Schnecken, die sich von ihrem eigenen Schleime nähren.381
Chr ysostomos’ Drache Bei Johannes Chrysostomos (* 349-344 in Antiochia am Orontes; † 14.09.407 in Comana Pontica) erscheint der Bauch insbesondere in Metaphern für moralisch verwerfliche Verhaltensweisen. Ehrgeiz bringe den Neid und die Missgunst hervor, Habsucht den Kummer und die Sorge, Genusssucht die Hölle und den giftigen Wurm, so wie der Bauch Kot und Unrat produziere.382 Wenn wir uns den Übeln des Bauches ergäben, so geschehe das aufgrund von Fahrlässigkeit. Wir selbst verursachten die Unmäßigkeit, nicht unser Bauch. Problematisch seien nicht Bauch, Speise und Trank, sondern Unmäßigkeit und Unersättlichkeit. Im Gegensatz zum Teufel habe Paulus gegessen und getrunken und sei in den Himmel gekommen.383 Nichtsdestoweniger verstricke sich mancher Schlemmer durch die Hingabe an den Bauch in Schulden, für die Zinsen zu zahlen seien: Beschwernisse im Diesseits und Verderben im Jenseits.384 Bemerkenswert sind bei Chrysostomos sicherlich die Ausführungen zu dem, was Lemke als Spur einer ekelhaften Verirrung des Menschen in ein verfehltes Anderes seiner Selbst auffasst:385 ein Ansatz zu einer Kritik der schlechten Ver-
378 | Vgl. ebd., 2a.52, An den Priester Nepotian, 7. 379 | Vgl. ebd., 16. 380 | Vgl. ebd., 2a.58, An den Priester Paulinus, 2. 381 | Vgl. ebd., 2c.107, An Laeta, 10. 382 | Vgl. Chrysostomus, Kommentar zum Ev. des hl. Matthäus, 8:III, 8. 383 | Vgl. Chrysostomus, Über die Bildsäulen, 15:3. 384 | Vgl. Chrysostomus, Kommentar zum Ev. des hl. Matthäus, 8:III, 8. 385 | Vgl. Lemke, 2007, S. 156.
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dauung, die insbesondere den Gegensatz zwischen mangelhafter und überflüssiger Ernährung thematisiert. Getreu der berühmten Diktion des Neuen Testaments gelangt laut Chrysostomos alles, was in den Mund hineinkommt, in den Bauch und in die Kloake.386 Chrysostomos lenkt die Aufmerksamkeit nun auf das Faktum, dass nicht bei allen Menschen die gleiche Speise durch den Verdauungsschlauch wandert. Die Bedeutung des Unterschieds erklärt er in Hinblick auf die Bäuche von Arm und Reich, die er mit zwei Öfen vergleicht. Der eine Ofen wird mit Holz beheizt. Er brenne naturgemäß und biete dem Auge einen lieblichen Anblick. Der andere Ofen wird mit Leibern beheizt. Er verbreite Dunst, Fäulnis, Qualm und Gestank. Laut Chrysostomos ist in den Bäuchen der Reichen noch mehr Fäulnis zu finden als in einem solchen Ofen, mehr üble Dünste und unreine Flüsse, weil die Verdauung infolge der Übersättigung völlig gestört sei. Überladung lasse üble Speisedünste aus dem Bauch aufsteigen und verursache ungemeines Missbehagen.387 Die Erklärung zur gestörten Verbrennung in überfüllten Bäuchen ergänzt Chrysostomos durch eine Erklärung zum gestörten Flüssigkeitshaushalt. Was im Bauch der Reichen fließt, erinnert ihn an einen ekligen Strom in von Unrat, Heu und Stroh, Steinen und Schlamm verstauten Kanälen. Der Leib reicher Schwelger sei überfüllt von üblen Säften, Schleim, Galle, verdorbenem Blute und fauler Flüssigkeit, die aus dem nach unten versperrten Leibe nach oben drängten. Dagegen vergleicht er die Flüsse im Körper der Armen mit den klaren und lauteren Fluten einer Quelle, die Garten und Hain bewässern, nicht verunreinigen.388 Armut sei »die Mutter der Gesundheit«. Durch einfache Nahrung erkaufe der Arme Rüstigkeit und Kraft.389 Die Üppigkeit mache die schönste Person nicht allein krank, sondern auch hässlich.390 Die Überlastung des Magens führe zu Krankheiten, Unpässlichkeiten und üblem Aussehen.391 Vom Überfluss verursachte Ausdehnung klebe an wie ein Anstrich von Kot.392 Schönheit sei unter den Armen deshalb weit verbreitet, weil tägliche Übung, Arbeit und Mühsal, mäßiger Tisch und einfache Lebensweise ihnen die schlanke Gestalt bewahrten.393 Dass manche Menschen es nicht fertigbringen, auf Schlemmerei zu verzichten, findet Chrysostomos unverständlich. Das Vergnügen der Schlemmer 386 | Vgl. Chrysostomus, Kommentar zum Ev. des hl. Matthäus, 51:XV, 4. 387 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. II. Brief an die Korinther, 12:VI. 388 | Vgl. ebd. 389 | Vgl. ebd. 390 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü.d. I. Brief an die Korinther, 39:IX. 391 | Vgl. ebd. 392 | Vgl. ebd. 393 | Vgl. ebd.
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dauere ja nicht länger, als der Schlund lang ist. Es ende, sobald die Speise den Gaumen und die Kehle passiert habe. Die angenehme Empfindung betreffe nur den Moment des Essens, danach entstehe ein sehr unangenehmes Gefühl, weil der Magen entweder gar nicht arbeite oder es mit großer Beschwernis tue.394 Das Maß der Nahrung sei für alle dasselbe.395 Wir alle hätten nur einen einzigen Magen.396 Speise sei uns nicht dazu gegeben, um ihn bis zum Platzen zu füllen.397 Der Magen sei eine Art Mühle, dem eine ihm angemessene Kraft zukomme, die das Maß bestimme, was er täglich verarbeiten könne. Werde ihm mehr aufgeschüttet, so werde das Ganze verdorben.398 Nahrung verursache Kotabsonderungen, damit wir uns nicht der Völlerei ergäben.399 Wenn manche Israeliten bei der Speisung in der Wüste mehr Manna sammelten als andere, so habe sich zur Strafe der Unersättlichkeit schließlich doch bei allen das gleiche Maß gefunden.400 Wer in Überfluss lebe, gleiche jenen Israeliten, die Manna über das Nötige hinaus einsammelten und damit nichts weiter gewännen als mehr Würmer und Fäulnis.401 Schwelger produzierten nichts weiter als mehr Exkremente.402 Völlerei führe zu nichts weiter als zu Schmutz. Die Natur ziehe Grenzen, was darüber hinausgehe, sei nicht Nahrung, sondern ein wachsender Kothaufen.403 Was würden wir nicht alles treiben, wenn als Folge der Völlerei keine unnützen Säfte und Kot abgehen würden?404 Würde der Magen alles aufnehmen, verarbeiten und übermitteln, wäre alle Speise zuträglich und würde nichts unverbraucht abgehen, dann gäbe es wohl Krieg ohne Ende und wir würden uns gegenseitig auffressen.405 Das alttestamentarische Bild vom Tode im Verdauungsschlauch eines Drachens wendet Chrysostomos zur Veranschaulichung der Idee des ewigen Lebens. Jesus von Nazareth sei nicht aus dem Grabe gestiegen wie aus dem Rachen des Todes, sondern wie aus dem zerborstenen und zerrissenen Leibe des Drachen, glänzend und strahlend bis zum Himmel.406 So wie diejenigen, die 394 | Vgl. ebd., 13:III. 395 | Vgl. ebd. 396 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü.d. II. Brief an die Korinther, 12:VI. 397 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü.d. I. Brief an die Korinther, 21:V. 398 | Vgl. ebd., 39:IX. 399 | Vgl. ebd., 13:III. 400 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü.d. II. Brief an die Korinther, 12:VI; vgl. 2. Mose, 16. 401 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü.d. I. Brief an die Korinther, 40:IV. 402 | Vgl. ebd. 403 | Vgl. ebd., 13:III. 404 | Vgl. ebd. 405 | Vgl. ebd. 406 | Vgl. ebd., 24:IV.
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eine Speise gegessen haben, die sie nicht verdauen können, das Genossene wieder von sich geben müssen, so sei es auch dem Tode ergangen. Der konnte den Leib, den er empfing, nicht auflösen.407 Wehen und Schmerzen sollen ihn gefoltert haben, bis er den Leib zusammen mit anderen Leibern ausspie, die er zuvor verschlungen hatte. Den leidenden Bauch des Drachens vergleicht Chrysostomos mit den Leiden weiblicher Bäuche bei der Entbindung: »[K]ein schwangeres Weib kann in Geburtsnöten solche Wehen empfinden wie die, wodurch der Tod, nachdem er den Leib des Herrn aufgenommen, gefoltert wurde. Und wie der babylonische Drache barst, nachdem er die Speise verschlungen, so auch dieser.« 408
Zwar stammt der hier angesprochene Drache nicht aus Delphi, sondern aus Babylon, aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass gewisse Aspekte des bildlichen Zusammenhangs zwischen den ungeheuren Wächtern der höllischen Kerker und dem Leben der Sieger im strahlenden Licht sich an Vorgänge der Verdauung anlehnen. Die Wirkung digestiver Bilder spielt auch bei Chrysostomos in die Verehrung des Leibes hinein. Jesus habe seinen Leib nicht nur zum Anfassen, sondern auch zum Genießen gegeben. Als Speise solle sein Fleisch zu Freundschaft anlocken.409 Das sei ein Beweis der innigsten Liebe; diejenigen, welche wir heiß lieben, pflegen wir laut Chrysostomos oft auch zu beißen.410 Die Parallele zwischen dem Bauch des Drachens und den ehernen Toren der Hölle zieht Chrysostomos nicht von ungefähr. Die Macht der Verdauung scheint zwar nicht absolut, aber doch weitreichend. Das zeigt sich in seinen Überlegungen zu Glaubensgenossen, die das Maul gegen ihren Bischof aufreißen.411 Der könne sich gar nicht wehren. Diese Lästerer seien ja seine Eingeweide! Gleichwie wir unsere Eingeweide, wenn sie anschwellen und dem Kopfe sowie dem übrigen Körper Beschwerden verursachen, nicht mit einem Messer durchschneiden, mache väterliche Gesinnung den Bischof hilflos gegen Lästermäuler, deren Schmähungen ihm Kummer bereiten.412 Der fromme Mann behandelt seine Bauchorgane als wären es seine Kinder! Auch in anderen Hinsichten liefert die Verdauung Chrysostomos das Modell für soziales Verhalten. Wenn der Magen Nahrung nicht verdauen und in Nahrungssaft verwandeln könne, bleibe sie dem Körper wie dem Magen selbst
407 | Vgl. ebd. 408 | Ebd. 409 | Vgl. ebd. 410 | Vgl. ebd. 411 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. Brief an Titus, 1:III. 412 | Vgl. ebd., 1:IV.
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fremd.413 Die Nahrung diene allen Gliedern gemeinschaftlich und so sei es auch mit den Gütern. Wer diese allein genieße, werde keinen Lohn daran haben. Wer aber anderen Anteil gewähre, mache sie sich zum Eigentum und könne Nutzen aus ihnen ziehen. Wer empfangen hat, ist verpflichtet mitzuteilen. Wer alles, was er hat, für sich behalten wolle, verderbe sich selber und andere. 414 Meine der Magen, dass er alle Speisen für sich behalten müsse, weil er sie aufgenommen habe?415 Wenn der Magen alle Speisen behalte und nichts von ihnen verteile, so zerstöre er dadurch den ganzen Körper.416 Wenn so ein Glied leide, so litten die anderen Glieder mit.417 Ein Glied habe einen Zug zu dem andern und ziehe alle an sich.418 Mitunter verschmähe der Magen die gewohnten Speisen aufgrund eines Augenleidens.419 Wer seine Tage mit Gastmählern hinbringe ohne die Armen zu beachten, begehe zweifachen Mord. Einmal an denen, die er verhungern lasse und dann an sich selber. Der Bauch der Reichen sei durch Völlerei gespannt wie eine Trommel, während der Bauch der Armen vor Hunger zusammenfalle. Beides sei die Folge von Unmäßigkeit. Würde der Überfluss der einen mit der Armut der anderen vermischt, wäre dem Leben in doppelter Weise gedient.420 Wer für seinen Bauch lebe, sehe nicht, was man sehen soll, höre nicht, was man hören soll, spreche nichts, was man sprechen soll. Er gleiche einem hingestreckten Kranken, dessen verhüllter Blick nichts von der Wirklichkeit wahrnimmt. Chrysostomos unterstreicht das am Beispiel der Trunksucht: So wie in eine finstere und dunkle Vertiefung, wie in eine Höhle voll Unsauberkeit nehme das Laster den Trinker an seinen Busen und lasse ihn ganz im Finstern dahinleben. Selbst am frühen Morgen werde er nicht nüchtern. Sein Magen habe den Wein von gestern noch nicht verdaut und schon dürste es ihn wieder. Im Innern eines solchen Menschen tobe ein lärmender Sturm. Wie schwarzes Sturmgewölk die Sonnenstrahlen verdecke, so ließen sich die Weindünste auf dem Gehirn nieder und verdunkelten das Licht der Vernunft. Deren Geister führen hilflos herum, die bereits hereingebrochene Flut steige immer höher.421 Wie aus verfaulenden und verwesenden Leichen Jauche rinne, so führe Un413 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an die Korinther, 10:IV. 414 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. II. Brief an Timotheus, 1:III. 415 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an die Korinther, 10:IV. 416 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. II. Brief an Timotheus, 1:III. 417 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an die Korinther, 31:III; vgl. 1. Kor, 12:26. 418 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an die Korinther, 31:III. 419 | Vgl. ebd. 420 | Vgl. ebd. 421 | Vgl. ebd.
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mäßigkeit zu Schleim, Rotz, Schluchzen, Speien, Rülpsen und anderen Unanständigkeiten, zu denen Chrysostomos lieber schweigen möchte. Die Völlerei sei ein Tyrann, der seinen Sklaven Dinge zumute, über die man nicht einmal sprechen dürfe.422 Die Sorge, die wir für die Abflüsse aus unseren Häusern tragen, damit sie sich nicht verstopfen und Kot nach oben treiben, sollen wir auch in Hinblick auf unseren Körper entwickeln. Wie Platon erklärt auch Chrysostomos den Abstand zwischen Kopf und Bauch als eine Vorsichtsmaßnahme gegen die Beschmutzung von Oberem durch Unteres. Unmäßigkeit könne die ganze Ordnung zerstören.423 Der ›Kanal des Kotes‹ leide unter Völlerei.424 Wenn wir den Kanal in unserem Körper nicht rein hielten, riskierten wir das Empordringen des Kotes, zum König selbst, zum Gehirn. Verstopften die Abflusskanäle einer Stadt, könne sich mit dem üblen Geruch eine Pestkrankheit ausbreiten. Müssten nicht auch die in unserem Innern ohne Abzugsöffnung eingepferchten Miasmen tausend Krankheiten im Körper und in der Seele verursachen?425 Ausgehend von Widersprüchen zwischen äußerem Schein und innerem Sein von Schlemmern treibt Chrysostomos den Gegensatz zwischen Körper und Seele auf die Spitze: »Schaue mir nicht auf das heitere und lachende Gesicht, sondern betrachte das Innere, und du wirst es voll sehen vom Gefühl des Elends!«426 Schlemmerei und Nüchternheit könnten nicht zusammengehen. Eines hebe das andere auf. Sogar die Heiden hätten das Sprichwort: »Aus fettem Bauche stammt kein feiner Geist.«427 Je mehr der Körper zunehme, desto magerer und elender werde die Seele.428 Schlemmerei fülle uns mit Gestank, der aus uns herausdränge wie aus einem alten Schlauch. Wenn sich einer derart übergebe, dass es anderen Leute Kopfweh bereite, was müsse dann erst sein eigenes Gehirn erleiden?429 Eine schlemmende Seele verliere das Vermögen, zu hören und zu sprechen. Sie werde weichlich, niedrig gesinnt, schwächlich, 422 | Vgl. ebd. 423 | Vgl. ebd., 13:IV. 424 | Vgl. ebd. 425 | Vgl. ebd. 426 | Ebd., 13:III. 427 | Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an Timotheus, 13:IV. Die Formulierung erscheint auch bei Hieronymus, Brief II.a.52, An den Priester Nepotian, 11. Vgl. Kock, Comoediae att. fragm., III, 1234, S. 613. Aus dem griechischen ›Pacheia gastēr lepton ou tiktei noon‹ (›Παχεῖα γαστὴρ λεπτὸν οὐ τίκτει νόον‹) soll sich über das lateinische ›Subtile pectus venter obesus non parit‹ die deutsche Redewendung ›Voller Bauch studiert nicht gern‹ entwickelt haben. 428 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. I. Brief an Timotheus, 13:III. 429 | Vgl. ebd.
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unfrei, feige, fülle sich mit Frechheit, Schmeichelei und Unwissenheit, mit auf brausendem und trägem Wesen und mit allen Lastern.430 Das Wohlleben könne ein Heer von Trübsalen, Krankheiten und Widerwärtigkeiten erzeugen. So sei der Schlemmer oft verstimmt, ohne eine besondere Ursache. Auch für seine eigene schlechte Laune erwägt Chrysostomos eine Indisposition des Magens, die ja nach Meinung der Ärzte seelische Verstimmungen hervorrufen könne.431 Wie schon bei Platon gibt unsere traurige körperliche Verfassung Anlass zur Hoffnung auf geistige Unabhängigkeit von materiellen Beschwerden: »Viele beschweren sich gegen Gott und sagen: ›Was ist doch Das? Gott hat es so eingerichtet, dass wir den Kot in uns herumtragen.‹ Sie selber jedoch häufen diesen Kot noch mehr an. Deshalb hat Gott es also eingerichtet, damit er vielleicht auf diese Weise uns die Schwelgerei verleide, damit er uns vielleicht auf diese Weise dazu bringe, dass wir uns nicht an’s Irdische hängen.« 432
Solche Bemerkungen zur »zwingend beschissenen Identitätsproduktion«433 weisen auf ein grundlegendes Problem des philosophischen Umgangs mit Verdauung hin: Das Gute, das geschmacklich Erfreuliche, ist in aller Munde, das Schlechte, das übel zu Ertragende, wird peinlich verschwiegen. Zwischen den beiden Polen liegt eine Welt, für deren soziale Bedeutung Chrysostomos ein gewisses Bewusstsein entwickelt. Sicher unterschlägt er fälschlich und weitgehend das mit gastraler Erfüllung verbundene Wohlsein, gar nicht zu reden von den Freuden des Gaumens. Essen wird von ihm schlechtgeredet, daran ist kaum zu rütteln. Aber die Hoffnung auf eine gelingende Verdauungs- und Speisepraxis ist damit nicht begraben, weder für die religiösen Kulte, noch für den Alltag. Im Gegenteil, gerade mit seiner Forderung nach einem Ausgleich zwischen zu viel und zu wenig Füllung ist Chrysostomos weit entfernt von der radikalen Bejahung des Hungerns, die uns bei anderen Autoren seiner Zeit begegnet. Die Forderung nach quantitativ ausgeglichener Ernährung steht Forderungen nach guter Qualität ja nicht zwingend im Wege, ganz im Gegenteil.
Augustinus’ Schwäche Erste Anzeichen von Frömmigkeit entwickelte Aurelius Augustinus (* 13.11.354 in Tagaste; † 28.08.430 in Hippo Regius) nach eigenem Bekenntnis schon im Knabenalter. Heftige Magenschmerzen motivierten ihn, seine christliche 430 | Vgl. ebd. 431 | Vgl. ebd., 1:III. 432 | Ebd., 13:III. 433 | Vgl. Lemke, 2007, S. 156.
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Mutter um die Taufe zu bitten.434 Nach seiner Zuwendung zum Manichäismus blieb ihm der Bauch wichtig. Die Anhänger Manis teilten sich in zwei Gruppen, die Hörer und die Auserwählten. Vermischte ein Auserwählter eine Feige mit seinem Inneren, so konnte er daraufhin Engel oder gar Teile der Gottheit im Gebete aushauchen. Augustinus erhoffte Reinigung vom Schmutz zügelloser Sinnlichkeit zu erlangen, indem er den Auserwählten Speise zutrug, damit sie »in der Werkstatt ihres Magens« Engel und Götter zu seiner Befreiung bilden konnten.435 Die »Teilchen des allerhöchsten und wahren Gottes« wären in der Speise verblieben, wären sie nicht durch die heiligen Zähne und Mägen daraus erlöst worden.436 Auch nach der Abwendung von »solchen Albernheiten« blieb die Beziehung zwischen mentaler und gastraler Verdauung ein wichtiger Bezugspunkt für Augustinus’ Verständnis des Geistes: Berühmt wurde seine Beschreibung des Gedächtnisses als Magen des Geistes.437 Dass es sich hierbei nicht um ein versehentliches Bonmot handelt, unterstreicht er in seiner Schrift Vom glücklichen Leben. Es handelt sich dabei um die Wiedergabe eines Gesprächs, das Augustinus an seinem 32. Geburtstag, einige Monate nach seinem Bekehrungserlebnis, mit einigen Frühstücksgästen führte. Augustinus erläutert den Erwerb von Wissen in Hinblick auf die Nahrungsaufnahme. Die Analogie zwischen der Lust an geistiger und körperlicher Nahrung ist ein tragendes Element der Gedankengänge. Laut Augustinus übertrifft der Geist gelehrter Menschen den der Unwissenden an Fülle und Größe.438 Zunächst scheine Nahrung den Körper zu betreffen, weil dieser ohne Speise abmagert, doch auch die Seele brauche passende Speise – besonders Wissenschaft, versichert Augustinus’ Mutter – sonst hungere sie aus.439 Aber kann ein Geist, der weder einen besonderen Unterricht genossen, noch aus den schönen Künsten geschöpft hat, nicht auch voll sein, etwa von Fehlern und Nichtigkeiten? Augustinus beantwortet auch diese Frage durch Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen intellektueller und gastraler Verdauung. Ungesunde Fülle führe beide zu Unfruchtbarkeit, Hunger und Krankheit. Sowohl für den Körper als auch für den Geist gebe es zwei Arten von Nahrung, die eine sei heilsam und nützlich, die andere schädlich und verderblich.440 Für die körperliche Ernährung seiner engsten Freunde und Verwandten hatte Augustinus mit seinem Geburtstagsfrühstück wohl hinreichend ge-
434 | Vgl. Augustinus, conf, I:11 435 | Ebd., IV:1. 436 | Ebd., III:10. 437 | Ebd., X:14: »nimirum ergo memoria quasi venter est animi.« 438 | Vgl. Augustinus, bv, II:7 439 | Vgl. ebd., II:8. 440 | Vgl. ebd.
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sorgt.441 Aber auch der Genuss geistiger Speise sollte nach seinem Dafürhalten nicht zu kurz kommen. Zwar wolle er niemanden zur Aufnahme zwingen, hoffe aber darauf, dass solche Speise der körperlichen vorgezogen werde.442 Ein gesunder Geist verlange zu essen, ohne seine Nahrung – nach der Art kranker Körper – zu erbrechen. Auch der Geist könne sich überladen, wenn er beim Essen gefräßig das ihm gesetzte Maß überschreite.443 Der Geist verdaue dann schlecht. Das sei für seine Gesundheit ebenso bedenklich wie Hunger.444 Pausen bei der Behandlung philosophischer Fragen – das Frühstücksgespräch zog sich über drei Tage hin – sollten es dem Geist ermöglichen, seinen Appetit neu zu entwickeln. Zum Abschluss des Gesprächs des ersten Tages bat Augustinus seine Gesprächs- und Verdauungspartner darum, ein abschließendes Gericht, bzw. das, was ihm beim Abdecken des Tisches in den Geist gekommen sei, mit frohem Herzen zu kosten. Er habe da ein Gericht mit gelehrigem Honig (»scholastico melle«) anzubieten: die Debatte über die Akademiker.445 Die Grundzüge seiner Position hatte Augustinus im Vorwort kurz mit dem Bild des »Bergs des Wissens« vor dem »Hafen der Philosophie« umrissen.446 Wer das Festland des Glücks hinter dem Hafen erreichen wolle, müsse den gefährlichen Berg passieren. Der werde leicht mit dem glückseligen Festland verwechselt und repräsentiere das »hochmütige Streben nach leerem Ruhm« der skeptischen Akademie. Das Innere des Berges enthalte nichts Substantielles oder Solides. Wer ihn betrete, riskiere den Sturz in Spalten und in dunkle Tiefe. Manche Hafenbewohner könnten sich auf dem Berg allerdings gefahrlos bewegen. Die Akademiker könnten auf dem unsicheren Boden wandeln, weil sie sich durch die Ernährung mit Nichts aufgeblasen und leicht gemacht hätten.447 Die Zuhörer reagieren unterschiedlich.448 Licentius, vom akademischen Skeptizismus beeinflusst, möchte seinen Eingeweiden solche Speise nicht mehr zumuten. Navigus bewundert, wie Augustinus eine derart scharfe Debatte sanft und honigsüß zu machen versteht. Da er keine blähende Wirkung feststellt, möchte er kräftig zulangen.449 Auch der abwesende Alypius hätte laut Augustinus wohl Gefallen an Honig, Mehl und Mandeln, aber auch an Wahrheit, Weisheit und Glück gefunden. Die anderen Gäste genießen wortlos. 441 | Vgl. ebd., II:9. 442 | Vgl. ebd. 443 | Vgl. ebd., II:13. 444 | Vgl. ebd. 445 | Ebd. 446 | Ebd., I:2ff. 447 | Ebd., II:8. 448 | Vgl. ebd., II:14. 449 | Vgl. ebd.
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Wie ernst es Augustinus mit der Analogie zwischen intellektueller und digestiver Verdauung ist, unterstreichen seine Ausführungen zum Mangel.450 Wer nicht an ihm leide, sei weise und glücklich. Fülle und Weisheit erklärt er zu Synonymen.451 Im Sinne von Bescheidenheit und im Gegensatz zu Verschwendung erscheint ihm Genügsamkeit als höchste Tugend.452 Bescheidenheit beruhe auf Maß und Proportion.453 Wo es Maß und Proportion gebe, da sei nichts zu viel und nichts zu wenig. Deshalb sei es auch richtig, dem Mangel Fülle entgegenzusetzen, nicht Abundanz, in der Überfluss anklinge. Durchaus im Sinne des delphischen ›Nichts im Übermaß‹ (›Μηδὲν ἄγαν‹) beruft Augustinus den römischen Komödiendichter Publius Terentius Afer zum Zeugen: Für das Leben sei es besonders nützlich, wenn es nicht zu viel gebe (»Hoc primum in vita esse utile, ut ne quid nimis«).454 Dass Augustinus die Weisheit als das dem Geist angemessene Maß ansieht, hat Konsequenzen für den Körper. Seine Erklärungen zum seelischen Heil geben eine Idee der Regeln, die er für die Ernährung vorschlagen wird. Glücklich und weise sei, wer keinen Mangel leide und das passende Maß finde.455 Könne eine solche Weisheit anders genannt werden als göttlich? Aus der Quelle der Wahrheit entspringe wiederum ein Durst nach Gott, und Licht für unseren inneren Blick. Damit ist das Maß sozusagen erfüllt: Augustinus dankt Gott und unterbricht das Gastmahl für einige Tage. Die weitreichende Analogie der Funktionen gastraler und mentaler Verdauung bei Augustinus darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er geistige Lust weit über die körperliche stellt. Allerdings könnten Menschen Freude auf verschiedenen Wegen suchen, wobei insofern Übereinstimmung bestehe, als jeder Freude anstrebe und darunter Glückseligkeit verstehe.456 Diese Glückseligkeit liege im Gedächtnis. Bei der Erklärung dazu, wie das denn funktioniere, bringt Augustinus den Körper erneut ins Spiel, durch die Hintertür der Verdauung. Sein berühmtes Wort vom »Magen des Geistes« fällt unmittelbar in diesem Zusammenhang. Wie lässt es sich denn erklären, dass unsere ehemaligen Gefühle im Gedächtnis verändert erscheinen? Warum erinnern wir uns nicht immer freudig an Freude und traurig an Trauer? In Hinblick auf vergangene Körpereindrücke sei die Veränderung nicht weiter verwunderlich. Der Körper
450 | Vgl. ebd., III:28. 451 | Vgl. ebd., III:32. 452 | Vgl. ebd., III:31. 453 | Vgl. ebd., III:32. 454 | Ebd. 455 | Vgl. ebd., III:33f. 456 | Vgl. Augustinus, conf, X:21.
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unterscheide sich eben vom Geist.457 Aber wie ist es mit den Bezügen zwischen Geist und Gedächtnis? Wenn wir uns mit Freude an frühere Traurigkeit erinnern, müsse da nicht im Geiste Freude vorhanden sein, während im Gedächtnis Traurigkeit vorherrsche?458 Töne, die wir einmal hörten, Düfte, die der Wind mit sich trug, und Geschmäcker, die wir längst verdaut hätten, speichere das Gedächtnis als Bilder in wunderbaren Zellen, in welchen die Erinnerung sie erreiche. Wenn uns Begierde, Freude, Furcht und Traurigkeit in der Erinnerung erschienen, ohne unsere Ruhe zu stören, so sei es, als würden wir sie aus dem Gedächtnis hervorbringen wie Wiederkäuer Speise aus dem Bauch. Freude und Traurigkeit seien die süße und saure Speise des Geistes. Unser Gedächtnis neutralisiere Empfindungen in etwa so, wie der Magen des Bauches den Geschmack. Es möge zwar lächerlich scheinen, das Gedächtnis mit dem Magen zu vergleichen, aber gewisse Ähnlichkeiten gebe es wohl.459 Für Augustinus ist das Gedächtnis ein innerer Ort, der eigentlich gar kein Ort ist.460 Dennoch scheint den Aktivtäten des Gedächtnisses etwas Räumliches anzuhaften. Hätte Augustinus seine Erklärung des Gedächtnisses nicht explizit auf die Verdauung bezogen, so ließe sich der Bauch doch hinter den unheimlichen Zügen vermuten, mit denen Augustinus das Gedächtnis versieht. Unzählige Felder, Grotten und Höhlen gebe es in seinem Gedächtnis, tief und grenzenlos.461 Groß sei die Kraft des Gedächtnisses, die heilige Schauder errege, in ihrer unergründlichen Vielfalt!462 Eine kraftvolle, unergründliche Mannigfaltigkeit sei das, und eine schreckliche Sache.463 In der breiten Räumlichkeit464 des »inneren Hauses«465 lässt er das Ich und das Gedächtnis zueinanderkommen: »Ich bin es, der sich erinnert, ich Geist«.466 Dieser Geist erschüttert Augustinus mit Fragen zu seiner eigenen Natur. »Und das ist mein Geist, und ich selbst bin der Geist. Was bin ich also, mein Gott? Was für ein Wesen?«467 Den inneren Aufruhr überführt Augusti-
457 | Ebd., X:14. 458 | Vgl. ebd. 459 | Vgl. ebd. 460 | Vgl. ebd., X:9. 461 | Vgl. ebd., X:17. 462 | Vgl. ebd. 463 | Vgl. ebd.: »Magna vis est memoriae, nescio quod horrendum«. 464 | Vgl. Schmidt-Dengler, 2000, S. 15. 465 | Augustinus, conf, VIII:8. 466 | Ebd., X:16 (»ego sum, qui memini, ego animus«). 467 | Ebd., X:17 (»et hoc animus est, et hoc ego ipse sum. quid ergo sum, deus meus? quae natura sum?«).
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nus in den Bekenntnissen in die berühmte Bekehrungsszene.468 Mit spitzer Zunge ließe sich fragen, ob Augustinus hier nicht die Erfahrung der gewaltigen Verdauungsmacht aus seiner Kinderzeit (siehe oben) in eine reflektierte Form überführt. Die Unterscheidung zwischen geistigen und körperlichen Verdauungsfreuden trifft Augustinus scharf. Zwar haben wir alle von der Fülle Gottes empfangen,469 aber damit unser Geist voranschreite, müssen wir verschiedene Dinge auseinanderhalten. Wollen wir nicht wie Säuglinge nach Brüsten suchen, so sollen wir zu festeren Speisen vorschreiten, aber nicht mit dem Magen, sondern mit dem Geiste: »mente, non ventre.«470 Wir müssten schon sehr töricht sein, um zu meinen, es sei wichtiger, einem Hungrigen den Magen mit Brot zu stopfen, als seinen Geist in den Genuss der Worte Gottes zu bringen.471 Wissen könne einen Narren in einen Weisen wandeln ohne sich dabei selbst zu verändern, Speise könne Magerkeit in Fülle und Schwäche in Stärke verwandeln, verliere bei der Assimilation durch den Körper aber ihre ursprüngliche Form.472 Während der innere Mensch, die rationale Seele, wiedergeboren werde, verfalle der äußere, physische Mensch. Der innere Mensch erfreue sich an der Harmonie des Körpers und verursache die Assimilation von Speiseteilen. Durch Assimilation per convenientiamnehme körperliche Speise neue Formen an. Manche ihrer Teile wirkten nach dem Verlust ihrer Form dem Verfall des stofflichen Körpers entgegen, andere kehrten als Exkremente in die Erde zurück, andere entschwänden als Schweiß, wieder andere würden zu Samen und dienender Fortpflanzung.473 Augustinus fürchtet nun um jene, die das, was einst der Zerstörung anheimfalle, als Hauptsache behandeln, nicht aber das ewig Unveränderliche, ihnen gelte der Spott des Apostels.474 Wir sollten besser dem anhängen, was nicht beseitigt werde, nichts mit den Gelüsten des Fleisches zu tun habe und nur durch die Heiligung des Geistes gewonnen werden könne.475
468 | Vgl. ebd., VIII:12. 469 | 1 Joh, 1:16. 470 | Augustinus, Tract Ioh, XXXV:3. 471 | Vgl. Augustinus, De catechiz, I:10.-15. 472 | Vgl. Augustinus, quaest, LXXXIII:73. 473 | Augustinus, vera rel, S. 235-36. Für die Auffassung mancher Theologen, dass Speise den Körper durchläuft ohne wahrhaft Teil an der menschlichen Natur zu haben, war Augustinus’ Position allerdings hinderlich. Vgl. Reynolds, 1999, S. 8. 474 | Vgl. Augustinus, Briefe, An Alypius von Tagaste, §11, mit Bezug auf Phil, 3:19, »Ihr Gott ist ihr Bauch« und 1 Kor, 6:13, »Die Speise ist für den Leib und der Leib für die Speise; Gott aber wird beides beseitigen.« 475 | Vgl. ebd.
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Moses habe keine unvergängliche Speise für das ewige Leben versprochen, sondern ein Reich und ein Land, fließend von Milch und Honig, Friede, Kindersegen, Gesundheit und einen vollen Magen auf Erden.476 Christus habe dagegen eine unvergängliche Speise für das ewige Leben angeboten, also mehr als Moses versprach. Aber nun habe man von ihm erwartet, dass er auch Großes zeige. Bei Moses habe es immerhin himmlisches Manna gegeben, nicht nur Gerstenbrote! Christus habe entgegnet, dass sein Vater die Speisen vom Himmel gesendet habe, nicht Moses. Er selbst sei das Brot des Lebens. Wer zu ihm komme, werde keinen Hunger haben und wer an ihn glaube, keinen Durst.477 Augustinus pointiert den Zusammenhang zwischen Glauben und Verdauung wie folgt: »Wozu hältst du die Zähne und den Magen bereit? Glaube, und du hast gegessen«.478 Nichtsdestotrotz hat Augustinus auch an gastraler Speise seine Freude. Wer den Bauch nicht zum Gott erhebe, dürfe sich an den Früchten der Barmherzigkeit erfreuen.479 Schon Paulus sei fähig gewesen, Gaben mit Freude empfangen, weil er Gott gedient habe, nicht seinem Bauch. Als ihm die Bewohner von Philippi Gaben sendeten, habe er sich gefreut, weil eine gute Tat vollbracht wurde.480 Dass ihm dabei in seiner Not geholfen wurde, sei ihm nicht wichtig gewesen – er hätte ja gelernt, sich in allen Verhältnissen zu bescheiden, sich zu sättigen, zu hungern, zu schwelgen und zu darben.481 Augustinus tut sich mit solcher Vorbildlichkeit eher schwer und erklärt auch warum: Als Mensch müsse er dem Verfall des Körpers durch Speise und Trank begegnen.482 Dabei sei er schlimmen Versuchungen ausgesetzt. Täglich führe er einen Krieg mit sich selbst, in dem er seinen Körper zu versklaven suche.483 Er könne den Tag kaum erwarten, an dem Vergängliches in ewig Dauerhaftes gewandelt werde und wunderbare Sättigung die Bedürfnisse seines Bauches abtöte. Jetzt kämpfe er noch fastend gegen die Fesseln der Süßigkeit. Es sei eben lustvoll, die Schmerzen des Hungers und Durstes zu verscheuchen, die brennen und töten wie Fieber. Nahrung sei dafür Medizin. Wenn solche Medizin zur Hand sei, werde die Mühsal zum Genuss.484 Sobald seine Bedürftigkeit in Sättigung übergeht, sieht Augustinus bedrohliche
476 | Vgl. Augustinus, Tract Ioh, XXV:12. 477 | Vgl. ebd., XXV:14. 478 | Ebd., XXV:12. 479 | Vgl. Augustinus, conf, XIII:26. 480 | Vgl. ebd. 481 | Vgl. Phil, 4:12. 482 | Vgl. Augustinus, conf, X:31. 483 | Vgl. ebd. 484 | Vgl. ebd.
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Begierlichkeit erwachen.485 Das scheint ihm deshalb als besonders gefährlich, weil die Natur gebieterisch nach der Lust verlange, die sich zum eigentlichen Zweck des Essens und Trinkens geselle: der Erhaltung der Gesundheit. Ja, meistens eile die Lust diesem Zweck sogar voran. Die Lust motiviere, was eigentlich um Willen der Gesundheit zu tun sei, begnüge sich allerdings nicht mit dem, was der Gesundheit genug wäre. Oft bleibe es ungewiss, ob notwendige Sorge für den Körper den Wunsch nach weiterer Nahrung begründe oder ob täuschende Gier nach Befriedigung im Spiel sei. Zu allem Überfluss sei solche Ungewissheit dazu geeignet, eine unglückliche Seele zu erfreuen. Allzu leicht lasse sie sich dazu hinreißen, das Treiben der Lust unter dem Vorwand der Sorge um die Gesundheit zu verhüllen. Solchen Versuchungen sieht er sich täglich ausgesetzt und ist sich »in dieser Sache noch nicht recht im klaren«.486 Sicher ist immerhin so viel: Augustinus möchte sein Inneres nicht durch Völlerei und Trunkenheit beschweren.487 Doch Unmäßigkeit im Essen überschleiche ihn dennoch. Wem es nicht gegeben sei, folgert er, der könne nicht enthaltsam leben.488 Die Reihung der Zitate, die Augustinus zur Entschuldigung seiner digestiven Vorlieben anführt, legt wenig Verständnis für Hieronymus und einige Sympathie für Jehovian nahe: Den Reinen sei alles rein. Verderblich sei nur, wenn Essen Grund zum Anstoß gebe.489 Was mit Danksagung genossen werde, sei auch nicht verwerflich.490 Die Speise gebe uns keinen Wert bei Gott.491 Niemand solle uns richten wegen Speise und Trank. Wer esse, verachte nicht den, der nicht esse.492 Wer nicht esse, richte nicht den Essenden. Mit seinen flehentlichen Bitten um das Ende der Begierlichkeit seines Bauches stehe er ja auch nicht alleine da.493 Wenig Hang zu asketischer Lebensart zeigen auch die Überlegungen zu unreiner Speise und Begierde, die Augustinus in ein Plädoyer für karnivore Ernährung überführt. Noah habe den Genuss jeder Art von essbarem Fleisch erlaubt, Elias habe sich durch Fleisch gekräftigt, Johannes Heuschrecken verspeist. Dagegen sei Esau durch seine Begierde nach Linsenmus betrogen worden, David habe sein eigenes Verlangen nach Wasser getadelt, Christus sei mit
485 | Vgl. ebd. 486 | Ebd. 487 | Vgl. ebd.; Lk, 21:34. 488 | Vgl. Weish, 8:21. 489 | Vgl. Röm, 14:20. 490 | Vgl. 1 Tim, 4:4. 491 | Vgl. Kol, 2:16. 492 | Vgl. Röm, 14:3 493 | Vgl. Sir, 23:6.
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Brot versucht worden, Gott habe das Volk in der Wüste gestraft, weil es gierig murrte, nicht weil es nach Fleisch verlangte.494 Der christlichen Relativierung der Speisevorschriften begegnet Augustinus durch Rückbesinnung auf die Tradition. Am harten Felsen der digestiven Verträglichkeit biegt sich der christliche Spaten. Augustinus scheint tolerantes Gewohnheitsrecht zu predigen, wenn er dort, wo die Heilige Schrift nichts Bestimmtes anordnet, die Sitte des Volkes Gottes und den Gebrauch der Vorväter als Gesetz betrachten möchte.495 Dem einen solle kein Vorwurf aus der Gewohnheit der anderen gemacht werden, sonst erhebe sich endloser Streit. Es sei etwas anderes, sich sündig durch Unmäßigkeit und Trunkenheit zu belasten, als das Fasten mit schuldiger Berücksichtigung der Bescheidenheit und Mäßigkeit zu unterlassen. Die Mahlzeiten der Heiligen seien von der Gefräßigkeit der Bauchdiener zu unterscheiden.496 Auf den Vorschlag, man solle am Tage des Herrn Speise und Trank der Seele, nicht aber dem Bauche zuführen, reagiert er polemisch belustigt: Der Sonntag habe den Vorrang vor dem Sabbat wegen des Glaubens an die Auferstehung, nicht wegen der gebräuchlichen Erquickung oder weil man sich ein weinlauniges Liedchen erlaube.497 Die Gewohnheiten des Alltags setzen der Rückbesinnung auf überlieferte Gewohnheiten Grenzen. Der Weg zum kulinarischen Anything goes498 ist hier nicht mehr weit. Schon aufgrund seiner Vita dürfte Augustinus mit der relativen Gültigkeit von Regeln, Überzeugungen und Verdauungsgewohnheiten gut vertraut gewesen sein. Gemessen an seiner politischen Durchschlagskraft zeigt sich Augustinus schwach in Hinblick auf seinen Bauch.499 Er bemerkt das selbst und erklärt, dass der tägliche Streit gegen die Begier nach Speise und Trank ihm selbst darum so schwer falle, weil er nicht beschließen könne, seine Essgewohnheiten ein für alle Mal zu ändern, wie es ihm bei dem außerehelichen Verhältnisse gelang.500 Die Zügel seines Gaumens lasse er bald maßvoll etwas nach, bald ziehe er sie fester an. Wer ließe sich denn nicht zuweilen ein wenig über die Grenzen der Mäßigkeit fortreißen? Wer das auch sei, der stehe wohl groß da. Er selbst sicher nicht!501 494 | Vgl. Augustinus, conf, X:31. 495 | Vgl. Augustinus, Briefe, An Casulanus, II. 3. 496 | Vgl. ebd., II. 3. 497 | Vgl. ebd., V. 12. 498 | Vgl. Feyerabend, 1975, S. VII. 499 | Selbst der sonst recht kampflustige Hieronymus bat den heiligen Herrn und ehrwürdigen Bischof Augustinus, ihn nicht mehr den Gefahren eines Kampfes auszusetzen. Vgl. Hieronymus, Brief an Augustinus von Hippo, 112, §22. 500 | Vgl. Augustinus, conf, 10:31. 501 | Vgl. ebd.
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Das Ringen der gastralen Lust wider den Geist der Mäßigung lässt Augustinus ratlos erscheinen. Hinter seiner Lehre von der Erbsünde vermutet Lemke die Rechtfertigung von schlechtem Essverhalten: Aufgrund selbstverschuldeter Unmündigkeit verfalle Augustinus in eine gastro-theologische Doppelmoral.502 Nachdem Adam nicht auf die verbotene Frucht verzichten wollte, solle nun Gott allein den Willen zur Abstinenz verleihen oder eben auch nicht.503 Augustinus’ Schwäche erinnert an die Schwierigkeit der Unterordnung des gastralen Verlangens unter gedankliche Ideale. Das Festhalten an der Ähnlichkeit zwischen gedanklicher und gastraler Verdauung findet Ausdruck in den Regeln, die Augustinus für die klösterliche Nahrungsaufnahme festlegt. Hunger betrifft dabei nicht nur die Aufnahme von Speise durch den Mund, sondern auch die Aufnahme biblischer Worte durch die Ohren.504 Was in den Ohren klingt und was in den Mund gelangt, gerät dabei allerdings in Widerspruch. Einerseits predigt Augustinus Lustentsagung, andererseits bringt er sich selbst in die Position eines ohnmächtigen Opfers.505 Als Ausdruck einer digestiven Lebensform wirft diese Position Licht auf den Zwiespalt zwischen gedanklichen und gastralen Beiträgen zum Geist. Als aussagefreudiger Zeitzeuge bestätigt Augustinus die Annahme, dass keine Sünde das Gewissen der frühen Mönche so stetig strapazierte wie die der Völlerei.506
Cassians Kampf Johannes Cassianus von Massilia (* um 360 in Scythia Minor; † um 435 in Marseille) befürwortet einen gewissen diätetischen Relativismus, indem er gegen eine einheitliche Fastenordnung argumentiert.507 Wenn ein Mensch nach dem Genuss von zwei Pfund Speise gesättigt sei, so fülle einen anderen 502 | Vgl. Lemke, 2007, S. 135 u. 151f. 503 | Vgl. ebd., S. 151. Augustinus erinnert seinen Schöpfer auch daran, dass er es war, der ihn so schwach erschaffen habe. Vgl. Augustinus, conf, 10:31. Das könnte Nietzsche dazu veranlasst haben, von einer »hoffärtig-pöbelhaften Zudringlichkeit« zu schreiben, mit der sich Augustinus »vor Gott wälzt«. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1885, 34[141]. Ein Hund habe für den Menschen ein »ähnlich ›religiöses Gefühl‹«. Ebd. Laut Lemke zerfrisst die sündhafte Freude das christliche Gewissen buchstäblich. Vgl. Lemke, 2007, S. 153. 504 | Vgl. Augustinus, Regeln, 3:2 (Epistulae. 49:9; »nec solae vobis fauces sumant cibum, sed et aures esuriant Dei verbum«). 505 | Vgl. Pagels, 1987, S. 222. 506 | Vgl. Foster, 1979, S. 76. Aber vielleicht war es gar nicht so schlimm, wie man denken mag? Goethe: »Die Kirche hat einen guten Magen / Hat ganze Länder aufgefressen / Und doch noch nie sich übergessen.« (Faust I, Szene IX, Spaziergang). 507 | Vgl. Cassianus, de instit, V,5.
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vielleicht schon ein Pfund. Das Ziel der Enthaltsamkeit bestehe darin, nach dem Maße zu essen, was wir zu fassen vermögen ohne uns zu übersättigen. Nicht nur die Beschaffenheit, sondern auch die Menge der Speisen könne das Herz abstumpfen. Der Geist könne zugleich mit dem Leibe fett werden.508 Nicht nur Wein berausche den Geist.509 Jede beliebige Speise, die der Magen aufnehme, könne dem Geist zu einer Last werden, die ihn bei der Steuerung der Vernunft hemme.510 Der übermäßige Genuss aller Speise bringe den Geist zum Wanken und ziehe ihn von lauterer und reiner Kontemplation ab. Cassian führt das auf den im Alten Testament erwähnten Zusammenhang zwischen Fülle, Nahrung und Arroganz gegenüber den Armen und Bedürftigen zurück.511 Ursache der sittlichen Verderbnis und Ausschweifung der Sodomiten sei nicht Berauschung mit Wein, sondern übermäßiger Brot- bzw. Speisegenuss gewesen.512 Die geistige Gesundheit hänge mit dem Fasten des Magens zusammen.513 Worauf es bei der Enthaltsamkeit ankomme, sei weniger die Beschaffenheit der Speisen als das Urteil des Gewissens.514 Jeder solle sich die zum Kampf gegen Auflehnungen des Körpers erforderliche Genügsamkeit aneignen, aber wenn auf das geordnete Fasten keine Erquickung mit Speisen folge, vermöge es seinen Zweck nicht vollkommen zu erreichen. Folge auf langes Fasten vollständige Sättigung, habe das eher Mattigkeit des Leibes als unversehrte Keuschheit zur Folge. Erstrebenswert sei eine fortwährende Gleichmäßigkeit in der Enthaltsamkeit. Der Kampf gegen die »Gastrimargie«515 bzw. Gaumenlust, ist für Cassian von besonderer Bedeutung, weil er Zündstoff zu den übrigen Hauptsünden liefert. Wer die Gelüste des Gaumens nicht zu zügeln vermöge, könne den Stachel der brennenden Lust nicht niederhalten.516 Die Reinheit des inneren Menschen sei an der vollkommenen Übung dieser Tugend erkennbar. Wollten wir nicht als Knechte des Fleisches des olympischen Ringkampfs gegen die Sünden für unwürdig erachtet werden, müssten wir zunächst gegen die Begierlichkeit und die Regungen unseres Fleisches und unsere Leidenschaften in den Kampf zu ziehen. Denn unmöglich könne ein gesättigter Ma-
508 | Vgl. ebd. 509 | Vgl. ebd. 510 | Vgl. ebd., V,6. 511 | Vgl. Ez, 16:49. 512 | Vgl. Cassianus, de instit, V,6. 513 | Vgl. ebd., V,9. 514 | Vgl. ebd. 515 | Ebd., V,11. 516 | Vgl. ebd.
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gen im Kampf gegen den inneren Menschen bestehen.517 Also müssten wir die Gaumenlust niederkämpfen und den Geist nicht bloß durch Fasten, sondern auch durch Nachtwachen, Lesung und häufige Zerknirschung des Herzens gewissermaßen mürbe machen.518 Dann gestehe er sich seine Niederlage vielleicht ein und seufze vor Entsetzen über seine Sünden. Sehnsucht nach Vollkommenheit und Reinheit könne ihn dazu führen, den Genuss von Speisen weniger als ein Zugeständnis an die angenehme Empfindung zu verstehen, denn als eine ihm auferlegte Last, als ein dem Leibe geschuldetes Bedürfnis, nicht als eine dem Geiste wünschenswerte Annehmlichkeit.519 Die geistige Anstrengung werde uns in den Stand setzen, den Feuerofen unseres Leibes, zu dessen Heizung der König von Babylon die Sünde und die Leidenschaften herbeischafft, durch Tränen zu ersticken. Niemand könne rechtmäßig gegen die Versklavung durch das eigene Fleisch kämpfen, der nicht die Begierlichkeit des Bauches und die Gaumenlust überwunden habe.520 Von außen hätten wir weniger zu fürchten als von dem in uns selbst eingeschlossenen Feind.521 Alles, was in uns ist, müsse sich besiegt dem Geiste unterwerfen.522 Die Enthaltung von sichtbarer Speise könne zur geistigen Vollkommenheit allerdings nicht hinreichen, wenn nicht damit ein »Fasten des Geistes« verbunden sei. Auch für den Geist gebe es schädliche Speisen. Auch ohne Überfluss an sichtbaren Speisen könne der Geist fett werden und an den Abgrund der Üppigkeit rollen.523 Zerstreuung sei dem Geist eine angenehme Speise, Zorn sei ihm schwer verdaulich, Neid verderbe ihn mit giftigen Säften, Ruhmsucht beruhige ihn kurzfristig, um ihn aller Tugenden zu berauben.524 Dieser Speisen sollten wir uns durch ein besonders geheiligtes Fasten enthalten, um das körperliche Fasten mit Nutzen und Bequemlichkeit beobachten zu können. Ein abgetöteter Leib, verbunden mit einem zerknirschten Geiste, sei eine würdige Wohnstätte der Heiligkeit.525 Der Mönch solle gegen die Gaumenlust eine dreifache Wachsamkeit üben: erstens die festgesetzte Zeit abwarten, die ihn vom Fasten erlöst; zweitens dem Verlangen nach Sättigung nicht nachgeben und drittens mit allen beliebigen,
517 | Vgl. ebd., V,13. 518 | Vgl. ebd., V,14. 519 | Vgl. ebd. 520 | Vgl. ebd., V,16. 521 | Vgl. ebd., V,21. 522 | Vgl. ebd. 523 | Ebd. 524 | Vgl. ebd. 525 | Vgl. ebd.
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auch geringeren Speisen vorliebnehmen.526 Allerdings ist das Fasten für Cassian kein Selbstzweck. Mit einer gewissen Bewunderung spricht er von der Begründung für den Bruch mit dem täglichen Fasten, die er in einem Kloster in Ägypten erhielt: »Das Fasten ist immerdar bei mir; dich aber, den ich wieder entlassen muss, kann ich nicht immer bei mir behalten. Und das Fasten, so nützlich und stets notwendig es ist, ist doch die Darbringung eines freiwilligen Geschenkes; aber das Werk der Liebe zu erfüllen, fordert das Gebot.« 527
M enschen behandeln mit A vicenna Während sich ihre christlichen Zeitgenossen gemeinhin mit dem Niederringen gastraler Lust beschäftigen und auf Untersuchungen und Experimente zur Erforschung der Verdauung weitgehend verzichten, bewahren und erweitern muslemische Gelehrte die antiken Lehren zur Pflege der Gesundheit. In der langen Liste der einflussreichen Ärzte verdient der persische Arzt, Physiker, Philosoph, Mathematiker und Astronom Avicenna (* um 980 in Afschāna; † Juni 1037 in Hamadan,) besondere Beachtung. Avicennas Kanon der Medizin wurde im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona ins Lateinische übersetzt und zählte bis in das 17. Jahrhundert zu den Referenzwerken der abendländischen Heilkunde. Seine Heilkunde entwickelte Avicenna vor dem Hintergrund moslemischer Religion, die in Hinblick auf Verdauung neben medizinischen Bemerkungen auch Motive der ägyptischen, hebräischen, griechischen und christlichen Philosophie der Verdauung aufnimmt. Regeln zum Umgang mit den Ansprüchen des Bauches finden sich sowohl im Koran als auch in den Hadithen, also den späteren Berichten und Erzählungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed. Die Reihe der Beispiele ist lang.528 Zu den kulturübergreifenden Ähnlichkeiten dürfte 526 | Vgl. ebd. 527 | Ebd., V,24. 528 | Die Bäuche der Sünder sind Ziel göttlicher Strafen: Sie werden mit nichts gefüllt als mit Feuer oder siedendem Wasser. Vgl. Koran, 2:174, 4:10, 37:66f, 56:53f. Der Gelehrte Ibn Mājah (* 824, † 887) erklärt zwar, dass Fasten gegen das Feuer schütze wie ein Schild im Kampf, vgl. Majah, 9:1639, aber die Furcht vor Bauchverletzungen bleibt doch gegenwärtig: »Am Tage des Gerichts wird ein Mann gebracht und in die Hölle geworfen werden, und seine Eingeweide werden dort aus seinem Bauch herausbrechen, und er wird sie festhalten und taumelnd im Kreise gehen wie ein Esel in der Mühle.« Riyad as-Salihin, 1:198. Wer an einer Bauchverletzung stirbt, gilt als Märtyrer. Vgl. Ahmed, 10293, Bukhari, 653, Muslim, 19141, Tirmidhi, 1065. Die Furcht vor frem-
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hier das gemeinsame Ziel des Überlebens in einer lebensfeindlichen Umwelt zählen, sei es in der Wüste oder im Fall sozialer Konfliktsituationen. den Bäuchen und den Vorgängen der Zersetzung in ihrem Inneren wird durch Jonas veranschaulicht, der durch göttliche Fügung aus dem Bauch eines Fisches gerettet wurde. Vgl. Koran, 37:142ff., s.o. Jona, 1:1ff. In ähnlicher Weise wie Philon oder Paulus warnen moslemische Denker vor irreführenden Ansprüchen des Bauches. Allahs Wahrheit soll sich gegen die Lügen eines Bauches behaupten. Bukhari, 69:4. Maßhalten bei der Füllung des Bauches gilt gemeinhin als tugendhaft: »esst und trinkt, aber seid nicht maßlos.« Koran, 7:32. Nach Auffassung von al-Hasan al-Basrī (* 642; † 728) soll mit der Kontrolle des Magens auch die Kontrolle aller guten Taten einhergehen. Weisheit bestehe nicht in einem vollen Magen. Adams Versuchung sei eine Versuchung für die Gläubigen bis zum Tag der Auferstehung. Vgl. Saudi Gazette, 09.01.2009. Speise für zwei reiche auch für drei, Speise für drei reiche auch für vier. Vgl. Muwatta, 49.10.20. Ein gläubiger Moslem sei zufrieden, einen einzigen Darm zu füllen, dagegen esse ein Ungläubiger so viel, als hätte er sieben Därme. Bukhari, 7:65:305. Nach Überlieferung durch Miqdam bin Madikarib (* 824, † ca. 887) soll kein Mensch jemals ein schlechteres Gefäß gefüllt haben als den Bauch. Um einen Menschen aufrecht zu halten, genügen nach seiner Erfahrung einige Bissen, wem das nicht genug sei, der sollte ein Drittel seines Bauches für Essen, ein Drittel für Trinken und ein Drittel für das Atmen vorbehalten. Sunan Ibn Majah, 29:3474. Der Prophet Mohammed soll einem seiner Begleiter das Aufstoßen untersagt haben, was sich mit der unter Philosophen verbreiteten Abneigung gegen Verdauungsgase verträgt: »Verschone uns mit deinem Rülpsen. Die in der Welt am meisten gefüllt sind, werden am Tag des Gerichtes am hungrigsten sein.« Jami` at-Tirmidhi 11:2478. Verschiedentlich wird behauptet, dass Allah keine fetten Männer mag. Vgl. al-Ju’ Ibn Abi al-Dunya, 81; al-Tibb al-Nabawi Abu Naeem, 1/243f., 127. Dicke Bäuche gelten als schlecht. Übersättigung sei der Gesundheit abträglich. Vgl. Musnad Ahmad, 4/339 [19005], al-Mu’jam al-Kabir al-Tabarani, 2/284 [2184], Majma al-Zawaid al-Haythami, 5/35, [7962]. Umar ibn al-Khattab soll einen Mann auf seinen Bauch angesprochen haben: »Was ist das?« Der Antwort, »Eine Segnung Allahs«, soll Umar widersprochen haben: »Nein, es ist eine Strafe Allahs.« Vgl. Mu’jam Shuyookh al-Subki, 44. Der Rechtsgelehrte Ibn Abd al-Barr (* 978, †1071) setzt Verdauung und Wissen in Bezug: »Wie kommt es, dass ich dich mit Speise gefüllt sehe, während du aufgrund von mangelndem Wissen verhungerst?« Ibn Abd al-Barr, Bd. 2, S. 233, zitiert nach: Saudi Gazette, 27.02.2009. Die metaphorische Bedeutung des Bauches reicht mitunter in ähnliche Tiefen wie in der frühen ägyptischen Literatur. Der Bauch einer großen Schlange, in dem sich die süßesten Dinge mit schrecklichen Überresten vermengen, erscheint im Buch der Goldwiesen und Edelsteingruben von Al-Mas’ūdī (*um 895; † 957) als Metapher des Schicksals. Vgl. Al-Mas’ūdī, 1884, Bd. 8, S. 229. Zumindest vorgeblich gilt der Magen aber auch als Maß für materielles Verlangen: »Mein Magen ist groß wie eine Hand: er bietet keinen Platz für die Güter der Welt.« Al-Mas’ūdī, 1869, Bd. 5, S. 174.
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Die zur Verdauung gehörenden Vorgänge beschreibt Avicenna vom Kauen und Einspeicheln im Mund bis zur Ausscheidung.529 Mund und Magen bilden eine durchgehende Verdauungsoberfläche; wenn gekaute Nahrung mit ihr in Kontakt komme, werde sie sofort durch die Einwirkung des Speichels verändert.530 Mit dem Eintreten der Speise in den Magen setze die eigentliche Verdauung ein, die Wärme der umliegenden Organe – Leber, Nieren, Bauchnetz und Herz – trage dazu bei.531 Im Magen unterscheidet Avicenna die für die Verdauungsbewegungen notwendige Kraft von einem Empfindungsvermögen, das dem Magen dank einer von Nerven durchzogenen Gewebeschicht zukomme.532 Seine anatomischen Einsichten gehen mit seinem Interesse für Ernährung und Gesundheit einher, insbesondere in Hinsicht auf die Krankheitsanfälligkeit des Magens. Verdauung fasst er in einem weiten Sinn auf, vergleichbar dem heutigen Begriff des Metabolismus.533 In Anschluss an Galen liefert er eine eingehende Theorie zu ihrer Bedeutung für das Zusammenwirken der vier Säfte, wobei er die primären Säfte durch verschiedene sekundäre Säfte ergänzt und besondere Aufmerksamkeit auf das verwendet, was wir emotionale Einflüsse nennen würden.534 In hippokratischer Tradition erklärt Avicenna den Gesundheitszustand des Menschen als Ergebnis einer Reihe von Mischungen, die der Gesundheit zuträglich sind oder auch nicht. In diesem Sinne verschmelzen Heil- und Kochkunst bei ihm in einer Kunst der Vermischung, die sich an Mischungen in der Natur orientiert.535 Dass Vorgänge der Verdauung in dieser Kunst von weitreichender Bedeutung sind, liegt auf der Hand, insofern gesunde Nahrungsba529 | Vgl. Avicenna, The Canon of Medicine, 99ff. 530 | Vgl. ebd. 531 | Vgl. ebd. 532 | Vgl. ebd., 132.4. 533 | Vgl. Gruner, 1973, S. 351. 534 | Vgl. Siraisi, 1990, S. 105ff. 535 | Vgl. Jacquart, 2006, S. 260. Die Verhältnisse der Mischung bestehen nicht einfach in Gleichungen zur Erhaltung körperlicher Harmonie, sondern beachten auch emotionale Faktoren. Laut Jacquart bezieht die mittelalterliche Medizin die vom lebenspendenden Geist ausgehenden Leidenschaften und Emotionen insbesondere auf guten Geschmack. In Anlehnung an Avicenna habe etwa der Pariser Arzt Jean Le Lièvre im 15. Jahrhundert die Wirkungen von Süßigkeiten, Dragees und Pudern zum Würzen alkoholischer Getränke auf ihren Geschmack zurückgeführt, nicht auf ihre Inhaltsstoffe, weil sich die mit ihrem Geschmack verbundene Freude über den Lebensgeist verbreite, das Herz stärke und die Verdauung stimuliere. Le Lièvre wollte die Kunst des Arztes mit der Kunst des Kochs zusammenlaufen lassen, um Diätetik nicht moralisch repressiv gegen jede Freude zu richten! Vgl. ebd., S. 266.
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lance bei Avicenna paradigmatische Anhaltspunkte für die Vermischung der Körpersäfte liefert: »Sollst Du die Mischung der Körpersäfte einer gesunden Person bewahren, gib ihm eine passende Diät.«536 Avicenna versteht den menschlichen Körper als Mischung verschiedener Teile. Zu seiner anatomischen Struktur gehören insbesondere die vier Säfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, die im Laufe des Lebens erneuert werden müssen sowie feste Bestandteile, die sich aus den Säften entwickeln.537 Die Funktionen des Körpers unterstehen der Seele, von der die Atemzüge bzw. das Pneuma bzw. der Geist ausgehen: ein subtiler Stoff, in dem sich die Dünste der natürlich erhitzten Säfte mit der Atemluft vermischen. Avicenna behandelt die Säfte wie nasse Körper, Flüssigkeiten, in denen das Essen umgewandelt wird.538 Dabei werden die Speisen nicht vollständig zu Säften: In den verschiedenen Stadien der Verdauung entstehen Überschüsse, die entweder dazu dienen, andere Substanzen zu entwickeln, oder ausgeschieden werden. Avicenna unterscheidet verschiedene Stufen der Verdauung. In der ersten Stufe werde das der Nahrung Wesentliche im Verdauungssaft und anderen Flüssigkeiten gelöst.539 Danach werde die aufgelöste Nahrung vom Magen in den Darm gesogen.540 Von dort gelange die Nahrung in die Blutadern und die Leber.541 Die Vermischung des Verdauungssaftes mit Wasser erlaube den Durchgang der Nahrung durch die feinen Kanäle und die Verteilung über die ganze Leber, so dass die Funktion der Leber heftig, kräftig und schnell erfolgen könne. Die Umwandlung der Nahrung in Blut sei damit abgeschlossen. Dabei entstünden verschiedene Nebenprodukte. Bei gesunder Verdauung seien das Blut und Schaum, zu weitgehende Verdauung lasse schwächende, dicke Säfte entstehen, unzureichende Verdauung seröse Galle, das Zusammenspiel dieser Säfte bezieht Avicenna auf die Temperamente.542 Die dritte Verdauungsstufe werde bei der Zirkulation des Blutes in den Blutgefäßen erreicht.543 In der vierten Verdauungsstufe gelange die Nahrung in die verschiedenen Glieder und versorge sie mit den passenden Elementen.544 Die Rückstände der ersten Verdauung, besonders aus dem Magen, würden über die Därme als Exkrement ausgeschieden, die der zweiten Verdauung, besonders aus der Leber, gelangten in den Urin, die der dritten und vierten Verdauung würden über die 536 | Avicenna, Poem on Medicine, S. 54, übers. Denker. 537 | Vgl. Jacquart, 2006, S. 262. 538 | Vgl. ebd. 539 | Vgl. Avicenna, The Canon of Medicine, 101. 540 | Vgl. ebd., 102. 541 | Vgl. ebd. 542 | Vgl. ebd., 103ff. 543 | Vgl. ebd., 109. 544 | Vgl. ebd., 110.
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Haut, Nase, Ohren und über den Körper verteilte unsichtbare Öffnungen entsorgt, manchmal auch durch Eiter oder in Form von Nägeln und Haaren.545 Verdauung erfolge nicht vollständig und hinterlasse Rückstände im Körper, die nur unvollständig ausgeschieden würden, so dass am Ende der Verdauung immer etwas Überflüssiges im Körper zurückbleibe. Das könne zu Krankheit führen.546 Mit Avicenna können wir uns die Säfte als eine ›Brühe‹ vorstellen, in der sich Schaum, Abgesetztes, Halbgares und Durchgekochtes vermengen.547 Angebranntes sei pathologisch. Der Zustand der Bestandteile ergebe sich nicht aus unterschiedlichen Kochzeiten, alles geschehe simultan, sondern aus der Art der Nahrung, von der die Qualität und die Menge der an der Verdauung beteiligten Säfte abhingen. Das organische Geschehen stellt Avicenna in einen geistigen Zusammenhang. Die verschiedenen Teile des Menschen, die körperlichen Säfte und Elemente und die Seele, die sich durch aktive Intelligenz verbinden. Vereint sich eine Seele mit einem Körper, so ersetzt sie dort die himmlischen Bewegungen, die für die Stabilität der körperlichen Mischungen sorgen, sie macht den Körper zu ihrem Instrument, mit dessen Hilfe sie Perfektion anstrebt.548 Die Existenz der Seele ergibt sich weniger aus der Existenz des Körpers als umgekehrt: Der Körper entsteht, weil die Seele ohne ihn nicht zur Perfektion gelangen kann. Dabei erfüllen alle Körperteile eine ihnen entsprechende Funktion, die Hand, der Fuß, das Gesicht und auch der Bauch.549 Avicenna unterscheidet zwei Kategorien psychosomatischer Kräfte: die einen gehören zum beseelten Körper, die andern zur verkörperten Seele, wobei die Seele über den Körper mit Hilfe von Vorstellungen regiert. Gedanken formen die Materie.550 Die Vorstellungen versteht Avicenna, im Gegensatz zu den fünf äußeren Sinnen, als inneren Sinn der Seele, der zwischen Empfindung und Gedanken vermittelt und u.a. die Fähigkeit zur Zusammenfassung äußerer Sinneseindrücke besitzt, er erscheint dabei als Quelle und Wurzel jeder Empfindung.551 Zum Sitz der Seele seien drei noble Körperteile bestimmt worden: Im Herz sitze der ›tierische‹ Teil, in der Leber der ›natürliche‹ Teil und im Gehirn der ›psychische‹. Jeder der Teile sei verehrenswert und habe spezielle Fähigkeiten: Der tierische Teil sei fähig zu Begierde, Reizbarkeit, Gefühl, Imagi545 | Vgl. ebd., 111. 546 | Vgl. ebd., 736. In ähnlichem Sinne spekuliert später Helmont über ›perfekte‹ Verdauung vor dem Sündenfall, s.u. 547 | Vgl. Jacquart, 2006, S. 264. 548 | Vgl. Sebti, 2000, S. 18ff. 549 | Vgl. Hearth, 1992, S. 112. 550 | Vgl. Sebti, 2000, S. 79. 551 | Vgl. Ayada, 2002, S. 75.
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nation und Abschätzung, der natürliche zu Ausscheidung, Verdauung, Absorption und Zurückhaltung, der psychische zu Kognition, Rückbesinnung, Unterscheidungskraft, Erinnerung und anderem. Der psychische Teil sei den anderen übergeordnet und sterbe nicht mit dem Körper. Durch diesen Teil unterscheide sich der Mensch vom Tier.552 Die Seele regle die Verdauung über vegetative Kräfte. Die schematische Dreiteilung hindert Avicenna nicht an der Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Organen und Lebensführung. Bei der Wahl seines Wohnsitzes solle man beachten, ob die Eingeborenen robust seien und über guten Appetit und gute Verdauung verfügten.553 Schlafen und baden stärke die Verdauung.554 Eingehend beobachtet Avicenna auch Wechselwirkungen zwischen Puls und Verdauung,555 Veränderungen des Urins556 und der Exkremente.557 Umwelteinflüsse auf die Verdauung nimmt Avicenna in Hinblick auf das Wetter, die Gegend und insbesondere den Nordwind an, der die Verdauung stärke, aber auch Verstopfung verursache und die Urinbildung fördere.558 Bei der Bestimmung des Zeitpunktes und der Dauer körperlicher Übungen rät er zur Beachtung von Verdauungszuständen.559 Bei Fehlfunktionen von Magen und Hirn bestehe das Risiko eines Teufelskreises: Unordnung des Gehirns beinträchtige die Aktivität des Magens und schwäche die Verdauung. In der Folge versorge der Magen das Gehirn mit schlechten Dünsten und unvollkommen verdauter Nahrung und verstärke damit die Unordnung.560 Die unter arabischen Ärzten verbreitete Obacht auf gesunde Ernährung ergibt sich daraus wie von selbst. Es gilt als umstritten, inwiefern der arabische Einfluss auf die europäische Philosophie und Medizin auch die Ausbildung des kulinarischen Geschmacks oder gar die Kochgewohnheiten betrifft.561 In arabischer Sprache verbreitete sich entsprechende Literatur ab dem 10. Jahrhundert, also deutlich früher als im lateinisch-christlichen Kulturraum.562 Die entsprechenden Rezepte zur Zu552 | Vgl. Hearth, 1992, S. 113. 553 | Vgl. Avicenna, The Canon of Medicine, 332. 554 | Vgl. ebd., 337, 339, 403, 406, 587ff, 816ff. 555 | Vgl. ebd., 589. 556 | Vgl. ebd., 661ff. 557 | Vgl. ebd., 665ff. 558 | Vgl. ebd., 313ff. 559 | Vgl. ebd., 744. 560 | Vgl. ebd., 225. 561 | Vgl. Laurioux, 2005, S. 305ff. 562 | Vgl. ebd., S. 323ff. Die Texte sind weniger ›Mementos‹ von Köchen als gelehrte Betrachtungen zur Gastronomie, die oftmals heilkundlichen Zwecken dienten, ausgeschmückt mit historischen, geographischen und ethnographischen Bemerkungen in
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bereitung von Speise dienen zwar der Gesundheit, machen aber Zugeständnisse an geschmackliche Vergnügen.563 Avicenna unterstreicht sein umfassendes Verständnis für die Bedeutung der Verdauung für Leben, Krankheit und Tod in seinem Gedicht über Medizin. Einen Eindruck gibt der Abschnitt »Über Schlaf«: »Schlafe nicht tief: es schadet dem Geist, Wache nicht zu lange, es schwächt Deine Sinne. Es ist nützlich den Schlaf nach einer schwer verdaulichen Mahlzeit oder einer Verstopfung zu verlängern. Schlafe nicht zu lange, wenn Du hungrig bist, die Dämpfe aus den Säften werden in das Gehirn steigen. Nach der Mahlzeit schlafe mit erhobenem Kopf, damit Deine Nahrung den Ort der Verdauung erreicht.« 564
Hinblick auf den Haushalt der Säfte, gerade auch in Hinblick auf den Gebrauch von sexueller Lust, Parfum, Seife und Dichtkunst. Vgl. ebd. Aufschlussreich ist der Text Liber de ferculis et condimentis des Arztes Abû ‘Alî Yahyâ ibn ‘Isâ ibn Jazla aus Bagdad, den Faraj ben Salim 1296 übersetzte (deutscher Titel: daz püch von den Speisen und schlechten erczneyen un czugesecztten oder gemischten): eine medizinische Abhandlung, in der Nahrung zur Heilung und Vorbeugung von Krankheiten dient. Eine Idee gibt folgendes Rezept: »Sumachia. Melchior ex ea que fit ex sumach recenti rubeo. et est frigida et sica. et confert debilitatis ventris que est ex humore calido et stringit ventrem et confert sputo sangsuis et fortificat sanguine.« (Gewürz-Sumach. Besser aus Sumach von frischer Farbe zu produzieren. Es ist kalt und scharf und stärkt Bäuche, die durch heißen Saft geschwächt sind und strafft den Bauch und stärkt Blut und Speichel.) 563 | Vgl. Jacquart, 2006, S. 265. Bei Avicenna dient Speise zwar der Regeneration des Körpers, aber er erklärt unsere Befähigung zum Schlucken aus einer Anziehung von Lebensmitteln durch die Fasern der Speiseröhre, ein Prozess, zu dem sowohl Natur als auch Wille beitragen. Vgl. ebd., S. 266. In der europäischen Medizin dient der zweideutige Status des Schluckens zur Einführung der kulinarischen Freude in medizinische Praxis. Laut Jacques Despars, einem französischen Arzt im 15. Jahrhundert, entscheidet dabei der Geschmack. Was angenehm und unangenehm ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall: Die einen essen lieber salzig, andere süß oder sauer. Wird die Nahrung als angenehm empfunden, kann sie ohne Eingreifen des Willens verschluckt werden, durch natürliche Anziehungskraft. Dagegen beruhe das Schlucken einer unangenehmen Substanz auf einem Willensakt, der den Schiedsspruch der Vernunft erfordere. In extremen Fällen komme es dann zur Abwehr und zu Erbrechen. Völlerei sei medizinisch insofern gerechtfertigt als sie nicht zu Maßlosigkeit führe. In dieser Position klingen Motive an, die bereits bei Thomas von Aquin eine Rolle gespielt haben mögen. S.o. 564 | Avicenna, Poem on Medicine, S. 57, übers. Denker.
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V ernünf tige F üllung mit Thomas von A quin Gute Verdauung hält Thomas von Aquin (* um 1225 bei Aquino; † 7. März 1274 in Fossanova) für wichtig.565 In ethischer Hinsicht unterstreicht er das in seinem Kommentar zum Buch Hiob, in dem er Bezüge zwischen geistiger und materieller Verdauung thematisiert: Dem Gottlosen sei Bosheit eine süße Speise, die er esse, aber nicht sofort schlucke, sondern für eine lange Zeit im Gaumen bewahre, um sie länger zu genießen zu können. Das Böse und die Sünde, die er als süß empfände, wolle er nicht zerstören indem er schlucke: »er will nicht loslassen.«566 Der Gottlose wolle die Bosheit hegen »und halte sie in seinem Gaumen versteckt«. Er wolle sie niemandem zeigen, so dass er nicht von der Sünde getrennt oder geheilt werden könne. Wer an der schlechten Speise festhalte, werde bestraft wie ein Sünder, der nicht beichte, weil er die Sünde nicht aufgeben will. Aquin liefert hier ein Plädoyer für seelische Reinheit, das darauf baut, schädliche Speise nicht langsam zu genießen, sondern schnell zu schlucken. Es scheint in Ordnung zu sündigen bzw. sich Süßwaren einzuverleiben, solange es nur schnell geschieht und nicht zwecks dauerhafter Lustempfindung. Werde die süße Speise nicht geschluckt, so verwandele sie sich im Leibesinneren in Schlangengift.567 In diesem Sinne werden die Güter, die der Gottlose in der Welt anhäufte, zum Übel für ihn. Nahrung, die gegessen, aber nicht verdaut werde, müsse mit Ekel erbrochen werden. So könne es geschehen, dass sündige Menschen unverdaute Nahrung infolge eines göttlichen Urteils unter Schmerzen von sich geben müssten. Ebenso würden weltliche Güter, die Sünder habgierig an sich nehmen, um schlechten Gebrauch von ihnen zu machen, Abscheu erregen. Gott werde die Güter dem Sünder mit Gewalt aus dem Bauch bzw. dem Bereich seiner Herrschaft heraustreiben.568 Dass sündige Menschen keinen guten Appetit hätten, ergebe sich hieraus wie von selbst: Der Bauch sei Teil eines ganzen Menschen.569
565 | Seine Vorstellungen zur physikalischen Bedeutung der Verdauung entlehnt er weitgehend bei Aristoteles, gerade auch in Hinblick auf das Salz im Meer, Urin, Schweiß und Asche. Thomas v. Aquin, Super Meteora, IV.3f, II.5f.: »Non autem assignat aliquem finem indigestionis, quia indigestio non fit ad aliquem finem, sed praeter intentionem naturae: cum sit imperfectio, et finis habeat rationem boni et perfecti.« 566 | Thomas v. Aquin, Expositio in Job ad litteram (In Jiob), 20:13. 567 | Ebd., 20:14. 568 | Vgl. ebd., 20:2: »et de ventre eius, idest de eius dominio, extrahet eas Deus.« 569 | Zorn wirkt laut Aquin auf Auge und Vernunft, Gedächtnis und Seele sowie Willen und Bauch. Eingedenk Psalm 31:9, »Es wurde verwirrt im Zorne mein Auge, meine Seele und mein Bauch (»«׃י ִֽנ ְט ִבּו, »ū-ḇiṭ-nî.«, Strong‘s 990)«, erklärt er, dass Zorn zu meiden
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Appetit ist bei Aquin von zentraler Bedeutung. Sicher bezieht er den Begriff nicht allein auf physische Speise, sondern unterscheidet mit Feinsinn verschiedene Facetten. Grundsätzlich handle es sich um ein Streben und Begehren, im Sinne eines heftigen Verlangens, wobei die Vielzahl der Spielarten nahezu unbegrenzt scheint.570 Die Wechselbeziehungen und Sinnüberschneidungen zwischen menschlichem, tierischem, sinnlichem und rationalem Appetit geben vielschichtige Hinweise auf die Verknüpfungen zwischen Geist und Verdauung. Zu lieben bedeute, ein Gut mit der Kraft des Appetits an sich selbst anzupassen. Schaden könne dabei nicht entstehen, wenn das Gut dem Liebenden gemäß sei, so wachse er an ihm.571 Die Trennung zwischen sinnlichem und rationalem Appetit ist bei Aquin nicht absolut. Seine Position lehnt Aquin eng an Aristoteles‘ Über die Seele an, wobei er davon ausgeht, dass Appetit immer an den sinnlichen Teil der Seele gekoppelt ist. Der sinnliche Appetit (»appetitus sensitivus«) sei zweigeteilt in eine zornmütige und eine begehrende Kraft. Neben Wut und Verlangen enthalte die Seele verschiedene Begehrungsvermögen und den ganzen Appetit.572 Der sinnliche Appetit sei zwar auf das gerichtet, was den Sinnen gefalle, aber schon bei Tieren zeige sich– etwa beim Kämpfen – so etwas wie »Appetit für Arbeit«, der an einen »rationalen Appetit« sei, weil er erstens die Vernunft durch Verdunkelung, zweitens das Gedächtnis durch Vergessenheit und drittens den Willen durch böse Neigung schädige. 570 | So bezeichnet der »appetitus animalis« ein tierisches, sinnliches und natürliches Verlangen, das sich ohne Erkenntnis des Begehrenden entwickelt und das dem Begehrungsvermögen von Natur aus zukomme. Der »appetitus consiliativus« bezeichnet ein überlegendes oder überlegtes Begehren nach etwas Überlegtem. Der »appetitus impetuosus« tritt ungestüm oder blind hervor. Der »appetitus inquisitivus« ist ein untersuchendes oder auf Untersuchung gegründetes Begehren. Der »appetitus intellectus« betrifft die Vernunft und den Verstand. Der »appetitus libidinosus« ist wollüstig. Der »appetitus rectus« verlangt im Gegensatz zum »appetitus perversus« nicht das Verkehrte, sondern das gradlinig Richtige. Der »appetitus simplus« ist ein schlichtweg einfach gegebenes Begehren. Der »appetitus voluntaris« folgt einer Erkenntnis und richtet sich nach ihr. Ergänzt wird die Aufteilung des Appetits durch eine Ordnung verschiedener Begehrungsvermögen, (»appetitus est nomen potentiae et nomen actus«): tierisches (»appetitus animalis«), bestialisches (»bestialis«), brutales (»brutalis«), fleischliches (»carnalis«), menschliches (»humanis«), höheres (»superior«), niederes (»inferior«), intellektuelles (»intellectivus«), irrationales (»irrationalis«), materielles (»materiae«), natürliches (»naturalis«), leidensfähiges (»passivus«), vernünftiges (»rationis«), sinnliches (»sensualitas«) u.a. 571 | Vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologica, (S theol), I-II, 28-5. 572 | Thomas v. Aquin, Commentary on Aristotle’s De Sensu et Sensato, (de sensu), tr.1.lec1.2:10 [81167].
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erinnere.573 Hier zeigt Aquin wiederum Einsicht in die Grenzen, die der Körper der Macht der Vernunft zieht: Es gebe Akte, die Menschen nicht beherrschen, insbesondere gelte das für die Verdauung.574 Der »erste Beweger« bzw. der Verstand bzw. der Wille verleihe den Menschen Macht über seine Handlungen. Auf Anweisung des ersten Bewegers bewirke sinnlicher Appetit (»appetitus sensibilis«) die Bewegungen der äußeren Glieder. Sowohl die externen Glieder als auch der innere Appetit unterstünden dem ersten Beweger, aber in unterschiedlicher Weise. Der niedere Appetit habe eine Neigung, seiner eigenen Natur zu folgen und gehorche dem höheren Appetit nicht automatisch. Laut Aristoteles herrsche die Seele über den Körper wie ein Herr über einen Sklaven, der sich seinen Befehlen nicht widersetzen könne. Doch über die unteren Teile der Seele herrsche sie eher wie über freie Menschen, die doch das Recht und die Fähigkeit haben, sich den Befehlen des Herrschers in einem gewissen Grade zu wiedersetzen.575 Tugend bestehe in der Disposition des sinnlichen Appetits, der Vernunft zu gehorchen.576 Dass es besser ist, süße, sündige Speise schnell zu schlucken als lange zu genießen, ist eine doppelschneidige Konsequenz der Überlegungen zur Verdauung bei Aquin. Zunächst ergibt sich die Bedeutung der Verdauung bei ihm aber weniger aufgrund des Verlangens nach kulinarischer Leckerei, sondern infolge des sogenannten ›Abendmahlstreites‹. Dabei ging es um die philosophische Begründung der theologischen Frage, inwiefern der Leib des Jesus von Nazareth in Brot und Wein zugegen sein kann. Im Anschluss an Ambrosius und Augustinus schwelte der Streit, um sich mit den antirealistischen Thesen von Berengar von Tours zuzuspitzen.577 Die Lateransynode von 1059 beharrte darauf, dass Leib und Blut »berührt, gebrochen und von den Zähnen der Gläubigen zerrieben« werden.578 Berengar von Tours widersprach: Die realistische Auffassung sei absurd. Die Gegenseite schwankte, das bloße Wiederholen der Väterlehre schien nicht mehr als passende Antwort.579 1215 bestätigte das Late573 | Ebd., 2:12 [81169]. 574 | Vgl. Thomas v. Aquin, Quaestio disputata de virtutibus, (de virtut), q.1.a.4.co. [65581]. 575 | Ebd. 576 | Vgl. ebd. 577 | Dabei standen eine als Symbolismus und eine als Metabolismus bezeichnete Auffassung gegeneinander. Der ametabolische Charakter der augustinischen Sakramentsbetrachtung wurde zum antimetabolischen Dynamismus fortgeführt. Der Realismus ambrosianischer Prägung entwickelte sich derweil zur Annahme einer Identität von geschichtlichem und sakralem Herrenleib. Neunheuser, 1965, S. 311. 578 | Ebd. 579 | Es kam zu neuen Formulierungen. Lanfranc sprach davon, dass irdische Substanzen in das Wesen des Herrenleibes umgewandelt werden, während ihre äuße-
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rankonzil allerdings die Realpräsenz des Herrenleibes: Nachdem das Brot in den Leib und der Wein in das Blut verwandelt worden seien, sei Jesus im Sakrament wahrhaft enthalten.580 Das warf Fragen auf. Peter Lombard, Leiter der Kathedralschule von Notre Dame in Paris, hatte erklärt, dass die zur Auferstehung bestimmte Substanz dem menschlichen Leibe vollständig von Adam her zukomme.581 Nahrung stimuliere das Wachstum dieser Substanz, werde ihr aber nicht einverleibt. Der Konsens zu dieser Frage begann im 12. Jahrhundert zu bröckeln. Neue philosophische und medizinische Lehren zu Verdauung und Wachstum machten theologisch akzeptabel, was dem gesunden Menschenverstand ohnehin einleuchtete: Materie kann nur dann zunehmen, wenn andere Materie hinzukommt. Diese Einsicht brachte einiges Durcheinander mit sich, denn es wurde fraglich, inwiefern die Übertragung der Ursünde von Adam auf seine Kinder an Materie gebunden sei. Als mögliche Erklärung wurde die Übertragung durch Adams Samen vorgeschlagen. Aber stammte der Samen aus dem Fleisch der Eltern oder aus deren Nahrung?582 Bis dahin hatten sich Mediziner und Philosophen mit der Antwort von Aristoteles zufriedengegeben: Samen galt als ein Nebenprodukt nicht vollständig assimilierter Nahrung, von potenziellem, aber nicht realisiertem Fleisch. Nun erregte die Übertragung von Materie bei der Verdauung Aufmerksamkeit. Wie verändert Nahrung den Körper? Verbleibt sie nach der Einverleibung im Körper? Oder übertragen sich ihre Qualitäten durch Verdoppelung auf den Körper, etwa so, wie ein Lehrer sein Wissen auf seine Schüler überträgt? Schon Guitmond von Aversa, ein benediktinischer Gegner der Thesen Berengars, hatte sich im 11. Jahrhundert Fragen zur körperlichen Assimilation von Nahrung gestellt. Es war ihm unpassend erschienen, dass Blut und Fleisch des Herrn in Folge der Eucharistie beim Stuhlgang ausgeschieden werden.583 Aber hatte Jesus von Nazareth denn nicht erklärt, dass alle Speise in den Magen gelange und zu Kot umgewandelt werde? Musste das beinhalten, dass der Körper überhaupt nichts von der Speise aufnehme?584 Guitmond argumentierte, dass nützren Gestalten (»species«) bleiben. Guitmund formulierte so: »das Wesen der Dinge wird gewandelt [›substantias mutai‹], aber der frühere Geschmack, Farbe und die übrigen sinnenfälligen Akzidenzien bleiben.« Ebd., S. 311f. Ältere Auffassungen, etwa die der Impanation des Herrenleibes unter oder in das Brot, wurden abgewiesen. 580 | Vgl. ebd., S. 312. 581 | Vgl. Reynolds, 1999, ix. 582 | Vgl. ebd., S. 2. 583 | Vgl. ebd., S. 5. 584 | Mt, 15:17 nach Luther: »Merket ihr noch nicht, dass alles, was zum Munde eingehet, das gehet in den Bauch und wird durch den natürlichen Gang ausgeworfen?« Vgl. Mk, 7:18f. nach Luther: »Seid ihr denn auch so unverständig? Vernehmet ihr noch
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liche und subtile Teile der Speise durchaus in das Fleisch und Blut des Körpers gelangen können, wogegen andere, weniger nützliche als Flüssigkeiten oder Exkremente abgegeben werden, der Leib des Herrn müsse nicht zwangsläufig im Abort landen.585 Dass Teile der Speise vom Körper aufgenommen werden, mag aus heutiger Sicht recht einleuchtend klingen. Aber im 12. Jahrhundert wurde die Frage der Assimilation lebhaft diskutiert. Wenn der Körper nicht alle aufgenommene Speise abgibt, brachte das Fragen zur Auferstehung der Opfer von Kannibalismus mit sich. Wie sollten Menschen in ihrem eigenen Leibe auferstehen, wenn Fleisch eines Menschen in den Leib eines anderen Menschen gelangte?586 Eine verbreitete Lösungsstrategie machte das für die Auferstehung Wesentliche weniger von der Übertragung über Fleisch als über Samen abhängig. Hier bezog Thomas von Aquin Position. Unter Berufung auf Aristoteles erklärte er, dass aus dem väterlichen Körper gar nichts Materielles auf die Kinder übergehe.587 Alle Körperteile könnten Nahrung aufnehmen, seien aber auch von Verfall oder Erneuerung betroffen. Wie eine Stadt oder ein Fluss habe ein Körper eine formale Identität, enthalte aber nichts Bleibendes: seine materiellen Bestandteile würden kommen und gehen.588 Der Samen stamme aber nicht aus dem Körper, sondern aus der Nahrung. Dicke Männer produzierten deshalb weniger Samen, weil sie viel aufgenommene Nahrung in Körperfülle ansetzten.589 Allerdings stellte sich nun die Frage, inwiefern Nahrung dem sich Ernährenden gleichen müsse, um ihre Funktion bei der Übertragung des ewig Wenicht, dass alles, was außen ist und in den Menschen geht, das kann ihn nicht gemein machen? / Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und geht aus durch den natürlichen Gang, der alle Speise ausfegt.« Heretiker sollen behauptet haben, dass Jesus die Funktion des Verdauungstraktes nicht wirklich verstand. Bede, In Marcum, II, CCL, S. 522, zitiert nach Reynolds, 1999, S. 7. 585 | Vgl. ebd., S. 6. 586 | S.o. Abschnitt Athenagoras. 587 | Vgl. Reynolds, 1999, S. 10. 588 | Vgl. ebd., S. 4. Diese Position bezog Aquin insbesondere in Hinblick auf Bonaventura und Peter Lombard. Laut Lombard unterscheidet sich der Leib einer jeden Person vollständig von dem der Eltern. Wahrheit komme allein der Materie des Samens zu, sie allein könne auferstehen. Indem sie sich vervielfältige, sorge sie für das Wachstum der Leiber. Speise müsse dazu nicht aufgenommen werden. Bonaventura zufolge können Teile des Körpers bleibende Wahrheiten vermitteln, andere nicht: Über die Verdauung könne die Speise eine sekundäre Form von Wahrheit erlangen. Vgl. ebd., S. 361. 589 | Vgl. Scriptum super libros Sententiarum magistri Petri Lombardi (Sent), 2, d. 30, 2, 2, zitiert nach Richter, 2008, S. 133.
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sentlichen zu erfüllen. Aquin wog ab: Einerseits scheint Nahrung als Ursache des Wachstums dem Körper zu ähneln, insofern Gleiches durch Gleiches wächst.590 Nahrung, die der Natur des zu Ernährenden nicht entspreche, fördere demnach kein Wachstum. Andererseits müsse Nahrung gerade das Gegenteil des zu Ernährenden sein, denn sie werde durch die Verdauung in das verwandelt, was sich ernähre. Wie ein Handwerker ein Material verändere, das Material aber nicht den Handwerker, so werde Nahrung durch den Ernährenden verwandelt, der Ernährende aber nicht von der Nahrung.591 Laut Aquin sind beide Auffassungen gleichermaßen richtig und falsch. Der Begriff Nahrung lasse sich sowohl auf die Nahrung vor als auch nach der Verdauung beziehen. Unzerkaute, unverdaute Speise sei von dem zu unterscheiden, was am Ende von ihr bleibt.592 Vor der Verdauung sei die Nahrung das Gegenteil dessen, den sie ernähre, denn sie werde aufgenommen und verändert. Nach der Verdauung gleiche sie dem, der sich durch sie ernährt. Verdauung hebe also einen Gegensatz zwischen Mensch und Speise auf. Zwar hält Aquin das im Geschlechtsakt gezeugte Fleisch für »wahrhafter« als das durch Nahrung aufgenommene und erweiterte Fleisch. Aber das spricht nicht gegen sein Interesse an der Fleischvermehrung durch die Umwandlung von Nahrung im Bauch. Eine klare Unterscheidungslinie zwischen geschlechtlicher und digestiver Erzeugung von Fleisch zieht er ohnehin nicht.593 Sein Interesse an der Verdauung unterstreicht Aquin in seinen Ausführungen zu maßvoller Ernährung. Ausgehend von dem Diktum, dass den Menschen nicht verunreinige, was zum Munde eingeht, ersinnt Aquin Argumente für und wider die Verurteilung von Gaumenlust.594 Kann Gaumenlust denn Sünde sein, wenn sie Speisen betrifft, die in den Menschen eingehen? Ja, antwortet Aquin, denn sie bezeichne nicht jedes Verlangen nach Essen und Trinken, sondern nur das ungeordnete. Unordnung sei eine Abweichung von Gründen der Vernunft und widerstreite der Tugend. Wer die Gaumenlust nicht in sich selbst gebändigt habe, der könne sich nicht zum Kampf im geistigen Streite erheben. Diese Ansicht scheint, eingedenk der von den Kirchenvätern vertretenen Positionen, zunächst wenig innovativ. Die Stoßrichtung seines Arguments gegen Gaumenlust ergibt sich aus der Ablehnung fixer Speiseregeln. Die Auffassung mancher Zeitgenossen von Jesus, dass gewisse Speisen aufgrund ihrer Natur die Menschen verunreinigen, sei irrig. Wenn Sünden den Menschen verunreinigen können, nicht aber Speise, so sei Gaumenlust nicht als Sünde 590 | Vgl. Thomas v. Aquin, de anima, II, 9 (416a29). 591 | Vgl. ebd. 592 | Vgl. ebd. 593 | Reynolds, 1999, S. 361. 594 | Vgl. Thomas v. Aquin, S theol, II-II,148.
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anzusehen. Speise gehe in den Menschen ein, aber sie verunreinige nicht seinen Geist. Das eigentliche Problem liegt für Aquin also nicht in der Speise, sondern in der Begierde nach ihr. Die könne den Geist allerdings verunreinigen.595 Gegen diese Position lässt sich einwenden, dass Begierde nach gewissen Nahrungsmitteln überhaupt erst durch deren Genuss entstehen kann, wie etwa die Begierde nach alkoholhaltigen Getränken. Aber gegen den Grundzug von Aquins Erklärungen zur Gaumenlust spricht das nicht: Wollen wir uns ernähren, ohne ungezügelte Begierde zu wecken, so sollten wir exzessiven Genuss von Alkohol besser vermeiden. Aber wie unterscheidet sich ungezügelte Begierde von geregelter Freude? Bleibt diese Unterscheidung vage, ergibt sich einerseits Raum für weitgehende Verurteilungen der Lust am Essen und andererseits für gastrale Enthemmung, bis hin zum kulinarischen Anything goes. Aber damit nicht genug. Aquin erwägt, ob es überhaupt möglich sei, sich bei etwas zu versündigen, was sich gar nicht vermeiden lasse und ob Maßlosigkeit beim Essen nicht tatsächlich unvermeidlich sei. Das habe doch auch schon Gregor erklärt, für den sich beim Essen Lust und Notwendigkeit derartig verbinden, das eine Trennung gar nicht möglich sei. Und Augustinus habe betont, dass es keinen Menschen gebe, der nicht etwas Speise über das Maß der Notwendigkeit hinaus zu sich nehme. Wer beim Speisen das Maß überschreitet, weil er es für notwendig erachtet, der zeigt sich laut Aquin als unerfahren, aber er sündigt nicht. Gaumenlust liege allein dann vor, wenn das Maß aufgrund einer von der Vernunft nicht geregelten Begierde wissentlich überschritten wird.596 Damit scheint nahezu jedes Speiseverhalten gerechtfertigt, das nicht mit einer der Vernunft widersprechenden Begierde einhergeht. Die Entscheidung darüber, ob das der Fall ist oder nicht, ruht selbst auf vernünftiger Einsicht. Die Vernunft ist also Richter über die Freiheit des Bauches. Das scheint insofern wünschenswert, als es zur Stärkung des autonomen kulinarischen Handelns beitragen und die Berücksichtigung individueller Reflexionen und Besonderheiten begünstigen kann. Anderseits sind krasse Fehlurteile zu erwarten. Diese Relativität vernünftiger Urteile reicht bekanntlich weit, nicht nur für Epikur lassen sich gute Argumente anführen, sondern auch für Hieronymus. Bei Aquin spricht einiges für Epikur. Sünde entwickele sich zwar schon in der ersten Regung zur Sünde, aber da Hunger und Durst keine Sünden seien, sei Gaumenlust ebenso wenig als Sünde aufzufassen wie die erste Regung zur Aufnahme von Speise.597 Hunger und Durst gehörten zu den ›natürlichen‹ Be595 | Vgl. ebd. 596 | Vgl. ebd. 597 | Vgl. ebd., »Wer vor Hunger stirbt, muss eher gespeist als belehr t werden«, weil es laut Aristoteles für den Notleidenden ja besser ist, in Besit z zu kommen
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strebungen der vegetativen Seele. Die könnten weder Tugend noch Laster sein, weil sie der Vernunft ebenso wenig unterworfen seien wie die Kraft, Nahrung zu verdauen oder auszuscheiden. Anders verhalte es sich mit der Gaumenlust, deren erste Regungen schon eine Unordnung im sinnlichen Strebevermögen einschlössen und die nicht ohne Sünde sei.598 Eingedenk der christlichen Tradition gastraler Beschränkung, in der Aquins Position wurzelt, ergibt sich weiter Raum zur Entfaltung kulinarischer Großzügigkeit. Unter Berufung auf die ›natürlichen‹ Strebungen der Seele lässt sich die Überschreitung des richtigen gastralen Maßes nun rechtfertigen, solange der Speisende nur selbst davon überzeugt ist, vernünftige Gründe zur Überladung zu haben. Dass die Vernunft bei der Bestimmung passender Maßstäbe irregehen kann, gesteht Aquin selbst ein. Aber solange die Überschreitung des Maßes nicht aufgrund einer wissentlichen Begierde geschieht, scheint das nicht weiter bedenklich. Aquin gelingt damit die christliche Quadratur des digestiven Kreises: Die Hingabe an Freuden der Verdauung ist nun weniger die Folge einer göttlich gegebenen Schwäche als Krönung vernünftiger Einsicht, zu der die Freude des Bauches beiträgt. Selbst schuld, wer beim Speisen aus Begierde sündigt, weil er keine vernünftige Begründung für sein Verhalten vorbringen kann. Wer ordentlich denkt, der wird mit Aquin auch ordentlich essen. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein, hat aber einen gefährlichen Haken. Rationale Relativierung löst nicht das Problem des richtigen Maßes, im Gegenteil. Erklärte Epikur die Lust des Bauches zu einem Angelpunkt des menschlichen Verhaltens, um letztlich bei Wasser und Käse zu enden, so fördert Aquins Verurteilung vernunftloser Gier die Ausbildung dicker Bäuche.599
als zu philosophieren, obwohl let z teres an sich höheren Wer tes sei. Vgl. ebd., II-II,32,3. 598 | Vgl. ebd., II-II,148. 599 | Um Aquins Bauchumfang ranken sich Legenden. Zeitgenossen beschreiben ihn als groß und dick. Vgl. Torrell, Bd. I, 1993, S. 407. Er selbst scherzte darüber. Vgl. Chesterton, 1960, S. 88. Die Legende, dass ein Halbmond aus dem Esstisch gesägt werden musste, damit er bequem sitzen konnte, schuf er möglicherweise selbst. So dürfte es auch seinem Charakter geschuldet sein, wenn seine Zeitgenossen ihn einen ›stummen‹ bzw. ›sizilianischen Ochsen‹ nannten. Aber wie er seinen Bauch auch immer mit Speise beladen haben mag, Aquin wurde, frei nach Giordano Bruno, dennoch beim Levitieren beobachtet. Das führte zur Vorstellung eines ›schwebenden Kirchenpfeilers‹. Vgl. Chesterton, 1960, S. 97. Oder auch zu derjenigen einer niedlichen Hummel: »So ein fettes, glänzendes, lustiges Tier! Und strahlt und summt und fliegt so tüchtig, unbeschadet seiner Leibesfülle.« Federer, 1913, S. 33.
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(U n -)V erdauliches bei M ichel de M ontaigne Im Streit zwischen Religion und Wissenschaft ließ sich Michel de Montaigne von den Schriften Aquins inspirieren.600Aquin hatte alles im Universum auf eine erste Ursache zurückgeführt, der auch der Anlass zur Entdeckung einer zweitrangigen Welt der Schöpfung entstammt. Menschliche Forschung bezieht sich bei Montaigne nun unweigerlich auf göttliche Schöpfung, wobei die ersten Gründe der Vernunft unzugänglich bleiben müssen. Bei Aquin erhebt sich das Denken zu Gott, philosophische Vernunft und theologische Offenbarung ergänzen sich konfliktfrei. Damit vertragen sich Montaignes Erkundigungen zum Reichtum der physischen Schöpfung durchaus, allerdings mit der Einschränkung, dass er sich auffällig wenig mit der ersten Ursache beschäftigt und zu seinem persönlichen Glauben schweigt wie ein Grab. Unkritisches Nachplappern ist ihm offensichtlich höchst suspekt: Er kenne einen Menschen in Pisa, der habe die Lehren des Aristoteles für die ganze Wahrheit gehalten und sich in der Folge vor einem kirchlichen Gericht verantworten müssen!601 Sein philosophisches Interesse richtet Montaigne insbesondere auf Körperbefindlichkeiten: »[der] Körper hat einen erheblichen Anteil an unserem Sein und bekleidet darin einen hohen Rang; daher ist es recht und billig, seinem Bau und seiner Gliederung Beachtung zu schenken.«602 In den Menschen finde sich nichts, das nur rein geistig oder rein körperlich wäre.603 Ausdrücklich wendet sich Montaigne allerdings gegen die Vermutung, der Magen sei der Sitz Seele.604 Es sei ebenso unsinnig, mit Epikur eine Seele im Magen anzunehmen wie mit Hippokrates eine Seele im Gehirn oder mit Empedokles im Blut.605 Selbst der sonst so muntere Verstand des Chrysipp habe sich schläfrig gezeigt, als er die griechische Sitte, die Hände zu einer Versicherung auf seinen Magen zu legen, als einen Beweis für den Sitz der Seele anführte. Mit Cicero solle man sich zu diesem Thema besser gar keine Fragen stellen. Nichtsdestoweniger beherrschen die Sinne laut Montaigne zuweilen den Diskurs.606 Unser Wissen über Bezüge zwischen Geist und Körper lasse vieles im Unklaren, etwa warum wir bei der einen Vorstellung erröteten, bei einer anderen erblassten, warum die eine auf das Gehirn wirke, die andere auf die Milz, warum sich bei einer der Magen hebe, bei einer anderen aber niedri600 | Vgl. Krazek, 2011, S. 66f., 76. 601 | Vgl. Montaigne, Essais, I.XXVI. 602 | Ebd., II.17. 603 | Vgl. ebd., III:V. 604 | Vgl. ebd., II.XII. 605 | Vgl. ebd. 606 | Vgl. ebd.
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ger liegende Weichteile.607 Die Kraft des Weines könne die Seele eines Weisen überwinden.608 Gerade der Bauch verlangt hier nach seinem Recht, selbst bei Philosophen, die einigen Wert auf Selbstbeherrschung legen: Wer sich das stoische Dogma fest in den Kopf gesetzt habe, demzufolge Koliken und andere Krankheiten eine gleichgültige Sache seien, sei mitunter doch gezwungen, vor Bauchschmerzen zu schreien.609 Schwer vorhersehbar sei auch, ob der Körper zuerst altere oder doch die Seele. Montaigne scheint jedenfalls Leute gekannt zu haben, deren Gehirn vor dem Magen schwächelte.610 In diesem Sinne erinnert er an eine Einsicht von Lukrez: Zunge und Geist beginnen zu hinken, wenn die Zeit die Glieder schwächt.611 Gerade in Hinsicht auf die Verdauung gelte es, sich an die besten Regeln zu halten ohne sich dabei sklavisch zu unterwerfen.612 Das gelte für Damen, Könige und Philosophen, selbst Soldaten leiden laut Montaigne bisweilen unter ihrem Bauch.613 Dem Wohlbefinden sei moderater Genuss zuträglich, nicht Abstinenz. Ein vernünftiger Gebrauch der Lust sei schwieriger als einfache Enthaltung.614 Schlechte Vorbilder seien die Ursache für die mangelnde Wirksamkeit von Empfehlungen gegen Luxus. Um den Genuss in angemessene Bahnen zu lenken, brauche es vorbildliche Machthaber, deren Neigung Gesetze überflüssig mache: »leur inclination y sert de loy«.615 Bezüge zwischen gedanklicher und gastraler Verdauung greift Montaigne in seinen Überlegungen zur Erziehung auf. Zum Lernerfolg sei es nicht zielführend, Worte in Ohren zu schreien, damit sie nachgesagt werden. Werde Fleisch bzw. Wissen so herausgequält, wie es heruntergeschluckt wurde, so sei das ein Zeichen für einen schwachen und groben Magen. Der Magen habe seine Aufgabe nicht erledigt, wenn er die zu verdauende Speise nicht in ihrer Art und in ihrer Form verändere. Das Wissen anderer, das wir es uns nicht zu eigen machen, sei uns ähnlich nützlich wie Fleisch einem vollen Magen, der es nicht verdaut.616 Umgekehrt kann die Seele laut Montaigne derart von Glück erfüllt und betrunken sein, dass ihr der Geschmack daran vergehe, weil sie so viel Glück kaum zu verdauen vermag.617 607 | Vgl. ebd. 608 | Vgl. ebd., II.II. 609 | Vgl. ebd., II.XII. 610 | Vgl. ebd., I.LVII. 611 | Vgl. ebd. 612 | Vgl. ebd., III.XIII. 613 | Vgl. ebd. 614 | Vgl. ebd., II.XXXIII. 615 | Ebd., I.XLIII. 616 | Vgl. ebd., I.XXV. 617 | Vgl. ebd., I.XLVII.
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So soll Wissen denn auch nicht in Schüler gegossen werden wie Wasser in ein Fass. Vielmehr gelte es ihren Geschmack anzuregen.618 Der Lernende solle selbst urteilen und wählen. Guter Ruf beruhe nicht alleine auf Wissenschaft. Wer seine Seele an fremde Phantasien fessle und sich unter die Lehren der Autoritäten beuge, beschränke seine Vitalität und Freiheit. Mancher könne nicht einmal sagen, dass ihm der Hintern jucke, ohne zuvor in einem Wörterbuch nachzuschlagen, was ›kratzen‹ und ›Hintern‹ heißt.619 Wechselwirkungen zwischen Bauch und Geist thematisiert Montaigne auch zu Beginn seiner Ausführungen zur Eitelkeit. Das Material seiner Essais seien Einfälle, »fantasies«.620 Mit denen gehe es ihm ähnlich wie einem bekannten Edelmann, der sein Leben ausschließlich unter Berücksichtigung der Operationen seines Bauches thematisiere. Dazu stelle er die Produktionen der letzten sieben bis acht Tage in einer Reihe von Becken zur Schau und richte sein ganzes Interesse darauf. Andere Gesprächsthemen würden ihn ›anstinken‹.621 Seine eigenen Essais seien Exkremente eines alten Geistes, mal härter, mal weicher und stets unverdaulich. Die stete Unruhe und Bewegung seiner Gedanken falle auf immer neue Materie. Wann werde er endlich damit fertig werden?622 Damit erhebt Montaigne die biologischen Vorgänge des Verdauungszyklus zum Modell literarischer Tätigkeit.623 Er fasst fäkale Materie, das Emblem des Abstoßenden und stinkenden Abfalls, als eine Metamorphose des Lebendigen auf, als ein Naturprodukt, das die Kultur zu entsorgen versucht und von der guter Geschmack nichts sehen, spüren oder berühren möchte.624 Die Empfindsamkeit des Verdauungstrakts thematisiert er ausführlich.625 Der Magen sei das erste unter unseren Organen, das sich vor der Kälte fürchten müsse. Dass manche Frauen sich nichtsdestotrotz mitunter bis auf den Nabel halb entblößt zeigen, unterstreiche die allgemeine Zähigkeit der Menschen. Manche Pariserin verderbe ihren Magen mit Sand und Asche, um der vermeintlichen Schönheit blasser Haut Willen!626 Laut Montaigne veranschaulicht das die Fähigkeit zum stillen Ertragen unmenschlicher Qualen. Trotz seiner Empfindlichkeit könne mancher Magen sich sogar an Gift und Spinnen gewöhnen.627 618 | Vgl. ebd., I.XXVI. 619 | Vgl. ebd., I.XXV. 620 | Ebd., III.IX. 621 | Vgl. ebd. 622 | Vgl. ebd. 623 | Vgl. Mathieu-Castellani, 2000, S. 75. 624 | Vgl. ebd. 625 | Vgl. Montaigne, Essais, II.XII. 626 | Vgl. ebd., I.XIV. 627 | Vgl. ebd., I.XXIII.
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Bei der digestiven Produktion und Wiederverwertung von Materie macht Montaigne den lebendigen Körper zum ›natürlichen‹ Modell seiner Arbeit.628 Was Kunst und Wissenschaft gewöhnlich als Abfall oder Ausdruck kranker Träume betrachten, erklärt Montaigne zu einem privilegierten Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Sicher hatte Montaigne Freude an dem Spiel mit provokativen Paradoxien. Aber wenn er scheinbar Niedriges, Unförmiges und Nutzloses zur Bestimmung seiner Arbeit erklärt, so enthüllt er dabei die Anatomie der Essais die er sich als einen idealen Körper erträumt.629 Laut Montaigne entspringt die einzig wahre Freude des Lebens aus der mittleren Region des Körpers.630 Dabei denkt er wohl weniger an digestive, als an sexuelle Vergnügen, denn alle Leidenschaften, die sich schmecken und verdauen lassen, erklärt er für mittelmäßig.631 Die Lust, die Wein der Kehle verschafft, hält er jedenfalls für eine Lust der Greise: Im Alter überziehe sich der Gaumen mit Schleim und der Wein schmecke immer besser.632 Trunkenheit sei eine gute Übung, die den Alten den Mut zum Tanzen wiedergeben könne. Nichtsdestoweniger ist Montaigne gegenüber Freuden des Bauches durchaus aufgeschlossen. Aber wie ist es mit Freuden, die unsere Bedürfnisse nicht befriedigen, sondern künstlich entfachen? Sind auch sexuelle Befriedigungen wünschenswert, die unsere Seele verwirren? Sollen wir unseren Magen nur füllen oder auch verstopfen? Nach strengen Regeln verlangen laut Montaigne nur gealterte Körper. Exzesse hätten mitunter positive Wirkungen. Für sich selbst möchte er keinen künstlichen, widernatürlichen Appetit entwickeln und auch das Vergnügen am Trinken nicht über den Durst hinaus treiben, weil sein Magen sich schon mit der Aufnahme des Notwendigen schwer genug tue.633 Manche Gewohnheit habe ihm die Natur beigebracht, so vermeide er es, seinen Magen täglich mit zwei vollen Mahlzeiten zu überladen und vermeide Blähungen und Appetitlosigkeit durch regelmäßige Mahlzeiten. In der Nacht beunruhige eine alte Kriegsverletzung seinen Magen mitunter bis zum Brechen, also lege er sich so zu Bett, wie andere zum Frühstück erscheinen.634 Gewohnheit könne uns einüben in Veränderung und Abwechslung, nicht nur an eine eingefahrene Lebensart.635 Er selbst ist stolz auf seine Flexibilität. Manche seiner eigenen Neigungen sei ihm angenehm, aber er könne sich doch leicht über sie hinweg628 | Vgl. Mathieu-Castellani, 2000, S. 75f. 629 | Vgl. ebd. 630 | Vgl. Montaigne, Essais, II.II. 631 | Vgl. ebd., I.II. 632 | Vgl. ebd., II.II. 633 | Vgl. ebd. 634 | Vgl. ebd., III.XIII. 635 | Vgl. ebd.
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setzen. Er sei zwar zur Freiheit und Gleichgültigkeit erzogen worden, habe aber mit den Jahren aus Nachlässigkeit an bestimmten Formen festgehalten. Nun müsse er sich Gewalt antun, um zwischen den Mahlzeiten zu essen, am Tage zu schlafen oder Kinder stehend zu zeugen.636 Besonders junge Menschen sollten Regeln überschreiten, um frisch zu bleiben. Sie sollten exzessiv und oft genießen, damit ihnen Ausschweifungen nicht schädlich werden und sie selbst sozial unverträglich. Es sei unanständig, sich an eine bestimmte Lebensart zu binden, besonders dann, wenn sie nicht geschmeidig und formbar sei. Wer das, was andere tun, aus Unvermögen oder Feigheit verschmähe, sei schamlos und solle besser in seiner Küche sitzen bleiben!637 Wenn es einen Unterschied macht, ob etwas aus einem Tempel oder von einem Gemüsebeet gestohlen wird, so gibt es laut Montaigne auch Unterschiede zwischen den Lastern. Verglichen mit anderen Lastern erscheint ihm Trunkenheit als grob und brutal.638 Alkoholmissbrauch sei zwar unwürdig und dumm, aber zur Belebung des Verdauungsapparates gelegentlich doch nützlich.639 Er sei weniger boshaft und schädlich als andere Laster und verursache unserem Gewissen vergleichsweise geringe Kosten. Außerdem sei es kein geringer Vorteil, dass er keinen besonderen Aufwand erfordere und sich leicht erreichen lasse. Nicht jeder Mensch solle in jeder Situation trinken, aber zur Mäßigung der Seele und zur Gesundheit des Körpers könne Wein doch beitragen. Wenn wir uns zum Trinken entschieden, sollten wir besser unseren Durst befriedigen als unseren Geschmack. Bei der Ausbildung eines freien und lockeren Geschmacks gelte es, Feingefühl und sorgfältige Auswahl zu vermeiden. Nicht nur guter, sondern auch schlechter Wein lasse sich genießen. Wer ein guter Trinker sein wolle, dem nütze ein zarter Gaumen wenig.640 Da seien die Deutschen beispielhaft: Sie tränken nahezu jeden Wein mit Freude. Kurzum: Es gelte zu genießen, was dem Körper zumutbar sei. Von selbstmörderischer Zwanghaftigkeit rät Montaigne ab. Für einen gesunden Menschen scheint es also wünschenswert, alle Bedürfnisse zu befriedigen, die Freude bereiten, aber was geschieht bei Krankheit? Werden sich keine irrigen Begierden entwickeln und den Geist in trübselige Verwirrung führen? Montaignes Umgang mit seinen eigenen Beschwerden spricht gegen diese Befürchtungen. Auch bei Krankheit halte ihn sein Geist lebendiger als manche anderen, die sich ihre gesundheitlichen Sorgen selbst herbeiredeten.641 636 | Vgl. ebd. 637 | Vgl. ebd. 638 | Vgl. ebd., II.II. 639 | Vgl. ebd. 640 | Vgl. ebd. 641 | Vgl. ebd., II.XXXII.
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Schon in den Essais schreibt Montaigne im Rahmen seiner Betrachtungen zu anderen Menschen und zu sich selbst gelegentlich von seinen Koliken. Die ersten Anfälle seines Blasenleidens sollen ihn im Alter von 45 Jahren ereilt zu haben. Aufgrund seiner Verdauungsprobleme begab er sich im Sommer 1580, wenige Monate nach der Veröffentlichung der Essais, auf eine Badereise, die ihn über Deutschland, die Schweiz und Italien zurück nach Frankreich führte.642 Ziel war neben der Wiederherstellung seiner Gesundheit auch eine Befreiung und Erneuerung seines Lebensgefühls sowie der Wunsch, Menschen in ihrem Alltag zu beobachten, was einen Abstand vom Leben unter Büchern erforderte.643 Während der Reise führte Montaigne ein Tagebuch.644 Er berichtet darin dezidiert über die Entwicklung seiner Krankheit. Besserung trat nur phasenweise ein, aber zumindest gelang Montaigne die Rettung seiner Hoffnung und Lebensfreude. Er gibt wortreich Auskunft über alles, was ihm auf der Reise aufgetischt wird und beobachtet erfreut die Essgewohnheiten seiner Zeitgenossen. So vereint das Tagebuch Notizen zu gesundheitlichen Beschwernissen mit Schilderungen von Sitten und Gebräuchen und unterstreicht, wie ein erkrankter Philosoph sich im glückenden Umgang mit anderen Menschen üben kann: speisend, feiernd und badend, mit freudigen, begeisterten Eindrücken.645
642 | Der Reiseweg führte Montaigne von Beaumont-sur-Oise bei Paris entlang der Marne nach Vitry, über die Mosel bei Neufchateau zum Rhein bei Basel, nach Lindau hinter den Bodensee, nach Augsburg und München, über die Alpen am Brenner zur Etsch bei Bozen, vorbei am Garda See nach Verona, Vicenza, Padua und Venedig, über Florenz von einer Küste zur anderen, weiter nach Mailand, Novarra und Susa, zurück zu den Alpen, über Mont Cenis nach Lyon, Clermont-Ferrand, Périgueux und Limoges. Schließlich folgte die Heimkehr nach Montaigne in der Nähe von Bordeaux. 643 | Vgl. Flake, 1963, S. 22ff. 644 | Der genaue Umfang des Textes ist umstritten. Meunier de Querlon, königlicher Bibliothekar und erster Herausgeber des Werkes, spricht von einem Folioband von 278 Seiten. Das Originalmanuskript wurde unter ungeklärten Umständen aus dem königlichen Archiv entfernt. Vgl. ebd., S. 13. 645 | Neben Ess- und Trinkgewohnheiten beschäftigte sich Montaigne mit Sitten, Fes ten, Theater, technischen Errungenschaften, Einkommensverhältnissen, Protestanten, Schmuck, Frauen, Fresken, Statuen, Gemälden, Arbeitsalltag, Baukunst, Kleidung, Kunst, Mode, Tanz, Musik, Architektur, Schmuck, Baderegeln, Prostituierten und Lebensmittel preisen, wohnte der Beschneidung eines Juden bei und traf den Papst: einen schönen Greis mit langem weißem Bart, der weder Gicht, noch Koliken, noch Magenbeschwerden kannte. Von den ärztlichen Verordnungen in seiner eigenen Sache nimmt er amüsiert Notiz: »Sie waren so entgegengesetzt [...], dass von zwanzig Konsultationen nicht zwei
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Das Tagebuch unterstreicht, dass Montaigne dem Körper nicht nur einen philosophischen Wert zugesteht, sondern ihn als Angelpunkt einer umfassenden Ästhetik versteht.646 Seine Freude an seinem Körper lässt die Metamorphose von Kot in Gold noch bei schmerzhafter Krankheit in greif bare Nähe rücken. Montaigne unterstreicht, warum das wohlige Knurren des Magens, das Rinnen kühler Flüssigkeit durch die Speiseröhre, die entlastende Entleerung der Blase sowie die differenzierte Reizung der Geschmacksknospen des Gaumens philosophische Aufmerksamkeit verdienen: Sie geben Auskunft über einen Bezug zwischen Welt und Mensch, aus dem heraus sich geistige Fülle speist. Insofern nicht nur das Schöne ästhetisch reizt, gehört neben positiven Empfindungen auch Montaignes Bauchschmerz in den Bereich philosophischer Geschmacksfragen. Das erklärt Montaignes aufgeschlossene Lebensfreude sicher nicht gänzlich, stimuliert aber zum frohsinnigen Erleben. Damit scheint schon einiges gewonnen, nicht nur für die Verdauung von Erlebnissen und von Speise. Montaigne bedauerte, keinen Koch mit auf die Reise genommen zu haben, nicht, weil ihm die bordelaisische Küche fehlte, sondern weil ein Koch die fremden Gerichte studieren und dann zu Hause hätte erproben können.647 In das Zentrum des gastrosophischen Interesses stellt er im Tagebuch aber nicht die Freude des Gaumens, sondern seine Bauchschmerzen. So ist das Tagebuch auch ein Verdauungsbuch: »Das Wasser, das der Herr von Montaigne am Dienstag getrunken hatte, verschaffte ihm dreimaligen Stuhlgang [...].«648 »Auf Anordnung des französischen Arztes [...] nahm er einen Tag große Stücke Kassien-Mark:649 die Messerspitze wurde zuerst ein wenig in Wasser getaucht, er nahm es leicht und bekam zwei- bis dreimal Stuhlgang davon.«650 »Montag, den 8. Mai [1581], nahm ich mit großem Widerwillen Kassia ein, das mir mein Wirt – nicht mit der Liebenswürdigkeit des Apothekers in Rom – anbot. Zwei Stunden darauf aß ich zu Mittag, konnte aber die Mahlzeit nicht beenden; das Mittel wirkte, und ich musste von mir geben, was ich zu mir genommen hatte, übereinstimmten; aber sie verdammten sich gegenseitig fast alle, klagten einander des Menschenmordes an.« Montaigne, Journal, S. 282. 646 | Vgl. Shustermans Erklärungen zur Ausrichtung von Montaignes somatischem Interesse auf das dem Körper »innewohnende Schönheitspotenzial« bzw. die »schöne Erfahrung des eigenen Körpers von innen«. Shusterman scheint Bezüge zwischen viszerozeptiver und propriozeptiver Schönheit zu implizieren. Shusterman, 2005, S. 119. 647 | Vgl. Montaigne, Journal, S. 80. 648 | Ebd., S. 66. 649 | Abführende Wirkung haben u.a. Cassia angustifolia (Tinnevelly-Sennesblätter) und Cassia acutifolia (Alexandrinische Sennesblätter), vgl. »Cassia-Arten«, in: Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen. 650 | Montaigne, Journal, S. 169.
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und auch nachher übergab ich mich öfter. Ich hatte drei- oder viermal Stuhlgang unter großen Bauchschmerzen: die Blähungen, welche die Ursache waren, quälten mich fast vierundzwanzig Stunden lang, und ich nahm mir vor, von diesem Mittel nichts mehr zu nehmen.«651 »Am zweiten Tag [Mittwoch, 10. Mai 1581] gab ich helles Wasser von mir ab, das eine etwas andere Farbe als gewöhnlich zeigte, und schied eine Menge Sand aus; aber daran war das Kassia schuld, denn ich schied es gerade an diesem Tage besonders stark aus.«652 »Ich befand mich nicht schlecht, [Mittwoch, 10. Mai 1581] sondern war im Gegenteil wie sonst in Bädern fröhlich aufgelegt, obwohl ich mit großer Verlegenheit wahrnahm, dass ich mein Wasser nicht abschlagen konnte.«653 »An diesem Tag [Donnerstag, 11. Mai 1581] fühlte ich eine gewisse Schwere der Nieren [...].«654 »[Dienstag, 16 Mai 1581] Da ich aber Blähungen fortwährend im Unterleib und in den Eingeweiden (ohne weitere Schmerzen) spürte, im Magen dagegen fast keine, so schrieb ich dem Wasser den Grund zu und verließ es.«655 »[Dienstag, 29 Mai 1581] [...] was die Entleerung betrifft, so benutzte ich, da ich an den vorhergehenden Tagen ungewöhnlich an Verstopfung gelitten hatte, [...] Korianderkörner, welche die Winde, von denen ich ganz voll war, vertrieben.«656 »[Samstag, 8. Juli] Die ganze Zeit über verließen mich meine Kopfschmerzen nicht, was mir immer irgendwie lästig war; damit war eine derartige Verstopfung verbunden, dass ich nie anders als durch Hilfsmittel oder Latwergen zu Stuhl kam, was nicht einmal viel half. Die Nieren gut, was bei mir gut heißt.«657 »Am 26. [Juli] war morgens mein Urin so trüb und dunkel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, auch lag ein kleiner Stein darin.«658 »Am 18. [August] blieb ich im gleichen Bad zwei Stunden. Ich verspürte einen Druck auf den Nieren. Der Stuhlgang war ordentlich.«659 »Am 20. [August] war ich zwei Stunden im Wasser. Die Blähungen im Unterleib machten mir den ganzen Tag zu schaffen. Ich schied fortwährend stark getrübten, roten, dicken Urin aus, darunter wenig Sand. Ich hatte Kopfschmerzen. Der Stuhlgang ging leichter vonstatten als gewöhnlich.«660 »Am 21. [August] setzte ich mein Baden fort. Danach taten mir die Nieren sehr weh. Der Urin war sehr trüb. Grieß schied ich wenig aus. Der Schmerz in den Lenden war nach meiner Ansicht von Blähungen veran651 | Ebd., S. 265. 652 | Ebd., S. 260f. 653 | Ebd., S. 268. 654 | Ebd., S. 269. 655 | Ebd., S. 274. 656 | Ebd., S. 288. 657 | Ebd., S. 310. 658 | Ebd., S. 313. 659 | Ebd., S. 320. 660 | Ebd.
E x zesse
lasst, die sich allenthalben erhoben. Am trüben Urin erkannte ich, dass ein paar große Steine niederstiegen.«661 »Am 25. August nahm der Urin wieder seine gewöhnliche Farbe an [...].«662 »[Montag 20 November] Auf der Höhe des Puy-de-Dôme schied ich einen ziemlich großen Stein von breiter, platter Form aus, der seit der Früh auszutreten begann und den ich schon am Tage zuvor am Anfang der Rute gespürt hatte; als er sich anschickte, in die Blase zu gleiten, fühlte ich ihn auch in den Nieren. Er war weder weich noch hart.«663 Durch eine Trinkkur versucht Montaigne, sich von einem quälenden Leiden zu kurieren oder zumindest die Schmerzen zu lindern. Seine Beschreibung lässt kaum Zweifel darüber offen, dass es sich um Nierenkoliken handelt, bei denen Nierensteine und Nierengrieß durch den Harnleiter in Richtung Harnblase transportiert werden. Die Erkrankung ist oft extrem qualvoll. Wenn das abgehende Material sich an einer Engstelle des Harnleiters festsetzt und der Harnleiter es weitertransportieren will, kommt es zu krampfartigen Schmerzen im Bauchraum, die oft in Richtung Genitalbereich ausstrahlen und in aller Regel einseitig auftreten: »Der Appetit war gut. Schlaf und Verdauung, überhaupt sein leiblicher Zustand, wurden durch diese Trinkkur nicht schlechter. Am sechsten Tage bekam er heftige Koliken, viel schlimmer als seine gewöhnlichen, und fühlte sie auch in der rechten Seite, wo er niemals Schmerzen gehabt hatte [...].«664 Typisch sind Phasen mit extrem starken Schmerzen im Wechsel mit beschwerdefreien Zeiten. »Den 17. [März] hatte ich fünf bis sechs Stunden lang meine Kolik, die erträglich war; bald danach schied ich einen Stein von der Größe einer Piniennuss aus.«665 Montaigne begegnet seinem Leiden mit Gelassenheit. Er nimmt es zum Anlass, um den Zusammenhang zwischen Ernährung und Verdauung zu untersuchen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Wirkung von Wasser: »Der Herr von Montaigne hat die Erfahrung gemacht, dass er das Wasser zu fürchten hat, denn es ist die einzige Bewegung, die seinem Magen schlecht bekommt. Trotzdem wollte er hier [in Cà Fusina] einen Versuch mit dem Fluss machen, der ruhig und eintönig dahin fließt, und in der Tat bekam er diesmal keine Beschwerden davon.«666 Am gleichen Tag habe Herr von Montaigne Terpentin eingenommen, aus keinem anderen Anlass, als weil er erkältet war, und schied viel Sandkörner aus.667 Bei einem Glass Wasser helfe vielen die Einnahme von drei bis vier Körnern eingemachten Koriander, um die Winde zu 661 | Ebd., S. 321. 662 | Ebd., S. 323. 663 | Ebd., S. 361. 664 | Ebd., S. 48. 665 | Ebd., S. 201. 666 | Ebd., S. 137. 667 | Vgl. ebd., S. 176.
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vertreiben.668 So erzählt Montaigne denn auch, dass sein vorzüglichstes Mittel, um sich den Bauch zu öffnen, darin besteht, dass er vier recht große, eingemachte Korianderkörner in den Mund nimmt, sie mit Speichel benetzt und etwas kaut und dann in den After bringt: Die Wirkung träte sofort und mit aller Stärke ein. Als auch die Entleerung der Blase Montaigne wenig Freude bereitet, sondern nur quälende Schmerzen, verfällt er nicht in trübselige Verwirrung. Seine Freude an Verdauung und Geist beruht nicht auf Gesundheit. Ihr zentraler Bezugspunkt ist Lebensfreude, die sich auch im Krankheitsfall bewährt. Ein fröhlicher Geist stärkt den Körper! Hoffnung stärkt die Lebensfreude und Luftveränderung hilft über manche Verdauungsstörung hinweg. Gerade aufgrund der Hürden, vor die ihn seine Krankheiten stellten, gelingt ihm die Vermittlung zwischen seinen theoretischen Ansprüchen, Leben und Tod.669 Montaigne verdaut beispielhaft, seinen eigenen Vorgaben entsprechend, und wohl auch ganz im Sinne von Epikur.
668 | Vgl. ebd., S. 272. 669 | Vgl. Essais, II.XXXVII: »Mis l’effect mesme de la douleur, n’a pas ceste aigreur si aspre et si poignante, qu’un homme rassis en doive entrer en rage et en desespoir. J’ay aumoins ce profit de la cholique, que ce que je n’avoy encore peu sur moy, pour me concilier du tout, et m’accointer à la mort, elle le parfera : car d’autant plus elle me pressera, et importunera, d’autant moins me sera la mort à craindre.«
3. Freuden Von Helmont zu Nietzsche
Mit den Fortschritten der wissenschaftlichen Erklärungen verändern sich die philosophischen Umgangsweisen mit dem Bauch. Im Elan der Aufklärung werden die Wunder des Verdauens oft und humorvoll thematisiert. Dabei wird die Pflege der Verdauung zwar nicht von jedermann als Postulat reiner Vernunft verstanden, aber als Aspekt der praktischen Selbsterhaltung werden die Bedürfnisse des Bauches mit akademischer Genauigkeit behandelt und im Rahmen anthropologischer Einsicht auch rational systematisiert. Auch die dunkle Seite der Verdauung kommt ausführlich zur Sprache, das zeigt sich besonders bei Überlegungen zu moralischer Entgrenzung durch kulinarische und sexuelle Perversion. In Anlehnung an antike Betrachtungen zur Freude am vollen Magen entwickelt sich gastrosophische Achtsamkeit für den Umgang mit Nahrung. Sie setzt die sittliche Dimension des Verdauens zu philosophischen Vorstellungen des guten Lebens in Bezug. In Hinblick auf den Geist bleibt Verdauung ein grundlegendes Moment philosophischer Betrachtung, etwa wenn sie als Ausdruck eines übergeordneten Willens verstanden wird. Zum Verständnis der Bezüge zwischen dem geistigen Erleben des materiellen Lebens und Überlebens tragen die neuen Einsichten in die Funktion des Verdauungstrakts entscheidend bei – gerade auch in Hinblick auf den Umgang mit Grenzen der rationalen Einsicht in die Abläufe der Verdauung. Mit Helmont nähert sich der Begriff der Verdauung an das Verständnis an, das uns die Wissenschaft noch heute von ihr vermittelt. Ausgangspunkt der Forschungen Helmonts sind alchemistische Experimente, in denen die Bezüge zwischen Verdauung und Geist eine wesentliche Stellung einnehmen: Im Verdauungstrakt verortet Helmont den zentralen Bezugspunkt zwischen Seele und Körper, das ›Duumvirat‹, gebildet aus Magen und Milz, Quelle der Bewegung und Sitz des obersten ›Archeus‹, dem Organ der Verdauung. Mit der Hilfe des Duumvirats herrsche die menschliche Seele über den Körper wie Gott über die Welt. Zwar seien Teile der Seele im ganzen Körper präsent, wo sie die Nahrung für die Organe gewährleisten, doch dem zentralen Archeus
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seien sie allesamt unterworfen. Dafür sprechen laut Helmont schon die Beobachtungen, dass Gefühle und Emotionen am stärksten in der ›epigastrischen‹ Region spürbar seien. Seine Theorie stellt Helmont in direkten Bezug zu biblischen Motiven. Ursprünglich sei die Verdauung perfekt und Adam deshalb unsterblich und stets bei bester Gesundheit gewesen. Doch mit dem Sündenfall entstanden Verdauungsprobleme. Am Ende des Verdauungsvorgangs stehe nunmehr gastrisches Unwohlsein, weil sich der Archeus an seine ursprüngliche Würde im Garten Eden erinnere, die ihn befähigte, alle Speise ohne Überdruss zu bändigen. Frei nach dem Motto: ›Liebe geht durch den Magen‹ überführt Descartes antike Positionen zum Zusammenhang zwischen Magen, Herz und Gefühlen in die moderne, philosophische Wissenschaft. Die erste Liebe eines Fötus erwache mit digestiver Freude. Verknüpfe sich eine Seele mit einem Körper, so fließe mehr geliebte Nahrung zum Herzen als gewöhnlich. Die Seele verbinde sich willentlich mit solcher Nahrung, Lebensgeister bewirkten einen appetitanregenden Muskeldruck auf Magen, Darm, Leber und Lunge, der zur Versorgung des Herzens mit noch mehr liebenswerter Nahrung führe. Enthalte das Blut zu Beginn unseres Lebens genügend Nahrung, um die Wärme im Herzen zu bewahren, so erfreue das die Seele. Die Frage, ob Liebe und Kannibalismus einander ausschließen, behandelt Descartes im Zusammenhang mit der Transsubstantiation. Diderot unterlegt den Mythos des Pygmalion, der von der Kunst der Erweckung einer Marmorstatue zum Leben handelt, mit digestivem Witz: Laut Diderot können wir lebendige Empfindsamkeit von Materie aktivieren, indem wir sie assimilieren, zu unserem eigenen Fleisch machen und animalisieren. Die Überführung von inerter in aktive Empfindsamkeit, die unserer Verdauung alltäglich gelinge, könne auch eine Marmorstatue zum Leben erwecken. Diderots Kollege D’Alembert meldet Zweifel an: Wie soll der Marmor denn essbar gemacht werden? Diderot schlägt vor, die Statue mit einem Stößel zu pulverisieren, gut mit Gartenerde zu durchmischen und feucht zu halten, später könnten dann Erbsen, Bohnen oder Kohlköpfe gepflanzt werden. Die Abfassung einer Kritik der Verdauung lag Kant fern. Das unterstreicht er etwa im Rahmen von Bemerkungen zur Rechtslehre, wo er die Lust an genitaler Vereinigung über die Entleerung der Verdauungsorgane bis zur Menschenfresserei durchdenkt. Die dingliche Art des Gebrauchs, den ein Mensch von den Geschlechtsorganen eines andern mache, sei ebenso mit Genuss verbunden wie der Gebrauch der Verdauungsorgane beim Verzehr von Menschenfleisch. Solche Entgleisungen liegen für Kant wirklich unter der Würde der Menschheit. Nichtsdestoweniger interessiert auch er sich für den Zusammenhang zwischen Humor und Verdauung. Lachen sei den Affekten zuträglich, durch welche die Natur die Gesundheit mechanisch befördere, da es die zur Verdauung gehörenden Muskeln in Schwung bringe. Eine Mahlzeit ende
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gewöhnlich mit gutmütigem Lachen, das die Natur für den Magen zur Förderung der Verdauung vorgesehen habe; während die Lachenden versucht seien, es für einen Ausdruck geistiger Kultur zu halten. Alles Vergnügen sei körperliche Empfindung: Dass unsere Gedanken mit den Körperorganen verbunden sind, sei mit unserer Achtung für Moral und Geschmack vereinbar. Die von Kant konstatierten Ähnlichkeiten zwischen sexuellem und digestivem Gebrauch der Organe beschäftigen auch Sade. Die schon in der altägyptischen Kultur bezeugten Urängste vor digestiver Umkehrung inspirieren bei Sade Vorstellungen zur Austauschbarkeit von Mündern, Bäuchen und Darmausgängen. Digestive Umkehrung erscheint bei Sade als eine Waffe der sozialen und psychologischen Erniedrigung. Ihre Lust an Koprophagie trennt die Mächtigen von den Sklaven, deren sexuelle und digestive Leiden die Lüste der Libertins entfachen. Hätte die Natur nicht gewollt, dass der Kopf den Forderungen des Unterleibes Gehör schenkt, hätte sie es laut Lichtenberg gar nicht nötig gehabt, den Ersteren an den Letzteren anzuschließen. Überhaupt belustigt sich Lichtenberg an mancher Errungenschaft des wissenschaftlichen Fortschritts: Ist es nicht traurig, von ostindischen Fischen zu reden, ohne zu wissen, wo der Magen liegt? Wer seinen Leib in drei Etagen zu teilen pflege, solle doch bitte darauf achten, ob sich die Hausleute in der obersten und der untersten Etage miteinander vertragen. Das Miteinander von Kopf und Bauch erscheint bei Lichtenberg weniger als philosophisches Problem, denn als Mittel zur Lösung solcher Probleme. Inmitten verdauter und unverdauter Begebenheiten amüsiert sich Lichtenberg über geistlich gemästete Todeskandidaten, die gelehrten Eingeweide von Schriftstellern und die Befürworter gelehrter Stallfütterung. Was wir gelesen oder gegessen hätten, könnten wir Getrost vergessen: Es trage nichtsdestoweniger zur Erhaltung von Geist und Körper bei. In den Schriften der frühen Gastrosophen, Brillat-Savarin, Fourier und Vaerst, spielt die Verdauung jeweils eine kennzeichnende Rolle. Die gastrosophische Suche nach positiven Umgangsformen mit Verdauungsfreuden wirkt philosophischem Desinteresse an der Nahrung entgegen. Zwar konzentrieren sich die Gastrosophen oftmals auf Fragestellungen zur Aufnahme von Speise oder zum Urteilsvermögen des Gaumens. Gerade die Unterscheidung zwischen Gourmands und Gourmets unterstreicht die Macht des Bauches, der durch Hunger und Durst die gastrosophische Behandlung geschmacklicher Freuden ursprünglich motiviert. Ist der Verdauungsschlauch freudig beschäftigt, wirkt seine Tätigkeit mitunter unscheinbar, und so ist das Bestreben zur Verhinderung von Revolten des Verdauungsschlauches bei allen frühen Gastrosophen gegenwärtig. Laut Brillat-Savarin leben wir nicht von dem, was wir essen, sondern von dem, was wir verdauen. Von allen Körpertätigkeiten habe die Verdauung den meisten Einfluss auf den moralischen Zustand einer Person. Die zivilisierte Menschheit sei in drei Kategorien zu unterteilen: die Regelmäßigen,
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die Verstopften und die Beschleunigten. Fourier unterstreicht die soziale Bedeutung der Verdauung, etwa in Hinblick auf die damalige Hungersnot in Irland. Die allgemeinste, die erste und die letzte der Freuden des Menschen lässt er aus der Ernährung entspringen. Gastrosophische Verdauungspflege soll die Lebenslust allgemein fördern. Wo möglich sollen alle Freuden der Appetitanregung gepflegt werden, auch erotische. Ein moderater Koitus könne die Seele weiten und die Verdauung stärken. In reicher und freizügiger Gesellschaft entwickle sich ein Festessen ganz natürlich zu einer Orgie. Vaerst stellt sich das Paradies als den Ort vor, an dem man ewig zu Tische sitzt, ohne sich jemals den Magen zu überladen. Zu Lebzeiten könne man die zwischen den Mahlzeiten verstreichende Zeit der Verdauung zum Nachdenken über das nutzen, was man gerade verdaue. Hierbei sei allerdings Widerspruch zu erwarten, besonders von traurigen Gelehrten mit schlechtem Magen. Verdauungspolitisch wegweisend sind auch seine Ausführungen zu Salat als einem Produkt des freien intellektuellen Geistes. Laut Vaerst sollte ein gelungenes Gericht vor allem nahrhaft, leicht verdaulich und von vollkommenem Geschmack sein. Vor Überladung bräuchten wir uns nicht mehr zu fürchten als vor Mangel, denn sie könne nur schaden, wenn sie Krankheit erzeuge. Sokrates Fluch solle alle treffen, die das Vergnügen von der Gesundheit absondern. Auch bei Hegel leistet die Verdauung entscheidende Beiträge zur geistigen Entwicklung. Früh bemerkt Hegel, dass der Geist im Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben seine neue Gestalt entwickelt, indem er die Organe des geistigen Lebens durchdringt und sich ihrer bemächtigt. Verdauung sei die Rückkehr des Selbst aus seiner kometarischen, lunarischen und irdischen Lauf bahn zu sich, aus den Eingeweiden zur Einheit. Beim Essen und Trinken würden die unorganischen Dinge zu dem, was sie an sich sind. Verdauung bringe das Organische und das Unorganische zur Identität. Durch den Assimilationsprozess nehme das Organische sich selbst wahr, indem es Verdauungssäfte absondere, bewähre es sich als Individuum und setze sich durch Negation seines Anderen als ›Fürsichsein‹. Der Ekel vor den Exkrementen stärke das Vertrauen des geistigen Selbst zur möglichen Autonomie gegenüber materieller Nahrung. Der Umgang mit Exkretionen erscheine schon bei Tieren als zweckmäßiges Tun, ein Kunsttrieb, der allerdings erst beim menschlichen Künstler im Denken begrifflich für sich selbst stehen könne. Beim Gebrauch digestiver Metaphern ist auch Schopenhauer nicht eben zimperlich. Die reine Empirie verhalte sich zum Denken wie das Essen zum Verdauen und Assimilieren. Die Assimilation der Verdauung sei Ausdruck des allgegenwärtigen Streites in der Natur. Der allgewaltige Wille verfüge über zwei Hilfssysteme: die Nerven und die Eingeweide. Das zerebrale hält Schopenhauer für einen dem Organismus eingepflanzten Parasiten, der zur Erhaltung der organischen Ökonomie allenfalls indirekte Beiträge leiste. Der Intellekt sei eine physiologische Funktion der Eingeweide.
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Laut Fechner erkennt der Mensch im Allgemeinen viel zu wenig, was für ein edles Glied sein Magen ist. Der ganze Leib sei doch eigentlich ein Exkrement des Magens, eine Kruste, die ihn weich und warm halte. Tatsächlich sei der Magen das A und O der Schöpfung. Obwohl Gehirn und Herz oft über den Magen gestellt würden, der sie doch eigentlich ernähre, seien sie obendrein noch undankbar. Tatsächlich benutze der Magen den Geist wie einen Fangarm. Hunger sei eine Peitsche, mit welcher der Magen ihn zur Arbeit treibe. Ein hungriger Mensch sei zu allem fähig, ein satter zu gar nichts. Kultur bilde sich denn auch nicht infolge der Moderation eines stetigen Hungers, sondern durch die anhaltende Mahnung des Magens, die ein lebhafteres Feuer der Phantasie entfachen könne als alle Kunstanstrengungen, die nicht viel mehr seien als Nebenstücke der Nahrungsaufnahme. Wenn ein voller Bauch nicht gern studiere, so liege das eben daran, dass der Magen sich ernsthafteren Geschäften widmen müsse. Auch Feuerbach bemerkt, dass der Mensch wohl esse, aber eben auch verdaue. Seine ›Gastrologie‹ bestimmt er dementsprechend als eine Lehre vom Magen und vom Gaumen. In der Verdauung erkennt er einen wesentlichen Aspekt religiöser Aktivität, insbesondere im Christentum. Seine Bemerkung, ›Brot ist Fleisch‹, bezieht er dabei weniger auf die Menschwerdung Gottes als auf die Menschwerdung von Brot. Der Grund für alle Kopf- und Herzkrankheiten der Menschheit liege darin, dass die einen alles hätten, was ihr lüsterner Gaumen begehre, den anderen aber selbst für ihren Magen das Notwendigste fehle. Auch Feuerbach macht reichlich Gebrauch von digestiven Metaphern. Wie der Mensch mit den Sinnen esse und verdaue, so auch mit dem Denkorgan. Das Gehirn sei das Verdauungsorgan der Sinne. Bei der Einverleibung vereinten sich Subjekt und Objekt, die Speise werde zu einem zweiten ich. Laut Feuerbach gibt es eingeborene Ideen ebenso wenig wie eingeborene Speisen. Die Nahrung sei Substanz, in ihr läge die Identität von Geist und Natur. Der offene Mund sei ein Eingang ins Innere der Natur. Kauend eigneten sich subjektive Körper objektive Wirklichkeit an. Wo nichts im Magen sei, da sei auch nichts im Kopf. Das Prinzip des Seins sei mit dem Prinzip des Erkennens identisch, die Ernährung der Anfang von Existenz und Weisheit. Das Prinzip des höchsten Gottes gelte es, durch das Prinzip des Magens zu ersetzen. Bei Nietzsche ergibt sich die philosophische Bedeutung der Verdauung besonders plakativ aus der Unterscheidung zwischen der großen Vernunft des Leibes und seinem Werk- und Spielzeug, dem bewussten Intellekt. Um zu verstehen, dass unser Bewusstsein zu nichts die Ursache abgeben könne, bräuchten wir nur die Verdauung mit dem zu vergleichen, was wir von ihr empfänden. In der Verdauung spielten sehr viele Intellekte zusammen. Der bewusste Intellekt könne die Aufgaben der Verdauung nicht angemessen denken. Der Vorgang der Verdauung sei gerade so reich an einzelnen Vorgängen der Bewegung wie der ganze Prozess des Lebendigen überhaupt. Wer für Letzteren
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keinen leitenden Intellekt annehme, brauche ihn auch für Ersteren nicht vorauszusetzen. Verdauung sei zumindest so ehrwürdig wie Sternenhimmel und Moralgesetz. Ein starker Mensch verdaue alle seine Erlebnisse, Taten und Untaten eingerechnet, wie Mahlzeiten. Werde er mit einem Erlebnis ›nicht fertig‹, so sei die Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der Tat nur eine der Folgen jener anderen. Der Geist selbst sei eine Art Stoffwechsel. Die Schöpfung von Welt und Mensch sei weder im Kopf noch im Unterleib des Universums erfolgt, der uns bekannte Geist sei im Grunde völlig unvermögend. Bestimmend für ethische und ästhetische Ideale sei letztlich die Depression infolge mangelhafter Ernährung oder Verdauung. Dass Nietzsche später in der Folge seines geistigen Niedergangs mit Fäkalien schmierte, tut dem Scharfsinn seiner Einsichten in die philosophische Bedeutung der Verdauungsprobleme keinen Abbruch. Für eine Trennung zwischen digestiver und gedanklicher Tätigkeit, etwa im Sinne einer Abgrenzung zwischen hoher Einsicht und niederem Trieb, spricht der Fall Nietzsche nicht. Im Gegenteil: Seine Einsicht in den Vorrang leiblicher Innerlichkeit gegenüber intellektuellem Ausdrucksvermögen greift tief und zeigt Grenzen rationaler Gewissheit auf.
S eelenkreise bei H elmont Jean Baptista van Helmont (* 12.01.1580 in Brüssel; † 30.12.1644 in Vilvoorde) stellte seine Einsichten in die physikalischen und biochemischen Funktionen der Bauchorgane in den Rahmen einer umfassenden Theorie der Verdauung als bestimmendes Prinzip des Zusammenhalts zwischen Körper und Seele.1 Die Vorgänge der Verdauung versuchte er weniger mechanisch oder chemisch denn alchemisch zu begreifen.2 Helmont trug – im Rahmen der Möglichkeiten mittelalterlicher Forschungen – entscheidend zum modernen Verständnis der Verdauung bei. Wo Aristoteles und Galen den Einfluss von Wärme zur Erklärung heranzogen, erkannte Helmont, ähnlich wie Paracelsus, die Tätigkeit von Gärungsstoffen bzw. Fermenten.3 Was wir heute als Speisebrei bezeichnen, erforschte er in Selbstver1 | Vgl. Pichot, 1983, S. 250. 2 | Der Weg vom alchemistischen Alambic zum Kochtopf und zum Magen ist kurz. Laut Rigotti gehört zur Kochkunst ein Hauch von Magie, zwischen Küche und alchemistischer Hölle. Kochend gewinnen Träume von der Verwandlung der Dinge in kostbarste Stoffe Form, sei es in Steine der Weisen und erlesene Tafelfreuden. Vgl. Rigotti 2002, S. 16 u. 37. Dafür sprechen auch Freuds Einsichten in das Zusammenspiel von Träumen, Gold und Kot im Unterbewusstsein, s.u. 3 | Vgl. Pagel, 1956, S. 524f.
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suchen, setzte seine Ergebnisse in Bezug zu Beobachtungen an Hühnern, zog Schlüsse über die Wirkung der Magenflüssigkeiten, versuchte die Wärmetheorie der Verdauung zu wiederlegen und wunderte sich darüber, wie Fermente körperliche Nahrung transformieren und assimilieren.4 Wo die Schulmedizin seiner Zeit drei Verdauungszentren annahm, den Magen, die Leber und die Organe der Nahrungsaufnahme, vermutete Helmont derer sechs: Erstens den Magen, wo es zu saurer Gärung komme, zweitens das ›Duodendum‹, wo alkalische Verdauung unter Zufluss von Gallenflüssigkeit stattfinde, drittens die Leber, die für die Umwandlung der Verdauungssäfte in Blut zuständig sei, viertens und fünftens das Herz, wo das Blut verjüngt und Lebensgeist produziert werde und sechstens verschiedene Körperteile, in denen sich Blut in Gewebe umwandele.5 Seine Theorie der Verdauung entwickelte Helmont in Anlehnung an religiöse Motive. Den ursprünglichen Bestand des Dualismus von Körper und Seele sah er durch göttliche Gesetze gewährleistet. Allerdings sei Adam seinem Körper in eine Revolte gefolgt, bis zum Sündenfall und der Bestrafung, nachdem ihm die Zügel des Körpers aus den Händen geglitten waren.6 Die Seele sei daraufhin in verschiedene Teile zerbrochen, die einen sensibel, sündig und sterblich, die anderen intellektuell, göttlich und ewig. Die ineinander verschachtelten Teile der Seele seien im gesamten Körper tätig, den sie erreichen, wie das Sonnenlicht die Erde erreicht.7 Dabei kreise nicht der Körper um die Seelenteile, sondern die Seelenteile um einen Punkt beim Mageneingang, dem Zentrum des ›Duumvirats‹.8 Helmont scheint von einer räumlichen Ausdehnung des Seelensitzes auszugehen, jedenfalls lässt er einen beim Mageneingang (›Cardia‹) eingreifenden Seelenteil den oberen Teil des Körpers beherrschen, einen beim Magenausgang (›Pyloris‹) eingreifenden den unteren Teil.9 Sie sitzen dort, wo sich ihre ersten Begriffe formen. Neben dem Magen spricht Helmont der Milz, der »Prinzessin der Verdauung«, dem Sitz von Vorstellung und Phantasie, eine zentrale Bedeutung für die Bauchfunktionen zu.10 Im Duumvirat sitze der oberste ›Archeus‹, eine Art Lebensgeist, Quelle der Bewegung, ein Substrat und Prinzip der Transformation.11 Der Archeus verleihe der Welt Form und Funktion, nichts in uns geschehe ohne sein Zu4 | Vgl. De Waele, 1947, S. 72. 5 | Vgl. Pichot, 1983, S. 250ff. 6 | Vgl. Nève de Mévergines, 1935, S. 178. 7 | Vgl. Pichot, 1983, S. 263. 8 | Vgl. ebd., S. 250. 9 | Vgl. ebd., S. 263. 10 | Ebd., S. 250; Vgl. Pagel, 1982, S. 102. 11 | Vgl. Descartes’ Theorie der ›Esprits animaux‹, s.u.
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tun. Über den Archeus regiere die Seele das vegetative Leben und die Motorik des Körpers, ähnlich einem König, der seine Diener oder einem Gott, der über seine Welt herrsche. Beim Archeus ergreife das ›Lebensprinzip‹ den Körper, weshalb die Seelenteile sich hier mit dem Körper verbänden.12 Im Zusammenspiel mit der Milz leite der Magen das Lebensprinzip unmittelbar.13 Alle Krankheiten hängen laut Helmont vom Zustand dieses Lebensprinzips ab, Arzneimittel wirken, indem sie den Archeus anregen, niederhalten, beunruhigen oder besänftigen.14 Die Wirkungen erforschte Helmont vielfach an sich selbst. Insbesondere berichtet er von der Entdeckung des wahren Sitzes der Seele bei einem Selbstversuch mit Blauem Eisenhut (Aconitum napellus): Seine Denkkraft sei dabei vom Kopf in den Bauch herabgesunken.15 Die Erkenntniskraft habe in Gestalt eines Lichtes in den Kopf hinaufgestrahlt. Er habe so weit besser denken können als gewöhnlich. Unmittelbar über dem Archeus des Duumvirats stehe die sinnliche Seele als niederes, geistiges Vermögen, umschlossen vom Gemüt, dem geistigen Wesenskern des Menschen. Die auswendigen, tierischen Aspekte des Menschen entstammen nicht der ursprünglichen Schöpfung, sondern ergeben sich aus dem Sündenfall.16 »Und sag ich demnach der auswendige Mensch sei das Tier so sich der Vernunft gebraucht und dem der Wille des Blutes zugehöret. Der inwendige aber sei kein Tier; sondern das wahrhaftige Ebenbild Gottes.« 17
Feuer könne den Archeus von seiner groben Hülle befreien, Rauch stelle seine reinste Form dar. In diesem Sinne bezeichnet Helmont den Archeus als ein ›geistiges Gas‹.18 Im Sinne der Verwendung bei Paracelsus erscheint der Archeus auch bei Helmont als eine dem gesamten Universum immanente, verborgene Kraft, die von den kleinsten bis zu den größten Teilen wirkt.19 Der Begriff des Archeus weist Ähnlichkeiten zum Begriff der Form bei Aristoteles auf, den Helmont aber kritisiert und zu ersetzen versucht.20
12 | Vgl. Helmont, Sedes Animae, 32. 13 | Vgl. ebd. 14 | Vgl. Burdach, 1817, Bd. 1, S. 99. 15 | Vgl. Helmont, 1682, 4, S. 264. 16 | Vgl. Heinecke, 1996, S. 93 17 | Helmont, De magnetica Vulnerum curatione, S. 83. 18 | Vgl. Pagel, 1986 (II), S. 422: »Archeus, qui est Gas spirituale«. 19 | Vgl. De Waele, 1947, S. 72. 20 | Vgl. Heinecke, 1996, S. 92; dazu Pichot, 1983, S. 245.
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Unseren Organismus beherrsche der Archeus mit Hilfe einer Vielzahl von untergeordneten ›Archei‹.21 Diese einzelnen Archei wirkten wie Pfleger der Körperteile, deren Form und Funktion sie in wichtigen Hinsichten steuerten, insbesondere, indem sie die Nahrung für die ihnen zugehörigen Organe wählten und assimilierten.22 Jeder der Archei verfüge zwar über eine ihm eigene Verdauung, die allerdings dem zentralen Archeus, dem »Organ der Verdauung der Verdauung« unterworfen sei.23 Die Autorität der Befehle, die das Duumvirat von Magen und Milz an den Körper sende, könne die Anweisungen der untergeordneten Archei also brechen.24 Helmont begründet seine Hochachtung der Verdauung unter anderem durch den Hinweis, dass unsere Gefühle und Emotionen physisch am stärksten in der epigastrischen Region spürbar seien. Weitere Gründe sieht er darin, dass trübselige Nachrichten unser Verdauung massiv stören können, Hunger und Durst uns verderben, ein Faustschlag in den Magen uns den Atem, die Sprache, den Puls und überhaupt jede Bewegung stocken lässt und dass Verletzungen des Bauches schneller zum Tod führen als etwa Verletzungen des Gehirns.25 Das Gehirn betrachtet Helmont als bloßes Vollstreckungsorgan.26 Insofern die Seele den Körper über den Magen beherrsche, erledige das Gehirn die Aufgaben, die ihm der Magen erteile.27 Verliere ein Gehirn seine Empfindsamkeit im Koma, so könne es weiterhin zu Träumen kommen, die aus der tiefer gelegenen empfindsamen Seele »unter den Rippen« stammen.28 Albträume und Lähmungen seien durch schlechte Verdauung verursacht.29 Auch der leere Magen habe Einfluss auf das Gehirn. Das zeige sich u.a. daran, dass Bilsenkräuter auch dann noch auf das Bewusstsein wirken, wenn sie bereits durch Erbrechen aus dem Magen entfernt wurden. Der Magen initiiere Schlafimpulse, verstärke Appetit bei Schwangeren und Hysterie. Auch Epilepsie und Asthma verursache der Magen, dynamische Unregelmäßigkeiten folgten auf Impulse aus der gastrischen Region, rein funktionale Reaktionen der Seele auf eine Störung der Harmonie zwischen dem Körper und ihr selbst.30 Wir können uns den Archeus der Verdauung als ›psychoid‹ vorstellen, d.h. seine Wirkungen ähneln den psychischen Leistungen eines lebendigen We21 | Vgl. Pagel, 1986 (II), S. 421; dazu Nève de Mévergines, 1935, S. 179. 22 | Vgl. Pagel, 1986 (II), S. 421. 23 | Pagel, 1982, S. 100. 24 | Vgl. ebd., S. 101. 25 | Vgl. Pichot, 1983, S. 264. 26 | Vgl. Heinecke, 1996, S. 92. 27 | Vgl. Pagel, 1982, S. 101. 28 | Ebd., S. 102. 29 | Vgl. Pagel, 1986 (I), S. 109. 30 | Vgl. ebd., S. 109.
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sens, vergleichbar der Entelechie bei Aristoteles, also einem vollendeten Eigending, das sein Ziel in sich trägt.31 Im Archeus kämen somit die Funktion und die Perfektion lebendiger Organe und Körper zum Ausdruck. Die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen dem, was für den Organismus gut ist und was nicht, spricht Helmont dem organischen Gewebe zu, nicht aber einer zentralen, übergeordnete Autorität wie den Seelenteilen oder dem Nervensystem.32 Die Funktion der Verdauung stand bei der Entwicklung dieser Theorie wiederum Pate. So bemerkt Helmont, dass der Pylorus ›wisse‹, wann er den Durchgang vom Magen zum Zwölffingerdarm öffnen oder schließen soll. Bleibe der Pylorus zu lange geschlossen, könne es zu Problemen exzessiver Fermentierung kommen, schließe er schlecht, so tropfe Ferment in das Duodenum. Der Pylorus greife nun eigenständig in die Verdauung ein, mit Bewegungen von An- und Entspannung, die sich in ihrer Besonderheit zum Beispiel von den Bewegungen des Anus oder der Gebärmutter unterschieden. Wenn der Pylorus Brechreiz auslöse, spanne er sich an und sende eine Bewegungswelle durch den Magenkörper und die Speiseröhre. Ähnlich verhalte es sich, wenn der Pylorus sich nicht öffne, weil er Nahrung als schädlich oder als unzureichend verdaut beurteile. Der Pylorus reagiere, als wäre er selbst ein zu Emotionen befähigtes Tier, das zum Beispiel wütend auf die Verletzung eines Beines reagiert, indem er Brechreiz auslöst bzw. wieder abstellt, wenn das Bein geheilt wurde.33 Helmont fasst zusammen: »Gnarus est pylorus rerum agendarum in stomacho« – »Der Pylorus kennt die Agenda des Magens«.34 Die Verdauung trenne gute Teile der Nahrung von schädlichen, die ersten und letzten Entscheidungen über Gesundheit und Krankheit würden von der Verdauung getroffen.35 Die menschliche Sterblichkeit und Krankheitsanfälligkeit ergebe sich aus einer Störung infolge des Zerbrechens der Seele. Die Ordnung der Lebenskraft sei gestört,36 was Helmont wiederum im Zusammenhang mit der biblischen Überlieferung erklärt. Besonders seine Überlegungen zu Verdauungsstörungen machen das deutlich.37 Ursprünglich sei Adams Verdauung perfekt gewesen. Die göttliche Seele habe Leben und Körper unmittelbar geleitet. Der erste der Menschen sei unsterblich gewesen und niemals erkrankt. Wäre das irdische Paradies nicht ver-
31 | Vgl. Pagel, 1986 (II), S. 422. 32 | Vgl. Pagel, 1982, S. 118f. 33 | Vgl. ebd., S. 118f. 34 | Ebd. 35 | Vgl. ebd., S. 129. 36 | Vgl. De Waele, 1947, S. 72. 37 | Vgl. Pichot, 1983, S. 258.
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loren gegangen, so hätte der Tod keinen Ort erhalten.38 Erst seit dem Sündenfall gebe es Verdauungsprobleme.39 Laut Helmont führen die mit dem Zerbrechen der Seele einhergehenden Fehlfunktionen der Verdauung zu verschiedensten Störungen der Gesundheit, sei es durch direkte oder durch indirekte Verursachung. Weil das Zentrum der Seele im Magen liege, dürften ihre Eigenheiten nicht von ihm getrennt betrachtet werden.40 Die Lebenskraft verteile sich vom Sitz der Seele her über den Körper und von dort nähmen auch alle Laster und Verwirrungen ihren Ausgang.41 Diverse Krankheiten seien die Folge.42 Die Medizin hat nach Helmont die Aufgabe, die Archei in ihrem Kampf gegen die Unternehmungen des Todes zu unterstützen.43 Vor dem Sündenfall garantierte das universelle Lösungsmittel ›Alkahest‹ die vollständige Auflösung der Nahrung. Nachdem die sensitive Seele sich zwischen die göttliche Seele und den Körper schob, wurde die Verdauung unvollständig. Reste dessen, was Helmont das »Mittel-Leben« nennt – als Beispiel nennt er Geruchsrestbestände in der Butter von Kühen, die mit Knoblauch ernährt wurden – sei der Verdauung entzogen.44 Der souveränen Herrschaft der Verdauung seien seitdem Grenzen gezogen. So stehe am Ende des Verdauungsvorgangs ein gastrisches Unwohlsein, weil sich der Archeus an seine ursprüngliche Würde im Garten Eden erinnere, wo er fähig war, alle Speise ohne Überdruss zu bändigen.45
M achtfr agen bei D escartes Als Dreh- und Angelpunkt im Zusammenhang zwischen Geist und Verdauung erscheint bei René Descartes (* 31.03.1596 in La Haye; † 11.02.1650 in Stockholm) die Liebe. Fortschritte bei der wissenschaftlichen Erklärung kognitiver und gastro-enterologischer Vorgänge inspirieren Descartes zu umfas38 | Vgl. ebd., S. 259. 39 | Den Wunsch nach vollständiger Verdauung hegen schon die Wüstenväter, s.o. Auch John Locke bemerkt, dass die Neigung zum Durchfall die Entwicklung starker Gedanken behindere: »One thing more there is, which has a great influence upon the health, and that is, going to stool regularly; people that are very loose, have seldom strong thoughts, or strong bodies.« Locke, 1922, S. 23. 40 | Vgl. Pichot, 1983, S. 274. 41 | Vgl. ebd. 42 | Vgl. ebd. 43 | Vgl. Nève de Mévergines, 1935, S. 179. 44 | Pichot, 1983, S. 258f. 45 | Vgl. Pagel, 1986 (II), S. 433.
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senden Überlegungen zu Wechselwirkungen zwischen Gedanken und Organen.46 Frei nach dem Motto: ›Liebe geht durch den Magen‹ überführt Descartes antike Positionen zum Zusammenhang zwischen Magen, Herz und Gefühlen in die moderne Philosophie. Pointierte Erklärungen finden sich insbesondere in seinen Einlassungen zu den Leidenschaften der Seele. Aber auch in seinen Überlegungen zur Transsubstantiation spielen Wechselwirkungen zwischen kognitiven und gastro-enterologischen Vorgängen eine wichtige Rolle. Liebe ist laut Descartes der Verdauung förderlich. Insbesondere die prompte Verdauung von Fleisch werde durch sie begünstigt. Das sei der Gesundheit überhaupt zuträglich.47 Descartes unterlegt das mit detaillierten Erklärungen. Erscheine eine geliebte Sache in der Einbildungskraft, so würden ›Lebensgeister‹ (›esprits animaux‹) vom Gehirn über die Nervenbahnen hin zu den Muskeln um Magen und Darm gelenkt.48 Es komme daraufhin zu einem direkten Zufluss von Säften (›suc des viandes‹) aus den Verdauungsorganen über das Blut zum Herzen, wo das angereicherte Blut außergewöhnlich viel Wärme verursache. Das Herz entsende nun seinerseits Lebensgeister zum Gehirn. Der vom ursprünglichen Gedanken hinterlassene Eindruck werde dadurch noch verstärkt und die Seele so zum Verweilen bei dem Gedanken an die geliebte Sache gezwungen. Der Wirkungskreis schließt sich. Hierin besteht für Descartes die Leidenschaft der Liebe.49 Nicht nur die Liebe, sondern auch Hass, Freude und Trauer stehen bei Descartes in einem ursächlichen Zusammenhang mit Vorgängen der Verdauung. Trete Hass auf, so leite der Gedanke an eine verabscheute Sache die Lebensgeister in die Muskeln von Magen und Darm, was die Vermischung der Säfte mit dem Blut behindere. Die überschüssigen Säfte flössen nun in Milz und Leber, aus denen sie Blut zum Herz verdrängten. Dort komme es in der Folge zu unregelmäßigen Temperaturen. Das bringe die zum Gehirn drängenden Lebensgeister dazu, den Hass sowie saure und bittere Gedanken zu verstärken.50 Damit könne sich die Akzeptanz gegenüber Fleisch verschlechtern, tendenziell sei neben Erbrechen auch die Ausbreitung schlechter Körperflüssigkeit zu erwarten.51 Beim Auftreten von Freude seien die Nerven von Milz, Leber, Magen und Darm im Vergleich zu den Nerven anderer Körperteile nur wenig aktiv.52 Die Verdauung sei schwächer als gewöhnlich, das könne zu Appetit-
46 | Vgl. Descartes, Passions, §107. 47 | Vgl. ebd., §97. 48 | Vgl. ebd., §102. 49 | Vgl. ebd. 50 | Vgl. ebd., §103. 51 | Vgl. ebd., §98, vgl. §108. 52 | Vgl. ebd., §104.
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losigkeit führen.53 Trauer dagegen schwäche den Puls und erkalte den Körper, behindere den Magen aber nicht bei seinen Geschäften.54 Die Säfte aus dem Darm könnten ungestört zur Leber fließen. Der Appetit halte an, solange kein Hass auftrete.55 Einen verdauungsphilosophischen Höhepunkt erreicht Descartes, indem er die erste Liebe des Fötus mit digestiver Freude verkoppelt.56 Wenn sich eine Seele mit einem Körper verknüpfe, so fließe geliebte bzw. bessere Nahrung zum Herzen als gewöhnlich. Die Seele verbinde sich willentlich mit dieser Nahrung.57 Lebensgeister aus dem Gehirn bewirkten einen appetitanregenden Muskeldruck auf Magen Darm, Leber und Lunge, der zur Versorgung des Herzes mit noch mehr guter Nahrung führe.58 Wenn das Blut zu Beginn unseres Lebens über genügend Nahrung verfüge, um die Wärme im Herzen zu erhalten, so erfreue das die Seele.59 Die Wechselwirkungen zwischen Liebe und den Freuden der Verdauung scheinen für die Entwicklung des Lebens auch insofern grundlegend, als die willentliche Verbindung mit einer geliebten Sache kräftigend wirkt.60 Die Entwicklung von Liebe zu einer Sache läuft für Descartes darauf hinaus, dass wir die Sache verdauen, metaphorisch oder buchstäblich.61 Da trifft es sich gut, dass wir laut Descartes das lieben, was unsere Seelen für angemessen halten,62 also eben jene Sachen, die uns glücklich machen, wenn wir sie erhalten.63 Aber was passiert, wenn sich unsere Liebe sich nicht auf Speise, sondern auf eine Person richtet? Führt cartesianische Liebe zu Kannibalismus? Tatsächlich betrifft die Verknüpfung zwischen Liebe und Verdauung bei Descartes nicht nur Sachen, sondern auch Personen: Wer eine Person liebe, entscheide sich willentlich zur Aneignung und Verdauung ihrer Macht.64 Dass wir geliebte Personen deshalb aber nicht als Nahrungsmittel missbrauchen, lässt sich mit Descartes leicht erklären: Liebe sei immer wohlwollend.
53 | Vgl. ebd., §99. 54 | Vgl. ebd., §100. 55 | Vgl. ebd., §105. 56 | Vgl. Matheron, 1988, S. 436, vgl. Descartes, Passions, §107. 57 | Vgl. Descartes, Passions, §107: »l’âme joignait à soi de volonté cet aliment, c’està-dire l’aimait.« 58 | Vgl. ebd. 59 | Vgl. ebd., §109. 60 | Vgl. Matheron, 1988, S. 434. 61 | Vgl. ebd., S. 436 u. 445. 62 | Vgl. Descartes, Passions, §86. 63 | Vgl. ebd., §92. 64 | Vgl. Matheron, 1988, S. 445.
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Dabei sei es nicht entscheidend, ob Verlangen im Spiel ist oder nicht. Lieben wir eine Sache, so wünschen wir ihre Existenz unter den bestmöglichen Bedingungen. Wollen wir eine geliebte Sache auch besitzen – was laut Descartes gewöhnlich der Fall ist – so sei unser Verlangen doch immer durch den Wunsch nach dem Wohlergehen der Sache geleitet. Die Unterscheidung zwischen wohlwollender und verlangender Liebe betreffe die Wirkungen der Liebe, nicht aber ihr Wesen. Kannibalismus behindere die geliebte Person bei der Entwicklung von Macht und damit die metaphorische Verdauung dieser Macht und somit die Entwicklung von Liebe. Die buchstäbliche Verdauung geliebter Personen steht dem Wunsch nach deren Existenz unter den bestmöglichen Bedingungen entgegen und verbietet sich demnach. Dass Liebe und Kannibalismus einander ausschließen, bestätigen Descartesʼ Erklärungen zur Wesensverwandlung bzw. zur Transsubstantiation. Bekanntlich kommt der Umwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut in christlichen Feiern der Eucharistie eine besondere Rolle zu (siehe dazu Kapitel 2). In Descartes’ Überlegungen zur Wesensverwandlung liefert die Umwandlung von Speise wichtige Hinweise für unser Verständnis von Geist und Körper und die Autonomie des Denkens gegenüber religiösen Vorgaben. Descartes riskierte verschiedentlich Widersprüche zu christlichen Dogmen. So kollidierte auch seine Ablehnung der eigenständigen Realität der Akzidenzien mit der Ernsthaftigkeit der Sakramente bei Thomas von Aquin, als einem philosophischen Repräsentanten des katholischen Glaubens. Darüber hinaus bringen ihn seine Überlegungen zur Funktion von Partikeln, die bei der Wesensverwandlung in übernatürlicher Weise in Ordnung geraten, in die Nähe zu häretischen Lehren der Konsubstantiation, bzw. einer substanziellen Koexistenz von Leib und Brot mit Blut und Wein. Prompt wurde Descartes von Antoine Arnauld darauf hingewiesen, dass seine Definitionen von Substanz mit dem Begriff der realen Akzidenzien auch die traditionelle Erklärung der Transsubstantiation im Sinne des heiligen Mysteriums der Eucharistie in Frage stellte.65 Zwar dürfte Descartesʼ Interesse für theologische Probleme begrenzt gewesen sein,66 dennoch bemühte er sich nachdrücklich um Schadensbegrenzung. Zur Rechtfertigung seiner philosophischen Prinzipien versuchte er die Möglichkeit der Wesensverwandlung entsprechend seiner fraglichen Prinzipien zu legitimieren.67 Dazu stellte er sich insbesondere folgende Fragen: Wie ist es möglich, das die Akzidenzien des
65 | Vgl. Descartes, Méditations,{Quatrièmes Objections}, 1996, S. 153ff. 66 | Vgl. Armogathe, 1977, S. 79. 67 | Vgl. Gonzalez, 2005, S. 221.
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Brotes dort anwesend sind, wo das Brot nicht mehr ist? Und wie kann der Herrenkörper in denselben Dimensionen erscheinen wie zuvor das Brot?68 Die erste Frage beantwortete er elegant in einer Antwort an den Theologen Antoine Arnauld (* 6.02.1612 Paris, † 8.08.1694 in Brüssel). Die äußere Erscheinung der Dinge bestehe nicht allein in dem, was wir sinnlich von ihr erfassen. Im Brot und im Wein gebe es Abstände zwischen den Oberflächen kleiner Teile, die zum Beispiel mit Luft oder Flüssigkeit gefüllt sein könnten. Die Oberflächen von Wein und Brot bewegten sich nicht nur dann, wenn der ganze Körper von einem Ort zu einem anderen bewegt werde, sondern auch bei Bewegungen in den Poren zwischen den kleinen Teilen. Die ganze Oberfläche könne sich in ständiger Bewegung befinden, ohne dass dies in der sinnlichen Wahrnehmung erfassbar sein müsse. Die Substanz sei von den Veränderungen der berührbaren Oberfläche nicht betroffen. Umgekehrt müsse eine substanzielle Veränderung von Brot und Wein nicht sinnlich erfahrbar sein. Widersprüche zwischen den katholischen Dogmen und seinen eigenen Prinzipien sah Descartes hierbei nicht. Die Wesensverwandlung lasse sich nach seinen Prinzipien klar und einfach erklären.69 Es dürfe nur nicht fälschlich angenommen werden, dass die Akzidenzien eine von der Substanz unabhängige Realität besäßen.70 Descartes scheint ehrlich überzeugt gewesen zu sein, dass seine Philosophie nicht nur konform mit dem katholischen Dogma wäre, sondern er auch die Fehler der klassischen Lösungsversuche sicher erfasst hätte.71 Jedenfalls betont er, keine Schwierigkeit darin zu sehen, die Theologie an seine Art des Philosophierens anzupassen.72 Mit der Antwort auf die zweite Frage tat er sich schwerer. Thomas von Aquin hatte gelehrt, das Sakrament bringe zwei Sorten von Brot hervor: einerseits ein Brot, das seine ursprüngliche Substanz bewahre, zum anderen das vom Himmel herabsteigende Brot des Leibes von Jesus Christus. Die sakramentalen Speisen gehörten nicht zu den Dingen, aus denen die Leiber bestünden, könnten sich aber in solche verwandeln. Sie seien keine Substanz, aber besäßen deren Tugend. Das auf das Wunder der Umwandlung folgende Wunder der Nicht-Umwandlung verstört den gemeinen Menschenverstand und Descartes. Dessen Erklärungen unterstreichen die philosophische Bedeutung der anhaltenden Diskussionen um die Wesensverwandlung. Das gilt nicht nur deshalb, weil 68 | Vgl. Descartes, Lettre à X***, o.d., Correspondance Juillet 1643-Avril 1647, S. 374f. 69 | Vgl. Descartes, Lettre à Mersenne, 28.01.1642, S. 295f. 70 | Vgl. Descartes, Méditations et Principes, S. 192ff. 71 | Vgl. Armogathe, 1977, S. 56. 72 | Vgl. Descartes, Lettre à Mersenne, 28.01.1642, S. 295.
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theologische Dogmen Descartes und manche seiner Nachfolger bei der Entwicklung moderner Wissenschaft anstachelten,73 sondern weil Erklärungsversuche zur Wesensverwandlung verschiedene Schwierigkeiten des geistigen Umgangs mit Fragen der Verdauung eindrucksvoll illustrieren. Den offenen Widerspruch zu Thomas von Aquin nahm Descartes in Kauf. Seine eigene Position schien ihm überzeugender. Wenn die Akzidenzien ohnehin nicht real sind, dann braucht es keine Umwandlung und das Problem der Rückverwandlung zur Erklärung des bleibenden Nährwertes von Brot und Wein entfällt. Um die Materialisierung der Seele in einem Stück Brot zu erklären, stellte sich Descartes den menschlichen Körper als ein wandelbares Stück Materie vor. Aufgrund der Beseelung hätten wir den Eindruck, in einem einheitlichen Körper zu leben, obwohl sich unser Körper im Laufe des Lebens kontinuierlich verändere. Hier bringt Descartes die Verdauung ins Spiel: Da er die Möglichkeit der Umwandlung einer Materie in eine andere, etwa durch chemische Wirkungen, noch nicht ausreichend kennt, nimmt Descartes an, dass die Ernährung alle Teile des Körpers verdränge und durch andere ersetze.74 Die digestive Veränderung des Körpers erklärt er also durch örtliche Bewegungen.75 Die Verdauung liefert dabei die Illustration zur Erklärung der Konstanz unserer Individualität bei stetiger Veränderung unserer Körper. Die Assimilation von Speise wird dabei nicht als Eindringen eines Körpers in einen anderen, sondern als eine Vermischung verstanden, in der jedes Teil seine distinktiven Merkmale bewahrt.76 Wenn wir Brot essen und Wein trinken, löse der Körper diese Speisen im Magen auf. Von dort gelange die Nahrung in die Gedärme, von wo aus ihr Saft, der durch die Leber und die Venen laufe, sich mit dem Blut mische, das diese Organe enthalten, und auf diese Weise dessen Menge vermehre.77 So können auch Brot und Wein von unserem Körper aufgenommen werden und die Transsubstantiation auf ganz natürliche Weise erfolgen.78 Wären unsere Augen nur dafür beschaffen, könnten wir die Partikel von Wein und Brot im Blut auch noch wiederfinden. Würden wir dabei von ihrer Union mit der Seele absehen, könnten wir sie sogar noch als Wein und Brot bezeichnen. Zu dieser Transsubstantiation brauche es kein Wunder.79
73 | Vgl. Boulangey, 1898, S. 62f. 74 | Vgl. Descartes, Lettre à Mesland, 9.02.1645, S. 166. 75 | Vgl. Gonzalez, 2005, S. 220. 76 | Vgl. ebd., S. 208. 77 | Vgl. Descartes, Passions, §7. 78 | Vgl. Descartes, Lettre à Mesland, 9.02.1645, S. 167. 79 | Vgl. ebd., S. 168.
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Eingedenk seiner Einsichten in die Funktion der Verdauung möchte Descartes nunmehr das »ganze Wunder der Transsubstantiation«80 überdenken. Dieses Wunder bestehe darin, dass die Umwandlung von Brot und Wein sich nicht »natürlich«, durch die Einwirkung der Seele von Jesus Christus, vollziehe, sondern durch die Worte der Weihung bzw. Konsekration. Statt sich auf »natürliche« Weise mit jedem Partikel von Brot und Wein zu vereinen, in Verbindung mit den Organen des menschlichen Körpers, bleibe die Seele auf »übernatürliche« Weise in jedem Partikel gegenwärtig. Dabei bleibe es, selbst wenn die Partikel voneinander getrennt werden. So erkläre sich auch die Möglichkeit der vollkommenen Gegenwart der Seele von Jesus Christus in verschiedenen Hostien.81 Es sei dahingestellt, ob wir diese Erklärungen wirklich als einen Grundstein der cartesianischen Physik und seiner allgemeinen Methode ansehen wollen.82 Ganz sicher bemerkenswert ist dagegen die eloquente Forderung der Nachordnung herkömmlicher Überzeugungen hinter philosophisches Wissen. Weil eine Wahrheit nicht im Widerspruch zu einer anderen Wahrheit stehen könne, sei auch kein Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft anzunehmen.83 Die Religion könne demnach nichts lehren, was sich nicht nach philosophischen Prinzipien erklären ließe. Descartes schließt göttliche Wunder damit zwar nicht aus, zieht ihnen aber Grenzen, entsprechend wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Descartes’ Annahme einer Analogie zwischen Wesensverwandlung und Verdauung ist für dieses Vorgehen charakteristisch. In der Vereinigung mit der Seele werden die Partikel von Wein und Brot vollkommen mit dem Körper assimiliert und individualisiert.84 Wird auch die Möglichkeit eines sakramentalen Wunders zugestanden, das eine substanzielle Verwandlung der realen Präsenz von Fleisch und Blut im Brot und im Wein verursacht, dienen Brot und Wein doch jedenfalls der Ernährung. Das eigentliche Wunder besteht für Descartes darin, dass die Seele Funktionen des Leibes übernimmt. Zwischen den Zeilen wird das Wunderbare der alltäglichen Wesensverwandlung durch die Verdauung unterstrichen. Erst durch den Rückbezug auf die natürliche Verdauung im Alltag wird das Wunderbare einer übernatürlichen Wesensverwandlung im Sakrament überhaupt verständlich.
80 | Ebd. 81 | Ebd. 82 | Vgl. Gonzalez, 2005, S. 210. 83 | Vgl. Descartes, Lettre à Mesland, 9.02.1645, S. 168, vgl. Epistola ad P. Dinet, 9.02.1645, 1996, S. 581. 84 | Vgl. Gonzalez, 2005, S. 219.
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Die Verdauung liefert hier ein Modell zur Erklärung des Unerklärlichen. Wäre uns die Möglichkeit der Überführung von Wein in Blut und Brot in Fleisch nicht im organischen Alltag gegeben, so bliebe uns das außerordentliche der organlosen Umwandlung verborgen: die wunderbare Beschaffenheit unserer eigenen Verdauungsorgane. Bei der Veränderung der Substanz wird im Grunde aber genau das bewirkt, was der Herrenkörper – wie die Körper gewöhnlicher Menschen – auch ohne übersinnliche Vermittlung leisten konnte: die Verdauung von Brot und Wein zu Fleisch und Blut. Insofern diese wunderbare substanzielle Verwandlung sinnlich nicht erfasst werden kann, bleibt konkret nur eine akzidentielle Verwandlung zu beobachten, nachvollziehbar im Rahmen wissenschaftlicher Prinzipien. Verdauung liefert das Modell zur Erklärung der Überführung von Speise in Fleisch. Das Wunder der sakramentalen Verwandlung wird zu einer willkommenen Zugabe zum Wunder der digestiven Verwandlung. Tritt das Wunder der Wesensverwandlung bei der Eucharistie ohne organische Einwirkung auf, wird das Wunder der organischen Verdauung dadurch nicht geschmälert. Im Gegenteil: Das Wunder natürlicher Verdauung wird zum Modell für ein Wunder übersinnlicher Gnade. Indem Descartes zur Erklärung auf natürlichen Grundlagen verweist, erleichtert er die rationale Erfassung des Wunderbaren in seiner alltäglichen Erscheinung. Der Widerspruch zwischen Glaube und Wissenschaft scheint entschärft. Sicher entsprang Descartes’ wissenschaftliches Interesse an der Verdauung nicht vornehmlich einem Willen zur Begründung theologischer Dogmen. Eher scheint die Suche nach einem angemessenen Verständnis der Zusammenhänge zwischen geistigen und leiblichen Vorgängen das Interesse an der Aufnahme und Assimilation von Speise zu motivieren. Manches, was bis dahin als unerklärlich galt, erscheint nun im Lichte aufklärerischer Wissenschaft wunderbar klar. Insbesondere das veränderte Verständnis der Verdauung durch die Entwicklung atomistischer Theorien ist bei Descartes deutlich spürbar. Dabei verweist der Hinweis auf Bezüge zwischen natürlicher und übernatürlicher Wesensverwandlung auf die grundlegende Geschichte des Abendmahls. Als Jesus von Nazareth die Identität von Brot und Wein und seinem eigenen Fleisch und Brot verkündete, geschah das in Hinblick auf einen Tabubruch: der Aufforderung zum Verzehr von Fleisch und Blut eines menschlichen Körpers. Diese Anweisung zum Tabubruch als Beweis vollkommener Huld bestätigt Descartes’ Ausführungen zur wohlwollenden Liebe. Wenn wir Personen aus Liebe verdauen, muss sich das mit dem Wunsch nach ihrer Existenz unter den bestmöglichen Bedingungen vereinbaren. Glaube mag Berge versetzen. In
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rationaler Perspektive bleibt es beim Verbot des Kannibalismus, gerade auch dann, wenn Liebe im Spiel ist.
L ebendige K unst bei D iderot Denis Diderot (* 5.10.1713 in Langres; † 31.07.1784 in Paris) beschäftigt sich mit der Verdauung unter neuem Vorzeichen. Ihn fasziniert weniger die Erkundung der Bindung zwischen Leib und Seele durch wissenschaftliche Erforschung organischer Vorgänge, als eine Erklärung der Entwicklung des Lebens im Rahmen einer materialistischen Theorie des Seienden. Laut Diderot enthalte das ganze Universum nur eine einzige Substanz. Aus ihr seien Vögel, Menschen, Musikinstrumente und alle anderen Dinge geformt.85 Doch wie kommt das Leben in diese Materie? Die Frage führte zu einem verstärkten Interesse an Verdauungsvorgängen. Die Erforschung des Übergangs von leblosen Stoffen in lebendiges Gewebe versprach Einblick in das Geheimnis des Lebens. Diderot betont insbesondere die Empfindsamkeit (»sensibilité«) als eine wesentliche Qualität der Materie:86 Auch Steine hätten Gefühle! Wer sie schneide, behaue oder zermalme, könne ihr Heulen kaum überhören.87 Durch offene Provokation lockt Diderot seine Leser auf eine Gratwanderung des scharfsinnigen Denkens zwischen Humor und Ernsthaftigkeit. Bei jedem Schritt droht der Absturz in die eine oder in die andere Richtung, aber das Ziel erscheint klar am Horizont: ein von göttlichem Wohlwollen unabhängiger Materialismus. Diderot formt Wissen nach seinem Geschmack, etwa bei Erklärungen zum Nährwert von Brei.88 Es sei fast überall üblich, Kinder mit Mischungen aus in Milch gekochtem Mehl vollzustopfen. Nichts sei schädlicher! Für die Gedärme der kleinen Wesen sei solche Speise extrem schlecht und unverdaulich, ein wahrer Kleister. Wie Kitt verstopfe er die engen Passagen, durch die sich der Chylus in das Blut ergieße und blockiere die Drüsen im Gekröse. Unfermentiertes Mehl überdecke den Magenschleim, das fördere die Einnistung von Würmern, was zu lebensgefährlichen Krankheiten führen könne. Der Grund für diese Verkettung von Gründen und Schlüssen ist laut Bachelard leicht zu erkennen: Diderot mochte keinen Brei.89
85 | Vgl. Diderot, Entretien, S. 618. 86 | Chassot, 2005, S. 467. 87 | Vgl. Diderot, Entretien, S. 611. 88 | Vgl. Diderot u. D’Alembert, Encycl., Art. »Bouille«. 89 | Vgl. Bachelard, 1999, S. 171.
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Nichtsdestoweniger spielt Brei eine zentrale Rolle, wenn Diderot mit den Unterschieden zwischen Mensch und Statue die Unterschiede zwischen Fleisch und Marmor relativiert. Sicher, die Empfindsamkeit eines Menschen sei aktiv, die Statue sei dagegen inert,90 aber unter gewissen Umständen lasse sich das ändern. Marmor könne dann aus Fleisch und Fleisch aus Marmor entstehen.91 Mit solchen Behauptungen setzt sich Diderot unter Zugzwang, denn seinen eigenen Ansprüchen gemäß muss er seine Hypothese mit zumindest einem Beispiel für die beobachtbare Aktivierung latenter Empfindsamkeit einer Statue zum Leben unterlegen. Da passte es gut, dass Diderot sich für die Arbeit des Bildhauers EtienneMaurice Falconet (* 1.12.1716 zu Vevey in der Schweiz; † 4.01.1791 in Paris) zur Lebendigkeit begeisterte. Insbesondere eine Darstellung der zum Leben erwachenden Statue des Pygmalion92 hatte Diderot enthusiastisch gelobt: Falconet sei es gelungen, aus einer einzigen Materie drei Arten von Fleisch zu befreien. Das Leben enthülle sich hier in einem leichten Lächeln...93 Zur Stützung seiner Hypothesen zum Übergang von inerter zu aktiver Materie reicht es allerdings nicht, dass die Skulptur lebendig erscheint. Der äußeren Ähnlichkeit zwischen Statue und Mensch entspricht ja keine Ähnlichkeit der »inneren Organisation«.94 Wie soll eine organlose Statue zum Leben erwachen? Ohne göttliches Wunder? Diderots Lösungsansatz scheint – eingedenk etwa der cartesianischen Schwierigkeiten mit dem Wesenswandel zwischen Brot, Wein, Fleisch und Blut – brillant: Wollen wir einen Stein zum Leben erwecken, so müssen wir ihn essen!95 Den Mythos des Pygmalion verbindet Diderot mit elegantem Witz mit einem Verdauungsmythos.96 Seine grundlegende Idee erklärt er so: Wenn wir essen, heben wir Hindernisse auf, die der aktiven Empfindsamkeit der Nahrungsmittel entgegenstehen. Wir aktivieren diese Empfindsamkeit, indem wir sie mit uns selbst assimilieren, sie zu Fleisch machen und animalisieren.97 Die Überführung von inerter in aktive Empfindsamkeit, die unserer Verdauung
90 | Vgl. Diderot, Entretien, S. 612. 91 | Vgl. ebd., S. 611. 92 | Pygmalion au pied de sa statue, à l’instant où elle s’anime (Pygmalion zu Füßen seiner Statue im Augenblick ihres Lebendig-werdens), 1761, Marmor, 83,5 cm x 48,2 cm x 26,1 cm, Louvre, Paris. 93 | Vgl. Diderot, Salon 63, S. 286. 94 | Diderot, Entretien, S. 612. 95 | Vgl. ebd. 96 | Vgl. Chassot, 2005, S. 468. 97 | Vgl. Diderot, Entretien, S. 612f.
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alltäglich gelinge, verspricht Diderot mit dem Marmor einer Statue zu bewerkstelligen; wann immer es ihm gefalle!98 D’Alembert meldet Zweifel an: Wie soll der Marmor denn bitte essbar gemacht werden? Diderot pariert mit einer schlagend einfache Lösung: Die Statue sei in einen Mörser zu legen und mit einem Stößel zu pulverisieren (der Künstler habe sicher nichts dagegen, die Statue sei ja bezahlt worden!), gut mit Humus oder Gartenerde zu durchmischen und mit Wasser zu begießen. Dann solle der Brei ein, zwei Jahre oder auch ein ganzes Jahrhundert lang faulen, Zeit spiele dabei keine Rolle. Wenn sich ein homogener Humus ergeben habe, könnten Erbsen, Bohnen, Kohlköpfe und andere Gemüse gepflanzt werden. So wie sich Pflanzen von der Erde ernährten, könne er, Diderot, sich nun mit den Pflanzen sättigen.99 Diderot scheint dabei zu unterstellen, dass alles Essbare empfindsam sein könne, wenn es nur in den Kreislauf der aktiv lebendigen Materie eingebunden werde. Für Diderot zirkulieren alle Lebewesen ineinander, jedes Tier sei mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier, jede Sache sei mehr oder weniger irgendeine Sache, Erde, Wasser, Luft und Feuer.100 Alles Essbare ist nach seiner Auffassung empfindsam, und wenn ein Mensch Steine essen kann, so müssen auch Steine empfindsam sein.101 Diderots Idee beruht auf der Vorstellung, dass sich in der Verdauung Gleiches zu Gleichem geselle.102 Die Arbeit der Verdauung bestehe in der Neutralisierung dessen, was die fleischliche Lebendigkeit verhindere. Dem Magen spricht Diderot einen eigenen Willen zu.103 Der zeige sich besonders dann, wenn er nach Nahrung verlange, die der Gaumen gerade nicht wolle. Mit dieser Idee erweist sich Diderot als Kind seiner Zeit. Die Annahme, dass Mineralien die zu pflanzlichem Wachstum notwendige Erde liefern, blieb – trotz besserer Einsicht, etwa bei Helmont – weithin verbreitet und erscheint auch in der Enzyklopädie.104 Im Rahmen eines ewigen Kreislaufs des Seienden würden die Mineralien über Pflanzen in die Tiere gelangen, aus denen sie nach dem Ableben wieder in jene Substanz zurückkehrten, aus der sie von den Pflanzen überhaupt erst abgesondert wurden. Allerdings kommt es hier
98 | Vgl. ebd. 99 | Vgl. ebd. 100 | Vgl. Diderot, Rêve, S. 636. 101 | Vgl. Chassot, 2005, S. 473. 102 | Vgl. ebd., S. 470. 103 | Vgl. Diderot, Rêve, S. 635. 104 | Vgl. Diderot u. D’Alembert, Encycl., Art. »Mineral« (D’Holbach).
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bereits zu Zweifeln, dem Artikel »Ernährung« in der Enzyklopädie zufolge gehören Mineralien jedenfalls nicht zur »Klasse der nahrhaften Körper«.105 In dem Artikel »Digestion« argumentiert Diderots Kollege Venel für ein chemisches Verständnis der Verdauung. Gegen ein rein mechanisches Modell spreche u.a. die Schlaff heit des menschlichen Magens, der die zur Zerteilung notwendige Kraft nicht aufzubringen vermöge. Auch bestehe der Speisesaft (»chyle«) nicht aus fein gemahlenem Brot- oder Fleischpulver. Die mechanischen Fähigkeiten des Magens seien für die Verdauung allenfalls von nebensächlicher Bedeutung.106 Die Verdauung wird als eine Abfolge chemischer Operationen vorgestellt, in deren Verlauf der nahrhafte bzw. der latent lebendige Teil der Materie von jenen Teilen getrennt werde, die Lebendigkeit behindern. Die Aussonderung nahrhafter Materie ähnele der chemischen Aussonderung von Harz aus Holz. Das Holz werde zerrieben oder zerstoßen, die Nahrung zerkaut. Das zerkleinerte Holz müsse dann in eine passende Lösung in einem passenden Gefäß gelegt und erhitzt werden, auf die zerkaute Nahrung wirkten die Verdauungssäfte in Magen und Därmen, die notwendige Wärme liefere der Körper.107 Diderot nimmt von dieser Sichtweise Abstand. Er versteht die Verdauung nicht als Extraktion. Der Marmor soll nicht chemisch aufgespalten, sondern vollständig assimiliert werden. Würde die Assimilation nur Auszüge des Marmors betreffen, könnte Diderot nicht leicht behaupten, dass Sensibilität eine wesentliche Qualität aller Materie sei.108 Problematisch scheint dabei, dass Diderot die Existenz ›toter‹ Materie ablehnt, aber nicht erklärt, wodurch die Entwicklung aktiver Empfindsamkeit behindert werde. Auch zum Nährwert des Marmors schweigt Diderot. Er sorgt sich nur um die Essbarkeit, Fragen zu Genießbarkeit und Verdaulichkeit stellt er sich nicht. Auch die praktische Umsetzung dürfte zu Schwierigkeiten führen. Die Pulverisierung einer ganzen Statue dürfte mit handwerklichem Geschick und entsprechendem Werkzeug machbar sein, aber wie viele Kilo MarmorstaubGemüse kann ein Mensch tatsächlich verdauen? Diderots Erklärungen zur Verdauung bildhauerischer Arbeit unterstreichen, dass die Rede von der Lebendigkeit künstlerischer Darstellung Fragen zur kunstphilosophischen Bedeutung kognitiver Verdauung impliziert. Die Grundlegung seines Beweises der universellen Empfindsamkeit auf digestive, nicht auf geistige Vorgänge provozierte bei Diderots Kritikern keinen Pro-
105 | Ebd., Art. »Ernährung« (Jaucourt). 106 | Vgl. ebd., Art. »Verdauung« (Venel). 107 | Vgl. ebd. 108 | Vgl. Chassot, 2005, S. 472.
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test.109 Innovativ ist die Idee eines Beweises der universellen Sensibilität mit den Mitteln des Magens allemal. Geschickt verquickte Diderot seine Ausführungen zu Bezügen zwischen Verdauung, Kunst und Leben mit aufgeklärtem Humor, vermutlich auch deshalb, weil ihm gewisse Ungereimtheiten seiner Position bewusst gewesen sein dürften. Die Grundzüge seiner Position zur belebten Materie vertritt Diderot nicht nur klar und deutlich, sondern auch unterhaltsam und fröhlich. Argumentative Schummeleien verbirgt Diderot hinter spritziger Rhetorik. Gerade die provokativ zur Schau gestellte Zweifelhaftigkeit der Argumentationen vermittelt den Spaß, den intelligente Philosophie verbreiten kann. Zu einer Zeit, in der akademischen Dissertationen den Gebrauch von ›Magen-Buersten‹ ausführlich und bierernst beschreiben, diskutieren und empfehlen,110 bereichert Diderot wissenschaftlichen Scharfsinn mit mondäner Fröhlichkeit, gerade eben auch in Hinblick auf die digestive Umwandlung von lebloser Speise in lebendige Materie. So berichtet er seiner Geliebten, Sophie Volland, in einem Brief von seinem Gespräch mit Suzanne d’Aine, Schwiegermutter seines Kollegen d’Holbach: »Ob meine Hündin lebt? Ich sage ihnen sie denkt; sie liebt; sie räsoniert; sie hat Geist und Urteilkraft. – Erinnern sie sich noch an die Zeit, als sie nicht größer war als eine Ratte? – Ja. – Können sie mir erklären wie sie so rundlich geworden ist? – Ja, freilich, sie hat sich vollgefressen wie sie und ich auch. – Sehr gut; und das was sie aß, war es lebendig, oder nicht? – Was für eine Frage! Nein, es war nicht lebendig. – Was? Ein unlebendiges Ding wird beim Gebrauch durch ein lebendiges Ding lebendig, verstehen sie das?« 111
Diderots Ausführungen zu Marmorstaub und lebensspendender Speise schwanken gleichfalls zwischen Gewissenhaftigkeit und Posse. Die absurde Vorstellung einer durch Verdauung zum Leben erwachenden Statue umschmückt er mit geschickter Rhetorik. Diderot lädt seine Leser ein, das Innere der Statue in ihrem eigenen Inneren nicht zum Tode, sondern zum Leben zu führen. Geträumte Lebendigkeit wird zur Grundlage materialistischer Anschauung des Lebens.112 Einerlei ob Diderot seine Träume für Wirklichkeit hielt 109 | Vgl. ebd., S. 473. 110 | Insbesondere als nützlichen Schutz vor übermäßigem Alkoholkonsum: »Saeuffst du dich nach der Mittag- oder Abendmahlzeit toll und voll, und hast du also den Magen mit starcken hitzigen Getraenke beladen, oder dich sehr erzuernet und erboßet, so ist es beßer du entledigst selben mit der Magen-Buerste, ißest eine warme Suppe, oder ein gut Bouillon darauff, und legest dich also nieder [...].« Geus, 1989, S. 16f. 111 | Diderot, Lettre à Sophie Volland, XII, 15.10.1759, S. 408. 112 | Vgl. Chassot, 2005, S. 478.
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oder nicht, die Vorstellung einer im Verdauungsschlauch zum Leben erwachenden Statue ist bestechend. Im Rahmen der aufklärerischen Annahmen von Abfolgen zwischen mineralischen, pflanzlichen und tierischen Entwicklungen scheint das ironische Bild realistisch. Die im Verdauungsbrei gelöste Statue ist Teil einer Welt, in der die Bedeutung von digestiven und geschlechtlichen Bauchorganen für die Schöpfung von Leben eine Einheit bildet. Und wie sollte es denn auch anders sein? Wie eine Schlange in der Mythologie der Alten Ägypter im Inneren einer anderen Schlange erscheint, verschachtelt Diderot Vorstellungen zur Umwandlung lebendiger Materie in Verdauungsvorgängen in einem umfassenden Kreislauf von Materie, der zur Entwicklung immer komplexerer Formen lebendiger Empfindsamkeit führt.113 Sexualität und Verdauung scheinen sich hier spielend aneinander zu begeistern. Fast wie im wirklichen Leben. Organe schaffen Bedürfnisse und Bedürfnisse schaffen Organe.114 Im Verdauungsbrei keimt Freude an der Manipulation von Materie.115 Leben und Tod begegnen sich frohsinnig, wenn sich Verdauende mit dem Verdauten zu einem »digestiven cogito« assimilieren.116 Im Geist der Träumereien Diderots scheint die Schöpfung von Leben aus leblosem Stein zum Greifen nahe.
L achend verdauen mit K ant Immanuel Kant (* 22.04.1724 in Königsberg; † 12.02.1804 ebenda) nennt den Magen den großmächtigsten Herrscher im animalischen Reich.117 Das erinnert an Platons Warnungen vor dem wilden Tier im Unterleib. Kant verleiht der herrschaftlichen Großmacht im Unterleib keine rationale Kompetenz, sondern unterstreicht deren sensible Empfänglichkeit: »Alle Wirkungen der Sinne scheinen sich aufs Eingeweide zu erstrecken.«118 Sensible Empfänglichkeit kommt auch dann ins Spiel, wenn Kant die Wirkung von Geruch, Geschmack, Tönen und farbigem Licht auf den Bauch erklärt, indem er die Verdauungsorgane mit Musikinstrumenten vergleicht, die, »weil sie jederzeit mit Luft erfüllet sind, im Körper das einzige sind, was ge-
113 | Vgl. ebd., S. 479. 114 | Vgl. Diderot, Rêve, S. 635. 115 | Vgl. Chassot, 2005, S. 481. 116 | Ebd. 117 | Vgl. Kant, Handschriftlicher Nachlass, Zweiter Anhang. Medicin (HN 2. Anh. Med.), AA XV, S. 956. 118 | Kant, Handschriftlicher Nachlass, Reflexionen zur Anthropologie (HN Refl. zur Anthr.), AA XV, S. 111.
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spannten Saiten oder trommeln verglichen werden kann.«119 Anlass für diesen Vergleich lieferte ein Krankenbericht, den Tod eines Jungens betreffend, den Würmer in seinem Darm verursachten.120 Schenken wir dem Bericht Glauben, so linderte Musik das Leiden des Sterbenden. Kant inspiriert der Bericht zu einem seltsam anmutenden Gedankenausflug, vom Darmverschluss über Mittel zur Wurmbetäubung hin zum zwerchfellerschütternden Lachen: »In der Naheit des Ilei und der dicken Eingeweide fand man nach seinem Tode 7 Würmer von 1/3 Arms Länge, die durch ihre irritation inflammation hervor gebracht hatten. Hie hat Music die Würmer betäubt. (Wie wenn man ihn genothigt hätte, einen Stok zwischen den Zähnen zu nehmen und an das instrument zu setzen.) Das Zwergfell wird durch Lachen und durch dieses Kützeln der Muthwille zum Spaßen bewegt.« 121
Lachen spielt in Kants Gedanken zur Verdauung eine positive und tragende Rolle.122 Seine Einlassungen in die Zusammenhänge zwischen Denk- und Verdauungsgeschäften erlauben Einblicke in ein Problem, das den Aufklärer zwischen privatem und beruflichem Alltag beschäftigte, weniger im Rahmen der Vernunft-Kritik als in seinen anthropologischen Texten: der Umgang mit der Verdauung. Kant betrachtet die Verdauung mitunter aus dem Blickwinkel fröhlicher Spekulation. So fragt er im Zusammenhang mit Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit, ob wir nicht über ein gewisses Quantum von Verdauungskraft verfügen, das wir uns umso länger erhalten, je weniger wir es gebrauchen.123 Sind hartes Wasser und Luftelektrizität der Verdauung zuträglich?124 Sind Träume eine zweckmäßige Anordnung der Natur, um die Lebensorgane beim Abspannen äußerer Körperbewegungen vermittelst geschäftiger Einbildungskraft zu bewegen und lässt sich so die Rede von der heilsamen Wirkung ermüdender Unruhe der Träume erklären, insofern »sie auch bei überfülltem Magen, wo diese Bewegung um desto nötiger ist, im Nachtschlafe gemeiniglich mit desto mehr Lebhaftigkeit spielt«?125 119 | Ebd., S. 112f. 120 | Der von Richard de Hautersierck, einem französischer Militärarzt im Jahre 1772 veröffentlichte Bericht wurde auch von Foucault in seinen Überlegungen zur Geburt der Klinik aufgegriffen. 121 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 113. 122 | Günter Schulte legt nahe, dass sich die Absichten der Verdauung und der kantischen Philosophie gerade dort treffen, wo wir über die reine Vernunft lachen. Schulte, 1991, S.136. 123 | Kant, Handschriftlicher Nachlass: Logik, (HN Logik), AA XVI., 48‘/2613, S. 439. 124 | Vgl. Kant, HN 2. Anh. Med., AA XV, S.112. 125 | Kant, Kritik der Urteilskraft, (KdU), AA V, S. 38.
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Sind solche Fragen nur unwesentliches Beiwerk der Kant’schen Philosophie oder ist der sachdienliche Gebrauch digestiver Organe nicht doch ein maßgebliches Anliegen des vernünftigen Denkens? Können wir die selbstverschuldete Unmündigkeit bauchlos überwinden oder ist Bauchhaftigkeit nicht vielmehr eine Bedingung für die mutige Entschließung, ein Verständnis unserer selbst zu erlangen und bewusst zu erleben? Digere aude? Spaß beiseite: Das philosophische Interesse an guter Verdauung spiegelt sich recht klar in Kants alltäglichen Speisegewohnheiten. Da kommt der Spaß allerdings sofort wieder ins Spiel, denn bekanntlich befürwortete Kant verdauungsförderndes Lachen zum Ausklang jeder längeren Mahlzeit nachdrücklich: Lachen sei den Affekten zuträglich, »durch welche die Natur die Gesundheit mechanisch befördert«,126 weil es mit Schwingungen der zur Verdauung gehörenden Muskeln verbunden sei.127 Kant hielt für gegeben, dass die stoßweise Ausatmung von Luft das Gefühl der Lebenskraft durch die heilsame Bewegung des Zwerchfells stärkt.128 Nach seiner Einschätzung fördert es die Verdauung weit besser als die Weisheit des Arztes. Lachend sollen wir uns in ein wohltuendes Wechselbad aus Anspannung und Entspannung begeben, das als balsamischer Affekt die heilsame Bewegung des Zwerchfells anregt, zur wohligen Unterstützung der Verdauungsvorgänge.129 Kant verknüpft die verdauungsförderliche Wirkung des Lachens also mit organischen Gegebenheiten. Dabei scheint es ihm einerlei, ob uns gedungene 126 | Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, (Anthr.), AA VII, S. 261. 127 | Die Annahme von Wechselwirkungen zwischen Lachen und Verdauung findet sich auch in Vieths Versuch einer Encyclopedie der Leibesübungen von 1794: »Die Bewegungen der Brust durch Einathmen und Ausathmen bewirken jedesmal auch eine Bewegung im Unterleibe; Magen, Darmkanal u. s. w. werden durch Einhalten des Athems vom Zwergfell hinunter gepresst, und steigen bey Nachlassung desselben wieder in die Höhe. Das Letztere wird noch mehr durch die Bauchmuskeln befördert, durch deren Wirkung die Bauchhöhle von den Seiten her verengert wird. Das Lachen, welches in einer Art von krampfhafter Erschütterung des Zwergfells besteht, bewirkt eine schnell abwechselnde Bewegung der unteren Eingeweide, daher die medicinische Gymnastik davon mit Nutzen man? in manchen Fällen Gebrauch machen kann.« Vieth, 1794, S. 72. Das Blasen von Musikinstrumenten habe eine ähnlich heilsame Wirkung auf Magen und Gedärme. Vgl. ebd., S. 71. In den Ausführungen von Jahn und Eiselen zur Deutschen Turnkunst ist zwar von Lachen nicht mehr die Rede, Übungen zur Stärkung der Bauchmuskeln werden aber angeraten, auch von Peter Clias, der in seinem Gymnastikbuch für Mädchen von 1829 hinreichende Bewegung für gute Verdauung, behagliches Wärmegefühl und geistige Munterkeit empfiehlt. Vgl. Jahn u. Eiselen, 1816, S. 35; Clias, 1829, S. XIf. 128 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 261f. 129 | Vgl. Schroeder 2002, S. 105.
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Possenreißer oder durchtriebene Schälke erheitern. Lachen sei ja immer mit Schwingungen der zur Verdauung gehörenden Muskeln verbunden. Gerade auch die Albernheit einer fehlgreifenden Urteilskraft könne eben diese Wirkung haben.130 Nichtsdestoweniger beachtet er sozial-psychologische Umstände gelingender Verdauung. Dabei stellt er fest, dass Zorn wohl die Verdauung anrege, dabei aber störend auf das Zusammenleben wirke. Als Beispiel nennt er eine Hausfrau, deren einzige »innigliche Motion« vom Ausschelten der Kinder und des Gesindes herrühre. Der Verdauungspflege durch Zornausbrüche steht laut Kant ein besorglicher Widerstand der betroffenen Hausgenossen entgegen, weshalb von der Stärkung der Verdauung durch Zorn entschieden abzuraten sei.131 Auch vor hämischem, mit Bitterkeit verbundenem Lachen warnt Kant ausdrücklich.132 Gutmütiges Lachen sei beliebter und gedeihlicher für die Bewegung von Zwerchfell und Eingeweiden,133 günstig für den Magen und dem körperlichen Wohlbefinden besonders dann zuträglich, wenn es laut ertöne.134 Kant deduziert seine Einsichten in die lachtherapeutische Verdauungspflege aus einem Amalgam persönlicher Vorlieben und medizinischer Einsicht. Das ergibt sich aus seinen Erklärungen zur Tischgesellschaft – ästhetisch vereinigt aus lauter Männern von Geschmack – deren Zweck er weniger in leiblicher Befriedigung, als im geselligen Vergnügen sieht.135 Zwischen dem animalischen Ursprung des Lachens und dem geistigen Gefühl der Achtung für moralische Ideen sieht Kant keinen zwingenden Widerspruch.136 Es wäre müßig zu spekulieren, wie weit die aggressiven Momente des Lachens bei Kant’schen Tafelvergnügungen hinter gemeinschaftsfördernde Wirkungen zurücktreten.137 Kant stellt jedenfalls die positive Wirkung des Lachens auf die 130 | Vgl. Kant, Anthr., S. 261f. 131 | Ebd., S. 261. 132 | Vgl. ebd. 133 | Vgl. ebd. 134 | Vgl. ebd., S. 281. 135 | Vgl. ebd., S. 278. 136 | Vgl. ebd., S. 334. 137 | Als Instinktrelikt aus der Phase der menschlichen Phylogenese, in der das Fletschen der Zähne eine spezifische aggressive Drohgebärde darstellte, war das Lachen ursprünglich aggressiv, verbunden mit Gefühlen der Überlegenheit und der Herabsetzung des Respektgebietenden zum Lächerlichen. Vgl. Kallen, 1911; Ludovici, 1932; Eibl-Eibesfeldt, 1987; Lorenz, 1963; Titze, 1988. Das lustvolle Lachen überlegener Angreifer motiviert die Angst davor, ausgelacht zu werden. Vgl. Titze, 1988. Noch in der Antike erscheint das Lachen als Zeichen für brutalen Triumph, für Verachtung und für Fußtritte gegen Besiegte. Vgl. Gregory, 1924, zitiert n. Titze, 1988. Koestler zählt im Alten Testament neunundzwanzig Hinweise auf Lachen, von denen dreizehn mit
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Verdauung in den Vordergrund. Den Grund für das Vergnügen an Gedanken, die im Grunde nichts vorstellen, vermutet er in gesundheitsfördernden Bewegungen, nicht in Vorgängen des Gemüts.138 »[...] so endigt die Mahlzeit mit Lachen; welches, wenn es laut und gutmüthig ist, die Natur durch Bewegung des Zwergfells und der Eingeweide ganz eigentlich für den Magen zur Verdauung als zum körperlichen Wohlbefinden bestimmt hat; indessen dass die Theilnehmer am Gastmahl, Wunder wie viel Geistescultur in einer Absicht der Natur zu finden wähnen.« 139
Die Versetzung des Gemüts korrespondiere mit der wechselnden Anspannung und Loslassung der »elastischen Theile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteile«.140 Mit Epikur sei einzuräumen, dass »alles Vergnügen, wenn es gleich durch Begriffe veranlasst wird, ästhetische Ideen zu erwecken, animalische, d. i. körperliche, Empfindung sei«.141 Unsere Gedanken seien mit der Bewegung in den Körperorganen harmonisch verbunden. Das tue weder unserer Achtung für moralische Ideen noch dem Geschmack Abbruch. Schenken wir Kant Glauben, so dienten die in seinem Haushalt servierten Gerichte weniger der Stillung des Hungers als dem Zusammenhalt der Tischgesellschaft.142 Das Speisen solle Unterredungen fördern, die Tischgesellschaft sei von der sprachlosen Gesellschaft abzugrenzen, die auf Musik, Tanz und Spiel gründe.143 Mit preußischer Um- und Vorsicht unterscheidet Kant drei Entwicklungsstufen gastrosophischer Unterredung:144
Geringschätzung, Hohn, Spott oder Verachtung verbunden sind und nur zwei »aus wirklich fröhlichem Herzen« kommen. Koestler, 1961, S. 45. Platon erkennt in der Lust an den Übeln anderer Menschen eine Quelle des Lachens. Vgl. Platon, Philebos, 50a, S. 65. Im Verlauf der Kulturentwicklung wurden die aggressiven Aspekte des Lachens entschärft. Im Lachen kommen vielschichtige Mechanismen zur Wirkung, deren positive Wirkungen besonders in der Verhaltenstherapie genutzt werden, wo Lachen zur kognitiven Umstrukturierung von Beziehungsgestaltungen zum Einsatz kommt. Vgl. Dumbs, 2002. Von Verknüpfungen zwischen psychologischen und digestiven Effekten wird besonders im Abschnitt 4 dieser Arbeit die Rede sein. 138 | Vgl. Kant, KdU, AA V, S. 334. 139 | Kant, Anthr., AA VII, S. 281. 140 | Kant, KdU, AA V, S. 334. 141 | Ebd. S. 334f. 142 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 280. 143 | Vgl. ebd., S. 277. 144 | Vgl. ebd., S. 280.
Freuden »Bei einer vollen Tafel [...] geht die Unterredung gewöhnlich durch drei Stufen: 1) Erzählen, 2) Räsonniren und 3) Scherzen. - A. Die Neuigkeiten des Tages, zuerst einheimische, dann auch auswärtige, durch Privatbriefe und Zeitungen eingelaufene. - B. Wenn dieser erste Appetit befriedigt ist, so wird die Gesellschaft schon lebhafter; denn weil beim Vernünfteln Verschiedenheit der Beurtheilung über ein und dasselbe auf die Bahn gebrachte Object schwerlich zu vermeiden ist, [...] so erhebt sich ein Streit, der den Appetit für Schüssel und Bouteille rege und [...] gedeihlich macht. C. Weil aber das Vernünfteln immer eine Art von Arbeit und Kraftanstrengung ist [...] so fällt die Unterredung natürlicherweise auf das bloße Spiel des Witzes [...] und so endigt die Mahlzeit mit Lachen [...].« 145
Die organische Lust an Nahrung verschränkt Kant also mit Formen des gesitteten Austauschs. Nichtsdestoweniger lassen Kants Bemerkungen – trotz verschiedener vielversprechender Anknüpfungspunkte – wenig Raum zur Grundlegung einer systematischen Kritik der Verdauung. Der beim Geschmacksurteil geforderte Abstand zur Sinnlichkeit der affizierenden Objekte unterläuft die Möglichkeit der Eingliederung des Verdauungssinns in den Bereich der rationalen Erkenntnisvermögen, denn unsere Verdauung kann uns so stark, direkt und unausweichlich affizieren, dass wir keine klaren Gedanken mehr fassen können. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn in der Regel sind die von der Verdauung ausgehenden Reize so sanft und zartfühlig, dass wir sie schlichtweg vergessen. Kant bestätigt selbst, dass gute Verdauung nahezu unbemerkt verläuft: »[W]er seinen Magen je gefühlt hat, der hat schon keinen recht guten Magen«.146 Nun ist es aber fraglich, ob ein satt-zufriedener Bauch mehr zur geistigen Erbauung beitragen kann als ein hungrig-revoltierender. Laut Kant macht die Bewegung der Eingeweide das ganze, für so fein und geistvoll gepriesene Vergnügen einer aufgeweckten Gesellschaft aus.147 Die Harmonie von Tönen oder Witzeinfälle seien nur ein notwendiges Vehikel zur Bewegung von Eingeweiden und Zwerchfell. Aber lassen sich aus der Funktion unserer Verdauung Schlüsse auf unser Denken ziehen? Ist der Einfluss der Verdauung auf unser Denken objektiv bestimmbar? Kant spricht von einer »vita propria« der Eingeweide, diese würden, »wenn sie noch warm aus dem Thier gerissen und zerhauen werden, als Würmer kriechen, deren Arbeit man nicht bloß fühlen, sondern sogar hören kann.«148 Aber inwiefern lassen sich auf solcher Grundlage verallgemeinerungsfähige Urteile fällen? 145 | Ebd., S. 281. 146 | Kant, HN 2. Anh. Med, AA XV, S. 956. 147 | Vgl. Kant, KdU, AA V, S. 332 148 | Kant, Der Streit der Fakultäten, (SF), AA VII, S. 107. Offen bleibt, welchem Tier hier die Därme warm herauszureißen sind, damit sie wie Würmer kriechen können.
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In anthropologischer Hinsicht motivieren die Vorgänge der Verdauung bestimmte Verhaltensweisen und Einsichten. Kant bemerkt, dass die Gebrechen der Erkenntniskraft Krankheiten des Kopfes genannt werden können, so wie wir das Verderben des Willens eine Krankheit des Herzens nennen. Die Wurzel der Erscheinungen im Gemüte, die eigentlich wohl im Körper läge, hätte ihren Hauptsitz aber mehr in den Verdauungsteilen als im Gehirn.149 Die Annahme, dass Störungen des Gemüts den Seelenkräften entspringen, sei lieblos und beruhe auf einer Verwechslung zwischen Ursache und Wirkung. Wie soll der Zusammenhang von Gedanken ohne Bezug auf die Verdauung bestimmt werden, ästhetisch oder wissenschaftlich, wenn sich dieser Zusammenhang unter dem Einfluss der Verdauung verändert? Den Einfluss der Verdauung auf unser Gemüt können wir sinnlich erfahren und gedanklich fassen.150 Den Einfluss der Verdauung auf das Denken thematisiert Kant in Hinblick auf krankheitsbedingte Erscheinungen. Junge, gesunde Menschen können sich bei der Bestimmung von Genuss, Zeitpunkt und Menge ihrer Speisen von ihrem Appetit leiten lassen.151 Mit zunehmendem Alter lege uns die Verdauung besondere Gebote auf: Ältere Menschen sollten ihren kulinarischen Alltag nach diätischen Grundsätzen ausrichten, die dem langen Leben günstig seien.152 Wie sie es einen Tag gehalten haben, so sollen sie es alle Tage halten und nur bei mangelndem Appetit die gehörigen Ausnahmen machen. Seine Vorstellungen zur Veränderung der Speisegewohnheiten mit zunehmendem Alter bezieht Kant unmittelbar auf Veränderungen der Verdauungskraft. Ein junger Mann könne pro Tag leichter zwei Mahlzeiten verdauen als ein alter: Während der eine seine Verdauung schon völlig verrichtet habe, gelte es zu vermeiden, dass der andere »in der Hälfte mit einer neuen belästigt« werde.153
149 | Vgl. Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes, (VKK), AA II, S. 270 150 | In einer Bemerkung zur Deduktion der Verstandesbegriffe weist Volker Gerhardt darauf hin, dass die lebendige, innere Kraft des Geistes, anders als Magen oder Gehirn, keinen lokalisierbaren Sitz im Inneren eines Körpers habe. Vgl. Gerhardt, 2002, S. 144. Warum das so ist, verstehen wir leicht, wenn wir das Gehirn – Joachim Schulte unterstreicht das unter Berufung auf Wittgenstein, s.u. – nicht naiv als einzigen Ort des Denkens und den Magen nicht als einzigen Ort der Verdauung ansehen. Wir brauchen nicht die letzten Gründe des Zusammenspiels zwischen geistiger und organischer Verdauung im Geflecht begrifflicher und sinnlicher Bezüge zwischen Gehirn, Bauch und Welt zu erfassen, um das Zusammenspiel zu erspüren und sprachlich zu vermitteln, dass der Geist ohne Verdauung krankt. Auch hier gibt es eine Praxis, die von der Theorie nicht restlos eingeholt werden muss. Vgl. Schulte 1989, S. 160. 151 | Vgl. Kant, SF, AA VII, S. 107. 152 | Vgl. ebd. 153 | Kant, HN 2. Anh. Med., AA XV, S. 958.
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Damit wird die Verdauung zum Anhaltspunkt bei der zeitlichen Einteilung des Alltags: »Es ist oft gefragt worden: ob, gleich wie in 24 Stunden nur Ein Schlaf, so auch in eben so viel Stunden nur Eine Mahlzeit nach diätetischer Regel verwilligt werden könne, oder ob es nicht besser (gesunder) sei, dem Appetit am Mittagstische etwas abzubrechen, um dafür auch zu Nacht essen zu können. Zeitkürzender ist freilich das letztere. – Das letztere halte ich auch in den sogenannten besten Lebensjahren (dem Mittelalter) für zuträglicher; das erstere aber im späteren Alter. Denn da das Stadium für die Operation der Gedärme zum Behuf der Verdauung im Alter ohne Zweifel langsamer abläuft, als in jüngeren Jahren, so kann man glauben, dass ein neues Pensum (in einer Abendmahlzeit) der Natur aufzugeben, indessen dass das erstere Stadium der Verdauung noch nicht abgelaufen ist, der Gesundheit nachtheilig werden müsse. – Auf solche Weise kann man den Anreiz zum Abendessen nach einer hinreichenden Sättigung des Mittags für ein krankhaftes Gefühl halten, dessen man durch einen festen Vorsatz so Meister werden kann, dass auch die Anwandelung desselben nachgerade nicht mehr verspürt wird.« 154
Kant ausführliche Ratschläge zur Anpassung des alltäglichen Lebens an die Entwicklung unserer Verdauung sind sicher keine Postulate reiner Vernunft, sie unterstreichen jedoch eine pragmatische Notwendigkeit zur Regulierung der Verdauung: Wer vernünftig denken will, kommt an Gedanken zur Verdauung kaum vorbei. Was wir aus diesen Gedanken machen, steht auf einem anderen Blatt. Bei der Suche nach der passenden Diät beim Essen und Trinken empfiehlt Kant »den Wink der Natur in Ansehung des Appetits nicht gering zu achten.«155 Wer nach einer kleinen Pause merke, dass er nichts mehr bedürfe, sollte nicht weiteressen. Das gilt laut Kant auch für Geistesarbeiten. Wenn der Kopf sich weigere, mit gewissen Arbeiten fortzufahren, so könne er doch mit etwas anderem beschäftigt werden. Hierauf zu achten sei ein Stück der »Diätetik des Denkens«.156 Die Vorstellung von einer Diätetik des Denkens unterstreicht, dass die Abtrennung zwischen den Strukturen reiner Vernunft und den Strukturen der alltäglichen Gewohnheiten bei Kant unvollkommen bleibt. Wir müssen das nicht als Fehler verstehen, sondern können es auch als ein angemessenes Zugeständnis an die empirischen Bedingungen begreifen, in denen sich die Vorstellung reiner Vernunft entwickelt. Die Moll-Akkorde in Kants Loblied auf die Verdauung und das Lachen ergeben sich aus Überlegungen zur Verhinderung von Traurigkeit. Hypochondrie galt zu Zeiten Kants unter Gelehrten als eine Art Berufsmode, ähnlich 154 | Kant, SF, AA VII, S. 108. 155 | Kant, HN Anthr., AA XV, Refl. zur Anthr., S. 491. 156 | Ebd.
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den heutigen Neurosen.157 Die Furcht vor der »Gelehrten-« bzw. der »Grillenkrankheit« gilt als wichtiger Beweggrund der Kant’schen Überlegungen zur Verdauung.158 Chronische Magenbeschwerden, Verstopfungen und benebelte Köpfe beobachtete er besonders bei Leuten von sitzender Lebensweise.159 Derartige Krankheiten würden auftreten, wenn Mahlzeiten ohne Gesellschaft aufgenommen werden und Bücherlesen oder Nachdenken das Speisen begleite.160 Die traditionelle Bindung zwischen geistiger und körperlicher Nahrung erscheint erneut: Denken sei das Nahrungsmittel der Gelehrten,161 einerlei ob es die Form des Lernens oder Bücherlesens, des Ausdenkens, Nachsinnens oder Erfindens annehme, ohne dieses Nahrungsmittel könne ein Gelehrter nicht leben.162 Kant unterstreicht dabei, dass die Diätetik des Denkens auch den Körper betrifft. Wer sich beim Essen oder Gehen angestrengt mit einem bestimmten Gedanken beschäftige, gefährde seine Gesundheit. Wie die gleichzeitige Belästigung von Kopf und Füßen Schwindel hervorrufe, so fördere die gleichzeitige Belästigung von Kopf und Magen die Hypochondrie.163 Kant attestiert sich selbst »eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruss des Lebens grenzte.«164 Hypochondrie und Verdauungsstörungen bedingen sich bei Kant. Blähende Speisen, die nach der Mahlzeit zu Beklommenheit führen, seien der Hypochon-drie förderlich.165 Zum Glück verschwänden die durch sie verursachten Einbildungen von »allerlei bedenklichen äußeren Begegnissen und Sorgen« mit dem Abklingen der Blähungen nach vollendeter Verdauung. Vorbeugende Abhilfe verspricht laut Kant ein »allgemein gefasster und fester Vorsatz der Diät im Denken«. Die mechanische Beschäftigung des Magens oder der Füße solle mit geistiger Tätigkeit wechseln. Während der Zeit der Restauration solle das absichtliche Denken gehemmt und dem freien Spiel der Einbildungskraft Lauf gelassen werden.166 Aber betrieb Kant tatsächlich »die Philosophie eines Hypochonders, der das Lachen – nach Vorschrift des Arztes – als Mittel zur guten Verdauung am meisten schätzt«?167 Er selbst hätte seine psychologische und physische 157 | Vgl. Schroeder, 2002, S. 168. 158 | Ebd. S. 168; Kant, Anthr., AA VII, S. 212 159 | Vgl. Vorländer, 1924, S. 130; dazu Schroeder, 2002, S. 105. 160 | Vgl. Kant, SF, AA VII, S. 109. 161 | Vgl. ebd. 162 | Vgl. ebd. 163 | Vgl. ebd. 164 | Ebd., S. 104. 165 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 212. 166 | Kant, SF, AA VII, S. 109. 167 | Schasler, 1872, zitiert nach Schroeder, 2002, S. 54.
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Gesundheit für die Stichhaltigkeit seiner Gedanken wohl nicht für entscheidend gehalten, zumindest sperrte er sich nachdrücklich gegen ärztliche Bevormundung der Philosophie, obschon die Gründe medizinischer Belehrungen wohl mit kritischer Bedenklichkeit öffentlich geprüft und dem rechtskräftigen Spruch der Vernunft unterworfen werden sollten.168 Seine Ausführungen zur Tischgemeinschaft erscheinen als ein gesunder und vernünftiger Mittelweg zwischen gesunder und freudvoller Nahrungsaufnahme durch Körper und Geist. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant »den ganzen inneren Gliederbau« der reinen spekulativen Vernunft in Analogie zu den Gliedern eines organischen Körpers vor.169 Aber ist die Entfaltung der Vernunft tatsächlich in Begriffen zu verstehen, die sich analog zu jenen der physiologischen Verdauung verhalten? Laut Kant fügt sich unsere Erkenntnis unter der Regierung der Vernunft unter die Idee eines Vernunftbegriffs von der Form eines gegliederten Ganzen, das innerlich wachse (»per intus susceptionem«) wie ein tierischer Körper, der dabei zwar keine neuen Glieder hervorbringe, aber die vorhandenen Glieder ohne Veränderung der Proportion stärke und ertüchtige.170 Sicher setzt solches Wachstum Verdauung voraus. Nichtsdestoweniger scheint es fraglich, wie weit die Analogie zwischen organischem Wachstum und der Entwicklung der Vernunft wirklich trägt. Sicher enthält die reine spekulative Vernunft laut Kant einen wahren Gliederbau, in dem »alles Organ ist, alles um eines willen und ein jedes Einzelne um aller willen« und wo sich jede noch so kleine Gebrechlichkeit unausbleiblich verraten muss.171 Aber welche Funktion haben denn die Verdauungsorgane im Gliederbau der reinen Vernunft? Tatsächlich bereitet Kant der Umgang mit dem sinnlichen Erleben mancher Organe erhebliche Schwierigkeiten, insbesondere dann, wenn er das ausgeglichene Spiel der Erkenntniskräfte gefährdet, das er seinem ästhetischen Geschmacksurteil zugrunde legt. Kant verbindet Geschmack mit Organen: der Zunge, des Gaumens und des Schlundes, und ordnet ihn in eine Reihe mit anderen Sinnesorganen ein: Gesicht (»visus«), Gehör (»auditus«) und Tastgefühl (»tactus«) als obere, mechanische, »mehr objektive« Sinne der oberflächlichen Wahrnehmung unterscheidet er von Geschmack (»gustus«) und Geruch (»olfactus«) als untere, chemische, »mehr subjektive« Sinne des Genusses innigster Einnahme.172 Für Überlegungen zur Verdauung ist die Unterscheidung zwischen eher objekti-
168 | Vgl. Kant, SF, AA VII, S. 32f. 169 | Kant, KrV, AA III, S. 15. 170 | Ebd., S. 539. 171 | Ebd., S. 22; KdU, AA V, S. 373; Opus postumum (HN OP), AA XXI, 5.VIII.3, S. 558. 172 | Kant, Anthr., AA VII, S. 157; HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 103.
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ven und subjektiven Sinnen insofern bedeutungsvoll, als sie Kants Überlegungen zu abstoßenden Erfahrungen kennzeichnet: »Schmutz scheint nicht sowohl durch das Widrige fürs Auge und die Zunge, als vielmehr durch den davon zu vermuthenden Gestank Ekel zu erwecken. Denn die Einnehmung durch den Geruch (in die Lungen) ist noch inniglicher, als die durch die einsaugenden Gefäße des Mundes oder des Schlundes.« 173
Die Gründe für Kants kritische Haltung gegenüber dem Geschmack finden sich in seinen Überlegungen zum Geruch, diesem undankbarsten und entbehrlichsten Sinn.174 Die grundlegende Bedeutung des Geruchs erklärt Kant im Zusammenhang mit der Verdauung. Geruch lade den Hungrigen zum Genuss ein, so wie er den Satten abweise.175 Er gebe einen Vorgeschmack zur Wahl zuträglicher Nahrung und warne uns vor Fäulnis.176 Dieser Nutzen sei allerdings relativ. Ursprünglich hätte der Mensch seine Kost instinktiv ihrem Geruch entsprechend gewählt, seine Augen dann aber später auch auf reizend anzuschauende Dinge geworfen, deren Genuss durch den Geruch nicht empfohlen wurde: »Hier fand er eine Gelegenheit zu vernünfteln und einen Schluss der Vernunft der Leitung des Instinkts vorzuziehen.«177 Bei der Unterscheidung von gesunder und ungesunder Luft käme diesem »rest der alten thierheit [sic]« auch gegenwärtig eine Funktion zu.178 Als »negative Bindung des Wohlseins« schütze er uns insbesondere vor schädlichem Ofendunst und vor dem Gestank der Moräste und Äser.179 Es lohne sich nicht, den Geruchssinn zu kultivieren oder zu verfeinern. Besonders an »volkreichern Örtern« verschaffe er öfter Ekel als Annehmlichkeit. Um zu vergnügen, müssten Gerüche flüchtig und vorübergehend sein.180 Von der alten Einsicht, dass die Nase mit Mitteilungen über Wohlgerüche an Gehirn und Magen den ›ganzen Menschen‹ erquicken könne, scheint Kant wenig zu halten.181 Auch von seiner oben angeführten Bemerkung zum gleichberechtigten Nutzen der Organe im Gliederbau der reinen Vernunft ist nicht viel zu spüren. 173 | Kant, Anthr., AA VII, S. 158. 174 | Vgl. Kant, Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie (HN Colleg. Anthr.), AA XV, S. 804. 175 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 159. 176 | Vgl. Kant, HN Bem. GSE, AA XX, 83, S.137. 177 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 646. 178 | Kant, HN Colleg. Anthr., AA XV, S. 804. 179 | Kant, Anthr., AA VII, S. 158f. 180 | Ebd. 181 | Vgl. Chrysostomus, Homilien ü. d. II. Brief an Timotheus, Homilie 1, III.
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Den organischen Geschmack behandelt Kant auf ähnliche Weise wie den Geruch. Er zeige »das Verhältnis des genossenen zum ganzen Speisecanal [sic]«, bringe dem Körper sonst aber wenig Nutzen.182 »Mit dem empfindsamsten Werkzeuge« des Geschmacks werde entschieden, was in Magen und Darm gelangen solle.183 Das sei »mit der Annehmlichkeit in diesem Genusse, als einer ziemlich sicheren Vorhersagung der letzteren, wohl verbunden.« Das gelte jedenfalls dann, wenn »Üppigkeit und Schwelgerei den Sinn nur nicht verkünstelt« hätten. Der Geschmack stärke die Gesundheit, der Appetit bei Kranken falle gewöhnlich auf das, was »ihnen auch gemeiniglich gleich einer Arznei gedeihlich« sei.184 »Daher kommt es, dass der Ekel, ein Anreiz, sich des Genossenen durch den kürzesten Weg des Speisecanals zu entledigen (sich zu erbrechen), als eine so starke Vitalempfindung den Menschen beigegeben worden, weil jene innigliche Einnehmung dem Thier gefährlich werden kann.«185 Der Geschmack hätte gegenüber dem Geruch zumindest den Vorzug, die Geselligkeit im Genießen zu fördern.186 Als organische Funktion folge der sinnliche Geschmack Regeln, die zum einen bloß für uns selbst, zum anderen aber auch als für jedermann geltend vorgestellt werden könnten. Der Unterscheidungsgeschmack könne allgemeine Übereinstimmung beanspruchen, etwa wenn wir objektiv entscheiden, ob etwas süß oder bitter sei. Der Wohlgeschmack, der beurteile, ob uns eine Speise angenehm ist, sei dagegen subjektiv.187 Er sei durch empirische Regeln bestimmt und könne niemals zu allgemeingültigen Urteilen führen, da Lust oder Unlust nicht zum Erkenntnisvermögen in Ansehung äußerer Gegenstände gehören. Kant verweist dabei u.a. auf kulturelle Gewohnheiten.188 Zwar könne der Wohlgeschmack, als ›vernünftelnder Geschmack‹ für jedermann gelten, wenn er Regeln a priori folge, doch dabei komme die Vernunft insgeheim mit ins Spiel, obwohl das Urteil nicht aus Vernunftprinzipien abgeleitet und/oder bewiesen werden könne.189 Der vernünftelnde Geschmack wäre demnach dann allgemein verbindlich, wenn er das als genießbar auszeichnet, was jeder Verdauung wohl tut, wenn also die ›objektiven‹ Gegebenheiten der Verdauung dem Geschmack Regeln zur Bestimmung dessen geben, was wir mit Lust essen wollen und sollen. Der vernünftelnde Geschmack und die sinnliche Lust können dabei durchaus in Widerspruch geraten, zum Beispiel dann, 182 | Kant, HN Colleg. Anthr., AA XV, S. 804. 183 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 106. 184 | Kant, Anthr., AA VII, S. 159. 185 | Ebd., S. 157. 186 | Vgl. ebd., S. 159. 187 | Vgl. ebd., S. 239. 188 | Vgl. ebd., S. 240. 189 | Vgl. ebd.
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wenn es um die Bestimmung der Menge von Zucker geht, die Menschen ihrer Verdauung in einer bestimmten Zeitspanne zumuten sollten. Kants Unterscheidung von objektiven und mehr subjektiven Sinnen bleibt bei der weiteren Gratwanderung zwischen universellen und individuellen Ansprüchen bedeutungsvoll. Sie motiviert die Beschränkung der Geschmacksurteile auf Gefühl, Gesicht und Gehör. Nach der Faustregel: ›je größer der Abstand zwischen affizierendem Objekt und affiziertem Organ desto besser‹, verbannt Kant alle Sinneseindrücke aus dem Geltungsbereich der ästhetischen Geschmacksurteile, die den Abstand zwischen den Erscheinungen und dem Subjekt gefährden. Kant: »Man ist gewöhnlich voll von Empfindung, wenn man leer an Gedanken ist.«190 Subjektives Erleben ist suspekt, ästhetische Universalität beansprucht Kant nur für die »mehr objektiven« Sinne. Kant’sche Geschmacksurteile beziehen sich deshalb nicht auf das, was wir gewöhnlich als Geschmack bezeichnen, also die oberen Eindrücke des sinnlichen Geschmacks (s.o.), weil sie eine unmittelbare Berührung von Zunge, Schlund oder Gaumen durch einen äußeren Gegenstand erfordern.191 Kants Position scheint insofern stimmig, als erzwungene Nahrungsaufnahme tatsächlich als orale Vergewaltigung empfunden werden kann.192 Wird die Schwelle der Lippen als das erste Tor zu den inneren Höhlen entriegelt, wird die Distanz zwischen Geschmack und Gegenstand gebrochen und das Subjekt den nährenden und zerstörenden Kräften der Materie ausgesetzt.193 Nichtsdestoweniger wirkt die Ausgrenzung des sinnlichen Geschmacks aus dem Bereich des ästhetischen Geschmacks widersinnig. Kant bemüht sich denn auch zu erklären, warum manche Sprachen das ästhetische Urteilsvermögen mit einem Ausdruck bezeichnen, der sich doch bloß auf gewisse Sinnenwerkzeuge im Inneren des Mundes bezieht, die uns zur Wahl genießbarer Dinge dienen.194 Noch sonderbarer scheint es ihm, dass die Geschicklichkeit der Erprobung durch den Sinn, ob etwas ein Gegenstand des subjektiven Genusses sei (»sapor«), sogar zur Benennung der Weisheit (»sapientia«) diente.195 Auch Gerüche möchte Kant nicht ästhetisch beurteilen. Obwohl ein Körper, der Ausdünstungen absondert, weit von der Nase entfernt sein kann, gleiche Geruch doch einem Geschmack in der Ferne, der sich uns aufzwinge, ob wir ihn mögen oder nicht.196 Geruch sei der Freiheit zuwider und weniger ge190 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 105. 191 | Kant, Anthr., AA VII, S. 157. 192 | Vgl. Pankhurst, 1996. 193 | Vgl. Diaconu, 2005, S. 318. 194 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 242. 195 | Ebd. 196 | Vgl. ebd., S. 157.
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sellig als der Geschmack, wo der Gast immerhin behaglich zwischen »Schüsseln oder Bouteillen« wählen könne, ohne Andere zu nötigen, mit ihm zu genießen.197 Kant macht also wenig Hehl aus seiner Abneigung gegen Empfindungen, die unsere Sinne gegen unseren Willen affizieren. Je stärker die Sinnesempfindung, desto weniger könne sie uns lehren.198 Als besonders bedrohlich bewertet er Empfindungen des Ekels, der das harmonische Spiel der Einbildungskräfte völlig zu blockieren droht. Wenn eine Empfindung so stark sei, dass ihre Beziehung zu einem äußeren Objekt hinter der vom empfindenden Organ beanspruchten Aufmerksamkeit zu verschwinden drohe, würden äußere Vorstellungen in innere verwandelt.199 Geschehe das, so verhindere die subjektive Beschränktheit der inneren Empfindung die universelle ästhetische Wertschätzung. »Die schöne Kunst«, schreibt Kant in Anlehnung an Aristoteles, »zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, dass sie Dinge, die in der Natur hässlich oder missfällig sein würden, schön beschreibt.«200 So erkläre es sich, dass Furien, Krankheiten und Verwüstungen des Krieges schön beschrieben und auch in Gemälden vorgestellt werden können. Was Ekel in uns erweckt, nimmt Kant davon aus, weil es mit dem ästhetischen Wohlgefallen auch die Kunstschönheit zugrunde richte.201 Ekel besteht für Kant zunächst in dem Anreiz, sich einer Sache durch den kürzesten Weg des Speisekanals zu entledigen, sie also zu erbrechen.202 Ekel verderbe den Appetit: »Der Ekel macht satt, und Hunger vertreibt den Ekel.«203 Auch die moderne Erforschung des Ekels bezieht sich vielfach auf Verdauungsvorgänge, in Hinblick auf biologische Konstanten und auch auf individuelle Ausprägungen. Schon Darwin erforschte das ›Ekelgesicht‹, ein charakteristisches Mienenspiel, mit dem Menschen und Ratten auf Widerwärtiges reagieren.204 Individuelle ›Ekelmuster‹ werden kulturellen Gewohnheiten entsprechend erlernt. Erst im Alter zwischen vier und acht Jahren entwickeln Kinder ein Gefühl für Ekel. Säuglinge weisen Nahrung zurück, weil sie bitter oder sauer schmeckt, kennen aber keinen Ekel vor Kot.205 Ekel verhindert die 197 | Ebd., S. 158. 198 | Vgl. ebd. 199 | Vgl. ebd., S. 154. 200 | Kant, KdU, AA V, S. 312; Aristoteles, Poetik, 1448b. 201 | Vgl. Kant, Anthr., AA VII, S. 157f. 202 | Vgl. ebd. 203 | Kant, HN Anthr., AA XV, Refl. zur Anthr., S. 473. 204 | Vgl. D’Amato, 13.06.2012. 205 | Ist Kot ein Inbegriff des Ekelerregenden? Visuell, taktil und auditiv ist er eher unauffällig. Eklig wirkt er gewöhnlich auf Nase, Zunge oder Gaumen, oft auch schon
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Aufnahme von unverdaulichen und schädlichen Speisen und definiert Grenzen zwischen der Kultur und uns selbst.206 Wie der Appetit ist der Ekel eine Grundstimmung des Daseins, eine Befindlichkeit, in der wir unsere Abhängigkeit von der Welt erleben, vergleichbar dem Lustcharakter des Daseins bei Heidegger, der uns die Welt schwer im Magen liegen lassen kann.207 Dabei wirken Bedrohungen unseres Körpers durch tatsächliche oder gefühlte Gefahren mit, ebenso wie vorgestellte Bedrohungen.208 Mitunter springt die Abwehr des Ekeligen aus psychischen oder moralischen Gründen an, etwa wenn sexuelle Lust in Ekel umschlägt oder umgekehrt.209 Auch Kant führt Ekel nicht allein auf körperliche Vorgänge zurück. Wenn der »Instinct der Natur«, eine »Geistesnahrung« loswerden wolle, die dem Gemüt zum Genuss aufgezwungen wurde, ohne uns gedeihlich sein, so werde gleichfalls von Ekel gesprochen.210 Zentrale Anhaltspunkte für das, was Kant Ekel bereitete, liefern seine Bemerkungen zur Sexualität bzw. Geschlechtsneigung gerade dort, wo sie mit Vorgängen der Verdauung kollidieren. Kants Skepsis gegenüber starken Sinneseindrücken erscheint auch in seinen Überlegungen zu der Frage, ob es mehr als fünf Sinne gebe. Die Frage aus in der einfachen Vorstellung. Berufliche oder zwischenmenschliche Verpflichtungen können dem Abbau des Ekels Vorschub leisten, etwa wenn Pflegeaufgaben den alltäglichen Umgang mit Kot erfordern. Im Widerspruch zu den Regeln des ›normalen‹ Geschmacksempfindens kann der Umgang mit Kot auch Lust erregen. ›Koprophilie‹, die Stimulierung sexueller Lust durch Kot oder durch seine Ausscheidung, gilt als ein von der Norm abweichendes Verhalten, insbesondere dann, wenn Exkremente oral aufgenommen werden (›Koprophagie‹). Die zwanghafte Verwendung fäkalsprachlicher Ausdrücke (›Koprolalie‹) und obszöner Gesten (›Kopropraxie‹) gilt als psychologische Auffälligkeit. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Koprophilie, 10.10.2008. 206 | Miller, 1997, S. 50. Das zeigt sich beim Umgang mit ›ekeligen‹ Speisen. Das Öffnen einer Dose der schwedischen Delikatesse Surströmming in Mietswohnungen gilt in Deutschland nach Urteil des Landgerichts Köln, 12.11.1984 - 1S171/83, WM 1984, S. 55, als ein hinreichender Grund zur Kündigung des Mietvertrags. Auf Flügen von British Airways und Air France ist der Transport ausdrücklich verboten. Vgl. Bevanger, 10.10.2008. 207 | Vgl. Diaconu, 2005, S. 329. 208 | Vgl. Rozin, 2008, S. 771. Psychologisch wurde Ekel als invertiertes Lustgefühl erklärt: Eigentlich möchte man sich abwenden, aber der verbotene Reiz des Ekelhaften fesselt uns an den Fernseher oder macht »Pipi-Kaka-Prosa« zum Verkaufserfolg. Schindler, 28.12.2010. 209 | Vgl. D’Amato, 13.06.2012. Der Austausch von Körperflüssigkeiten ist potenziell ekelhaft, wird beim Sex aber zeitweise suspendiert, um Vorgänge zu ermöglichen, die unter anderen Umständen ausgeschlossen wären. 210 | Kant, Anthr., AA VII, S. 157.
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der Rostocker Handschrift, ob »nicht wirklich noch ein 6ter Sinn nämlich in Ansehung des Geschlechts« anzunehmen sei, führte er nicht über seine Manuskripte hinaus aus.211 Zwar könnte es laut Kant wohl mehr als fünf Sinne geben, doch seien solche Sinne allenfalls der »Selbsterfindung« dienlich und könnten unsere Kenntnisse nicht erweitern.212 Doch hätte sich die Annahme eines Sinns zur Wahrnehmung der Organtätigkeit bei der Atmung, im Kreislauf, oder in der Verdauung zur ausgeglichenen Beurteilung innerer und äußerer Sinneseindrücke nicht doch als lohnend erweisen können? Die sinnlichen Launen des »großmächtigsten Herrschers« im Bauch sind in besonderer Weise mit unserer geistigen Hauswirtschaft verbunden. Wie schon oben erwähnt, bemerkte Kant selbst, dass sich Erfahrungen der Sinne und Gefühle der Lust und Unlust auf die Verdauungsorgane auswirken können. Innere Sinnlichkeit spielt in Kants Schriften allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Die Organsinne, also auch Geruch und Geschmack, versteht er als »äußere« Sinne. Die Annahme eines »Vitalsinns« – »sensus vagus« zur Wahrnehmung von Erlebnissen wie Wärme, Kälte, Gruseln und Schauern, das den Körper so weit durchdringe, »als in ihm Leben sei«213 – führt Kant zu systematischen Schwierigkeiten, da dieser als äußerer Sinn einerseits von Gegenständen affiziert wird, anderseits aber durch das Gemüt.214 Eher sporadisch kommt Kant auf einen »inwendigen« Sinn (»sensus interior«) zu sprechen, als einen affektiv-praktischen Teil des »inneren« Sinnes (»sensus internus«).215 Die Möglichkeit zur systematischen Einbindung der sinnlichen Erfahrung gastraler Verdauungsvorgänge scheint er durchaus zu erkennen, da er den inwendigen Sinn mit dem Gefühl von Lust und Unlust identifiziert, auf den sich »eine innere Organisation« bezieht.216 Da er neben Ausführungen zum inwendigen Sinn das Stichwort ›Musik‹ setzt, scheint er neben der Möglichkeit zur
211 | An Gedankenspielen zu menschlichen Wesen mit anderen Sinnen als den fünf klassischen zeigt Kant wenig Interesse. Vgl. Brandt, 1999, S. 207; Röttgers, 2009, S. 229. Immerhin schreibt Kant in der Anthropologie-Pillau über einen vitalischen Sinn, den er als das »inwendige Gefühl« vorstellt, durch das wir eigentlich nur uns selbst empfinden. Solch ein Sinn könnte sich überall ausbreiten, wo sich Nerven befinden. Er diene zur Beförderung unserer Leben, könne allerdings nicht der 6. Sinn sein, weil es kein besonderes Organon dazu gebe (zitiert nach Brandt, 1999, S. 206). Wenn es verschiedene Vitalsinne gäbe, so wäre unter ihnen der Sinn des Geschlechts der »gefährlichste«. Kant, HN Colleg. Anthr., AA XV, Ha 20, S. 803. 212 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 109. 213 | Vgl. Kant, Anthr., S. 154. 214 | Brandt, 1999, S. 207. 215 | Ebd., S. 206. 216 | Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 260.
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systematischen Erfassung von Verdauungsgefühlen auch eine Öffnung zur ästhetischen Wahrnehmung zu erwägen. Begriffsgeschichtlich führt uns Kants ›sensus interior‹ zurück in die antike Philosophie. Die Annahme einer die Dingwahrnehmung begleitenden Empfindung (»syneidesis« oder »synaisthesis«) im Lebewesen selbst wurde von Cicero in einen »sensus sui« überführt. Augustinus siedelte den ›sensus interior‹, den er auch als »innere Kraft« (»vis interior«) bezeichnete, zwischen den äußeren Sinnen und der geistigen Seele an,217 als reflexive Mitte des tierischen Organismus, als eine Art »Koordinationsorgan«,218 dem die bekannten fünf Sinne ihre Eindrücke melden.219 Als Lenker und Richter (»moderator et iudex«)220 der Sinne prägt er das instinktive Verhalten, etwa von Abwehr- und Annäherungsbewegungen. Als Vorstadium der Rationalität221 ist er die unterste Manifestation einer für die Seele charakteristischen Selbstbezüglichkeit, eine Quasi-Urteilskraft, die dem Lebewesen einen instinktiven Eindruck seiner eigenen Verfassung vermittelt.222 Die Annahme eines wirksamen Einflusses der Verdauungsorgane auf den internen Sinn bleibt insofern naheliegend, als sich dieser Einfluss zur Erklärung eines veränderten instinktiven Verhaltens von Mensch und Tier bei Hunger und bei Sattheit anbietet. Als ein in das Körperinnere gerichteter Organsinn könnte der inwendige Sinn die Funktionen von Vitalsinn und innerem Sinn ergänzen. In Kants Gedankenspiel, das Pflanzen als Tiere, deren Magen in der äußerlichen Wurzel bestehe, und Tiere als Pflanzen mit einer »inwendigen« Wurzel im Magen vorstellt,223 scheint die hedonistische Annahme einer Wurzel des Guten im Magen deutlich nachzuklingen. Gerade bei der Erklärung sinnlicher Selbstaffektion könnten sich die Eindrücke der internen Sinne als hilfreich erweisen. Laut Kant erkennt sich unser Gemüt nicht so, wie es sich unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern so, wie es von innen affiziert wird, so, wie es sich selbst erscheine, nicht so, wie es sei.224 Allerdings können wir den Sinn zur Anschauung innerer Zustände laut Kant nicht allein aus uns selbst heraus entwickeln.225 Wenn unser innerer Sinn Eindrücke habe, so setze das voraus, dass wir uns selbst affizieren, obwohl es uns unerklärbar
217 | Dewender, 2003, S. 144. 218 | Horn, 1994, S. 396. 219 | Augustinus, De libero arbitrio, II 4,10. 220 | Ebd., II 5,12. 221 | Vgl. Jüttemann, Sonntag u. Wulf, 2005, S. 63. 222 | Vgl. ebd. 223 | Vgl. Kant, Träume eines Geistersehers, (TG), AA II, S. 330. 224 | Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., (KdRV2), AA III, S. 70f. 225 | Vgl. Kant, Handschriftlicher Nachlass: Metaphysik 2, (HN M2), AA XVIII S. 616.
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sei, wie dies zugehe.226 Aber kann das Erleben des inneren Sinnes nicht durch Gegebenheiten im Verdauungsschlauch gereizt werden, durch den die Außenwelt unser Inneres erreicht? Anreize zur Entstehung von Wechselwirkungen zwischen Verdauungsvorgängen und innerer Erfahrung können wir uns leicht ausmalen: Der Magen sehnt sich nach Füllung und affiziert das Nervensystem zu immer neuen Strategien zur Beseitigung von Leere, von der Ausbildung eines Sinns für unser inneres Erleben bis hin zu selbstbewusster Reflexion. Laut Kant sind wir an den Körper gespannt wie an einen Karren.227 Ein inwendiger Sinn kann manchen Unfall verhindern, indem er dem Selbstbewusstsein die umsichtige Lenkung der gastralen Bedürfnisse erleichtert. Einen Hinweis auf Zusammenhänge zwischen Baucherfahrung und Bewusstsein enthält auch Kants Bemerkung »Denken ist Reden mit sich selbst«, die er mit der Feststellung kombiniert, dass Tahitische Indianer Denken als »die Sprache im Bauch« bezeichnen.228 Diese Bemerkung enthält einen deutlichen Hinweis auf Dialoge zwischen Verdauungsschlauch und Großhirn. Die neurobiologische Einsicht, dass der Großteil der neuronalen Aktivitäten unseres Körpers unbewusst bleibt,229 spricht dafür, dass inwendige Signale aus dem Bauch mehr bewirken, als der selbstbewusste Geist erklären kann (vgl. Nietzsches Bemerkungen zur kleinen Intelligenz). Wenn ein empirisches Bewusstsein ein transzendentales Bewusstsein voraussetzt,230 dann sicherlich auch eine Verdauung. Kants Rechtfertigung der Sinnlichkeit231 lässt sich auch auf die Verdauung anwenden. Auch diese steht in Verdacht, die Vorstellungskraft zu verwirren, große Worte führen zu wollen, um sich halsstarrig von der Dienerin zur Herrscherin des Verstandes aufzuschwingen. So scheint es angemessen, Sinnlichkeit und Verdauung mit Kant gegen philosophische Bevormundung, Beschränkung oder gar Ausschaltung zu verteidigen. Eine mögliche Erklärung für das Fehlen einer umfassenden Kritik der Verdauung liefern Kants Schwierigkeiten im Umgang mit sexueller Freude. Diltheys Bemerkung, dass in den Adern des Kant’schen Subjektes kein wirkliches Blut rinne, sondern verdünnter Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit,232 scheint hier zu treffen. Kants Überlegungen zu Liebe und Verdauung betreffen eher Gründe zur Vermeidung starker Leidenschaften als Magensaft und Spucke. Zuweilen wirken seine Einlassungen ungewollt komisch, machen aber 226 | Vgl. ebd., S. 611. 227 | Vgl. ebd., S. 190. 228 | Kant, Anthr, AA VII, S. 192. 229 | Vgl. Delacour, 1994, S. 118. 230 | Vgl. Kant, HN M2, AA XVIII, S. 611. 231 | Vgl. Anthr., AA VII, S. 143ff. 232 | Vgl. Dilthey, 1959, S. XIII.
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auch betroffen und geben einen Eindruck von Nöten menschlicher Existenz im Schatten philosophischer Systeme. Sexualität und Verdauung erfüllen Kant mit Scham. So nennt er zwei Arten der Ausleerung, die sich nach seiner Einschätzung unmöglich verschönern lassen.233 Zum einen die Ausleerung infolge von Mahlzeiten, die der Vornehme und Gemeine auf dieselbe Art verrichten müssen, und derer wir uns schämen, weil wir unser Los hier mit dem Vieh teilen. Zum anderen die Ausleerung infolge von Geschlechtsvermischung, weil sie auf geistige oder gar moralische Zwecke zu zielen scheint und dabei doch so physisch ist. Dabei sei nicht die Geschlechtsneigung unanständig, sondern ihre Vermischung mit dem Genuss, den ein Mensch an einem anderen findet. Partnerschaftliche Sexualität dürfte Kant aus eigener Anschauung kaum gekannt haben.234 Über kannibalische Aktivitäten ist nichts weiter bekannt. Sind Gedanken ohne Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind, so ist es nicht überraschend, dass Kants Ausführungen zu sexueller und kannibalischer Lust nicht sonderlich weitblickend ausfallen. Eine Schieflage zwischen Scharfsinn und Phantasterei235 kündigt sich schon in seinen vorkritischen Schriften an, wo Kant sich zu den sexuellen und kulinarischen Gewohnheiten ganzer Völkerschaften äußert. Deutsche und Engländer hätten bei der Liebe einen guten Magen, etwas fein von Empfindung, aber von gesundem und derbem Geschmacke, Italiener seien grüblerisch und Franzosen vernascht.236 Unglückliche Formulierungen zum Gebrauch von Geschlechts- und Verdauungsorganen erlaubt sich Kant auch im Rahmen seiner Rechtslehre, wo er seine Gedanken zur Lust an genitaler Vereinigung über die Entleerung der Verdauungsorgane bis hin zur Menschenfresserei führt.237 Das Hingeben des Leibes »zum Sachengebrauch« sei »an sich wirklich unter der Würde der Menschheit«.238 Die Fortpflanzung unserer Gattung folgt laut Kant nicht der wählenden Vernunft, sondern tierischem Instinkt.239 Wie oben erwähnt, herrscht im Reich der Tiere der Magen und so ergibt sich der Sprung vom Sex 233 | Vgl. Kant, HN Refl. zur Anthr., AA XV, S. 483. 234 | Reinhold Jachmann, Kants früher Biograph: »Gern möchte ich Sie jetzt von Kants Liebe unterhalten, aber ich kann statt dessen Ihnen bloß mein herzliches Bedauern mitteilen, dass von diesem so charakterisierenden Gefühl aus dem Leben des Weltweisen nie etwas zu meiner Kenntnis gekommen ist.« Zitiert nach Malter, 1990, S. 228. Zu Kants zögerlichen Eheplänen vgl. Vorländer, 1924. 235 | Vgl. Kant, HN Colleg. Anthr., AA XV, S. 805. 236 | Vgl. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erh., (GSE), AA II. S. 250. 237 | Vgl. Kant, Bemerkungen zur Rechtslehre (HN Bem. Rechtsl.), AA XX, S. 462. 238 | Ebd., S. 463f. 239 | Vgl. ebd.
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zum Kannibalismus bei Kant fast wie von selbst: »[D]ie dingliche Art des Gebrauchs den ein Mensch von den Geschlechtsorganen eines Andern unmittelbar zu seiner Belustigung« mache,240 stellt Kant auf die Stufe des Gebrauchs von Schlund und Magen beim Verzehr von Menschenfleisch. Seine Position stützt er u.a. durch Hinweis auf die Sprache des Alltags: »Wer wollte auch bei der nicht ungewöhnlichen obzwar platten Sprache ›einen für Liebe aufessen zu wollen‹ (wovon der Kuss eine Art von Versuch ist) an kannibalische Mahlzeiten denken, die für Schlund und Magen bestimmt sind?« 241
Kant gesteht allerdings zu, dass der belustigende Gebrauch der Sexualorgane unter bestimmten Bedingungen straffrei erfolgen kann: »[...] genug dass der Mensch gleich als eine Sache dem Anderen nicht seiner Persönlichkeit nach zum Mittel seiner Absicht sondern auf dingliche Art unmittelbar zur Lust eines anderen zu dienen befugt ist wenn er sich nur den Bedingungen unterwirft unter denen indem er sich einer anderen Person als das Seine hingibt er doch diese und dadurch auch sich selbst wechselseitig in der Gemeinschaft des Leibes erwirbt: welches die Ehe ist.« 242
In der vielschichtigen Verquickungen der Lust am Essen, am Kopulieren und am Verdauen spielt Menschenfresserei gewöhnlich eine eher unscheinbare Rolle. Sicher beinhaltet das »Ineinander von Essenden und Essbarem« ein Moment des gegenseitigen Verschlingens.243 Sicher kann der Wunsch nach Machtsteigerung Inszenierungen des Sexualaktes als Mord und Verspeisung stimulieren.244 Nichtsdestoweniger erscheinen Mord und Totschlag im Alltag der meisten gastral aktiven Personen als Phantasma, wenn überhaupt.245
240 | Ebd. S. 462. 241 | Ebd. S. 464. 242 | Ebd. 243 | Därmann, 2008, S. 30ff. 244 | Vgl. Röttgers, 2009, S. 98. 245 | Die Redewendung ›zum Fressen gern‹ spricht nicht unbedingt für Appetit auf Menschenfleisch und der phylogenetische Ursprung des Küssens liegt wohl auch weniger im Kannibalismus als in der Speiseübergabe von Mund zu Mund. Vgl. ebd. S. 144. Nimmt die Lust am Fleische beim Küssen doch einmal antrophage Züge an, wird etwa eine Zunge abgebissen, so dürfte die Ehe auch zu Zeiten Kants keinen hinreichenden Schutz vor Strafverfolgung geboten haben. Die erotischen Aspekte des Xenophagentums im subversiven Untergrund des Gefüges zwischen Sexualität und Verdauung werden gerade in ›guter‹ Gesellschaft unterdrückt, schon Brustfütterung gilt mitunter als Peinlichkeit.
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Mit seinem Kurzschluss zwischen sexueller und anthrophager Freude sah Kant sich denn auch schon zu Lebzeiten dem Vorwurf ausgesetzt, das Wort ›Genuss‹ fehlerhaft zu gebrauchen. Das Fleisch eines Menschen werde beim Essen anders genossen als beim Beischlaf. Nur beim Essen werde das Fleisch zur Sache.246 Kant widersprach lebhaft: Das Wort ›Genuss‹ könne leicht durch »Gebrauch einer unmittelbar vergnügenden Sache« ersetzt werden,247 wobei die vergnügende Sache ein verbrauchbarer Gegenstand (»res fungibilis«) sei. Durch Ansteckung, Erschöpfung und Schwängerung könne beim wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane der eine oder der andere Teil aufgerieben werden.248 Der Appetit eines Menschenfressers sei von dem eines Freidenkers (»Libertin«) in Ansehung der Benutzung des Geschlechts nur förmlich unterschieden.249 Wohlwollende Liebe biete keinen Raum für Fleischeslust.250 Kant scheint hier ein Vorgriff auf die Pervertierung fleischlicher Lust bei Sade zu gelingen, muss sich aber fragen lassen, ob die Reduktion sexuell aktiver Menschen auf verbrauchbare Sachen nicht ihrerseits die Grundlagen des personellen Respekts untergräbt.251 Wenn Kant das Glück des Menschen obendrein in Eigenliebe vermutet, die sich mit Gottes und des Nächsten Liebe verbindet,252 rechtfertigt sich das nicht als Ausdruck einer protestantisch-puritanischen Gesinnung, denn die Lutherbibel erklärt Liebe zum Fleisch für geboten.253 Kants sexuelle Verklemmung entspringt anderen Motiven. Schon Berührungen mit fremder Haut dürften ihn verstört haben, jedenfalls sind (Tast-)Gefühle für ihn mit gar keinem Vergnügen verbunden.254 Betrachtungen zur Freude am freien Spiel von Geschlechtskörpern liegen Kant fern. Seine Aversionen gegen sinnliche Nähe spiegeln sich in einer Notiz, in der er gedanklich vom Speisekanal über Ekel und Erbrechen, Lippengefühlen im Finstern, alten Weibern und schöner Kunst für Gesicht und Gehör zu angenehmer Kochkunst schweift.255 Was hätte aus folgender Notiz werden können: »Vom sechsten Sinn der Geschlechtsneigung als Genuss – Kuss. Papagei«?256 Wie hätte ihre kritische Ausarbeitung ausgesehen? 246 | Vgl. Kant, Br. 3, An C. G. Schütz, 1797, AA XII, S. 182. 247 | Ebd. 248 | Ebd. 249 | Ebd. 250 | Vgl. Kant, MS, AA VI, S. 426. 251 | Vgl. Schulz, 12.11.2014. 252 | Vgl. Kant, HN M1, AA XVII, S. 230. 253 | Vgl. Epheser 5, 28-29. 254 | Vgl. Kant, HN Anthr., AA XV, Refl. zur Anthr., S. 105. 255 | Vgl. Kant, HN Anthr., AA XV, Colleg Anthr., S. 804. 256 | Ebd., S. 805.
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Gerade weil sich Kants Aversionen im Bereich von Geschlechts- und Geschmacksorganen assoziativ überlagern – beim Appetit, bei Verlangen, bei Sättigung, bei Überreizung, beim Exzess, bei Berührungen u.a.257 – ist die Bedeutung seiner Gedankenketten für die Bezüge zwischen Bauch und Geist klärungsbedürftig. Es besteht ein dringender Verdacht, dass sich Kants Ekel und Abscheu weniger auf digestive denn auf sexuelle Aktivitäten bezogen.
U mkehrung bei S ade Eine tragende Rolle erhält die Verdauung bei Donatien Alphonse François de Sade (* 2.06.1740 in Paris; † 2.12.1814 in Charenton-Saint-Maurice), der sie ins Zentrum seiner Schilderungen des Bösen stellt. Die Urängste vor digestiver Umkehrung (siehe Kapitel I) erklärt er zu Waffen der sozialen und psychologischen Erniedrigung. Die von Sade geschilderten Verbrechen überspannen eine weite Bandbreite der sexuellen und digestiven Misshandlung von Menschen. Sade bewegt sich in seinen Obsessionen wie in einem zirkulären, höhlenartigen System.258 Die Funktionen von Mündern, Bäuchen und Darmausgängen scheinen bei den von Sade beschriebenen Schändungen oft austauschbar. Die Vorlieben seiner Libertins, d.h. der Autoren der sexuellen und digestiven Misshandlungen, geben bei der jeweiligen Verwendungsweise der Körperteile und Öffnungen den Ausschlag. In gewissem Sinne bestätigen Sades Phantasien die Auffassung, dass der Appetit eines Menschenfressers vom sexuellen Appetit eines Libertins nur förmlich unterschieden ist.259 Zusammenspiele zwischen sexuellen und digestiven Aktivitäten verfolgt Sade jedenfalls mit einiger Konsequenz. Dabei greift er die Unterscheidung von Freude und Schmerz überhaupt an: In seiner Architektur austauschbarer Begriffe erscheint Schmerz als stärkste, intensivste und dauerhafteste Freude, als flüchtiger Zustand im Fluss des Lebens.260 Die Gewalt der sadistischen Libertins richtet sich gegen die Gesetze der Natur, die individuelle Lustbefriedung behindern. Das gilt insbesondere in Hinblick auf die Verdauung, die Sade in verschiedene Zusammenhänge der Unzucht stellt. Die ausschweifenden Mahlzeiten der Libertins erinnern an römische Exzesse. Die Zuteilung von Speise dient in der Regel aber der Mast oder der Stärkung von Lustobjekten, seltener zu ihrer Vergiftung.261 Sades Phantasien zur Lust der machthungrigen Intelligenz an der Qual ihrer naiven Opfer 257 | Vgl. Fraisl, 28.10.2010. 258 | Vgl. Paz, 1993, S. 52. 259 | Vgl. Kant, Brief an Christian G. Schütz, 10.06.1797, AA XII, S. 182; s.o. 260 | Vgl. Paz, 1993, S. 53. 261 | Vgl. Barthes, 1989, 18f.
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modifizieren die Bedingungen des Verstehens.262 Sie bringen Sade in einen scharfen Gegensatz zu seinen philosophischen Zeitgenossen, die den Menschen als wesentlich gut beschrieben. Der von Sade geschildete Wahnsinn des Verlangens, der unsinnige Dialog zwischen Liebe und Tod und die unstillbaren Anmaßungen des Appetits sind ein konstitutives Faktum unserer Kultur.263 Sade thematisiert Ängste, die das vernünftige Sprechen über die Verdauung erschweren und unterminieren. Schönheit als Ausdruck intellektueller Urteilsfähigkeit hält Sade für banal. Sie könne weder das Bewusstsein aus seiner Einsamkeit reißen, noch den Körper aus seiner Indifferenz. Dagegen sei Hässlichkeit außergewöhnlich und zu bevorzugen.264 Alter, Krankheit und Gestank werden als erregend dargestellt.265 Unsere ästhetischen Vorlieben seien von der Beschaffenheit unserer Organe abhängig.266 Wenn Sade meint, wir könnten diese Vorlieben ebenso wenig verändern wie die Form unserer Körper, so ist das weniger eine Absage an psychologische Erklärungen als ein Hinweis auf körperliche Grenzen der Veränderlichkeit unserer psychischen Dispositionen.267 Wer seine Akzeptanz für Ekel und Unmoral am weitesten auszudehnen vermag, gewinnt bei Sade die Oberhand. Die Schlünde der hemmungslos Mächtigen bedrohen das Fleisch der verklemmten Ohnmächtigen, mit Folter, Mord und Verspeisung. Psychische und physiologische Aspekte der Ekel-Überwindung lassen sich dabei voneinander trennen. Digestive und sexuelle Praktiken fallen in den sadistischen Orgien mitunter in eins. Keine Freuden verbinden sich laut Sade leichter miteinander als die der Trunkenheit, Völlerei, Unzucht und Grausamkeit.268 Die sadistische Lust am Ekel subvertiert Verdauungsvorgänge, etwa beim Erbrechen von Nahrung von einem Mund in einen anderen: »Er umarmte mich und steckte seine schmutzige, widerliche Zunge in meinen Mund, der Gestank davon beschleunigte die Wirkung des Brechmittels. Er sah, dass mein Magen sich hob, und rief in Ekstase: ›Mut, meine Kleine, Mut! Ich werde nicht einen Tropfen davon verlieren!‹ [...] und während seine unzüchtigen Hände auf meinen Arschbacken herum-spazieren, erbreche ich das ganze unvollkommen verdaute Diner, welches das
262 | Vgl. Blanchot, 1949, S. 264. 263 | Vgl. Foucault, 1961, S. 347. 264 | Vgl. Sade, Les 120 journées de Sodome (120 Journ.), S.35. 265 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 40. 266 | Vgl. Sade, 120 Journ., S.36: »Toutes ces choses-là dépendent de notre conformation, de nos organes.« 267 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 53. 268 | Vgl. Sade, La nouvelle Justine (nouv. Justine), XII.
Freuden Brechmittel herausbeförderte, in seinen Mund. Unser Mann ist im Himmel, er ist entzückt, er leckt sogar noch meine Lippen ab [...].« 269
Exzessive Speisefolgen gipfeln bei Sade in anthrophagischen Phantasmen: Blut wird getrunken, Sperma gelutscht und Kinder zerkaut. Verlangen zerstört die Objekte des Verlangens, selbstlose Großzügigkeit spielt keine Rolle. Sades Despotismus vertilgt, was er nicht zu assimilieren vermag und assimiliert, indem er vertilgt.270 Sade bekannte sich zu seiner Koprophilie.271 Die Sorgsamkeit, mit der er die Riten und Vorbereitungen des Umgangs mit Exkrementen schildert, sprechen dafür, dass es sich dabei nicht um distanzierte Beschreibungen handelt, sondern um affektive Phantasien.272 Seine außergewöhnliche Fettleibigkeit dürfte Sade sich in der Gefangenschaft nicht allein aus Langeweile angeeignet haben, sondern, weil er Nahrungsaufnahme zum infantilen Ersatz für erotische Aktivität stilisierte.273 Geschmack und Phantasie sind laut Sade auf das Feingefühl des Betrachters zurückzuführen, liegen also nicht intrinsisch in der Sache selbst. 274 Das gelte insbesondere in Hinblick auf Koprophilie: Die Wahrheit einer Sache bestehe nicht in ihrer rohen Gegenwart, sondern in dem Sinn, den wir ihr in der eigenen Erfahrung zumessen.275 Das Verlangen nach organischer Vertauschung zwischen Ein- und Ausgang verleiht Macht, also werden Exkremente zur Speise. Neben der Lust an Grausamkeit stellt Koprophagie das zweite kennzeichnende Merkmal der Phantasien von Sades dar.276 Der ›bösen‹ Juliette, die im Gegensatz zu ihrer ›guten‹ Schwester Justine Geschmack an Exkrementen findet, legt Sade folgende Erklärung in den Mund: »Man täuscht sich im allgemeinen über die Entleerungen des caput mortuum unserer Verdauungsorgane. Sie sind nicht ungesund, sondern sogar sehr angenehm. Es wohnt in ihnen derselbe Spiritus rector wie in allen übrigen Körperbestandteilen. An nichts gewöhnt man sich so leicht als an den Geruch des Kotes. Ihn zu essen, ist délicieux! C’est absolument la saveur piquante de l’olive. Man muss allerdings zuerst ein wenig die Ima-
269 | Sade, 120 Journ., 6. Tag. 270 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 40. 271 | Vgl. ebd., S. 37. 272 | Vgl. ebd. 273 | Vgl. ebd. 274 | Sade, Lettre à Madame de Sade, 23-24.11.1783. 275 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 53. 276 | Vgl. ebd., S. 37.
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Vom Geist des Bauches gination nach dieser Richtung hin beeinflussen! Aber wenn man so weit ist, so ist es ein höchst wonnevoller und aufregender Genuss.« 277
Koprophagie schafft eine äußerliche Verbindung zwischen Anus und Mund als Entsprechung der inneren Verbindung zwischen Mund und Anus. In einem orgiastischen Zyklus wird die Austauschbarkeit der Orte der Verdauung und ihrer Zu- und Abgänge erotisch zelebriert. Die Analyse seiner Funktionen erlaubt die Umwandelung des Körpers zur Fäkalie.278 Digestive Umkehrung kennzeichnet die von Sade beschriebenen Machtverhältnisse, insbesondere in den 120 Tagen von Sodom. Exkremente erscheinen als heiliges Gut, als Währung und als gastronomische Delikatesse. Die Libertins stärken ihre Herrschaft, indem sie sich an der verängstigten Ignoranz ihrer Opfer gegenüber analen Lüsten ergötzen.279 Was in der Sprache des Opfers als ekelhaft gilt, ist in der Sprache des Meisters köstlich.280 Anale Meisterschaft kontrolliert den Rhythmus und die Konsistenz fremder Ausscheidungen. Die Unmündigkeit der Opfer in Hinblick auf ihren eigenen Anus wird zum Kriterium für die Einschränkung ihrer Freiheit zu sprechen.281 Der Geschmack und die Konsistenz der Exkremente sollen den Ansprüchen der Libertins angenähert werden. Dazu werden diätische Maßnahmen eingeleitet. Vorgeschrieben wird etwa die Ernährung mit viel weißem Fleisch und unregelmäßigen Mahlzeiten ohne Brot und Suppe, um bei zwei Stuhlgängen pro Tag sehr weiche Exkremente von süßlichem, exquisitem Geschmack zu bewirken.282 Sade legt dabei Wert auf eine rhythmische Konstanz der organischen Tätigkeit. Überwacht werden nicht nur die Nahrungsaufnahme, sondern auch der Zeitpunkt und die Regelmäßigkeit der Ausscheidungen. Dennoch herrscht bei Sade mitunter Verstopfung über Verdauung.283 Die Opfer werden gezwungen, ihren Kot zurückzuhalten, um ihn auf Abruf frisch zum Verzehr bereitstellen zu können. Die von Sade angestrebte »Reinheit der Zerstörung«284 kontrastiert scharf mit der Wertschätzung von Exkrementen, wobei sich die Gegensätze aufzuheben scheinen. Der exkrementale Enthusiasmus der Libertins verwandelt den Dreck, in dem sie sich wälzen, in ein Rosenbett.285 Das Rosenbett bietet Raum 277 | Sade, Histoire de Juliette (Juliette), I, S. 289. 278 | Vgl. Henaff u. Callahan, 1999, S. 211. 279 | Vgl. ebd., S. 204. 280 | Vgl. Barthes, 1989, S. 134. 281 | Vgl. Henaff u. Callahan, 1999, S. 207. 282 | Vgl. Sade, 120 Journ., 12. Tag, S. 254; vgl. 19. Tag. 283 | Vgl. Barthes, 1989, S. 119. 284 | Paulhan, 1987, S. 93. 285 | Vgl. Carter, 1979, S. 147.
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zum Spiel mit Unflat. Der willentliche Umgang mit Schmutz und Verletzung ermöglicht die persönliche Verwirklichung als Fleisch.286 Unglück und Erniedrigung schaffen einen Abgrund des Geistes, in dem sich geschlagene, penetrierte und befleckte Körper vereinen.287 Im Rahmen seines allgemeinen Protestes gegen lusthemmende Gesetze richtet Sade wütende Angriffe auf die christliche Moral. So erhalten seine Opfer in den 120 Tagen die besondere Genehmigung, ihre Fäkalien, statt wie gewöhnlich in libertinäre Schlünde, in einer Kapelle abzusetzen. Die infantile Geste der Beschmutzung soll das Exkrement zu einer heiligen, ja göttlichen Speise stilisieren. Die Gewalt der Libertins assoziiert Sade mit der Macht der Kirche. Jesus von Nazareth portraitiert Sade als Libertin: ein plumper Betrüger, der trinke, ficke und unterwerfe; wie immer er es auch anstelle, er habe mit allem Erfolg.288 Belustigt zeigt sich Sade vom Abendmahl, »bei dem sich der große Gott, der Schöpfer des Weltalls«, in ein Stück Oblate begebe, »zehn- oder zwölfmillionenmal an einem Morgen«.289 Der Schöpfer sei gut und allmächtig und so werde man ihn essen und entleeren, denn er sei Brot und das Brot Fleisch und als solches zu verdauen.290 Dementsprechend parodiert Sade die sakramentale Speisung durch den rituellen Genuss von Menschenfleisch.291 Brot sei eine schwer verdauliche und ungesunde Nahrung, gut für Sklaven, weshalb Tyrannen ihr Volk damit versorgen. Für den Libertin sei Menschenfleisch die beste Nahrung, weil es die Bildung eines reichlichen und guten Spermas befördere. Wer diese »süße Speise« einmal genossen habe, könne von ihr nicht mehr lassen.292 Sade erklärt das Böse zum Postulat eines perversen Gottes, das Gute zur ontologischen Unmöglichkeit. Nach dem Tode erwarte uns eine ewige Hölle boshafter Moleküle (»molecules malfaisantes«).293 Sade gibt uns Eindrücke dieser Hölle auf Erden, in der Verbrechen zur geliebten Köstlichkeit und der Tod zum ersehnten Thron der Lüste geraten können.294 Material zur Anschauung lieferten ihm seine Mitmenschen zu Zeiten der Revolution, aber auch die Geschichte. Justine und Juliette verkörpern das Schicksal entrechteter Menschen, vergleichbar den Frauen, die ihr Vater Lot 286 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 40. 287 | Vgl. ebd. 288 | Vgl. Sade, Justine ou Les malheurs de la vertu, (Justine), S. 62. 289 | Ebd. 290 | Vgl. ebd. 291 | Vgl. Carter, 1979, S. 140; vgl. S. 150. 292 | Sade, Juliette, II, 323ff. 293 | Paz, 1993, S. 57. 294 | Vgl. Blanchot, 1949, 233f.
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seinen Nachbarn zum Opfer anbot.295 Beide Schwestern erfahren Schläge, Gefängnis, Erniedrigung und Folter. Aber die Leiden der einen Schwester sind die Freuden der anderen. Sade liefert eine beharrliche Hinterfragung des menschlichen Selbstverständnisses,296 nicht etwa Parabeln für lobenswertes Handeln.297 Sades literarische Darstellung der Verdauungsfurcht betrifft vielfach eher Defäkation und Speisung als Vorgänge im Inneren der Körper. Sein Lob der Lust an Exkrementen bleibt damit in etwa so oberflächlich wie der Tadel mancher Philosophen für Lust an Speise. Der eigentliche Motor des Verlangens – die ursprüngliche Gewalt der Verdauung – deutet sich in den Wirkungen auf die Körperöffnungen immerhin an. Sades Einlassungen zur Wirkung von Speise auf die gustatorische Wahrnehmung und die materiale Konsistenz von Exkrementen wirken provokativ in kulinarischer Hinsicht, vernachlässigen dabei aber die Wirkung von Kot auf das Bauchgeschehen. Die Vertauschung von Speise und Exkrement bleibt unvollkommen. Bei der Produktion von Kot bleibt Speise das Ausgangsprodukt. Der Geschmack der zur Speise bestimmten Exkremente wird durch eine gewöhnliche Diät beeinflusst, nicht durch Einnahme von Exkrementen. Sades Freude am Umgang mit Kot unterstreicht die Bedeutung der Verdauung für die Bezüge zwischen Mensch und Umwelt. Verdauung steht Pate, wenn Sade die moralisch und physisch bedeutsamen Phänomene des Lebens, in denen die menschlichen Kreaturen als wechselnde Phasen einer ewigen Wiederkehr des immer Gleichen erscheinen, im Zusammenhang mit Fäulnis, Zersetzung, Auflösung, Auslaugung und Zerstörung erfasst.298 Sades Phantasien unterstreichen Wechselwirkungen zwischen Speise, Getränk, Geschlecht und Verdauung bei der Entwicklung zwischenmenschlicher Gewalt. Letztlich reduzieren sie die komplexen Wechselwirkungen zwischen Verdauung und Geist auf Aspekte der Machtausübung, als Reaktion auf soziale Tabus. Es wurde bemerkt, dass diese Beschreibungen Sinnlichkeit vermissen lassen, weil sie allzu schematisch wirken.299 Das gilt sicher auch für Sades Vorstellungen zu digestiver Lust.
295 | Vgl. Gen, 19, vgl. Paulhan, 1987, S. 96. 296 | Vgl. Beauvoir, 1955, S. 54f. 297 | Vgl. Paulhan, 1987, S. 93. 298 | Klossowski, 1947, S. 83. 299 | Sontag, 1969, S. 52.
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H and auf den M agen mit L ichtenberg Manch ein Weisheitsdurstiger fühlt sich im weitläufigen Gebiet freier Ideen etwas verloren. Kommt es dann noch zu schweißtreibender Hitze, beschwerlicher Wegführung, trüben Ausblicken und drückender Schwüle oder ist gar die Begleitung fad, wird die Sehnsucht nach den gemütlichen Höhlen der Gemeinplätze schier unerträglich. Umso größer ist die Freude, wenn die Probleme und Beschwernisse des gelehrigen Spaziergängers sich plötzlich in wonniges Wohlgefallen auflösen; grundlos, wie aus heiterem Himmel durchströmt Sonnenlicht die gelehrigen Köpfe, rege Brisen vertreiben stickige Luft aus den Bäuchen, Hoffnung auf Abenteuer zwischen Bett und Toilette glimmert und funkelt wohin die inneren Augen blicken und auch die äußeren Sinne rekeln sich mit Wohlgefallen. Die philosophische Gemeinschaft murmelt freundlich. Was ist denn hier geschehen? Endlich kommt Georg Christoph Lichtenberg (* 1.07.1742 in Ober-Ramstadt; † 24.02.1799 in Göttingen) zu Wort: »Hätte die Natur nicht gewollt dass der Kopf den Forderungen des Unterleibes Gehör geben sollte, was hätte sie nötig gehabt den Kopf an einen Unterleib anzuschließen. Dieser hätte sich ohne eigentlichdasjenige zu tun was man Sünde nennt satt essen und sich satt paaren und jener ohne diesen Systeme schmieden, abstrahieren und ohne Wein und Liebe von platonischen Räuschen und platonischen Entzückungen reden und singen und schwatzen können.« 300
Aber die Natur hat es nicht gewollt. Juhu! Sonst hätte sie ja auch gleich noch die Küsse vergiften können wie Pfeile im Krieg.301 Lichtenbergs Philosophie durchzieht ein verschmitztes Lächeln. Auf Körper und Geister wirken widerstrebende Kräfte, und das ist ein Grund zu Freude und gutem Appetit, stilistisch und inhaltlich. Das schafft Ordnung und Raum für freie Verdauung, wo andere, die alles schon geordnet glauben, sich überhaupt erst vom Tisch zur Toilette schleppen (oder umgekehrt), um Geist und Bauch von überflüssigem Ballast zu befreien. Aber ist der Ballast nicht doch ein ›privates‹ Problem? Nein, die ganze Tischgesellschaft ist schon aufmerksam geworden, geistige Verstopfung und Diarrhoe lassen sich letztlich nicht verbergen, aber es gibt Mittel zur Vorbeugung: »Bei unserm frühzeitigen und oft gar zu häufigen Lesen, wodurch wir so viel Materialien erhalten, ohne sie zu verdauen, was die Folge hat, dass das Gedächtnis gewohnt wird, die Haushaltung für Empfindung und Geschmack zu führen – da bedarf es oft einer tiefen Philosophie, unserem Gefühl den ersten Stand der Unschuld wieder zu geben, sich aus 300 | Lichtenberg, Sudelbücher, BI323. 301 | Vgl. ebd.
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Vom Geist des Bauches dem Schutt fremder Dinge heraus zu finden, selbst anzufangen zu fühlen und selbst zu sprechen, und, ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existieren.« 302
Stehender Beifall. Verdient. Und wenn Philosophie zur Befreiung aus fremdem Schutt beitragen kann, so vielleicht auch zur Beseitigung von Scheinproblemen, mit denen der »Mainstream« die Entwicklung gastrophiler Philosophie behindert? Ist es nicht verständlich, dass manche Menschen ihre Hand auf den Magen legen, wenn sie den größten Respekt anzeigen wollen?303 Und ist es nicht traurig, wenn junge Leute von ostindischen Fischen reden, aber nicht einmal wissen, wo der Magen überhaupt liegt?304 Lichtenberg hatte einen ›gewissen Freund‹, der seinen Leib in drei Etagen zu teilen pflegte: den Kopf, die Brust und den Unterleib.305 Seine Hausleute in der obersten und der untersten Etage vertrugen sich schlecht. Lichtenberg versteht solche Probleme zu behandeln. Freundliche Umgangsformen zwischen Kopf und Bauch liefern Mittel zur Vermeidung von Problemen. Geschmackvolle Sprachmenüs beleben die Verdauungskraft, körperliche und geistige Verdauungsfreuden stärken einander zum Wohle von Person und Philosophie im nuancierten Miteinander von Wissen und Stoffwechsel: »Nichts erklärt Lesen und Studieren besser, als Essen und Verdauen. Der philosophische eigentliche Leser häuft nicht bloß in seinem Gedächtnis an, wie Fresser im Magen, da hingegen der Gedächtnis-Kopf mehr einen vollen Magen, als einen starken gesunden Körper bekömmt, bei jenem wird alles was er liest und brauchbar findet, dem System und dem inneren Körper, wenn ich so sagen darf, zugeführt, dieses hierhin und das andere dorthin, und das Ganze bekommt Stärke.« 306
Die Verdauung versinnlicht also auch bei Lichtenberg einen abstrakten inneren Verarbeitungsprozess philosophischer Erkenntnisse.307 Die Rede von der »Stärke des Ganzen« bleibt nicht auf den »Gedächtnis-Kopf« beschränkt: »Nichts erklärt Essen und Verdauen besser, als Lesen und Studieren!« Immer neue Engführungen zwischen Literatur und Verdauung wecken Hoffnung auf die Überwindung der traditionellen Hierarchie von Geist und Körper, Kul-
302 | Ebd., BI264. Dieses Zitat soll Nietzsche auf dem Vorsatzblatt einer Ausgabe der Unzeitgemäßen Betrachtungen in seiner persönlichen Bibliothek vermerkt haben. Vgl. Campioni, 2003, S. 423. 303 | Lichtenberg, FI376. 304 | Vgl. Lichtenberg, FI149. 305 | Vgl. Lichtenberg , BI344. 306 | Lichtenberg, FI203. 307 | Vgl. Freiling, 2000, S. 590.
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tur und Natur, die im akademischen Alltag zuweilen unauflösbar erscheint.308 Laut Lichtenberg ist es der Erhaltung des Geistes und des Leibes förderlich, wenn wir das meiste von dem, was wir gelesen und gegessen haben, wieder vergessen.309 Seine Ausführungen zur Verdauung geben manchen treffenden Einblick in die »tiefere Bedeutung«310 der Bezüge zwischen Nahrung und Text und das Verständnis von Kultur. Der Wert von Nahrung liegt bei Lichtenberg nicht in dieser selbst, sondern wird erst bei der nutzbringenden Verarbeitung durch die aufnehmenden Organe geschaffen. Physische Speise wird durch die Verdauung in Einzelteile gespalten, um verschiedene Funktionen im Körper zu erfüllen, verdautes Wissen wird durch die Vernunft bestimmten Orten im Zusammenhang von Gedanken zugewiesen.311 Ordnender Umgang mit Aufgenommenem meint auch die Identifizierung des unbrauchbaren Anteils der Nahrung, jener Ballaststoffe, die wieder abgegeben werden müssen, um das körperliche oder geistige System nicht zu überlasten.312 Lichtenbergs Einsichten in Wechselwirkungen zwischen körperlichem und geistigem Stoffwechsel führen zur fröhlichen Neuformulierung der goldenen Regel digestiver Philosophie: »Mehr verdaut und besser geordnet.«313 Die Vernunft erfüllt in diesem Prozess eine »Zerkleinerungsfunktion«, deren Anwendung für Lichtenberg ebenso selbstverständlich ist wie der Gebrauch der Zähne vor dem Schlucken: »Dass ich etwas, ehe ich es glaube, erst durch meine Vernunft laufen lasse ist mir nicht ein Haar wunderbarer, als dass ich erst etwas im Vorhof meiner Kehle kaue, ehe ich es hinunter schlucke.« 314
Kopf und Bauch schaffen Beweggründe des Handels. Wie ging es denn zu, bei Aushebung von Soldaten zum Einsatz in den Schlesischen Kriegen? Wie viele Rekruten hätte der König von Preußen wohl gefunden, wenn er sich bei der
308 | Vgl. Ott, 2011, S. 17. Wenn Literatur sich nicht auf das körperliche Befinden auswirkt, sollte dann nicht das Buch gewechselt werden? Mitunter soll auch die Einverleibung organischer Speise bei der Erkundung von Zusammenhängen zwischen Wissen und Speise hilfreich sein. 309 | Vgl. Lichtenberg, JI133. 310 | Ott, 2011, S. 15, zu psychologischen und diskursgeschichtlichen Arbeiten zum Thema Bibliophagie, vgl. ebd., S. 19ff. 311 | Vgl. Freiling, 2000, S. 591. 312 | Vgl. ebd., S. 592. 313 | Lichtenberg, CI191. 314 | Lichtenberg, FI768.
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Aushebung auf eine deutliche Rechtfertigung seiner Ansprüche auf Schlesien beschränkt hätte? »Antwort: Vielleicht gar keine. Gründe sind nicht für jeden Magen. Aber so wurde der Eine mit Gewalt, der Andere mit List, ein Dritter mit Geld, ein Vierter mit Branntwein, der Fünfte mit Versprechungen zur Erkenntnis des Systems der Ansprüche geführt. Die Überzeugung war da, und wenn der Kerl hieb, so sah man dem Säbel nicht an, ob die Kraft, die ihn führte, aus dem Kopf oder aus dem Magen kam.« 315
Lichtenberg schlägt vor, nicht nur die Tätigkeit von Hirn und Magen, sondern auch die Sinne des Gesichtes als Verdauung zu begreifen. Sollte wohl das Auge nur allein zum Sehen taugen oder nicht auch ein Verdauungs-Werkzeug für das Licht sein?316 Lichtenberg geht es nicht darum, die Funktionen von Kopf und Bauch auf einen gemeinsamen Nenner zu zwingen. Manche Unterschiede scheinen gar unüberwindlich. Obwohl Kopf und Bauch zur Subsistenz von Menschen beitragen, gebe es im Hirn doch keine rechte Entsprechung des Darm-Kanals, der unter den Kanälen im Körper der längste und der wichtigste sei. Der Großhandel werde allein durch ihn geführt, alles Übrige sei bloß Stapelei. Er fließe in unzählige Richtungen, dass er Muscheln durch das Herz führt, hält Lichtenberg für gewiss. Aber dass es Geschöpfe gebe, bei denen der Darm durch den Kopf gehe, sei »bloß wahrscheinlich«.317 Das hindert Lichtenberg nicht am Spiel mit Gedanken-Nahrung. In immer neuen Variationen unterstreicht er die Bedeutung der Freuden und Leiden innerer und äußerer Körperorgane für Geist und Verdauung. Vermischte Einfälle, verdaute und unverdaute Begebenheiten318 – der Titel ist Programm: »Unwidersprechliche Verständlichkeit« sei für den Geist das, was wir beim Magen Verdaulichkeit nennen. Es sei also kein Wunder, wenn bei mathematischem Genie die frühe Reife der langen Dauer nicht nachteilig sei.319 Schade sei es, dass man bei Schriftstellern die gelehrten Eingeweide nicht sehen könne, um zu erforschen, was sie gegessen haben.320 Das Bekehren der Missetäter vor ihrer Hinrichtung gleiche einer Art von Mästung, man mache sie »geistlich fett«, und schneide ihnen hernach die Kehle ab, damit sie nicht wieder abfallen.321 So wie Hühner ihre Verdauung durch das Schlucken von Steinen fördern, fände die Seele zur Verdauung von Gedanken etwas Ähnliches nötig. Be315 | Lichtenberg, VSII, 3, S. 122f. 316 | Vgl. Lichtenberg, JII1408. 317 | Lichtenberg, Materialhefte II, (MH), 19. 318 | Lichtenberg, JI. 319 | Lichtenberg, HII118. 320 | Vgl. Lichtenberg, GI34. S.u. Freud. 321 | Vgl. Lichtenberg, CI206.
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kanntlich hätte sie immer Steine in der Zirbeldrüse.322 Wer vom Lernen auf der Stube sehr viel halte, sei mitunter »gänzlich für die gelehrte Stallfütterung.«323 In Deutschland scheine sich der gesunde Appetit beim Speisen in einen nicht ganz so gesunden Appetit beim Lesen verwandelt zu haben. Einst seien Gäste zusammengelaufen, um Deutschen beim Essen zuzusehen, jetzt kämen sie, um ihnen beim Studieren zuzusehen.324 Manche Leute hätten in zehn Jahren keine Geistes-Speise zu sich genommen außer ein Paar »Journal-Grümchen«, unter Professoren seien solche Leute gar keine Seltenheit.325 Die Ursache dafür, dass Schriftsteller Satiren bloß gegen die Gelehrten und nicht auch gegen andere Leute schreiben, sei dieselbe, aus der Ärzte Hunde aufschneiden, wenn sie die Bewegung des Herzen und der Gedärme zeigen wollen, aber keine Studenten.326 In seinen Ausführungen zu Leib und Seele bzw. zu den Schwestern Helene und Judith327 unterstreicht Lichtenberg seine Begeisterung für Sprachspiele und Familienähnlichkeiten, wiederum unter Beachtung des Magens und seiner Gesundheit:328 »Diese Mädchen waren von Jugend an zusammengewachsen, wie Leib und Seele; eine war munterer, geistiger Natur und stellte die Seele, die andere träg und schläfrig und stellte den Körper vor. Sie halfen sich wechselsweise, wie Leib und Seele, und lagen [54] sich zuweilen einander in den Haaren wie, Leib und Seele auch. Zuweilen wollte die eine dahinaus, wenn die andere dorthinaus wollte, da denn die stärkste die andere auf den Buckel nahm und hingieng, wo sie hin wollte, so wie wir an Leib und Seele sehen. War Helena lustig, flugs war es Judith (so hießen sie) auch; hingegen ließ Lenchen den Kopf hängen, so hielt ihn Jüdchen auch nicht mehr. Doch hatten beyde auch eigene Krankheiten, und da hat man denn folgendes befunden. Wenn Jüdchen sich den Magen überladen hatte, so wurde Lenchen purgirt, hingegen schlug man Jüdchen eine Ader,
322 | Vgl. Lichtenberg, Vermischte Schriften II, (VS), 9, S. 216. 323 | Lichtenberg, HI18. 324 | Vgl. Lichtenberg, JI690. 325 | Lichtenberg, FI968. 326 | Vgl. ebd., DI633. 327 | Den Anstoß zu Lichtenbergs Sprachspielerei um Leib und Seele gab ein ungarisches Zwillingspaar, Helena und Judith, die am Rücken zusammengewachsen waren und in ganz Europa solches Aufsehen erregten, dass der Royal Society in London am 12. Mai 1708 von Sir Hans Sloaneam ein Bericht über sie vorgetragen wurde. Katritzky, 2004, S. 113. 328 | Neben Freud soll sich insbesondere Wittgenstein für Lichtenberg begeistert haben, der nicht das »Ich« sondern das »Es« denken ließ. Vgl. Lamping, 1992, S. 127f.
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Vom Geist des Bauches wenn Lenchen über Wallung klagte. Verfuhr man anders, so wurde der einen nicht allein nicht geholfen, sondern die andere wurde auch krank.« 329
Dass bei Seelenkrankheiten Mittel auf den Leib zu applizieren sind, hält Lichtenberg für »sonnenklar«.330 Nicht alle Krankheiten seien mit Rhabarber heilbar, also brauche es zuweilen auch »wahre Leckerbisslein, Zunge, Magen und Herz stärkende Tropfen, warme kräftige Brühen und wohlriechende Aufschläge.«331 Gelegentlich helfe auch die Rute, als kräftigstes Mittel zur Heilung des »inneren Kopfes«, das sich auf jene Teile des Leibes applizieren lasse, die dem Kopf entgegengesetzt seien, und zwar speziell bei Menschen, die ihrer Natur entsprechend auf allen Vieren gehen.332 Letzte Zweifel an der seelischen Wirkung körperlicher Eindrücke bereinigt Lichtenberg in ausführlichen Betrachtungen zur Mettwurst.333 Die Mettwurst könne bei der Ausbildung einer besseren Meinung rechtmäßig zum Einsatz gebracht werden. Wichtig sind dabei die »Geruchsteilchen«. Die »rohe« und »sündliche« Vorstellung, dass sich diese Teilchen von der Wurst losreißen, um die Seele auf andere Gedanken zu bringen, sei geeignet, uns in die Mitte zwischen La Mettrie und dem Teufel zu versetzen, ehe wir uns noch versehen.334 Könnten Geruchsteilchen Gedanken anstoßen, so müssten umgekehrt Gedanken Geruchsteilchen anstoßen und man würde riechen, was die Menschen denken. So sei es aber nicht! Einmal angenommen, die Seele sei gerade zu Hause, so betrage ihr Abstand zur Nase im arithmetischen Mittel nur etwa dreieinhalb Pariser Zoll (das sind ca. 6,77 cm) und dennoch sei vom Ersten nichts so weit entfernt wie das Letzte.335 Seelische Verursachungen seien treffend nach dem »Pulversystem« zu erklären: ein kleiner Finger berühre den Drücker einer Flinte und ein Schwein sinke in den Staub.336 Einwände gegen seine Darstellung verbittet sich Lichtenberg. Er könne sie ohnehin alle entkräften. Dazu brauche es aber mehr Zeit, als er darauf verwenden möchte. Überhaupt handle es sich bei seiner Ausschweifung um einen Lebkuchen, den er
329 | Lichtenberg, Timorus: das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogenden wahren Glauben angenommen haben, (Timorus), 1773, S. 53f. 330 | Lichtenberg, VSII, 3, S. 108ff. 331 | Ebd., S. 110. 332 | Vgl. ebd., S. 109. 333 | Vgl. ebd., S. 54ff. 334 | Ebd., S. 113. 335 | Vgl. ebd., S. 114. 336 | Ebd., S. 115.
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nur aus väterlicher Liebe vor unsere losen Mäuler halte und den er auch ganz hätte stecken lassen können.337 Das Mettwurst-Argument schafft nicht nur das Leib-Seel-Problem vom Tisch, sondern überhaupt viel Raum für ehrenwerte Gedanken, insbesondere zur Diätetik des Verstandes.338 Auch Lichtenbergs Allgemeine KüchenzettulProbe nach den neuesten Versuchen bringt den Zusammenhang zwischen Küche, Verdauung und Seelenheil auf einen Punkt. Der Einfluss der Küchen auf unser moralisches Verhalten lasse sich durch verständliche Anweisungen vorteilhaft nutzbar machen. Solle es in der Welt ordentlich hergehen, müsse erst einmal in den Küchen aufgeräumt werden. »Denn aus übel verwalteten Küchen, entsteht Verwirrung in dem Verdauungsgeschäft, und daraus der größte Teil alles Unheils in der Welt.«339 Ohne ewiges Küchenfeuer stehe es mit dem Eingang ins ewige Leben sehr misslich. Zur Verbesserung der Küchenordnung verweist Lichtenberg auf die Versuchsreihe des Herrn Gosse »Über das Verdauungsgeschäfte«.340 Luft sei für besagten Herrn ein sicheres Brechmittel gewesen, das ihm Anlass gab, seinen Magen durch das Schlucken von Wasser so rein auszuwaschen, als ob er es mit den Händen täte. Sein Hang zu den Wissenschaften habe Gosse bewogen, dieses Mittel zur Untersuchung und Prüfung der verschiedenen Systeme der Verdauung auf die Waage der Erfahrung zu legen. Bei völliger Gesundheit habe er seine Mahlzeiten eingenommen, um eine halbe Stunde später einige Mundvoll Luft zu verschlucken, um sodann mit Bequemlichkeit alles untersuchen zu können, was er gegessen hatte.341 Auf diese Weise sammelte er eine Menge von Erfahrungen, die ihn in den Stand setzten, eine Liste von Speisen nach den Graden der Verdaulichkeit zu entwerfen.342 Ganz im Sinne des Projekts einer »Diätetik für die Gesundheit des Verstandes« unterscheidet Lichtenbergs Küchenzettul zwischen leicht-, schwer- und unverdaulichen Nahrungsmitteln. Ansonsten beklagt Lichtenberg die Ablehnung einfacher Speisegewohnheiten durch seine Zeitgenossen und die Vorliebe für Produkte aus geographisch weit entfernten Regionen.343 Geschmack und Kräfte hätten sich voneinander entfernt. Unser Appetit sei leckerer als es unser Boden mit sich bringe.344 Sei es nicht abscheulich, Dinge zur Nahrung oder zur Befriedigung seiner Lecker337 | Vgl. ebd. 338 | Vgl. Lichtenberg, DII251. 339 | Lichtenberg, Göttinger Taschencalender 1786 (GTC 1786), S. 93. 340 | Freiling, 2000, S. 568. 341 | Vgl. Lichtenberg, GTC 1786, S. 94ff. 342 | Vgl. ebd., S. 96. 343 | Vgl. Freiling, 2000, S. 577. 344 | Vgl. Lichtenberg, FI490.
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haftigkeit zu wählen, die ein paar tausend Meilen entfernt von unserer Gartenmauer wachsen?345 Zur Beurteilung einer Mahlzeit solle man einmal die Breitengrade berechnen, die in unserm Mund oder Magen überbrückt werden.346 Neben globaler Lebensmittelwirtschaft wendet sich Lichtenberg gegen Leckerhaftigkeit. Als besonders gefährlich erscheinen ihm die Machenschaften der Zuckerbäcker, auf deren Geheiß »oft nicht bewachte weißarmigte Nymphen mit seidenen Hütchen und seidenen Schlenderchen« den Teufel los machten, um den gesättigten Magen mit Pasteten und Torten lüstern zu machen.347 Nichtsdestoweniger gewinnt Lichtenberg auch dem »Feinschmeckertum« der zeitgenössischen Lebenskultur Positives ab: eine anregende Wirkung auf den Erfindungsgeist.348 Speisen hätten einen sehr großen Einfluss auf den Zustand der Menschen. Der Einfluss von Wein sei leicht und schnell ersichtlich, der Einfluss der Speisen erfolge langsamer, aber ebenso gewiss: Vielleicht verdanken wir die Luftpumpe einer gut gekochten Suppe und den Krieg einer schlechten?349 Stehe hinter dem Einfluss des Klimas vielleicht der Einfluss der Speisen? Mit solchen Fragen nimmt Lichtenberg das Projekt einer umfassenden Ökologie 345 | Vgl. Lichtenberg, LI357. 346 | Vgl. Lichtenberg, LI388. 347 | Lichtenberg, Brief an Ernst Gottfried Bailinger, Bw I, 269, S. 488f. 348 | Lichtenberg, GTC 1778, S. 31ff., vgl. GTC 1787, S. 187ff. Lichtenbergs Kollege Johann Georg Forster (1754-1794) lobt in einem Essay Über Leckereyen die Verfeinerung der Leckerei als Antrieb der allgemeinen Aufklärung. Vgl. Forster, 1843, S. 179. Laut Freiling ordnet Forster Differenzen im gustatorischen Wahrnehmungsvermögen in eine ›Hierarchie des Geschmacks‹, an deren Spitze er die verfeinerte, universell orientierte, für vielfältige Eindrücke empfängliche Sinnlichkeit stellt – als Ursache der Entstehung zivilisierter Esskultur. Freiling, 2000, S. 580. Die Grundbegriffe ästhetischer Empfindung seien aus der reflexiven Auseinandersetzung mit der durch Nahrung ausgelösten Genussempfindung ableitbar. Leckerei sei nicht eine Erfindung eines Hungrigen, sondern die Folge des Nachdenkens über einen gehabten Genuss! Die Verbindung der »Naturanlagen« zu geschmacklicher Empfindung und sprachlichem Ausdruck gebe dem Naturforscher und Anthropologen reichhaltigen Stoff zum Nachdenken. Vgl. Forster, 1843, S. 184. Da die Eigenschaften der Speisen auch die Beschaffenheit der Säfte verändern, sei ihnen ein wesentlichster Einfluss auf die ganze menschliche Organisation zuzugestehen, auch auf Gehirn und Nervensystem. Vgl. ebd., S. 179. Wie auffällig seien doch »die Wirkungen jenes feinen, fast unsichtbaren Consensus zwischen den Werkzeugen des Verstandes und denen der Verdauung.« Vgl. ebd., S. 180. Der Adlerblick des Verstandes und die Blitze des Geistes seien mitunter von der Esslust des Magens abhängig, die Stimmung unserer Gefühle ganz offenbar von der vermehrten oder geringeren Reizbarkeit der Nerven des Unterleibs. Vgl. ebd. 349 | Vgl. Lichtenberg, AI43.
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der Verdauung vorweg, in dem die Wirkung der Außenwelt auf die organische Innenwelt Berücksichtigung findet. So interessiert sich Lichtenberg denn auch für funktionelle Störungen des digestiven Gleichgewichts durch die Aufnahme übermäßiger Mengen an Nahrung bei Lese- und Studiersucht, die er in Zusammenhang mit gestörtem Trinkverhalten und insbesondere dem Missbrauch von Branntwein stellt: »Wie wird getrunken? Ich möchte fast antworten: gerade so wie gelesen wird, ohne allen Plan und Absicht alles durcheinander. Wirklich nimmt auch nicht selten das viele Lesen gerade ein solches Ende, wie das viele Trinken. [...] Lesen ist trinken, also sehr nötig zur Geisteserhaltung, aber nehmt Euch in acht die ihr das Buch nicht aus der Hand legt, dass es euch nicht ergeht wie denen, welchen das Glas nicht aus der Hand kömmt.« 350
Einerseits sei Studieren zwar mitunter angenehm, andererseits aber ebenso schädlich wie das Trinken von Branntwein. Der »Obergeneral Branntwein«351 berge, anders als Wein und Bier, die bei maßvollem Gebrauch sogar nahrhaft seien, ein destruktives Potential, dessen Folgen ein Schild mit einer kopflosen Frau in Hogarths Horror-Szenario der Gin-lane vor Augen führe: »Branntwein setzt Geist an die Stelle des Kopfs, und Geister können nicht gemalt werden«.352 Ähnlich gefährlich sei ungehemmter Literaturmissbrauch, der insbesondere junge Konsumenten zu »Stumpfen Pedanten« und »Excerpten-Lieferanten« machen könne.353 Vor dem Lesen sollte gewarnt werden wie vor der Selbstbefriedigung. Als Motivation für die intensive Auseinandersetzung Lichtenbergs mit der Suchtgefahr kann der Umstand angesehen werden, dass er selbst zu der Gruppe der Süchtigen zählte: Lesen und Schreiben sei für ihn so nötig wie Essen und Trinken.354 Er hoffe, es werde ihm nie an Büchern fehlen. Auch beim Umgang mit Alkohol hielt er sich nicht an die Vorgaben nüchterner Vernunft:355 Man solle wenigstens einmal ausprobieren, was »die Vernunft auf den Flügeln des Champagners ausrichten könne.«356 Lichtenberg plante Ab350 | Lichtenberg, GTC 1795, S. 205. 351 | Freiling, 2000, S. 156. 352 | Lichtenberg, Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, (Hogarth), 6. 353 | Lichtenberg, JI1. 354 | Vgl. ebd., JI1150. Vgl. Freiling, 2000, S. 566. 355 | Dafür sprechen einschlägige Bemerkungen von ihm selbst. Vgl. Beutel, S. 45ff. Neben Bier und Wein erscheint im Tagebuch häufig das griechische Wort »kéras« (»Füllhorn«), Lichtenbergs Code für Schnaps: »ein wenig kéras des Morgens«, »etwas kéras des Morgens«, »etwas viel kéras«, »morgens viel kéras«. Beutel, S. 45. 356 | Lichtenberg, Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen nebst einer Vorrede über das Methyologische Studium überhaupt, SB, Bd. 3, S. 230 f.
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handlungen über den Methyologischen Blick und das Methyologische Gefühl, die aber nicht zur Ausführung kamen und ein philosophisches Desiderat bleiben. Gerade im Alltag abendländischer Philosophen erfreuen sich Wechselwirkungen zwischen Rausch, Verdauung und Geist wohl seit jeher einiger Beliebtheit. Wenn begabte Geister im akademischen Alltag Mangelerscheinungen zeigen, so sollte geprüft werden, ob Alkohol zur Behebung des Mangels beitragen kann. Ein philosophischer Text ist nicht genau dann gelungen, wenn er uns hinlänglich zum »g-ä-h-n-e-n« anregt.357 Sollte Alkoholgebrauch der Produktion von Texten im Stile Lichtensteins förderlich sein, so wären die mit dem Missbrauch verbundenen Risiken neu zu evaluieren. Dass der scharfe und tiefsinnige Witz seiner Text-Menüs nicht allen Lesern schmackhaft sein würde, war Lichtenberg bewusst. Sein Geschick bei der Vermittlung zwischen dem Alltag seiner Leserschaft und seinen VerdauungsSpielen unterstreicht Lichtenberg in dem »Gespräch zwischen einem Leser und dem Verfasser«, das den Leser zum Gast und den Verfasser zum Wirt werden lässt: »Der Gast. Was haben Sie Gutes Herr Wirth? Der Wirt. Nichts als was Sie hier sehen, was auf dem Küchenzettel steht, den Sie soeben in der Hand halten. Der Gast. Und ist das alles? Der Wirt. Alles, mein Herr. Der Gast. Aber sagen Sie mir um aller Welt willen, konnten Sie nicht auf etwas Besseres gefasst machen? Der Wirt. Ja was heißen Sie besser, mein Herr, ist das nicht gut? Der Gast. Nein, so etwas was mehr widerhält. Sauren Kohl und Speck, oder so etwas. Der Wirt. Das habe ich nicht, wenn ich gewusst hätte, dass ich die Ehre von Ihnen haben würde, und dass Sie sauren Kohl und Speck liebten, so hätte ich mich vorgesehen. Aber es kommen Personen so viel, und jeder verlangt etwas anders, so dass ein armer Wirt nicht weiß, was er anschaffen soll. Dieses Gericht fand gestern Beifall. Der Gast. Dass Sie doch keinen sauren Kohl haben! – Doch, wenn es nicht anders ist, so geben Sie her. Der Wirt. Ich hoffe, Sie sollen zufrieden sein, es ist zwar nur ein schlechtes Gericht, aber ich weiß es auf eine eigene Art zurechtzumachen; ich werfe allerlei daran, was einem hungrigen Magen bekommt. Belieben Sie näher zu treten mein Herr.« 358
Sinnliche und ästhetische Urteile fallen ineinander. Der Geschmack des Publikums sei schwer zu vergnügen, bei Trockenheit werde nach Versüßungen der Schreibart und des Witzes verlangt. Sei das gegeben, wolle das Publikum 357 | Lichtenberg, Brief an Joel P. Kaltenhofer, o.D. (21.06.1772?), Bw I, 64, S. 115. 358 | Lichtenberg, CI317.
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die bitteren Heilkräfte deutlicher schmecken. Den durchgängigen Doppelsinn der Urteile führt Lichtenberg am Ort der Begegnung zukünftiger Urteile über den Zeitgeist bei Sprache und Speise zielsicher zur Pointe: »zur immer unparteiischen Zunge der Nachwelt«.359
B auchpflege bei den ersten G astrosophen Der Begriff ›Gastrosophie‹ erscheint erstmals in einer Schrift von William_ Maginn (* Juli 1794 in Cork; † 21.08.1842 in Walton-on-Thames) aus dem Jahre 1824. Bei Maginn erledigen die Köche und Kellner eines Kaffee-Hauses ihre gastrosophischen Arbeiten« (»works of gastrosophy«) mit der »Sorglosigkeit erh»abener Philosophie«.360 Für die weitere Entwicklung des Begriffs ist insbesondere die Physiologie des Geschmacks von Jean Anthelme Brillat-Savarin (* 1.04.1755 in Belley; † 2.02.1826 in Paris) maßgeblich. Seine Ideen zu einer »transzendentalen Gastronomie« (»gastronomie transcendantale«) liefern entscheidende Anhaltspunkte für das, was wir heute unter Gastrosophie verstehen. Wichtige Beiträge finden sich aber auch bei Charles Fourier (* 7.04.1772 in Besançon; † 19.10.1837 in Paris) und seiner Idee einer »ausgeglichenen 359 | Lichtenberg, FI1051. 360 | Maginn (Pseudonym Sir Morgan O’Doherty), 1824, S. 642; vgl. Röttgers, 2009, S. 41. Sicher bezieht sich der Begriff der Gastrosophie bei Maginn zunächst auf die gastronomische Befriedigung kulinarischer Wünsche der Gäste in Toms Kaffeehaus. Wenn wir die entsprechende »Arbeit« der Köche und Kellner als schöpferischen Umgang mit den Grundlagen ihres Lebensunterhaltes verstehen, so zu diesem Umgang die Pflege der Verdauung anderer mit der Pflege eigenen Verdauung. Wie soll sich erhabene Philosophie sonst sorglos entwickeln? Das passende, gastrosophische Ambiente fördert das erfreuliche Zusammenspiel von Gedanken, Café und Mulligataway. Was sich bei Maginn andeutet, bestätigen seine Nachfolger: das »tiefere« Interesse der Gastrosophie wurzelt im Bauch, Nomen est omen, der Name ist Programm. Gastrosophie beschränkt sich tatsächlich nicht auf »die Angelegenheiten des Gastronomischen«. Lemke, 2014, S. 10. Es muss deshalb überraschen, wenn Lemke bei seiner Bestimmung des Begriffs der Gastrosophie Maginns Beitrag schlichtweg übergeht, vgl. ebd.; gleichfalls Lemke, 2007. Unangebracht scheint weiterhin die Unterschätzung von BrillatSaverin für die Entwicklung des Begriffs der Gastrosophie. Selbst wenn es zuteffen sollte, dass Brillat-Saverin Gastrosophie »aus der Perspektive eines typischen Gourmets«, betreibt, vgl. ebd., S. 11, so macht ihn das doch nicht zu einem, wenn man mit Lemke so sagen darf, »unechten Gastrosophen«, vgl. ebd. Gerade mit seinen Bemerkungen zur Verdauung, s.u., berührt Brillat-Saverin eine zentrale Dimension des menschlichen Nahrungsgeschehens, bzw. grundlegende Aspekte für die philosophische Gesamtdimension des Essens.
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Gourmandise zur Befriedigung von Geschmack, Imagination und Magen«,361 in den Ausführungen zum Geist der Kochkunst von Carl Friedrich Ludwig Felix von Rumohr (* 6.01.1785 in Reinhardtsgrimma; † 25.07.1843 in Dresden) und zu magenfreundlichen Tafelfreuden von Friedrich Christian Eugen Baron von Vaerst (* 10.04.1792 in Wesel; † 16.09.1855 in Herrendorf bei Soldin). Dreh- und Angelpunkte der frühen Entwürfe waren die Wirkung von Speise auf die Verdauung und den Geschmack. Die etymologische Herkunft der Gastrosophie, aus gastér (›γαστήρ‹), d.h. Bauch, Magen, Sitz der Esslust, und sóphos (›σóφos‹), d.h. der Weise, der Mann des Geschmacks, legt das nahe. So wie allerdings auch in manchen philosophischen Texten nicht mehr viel von einer ursprünglichen Liebe zur Weisheit zu spüren ist, lassen auch manche gastrosophischen Darstellungen das ursprüngliche Gefühl für den Bauch vermissen. Es dürfte aber kaum gelingen, »die facettenreiche Ganzheit der Praktiken menschlicher Ernährung in den Blick zu bekommen«,362 wenn auf gastrosophischen Gedankengängen die Motive des Bauches unter den Tisch fallen.363 Gerade in Hinblick auf die sinnliche Freude beim Essen steht Verdauung hinter den Wechselwirkungen zwischen Geschmack und Urteilsvermögen. Dass unterstreichen die Schriften von Brillat-Savarin, Fourier, Rumohr und Vaerst in denen die Verdauung jeweils eine grundlegende Rolle spielt. Den unterschiedlichen Interessenlagen entsprechend, akzentuieren die gastrosophischen Autoren diese Rolle auf verschiedene Weise. Auch für das philosophische Interesse an Ernährung bildet der Bauch eine Konstante mit enormer Wirkungsgewalt. Manches Problem bei der Entwicklung 361 | Fourier, 1967, S. 283: »gourmandise équilibrée par la variété qui satisfait à la fois le goût, l’imagination et l’estomac«. 362 | Lemke, 2001, S. 270. 363 | Lemke bemerkt, dass keines unserer Organe gefräßiger ist als das Gehirn, vgl. Lemke, 2014, S. 151, vernachlässigt aber die Rolle des Bauches bei der Fütterung der Neuronen. Den Verkettungen zwischen Denksport, Drogen und Esskultur beim »Training der schwachen Denkmuskeln«, ebd, S. 160, fehlt eine sichere Bindung zwischen organischer und metaphorischer Verdauung, trotz vielversprechender Bemühungen um die Verdauung bei Hegel, Feuerbach und Nietzsche. So erscheinen Verdauungsfunktionen bei Lemke als ein »bislang weitgehend unbekanntes Territorium«, ebd., S. 148. Sicher gab der Bauch auch den frühen Gastrosophen, die sich mit Wirkungen von Speise auf die Verdauung gut vertraut glaubten, Rätsel auf, lieferte aber auch Gewissheiten. Wer kann schon wissen, was wissenschaftliche Fortschritte und persönliche Erlebnisse zu kommenden »Abenteuer der Menschheit« bei der Erkundung des Bauches beitragen werden? Gerade unter dem Eindruck der kulinarischen Missstände unserer Zeit geben überlieferte Einsichten dem gastosophischen Abenteuer eine verlässliche Grundlage. So eignen sich etwa die Ausführungen zur leichten Verdaulichkeit von Salat bei Vaerst etwa ausgezeichnet zur Stützung von Lemkes Plädoyer für fleischarme Ernährung.
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eines spezifisch philosophischen Interesses für kulinarische Kritik ergibt sich aus dem mangelnden Verständnis für die Bezüge zwischen Geschmack, Geist und Bauch.364
Brillat-Saverins Kategorien Zu Lebzeiten von Jean Anthelme Brillat-Saverin orientierte der philosophische Mainstream seinen Anspruch auf Erkenntnis an physiologischer Forschung. Die Physiologie inszenierte sich als gründliche und sichere Form der Selbsterkenntnis, die in Wendung des Subjekts auf sich selbst einen ersten und sicheren Halt findet.365 Die Selbsterkenntnis gründete sich auf »direkte Beobachtung der Lebensphänomene am Menschen«.366 Erkenne Dich selbst: physiologisch!367 Die Erklärung der Vorgänge des Denkens durch Ausgriff auf physikalische Aspekte gastrischer Verdauung erlebte eine wissenschaftliche Renaissance. Die Physiologie setzte dazu an, der Vorstellung des denkenden Menschen die Vorstellung des verdauenden Menschen überzuordnen.368 Denken, Gefühl und Ausdruck wurden aus dem Bereich der Eindrücke unserer Sinne (›percepta‹) in den Bereich der Hygiene und besonders der Nahrungsaufnahme (›ingesta‹) und -abgabe (›secreta‹) überführt.369 Der Physiologe 364 | Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch Sylvester Graham (* 5.07. 1794; † 11.09.1851), ein Prediger und Verfechter vegetarischer Reformdiät in den USA, der die geistige Dimension der Verdauung auf dem Hintergrund christlicher Lehren thematisiert: Der Magen, »the common index of the whole system«, solle erzogen werden wie ein Kind, gerade auch in moralischer Hinsicht. Völlerei steige aus den Därmen wie eine Anakonda zum Gehirn. Seine Rhetorik gegen Übermaß beim Essen entwickelt Graham auch im Zusammenhang mit der Verurteilung von Masturbation und seinen Erklärungen zur Cholera-Epidemie von 1832. Schwartz, 1986, S. 30ff. 365 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 225. 366 | Bérard, 1848ff., I, S. 26, Vgl. Rigoli, 2006, S. 225. Es kam zur Annahme einer Zeitgenossenschaft zwischen der Physiologie und den ersten Menschen, die schon im Zustand der Wildheit über die Erscheinungen nachgedacht hätten, die sie mit der Natur verbinden. Das Wissen, das wir über uns selbst haben, werde seitdem immer umfassender, in Hinblick auf mechanische Erscheinungen im und am Körper und auf den menschlichen Geist. Physische Erklärungen immaterieller Funktionen waren en vogue. 367 | Noch bevor Claude Bernard das delphische Gebot 1879 explizit zum Titel einer physiologischen Schrift erhob (»Connais-toi toi même«) unterstrich seine Erscheinung als Epigraph oder Inschrift in griechischer oder lateinischer Form die Bereitschaft der physiologischen Forschung zur Behandlung philosophischer Fragen. Vgl. Rigoli, 2006, S. 241. 368 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 226. 369 | Vgl. ebd., S. 227.
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Pierre-Jean-Georges Cabanis unterstrich die Abhängigkeit intelligenter Operationen von organischer Tätigkeit370 und aktualisierte die Gleichsetzung von Denken und Verdauung: Im Gehirn werden Gedanken produziert, im Magen Säfte ausgeschüttet und in den Därmen wird verdaut.371 Das Gehirn werde aktiv, wenn es Eindrücke erhalte, der Magen, wenn ihn Nahrung erreiche. Diese werde im Darm qualitativ verändert, so wie Eindrücke im Gehirn zu Ideen geformt werden. Das Gehirn verdaue seine Eindrücke, es leiste eine organische Sekretion des Denkens.372 Überlegungen zur Assimilation prägten die gängigen Metaphern zur Erklärung der intellektuellen und sittlichen Funktionen des Körpers.373 In der Debatte um die Reichweite physiologischer Erklärungen zu Funktionen von Magen, Geschmack, Leidenschaften und Gefühl stießen die Vertreter physiologischer Ansätze auf geisteswissenschaftlichen Widerstand. Sind Erklärungen zur stofflichen Beschaffenheit von Speiseröhre und Magen, der Verbrennung von Nahrung und den mechanischen Funktionen der Verdauung wirklich geeignet, unseren Geschmack für Nahrung zu schärfen?374 Entscheidet nicht unser Gefühl darüber, was uns zur Speise dienen kann und was nicht? Die Debatte zwischen den Physiologen und Literaten war lebendig, die Gegensätze waren nicht immer starr. Unter den Mischformen zwischen physiologischen und literarischen Ansätzen nimmt die Physiologie du goût von Brillat-Saverin eine wichtige Stellung ein.375 Brillat-Savarin sucht den Dialog mit beiden Seiten, besonders in der Ausgabe von 1839, der sowohl Balzacs Traité des excitants modernes376 als 370 | Cabanis, 1805, Bd. 1, S. 160: »Car si nous considérons les opérations de notre intelligence, nous voyons qu’elles dépendent des facultés attachées à nos organes.« 371 | Vgl. ebd., S. 152f: »La fonction propre de l’un [des Gehirns] est de percevoir chaque impression particulière, d’y attacher des signes, de combiner les différentes impressions, de les comparer entre elles, d’en tirer des jugements et des déterminations; comme la fonction de l’autre [des Magens] est d’agir sur les substances nutritives, dont la présence le stimmule, de les dissoudre, d’en assimiler les sucs à notre nature.« 372 | Vgl. ebd., S. 154: »Nous concluons, avec la même certitude, que le cerveau digère en quelque sorte les impressions; qu’il fait organiquement la sécrétion de la pensée.« 373 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 227. 374 | Vgl. Crevier, 1765, II, S. 225, zitiert nach Rigoli, 2006. 375 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 228f. 376 | Balzacs Bemühungen um einen eigenen gastrosophischen Ansatz bleiben diffus. Seine bildreiche Beschreibung der Wirkung von Kaffee auf Magen und Geist unterstreicht die gewaltigen Wirkungen des Bauches auf das Gehirn: »[Gemahlener Kaffee verlangt nach den Verdauungssäften des Magens] wie eine Pythia nach ihrem Gott, er bedrängt seine hübschen Wände wie ein Kutscher, der junge Pferde misshandelt, die Gewebe entzünden sich, lodern auf und lassen ihre Funken bis in das Gehirn sprühen.«
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auch eine dialogische Einleitung mit dem Arzt Anthelme Baron von Richerand beigefügt wurde.377 Die Verdauung ist für Brillat-Savarin die Grundlage der Entwicklung der philosophischen Beschäftigung mit Nahrung: »Man lebt nicht von dem was man isst... sondern von dem was man verdaut. Zum Leben braucht es Verdauung und diese Notwendigkeit gilt auf einem Niveau das den Armen und den Reichen, den Hirten und den König gleichermaßen betrifft.« 378
Um die Verdauung zu verstehen, sollen wir laut Brillat-Savarin beachten, was ihr vorhergeht und was auf sie folgt. Dort, wo die Verdauung im eigentlichen Sinne beginnt, im Magen, ende das Reich des Willens. Die Verdauung sei ein rein mechanischer Vorgang, an dem sowohl Erwärmung und Fermentation als auch chemische und biologische Auflösung beteiligt seien. Verdauen müssen alle Menschen, wie auch atmen und schlafen. Von allen Körpertätigkeiten habe die Verdauung den meisten Einfluss auf den moralischen Zustand einer Person. Das könne niemanden erstaunen und es könne unmöglich anders sein!379 Die einfachsten psychologischen Prinzipien würden uns lehren, dass unsere Seele durch unsere Organe stimuliert werde, dass die Organe ihr unterstellt seien und sie in den Kontakt mit der Außenwelt brächten. Deshalb habe die Beschädigung der Verdauungsorgane – würden sie etwa irritiert oder schlecht ernährt – einen Einfluss auf unsere Empfindungen. Würden die Organe schlecht erhalten oder abgenutzt, so beeinflusse das notwendig die Wahrnehmung, bzw. die Organe der intellektuellen Operationen. So könnten uns die Abläufe der Verdauung traurig, fröhlich, feinfühlig, gesprächig, mürrisch oder melancholisch stimmen, ohne dass wir es bemerkten und ohne dass wir uns dagegen wehren könnten.380 An dieser Stelle trifft Brillat-Savarin seine berühmte Einteilung der zivilisiertem Menschheit in drei
Eine Analyse dieser Wirkungen ist laut Balzac aber ausgeschlossen. Vgl. Balzac, 1979, S. 315; vgl. Ott, 2011, S. 119. 377 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 229. 378 | Brillat-Savarin, Physiologie du goût (PdG), XVI, §79, S. 174. 379 | Vgl. ebd., §82, S. 179. Mit Ott ist anzumerken, dass Brillat-Saverin die These einer nutritiven Beeinflussung des Geistes ernsthaft vertritt. Trotz manchem ironischen Unterton folge er dabei einer im 19. Jahrhundert verbreiteten, utilitaristischen Logik. Er wollte Dichtung durch gezielte diätetische Maßnahmen verbessern, so wie er auch meinte, dass stärkende Fleischbrühe romantische Tendenzen fördere. Ott, 2011, S. 107f. 380 | Vgl. Brillat-Savarin, PdG, XVI, §82, S. 179.
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Kategorien: die Regelmäßigen, die Verstopften und die Beschleunigten (»les réguliers, les réservés et les relâchés«).381 Brillat-Saverins Ausführungen zur Verdauung betreffen die Vitalität von Körper und Psyche gleichermaßen. Jede Leistung scheint ihm durch Ernährung beeinflusst, mangelhafte Ernährung behindere körperliche und geistige Arbeit. In seiner Auseinandersetzung mit Versuchen zur wissenschaftlichen Bestimmung von Diätregeln auf der einen Seite und philosophisch-theologischen Widerständen gegen Tafelgenüsse auf der anderen, bezeichnet BrillatSavarin die Feinschmeckerei als eine unbedingte Unterwerfung unter die Befehle des Schöpfers, der uns anbefahl, zu essen, um zu leben, und der uns zum Essen durch den Appetit einlädt, uns durch Geschmack in Erfüllung unserer Pflicht aufrechterhält und durch das Vergnügen für diese Pflichterfüllung belohnt.382 Es sei gefährlich, die Vorgänge der Verdauung durch geistige Arbeit oder gar durch die Freuden der Fortpflanzung zu stören. Der Strom zu den Pariser Friedhöfen reiße jedes Jahr hunderte von Menschen mit sich, denen es nicht gelungen sei, sich nach einem guten oder einem zu guten Essen die Ohren zu verstopfen und die Augen zu schließen.383 Trotz seiner Einsicht in Zusammenhänge zwischen Sexualität und Verdauung bemerkte der Honoré de Balzac (* 20.05.1799 in Tours; † 18.08.1850 in Paris), Brillat-Saverin habe zwar Partei für den Geschmack der Gastronomen ergriffen, die tatsächliche Freude an Speise aber unterschätzt. Die Verdauung brauche alle Kraft des Menschen. Dieser innere Kampf werde von den Freunden des Bauches (»les gastrolâtres«) als den höchsten Freuden der Liebe gleichwertig erachtet. Die Entfaltung der vitalen Fähigkeiten gehe so weit, dass unser Gehirn sich selbst zugunsten des zweiten Gehirns im Diaphragma annulliere.384 Sicher, auch Brillat-Saverin bereitet die Erfassung der Verdauungskraft mitunter Schwierigkeiten. So wirkt manche Begründung der »analytischen Gastronomie« von Verdauung und Sexualität erheiternd. Wie ist es zu erklären, dass der Genuss von Fisch auf den Zeugungstrieb wirkt und den Instinkt der Fortpflanzung bei beiden Geschlechtern erregt? Laut Brillat-Saverin wirken Bestimmte Formen der Zubereitung irritierend, Kaviar, saurer Hering, marinierter Thunfisch, Kabeljau, Stockfisch und ähnliches. Besorgt zeigt er sich auch über die höchst entflammbaren Körpersäfte der Fische, die in der Verdauung mitunter oxidieren und ranzig werden können.385 381 | Ebd. 382 | Vgl. ebd., XI, §55, S. 121. 383 | Vgl. ebd., XVI, §82, S. 180. 384 | Balzac schreibt wörtlich vom »second cerveau, placé dans le diaphragme«, Balzac, 1979, S. 495f., ähnlich später Gershon vom »second brain«, s.u., Abschnitt 4. 385 | Vgl. Brillat-Saverin, PdG, VI, §41, S. 68.
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Dessen ungeachtet lassen Brillat-Saverins Einsichten kulinarische Emotion und unbeschreibliches Wohlbehagen386 von Bauch und Gaumen zu bestimmenden Anliegen der Gastrosophie werden. Dabei stützt sich der Aphorismus »Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist«387 nicht allein auf vordergründige Erlebnisse des Geschmacks, sondern beinhaltet die Sorge zur passenden Befriedigung des Verdauungsapparats. Und wenn das Schicksal der Völker bei Brillat-Saverin von ihrer Ernährung bestimmt wird,388 so spielen gefüllte Bäuche dabei eine kaum zu unterschätzende Rolle: »›Beeilen wir uns‹, sagte ein englischer General, ›unsere Soldaten in den Kampf zu senden, solange sie noch ein Stück Rind im Magen haben.‹«389
Fouriers gastrischer Krieg Charles Fourier entdeckte ein »gastronomisches Einverständnis« mit seinem Cousin Brillat-Savarin schon als junger Mann auf einer gemeinsamen Reise.390 Auf diesem Hintergrund entwickelte er seine Wertschätzung guter Speise und Verdauung zu einem kennzeichnenden Zug seiner sozialen Utopien zum freiheitlichen Umgang mit menschlichen Trieben, Emotionen und Fähigkeiten. In Fouriers utopischer Ordnung der ›Harmonie‹ leben Kinder, Frauen und Männer in landwirtschaftlichen oder industriellen Produktions- und Wohngemeinschaften (›Phalange‹), die ihren Fähigkeiten, Leidenschaften, Charakteren und Geschmäckern entsprechen. Fade Moral kommt nicht zum Zuge, wenn Fourier seine Vorstellungen zur sexuellen Freiheit digestiv untermauert. Genie und Wahnsinn begegnen sich insbesondere in seiner Utopie eines Krieges, der ›petits pâtés‹: Enorme Freiwilligenarmeen formen sich, um auf ihrem Zuge Gutes zu tun, Liebe zu machen und die besten Küchenrezepte zu erproben. Tausende von Köchen und Geschmacksexperten aller Nationen treffen zu einem Krieg zusammen, in dem niemand stirbt, der aber allen Beteiligten Freude bereitet. Gute Verdauung wird zur Soldatenpflicht. Während der Tage der Schlachten denken die Kämpfer an nichts weiter, als die geregelte Funktion ihrer Mägen aufrecht zu halten und alles zu vermeiden, was ihnen die Freude an den ›petits pâtés‹ verleiden könnte.391 Für Zivilisten wäre es unmöglich, die gastronomische Weisheit zu erreichen. Den Soldaten der Armee der Harmonie mit ihren kraftvollen Mägen falle sie dagegen leicht. Seine Idee für einen solchen Krieg entwickelte Fourier 386 | Vgl. Onfray, 1995, S. 167 bzw. S. 20. 387 | Brillat-Saverin, PdG, Aphor. IV, S. IV. 388 | Vgl. ebd., Aphor. III, S. IV. 389 | Ebd., XVI, §82, S. 180. 390 | Fourier, Le Nouveau Monde amoureux, (NMA), S. 135. 391 | Vgl. ebd., S. 354.
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mit tiefsinniger Ironie, weitblickender sozialer Verantwortung und verwirrender Undeutlichkeit. Meine Darstellungen sind grobe Vereinfachungen, ja Verunstaltungen seiner Gedanken, geben aber zumindest eine gewisse Idee der Bedeutung der Verdauung bei Fourier, die in der akademischen Forschung bisher leider kaum Aufmerksamkeit geweckt hat. Fourier kritisiert die ›Gastronomen‹, die weder praktisch noch theoretisch auf der Höhe des Geschehens seien, wenn sie das Thema Gastrosophie in der Tonlage fröhlicher Plauderei anschneiden. Solle die Gastronomie zu einer ehrenwerten Wissenschaft avancieren, müsse sie den Bedürfnissen aller entsprechen.392 Um das zu erreichen, sollen Gastronomie, Konserven, Küche und Kultur die vier Räder des Geschmackssinnes in der harmonischen Gesellschaft bilden. Aus diesen vier Funktionen solle sich die Gastrosophie als hygienische Weisheit entwickeln, die es auf die verschiedenen menschlichen Temperamente anzuwenden gelte.393 Harmonische Philosophie verbinde sich dann mit Freude und Landwirtschaft, die Medizin mit dem Geschmack.394 Die soziale Not seiner Zeitgenossen nimmt Fourier ernst. So beschäftigt ihn die Not in Irland: Dort gebe es eine Epidemie des Volkes: Die Kranken würden geheilt, wenn ihnen in den Krankenhäusern Nahrung gegeben werde. Die Krankheit nenne sich Hunger, weder der Gouverneur, noch der Bischof von Dublin seien betroffen, die Großen riskierten eher Verstopfung.395 Auch in Paris schlüge sich eine Minderheit von Vielfressern (»gastrolâtres«) den Bauch voll, während sich eine Mehrheit von Plebejern mit einem Simulakrum von Suppe begnügen müsse.396 Man solle einmal zusehen, wie sich französische Bauern ernähren, selbst wenn sie nicht an Hunger litten! Acht Millionen Franzosen würden sich nicht von Brot, sondern von Kastanien und ähnlichen Kläglichkeiten ernähren, während anderswo ganze Ernten in den Gully entsorgt würden.397 Um die Misere zu beheben, müsse die Gastronomie direkt mit der Produktion verbunden werden und am Wohlergehen der Arbeiter mitwirken. Die vier Funktionen des Geschmacks seien dazu einer dauerhaft beständigen Gourmandise zu unterstellen.398 Laut Fourier entspringen die allgemeinste sowie die erste und die letzte der Freuden des Menschen aus der Ernährung und der Gourmandise.399 Er unterscheidet materielle und politische Gourmandise. Erstere bestehe in der 392 | Vgl. Fourier, Le Nouveau monde industriel et sociétaire (NMIS), S. 259. 393 | Vgl. ebd., S. 258. 394 | Vgl. ebd., S. 260. 395 | Vgl. ebd., S. 30. 396 | Ebd., S. 259. 397 | Vgl. ebd., S. 30. 398 | Vgl. ebd., S. 259. 399 | Vgl. ebd., S. 126.
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Ausübung des Geschmacks, letztere in der Nahrungszubereitung (»praktische Gastrosophie«), der Verdauungsbeschleunigung (»theoretische Gastrosophie«) und in der Anwendung der beiden ersten Formen politischer Gourmandise (»gemischte Gastrosophie«).400 Die neue Wissenschaft der Gastrosophie denkt er sich so: Gourmandise und Gastronomie werden in ihrem besonderen Bezug auf individuelle Temperamente betrachtet, um die ihnen heilsamen Gerichte mit hoher Genauigkeit zu bestimmen.401 Das erlaube die Prüfung verbreiteter Vorurteile gegen die damit verbundene Freude. In einer Ordnung des unendlichen Reichtums, in der Menschen nichts weiter bedürften als Gesundheit, wäre die Gastrosophie eine Wissenschaft von erstem Rang. Sie könne den Weg zur Herrschaft der Hygiene weisen und sei ein Unterpfand für erhöhte Konsumation. Zu deren Bewältigung solle das ganze Menschengeschlecht mit Straußenmägen ausgestattet werden. Die Förderung der Verdauungskräfte ist ein wichtiges Anliegen in Fouriers Utopie der harmonischen Gesellschaft.402 Die Gastrosophie unterstütze eine vielseitige und ausgeglichene Feinschmeckerei (»gourmandise«), die Geschmack, Imagination und Magen den persönlichen Temperamenten entsprechend gleichermaßen befriedige. Werde Gastronomie zur Gastrosophie, also zur hohen gastronomischen Weisheit, sei sie eine tiefe und erhabene Theorie des sozialen Ausgleichs.403 Gastrosophie sei eine soziale Gleichgewichtstheorie, eine wissenschaftlich begründete Utopie sozialer Kunst.404 Konkret rät Fourier dazu, den Magen etwa eine halbe Stunde vor dem Essen durch eine Vormahlzeit anzuregen.405 So könne man sich mit Appetit zu Tisch setzen und die Mahlzeit leicht verdauen. Beim Essen soll besonders den Kindern eine breitgefächerte Speisepalette angeboten werden, damit sie ihre alimentären Instinkte entsprechend ihrer individuellen Verdauung gut entwickeln könnten.406 Kinder hätten von Natur aus Lust an Fresshaftigkeit (»gloutonnerie«), es sei irreführend, sie für kleine Feinschmecker (»gourmands«) zu halten.407 Ihr Geschmack solle durch vernünftige, angewandte Gastronomie kultiviert werden.408 Aber auch Erwachsene könnten von gastrosophischer Erziehung profitieren. Ein Festessen solle nicht zum Ziel haben, den Gästen die Verdauung zu 400 | Ebd. 401 | Vgl. ebd., S. 144. 402 | Vgl. ebd., S. 285. 403 | Fourier, Théorie de l’unité universelle (TUU), S. 139. 404 | Vgl. Röttgers, 2009, S. 42. 405 | Vgl. Fourier, NMIS, S. 343. 406 | Vgl. ebd., S. 343. 407 | Ebd., S. 260f. 408 | S.u. Wittgenstein zur geschmacklichen Erziehung von Schülern der Philosophie.
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verstopfen. Die Speisegewohnheiten mancher Pariser erinnern Fourier an den brutalen Genuss von Wilden, die einen Freund nur dann gut bewirtet zu haben glauben, wenn er mehrere Male erbrochen hat. Man solle aber nicht glauben, nur dann großartig gefeiert zu haben, wenn alle Tischgenossen voll verstopft seien.409 Wer in 24 Stunden nur eine einzige Mahlzeit esse, die gleich für mehrere Tage reicht, ermüde seinen Magen derart, dass er ihn mit Café, Tee und Likör stärken müsse. Gastrosophische Verdauungspflege fördert laut Fourier die Lebenslust allgemein. Geladenen Gästen sollen während ihres Aufenthaltes alle Freuden der Appetitanregung bereitet werden, auch erotische. In Referenz an Sanctorius (* 29.03.1561 Capodistria; † 22.02.1636 in Venedig) erklärt Fourier, dass moderater Koitus die Seele weite und die Verdauung stärke.410 In reicher und freizügiger Gesellschaft entwickle sich ein Festessen ganz natürlich zu einer Orgie.411 Für die Entwicklung eines gastrosophischen Umgangs mit Speise fordert Fourier Abwechslung, insbesondere für die Verdauung. Der Magen eines Prinzen habe ebenso Bedarf nach verschiedenen Speisen wie der Magen eines Bürgers. Ausgewählte wie auch einfache Gerichte könnten eintönig werden.412 Wie Pflanzen und Tiere habe auch der Magen ein Bedürfnis nach Wechsel und Kreuzung. Abwechslungsreiche Speise erleichtere die Verdauung und erhöhe Behagen und Zufriedenheit. Erhalte der Magen täglich dieselbe Speise, so weise er sie zurück, sei sie auch noch so ausgesucht. Magen, Seele und Geist hätten Bedarf nach Variation.413 Beim Wetteifern, bei der Liebe und bei der Lektüre von Büchern sei die Kulmination von zwei bis drei Werken von Vorteil. Die Erde selbst verlange nach alternierender Bepflanzung, die ganze Natur verlange nach Wechsel.414 Vielfalt erlaube die Befriedigung individueller Bedürfnisse. Wechselnde Lüste förderten die Gesundheit. Ein und dieselbe Speise könne mal gesund oder mal ungesund sein, das hänge von subjektiven Verdauungskräften ab.415 Eine Vielzahl kurzer Freuden sei vorteilhaft, weil sie Exzessen vorbeuge. Wer pro Tag acht Freuden erlebe, könne etwa zwei Stunden auf jede Freude verwenden, wer dreißig Freuden erlebe, hätte pro Freude etwa eine halbe Stunde. Wenn die vier Teilnehmer einer ausgiebigen Mahlzeit sich am kommenden
409 | Vgl. Fourier, NMA, S. 132f. 410 | Vgl. ebd., S. 26. 411 | Vgl. ebd., S. 329. 412 | Vgl. ebd., S. 273. 413 | Vgl. ebd., S. 76. 414 | Vgl. ebd., S. 76. 415 | Vgl. ebd., S. 285.
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Tag mit Verstopfung plagten, so wären drei von ihnen gesund geblieben, hätte die Mahlzeit nur halb so lange gedauert.416 Auf die drei Gänge einer kulinarischen Mahlzeit (»hors-d’œuvre, 1er et 2e«) solle ein Dessert folgen, das den Gaumen spitzt und die Funktionen des Magens unterstützt (»aide aux fonctions de l’estomac«). Wenn es uns in der Folge einer großen Mahlzeit nach einem Dessert verlange, so hätten die kulinarischen Variationen ihr Ziel erreicht: die Beschleunigung der Verdauung.417
Rumohrs Kunst der Verdauung Carl Friedrich Ludwig Felix von Rumohr (* 6.01.1785 in Reinhardtsgrimma bei Dresden; † 25.07.1843 in Dresden) wendet sein gastrosophisches Urteilsvermögen auf Völker und Personen an. Nach seiner Einschätzung lieben es »stumpfsinnige, für sich hinbrütende Völker« sich wie Masttiere mit schwerverdaulicher Nahrung »anzustopfen«.418 »Geistreiche, aufsprudelnde Nationen« bevorzugen dagegen Nahrungsmittel, welche die Geschmacksnerven reizen, ohne den Unterleib sehr zu beschweren. »Tiefsinnige, nachdenkliche Völker« geben gleichgültigen Nahrungsmitteln den Vorzug, ohne sonderlich viel Aufmerksamkeit auf Geschmack oder Verdauung zu richten. Gebildeten Nationen sei rohe und halbrohe Speise »widrig und ekelhaft«.419 Aber gerade die gebildete Lebensweise scheine die Verdauung zu schwächen und das Bedürfnis nach Hilfe durch die »Kunst einer verfeinerten oder geschwächten Verdauung«420 zu wecken, durch wohlverteilte Einwirkung von Feuer, Wasser und Kochsalz. Die Schleckerei der studierenden Jugend entspringe insofern der Not, als sie durch die Ausartung der »Saft- und Kosthäuser« an den deutschen Universitäten entstehe.421 Würden die Studierenden gezwungen, zu »allerly Zuckergebäk und anderen Näscherreien ihre Zuflucht nehmen«, riskierten sie eine von Grund auf verdorbene Verdauung.422 Schlemmerei sei eine dem Überfluss geschuldete Gefräßigkeit selbstverliebter Reicher, die »durch Seltsamkeit, Wechsel und Mannigfaltigkeit die Esslust anrege und durch allerley Künste der Verdauung« nachhelfe.423 Völlerei sei barbarisch, Maßlosigkeit verhindere die Ausbildung feinerer Kochart, beson-
416 | Vgl. ebd., S. 284. 417 | Ebd., S. 134. 418 | Rumohr, Geist der Kochkunst von Joseph König (GdK), S. 1f. 419 | Ebd., S. 25. 420 | Ebd. 421 | Ebd., S. 17. 422 | Ebd. 423 | Ebd., S. 3.
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ders »bestialisches Saufen« verderbe den Magen.424 Die Notwendigkeit zur Berücksichtigung der Verdauung beim kulinarischen Genuss ist damit gegeben, denn »ohne Gesundheit der Verdauung ist Feinheit des Geschmacksinnes nun einmal nicht denkbar.«425 Daneben nennt Rumohr verschiedene Kniffe zur Pflege der Verdauung durch Ernährung und Kochkunst. Nach seiner Einschätzung verderben verkalkte Kochgeräte aus Eisenguss nicht nur sehr leicht den Geschmack und die Farbe von Speisen, sondern wirken auch nachteilig auf die Zähne und auf die Verdauung.426 Vieles sei schon im natürlichen Zustande essbar, doch »bei den Mehlfrüchten jeglicher Gattung und Art« müsse die Verdauung durch die Kunst unterstützt werden.427 Wohlgebräuntes Mehl wirke sehr wohltätig auf den Magen, das beweise die eingebrannte Suppe, der man sich bei geschwächter Verdauung gerne zum Frühstück bediene.428 Die weiße Rübe gebe, verbunden mit anderen Wurzeln und Fleisch, ein gesundes und wohlschmeckendes Gericht, dass jedoch eine schwache Verdauung belästige.429 Auch eine mit Knoblauch gedämpfte Hammelkeule erfordere eine sehr kräftige Verdauung.430 Die französische Brioche sei aufgrund ihrer Einfachheit und Verdaulichkeit sehr zu empfehlen.431 Unter den Torten seien die Sand- oder Krümeltorten noch am leichtesten zu verdauen.432 Mandelpaste sei nicht jedem angenehm, verderbe das Gebiss und sei in der Regel kaum verdaulich. 433 »Ja, ganze Ortschaften bringen durch den Gebrauch des Mandelgebäcks ihre äußeren und innern Verdauungswerkzeuge auf das sträflichste in Unordnung.«434 Er habe von einer Frau gehört, die sich an Marzipan totgegessen hat.
Vaersts Paradies Auch Friedrich C. E. von Vaerst (* 10.04.1792 in Wesel; † 16.09.1855 zu Herrendorf bei Soldin) beschäftigt der Zusammenhang zwischen Verdauung und
424 | Ebd., S. 11. 425 | Ebd. 426 | Vgl. ebd., S. 32f. 427 | Ebd., S. 95. 428 | Vgl. ebd., S. 67. 429 | Vgl. ebd., S. 128. 430 | Vgl. ebd., S. 143. 431 | Vgl. ebd., S. 106. 432 | Vgl. ebd. 433 | Vgl. ebd. 434 | Ebd.
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Speise in Hinblick auf seine Liebe zu gutem Essen.435 Vaersts oftmals anekdotische Bemerkungen zu Essen, Küche und Nahrungsmitteln betreffen die Verdauung unmittelbar. Das kommt nicht von ungefähr. Vaerst erlebte die Verbürgerlichung der Nobelküche des Ancien Régime nach der Französischen Revolution als unmittelbarer Augen- und Magenzeuge.436 In den Siegeszug der schmackhaften Errungenschaften durch Mitteleuropa reiht er sich begeistert ein und erlebt die Schrecken der zum Volkssport aspirierenden Völlerei. Die ausführliche Beschäftigung mit den Verdauungsvorgängen liegt also nahe. Ein wichtiges Anliegen ist ihm die Erhaltung der Gesundheit. Laut Vaerst soll des Sokrates Fluch nicht nur die treffen, die das Nützliche vom Guten trennen, sondern auch jene, die das Vergnügen von der Gesundheit absondern.437 Konkret lobt Vaerst nicht karnivoren Überschwang, sondern vernunftgeleitete Freude am Speisen. Ein Beispiel geben seine Bemerkungen zum Salat als einem »Produkt des freien intellektuellen Geistes.«438 Allein seine Ausführungen zur Nomenklatur in der deutschen und französischen Salatgärtnerei verdienen das höchste Lob der gastrosophischen Nachwelt. Vaerst stellt auch sofort klar, für wen er nicht schreibt: Gourmands. Die seien »begierig auf alles was gut schmecke, ohne Rücksicht auf die Gesundheit, auf das Maß und die Gesetze der Grazien.«439 Aber auch Gourmets kommen bei ihm schlecht weg. Sie seien lüstern nach alledem, was Zunge und Auge anlocke440 und neigten zu Schwäche und Nervosität.441 Durch eine »vollkommene Blasiertheit des Geschmacks«442 endeten Gourmets oftmals als hypochondrische Opfer ihrer launischen Gelüste ohne geistige Herrschaft.443 Kaiser Nero habe eine feine Zunge, aber den schlechtesten Magen der Welt gehabt.444 Obwohl Gourmets nur ausnahmsweise gegen das passende Maß sündigten, schadeten sie ihrer Gesundheit oft noch mehr als die meist robusten Gourmands. Die Gourmets 435 | Allerdings nicht unbedingt im Sinne von Fourier, denn seine gastrosophische Lehre diktierte Vaerst erblindend und an beiden Beinen gelähmt auf seinem Krankenund Sterbelager. Vgl. Kramberg, 1975, S. 325. Seine Bemerkung »Meine Lust ist mein Arzt. Diese Regel ist gut für alle verständigen Menschen!« (Vaerst, Gastrosophie, I, S. 13) bezieht er wohl sehr weitgehend auf die Lust an geliebter Speise, weniger auf die Lust an der Speisung seiner Geliebten. 436 | Vgl. Siebeck, 1975, S. 197. 437 | Vgl. Vaerst, Gastrosophie, II, S. 205. 438 | Ebd., S. 151, 181. 439 | Ebd., I, S.10. 440 | Vgl. ebd. 441 | Vgl. ebd., S. 11. 442 | Ebd. 443 | Vgl. ebd. 444 | Vgl. ebd., S. 149.
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verdürben sich den Magen vielleicht langsamer, dafür aber umso gründlicher.445 Wie viel besser lebe doch der Gastrosoph! Er wähle aus dem Guten das Beste, in schönster Form, mit gewissenhafter Rücksicht auf Gesundheit und Schicklichkeit. Indem er Theorie und Praxis mit überlegenem Geiste verbinde, altere der Gastrosoph gesund.446 »Ja, dies ist zugleich seine eigentliche Aufgabe: gesund und alt werden in der angenehmsten Weise, im täglichen Genuss der wohlschmeckendsten Speisen und Getränke, in der schönsten Form.« 4 47
In Anlehnung an einen Ausspruch von Fulcrand-Jean-Joseph d’Aigrefeuille stellt Vaerst das Paradies als einen Ort vor, an dem man ewig zu Tische sitzt, ohne sich jemals den Magen zu überladen.448 Zu Lebzeiten könne man die zwischen den Mahlzeiten verstreichende Zeit der Verdauung zum Nachdenken über das nutzen, was man gerade verdaue.449 Vaerst war sich wohl im Klaren darüber, dass seine Gastrosophie als Lehre kulinarischer Besonnenheit hin zur digestiven Soldatenrente nicht jedermanns Geschmack entsprechen werde. Jedenfalls fürchtete er, dass sein »Werkchen« vielfachen Ärger provozieren könne, besonders bei traurigen Gelehrten mit schlechtem Magen.450 Aber kümmern übellaunige Kostverächter einen aufgeklärten Gastrosophen? Wohl kaum! »Der Magen ist das digestierende und zum Teil assimilierende Organ...«:451 Wer eine Abhandlung Von den Nahrungsmitteln überhaupt so trefflich einzuleiten versteht, dem ist der bleibende Dank der Nachwelt allemal sicher. Vaerst dürfte die Weisheiten des Magens zwischen Tafel und Toilette aus dem Effeff gekannt haben. Gute Speise und gute Verdauung gehen bei ihm so innig und artig miteinander einher, dass man fast rührselig werden möchte, etwa eingedenk seiner Freude am Genuss eines »Ortolans à la Provençale«: »Ohne Knochen verschwindet der Vogel [Emberiza hortulana] zwischen den Zähnen; man muss sich beim Zermalmen seiner Knochen Zeit lassen. Diese Operation bringt uns viel nahrhafte Substanzen und ist der Verdauung höchst förderlich.« 452
445 | Vgl. ebd., S. 11. 446 | Vgl. ebd. 447 | Ebd. 448 | Vgl. ebd., S. 107. 449 | Vgl. ebd. 450 | Vgl. ebd., S. 12 [VIII]. 451 | Ebd., S. 19. 452 | Ebd., S. 106 [141].
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Es spricht für die gastrosophische Achtsamkeit Vaersts, dass die verdauungsfreundliche Wirkung von Ortolanen auch von französischen Kaisern, Präsidenten und Ministerpräsidenten geschätzt wurde, bis hinein in die 5. Republik.453 Philosophie, Poesie und Verdauung gleiten dabei ineinander, das unterstreicht Vaerst in seinem »Loblied auf die Gourmandise«, laut Untertitel ein »Chanson für die Zulassung am Tisch der Gourmands«: »On nous vante les vertus De Platon et de Titus; Le bon convive préfère Celle qui fait qu’on digère« 454
Die Besorgungen durchziehen Vaersts Lehre der Tafelfreuden wie ein roter Faden, frei nach dem Motto: Was beim Tafeln erfreut, wird bei der Verdauung zum wahren Genuss. Laut Vaerst soll ein gelungenes Gericht vor allem nahrhaft, leicht verdaulich und von vollkommenem Geschmack sein.455 Der Baron kannte sich da gut aus, das unterstreichen schon seine Bemerkungen zu Fischgerichten. Grundsätzlich seien Fische sehr nahrhaft, wenn auch weniger als Fleisch, der nach ihrem Genuss zurückkehrende Hunger beweise das schnell.456 Fische seien an sich nicht schwer zu verdauen, wohl aber das tranige Fett, das sie mitunter enthalten.457 Ist das Fleisch eines Fisches mit sehr viel Fett geschwängert, so sei der Fisch schwer verträglich, das gelte etwa für Aale, Störe und Hausen.458 Glatte und weiche Fische sollten tüchtig gesalzen werden, um ihren Schleim zu verdünnen. Mit Essig und Öl genossen könnten sie den Magen zur Tätigkeit anregen.459 Gebratene Fische seien schwerer verdaulich als frisch gesalzene und gesottene; frische seien leichter zu verwerten als geräucherte, getrocknete, marinierte, mit Essig, Salz oder Gewürzen eingemachte.460 453 | Vgl. Coroller, 1997. 454 | »Man lobt die Tugenden / von Platon und von Titus / der gute Gast bevorzugt / was uns zum Verdauen anregt.« Vaerst, »Éloge de la Gourmandise«, 1807, S. 62, Übers. durch den Autor. Seine Wertschätzung der Freuden des Bauches unterstreicht Vaerst auch, indem er den vollgestopften Magen als Geschenk des Himmels besingt: »Un estomac complaisant / Est du ciel un doux présent! / Que de plaisir on savoure / Quand sans crainte l’on se bourre!« Ebd. 455 | Vgl. Vaerst, Gastrosophie, I, S. 268. 456 | Vgl. ebd., S. 172. 457 | Vgl. ebd., S. 171. 458 | Vgl. ebd. 459 | Vgl. ebd., S. 172. 460 | Vgl. ebd.
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Vom Allgemeinen kommt Vaerst zum Speziellen: Zur Lachsforelle, fetter als die gemeine Forelle und also schwerer zu verdauen;461 zum Salm, für einen kräftigen Magen gesund und außerordentlich nahrhaft, unmäßige Genießer riskieren Magenkrämpfe, die nur ein Vomitiv zu heilen vermöge;462 zum Karpfen, nahrhaft, süß, leicht verdaulich, wenn nicht zu fett;463 zum Hecht, hart, schwer verdaulich;464 zur Makrele, fett, wohlschmeckend und schwer verdaulich;465 zum Kabeljau, frisch, angenehm, nahrhaft, leicht verdaulich, aber als gesalzener Laberdan oder getrockneter Stockfisch hart, schwer verdaulich und weniger nährend;466 zum Schellfisch, weich, trocken, leicht verdaulich, gesund;467 zu Schollen und Butten, weich, zart, gesund, leicht verdaulich, insbesondere die größeren Sorten;468 zum Hering, zart, weich, fett, leicht verdaulich, rege besonders gepökelt den Appetit an, indem er die Bewegung von Magen und Gedärmen befördere;469 zum Stör, in seiner Jugend delikat, aber fett und deshalb freilich schwerer verdaulich als Fleisch, ein Übelstand, der sich bei höherem Alter noch steigere.470 Die Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. Schaltieren weist Vaerst in seinem Verzeichnis der leicht verdaulichen und schnell nährenden Speisen eine Hauptrolle zu.471 Krebse hätten ein hartes, schwer verdauliches Fleisch.472 Hummer seien schwerer zu verdauen als Krebse.473 Der weiche, nährende Schleim der Austern werde im Magen leicht aufgelöst und ersetze ebenso vortrefflich das bindende Wesen in unseren Säften wie in den festen Teilen.474 Muscheln seien schwerer zu verdauen als Austern.475 Legendär ist auch Vaersts Charakterisierung des Kaviars als »fettige, schleimige und schwer verdauliche Speise«, delikat unter der Voraussetzung, dass man es nur mit recht frischem Kaviar zu tun habe.476
461 | Vgl. ebd., S. 175. 462 | Vgl. ebd. 463 | Vgl. ebd., S. 176. 464 | Vgl. ebd., S. 177. 465 | Vgl. ebd. 466 | Vgl. ebd. 467 | Vgl. ebd. 468 | Vgl. ebd. 469 | Vgl. ebd., S. 178. 470 | Vgl. ebd., S. 180. 471 | Vgl. ebd., 216. 472 | Vgl. ebd., S. 182. 473 | Vgl. ebd., S.184. 474 | Vgl. ebd., S. 235 u. 185. 475 | Vgl. ebd., S. 234 u. 186. 476 | Ebd., S. 180.
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So durchkreuzt Vaerst das ganze Reich des Verdaubaren: Ragouts, Mehl, Weizenbrot, Suppen, Melonen, Reis, Linsen, Erbsen, Kohl, Zichorien, Bambussprossenkonfekt, Kräuter, Spinat, Kartoffeln, Artischocken, Feigen, Melonen, Weinbirnen, Pfeffer, Salz und auch manches Fleischgericht werden in Hinblick auf den Magen beurteilt, oft unter Berücksichtigung individueller Veranlagungen, zum Teil mit erstaunlicher Geschmeidigkeit: »Ernst und besonnen, ganz im Geiste der kontemplativen Philosophie des Hindu, senkt ein in Sanskrit Eingeweihter seinen inneren Blick nach dem Magen, wo er in demselben nichts als Salat findet.« 477
Bingo! Der »ächte Etymologe« dürfe zuweilen einige Laute weglassen oder hinzufügen, um durch »anagrammatische Verwandlungen und Versetzungen«, unter Einsatz der ganzen Lehre von »Kombinationen und Permutationen«, seine Ziele zu erreichen. Also habe sich der »Lotos« der heiligen »Blumensprache des Wischnu [sic!]« im reichen Sprachgezweig der Inder zum »Latas« der Puri-Sprache gewandelt und dass dies »Salat« sei, bedürfe »keines weiteren Beweises«.478 Wir können darüber schweigen, lachen oder weinen: Vaersts Einsichten in die digestiven Qualitäten von Salat schmälert es nicht im Geringsten. Getränke interessieren den Salatfreund ebenfalls. Die sollen nahrhaft, leicht verdaulich und reizend sein, wie Speisen auch. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dem Wasser, »dem größten Verdauungsmittel der Natur«, Stärkungs- und Belebungsmittel für Magen und Nerven.479 Bedeutsam sind aber auch die Erklärungen zu digestiven Wirkungen von Wein, Branntwein und Kaffee, »Lieblingsgetränk der Mathematiker, Astronomen, Philosophen, Historiker, Naturforscher und Diplomaten«.480 Gastrosophen sollten Kaffee schon deshalb hoch achten, weil er »erweckend auf den Geist einwirkt« und »langweilige Verdauung verkürzt«.481 Getränke kurz vor Tische seien der Esslust nicht förderlich, insofern sie die Verdauungssäfte entkräften und verdünnen,482 das gelte insbesondere für Tee: »Vor der Mahlzeit Tee trinken, wie in Ostfriesland der Gebrauch ist, heißt dem Soldaten das Gewehr zerschlagen und ihn dann in den Krieg schicken.«483 Überhaupt behandelt Vaerst Tee auffallend kritisch. Im konzentrier477 | Vaerst, Gastrosophie, II, S. 146. 478 | Ebd., S. 147 479 | Ebd., S. 22. 480 | Ebd., S. 54. 481 | Ebd. 482 | Vgl. ebd., S. 3f. 483 | Ebd., S. 3.
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ten Aufguss könne er bei nüchternem Magen oder bei vollblütigen, reizbaren, sensiblen Personen Übelkeit erregen, auch den Kopf einnehmen, Schwindel, Herzklopfen, Zittern der Glieder und eine Aufreizung des Nervensystems bewirken, die sich durch Schlaflosigkeit, krampfhafte Zustände, Angstgefühl, Beklemmung des Atems, große Schwäche und selbst zuweilen als Ohnmacht zu erkennen gebe.484 Weil in China durch den Missbrauch von Tee die heftigsten Nervenkrankheiten entstünden, werde dort dazu geraten, wenig Tee zu trinken und gar keinen, wenn der Magen leer sei. Wenn Boerhave schrieb, man müsse täglich 100-200 Tassen trinken, um sich vor allen möglichen Krankheiten zu verwahren und außerdem leugnete, dass Tee den Magen schwäche, so hätte er das nur getan, um der holländisch-ostindischen Compagnie einen Gefallen zu tun und weil er »unstreitig selbst den Magen hatte wie ein Pferd.«485 Dass Tee nicht gleich Tee und Magen nicht gleich Magen ist, sieht Vaerst mit Klarheit, etwa wenn er der Witterung einen für die Digestion bedeutenden Einfluss zuspricht oder erklärt, dass eine schlechte Mischung der Dünste der Elektrizität und der respirablen Gase den Magen auf eine niedere Stufe der Tätigkeit herabdrücken könne.486 Auch die soziale Komponente der Verdauung nimmt er wahr: »Wer allein isst, isst weniger, als wer in Gesellschaft isst, und kann noch weniger verdauuen; und der wiederum, der im Kreise seiner Familie isst, wird weniger essen können, weniger verdauen, als bei einer außerordentlichen Gelegenheit.«487 Vaersts Versuche zur Formulierung allgemeiner Verdauungsregeln scheinen mitunter problematisch, etwa wenn der Baron vermutet, dass höhere Tiere leichter zu verdauen seien als niedere – Pilze schwerer als höhere Pflanzen, diese schwerer als niedere Tiere, diese schwerer als Warmblüter –, weil Nahrungsstoffe im Prozess der allgemeinen Ernährung alle Stufen von der untersten Vegetation bis zur höchsten Animalisation durchliefen.488 Aufschlussreicher scheint die Diskussion um einfache und gemischte Speise in Des Anachis Beschreibung eines athenischen Gastmahls, die geistiges und körperliches Wohlsein in Bezug setzt. Kann man sich wohl eher durch widersprechende Reden Glauben und Beifall verschaffen, als Speisen von entgegengesetzten Eigenschaften zu verdauen?489 Oft werde behauptet, dass Unverdaulichkeit auf den Eigenschaften der Speisen beruhe. Aber könnte es nicht sein, dass keine Speise an und für sich unverdaulich sei, sondern nur in bestimmter Menge? Sollten wir also jede ge484 | Vgl. ebd., S. 64f. 485 | Ebd., S. 65. 486 | Vgl. ebd., S. 152. 487 | Ebd., S. 135. 488 | Vgl. ebd., S. 151. 489 | Vgl. ebd., S. 199.
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mischte Speise vermeiden, um gut zu verdauen?490 Vaerst weist das zurück. Von der bei Krankheit zuträglichen Diät könne nicht auf Verdaulichkeit und Unverdaulichkeit von Speisen geschlossen werden. Arbeit, Leibesübung und überhaupt alles, was die Zerteilung der genossenen Speisen erleichtere, befördere auch die Verdauung ungemein. Die Furcht vor dem Streit verschiedener Gerichte im Magen sei unbegründet. Es sei allerdings richtig, dass Abwechslungsreichtum unsere Esslust so bezaubern könne, dass wir ihrer nicht mehr mächtig seien. Auch Reinlichkeit, ein gesunder Magen, ein guter Geruch und überhaupt alles Angenehme stärke den Appetit.491 Allerdings sei es keine ausgemachte Sache, dass wir Überladung mehr fürchten müssten als Mangel. Überladung könne nur schaden, wenn sie Unverdaulichkeit oder Krankheit erzeuge. Mangel sei dagegen der Natur schon an und für sich zuwider. »Ihr Freunde des Kümmels und des Salzes scheint nicht daran gedacht zu haben, dass das Mannichfaltige angenehm ist, das Angenehme sich aber leicht verdauen läßt. Denn es findet in den begierig gemachten Körper leicht Eingang, weil ihm das Gesicht schon den Weg dahin gebahnt hat. Solche Dinge hingegen, die die Esslust nicht reizen, lassen sich schwer verdauen, treiben sich deshalb im Körper herum und die Natur verwirft sie entweder ganz oder nimmt höchstens, in Ermangelung des Besseren, gezwungen damit vorlieb.« 492
Auch Vaerst interessiert die Verdauung besonders als physiologische Erscheinung. Doch auch zur Wirkung der Verdauung auf den Geist formuliert er klare Vorstellungen: Wer wisse denn nicht, dass ein mit Speisen angefüllter Magen den Menschen träge und wortkarg, vieles Getränk ihn aber regsam und geschwätzig mache?493 Woran liege es denn, wenn der Kopf des Mäßigen frei, seine Ideen klar seien? Wie gelinge es ihm, noch den trockensten Akten mit seinem unumwölkten Geiste einen netten Stil an- und zuzuhauchen, ja sie gar zum Beispiel für witzige Akten zu erheben? Wieso könne der Mäßige mit Lust an seine Geschäfte gehen und im hohen Alter das Gute bei bester Gesundhet im Wohlsein genießen? Für welche Tugend gewähre ihm die Natur tausendfache Belohnung? Die Antwort fällt leicht: Der Kopf des Mäßigen ist unbelastet vom Gewichte der Speisen, denn »Mäßigkeit fördert die Verdauung«.494 Je besser wir verdauen, umso feiner werde der Nahrungssaft und desto stärker der Geist.495 Man müsse einen reinen Magen haben, wenn man einen aufgeheiter490 | Vgl. ebd., S. 200. 491 | Vgl. ebd., S. 202. 492 | Ebd., S. 204. 493 | Vgl. ebd., S. 259. 494 | Vaerst, Gastrosophie, I, S. 264. 495 | Vgl. ebd.
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ten Geist wolle.496 Dementsprechend ernst nimmt Vaerst die Pflege von Geist und Verdauung: »Ich verlange die Gespräche bei Tische ebenso leicht und abwechselnd als die Speisen: jene sollen ebenso wenig den Kopf wie diese den Magen drücken; die beste Probe für beide ist, wenn Kopf und Magen sich danach leicht fühlen.«497 Klingt das nicht schon fast kantisch? Jedenfalls findet auch Vaerst es bemerkenswert, dass auf Tahiti Gedanken als Worte im Bauch gelten.498 Aber nicht nur ferne indianische Gewohnheiten, sondern auch die alten deutschen Sitten unterstreichen die Bedeutung der Verdauung. Bezeichnet sie nicht geradezu die Integrität des ganzen Individuums, wenn die nächsten männlichen und weiblichen Erben zu »Schwert- und Spillmagen« werden?499 Vaerst achtet die Verdauung hoch, erhebt sie aber nicht zum alleinigen Maß der Dinge: »Wer freilich seinen Magen zum Gott macht, der macht auch seinen Kopf zum Schornstein.«500 Der Klarheit seiner Einsichten in die Bedeutung der Verdauung für die Pflege der geistigen und körperlichen Gesundheit tut das aber keinen Abbruch. Vaerst gesteht zwar ein, dass er nicht verstehe, warum der heilige Ambrosius im »Morgensabbathgesang« sagt: Lumbus, jecurque morbidum Auure igne congru. (Meine Nieren und meine Leber erglühen dir in feurigem Dank.)«501 Es sei aber gewiß, daß leberkranke Menschen gern beten und Betschwestern gern leberkrank sind. Mit Intelligenz gehe gute Verdauung nicht notwendig einher. Beständige Freßbegierde mache dumm.502 Fett und Dummheit seien als unzertrennliche Gefährten zu betrachten. Dumme Geschöpfe verdauten mitunter besser als kluge, so wie beim Vogel Strauß, dessen Verdauungskunst in gleichem Verhältnisse zu seiner Dummheit stehe. Nichtsdestoweniger könne gute Verdauung den ästhetischen Geschmack fördern, etwa durch geistreich geordnete Mahlzeiten. Sinnliche Genüsse ließen sich verkleiden, verschönern und reizvoll entwickeln.503 Wir fielen über unser Essen ja nicht her wie Tiere. Ästhetische Ordnung walte auch in der Küche. Dass der Gebrauch der Begriffe »Geschmack«, »taste« und »goût« je496 | Vgl. ebd. 497 | Ebd., S. 275. 498 | Vgl. ebd., S. 288. Ähnlich bei Kant, s.o. Der Gedanke geht vermutlich auf Johann Reinhold Forsters Reiseberichte zurück. Dieser merkt an, dass die Taitianer im Menschen ein besonderes Wesen vermuten, das nach dem Eindruck der Sinne handele und aus den Begriffen Gedanken zusammensetze. Gedanken hießen »parau no te obu«, was »Worte im Bauch« oder »im Inwendigen« bedeute. Forster, 1843, S. 117. 499 | Vaerst, Gastrosophie, I, S. 267. 500 | Ebd., S. 207. 501 | Ebd., S. 271. 502 | Vgl. ebd., S. 208f. 503 | Vgl. ebd., S. 225.
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weils das ganze Gebiet der Ästhetik betreffe, sei die beste Widerlegung von Bouterweks »alberner und unschmackhafter, unverdauter und unverdaulicher Behauptung«,504 derzufolge der Geschmack, aufgrund einer angeblichen Untauglichkeit für geistige Geschäfte, gar kein Sinn sei. Seine synästhetische Auffassung ästhetischer Verdauungskraft unterstreicht Vaerst mit einem Aphorismus, dessen Tiefsinn kein Gastrosoph übersehen sollte: »Ein guter Magen genießt auch durch die Ohren.«505
I nnere P rozesse bei H egel In seinen frühen Schriften fasst Georg W. F. Hegel (* 27.08.1770 in Stuttgart; † 4.11.1831 in Berlin) Worte als die geistige Nahrung auf: Wer Aufklärung nicht zur Afterweisheit machen wolle, dürfe sich nicht mit kahlen Worten speisen.506 Beim Verstehen des »toten Kapitals in den Seelen« bleibe »in jedem Magen ein Wust von Buchgelehrsamkeit unverdaut liegen«.507 Der Magen habe damit zu schaffen, die Aufnahme gesünderer Nahrung werde dadurch verhindert. Das aufgedunsene Ansehen des Körpers, dem keine nahrhaften Säfte zugeführt werden, gebe vielleicht den Schein der Gesundheit, aber in allen Gliedern lähme saftloses Phlegma die freie Bewegung. An anderer Stelle beklagt Hegel einen theologischen »Sauersüßteig« der unaufhörlich in das Gedächtnis und das Gewissen des gemeinen Mannes hineingepoltert werde, die gesunden, kräftigen, tätigen Säfte verderbe, die Fülle der Empfindungen durch fade Empfindelei ersetze und Tatkraft durch »unverdauten Wortkram«.508 Allzu bequeme Vorstellungen zur Produktion von Wissen und Wahrheit versetzt Hegel in ein philosophisches »Utopiens«. Dort brauche die Passivität des Denkens »nur den Mund aufzusperren« um das zum Absoluten zubereitete Wahre und Gewusste ganz und gar zu genießen, weil problematisches und hypothetisches Schütteln die Früchte »durch sich selbst gekaut und verdaut« vom Baum der Erkenntnis fallenlasse.509 Laut Hegel objektiviert sich die Seele, indem sie sich des Körpers bemächtigt.510 Der Mensch müsse seinen Körper in Besitz nehmen um ihn zum Instrument seiner Seele zu machen. Schon eingangs wurde bemerkt, dass Hegel 504 | Ebd., S. 226. 505 | Vaerst, Gastrosophie, II, S. 245, vgl. ebd., S. 86. 506 | Vgl. Hegel, Fragmente über Volksreligion und Christentum, S. 27. 507 | Ebd. 508 | Ebd., S. 64. 509 | Hegel, Über Reinholds Ansicht der Philosophie, S. 128. 510 | Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Teil I, (E I), 3: Die Lehre vom Begriff, §208 Z, S. 365.
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den Geist im Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben eine neue Gestalt entwickeln lässt, indem sie sich der Eingeweide des bewusstlosen Götzen bemächtigt:511 »an einem schönen Morgen gibt sie mit dem Ellbogen dem Kameraden einen Schubb, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden.«512 Dem schönen Morgen müsse kein blutiger Mittag folgen: Wenn die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen habe, bewahre nur das Gedächtnis die tote, vergangene Gestalt des Geistes als Geschichte und die neue, für die Anbetung erhöhte Schlange der Weisheit habe nur eine welke Haut schmerzlos abgestreift.513 Hegel bezieht geistige Entwicklung also schon in frühen Schriften auf die Verdauung, zumindest in rhetorischer Absicht, gerade in Gedanken über Gedanken: Wenn wir ohne Studium verdauen können, warum nicht auch ohne Logik denken? Laut Hegel kann unbedenklich zugegeben werden, dass es keines vorgängigen Studiums bedarf, um gehörig zu verdauen und um richtige Schlüsse zu ziehen.514 »Ganz so schlimm als der Metaphysik ist es der Logik nicht ergangen. Dass man durch sie denken lerne, was sonst für ihren Nutzen und damit für den Zweck derselben galt – gleichsam als ob man durch das Studium der Anatomie und Physiologie erst verdauen und sich bewegen lernen sollte –, dies Vorurteil hat sich längst verloren, und der Geist des Praktischen dachte ihr wohl kein besseres Schicksal zu als ihrer Schwester.« 515
In »Hegels Gastro-Philosophie«516 hat die Verdauung ihren systematischen Platz in der Naturphilosophie, wo Hegel die Idee in der organischen Natur zu ihrer unmittelbaren Existenz kommen lässt: zum Leben.517 Hegel unterteilt in erstens: die Gestalt als allgemeines Bild des Lebens bzw. geologischen Organismus, zweitens: die formelle, vegetabilische Subjektivität und drittens: die konkrete Subjektivität des animalischen Organismus. Beim Tier erscheine die Verdauung als ein System der Gestalt und als eine Form der Assimilation. Anders als bei den Pflanzen, wo der Verdauungsprozess das Individuum hervorbringe und somit als Zeugungsprozess anzusehen sei, seien beim Tier Geschlecht und Verdauung geschieden.518 Die Eingeweide versteht Hegel als 511 | Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes (PhG), C.VI.B.II.a: Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben, S. 403. 512 | Ebd. 513 | Vgl. ebd. 514 | Vgl. E I, 3.A.c.α.: Qualitativer Schluss, §183, S. 335f. 515 | Hegel, E I, Vorrede zur ersten Ausgabe, S. 14: 516 | Ott, 2011, S. 99. 517 | Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Teil II (E II), 3: Organische Physik, § 337. 518 | Vgl. ebd., 3B: Die vegetabilische Natur, §348, S. 424
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einen Aspekt der Einheit von Gestalt, die in einem inneren Prozess Form annimmt.519 Es entwickelt sich ein Verhältnis des verdauenden, inkorporierenden Selbst zum verdauten, inkorporierten Anderen. Die einfachsten Tiere seien nur ein Darmkanal, bzw. zu einem Darmkanal geronnene Lymphe.520 Bei der »unmittelbaren Verdauung« niederer Tiere, etwa Polypen, werde die Nahrung über einen »sackförmigen Behälter« bzw. Verdauungskanal aufgenommen, der keine Unterscheidung zwischen Schlund, Magen und Gedärmen erlaube.521 Im Gegensatz zur unmittelbaren Verdauung stehe die vermittelte Verdauung der höheren Organisationen.522 Sie entwickle sich mit einem System von Eingeweiden, das die Galle, Leber, das Pankreas u.a. umfasse.523 Der Magen sorge für verdauende Wärme und der Darmkanal für die Entzweiung des Verdauten in einerseits Unorganisches, Auszuscheidendes und andererseits Animalisiertes, bzw. in das Blut.524 Es sei ein Hauptmangel der neueren Naturforschung, dort bloße Mechanismen anzunehmen, wo es sich um ganz andere und höhere Kategorien handele.525 Der Mensch ist laut Hegel ein Tier. In den Prozessen der Verdauung und anderen tierischen Funktionen bleibe er im Unterschied zum Tier aber nicht in einem ›Ansich‹ stehen, sondern werde sich ihrer bewusst, erkenne sie und erhebe sie zu selbstbewusster Wissenschaft.526 Dass Hegel den Unterschied zwischen Tier und Mensch ausgerechnet am Beispiel der Verdauung veranschaulicht, gibt nach meiner Auffassung nicht nur Aufschluss darüber, in welchem Maße Hegel das philosophische, das religiöse und das ästhetische 519 | Vgl. ebd., 3C.a: Die Gestalt, §353, S. 437 520 | Vgl. ebd., 3C.b: Die Assimilation, §365, S. 454. 521 | Ebd., §365 Z, S. 486. Mit Vermengungen von Gasen, Flüssigkeiten und Feststoffen bei der Verdauung beschäftigt sich Hegel verschiedentlich. So zitiert er Gottfried Reinhold Treviranus’ Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte: »Die Schlammpeitzger (Cobitis fossilis) atmen durch den Mund und geben die Luft aus dem After wieder von sich.« Wasser könne im Verlauf einer »unmittelbaren Verdauung« im »Luftprozeß« von der Haut eingesogen werden, auch bei höher gebildeten Tieren und selbst bei Menschen: Das beweisen laut Hegel etwa Matrosen, die ihren Durst stillten, indem sie ihre Hemden in Seewasser tränkten: Ihre Haut habe aus dem Meer das Wasser ohne das Salz eingesogen. Vgl. ebd., S. 487f. 522 | Vgl. ebd., S. 489. 523 | Vgl. ebd., §365, S. 454. 524 | Vgl. ebd. 525 | Vgl. Hegel, E I, 3.B.a: Der Mechanismus, §195, S. 353f. Zur Begründung verweist Hegel auf Magenschwäche, die nach dem Genuss von wenig Speise Druck im Magen verursache, während gesunde Verdauungsorgane bei gleicher Speise von dieser Empfindung frei blieben. 526 | Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (Ä I), Einleitung, §3, S. 112.
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Verhalten des Menschen als ein Essen auffasst, sondern unterstreicht explizit die zentrale Bedeutung der Verdauung für die Entwicklung des Geistes.527 Der Genuss an der sinnlichen Vernichtung der Welt beschränkt sich bei Hegel ja nicht auf die Funktion bestimmter Organe, wie etwa die kauenden Zähne, sondern gehört zu einer umfassenden Form seiner Lust an der Umwandlung von Sinnlichem. Wo Blut fließt, da ist auch Verdauung: »Endlich ist das Blut eigentlicher Verdauungsprozess des Einzelnen, und das ist die peristaltische Bewegung überhaupt.«528 Hegel ist mit dem Stand der Wissenschaft seiner Zeit gut vertraut. Die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Verdauung würdigt er ausführlich, gerade in Hinblick auf die neuronale Autonomie der Bauchorgane gegenüber dem Gehirn: Im Unterleib bilde eine »in sich gegangene Sensibilität, das Innerlichste des Sensiblen, [...] das noch unausgeschiedene, nicht zum bestimmten Empfinden herausgebildete System der Ganglien« Nervenknoten, die man als »kleine Gehirne im Unterleib« betrachten könne.529 Sicher haftet an solchen Erklärungen der Verdacht der »Hegelei«,530 aber sie enthalten doch einiges, was uns aus heutiger Sicht sinnvoll scheint. So entspricht es den Einsichten der aktuellen Neurogastroenterologie, wenn Hegel feststellt, dass die »Nervenknoten« im Unterleib zwar nicht absolut unabhängig vom Gehirn im Kopf und von Rückenmarksnerven sind, aber doch selbständig.531 »Wegen dieser Teilung in das Gehirn des Kopfes und des Unterleibes entspringt Kopfweh aus dem Unterleib«.532 Im Zustande des Somnambulismus falle die innere Lebendigkeit in die Ganglien und in das Gehirn eines »dunklen, unabhängigen Selbstbewusstseins« des Unterleibes.533 527 | Vgl. Ott, 2011, S. 98. 528 | Hegel, E II, 3.C.a: Die Gestalt, §354 Z, S. 448f. 529 | Ebd. 530 | »Die Hegelei, was ist sie Anderes, als leerer, hohler, dazu ekelhafter Wortkram?« Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel, § 20. Die Frage scheint berechtigt. Jedenfalls ist nicht leicht einzusehen, was wir philosophisch gewinnen, wenn wir zum Beispiel die Leber mit Hegel als »das aus dem Kometarischen in das Fürsichsein, in das Lunarische Zurückkehren [verstehen, als] das seinen Mittelpunkt suchende Fürsichsein, die Hitze des Fürsichseins, der Zorn gegen das Anderssein und das Verbrennen desselben«, Hegel, E III, 3.C.a: Die Gestalt, §354 Z, S. 447. Allerdings ändert der Verdacht begrifflicher ›Scharlatanerie‹ wenig daran, dass Hegel das Interesse an einer philosophischen Behandlung des Begriffs der Verdauung deutlich unterstreicht, gerade weil seine Begriffsungeheuer mitunter zum Lachen anregen. 531 | Vgl. Hegel, E II, 3.C.a: Die Gestalt, §354 Z, S. 444. Zur aktuellen Entwicklung der Gastroenterologie vgl. Gershon, 2001, s.u. 532 | Hegel, E II, 3.C.a: Die Gestalt, §354 Z, S. 445. 533 | Ebd.
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Alle Tätigkeiten des Geistes seien Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, auf den Geist selbst, nur durch diese Zurückführung, durch die Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen, könne der Geist überhaupt Geist sein und werden. »Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit, welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation des Äußerlichen wird und ist er Geist.« 534
Die Tätigkeiten des Verzehrens, des Genießens und des Assimilierens sind für Hegel keine bloßen Metaphern für Prozesse des Denkens. Die physische Verdauung und das Denken sind dasselbe, auf zwei unterschiedlichen Bewusstseinsstufen.535 Das Denken erscheint hier als ein Prozess, der ebenso unbewusst abläuft und dem Menschen ebenso selbstverständlich ist wie die Verdauung. Mit Johann H. F. von Autenrieth, Verfasser eines Handbuchs der empirischen menschlichen Physiologie, wundert sich Hegel darüber, dass die Ausbreitung des unmittelbar vom Hirne abstammenden Nervs an der oberen Öffnung des Magens endet.536 Dem sympathetischen Nerv werde so der übrige Teil des Magens überlassen und dem deutlicheren Gefühl eine Grenze gezogen. Das eigentliche Verdauungsgeschäft habe die Natur damit der Willkür entzogen, der sie die Auswahl der Speisen, das Kauen, das Hinabschlingen sowie am Ende die Ausleerung des Untauglichen überließ.537 Dem System der lebendigen Bewegung setzt Hegel die »Kraft der Verdauung« entgegen, als allgemeine Kraft zur Überwindung des äußeren Organismus.538 Unter »allgemeiner Verdauung« versteht er die Rückkehr des Selbst aus seiner kometarischen, lunarischen und irdischen Lauf bahn zu sich selbst, aus seinen Eingeweiden zu seiner Einheit.539 Sie führe das Selbst zu einem Dasein der Ruhe und zur Gestalt überhaupt zurück. Der die Gestalt aufhebende, in Eingeweide entzweiende Ernährungsprozess produziere die Gestalt, indem er sich selbst gestalte.540 Die Verdauung im engeren Sinn bindet Hegel in einer nicht leicht zu durchschauenden Begrifflichkeit an einen Prozess der Einzelheit, geteilt in die drei Momente des stumpfen, innerlichen ›Fürsichseins‹: 534 | Hegel, E III, Einleitung: Begriff des Geistes, §381 Z, S. 21. 535 | Ott, 2011, S. 94. 536 | Vgl. Hegel, E II, 3.C.a: Die Gestalt, §354 Z, S. 445. 537 | Vgl. ebd. 538 | Ebd., S. 448. 539 | Vgl. ebd., S. 452. 540 | Vgl. ebd.
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Vom Geist des Bauches »das Hypochondrisch-melancholisch-Werden, sein Schlaf, das venöse Blut überhaupt, das in der Milz diese mitternächtige Kraft wird. Man sagt, es werde darin gekohlenstofft; diese Karbonisation ist eben sein Erde-, d. h. absolut Subjekt-Werden. Von hier ist seine Mitte das Pfortadersystem, wo seine Subjektivität Bewegung ist und zur Tätigkeit wird, zum verzehrenden Vulkan. So betätigt in der Leber, verhält es sich gegen den im Magen gekochten Speisenbrei. Die Verdauung fängt vom Verkauen und Durchdringen mit der Lymphe des Speichels an, im Magen. Der Magen- und der pankreatische Saft sind gleichsam die auflösenden, die Speisen in Gärung versetzenden Säuren; es ist dies das Lymphieren und Wärmen, - das chemisch-organische Moment. Im Zwölffingerdarm (duodenum) geht die eigentliche völlige Überwindung durch das Feuer, die Galle, vor, welche durch das Venenblut der Pfortader hervorgebracht wird. Der nach außen gekehrte, noch in die Lymphe fallende Prozess wird zum Fürsichsein und nun ins animalische Selbst verwandelt. Der Chylus, dies Produkt des Bluts, kehrt ins Blut zurück; es hat sich selbst erzeugt.« 541
Eine wichtige Rolle spielt in Hegels Darstellungen zur Verdauung die Haut. Sie diene der Gestalt zur organischen Tätigkeit542 und erlaube die unmittelbare Rückkehr des äußeren Organismus in sich. Die Haut sei das allgemeine Verdauungsorgan des vegetativen Organismus.543 Sie bilde den Mund, indem sie sich nach innen zurückschlage544 und erlaube dem Individuum Nahrung zu erfassen, aufzunehmen, ihre äußere Gestalt zu zermalmen und in sich selbst zu verwandeln.545 Auch der Magen und der Darmkanal seien nichts anderes als äußere Haut, nur umgeschlagen und zu eigentümlicher Form aus- und umgebildet.546 Zum Verständnis dialektischer Bezüge zwischen Innen und Außen liefere die Verdauung vielschichtige Anhaltspunkte. Essen und Trinken macht die unorganischen Dinge laut Hegel zu dem, was sie an sich seien.547 Das Organische bringe das Unorganische durch die weitläufigen Anstalten der Verdauung durch Vermittlung mehrerer Organe zur Identität mit sich.548 Das Hauptmoment in der Verdauung sei die unmittelbare Wirkung des Lebens, als der Macht über sein unorganisches Objekt, das es sich nur insofern als seinen erregenden Reiz voraussetze, als es an sich identisch mit ihm, aber zugleich dessen Idealität und ›Fürsichsein‹ sei.549 Im Er541 | Ebd., S. 449. 542 | Vgl. ebd., S. 453. 543 | Vgl. ebd. 544 | Vgl. ebd. 545 | Vgl. ebd. 546 | Vgl. ebd., E II, 3.C.c: Die Assimilation, §365, S. 482. 547 | Vgl. ebd., S. 485. 548 | Vgl. ebd. 549 | Vgl. ebd., S. 481.
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nährungsprozess verwandle sich unorganische Natur in die Leiblichkeit des Subjekts, in einen durch viele Momente hindurchgehenden Prozess, der nicht mehr unmittelbare Verwandlung sei.550 Bei der Erklärung dieser Verwandlung scheitere alle Chemie und alle Mechanik, die Veränderung der Nahrungsmittel bis zum Blut ließe sich empirisch nicht verfolgen.551 Als Kraft des Unorganischen reiße das Organische das Unorganische unmittelbar in seine Materie.552 Der Geist werde umso stärker, je größer der Gegensatz war, den er überwunden habe.553 Tatsächlich spielt die vermittelte Verdauung in Hegels Ausführungen zur dialektischen Entwicklung des Geistes denn auch eine zentrale Rolle. Der verdauende Organismus entzweie sich, indem er sich gegen das Äußere in Zorn setze.554 Er verhalte sich dabei nicht mit seiner unmittelbaren, sondern mit seiner spezifizierten Tätigkeit zum Äußeren. Wie der Zorn bei einer Verletzung einen Menschen in sich entbrennen lasse, kehre die Galle den animalischen Organismus gegen diese äußerlich in ihn gesetzte Potenz; denn der pankreatische Saft und die Galle griffen den Speisenbrei an, als tätige Verzehrung des in sich gekehrten Organismus.555 Beim Verdauen kehre sich der tätige Organismus durch den Kontakt mit der Nahrung in seinem Inneren »chemisch nach außen«.556 Weil sich Tiere verdauend gegen Nahrungsmittel wendeten, sich also innerlich in den Kampf mit Äußerlichem verwickelten, würden sie sich selbst verkennen, denn ihr Verhältnis zum Äußerlichem sei unwahr, weil die Umwendung des Äußerlichen durch die Macht der animalischen Lymphe geschehen sei. Komme das Tier aber zu sich selbst, so erkenne es sich dabei als eine sich selbst feindliche Macht, die sich mit äußerlichen Mächten eingelassen habe.557 Der gegen sich selbst gekehrte Organismus werfe sein »Nach-außen-Gekehrtsein« ab und kehre nun zu sich selbst zurück.558 Dass Hegel seine Vorstellungen zur Überwindung der Äußerlichkeit auch in Hinsicht auf christliche Vorstellungen der Transsubstantiation (vgl. Abschnitt 2 dieser Arbeit, insbesondere Helmont und Descartes) entwickelt, kann nicht überraschen. Ein äußerliches, sinnliches Ding wie eine Hostie könne
550 | Vgl. ebd., S. 483. 551 | Vgl. ebd., S. 484. 552 | Vgl. ebd., S. 485. 553 | Vgl. ebd. 554 | Vgl. ebd., S. 488f. 555 | Vgl. ebd., S. 489. 556 | Ebd. 557 | Vgl. ebd. 558 | Ebd., S. 489f.
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empirisch genossen werden, sei aber ungeistig.559 Der geistige Aspekt entstehe mit dem Verzehren und Vernichten der sinnlichen Aspekte, nicht bloß leiblich, sondern auch im Glauben. Das unterstreicht Hegels Auffassung, dass die Eleusinischen Mysterien in die »unterste Schule der Weisheit« gehören, weil sie keinen Zweifel am sinnlichen Sein der Speisen entwickeln.560 Die eucharistische Verwandlung von Wein in Blut kündigt sich laut Hegel dennoch schon im Rausch der Mysterien an, als Erscheinung des Werdens und Vergehens, die »selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirksamkeit und Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht. Das Wahre ist also der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist.«561 Mit Luther endet bei Hegel die umstandslose Identität von »Wein, Blut und Gottesgeist«,562 denn wenn die Transsubstantiation mit dem Verhältnis des geschriebenen Wortes zum Ding gewordenen Gedanken verglichen werden kann, wäre es treffender, wenn das geschriebene Wort aus dem Ding verschwände, sowie im Genuss von Brot und Wein nicht nur »der Geist lebendig wird, sondern sie selbst als Objekte verschwinden.« Essen und Lesen richten sich hier gleichermaßen auf die Tilgung materieller Zeichen zugunsten reiner, immaterieller Bedeutung.563 Die Überwindung des Unorganischen erscheint bei Hegel als eine Überwindung des Animalischen, das sich im Zorn gegen das Äußere wendet.564 Durch den Kampf mit dem Äußeren riskiert der Organismus Verluste. Dabei handelt es sich weniger um die Schwierigkeit, die verschlungene Speise zu besiegen bzw. zu verdauen, als darum, die eigene Animalität als verdauender Körper zu überwinden. Hegel sagt der biologisch notwendigen Ernährung damit den Kampf an: Das Subjekt soll seine Animalität überwinden, indem es von der Verdauung äußerlicher Dinge Abstand nimmt.565 Was der Organismus zu überwinden habe, sei nicht das Unorganische, sondern sein eigener Prozess, der ihn mit dem Äußeren verwickelt.566 Von dieser Verwicklung müsse
559 | Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Rel II), S. 328. Werde die Hostie auch als äußerliches Ding verehrt, müssten die Exkremente einer Maus verehrt werden, wenn diese eine Hostie gefressen hat. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, (GP I), S. 538. 560 | Hegel, PhG, A.I: Die sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen, S. 91. 561 | Ebd., Vorrede, S. 46. 562 | Kittler, 2001, S. 2004. 563 | Ott, 2011, S. 96. 564 | Vgl. Hegel, E III, 3.C.c: Die Assimilation, §365 Z, S. 491. 565 | Vgl. Lemke, 2009, S. 5. 566 | Vgl. Hegel, E III, 3.C.c: Die Assimilation, § 365, S. 491, vgl. ebd., S. 480ff.
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er sich durch Entfernung und Wegwerfen lösen, um zu sich selbst zurückzukehren.567 Die unbewusst ablaufende Assimilierung der Speise über Speisebrei in das Selbst erscheint also als eine Bedrohung, von der sich das Selbst befreien soll. Weil bei der Verdauung keine List der Vernunft dem Subjekt den sicheren Sieg über die das Einverleiben begleitenden Zwänge garantiert, muss sich der Mensch auf einen dialektischen Prozess einlassen bzw. diesen in sich selbst zulassen, um seine Nahrung zu verdauen.568 Bei seiner »originellen Antwort« schreckt Hegels Weltgeist wirklich vor nichts zurück.569 Indem er die eigenen Ausscheidungen in den Blick nimmt, erkennt er den Irrsinn seiner Nahrungsbedürftigkeit. Dieser Gedankengang ist beachtenswert. Mit dem Begriff der Verdauung bezeichnet Hegel insbesondere Organisches, das sich selbst erfasst, indem es in sich selbst zurückkehrt. Das Organische nehme sich verdauend selbst wahr, indem es Säfte absondere, sich als Individuum bewähre und sich durch Negation seines Anderen als ›Fürsichsein‹ setze.570 Es verwirkliche sich selbst individuell, durch eine unmittelbare Differenzierung von sich selbst, die nicht nur innerhalb des Organischen stattfinde, sondern auch Äußerliches produziere.571 In meinen Worten: Das Tier wächst über sich selbst hinaus, indem es Häufchen in die Welt setzt. Laut Hegel ist die »reale Produktion«, in der sich das Tier von sich selbst abstoßend verdoppelt, die letzte Stufe der Animalität überhaupt.572 Sie gewinne Form beim abstrakten Abstoßen, im Bildungstrieb und bei der Fortpflanzung der Gattung.573 »Diese drei heterogen scheinenden Prozesse sind in der Natur im wesentlichen Zusammenhange miteinander. Die Organe der Exkretion und die Genitalien, das Höchste und das Niedrigste der tierischen Organisation, hängen bei vielen Tieren aufs innigste zusammen, wie Sprache und Küssen auf der einen Seite, auf der andern Essen, Trinken und Ausspucken im Munde verbunden sind.« 574
Hegels Interesse am äußerlich Abgestoßenen, an der Exkretion, am Unorganischen, abstrakt Anderen, am Beschluss des Assimilationsprozesses erklärt 567 | Vgl. ebd. 568 | Vgl. Lemke, 2009, S. 6. 569 | Ebd., S. 7. Mit Lemke können wir uns fragen, ob die Unmöglichkeit, vom Essen bzw. vom Verdauen abzulassen, für das menschliche Selbst eine reale und unvermeidbare Unterwerfung unter das äußere Andere bedeutet. 570 | Vgl. Hegel, E III, 3.C.c: Die Assimilation, § 365, S. 491f. 571 | Vgl. ebd. 572 | Vgl. ebd. 573 | Vgl. ebd. 574 | Ebd.
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sich also im Zuge der Identitätsbildung. Indem der Organismus sich von sich trenne, »ekelt er sich selbst an.«575 Der Grund des Selbstekels liege in mangelnder »Zuversicht zu sich.«576 Der Ekel vor den Exkrementen solle das Vertrauen des geistigen Selbst zur möglichen Autonomie gegenüber materieller Nahrung stärken. Und muss sich der Geist nicht erniedrigt fühlen, wenn ihn Verdauungstätigkeit bei der gedanklichen Selbstverwirklichung behindert? Ja und nein: Denn wenn das Organische das Unorganische zur Identität mit sich bringt, so sind die organischen Verdauungsvorgänge laut Hegel zwar für das Unorganische überflüssig, aber der Verlauf des Organischen in sich selbst geschieht um seiner selbst willen: Der Geist wird umso stärker, je größer der Gegensatz war, den er überwunden hat.577 Anders gesagt: Es ist beschämend, an die Toilette zu denken, aber wenn sie hinter uns liegt, hat es doch gut getan. Laut Hegel lässt der Geist den Organismus die Gallenflüssigkeit, die er im zornigen Kampf gegen den Verdauungsbrei ausgeschickt hatte, wieder abgeben, quasi zur Sühne seiner digestiven Verstrickungen. Die Exkremente seien das, was der Organismus, seine irrige Verwicklung mit den Außendingen erkennend, von sich wegwerfe, wobei er sich selbst anekele, weil er nicht mehr Zuversicht zu sich hatte.578 Ergänzend sei daran erinnert, dass Hegel den Organismus auch bei der Exkretion von fiebrigem Schweiß zu sich selbst kommen lässt, insofern er eine Abnormität, eine krankhafte Tätigkeit aus sich herausbringe.579 Freilich scheide der Organismus nicht den Krankheitsstoff aus, so dass er gesund gewesen wäre, wenn die Exkretion nicht in ihm gewesen wäre oder mit Löffeln hätte herausgeschöpft werden können. Es handle sich hier nicht um Ausscheidungen der Kraftlosigkeit, die eigentlich gar keine Ausscheidungen seien, sondern um Auflösungen des Organismus, die gerade die entgegengesetzte Bedeutung hätten. Die Ähnlichkeit der Ausscheidungen von Fieberkrise und Verdauung unterstreicht Hegel ausdrücklich. Die Ansicht, hier handele es sich nur um die Beseitigung des Unnützen und Unbrauchbaren, ist laut Hegel irreführend. Die Exkretion der Verdauung schaffe wohl auch Unverdauliches fort, vornehmlich aber assimilierte Materie und Stoffe, die der Organismus selbst produziert habe.580 Es sei zweckmäßig, nach erreichtem Zwecke das materielle Mittel wegzuwerfen, etwa Galle und
575 | Ebd. 576 | Ebd. 577 | Vgl. ebd., S. 485. 578 | Vgl. ebd., S. 492. 579 | Vgl. ebd., S. 528. 580 | Vgl. ebd., S. 492.
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pankreatischen Saft. Das Resultat sei Sättigung und die Empfindung von Vollständigkeit, die auf Mangel folge.581 Könnte Hegels Organismus sich mit meinen Worten selbst erklären, so würde er sein Verhalten vielleicht so zusammenfassen: Ich habe aus Zorn gegessen wie ein Tier und gebe gleich noch etwas von mir ab, um mich ordentlich vor mir selbst zu ekeln. Wir können einwenden, dass hier eine ideale Abtrennung zwischen Subjekt und Welt gegen das materielle Interesse des verdauenden Organismus falsch ausgespielt wird, weil die Ausschaltung des materiellen Interesses letztlich zur Ausschaltung des Lebens führen muss. Lemke kritisiert zu Recht, dass Hegels Theorie der Assimilation sich über kulinarische, politische, ökonomische, ökologische und kulturelle Aspekte des Verdauens hinwegsetzt.582 Hegel liefere damit einen Beitrag zur Abwertung der Nahrungsaufnahme als gedankenlose Einverleibung von bedeutungslosen Äußerlichkeiten. Doch auch wenn Hegels Ideal der überwundenen Sinnlichkeit weder lebenswert noch lebensfähig scheint, so erlaubt es doch eine begriffliche Annäherung an tatsächliche Bezüge zwischen digestiver und geistiger Selbstentwicklung. Indem Hegel die traditionelle Theorie des autonomen Subjekts in die Theorie der Verdauung introjiziert, öffnet er Raum zur Neuorientierung.583 Problematisch scheinen dabei weniger die ungünstige Platzierung der Küche oder das Fehlen von Speisesaal und Toilette – Hegels Beschäftigung mit der Verdauung betrifft ja den ganzen Verdauungsschlauch – als vielmehr die Beschämung darüber, dass unser Selbst Küche, Speisesaal und Toilette tatsächlich benutzt. Positiv können wir das »unbewusste Verstehen der Verdauung« bei Hegel mit Remo Bodei als Annahme einer unmittelbaren Aufnahme der verschluckten Nahrung durch den Organismus deuten, als eine universelle Potenz einer durch Assimilation geschaffenen Identität infolge der Negation der Nahrung durch die relative anorganische Natur.584 Analog zum Prozess der Unterwerfung der Natur durch den Menschen mache Verdauung Objekte zum Besitz des Subjekts. So wie im Essen und Trinken ein unbewusstes Verstehen der Dinge liege, bestehe die Kultur für den Menschen in der Annahme der eigenen
581 | Vgl. ebd., S. 493f. 582 | Vgl. Lemke, 2009, S. 7f. 583 | Vgl. ebd. Das gastunfreundliche Gedankengebäude der herkömmlichen Subjekt theorie gerät hier aber nicht nur in Nähe zur Küche, sondern eben auch zur Toilette, wobei die Geschehnisse zwischen den Orten der Einverleibung von Nahrung und der Produktion von Exkrement als Zentren geistiger und körperlicher Aktivität behandelt werden, die das Leben gemeinsam bereichern. 584 | Vgl. Bodei, 1975, S. 100ff., zitiert nach: Rigotti, 2002, S. 56f.
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Natur, die das unbewusste Verstehen ermöglicht.585 Wir sehen: Im Schatten des Geistes tragen selbst Essen und Trinken zur selbst vollendenden Pracht des Geistes bei, unbewusst, aber immerhin. Verdauungsphilosophisch bedeutsam ist aber insbesondere Hegels Assoziation zwischen Exkretion und Bildungstrieb, als einer Form des »Sich-selbstsich-äußerlich-Machen[s]«, bei der die Exkretionen als »Einbildung der Form des Organismus in die Außenwelt« zur Befriedigung subjektiver Bedürfnisse des Tieres geformt werden.586 Die Veräußerung sieht Hegel hierbei nicht durch Ekel oder dialektisch erforderlichen Abstand des Selbst von sich Selbst motiviert. Der Umgang mit den Exkretionen erscheine hier als zweckmäßiges Tun, analog zur Tätigkeit eines Verstandes. Formen des tierischen Kunsttriebs seien das instinktartige Bauen von Nestern, Höhlen, Lagern, ferner das Wandern der Vögel und Fische, das Sammeln von Wintervorräten und die Bereitung von Waffen, z. B. den Netzen der Spinnen, als Vermittlung des Fangs ihrer Nahrung.587 Allerdings müsse man beim zweckmäßigen Tun der Natur nicht an Selbstbewusstsein denken. Im tierischen Kunsttrieb erscheine nur ein bewusstloser Werkmeister, das innere ›Ansich‹. Erst im Denken, beim menschlichen Künstler, sei der Begriff für sich selbst.588 Möchten wir Hegel für eine Philosophie der kulinarischen Kunst gewinnen, warum dann nicht ausgehend vom Bildungstrieb? Dialektisch scheint die Aufhebung des formenden Umgangs mit Exkretionen durch den formenden Umgang mit Speise bei der Gestaltung gelingender Selbstkunstwerke durchaus aktuell.589 Allerdings ist bei der Pflege der Verdauung Vorsicht geboten. Sicher kann sich mancher Geist zum endgültigen Verzicht auf gastrische Verdauung motivieren, etwa durch die Hoffnung auf eine idealistische Selbstkrönung infolge der Aufhebung dialektischer Gegensätze zwischen Speise und Exkrementen.590 Medizinisch scheint endgültige Abstandnahme von körperlicher Verdauung wenig ratsam, philosophisch negiert sie den Lebenswillen.
585 | Vgl. ebd. 586 | Hegel, E III, 3.C.c: Die Assimilation, §365, S. 495. 587 | Vgl. ebd. 588 | Vgl. ebd. 589 | Etwa bei Versuchen zur künstlerischen Gestaltung selbstbewusster Lebensentwürfe nach Foucault, s.u., Abschnitt 4. 590 | Der Hungertod von Blesilla in Rom gibt möglicherweise ein Beispiel, s.o., Abschnitt 2. Die esoterische Mode der Lichtnahrung bzw. des Breatharianismus scheint ähnlich verfehlt wie die im 19. Jahrhundert in Europa populären Hungerkünstler. Wenn Menschen zum Leben und zum Überleben feste und flüssige Nahrung in angemessener Menge brauchen, wirkt die Unterdrückung der gastralen Verdauung lebensfeindlich.
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H ilfssysteme bei S chopenhauer Auch Arthur Schopenhauer (* 22.02.1788 in Danzig; † 21.09.1860 in Frankfurt am Main) stellt gastrische und gedankliche Verdauung in ein enges Wechselspiel: So wenig wie das Lesen, könne die bloße Erfahrung das Denken ersetzen. Die Erfahrung bzw. die »reine Empirie« verhalte sich zum Denken wie Essen zum Verdauen und Assimilieren.591 Die treffliche Formulierung unterstreicht, dass philosophischer Umgang mit Nahrung sich nicht auf Überlegungen zu Organen des Geschmacks beschränken sollte. Bei Schopenhauer setzt sich die höhere Idee nicht zufällig durch, sondern weil sie die »niedrigeren durch überwältigende Assimilation unterworfen hat«.592 Aus dem Streit niedriger Erscheinungen gehe die höhere, sie alle verschlingende, aber auch verwirklichende hervor: Wenn eine Schlange keine Schlange verschlinge, so werde aus ihr kein Drache (»serpens, nisi serpentem comederit, non fit draco«).593 Schopenhauer versteht Assimilation als Instrument zur Durchsetzung überlegener Ideen im Zuge der Entfaltung eines in den Ideen objektivierten Willens. Zähne, Schlund und Darmkanal seien der objektivierte Hunger.594 Das erinnert in gewissen Hinsichten an Hegels Vorstellungen zur Entfaltung eines absoluten Geistes, insbesondere bei der Behandlung von Instinkt und Kunsttrieb. Seien die Motivationen und Anliegen auch noch so verschieden von denen Hegels: In seinen Erklärungen zum Kunsttrieb verweist auch Schopenhauer auf Verdauungsvorgänge. »[D]as Vogelnest, die Spinnenwebe, die Ameisenlöwengrube, der so künstliche Bienenstock, der wundervolle Termitenbau«595 sind bei Schopenhauer aber nicht Ausdruck einer geistigen Selbstbefriedigung, sondern entstehen einem übergeordneten Willen entsprechend, dessen Motive in der organisierenden Natur wirken. Wie die Leber nichts weiter wolle als Galle zur Verdauung absondern, so wolle auch die Arbeitsbiene nichts weiter als Honig sammeln, Wachs absondern und Zellen bauen: »alle Teile also arbeiten bloß für den Bestand des Ganzen, als welches allein der unbedingte Zweck ist; gerade wie die Teile des Organismus.«596
591 | Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, (P II), 22, §264. 592 | Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, (W I), §27. 593 | Ebd. Mit dem Zitat bezieht Schopenhauer Position gegenüber den ursprünglichen Ängsten vor den Verdauungsschläuchen der Sieger, die uns zum Beispiel im alttestamentarischen Bild des mächtigen Herrschers Nebukadnezar begegnen, der seine unterlegenen Gegner wie ein Ungeheuer verschlingt und verdaut, aber auch in altägyptischen Vorstellungen von Schlangen in den Darmschlingen von Schlangen (s.o., Abschnitt 1). 594 | Vgl. ebd., §20. 595 | Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, (W II), Ergänzungen, 27. 596 | Ebd.
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In den Organen wirke der Wille völlig blind, wogegen er der Insektengesellschaft immerhin eine entscheidende Mitwirkung und Wahlfreiheit überlasse, die wohl »schon am Lichte der Erkenntnis vor sich geht.«597 In den Werken der Kunsttriebe kommt der Instinkt mit dem Intellekt zusammen, der aber nur sehr schwach sei und kein stark entwickeltes Gehirn erfordere. Die Kunstverrichtungen der Insekten seien hauptsächlich vom Gangliensystem geleitet und es führe zu Ungereimtheiten, wenn man sie allein vom Gehirn ausgehend erkläre.598 Das tierische Tun ähnele dem von ›Somnambulen‹, bei denen der sympathische Nerv vom Gehirn die Leitung der äußeren Aktionen übernommen habe: Die Insekten seien gewissermaßen natürliche Somnambulen.599 Es wäre zwar allzu gewagt, hierin eine frühe Einsicht in den Einfluss des Darmnervensystems auf das Verhalten zu unterstellen. Nichtsdestoweniger weisen Schopenhauers Bemerkungen zum Daimonion des Sokrates, dem der Grieche bekanntlich auch entgegen rationaler Einsicht gehorcht haben soll, sowie zum »Wirken des erkenntnislosen Willens im inneren Getriebe des Organismus«600 den Weg für eine Berücksichtigung von gastralen Verdauungsvorgängen bei der Entwicklung von Kunsttrieben. Und recht explizit: Bei vom Gehirn unabhängigen Nerven erfolge die Auslösung der Aktivität unbewusst, der entsprechende Nervenreiz werde durch innere Einwirkung veranlasst, z. B. durch den Druck der eingenommenen Nahrung auf den Magen oder des Chymus auf die Gedärme.601 Der allgewaltige Wille schafft sich bei Schopenhauer zwei Hilfssysteme: die Nerven und die Eingeweide.602 Mit Recht sei gesagt worden: »das Gehirn denkt, wie der Magen verdaut.«603 Ebenfalls gerechtfertigt scheint ihm der Vergleich des zerebralen Nervensystems mit einem Parasiten, denn es sei nebst Rückenmark und Nerven dem Organismus eingepflanzt und werde von ihm genährt, ohne seinerseits zur Erhaltung der organischen Ökonomie direkt beizutragen.604 Der Intellekt lasse sich als die »physiologische Funktion eines Eingeweides, des Gehirns« begreifen, als »Affektion der Breimasse im Hirnschädel«.605 Das Gehirn gelte es vor unzeitiger Anstrengung zu schützen, besonders während der Verdauung solle es ruhen, weil dann eben dieselbe Lebenskraft, 597 | Ebd. 598 | Vgl. ebd. 599 | Vgl. ebd. 600 | Ebd. 601 | Vgl. ebd., 20. 602 | Vgl. ebd. 603 | Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, V.20. 604 | Vgl. Schopenhauer, W II, Ergänzungen, 20. 605 | Ebd., §22.
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welche Gedanken bilde, im Magen und den Eingeweiden arbeite.606 Wie gute Verdauung einen gesunden, starken Magen erfordere, brauche außergewöhnliche Intelligenz ein schön gebautes Gehirn.607 Der Intellekt sei ebenso physisch wie die Verdauung, nicht metaphysisch wie der Wille.608 Überhaupt sei der Intellekt gegenüber dem Willen sekundär, abhängig und bedingt, das beweise seine »periodische Intermittenz«: Im Schlaf pausiere das Gehirn und mit ihm das Erkennen, wogegen der Magen neben anderen Organen besonders tätig sei, was »seinem speziellen, gegenseitige Störungen veranlassenden consensus mit dem jetzt feiernden Gehirn zuzuschreiben ist.«609 Das innere Wesen des Denkens bleibe, wie bei anderen Erscheinungen auch, nach allen physikalischen Erklärungen ein Mysterium. Wer aber zur Erklärung des Denkens eine Seele annehme, der könne diese ebenso gut in den Magen oder in eine Pflanze versetzen wie in das Gehirn.610 Es gebe es keine immaterielle, einfache, wesentliche und immer denkende, folglich unermüdliche Seele, die im Gehirn logiere und nichts auf der Welt bedürfe.611 Solche Vorstellungen könnten zur Abstumpfung führen. Man sollte sich daran gewöhnen, Geisteskräfte als physiologische Funktionen zu betrachten, entsprechend zu behandeln und dabei bedenken, dass jedes körperliche Leiden den Geist affiziere.612 »Die Vernachlässigung des hier gegebenen Rats ist die Ursache, aus welcher manche großen Geister, wie auch große Gelehrte, im Alter schwachsinnig, kindisch und selbst wahnsinnig geworden sind.«613 Das Leben bestehe in der Bewegung und habe sein Wesen in ihr. Der Bewegung von Herz, Lunge und Gedärmen im Innern des Organismus fehle bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen die äußere Entsprechung. So entstehe ein »schreiendes und verderbliches Missverhältnis« zwischen äußerer Ruhe und innerem Tumult.614
606 | Vgl. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, V.20. 607 | Vgl. Schopenhauer, W II, Ergänzungen, 20. 608 | Vgl. ebd. 609 | Ebd., 19. 610 | Vgl. ebd., 17. 611 | Vgl. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, V.20. 612 | Am besten befähige dazu Pierre-J.-G. Cabanis’ Des Rapports du physique et du moral de l’homme. Vgl. ebd., V.20. 613 | Ebd. 614 | Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, II.
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F echners H ymne an den M agen Verständnis für die zentrale Rolle des Bauches im Leben der Menschen entwickelte Gustav T. Fechner (* 19.04.1801 in Groß Särchen; † 18.11.1887 in Leipzig). Seine Laudatio auf die Verdauung veröffentlichte er unter dem Titel Encomium des Magens, das Fechner mit diesen Worten einleitet: »Der Mensch erkennt im Allgemeinen viel zu wenig, was für ein edles Glied sein Magen ist.«615 Weil wahrer Verdienst im Laufe der Welt immer vernachlässigt werde, hätte man Gehirn und Herz über den Magen gestellt, die vom Brot des Magens essen und von seinem Wein trinken, um sich obendrein noch undankbar zu zeigen und sich über den Magen lustig zu machen.616 Dabei sei der Magen das A und O der Schöpfung:617 »Das Gehirn beschwatzt die Leute freilich mit schönen Phrasen, nur dass am Ende nichts Reelles dahinter ist; aber der Magen, wie ein stiller Weiser, schweigt und handelt darum umso mehr zum allgemeinen Besten; und wie die Sonne, die über Gute und Böse scheint, teilt er auch den ihn verachtenden Gliedern Nahrung aus, die wenn er seine milde Hand einmal von ihnen abzöge, von ihrem aufgeblasen Wesen in jeder Hinsicht gar sehr zurückkommen würden; ja der Pegasus des Gehirns würde gewiss gar artig die Flügel hängen lassen, wenn ihm der Magen seinen Hafer nicht zur rechten Zeit reichte.« 618
Der Mensch wolle essen wenn er in die Welt trete und er werde gegessen, wenn er aus ihr tritt.619 Alles sei »allgemeines Fressen in und durch die Welt«. Die ganze Welt sei ein Magen, »der an sich selbst verdaut, und durch das Verdauen sich selbst auch wieder nährt, und seine Nahrungsstoffe sind auch wieder Magen, die da verdauen, während sie verdaut werden.«620 Es ließe sich mit dem gleichen Recht behaupten, die Pflanzen seien als Gemüse zur Nahrung des Menschen geschaffen wie die Menschen »zu Düngerhaufen oder fetten Schüsseln« für die Pflanzen.621 Fechner zeigt sich aber nicht nur als wortgewandter Verteidiger der ökologischen Bedeutung der Verdauung, auch bei der Bestimmung der Bedeutung des Magens für das leibliche Wohl entwickelt er offensive Kampfkraft. Der Magen diene nicht dem Wohle des Leibes, sondern der Leib diene dem Wohl des Magens: 615 | Fechner, Stapelia mixta, S. 22. 616 | Vgl. ebd. 617 | Vgl. ebd., S. 28. 618 | Ebd., S. 22. 619 | Vgl. ebd., S. 28. 620 | Ebd. 621 | Ebd., S. 30.
Freuden »Der ganze Leib ist ja eigentlich nur ein Exkrement des Magens, das sich, wie eine Kruste, um ihn ansetzt, ein Pelzwerk um ihn, das ihn weich und warm halten soll, eine Schale, die ganz unnütz und tot daliegen würde, wenn die Nuss des Magens nicht darin wäre.« 622
Aber nicht nur den Leib, sondern auch den Geist ordnet Fechner um den Magen. Wenn ein voller Bauch nicht gern studiere, so liege das daran, dass der Magen ernsthafte Geschäfte zu verrichten habe, bei denen er nicht mit geistigem Gewäsch gestört werden dürfe. Auf die Idee, den Magen herunterzumachen, können laut Fechner nur Philosophen verfallen, die ihrem Magen nicht viel zu bieten haben und ihn deshalb verschmähen wie einen Beutel, zu dessen Füllung ihnen die Mittel fehlen. Geistige Blüten sprössen aus dem Magen. Den Schlund erreichten sie über den Umweg des Nervensystems. Der Magen benutze den Geist wie einen Fangarm.623 Er selbst brauche dabei gar nicht viel denken, das erledige ja das Gehirn. Dieser Tagelöhner des Magens habe Arbeit auf den Feldern zu verrichten, Poesie und Philosophie zum Erblühen zu bringen. Auch sei es die Aufgabe des Gehirns, sich dem Magen nützlich zu machen, durch »manichfache Transsubstantiationen« seiner Erträge in Brot, Fleisch und Bier.624 Die klassisch-griechische Hierarche zwischen geistiger und leiblicher Speise erscheint Fechner als unhaltbar, am Beispiel von Poesie und Käse erklärt er, warum: »Ganz gute Verse werden häufig genug als Emballage für noch besseren Käse, der dem Magen bestimmt ist, gebraucht, aber umgekehrt ist noch kein Käse als Emballage eines Gedichts gebraucht worden [...].« 625
Hunger sei die Peitsche, mit welcher der Magen den Geist zur Arbeit treibe.626 Ein hungriger Mensch sei zu allem fähig, ein satter zu gar nichts. Jener tue alles, um den Zweck seines Daseins zu erreichen, diesem sei das schon gelungen.627 Die Kochkunst sei »in praxi« unter allen Künsten immer am höchsten geschätzt worden, den Bedürfnissen des Magens entsprechend.628 Nur wenn die Zunge nicht mit Essen beschäftigt sei, sei sie geneigt, die Küche »nach allen Kräften herabzuwürdigen; ja, sie aus dem achtbaren Kränzchen der schönen 622 | Ebd., S. 22f. 623 | Vgl. ebd., S. 28. 624 | Ebd., S. 24. 625 | Ebd., S. 27. 626 | Vgl. ebd., S. 24f. 627 | Vgl. ebd., S. 25. 628 | Ebd., S. 87.
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Künste ganz auszuschließen.«629 Eine Kochkunst, die keine Idee verfolge und dem Geiste nichts weiter gebe als die Befriedigung des Gaumens durch Wohlgeschmack, verdiene keinen besseren Tempel als die Küche und könne auch keinen Anspruch erheben, als schöne Kunst anerkannt zu werden.630 Sie könne aber über sich selbst hinauswachsen, wenn es ihr gelinge, den inneren Sinn durch harmonische Anregung des Gemeingefühls zu rühren.631 Ihr »Thron« sei dann aber nicht mehr bloß die Zunge, sondern vielmehr der ganze leibliche Mensch.632 Fechner gesteht allerdings ein, dass es mit der Entwicklung wahrer Kochkunst noch nicht weit her ist: »Dass also bis jetzt in unserer Kunst nichts geleistet wurde, darf uns bei der Art, wie sie bisher behandelt worden ist, nicht glauben machen, dass sich überhaupt nichts darin leisten lasse [...].« 633
Das Fechner Wein, Kaffee, Opium und »berauschende Luft« zu möglichen Zutaten der kommenden Kochkunst rechnet, legt den Verdacht nahe, dass er sich eher eine Kunst der psycho-pharmakologischen Beglückung erträumt als eine Kunst zur ästhetischen Stillung von Hunger und Durst. Bekanntlich ist die Grenze zwischen Speisen, Genussmitteln und Drogen in manchen Hinsichten durchlässig.634 Fechners Vorschlag zur verstärkten Anwendung von Narkotika, »um recht unmittelbar auf das Psychische zu wirken«,635 spricht nicht dagegen, dass in der bereicherten Kochkunst gastrische und kulinarische Variationen auch therapeutische Wirkungen auf die Verdauung entfalten werden. Fechners Vision gibt jedenfalls Einblick in die Bedeutung von Speise für persönliche und kulturelle Entwicklungen. Nach seiner Auffassung haben
629 | Ebd. 630 | Vgl. ebd., S. 87f. 631 | Vgl. ebd., S. 93. Fechner stellt in diesem Zusammenhang Überlegungen zum inneren Sinn an, die zur Klärung des Problems mit inneren Empfindungen beitragen können: Dabei unterscheidet er zwischen zwei inneren Sinnen. Der erste Sinn sei ein geistiger, der unsere seelischen Zustände spiegele und uns alle Kunsteindrücke vermittle, die uns über die äußeren Sinne erreichen. Der zweite innere Sinn sei das körperliche Gemeingefühl, das uns über die Zustände unseres organischen Körpers informiere, über Gefühle des Wohlbefindens und des Schmerzes, des Hungers und des Durstes, der Müdigkeit und Munterkeit etc. In Bezug auf den geistigen Sinn wirke der innere Sinn des Gemeingefühls wie ein äußerer Sinn. Stapelia mixta, S. 89ff. 632 | Ebd., S. 93. 633 | Ebd., S. 100. 634 | Hengartner u. Merki, 1999, S. 9ff. 635 | Fechner, Stapelia mixta, S. 101.
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sich alle Künste und Wissenschaften aus dem Magen heraus entfaltet.636 Zur Begründung deutet Fechner Platons Gedankengang zur philosophischen Bedeutung des Darms auf seine Weise. Grundlage der Kultur ist bei Fechner nicht die Befreiung der gefräßigen Menschen von unstillbarem Hunger durch den Darm und seine Fähigkeit zur Speicherung von Speise. Fechner kehrt das Problem des mangelnden Willens zum Studium bei dauerhaft gefülltem Magen kurzerhand um: Weil die Verdauung Raum für mehr Nahrung schaffe, entstehe im Menschen immer neuer Wissensdurst.637 Verdauung ist demnach weniger ein Mittel zur Lösung eines Problems als eine Motivation zum Lernen. Und überhaupt: Laut Fechner beruht alle Tätigkeit auf Verdauungstätigkeit.638 Kultur bilde sich nicht infolge der Moderation eines stetigen Hungers, sondern durch die anhaltende Mahnung des Magens, die ein lebhafteres Feuer der Phantasie entfachen könne als alle Kunstanstrengungen, die im Grunde nicht viel mehr seien als Nebenstücke der Nahrungsaufnahme. Es gebe wohl kaum eine körperliche oder geistige Empfindung, die sich nicht durch Aufnahme irgendeines Stoffes in uns erregen ließe.639
D er hungrige B auch bei F euerbach In seiner »Kritik der unreinen Vernunft«640 stellt Ludwig A. Feuerbach (* 28.06.1804 in Landshut; † 13.09.1872 in Rechenberg bei Nürnberg) die Liebe in das Zentrum seines philosophischen Interesses. Liebe müsse Fleisch und Blut werden, um Sünden erlassen zu können.641 Jedes Wesen habe sein höchstes Wesen »in sich selbst«642 und es gelte, die Liebe zur Substanz, zum Wesen selbst zu erheben, um das lieblose Ungeheuer des religiösen Fanatismus zu vertreiben.643 In seinen späten Schriften ersetzt das ›Essen‹ die ›Liebe‹ als zentralen Topos des menschlichen Seins zwischen dem Körper und dem Geist, dem Selbst und den Anderen.644 Seine Wertschätzung für innere Vorgänge führt Feuerbach in seinen kritischen Erkundungen zum Sinn des Speise- und Trankopfers zur Lehre vom
636 | Vgl. ebd., S. 25. 637 | Vgl. ebd. 638 | Vgl. ebd., S. 29. 639 | Vgl. ebd., S. 95. 640 | Vgl. Schuffenhauer, 1973, S. Vf. 641 | Vgl. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, (WdC), S. 100 N. 642 | Ebd., S. 47. 643 | Vgl. ebd., S. 107. 644 | Vgl. Geller, 2005, S. 127.
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Magen und vom Gaumen, zur »Gastrologie«.645 Sein Interesse an der Verdauung erklärt Feuerbach einfach: Der Mensch esse wohl, aber er verdaue auch.646 Feuerbachs Einlassungen zum Wohl und Weh der Bäuche, etwa in Hinblick auf den Gebrauch von Nahrung in hebräischen, griechischen und christlichen Kulten, sind nicht nur philosophisch, sondern auch politisch brisant. In den Wirkungen des sinnlichen Erlebens leerer Bäuche erkennt Feuerbach Aspekte geistiger Entwicklung und thematisiert sie mit revolutionärem Elan. Das Menschenopfer gehöre zum Begriff der Religion, das blutige Opfer dramatisiere ihn, Wein und Brot bemänteln das Drama, im Sakrament werde Gott sinnlich genossen, getrunken, gegessen, angeeignet und assimiliert.647 Seine Bemerkung »Brot ist Fleisch« gründet Feuerbach weniger auf die Menschwerdung Gottes als auf die Menschwerdung des Brotes.648 In Essen und Trinken erkennt er die alltägliche Inkarnation und Menschwerdung der Natur.649 Jedes Nahrungsopfer sei ein latentes Menschenopfer, insofern der menschliche Körper im Grunde menschliche Nahrung sei. »Wir können nicht genießen, wenigstens nicht verdauen, was schlechterdings unsrer Natur widerspricht«.650 An pflanzlicher oder tierischer Nahrung äßen und verdauten wir »mittelbares Menschenfleisch und Menschenblut«.651 Die Frage nach dem Sein oder Nichtsein des Menschen ist für Feuerbach keine Sache des Kopfes oder des Herzens. Das Übel sitze der Menschheit im Magen: »Was hilft aber alle Klarheit und Gesundheit des Kopfes und Herzens, wenn der Magen krankt, wenn die Grundfrage der menschlichen Existenz verdorben ist?«652 Wie böse Gedanken steige das Übel aus dem Magen: Die einen hätten alles, was ihr lüsterner Gaumen begehre, die anderen hätten nichts, selbst für ihren Magen fehle das Notwendigste. Hierin sieht Feuerbach den Grund für alle Übel und Leiden, selbst für die Kopf- und Herzkrankheiten der Menschheit. Was nicht unmittelbar auf die Erkenntnis und Hebung dieses Grundes eingeht, ist nach Feuerbach »nutzloser Kram«.653 Bekanntlich speist sich Feuerbachs flammender Aufruf zur Füllung bedürftiger Mägen aus der ernährungswissenschaftlichen Forschung seiner Zeit, insbesondere Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel von 1850, in welcher 645 | Feuerbach, Das Geheimnis des Opfers, (GdO), S. 26. 646 | Vgl. ebd., S. 45. 647 | Vgl. Feuerbach, WdC, S. 598f. 648 | Hymers, 2006. S. 133. 649 | Vgl. Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus, (SuM), S. 179. 650 | Ebd., S. 175. 651 | Feuerbach, GdO, S. 47. 652 | Feuerbach, Vorwort zu Sämtliche Werke, Band I, (V1), S. 189f. 653 | Ebd.
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Feuerbach das philosophische, ethische und politische Gewicht des »gastronomischen Gegenstandes« und der »universellen revolutionären Bedeutung der Naturwissenschaft« entdeckte.654 Moleschott hatte die Konstruktion von Körper und Identität zentral auf das Blut bezogen, das die Organe bilden, reinigen und bewegen. »Jene eigentümliche Retorte, die wir Magen nennen«, löse und vereinheitliche eingeführte Brennstoffe derart, dass sie zu Baumitteln der Teile werden könnten, aus welchen die »arbeitende Maschine« bestehe, zu der sie gehöre.655 Feuerbach nimmt Moleschott nun beim Wort und macht sich an die konkrete Umsetzung. Zunächst gelte es einmal, das »faule Kartoffelblut des deutschen Volks wieder in Bewegung zu setzen«: Wer das Glück habe, nicht allein von Kartoffeln zu leben, könne die Lehre der Nahrungsmittel zur Richtschnur revolutionärer Handlungen machen. Er solle sich vor allem »durch die Politik, so niederschlagend und ekelerregend sie auch jetzt ist, nicht den Appetit zum Essen und Trinken verderben; aber mäßigen« lassen.656 Für solche Polemik zur revolutionären Wirkung von Diätplänen wurde Feuerbach allerdings schon zu Lebzeiten scharf kritisiert und der Lächerlichkeit ausgesetzt. Er selbst sah in seinem berühmten Ausspruch »Der Mensch ist, was er isst«, im ironischen Spiel mit der Stimme seiner Gegner, einen skurrilen Ausdruck der modernen sensualistischen Afterweisheit.657 Glaubte Feuerbach wirklich an den politischen Umschwung unter dem Banner »Erbsenstoff statt Kartoffelbrei«? Im Sinne einer »offenen Dialektik«, in der sich Subjekt und Objekt nicht gegenseitig aufheben, sondern sich als Selbst und als Anderes immer wieder neu hervorbringen, muss die Gleichung zwischen Essen und Sein den Menschen nicht materiell auf die von ihm verdauten Speisen reduzieren. Der Wolf wird nicht zum Schaf, nur weil er gewissermaßen aus verdauten, zum Wolf gewordenen Schafen besteht.658 Nichtsdestoweniger haben unsere materiellen Speisegewohnheiten Einfluss auf unsere geistige Entwicklung, etwa in Hinblick auf die Definition unserer Gruppenzugehörigkeit. Als aktive Entitäten zur Umwandlung von Materie stehen Menschen dabei in einem sozialen und philosophischen Geschehen, in dem der Verdauung bestimmter Nahrungsmittel eine bestimmte historische Bedeutung zukommt. Mit der Geschichte der Nahrungsgewohnheiten entwickeln 654 | Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, (NuR), S. 356. 655 | Moleschott, 1871, S. 12. 656 | Feuerbach, NuR, S. 364. 657 | Feuerbach, GdO, S. 27. Die Gleichsetzung von Nahrung und Sein mag naiv erscheinen, ist aber in gewisser Hinsicht eben doch zutreffend: »Was wir essen, unterscheidet sich nicht sonderlich von dem, was wir sind. Ein Steak zum Beispiel ist schlicht ein Stück Rindermuskel [...].« Gershon, 2001, S. 196. 658 | Brague, 2000, S. 294.
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sich kulturelles und individuelles Wissen um Speise: Die Kartoffeln der irischen Hungerskatastrophen sind nicht die Kartoffeln des Internationalen Jahres der Kartoffel von 2008 und die Bohnen bei Pythagoras nicht die Bohnen bei Feuerbach. Weitenteils stören sich die Kritiker Feuerbachs wohl auch weniger an dessen Abneigung gegen Kartoffeln als am philosophischen Interesse an Ernährung und Verdauung. Feuerbach legt sich quer im philosophischen Fluss der »supranaturalistischen Scheincultur«, die Essen und Trinken zu niedrigsten Akten erklärt. »Was ist Essen ohne Verdauen?«659 fragt er provokativ und bringt damit auf den Punkt, warum Freude an Speise mitunter als Gefahr für die Reinheit der Gedanken erscheint. Feuerbach selbst versteht den Körper als Zugang zur Welt. Das Subjekt sei nicht transzendental, sondern empirisch, gebunden an Bedürfnisse und Wünsche in der Gemeinschaft Anderer, in einer »wirklichen Situation«.660 Die Welt begreift er als Objekt praktischer Aktivität, gerade bei der Verdauung von Nahrung, wenn die Gewalt des Hungers die Gedanken auf den Magen lenkt.661 Wenn das idealistische Subjekt an Durst leide, sei es ein mangelhaftes, unglückliches, elendes »Ich«. Die Empfindung von Hunger sei subjektiv, ihr Grund aber objektiv. Ohne Speise und Trank gebe es nur halbe, keine ganzen Menschen.662 Das gilt bei Feuerbach für den Bauch und für den Kopf: »Das Hirn ist der Magen, das Verdauungsorgan der Sinne.«663 Bei der Einverleibung vereinen sich ihm zufolge Subjekt und Objekt, die Speise wird zu einem zweiten Ich.664 Als Aktivum und Passivum existiere das Subjekt nicht »durch sich selbst«, sondern als »poröses Ich«, als Leib, offen gegenüber der Welt.665 Beim Essen habe der Mensch weder den Grund noch die Folgen in seiner Gewalt, er sei Fremdling im eigenen Hause, gleichermaßen ein Selbst und ein NichtSelbst.666 Essen und Trinken halte nicht nur Leib und Seele zusammen, »sondern auch Gott und Mensch und Ich und Du.«667 In Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel meint Feuerbach nun die »Grund-sätze der Philosophie der Zukunft und Gegenwart« zu finden. Die schwierigsten Probleme fänden hier eine Lösung, insbesondere die leidliche 659 | Feuerbach, GdO, S. 45. 660 | Hymers, 2006, S. 135. 661 | Vgl. Feuerbach, SuM, S. 65. 662 | Ebd., S. 178f. 663 | Feuerbach, GdO, S. 45. 664 | Vgl. Feuerbach, SuM, S. 179. 665 | Feuerbach, Einige Bemerkungen über den »Anfang der Philosophie«, (AdP), S. 150f. 666 | Vgl. Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, (NA), S. 306. 667 | Feuerbach, GdO, S. 41.
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Frage zum »Bande zwischen dem Leib und der Seele!«668 »Jetzt wissen wir aus wissenschaftlichen Gründen, was längst das Volk aus der Erfahrung wusste, dass Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhält, dass das gesuchte Band also die Nahrung ist.«669 Wir dürfen getrost zweifeln, ob Nahrung der Schlüssel zur Lösung aller philosophischen Probleme ist oder sich dazu eignet, den Zank über den Ursprung der Ideen aus den Sinnen beizulegen.670 Doch wenn Marx und Engels Fragen der Ernährung bei der Analyse der kapitalistischen Ökonomie vernachlässigen, dann sicher auch deshalb, weil Feuerbachs Untersuchungen den Bereich schon sehr gut abdeckten. Das Fehlen einer gastrosophischen FeuerbachThese bei Marx fällt jedenfalls auf.671 Die Formulierung im Nachhinein sollte das Wesentliche am Essen in das Zentrum des philosophischen Interesses stellen: Die Philosophen haben die Verdauung negiert, es kommt darauf an, sie zu erfreuen. Das revolutionäre Potenzial der Esspraxis gründet sich in der Verdauungspraxis, aus der heraus auch Fragen des geschmacklichen Wohlgefallens zu klären sind. Mit Feuerbach können wir uns nur verdauend denken, in Hinblick auf unser biologisches Überleben und auf erfülltes Lebensgefühl: Ohne Wasser gebe es keine Empfindung, kein Wasserbedürfnis und kein Wohlsein.672 Das schärft das revolutionäre Bewusstsein für gastrosophisches Dasein. Welche Idee kann vor materiellem Nahrungsmangel bestehen? Im Hintergrund von Feuerbachs Ausführungen zur Speise steht immer die sensible Empfindung des Magens, insbesondere bei Hunger. Eingeborene Ideen lehnt Feuerbach ebenso ab wie eingeborene Speisen. In uns sei gar nichts, was nicht auch außer uns existiere. Die Nahrung sei Substanz, in ihr läge die Identität von Geist und Natur. »Wo kein Fett, ist kein Fleisch; aber wo kein Fett, da ist auch kein Hirn, kein Geist: und das Fett kommt nur aus der Nahrung. Die Nahrung ist das Spinozistische Hen kaì pân, das Allesumfassende, das Wesen der Wesen. [...] Das Sein ist Eins mit dem Essen; Sein heißt Essen; was ist, isst und wird gegessen. Essen ist die subjektive, tätige, gegessen werden die objektive, leidende Form des Seins; aber Beides unzertrennlich. Erst im Essen erfüllt sich daher der hohle Begriff des Seins und offenbart sich die Unsinnigkeit der Frage: ob Sein und Nichtsein identisch, d.h. ob Essen und Hungern identisch ist.« 673
668 | Feuerbach, NuR, S. 357. 669 | Ebd., S. 357. 670 | Vgl. ebd. 671 | Vgl. Lemke, 2007, S. 388. 672 | Vgl. Feuerbach, SuM, S. 178. 673 | Feuerbach, NuR, S. 358.
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Im offenen Mund erkennt Feuerbach den Eingang ins Innere der Natur. Kauend eignen sich subjektive Körper objektive Wirklichkeit an.674 Das Prinzip des Seins (»Principium essendi«) sei auch das Prinzip des Erkennens (»Principium cognoscendi«), die Ernährung der Anfang von Existenz und Weisheit.675 Seine Definition der Bezüge zwischen Liebe und Verdauung flankiert Feuerbach mit einem Seitenhieb auf christliche Theologen. Zunächst unterscheidet er förmlich zwischen dem, was wir essen und dem, was wir lieben. Zwar mache Liebe Appetit auf das Objekt der Liebe, doch der Gebrauch des empfindungsvollen Mundes müsse nicht mit dem Gebrauch von zermalmenden Zähnen und verschlingendem Schlunde einhergehen.676 Würden wir den Gegenstand unserer Liebe kauen, so würde die Liebe »wider sich selbst sein, wider ihren eigenen Willen handeln.«677 Der Unterschied zwischen mündlichem und fleischlichem Genuss des christlichen Herrenleibes erinnere daran, dass Liebe kein grobes, fleischliches, sondern herzliches und mündliches Essen sei.678 Impliziert Feuerbach damit, dass orale Nahrungsaufnahme der Liebe dienen könne, nicht aber gastrale? Dagegen spricht, dass Feuerbach dem Magen die höchsten Prinzipien entspringen lässt. Wer etwas in sein Herz und seinen Kopf bringen wolle, müsse zunächst etwas in seinen Magen bringen. Das Prinzip des höchsten Gottes (»A Jove principium«) wünscht er durch das Prinzip des Magens zu ersetzen (»A ventre principium«).679 Der Leib stehe nicht auf dem Kopf, sondern der Kopf auf dem Leib. Die Materie entspringe nicht dem Geist, sondern der Geist der Materie.680 Wo nichts im Magen sei, da sei auch nichts im Kopf.681 Der Geist sei Licht und Feuer, die Nahrung ein Brennstoff.682 Vernunftgemäße Philosophie könne sich nicht dem Vergnügen der Geister hingeben und dabei die »Menschen ohne Brot« lassen.683 Das Vermögen zu schließen beruhe auf den Vordersätzen der Speisen und Getränke.684 Nahrungsstoff sei Gedankenstoff.685
674 | Vgl. Feuerbach, SuM, S. 177f. 675 | Feuerbach, NuR, S. 359. 676 | Vgl. Feuerbach, GdO, S. 45. 677 | Ebd., S. 44. 678 | Vgl. ebd., S. 44f. 679 | Feuerbach, NuR, S. 359. 680 | Vgl. ebd. 681 | Vgl. ebd. 682 | Vgl. ebd. 683 | Ebd. 684 | Vgl. ebd. 685 | Vgl. ebd.
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Das Sprichwort ›Ein voller Bauch studiert nicht gern‹ sei ein alberner Einwand gegen die Abhängigkeit der Gedanken von der Nahrung.686 So lange der Bauch voll sei, könne der Kopf nicht davon profitieren. Zu Hirn würden die Speisen erst, wenn sie verdaut würden. Mit dem Unwissen über die Verdauung, d.h. dem Übergang von Speisen zu Fleisch und Blut, verhalte es sich wie mit dem Unwissen über die Erschaffung der Welt. Wer behaupte, die Welt sei aus dem Nichts geschaffen, der gebe zu, dass er nicht wisse, woraus sie geschaffen wurde.687 Um die Wunder der christlichen Dogmatik in Fleisch und Blut umzusetzen, habe man dem Organismus aber eine aus Nichts schaffende Kraft angedichtet. Tatsächlich sei das Leben nichts weiter als der Austausch von Stoffen, die von der Außenwelt empfangen und in anderer Gestalt wieder in sie ausgeschieden werden.688 Wenn wir von uns geben, müssen wir zu uns nehmen. Weil mit der verminderten Aufnahme von Nahrung keine ausreichende Abnahme der Ausscheidungen verbunden sei, verzehrten wir uns selbst, wenn wir nichts anderes zu verzehren hätten. Moleschotts Ausführungen zu den Folgen des Hungers zitiert Feuerbach ausführlich: Schwächung der Muskeln, verminderte Herzfrequenz, Reizüberempfindlichkeit, Schlafstörungen etc.689 Der Hunger veröde Kopf und Herz.690 Die ethische und politische Bedeutung für das Volk sei leicht ersichtlich, denn Speise sei die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung. Eingedenk seiner Einsicht in Zusammenhänge zwischen Hunger und geistiger Qual fordert Feuerbach philosophische Veränderung. Ein »sehr reelles, weil empfindliches Nichts«, das »Nichts im Magen«, solle an die Stelle des nebulösen »Nichts im Kopfe« treten.691 Ausreichende Ernährung wird zu einer zentralen Forderung: »Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er isst.«692 Wenn dieser Satz heute kaum mehr Wert als eine Kuriosität hat,693 ist das insofern nicht leicht einzusehen, als er die Folgen von Fehlernährung in Kulturen der Armut und des Wohlstands betrifft. Die philosophische Aufarbeitung dieser Folgen ist schon deshalb vielversprechend, als sie unser Verständ-
686 | Vgl. ebd. 687 | Vgl. ebd., S. 360. 688 | Vgl. ebd. 689 | Die wissenschaftliche Berechtigung der Ausführungen scheint, eingedenk gegenwärtiger Definitionen von Unterernährung bzw. quantitativer Mangelernährung (Klassifikation nach ICD-10: E40-E46), wenig zweifelhaft. Vgl. FAO, 2011, S. 44. 690 | Vgl. Feuerbach, NuR, S. 361f. 691 | Ebd. 692 | Ebd., S. 367. 693 | Vgl. Fellmann,1997, S. 27.
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nis für den Einfluss der Verdauung auf individuelle und kulturelle Strukturen zu schärfen verspricht. Essen und Trinken sind laut Feuerbach das fröhlichste und leichteste menschliche Werk, Hungern und Dursten dagegen das traurigste und schwerste Ding auf der Welt. Die Freiheit von Hunger sei das erste Grundrecht des Menschen.694 Dabei gilt Feuerbachs Sorge zunächst weniger dem Wohl des Gaumens als dem Wohl des Bauches. Unsere »unästhetischen Zähne« zerkauen und zermalmen unsere Nahrung nicht, um zu schmecken.695 Geschmack sei hier nur Mittel zur Einverleibung, zur Wandlung des Wesens der Speise zu unserem Wesen.696 Als Kriterium für die Auswahl von Speisen nennt Feuerbach den Nährwert, wobei ein Nahrungsmittel umso nahrhafter sei, je verdaulicher es ist.697 Wollen wir verstehen, was der »Hunger, respektive der Magen« sei, so wäre es einseitig und unzulänglich, seine Kapazität, Leistungen und Kraftäußerungen bei vollbesetzten Tafeln reicher Schwelger zum Muster zu nehmen.698 Neben das Bild des fröhlichen Hauptes auf vollem Bauche stellt Feuerbach das grausige Haupt der leeren Mägen. Manches philosophische Geheimnis, das bei vollem Magen undurchdringlich erscheine, würde bei leerem Magen so durchsichtig wie Wasser. Die Macht der Hungersnot erkläre manches sehr viel besser als die Gewohnheit mancher gastronomischen Helden Roms, die darin bestehe »zu brechen, um wieder essen, und zu essen, um zu brechen, – »vomunt, ut edant, edunt, ut vomant [...].«699 Dessen ungeachtet beschäftigen die Freuden des Gaumens auch Feuerbach, der die Möglichkeit der Wahl zwischen Speisen als einen Aspekt menschlicher Freiheit darstellt. Für ihn gibt es eine Freiheit im Essen, nicht aber vom Essen.700 Wir müssen essen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen und können uns ohne das Bedürfnis nach Speise überhaupt gar nicht denken.701 Aber wir brauchen nicht wahllos zu essen, wir sind nicht abhängig von einer bestimmten Speise, sondern können wählen, im Rahmen dessen, was »in die Sphäre, in die Gattung eines menschlichen Nahrungsmittels fällt.«702 Innerhalb einer vom Menschen unabhängigen Naturbestimmung gesteht Feuerbach kulinarische Selbstbestimmung zu.
694 | Vgl. Feuerbach, Zur Ethik: Der Eudämonismus, (EE), S. 236, auch ebd., S. 258. 695 | Feuerbach, SuM, S. 177f. 696 | Vgl. ebd. 697 | Vgl. Feuerbach, NuR, S. 365; Moleschott, 1850, S. 83. 698 | Feuerbach, EE, S. 236. 699 | Ebd., S. 237; vgl. Seneka, Ad Helv, 10,3. 700 | Vgl. Lemke, 2007, S. 381. 701 | Vgl. Feuerbach, GdO, S. 68. 702 | Ebd.
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Mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier geht bei ihm die Unterscheidung der Verdauungsgewohnheiten einher, die Unterschiede der Köpfe stehen dahinter zurück: »Lass einem Menschen seinen Kopf, gib ihm aber den Magen eines Löwen oder Pferdes – er hört sicherlich auf, ein Mensch zu sein.«703 Das sittliche und vernünftige Verhältnis des Menschen zum Magen bestehe darin, ihn nicht in die Klasse der Tiere zu versetzen. Die Freiheit mache ja nicht vor dem Magen halt.704 Im Gegenteil: Wer die Menschheit vom Magen abschließe, reduziere sie im Essen auf Bestialität.705 Gerade dem Geschmackssinn könne das Recht auf Individualität nicht streitig gemacht werden,706 wobei der Individualismus des Urteils sowohl auf der Verschiedenheit als auch der Übereinstimmung mit Anderen beruhen könne.707 Andererseits »hat und macht der Geschmack nicht weniger Anspruch auf Allgemeingültigkeit als die übrigen Sinne.«708 Alltägliche Familientische und öffentliche Festessen bewiesen gleichermaßen, dass es – allen politischen, moralischen und religiösen Meinungen der uneinigen Köpfe zum Trotz – einen gemeinschaftlichen Geschmack gibt.709 Gegen den Anspruch des Geschmacks auf Allgemeinheit spräche allenfalls »Aristokratischer Gedankendünkel«.710 Der Unterschied des Geschmacks trete eigentlich auch erst mit der »aristokratischen Kochkunst, der Gourmandise«, auf.711 Er beziehe sich gar nicht auf die einfachen, notwendigen, volkstümlichen und landessittlichen Speisen, bei deren Genuss alle Zungen und Herzen einstimmig seien.712 Charakteristisch für Feuerbachs Überlegungen zu Geschmack und Verdauung ist seine Unterscheidung zwischen notwendiger Selbsterhaltung und Glückseligkeitstrieb. Hinter der Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichem Geschmack und Gourmandise erscheint der Widerspruch zwischen Menschen und Göttern: Die einen stillen Hunger und Durst, die anderen erleiden Mangel.713 Die einen haben vom Essen und Trinken seligen Genuss, die anderen plagen sich mit den »traurigen Vorbedingungen« sowie den »be-
703 | Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, (GPZ), §54, S. 335f. 704 | Vgl. ebd. 705 | Vgl. ebd. 706 | Vgl. Feuerbach, SuM, S. 105. 707 | Vgl. ebd. 708 | Ebd. 709 | Vgl. Feuerbach, EE, S. 274. 710 | Ebd. 711 | Ebd. 712 | Vgl. ebd., S. 274f. 713 | Vgl. Feuerbach, GdO, S. 46.
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schwerlichen und selbst ekelhaften Folgen.714 Das Bedürfnis nach Speise sei eine rein menschliche Eigenschaft, aber die Fähigkeit zum Genuss komme Menschen und Göttern gleichermaßen zu.715 An ihrer gemeinschaftlichen Tafel zähle also der Geschmack.716 Die Pflicht zur Befriedigung des Magens versteht Feuerbach im Sinne einer Pflicht zur Selbsterhaltung.717 Speisen, die zur Selbsterhaltung genügen, seien demnach gute. Der Glückseligkeitstrieb dagegen sei ein Gourmand, er betreffe Leckerbissen und Lieblingsspeisen, die angenehm sind, die den Gaumen kitzeln.718 Die Klarheit dieser Trennung besteht aber nur scheinbar. Feuerbach: »Ist denn aber dieser Leckerbissentrieb der natur- und pflichtgemäße, der demokratische, populäre Glückseligkeitstrieb? Stimmen nicht alle Menschen darin überein, dass sie vor allem ihren Hunger stillen wollen? Und ist nicht die bloße Stillung des Hungers auch angenehm? Ist nur die Trüffelpastete oder Mandeltorte des Kantischen Glückseligkeitstriebes, nicht auch das trockene Brot der Pflicht ein Leckerbissen, wenn man hungrig ist? Ist das Brot nicht so gut wie die Torte ein Gegenstand des Glückseligkeitstriebs?« 719
Mit dem kulinarischen Geschmacksurteil sieht Feuerbach Ansprüche auf universelle Geltung verbunden. Jeder, dem etwas wohlschmeckt und wohlbekommt, glaube, es müsse auch anderen wohlschmecken und wohlbekommen. Widersprüche zur eigenen Erfahrung können »rein unbegreiflich« erscheinen.720 Der Verallgemeinerung des begriffslosen Geschmacksurteils stellt Feuerbach seinen »gastrosophischen Pluralismus« entgegen,721 durchaus in Bezug auf individuelle Verdauungsfähigkeiten: Die einen lieben Kirschen und Johannisbeeren, andere können sogar das liebe heilige Brot nicht essen und vertragen.722 Die Bedürfnisse der Verdauung ziehen dem Geschmack Grenzen. Sie erlauben eine treffende und flexible Unterscheidung zwischen Selbsterhaltung und Genuss. Das gilt bei der Entscheidung darüber, was überhaupt zur Gattung der menschlichen Nahrungsmittel gehört. Darüberhinaus setzt das Ver714 | Ebd. 715 | Vgl. ebd. 716 | Vgl. ebd., S. 45. 717 | Vgl. Lemke, 2007, S. 386. Feuerbach, EE, S. 257. 718 | Vgl. ebd. 719 | Ebd. 720 | Lemke, 2004, S. 384. 721 | Ebd., S. 122. 722 | Vgl. Feuerbach, SuM, 1972, S. 106.
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dauungsvermögen der Wahlfreiheit auch insofern Grenzen, als der Magen nur ein gewisses Quantum an Trüffelpastete akzeptiert. Danach ist Schluss mit der Glückseligkeit, wollen wir nicht in die römische Gewohnheit des willentlichen Erbrechens zurückfallen. Das Verlangen eines gefüllten Magens nach Mandeltorte kann schädigen. Wird Magenverstopfung zu einem charakteristischen Merkmal des populären Glückseligkeitstriebs, ist etwas faul in der demokratischen Kultur. Die Freiheit bei der Wahl von Speise findet ihre Grenze im Verdauungsvermögen, insbesondere dann, wenn es anderswo an gesunder Speise mangelt. Zunächst hat es den Anschein, als halte Feuerbach die geistige und körperliche Freude am Wohlgeschmack guter Speise für moralisch unproblematisch.723 Schwierig wird es damit aber bei Mangel. Wo das zum Leben notwendige fehle, da sei es auch um sittliche Notwendigkeit schlecht bestellt.724 Wo vor Hunger kein Stoff in den Leib komme, gebe es weder im Kopfe, noch im Sinne oder Herzen Grund oder Stoff zur Moral. Feuerbach gesteht zwar zu, dass mancher gute Mensch lieber vor Hunger sterbe, ehe er zum Verbrecher werde, aber solche Menschen hätten wohl von ihrer Kindheit an Zeit und Gelegenheit zur Beschäftigung mit anderen Dingen und Genüssen gehabt als nur mit Essen und Trinken.725 Gewohnheit sei das Geheimnis der Tugend und des Lasters. Die Existenz edler Menschen sei kein Beweis gegen die Notwendigkeit von Lebensmitteln zur Erhaltung der Tugend.726 Die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln wäre damit eine Voraussetzung für die moralische Rechtfertigung der Lust am Wohlgeschmack. Und tatsächlich: Wer möchte schon seine Geschmacksnerven erfreuen, wenn der hungrige Tischnachbar nichts hat, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen?
G rosse V ernunf t bei N ie t zsche Ich »verdaue wie ein Halbgott«, schrieb Friedrich W. Nietzsche (* 15.10.1844 in Röcken; † 25.08.1900 in Weimar)1888 aus Turin an einen Freund, etwa ein Jahr vor seinem geistigen Zusammenbruch.727 Nietzsche hielt gute Verdauung für bedeutungsvoll, in der Philosophie und im alltäglichen Leben. Schon 723 | Vgl. Feuerbach, EE, S. 274. 724 | Vgl. ebd., S. 267. 725 | Vgl. ebd. 726 | Vgl. ebd. 727 | Nietzsche, Brief an Heinrich Köselitz, 20.04.1888. Ist das wichtig, sagt das überhaupt etwas oder bietet das nur Anlass zu herabholender Häme? Vgl. Wolff, 1979, S. 156. Die Antwort auf diese Frage ist aufschlussreich für unser Verständnis von Philosophie. (Wollen wir Gemeinplätze etablieren oder tatsächliche Widersprüche behandeln?)
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in der Schulzeit waren bei ihm selbst erste Schwierigkeiten aufgetreten.728 Als junger Mann versuchte er seinen »schlechten Magen« bekömmlich zu speisen und interessierte sich für Fragen der Diätetik.729 Im Verlaufe des Deutsch-Französischen Krieges zog er sich 1870 eine leichtere Form der Ruhr zu, die wahrscheinlich zu einer chronischen Gastritis führte, jedenfalls aber zu langfristigem Leiden an Dyspepsien und Indigestionen.730 Nietzsche litt: »Ach, wie sehr verlange ich nach Gesundheit! Man habe nur erst etwas vor, was etwas länger dauern soll als man selber – dann dankt man für jede gute Nacht, für jeden warmen Sonnenstrahl, ja für geregelte Verdauung!« 731
Kaum dreißig Jahre alt, vermutete er die Ursache von Nervosität, Schlaflosigkeit, Hämorrhoiden und Blutgeschmack in der Zerrüttung der inneren Organe seines Unterleibs.732 Ihm sei um seine Unsterblichkeit bange, denn er habe noch nicht gehört, dass Blähungen philosophische Zustände erregen.733 Im Januar 1871 laborierte er an einer Magen-Darm-Entzündung mit Gelbsucht, zu der sowohl die Überanstrengung durch seine Professur als auch die Nachwirkungen der Dysenterie beigetragen haben dürften.734 Im Juli 1875 wurde ihm chronischer Magenkatarrh mit bedeutender Erweiterung des Magens attestiert.735 Die Erweiterung wurde erfolgreich kuriert, doch Nietzsches digestive Gesundheit blieb angeschlagen. Dazu dürften psychische und physische Vorgänge beigetragen haben:736 »Ah, wie schwer sind die Mitmenschen zu verdauen!«737 Entsprechend seiner Überzeugung zum Einfluss von Ernährung auf Geist und Denkweise versuchte Nietzsche sich durch unablässiges Experimentieren mit Diäten und kurzfristigen Umstellungen seiner Gewohnheiten selbst zu kurieren.738 Das änderte aber ebenso wenig an seiner Verdauungsschwäche wie der Einsatz von Brech- und Abführmitteln, oftmals nach selbst verordneten
728 | Vgl. Volz, 1990, S. 119. 729 | Nietzsche, Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 09.1869. 730 | Vgl. Volz, 1990, S. 119, vgl. ebd., S. 302. 731 | Nietzsche, Brief an Erwin Rohde, 29.03.1871. 732 | Vgl. ebd. 733 | Vgl. ebd. 734 | Vgl. Volz, 1990, S. 120. 735 | Vgl. ebd., S. 122ff., 302. 736 | Volz wendet sich gegen eine Deutung des Krankheitsbildes im Sinne eines Reizdarm-Syndroms. Vgl. ebd., S. 126 u. 144. 737 | Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, (FW), §364. 738 | Vgl. Volz, 1990, S. 138.
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Rezepten.739 Nietzsches Leiden am Zusammenspiel zwischen Verhalten und Verdauungsstörungen blieb akut.740 Dabei sah sich Nietzsche allerdings in bester philosophischer Gesellschaft: »Aber der Magen, der Vater der Trübsal auch bei mir! Jetzt will er, dass ich von Milch, Eiern, Feigen und Grahambrod lebe – ich glaube, so hat Epicur gelebt, der auch am Magen litt. Das Glück, wie es jener Weise verstand, ist das Glück eines Dyspeptikers.«741 Die philosophische Bedeutung der Verdauung bei Nietzsche ergibt sich plakativ in seinen Betrachtungen zur Funktion des Geistes. So unterscheidet Nietzsches Zarathustra zwischen »großer Vernunft« des Leibes und dessen Werk- und Spielzeug, dem bewussten Geist.742 Für das Leben seien zunächst einmal »Leib« und »Fleisch« bedeutsam, der Rest sei ein kleines Zubehör.743 Letztlich falle dem Fleisch die Aufgabe zu, die Kette des Lebens fortzuspinnen, aber Herz, Seele, Tugend und Geist würden sich förmlich verschwören, um diese Aufgabe zu verkehren, als ob sie selbst die Ziele wären.744 Im Leib stecke aber mehr Vernunft als in unserer besten Weisheit.745 Er sei dem Geist methodisch voranzustellen, sei reicher, deutlicher und fassbarer, wobei wir über seine letzte Bedeutung nichts auszumachen brauchen.746 Der Leib sei tätig, längst bevor wir von unserem »Ich« sprechen können747 und er bleibe tätig, auch wenn uns unklar sei, wozu er die beste Wahrheit nötig habe.748 Wer den 739 | Zur Durchführung seiner Selbstexperimente mit Eierschaum wünschte sich Nietzsche ein »kleines ›genial construirtes‹ Maschinchen«: einen Dover egg beater, vgl. Brief an Elisabeth Förster, 23.11.1885, zu dessen Verwendung ihn das Diätische Kochbuch mit besonderer Rücksicht auf den Tisch für Magenkranke inspirierte, vgl. Wiel, 1873, S. 107; Volz, 1990, S. 129. 740 | »Der Ärger, die krankhafte Verletzlichkeit, die Ohnmacht zur Rache, die Lust, der Durst nach Rache, das Giftmischen in jedem Sinne – das ist für Erschöpfte sicherlich die nachteiligste Art zu reagieren: ein rapider Verbrauch von Nervenkraft, eine krankhafte Steigerung schädlicher Ausleerungen, zum Beispiel der Galle in den Magen, ist damit bedingt.« Nietzsche, Ecce Homo, (EH), § 6. 741 | Nietzsche, Brief an Reinbart und Irene von Seydlitz, 2.11.1886. 742 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Za), I, Von den Verächtern des Leibes. Obwohl das bewusste Selbst die Voraussetzungen zur Entwicklung von Vernunft und Wissenschaft liefert, sind laut Damasio alle vom Selbst gelieferten Informationen fragwürdig, gerade auch in Hinblick auf seine eigene Struktur, nicht aber, was es uns in Hinblick auf Lust und Schmerz vermittelt. Vgl. Damasio, 2010, S. 21. 743 | Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, (NF), 1887,11[83]. 744 | Vgl. ebd. 745 | Vgl. Nietzsche, Za I, Von den Verächtern des Leibes. 746 | Vgl. Nietzsche, NF, 1887,11[83]. 747 | Nietzsche, Za I, Von den Verächtern des Leibes. 748 | Vgl. ebd.
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Leib verachte, der verurteile die ganze Geistigkeit zum Krankhaft-Werden, zu den »vapeurs des ›Idealismus‹«.749 Der rationalistischen Abwertung sinnlicher Erfahrungen widerspricht Nietzsche also wortreich. Um zu verstehen, dass unser Bewusstsein zu nichts die Ursache abgeben könne, bräuchten wir nur die Verdauung mit dem zu vergleichen, was wir von ihr empfinden.750 Unser Intellekt sei eine Konsequenz des Organischen. Er könne die Mannigfaltigkeit des klugen Zusammenspiels der Verdauungsprozesse nicht fassen, geschweige hervorbringen. In der Verdauung spielten sehr viele Intellekte zusammen.751 Gegenüber anderen körperlichen Vorgängen und insbesondere gegenüber der Tätigkeit des Magen-Darm-Traktes bleibe die Tätigkeit des Kopfes sekundär. Nietzsche pflichtet Wolf bei: »überall ist es ja meist Weniges, was aus wohl verdauter Gelehrsamkeit gewonnen wird für geistigen Nahrungssaft.«752 Wo große Zweckmäßigkeit sei, da fehlten dem Bewusstsein die Mittel und Zwecke. Nietzsche nennt Beispiele: den Künstler und sein Werk, die Mutter und das Kind, sein eigenes Kauen und Verdauen.753 Erkenntnis sei, dergestalt betrachtet, ein Mittel der Ernährung: »und wirklich gleicht ›der Geist‹ am meisten noch einem Magen.«754 Wenn Nietzsche hier auch ein ›Bild‹ verwendet, so gründet es doch in der Vorstellung des buchstäblichen Verschlingens: »Aber wir sind schwer zu ernährende Wesen und haben überall Feinde und gleichsam Unverdauliches –: darüber ist die menschliche Erkenntnis fein geworden und zuletzt so stolz noch auf ihre Feinheit, dass sie es nicht hören mag, sie sei kein Ziel, sondern ein Mittel oder gar ein Werkzeug des Magens – wenn nicht selber eine Art von Magen!« 755
Der bewusste Intellekt könne die Aufgabe, die bei der Verdauung tatsächlich bewältigt wird, nicht angemessen denken. Dass sie zweckmäßig vor sich gehe, ließe sich auch durch die Annahme eines erweiterten »hundertfältig verfeinerten« Erkenntnisapparates nicht erklären. »Der zweite Intellekt würde immer noch das Rätsel ungelöst lassen. Wenn man sich nicht durch ›groß‹ und ›klein‹ in zeitlichen Verhältnissen täuschen lässt, ist der Vorgang einer einzelnen Verdauung gerade so reich an einzelnen Vorgängen der Bewegung, wie 749 | Nietzsche, NF, 1888,14[37]. 750 | Vgl. ebd., 1883,12[34]. 751 | Vgl. ebd., 1883,12[37]. 752 | Ebd., 1875,3[44]. 753 | Vgl. ebd., 1884,26[60]. 754 | Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, (JGB), §230. S.o.: Augustinus’ Vor stellungen zum geistigen Magen. 755 | Nietzsche, NF, 1885,38[10].
Freuden der ganze Prozess des Lebendigen überhaupt: und wer für letzteren keinen leitenden Intellekt annimmt, braucht ihn auch für ersteren nicht anzunehmen.« 756
Die vereinfachten Betrachtungsweisen des Lebens finden ihr Pendant in vereinfachten Betrachtungsweisen der Verdauung. Würden die tatsächlichen Gegebenheiten unseren bewussten Vorstellungen folgen, wäre Ärger zu erwarten: »Die Menschen reden von Magenkranken und meinen die, welche an der Verdauung leiden – als ob der Magen allein das Verdauende sei! Und die Gebildeten reden vom ›Magensaft‹. – Es ist sehr gut, dass solche Irrtümer nicht auf die Organisation wirken, wir wären längst zu Grunde gegangen.« 757
Zu Kants Ehrfurcht für Sternenhimmel und Moralgesetz758 notiert er amüsiert: »heute würden wir eher sagen ›die Verdauung ist ehrwürdiger‹.«759 Schamhafte Zurückhaltung gegenüber dem Thema sei unangebracht. Wer nicht über Verdauung spreche, der riskiere auch nicht, über sie zu reflektieren. »Sie haben das Gebiet der pudenda [Beschämung] so ausgedehnt, dass ein Gespräch über Verdauung, ja über Zahnbürsten schon für unzart gilt: und die Feineren denken folglich auch nicht über solche Dinge nach.« 760
Im Sinne der klassischen Erklärung geistiger Vorgänge durch Bezüge zur Verdauung führt er geistige und gastrische Vorgänge bei der Bewältigung von Erlebnissen zusammen. Ein starker Mensch verdaue seine Erlebnisse, Taten und Untaten eingerechnet, wie er seine Mahlzeiten verdaue, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken habe. Werde er mit einem Erlebnisse ›nicht fertig‹, so sei diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der Tat nur eine der Folgen jener anderen.761 Das Tempo des Stoffwechsels stehe in einem genauen Verhältnis zur Beweglichkeit der Füße des Geistes; der Geist selbst sei ja nur eine Art Stoffwechsel.762 Charakter und Organismus bedingten einander.763 Sein Materialismus bleibt aber eingeschränkt, da er sich
756 | Ebd., 1884,26[60]. 757 | Ebd., 1881,11[230]. 758 | Vgl. Kant, KdpV, AA VII, A289, S. 300. 759 | Nietzsche, NF, 1886,7[62]. 760 | Ebd., 1879,42[29]. 761 | Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (GM), §16. 762 | Vgl. Nietzsche, NF, 1888,14[37]. 763 | Vgl. ebd., 1881,13[18].
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zunächst nur auf Wirklichkeitsfragen, nicht auf Wertfragen bezieht.764 Insofern er geistige Bewertungen nicht vollständig auf materiell-leibliche Prozesse zurückführt, kann Nietzsche ihnen ihrerseits Einfluss auf die Verdauung zusprechen. Die Schöpfung von Welt und Mensch sei weder durch eine helle und gerechte Einsicht im »Kopf des Universums« noch durch ein böses und blindes Wesen in seinem »Unterleib« erfolgt.765 Doch in Hinblick auf menschliche Tatkraft zeigt sich »der uns bekannte Geist« überfordert und völlig unvermögend, irgendetwas zu tun: »Wie armselig ist jedes Bewusstseins-Bild!«766 Zu seinen Ausflügen zu unbekannten Höhen und Abgründen jenseits der gemeinen Ansichten des Bewusstseins wollte Nietzsche nicht jedermann zur Begleitung haben: »Jede Gebrechlichkeit der Seele schließt aus davon, ein für allemal, selbst jede Dyspepsie: man muss keine Nerven haben, man muss einen fröhlichen Unterleib haben. Nicht nur die Armut, die Winkel-Luft einer Seele schließt davon aus, noch viel mehr das Feige, das Unsaubere, das Heimlich-Rachsüchtige in den Eingeweiden [...].« 767
Die »freien, sehr freien Geister«, die Philosophen der Zukunft, werden laut Nietzsche »Zähne und Mägen für das Unverdaulichste« besitzen.768 Liegt es da nicht nahe, den Ursprung der »Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks«,769 die jeder tapfere Denker laut Nietzsche bei sich finden werde, in einem Willen des Magens zur Betätigung von Zähnen und Kiefern zu vermuten? Für Nietzsche offenbart sich der Grundwille des Geistes zur Aneignung von Fremdem in dem Hang, das Neue dem Alten anzuähneln, das Mannigfaltige zu vereinfachen, das Widersprechende wegzustoßen. Die Absicht des Geistes, sich neue Erfahrungen einzuverleiben und neue Dinge unter alte Reihen zu ordnen, ziele auf das Gefühl von Wachstum und vermehrter Kraft. Ihr diene ein Trieb zur Unwissenheit, zur Abschließung, ein Gutheißen der Unwissenheit, der aneignenden Kraft des Geistes entsprechend, »seiner ›Verdauungskraft‹, im Bilde geredet.«770 Am meisten gleiche der Geist einem Magen. »Einverleibung« und »Einverseelung« sind Nietzsche zufolge nur in Bezug auf ein »im strengen Sinne
764 | Vgl. Messer, 1922, S. 28. 765 | Nietzsche, NF, 1880,4[310]. 766 | Ebd., 1883,12[34]. 767 | Nietzsche, EH, § 3. 768 | Nietzsche, JGB, §44. 769 | Ebd., §230. 770 | Ebd.
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positives Hemmungsvermögen« zu verstehen: die Vergesslichkeit.771 Sie sorge dafür, dass von dem, was wir bei der Einverseelung, also »im Zustande der Verdauung« in uns hineinnehmen, ebenso wenig in unser Bewusstsein trete wie von den Prozessen der Einverleibung bei der leiblichen Ernährung. Ein Mensch, bei dem die Hemmung nicht ordnungsgemäß funktioniere, wandle sich zum Dyseptiker: »er wird mit nichts ›fertig‹«.772 In den Erklärungen seiner Liebe zu freien Geistern macht Nietzsche den Kopf zum Eingeweide des Herzens,773 einer Art von geistigem Bauch, der das, was das Herz annehme, verdauen und zu Gedanken machen müsse.774 Die ›klassische‹ Rollenverteilung zwischen Kreislauf, Nervensystem und Verdauung schlägt Purzelbäume. Nietzsches Gedankenspiele zu den Wechselwirkungen zwischen Verdauung und Geist sind ungemein scharfzüngig: Eine unschmackhafte Handlung könne dem Menschen ebenso Ekel erzeugen wie unschmackhafte Nahrung.775 Ein mancher würde lieber verhungern, als so etwas ungewürzt zu essen. Moralische Urteile seien die Würze der Handlungen. Der Ekel des Menschen vor sich selbst betreffe insbesondere die Verdauung. Der Mensch habe sich selbst einen verdorbenen Magen und eine belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm die Freude und Unschuld des Tiers widerlich und das Leben selbst unschmackhaft geworden seien.776 Mit zugehaltener Nase mache er sich nun missbilligend an den Katalog seiner eigenen Widerwärtigkeiten: Unrein erzeugt, ekelhaft genährt schon im Mutterleibe, aus schlechten Stoffen entwickelt, scheußlich stinkend, Speichel, Urin und Kot absondernd, präsentiere er sich vor sich selbst. Soweit er nicht Gestalt sei, erachte er sich als ekelhaft und tue alles, um nicht daran zu denken.777 Was aus ihm heraustrete, errege Scham: Kot, Urin, Speichel und Same. Den Inbegriff der ästhetischen Beleidigung findet Nietzsche im »innerlichen Menschen ohne Haut«:778 blutige Massen, Kotgedärme, Eingeweide, saugende, pumpende, Untiere, formlos, hässlich, grotesk, für den Geruch peinlich! Lust, die ersichtlich mit diesem innerlichen Menschen zusammenhänge, gelte als niedrig.779 So könnten Idealisten der Liebe für schöne Formen schwärmen und sich über die Vorstellung von Koitus und Samen empören. Das Ekel771 | Nietzsche, GM, §1. 772 | Ebd. 773 | Vgl. Nietzsche, NF, 1882,5[17], auch ebd., 1882,4[104]. 774 | Vgl. ebd. 775 | Vgl. ebd., 1881,11[112]. 776 | Vgl. Nietzsche, GM, §7. 777 | Vgl. Nietzsche, NF, 1881,11[53]. 778 | Ebd. 779 | Vgl. ebd.
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hafte sei ihnen die Quelle des Unglücks! Das Peinliche, Quälende und Überheftige werde dem innerlichen Leibe zugeschrieben, um das Sehen und Hören umso höher zu stellen. Nietzsche nimmt das zum Anlass um eine Umwertung anzukündigen, bei der wir den Ekel umlernen sollen.780 Also lässt er Zarathustra sprechen: »Es gibt in der Welt viel Kot: so viel ist wahr! Aber darum ist die Welt selber noch kein kotiges Ungeheuer! Es ist Weisheit darin, dass vieles in der Welt übel riecht: der Ekel selber schafft Flügel und quellenahnende Kräfte!« 781 Mit gewagten geistigen Wendungen beschreibt Nietzsche die Rolle der Verdauung für ästhetische Urteile. Über den Wert von Nahrung oder Handlungen entscheide nicht etwa der Geschmack. Allein schon die Unterscheidung zwischen gesundem und krankem Geschmack sei nur in Hinblick auf ein Ideal möglich. Ein solches Ideal könnten wir wohl mit »den erhabensten Worten, als Pflicht und Tugend und Opfer«782 benennen, unserem Geschmack entsprechend. In diesem Sinne vermindere sich auch unsere Verachtung des Inneren des Leibes, alles sei uns erträglich, wenn es sich nur unter einer glatten Haut verstecke.«783 Aber die Eingebungen unseres Geschmacks sagten nichts über die langfristige Wirkung von Nahrung oder Handlungen aus. Bestimmend für das Ideal sei letztlich die Depression infolge mangelhafter Ernährung oder Verdauung!784 Der Zusammenhang zwischen Verdauung und ästhetischem Erleben ergibt sich daraus fast wie von selbst. Den Geschmack und seine Veränderungen führt Nietzsche zurück auf die Fähigkeit mächtiger und einflussreicher Personen, sich mutig zu ihrer Physis bekennen, deren feinste Forderungen sie in Urteilen des Geschmacks und Ekels ausdrücken und tyrannisch durchsetzen.785 Das Empfinden und Schmecken dieser Menschen gründe gewöhnlich in der Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung oder, last but not least, Verdauung. Neben ästhetischen gehen laut Nietzsche auch moralische Urteile auf die Physis zurück.786 Nietzsche kann sich hierbei auf wissenschaftliche Überzeugungen seiner Zeit stützen. Dem Arzt Philippe-J.-B. Buchez zufolge sind die Bedürfnisse des organischen Lebens nicht stumm: In Geruch, Geschmack, Hunger, Durst etc. erklinge die Sprache des organischen Gefühls mit erstaunlicher Klarheit, Ge-
780 | Vgl. ebd. 781 | Nietzsche, Za III, Von alten und neuen Tafeln, §14. 782 | Nietzsche, NF, 1881,11[112]. 783 | Vgl. ebd. 784 | Vgl. ebd., 11[113]. 785 | Vgl. Nietzsche, FW, §39. 786 | Vgl. ebd.
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nauigkeit und Treffsicherheit.787 Das Prinzip der körperlichen Kommunikation, mit der sich der Mensch in Bezug zu sich selbst setzt, fasst Buchez so: »das Bedürfnis spricht«.788 Gegen Nietzsches Rede von der Lust des »innerlichen Menschen« ließe sich einwenden, dass solche Lust an der Verdauung keine intersubjektiv zugängliche Erscheinung sei. Was einer gelesen hat, das kann noch ein anderer lesen, was einer hört, können viele hören, aber was einer gegessen hat, das kann kein anderer mehr essen.789 Verdauung als unfassbarer und unverfügbarer Prozess gehöre deshalb nicht in den Bereich der ästhetisch bewertbaren Erscheinungen. Aber können wir den Inhalt eines Buches nur deshalb ästhetisch beurteilen, weil auch andere es lesen können? Macht es nicht Sinn, über das Erleben des eigenen Bauches zu sprechen, um Anderen ähnliche Gefühle zu erleichtern oder zu ersparen? Sicher gehört zum ästhetischen Urteilen eine nicht rein subjektive Erscheinung, aber warum sollte die Erscheinung von Apfelmus auf meiner Mageninnenwand subjektiver oder privater sein als die Erscheinung von Apfelmus auf meiner Bindehaut? Dieser Einwand scheint insofern hinfällig, als die Freuden der Verdauung innerhalb einer intersubjektiven Verständigung ebenso erscheinen wie die Freuden der visuellen Wahrnehmung oder des Tastsinnes. An der Stelle, wo das Auge eines Menschen eine Skulptur wahrnimmt, kann es (schon aus logischen Gründen) kein zweites Auge geben. Zwischen der Wahrnehmung desselben Gegenstandes durch zwei Personen besteht eine mehr oder weniger starke Ähnlichkeit, aber keine Identität. Das gilt auch für den Geschmack eines Apfels, der dem Geschmack eines anderen Apfels ähnelt und über dessen geschmacklichen Wert eine Verständigung möglich ist. Die Freuden und Leiden der Verdauung erscheinen, auch wenn der Gegenstand, der ihre Erscheinung verursacht, aufgegessen wurde. Auch eine Theateraufführung ist ja nicht von Dauer, sondern endet und verschwindet damit aus den Sinnen. Ästhetisch bedeutsam ist das Erlebnis dessen, was uns erscheint – ein Erlebnis, das auch in der Erinnerung oder der Vorfreude unseren Geschmack erfreuen kann. Ästhetische Vorlieben führt Nietzsche auf die Verschiedenheit der Wahrnehmungsorgane zurück: Wer am Ausdruck ›milchgrüner See‹ Anstoß nehme, lese mit dem Gaumen und nicht mit den Augen.790 Grundlegend sei die Lust am Erfinden von Gestalten: Unser Auge schaffe es, etwas zu sehen und unser Gehör tue nichts anderes: es übe sich.791 Die Verwandlung der Welt 787 | Vgl. Buchez, 1826, 422, zitiert nach Rigoli, 2006, S. 227. 788 | Ebd. 789 | Vgl. Röttgers, 2009, S. 172. 790 | Vgl. Nietzsche, NF, 1879,43[2]. 791 | Vgl. ebd., 1885,38[10].
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in Rhythmen und Gestalten bringe Wiederkehrendes hervor und damit die »Möglichkeit der Erfahrung und Aneignung, der Ernährung«.792 Der aktiven Reizaufnahme sei es zu eigen, Formen zu schaffen und in Bezug zu Einverleibung oder Abweisung zu setzen.793 Die »Glücklich-Verdauenden« stellt Nietzsche dabei in eine Reihe mit den deutschen Jünglingen, gehörnten Siegfrieden und den anderen Wagnerianern. »Und das Andre, das auch noch darin sitzt, die Bildungs-Cretins, die kleinen Blasirten, die Ewig-Weiblichen, die Glücklich-Verdauenden, kurz das Volk – bedarf ebenfalls des Erhabenen, des Tiefen, des Überwältigenden.«794 Rationale Erklärungen zur Kunstproduktion scheinen verfehlt, insofern sich die letzten Gründe wiederum im Bauch entwickeln: »Mag Vernunft den Vernünftigen erbauen Der Künstler soll nur die Kunst verdauen« 795
Die Rolle der Verdauung bei der ästhetischen Umwertung findet ihre Entsprechung im Bereich der Ethik. Physiologische Tatsachen seien der Grund jeder Veränderung im moralischen Geschmack.796 Der »Frieden der Seele« wird zu einem Synonym für »Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung.«797 Angenehme moralische Allgemeingefühle seien durch das Bewusstsein guter Handlungen bedingt, wobei das »so genannte ›gute Gewissen‹«798 ein physiologischer Zustand sei, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln ähnlich sehe. In Wahrheit handle es sich um Folgezustände von Lust oder Unlust-Gefühlen. Verwechselt würden Ursache und Wirkung, die Wahrheit und die Wirkung des als wahr Geglaubten und die Zustände des Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieser Zustände.799 Hoffnung entstehe, wenn das physiologische Grundgefühl stark und reich sei. Pessimisten seien kluge Leute mit verdorbenem Magen, die sich mit dem Kopf für ihre schlechte Verdauung rächen.800 Konsequent erklärt Nietzsche gelingende und scheiternde Verdauungsvorgänge zur Metapher für den Erfolg und Misserfolg menschlichen Strebens:
792 | Ebd. 793 | Vgl. ebd. 794 | Nietzsche, Der Fall Wagner (WA), §6. 795 | Nietzsche, NF, 1877,22[75]. 796 | Vgl. ebd., 1881,11[112]. 797 | Nietzsche, Götzen-Dämmerung, (GD), §3. 798 | Ebd., S. 976. 799 | Vgl. ebd. 800 | Vgl. Nietzsche, NF, 1878,38[1].
Freuden »Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut, durch Verdauen, umsetzen kann; so dass die stärkste und gewaltigste am meisten Geschichte vertragen wird. Wie aber, wenn schwächliche Zeiten mit ihr überfüllt werden! Welche Verdauungsbeschwerden, welche Ermüdung und Kraftlosigkeit!« 801
Ein Volk könne sich selbst durch Geschichte töten, etwa wie ein Mensch, der sich dem Schlaf entziehe. Wiederkäuen sei die Sache gewisser Tiere, nun gebe es aber auch menschliche Rindviecher, die sich durch Wiederkäuen ruinierten. Wenn alles des Studiums würdig erachtet würde, so fehlten bald für alles, was man tun solle, der Maßstab und das Gefühl. Der Mensch würde in der Hauptsache gleichgültig.802 Menschen, denen der rechte Magen fehle, seien unfähig zu tiefen Erlebnissen: Die Not jenes rechten Magens, mit jedem Erlebnis »fertig werden« zu müssen, sei ihnen unbekannt, die größten Neuigkeiten fielen durch sie hindurch. Wer schon in seiner Jugend zu schwere, zu vielfältige, zu würzige Kost schlucken musste, habe den Menschen einfacherer Zeiten Genuss an seltsamen und unerhörten Speisen voraus und kenne das eigentliche Verdauen, das Erleben, Hineinnehmen, Einverleiben fast nur als Qual.803 »Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die einen, in halben Menschenleben die anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ›Stoffe wechseln‹«. 804
Besonders dem »deutschen Geist« attestiert Nietzsche Verdauungsprobleme. Verantwortlich sei die Kochkunst: »[...] die deutsche Küche überhaupt – was hat sie nicht alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit (noch in venezianischen Kochbüchern des 16. Jahrhunderts alla tedesca genannt); die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloß alten Deutschen dazu, so versteht man die Herkunft des deutschen Geistes – aus betrübten Eingeweiden... Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit nichts fertig.« 805 »[...] die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde ›Verdauung‹.« 806 801 | Ebd., 1873,29[31]. 802 | Vgl. ebd., 1873,29[32]. 803 | Ebd., 1884,25[8]. 804 | Nietzsche, JGB, §241. 805 | Nietzsche, EH, §1. 806 | Nietzsche, JGB, §244.
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Aber nicht nur die deutsche Küche bereitet Nietzsche Sorgen, sondern der deutsche Gaumen, der allem gleiche Rechte gebe und alles schmackhaft finde,807 bis hin zu einer Geschmacklosigkeit, die Nietzsche seinen eigenen Instinkten als derartig fremd empfindet, dass schon die Nähe eines Deutschen seine Verdauung verzögert.808 Die Gewöhnung an »Eingeweide-trägheit«, sei sie auch noch so klein, genüge schon vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmäßiges, etwas »Deutsches« zu machen. Das deutsche Klima allein sei ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmutigen.809 Auch politisch bringt Nietzsche Verdauung ins Spiel. Eine Gesellschaft, die »die Kraft nicht mehr hat, zu exkretiren«,810 kranke an ihrem eigenen Auswurf: die Geisteskranken, resp. »die Artisten«, die Verbrecher, die Anarchisten, das sei der Auswurf der bisherigen Gesellschaft, die kein »Körper« mehr sei, sondern »ein krankes Conglomerat von Tschandala [sic!]«.811 In ähnlichem Sinne erklärt Nietzsche die Pariser Kommune zur Magenverstimmung: Auch im folgenden Jahrhundert werde es hie und da gründlich im Leibe rumoren. Die Ereignisse in Frankreich seien vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gewesen, gemessen an dem, was noch komme.812 In seinen Überlegungen zum Umgang mit Juden macht Nietzsche die relative Schwäche des deutschen Magens geltend, der mit dem schon vorhandenen »Quantum ›Jude‹« seine liebe Not habe.813 Dahinter steht Nietzsches Bestimmung des Lebens als »Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung.«814 Der »Kot des Daseins«, alles womit die Verdauung der Menschheit nicht fertig werde, die furchtbaren Schreie, Zeichen, Rätsel, erklärt Nietzsche zu fruchtbarstem Dünger.815 Der Kampf wird nun zum Imperativ. Die Moral will zuallererst Gegner und Krieg.816 Einlassungen zum HerdenEgoismus werden mit Bildern der Verdauung assoziert:817
807 | Vgl. Nietzsche, WA, §1. 808 | Vgl. ebd., § 5. 809 | Ebd., § 2. 810 | Nietzsche, NF, 1888,16[53]. 811 | Ebd. Zum Begriff der ›Tschandala‹ siehe Etter, 1987, S. 340ff. 812 | Vgl. Nietzsche, NF, 1885,37[11]. 813 | Nietzsche, JGB, §251. 814 | Ebd., §259. 815 | Nietzsche, NF, 1881,12[134]. 816 | Vgl. ebd., 1881,12[135]. 817 | Vgl. ebd., 1881,12[132].
Freuden »So leben wir Alle! – wir reißen die Dinge gierig an uns und haben unersättliche Augen dabei, dann nehmen wir eben so gierig aus ihnen heraus, was uns schmeckt und dienlich ist – und endlich überlassen wir den Rest – alles womit unser Appetit und unsere Zähne nicht fertig geworden sind – den anderen Menschen und der Natur, namentlich aber alles, was wir verschlangen, ohne es uns einverleiben zu können –: unsere Exkremente. Darin sind wir unerschöpflich wohltätig und durchaus nicht geizig: wir düngen die Menschheit mit diesem Unverdauten unseres Geistes und unserer Erfahrungen.« 818
Allerdings beruht der philosophische Wert der Verdauung bei Nietzsche nicht allein auf der Anschauung des Menschen als einer Art Kotdüngemaschine. Der Wert gelingender Verdauung für das individuelle Leben scheint schwer hinterfragbar. Nur richtig gemacht will die Verdauung werden, insbesondere überstürzten Ehrgeiz gelte es zu vermeiden. Zum gesunden Verdauen gehörte eine Art Faulheit, insbesondere auch zum Verdauen eines Erlebnisses.819 Wer nicht verlernt habe, seine Erlebnisse zu verdauen, habe auch die Faulheit des Verdauenden nicht verlernt und indigniere damit, in dieser Zeit der Hast und des Gedränges.820 Der Einverleibung weist Nietzsche eine zentrale Stelle in seiner Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen – als Rechtfertigung des Vergangenen – zu, wobei er die Einverleibung der Grundirrtümer, die Einverleibung der Leidenschaften und die Einverleibung des Wissens und des verzichtenden Wissens unterscheidet.821 Zur »Kur des Einzelnen«822 müsse der gewohnte Rhythmus des Denkens und Fühlens der intellektuellen Bedürfnisse unserer Ernährung begriffen werden. Geistige und gastrische Vorgänge scheinen dabei bruchlos ineinander überzugehen: Wir sollten einmal versuchen, die Nahrung unserer Widersacher zu essen und von Zeit zu Zeit über unseren Erlebnissen zu ruhen und zu verdauen.823 Bei der Einbindung seiner Gedanken zur Verdauung in sein philosophisches Werk nimmt Nietzsche ausdrücklich Bezug auf seine eigene medizinische Symptomatik, Ausdruck eines Krankheits-Komplexes, bei dem organische und psychische Faktoren in gegenseitiger Verstärkung zusammenwirkten.824
818 | Ebd., 1881,14[13]. 819 | Vgl. ebd., 1883,12[1] (139). 820 | Vgl. ebd., 1882, 4[58]. 821 | Vgl. ebd., 1881,11[141]; vgl. Brague, 2000, S. 295. 822 | Nietzsche, NF, 1881,11[258]. 823 | Vgl. ebd., 1881,11[258]. 824 | Vgl. Volz, 1990, S. 299.
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Dass Nietzsche im Jahre 1889 in der Folge des »Übergangs zum Wahnsinn«825 mit Kot schmierte und Urin trank826 ist eine traurige Pointe seiner Einsichten zur Bedeutung der Verdauung für philosophische Wertungs- und Denkgewohnheiten. Für einen Rückfall in die strikte Trennung zwischen Verdauung, Erkenntnis, Ethik und Ästhetik im Zuge der Abgrenzung höherer Einsicht von niederen Trieben spricht das nicht. Bei Nietzsches Demenz dürfte es sich um die Folge eines organischen Nervenleidens gehandelt haben.827 Die Einsicht in den Vorrang leiblicher Prozesse vor ihrer gedanklichen Erfassung verweist die rationale Gewissheit in Grenzen. Nahrung und Kot sind Elemente eines Kreislaufs, innerhalb dessen Geist und Verdauung an der Gestalt der Welt mitwirken. Nietzsche unterstreicht zu Recht den Wert des Düngers für die Entwicklung des Lebens. Allerdings scheinen Nietzsches Einlassungen zum zwischenmenschlichen Gewaltpotenzial die Einbindung der Verdauung in sein philosophisches Textgeflecht in Schieflage zu bringen. Kampf ist nur ein Aspekt des menschlichen Miteinanders, Krieg wäre ohne gegenseitige Hilfestellungen undenkbar, Ekel und Gewalt sind keine absoluten Werte. Eine glaubwürdige Philosophie der Verdauung sollte sich um eine ausgeglichene Einbindung der Verdauungsvorgänge in das Selbst- und Weltverständnis bemühen. Diese Einbindung entspringt der Notwendigkeit zur Unterscheidung von nährenden, anregenden, giftigen und unverdaulichen Stoffen. Die Annahme, dass die Dringlichkeit der philosophischen Behandlung digestiver Befindlichkeiten mit Nietzsches geistigem Zusammenbruch entschärft sei, ist ebenso widersinnig wie die Annahme, der Zusammenbruch hätte seine vorhergehenden Einsichten entwertet. Spekulationen über einen schicksalhaft ablaufenden Prozess geistig-digestiver Selbstzerstörung scheinen ebenso verfehlt wie die Annahme, dass guter Appetit zum Schmieren mit Kot führen muss.828 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Nietzsches Einsichten in digestive Befindlichkeiten ohne Einfluss auf geistige Entwicklungen wären. Wie immer wir die Bezüge zwischen Nietzsches Lebenslauf und seinem Werk deuten: Seine Gedanken zur ehrwürdigen Verdauung sind ein Glanzlicht der Philosophie des Geistes.
825 | Ebd., S. 205 826 | Vgl. ebd., S. 392ff. 827 | Vgl. ebd., S. 298. 828 | Nietzsches ›gesunde‹ organische Verdauungskraft belegen die Krankengeschich ten aus der Zeit in Basel und Jena, vgl. Volz, 1990, S. 381 u. S. 395. Während Nietzsches geistige Kapazitäten schwanden, blieb sein Körpergewicht zwischen dem 19.01.1889 (132 Pfund) und 01.03.1890 (134 Pfund) weitgehend konstant, trotz eines vorübergehenden Abfalls auf 123 Pfund am 01.02.1889.
4. Unterscheidungen Von Freud zu Shusterman
Nach Nietzsches Zusammenbruch verbirgt sich das philosophische Interesse an der Verdauung zunächst im Schutzmantel der Psychologie. Eingedenk der philosophischen Malaise werden psychologische Einsichten in die Bezüge zwischen Geist und Verdauung für die weitere Entwicklung wegweisend. Insbesondere die Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Bezügen zwischen Bauch und Geist wird nun unter neuen Vorzeichen getroffen.1 Dabei werden Mund und Anus zu Verknüpfungspunkten zwischen inneren und äußeren Vorgängen, anhand derer herkömmliche Vorstellungen der Bezüge zwischen Geist und Körper in neuer Form analysiert werden. Gastrale Verdauung erscheint dabei als ein Vorgang, durch den Teile der Außenwelt in die Innenwelt assimiliert werden, wobei sich Unverdauliches vom Lebenswichtigen trennt. Die Bedeutung des Bauches für geistige Entwicklungen erweist sich als eine doppelte: Einerseits verursacht gastrale Verdauung innere Wahrnehmungen, eng verbunden mit den Grenzwahrnehmungen von Mund und After, andererseits ist der Bauch als äußere Erscheinung ein wichtiger Aspekt des Bildes, das wir uns von einer Person machen, etwa wenn ein Arzt den Zustand innerer Organe untersucht, indem er die äußere Haut über der Bauchmuskulatur ertastet. In beiden Hinsichten kann die Wahrnehmung des Bauches Folgen für psychologische Zustände zeitigen. Die philosophische Bedeutung des Bauches ergibt sich aus seiner Funktion in verschiedenen Sprachspielen und -bildern, in denen das Verdauungsgeschehen konkret, metaphorisch und symbolisch erscheint. Bäuche prägen Lebensformen. Den jungen Freud beschäftigt der Bauch schon beim Gebrauch von Kokain; besonders bei Störungen der Magenverdauung sei der Gebrauch bestens gerechtfertigt. Später tritt das Interesse für die Wirkungen der Verdauung auf die Psyche in den Vordergrund. Träume kommen nach Freuds Auffassung zwar nicht einfach aus dem Magen, aber neben psychischen Quellen, äußeren 1 | Etwa im Sinne Hegels, der den Magen und den Darmkanal als äußere Haut versteht, die nach innen umgeschlagen wurde (s.o.: Abschnitt 3).
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Sinnenreizen und subjektiver Sinneserregung erkennt er in den organischen Leibreizen doch eine Quelle des Traumgeschehens. Gerade Hunger könne einem Träumer Gedanken eingeben. Das Carpe diem beziehe sich auch auf die Befriedigung des Magens, dessen Anliegen auch bei einem assoziativen Brückenschlag zwischen der Befriedung des gastralen Verlangens, Erinnerungen an die Studienzeit, Hautschuppen, den Brüsten der Weisheit und seiner Mutter Pate stehen. Laut Freud bilden Sexualtätigkeit und Nahrungsaufnahme insbesondere in der prägenitalen Entwicklungsphase eine Einheit. Später komme den Triebregungen der Analerotik eine gar nicht zu überschätzende Bedeutung für den Auf bau der seelischen Tätigkeit überhaupt zu. Das Interesse an der Vagina habe analerotische Ursprünge. Die libidinöse Besetzung des Darminhaltes sei mit der des ungeborenen Kindes in der Gebärmutter vergleichbar. Freuds Schülerinnen und Schüler führen diese Gedanken, teils in kritischer Absicht, weiter. Etwa Georg Groddeck: Die Wissenschaft werde noch so weit kommen, aus der Form der Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen sich der Mensch am stillen Ort beschäftigte. Nahrungsaufnahme habe andre Zwecke, als nur den leeren Bauch zu füllen. Karen Horney ergänzt Freuds phallozentrische Konzeption des Penis-Neids durch Hinweise auf Neidgefühle, die Fähigkeit mancher Bäuche zur Hervorbringung von Leben betreffend. Gebärmutterneid entspringe einer Zurückweisung und Verletzung des männlichen Egos und begründe Wünsche nach einer Revanche durch Herabsetzung des weiblichen Selbstbewusstseins. Eine eingehende Erforschung der psychischen Verknüpfungen zwischen Verdauung und Sexualität dürfte zu einem vertieften Verständnis negativer Bewertungen von Bauchgefühlen in der philosophischen Tradition beitragen. Fritz Perls erweitert Freuds Ansatz um dentale Aspekte. Die Bedeutung des Hungers und der Nahrungszerkleinerung als lebenserhaltende Qualität stehe der Bedeutung sexueller Triebbefriedung in nichts nach. Die Quelle menschlicher Aggression liege in der Entwicklung und im Gebrauch des Zahnwerkes. Dahinter stecke die Lust an vermehrter Darmtätigkeit und damit verbundene Hyperacidität und Steigerung des geistigen Stoffwechsels. Donald Winnicott unterstreicht, dass Nahrungsaufnahme nicht mit dem Schließen des Mundes endet, sondern mit der Annahme im Magen. Gerade Babymägen verfügten über die Fähigkeit zur Anpassung an neuartige Gegebenheiten. Wenn sich ein Baby gut fühle, arbeite auch sein Magen gut und verändere sein Volumen entsprechend der geschluckten Milch. Gehe alles gut, ende die Nahrungsaufnahme mit Lachen und Blubbern und die Verdauung schreite fort. Dem Magen eines erregten Babys bereite diese Anpassung mitunter Schwierigkeiten. Bei Störungen des Verdauungsablaufes bei Säuglingen spielten demnach physische und psychische Wirkungen ineinander. Das kulturelle Interesse der Verdauung unterstreicht der Arzt Franz X. Mayr, der sich vom Sieg über die Verdauungsstörungen nicht nur die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, sondern auch Steuerentlastungen,
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die Entmachtung des Kapitals, das Ende der Klassenkämpfe und die Reduzierung aller wirtschaftlichen, sozialen und politischen Nöte erhofft, insbesondere auch des Krieges. Mit der Entwicklung der Neuro-Gastroenterologie erhalten die Wechselwirkungen zwischen Denken und Verdauung eine neue Erklärungsgrundlage, insbesondere durch Michael Gershons Forschungen zur neurologischen Autonomie der Darmaktivität. Die unter akademischen Philosophen verbreitete Abweisung von Verdauungsfragen an Mediziner und insbesondere an Psychologen scheint auch insofern hinfällig, als unsere Vorstellungen der Bezüge zwischen Bauch und Kopf sich mit der fortschreitenden Erforschung neuronaler Bezüge zwischen Gehirn und Darm erheblich verändern und eine Neubesinnung auf das erfordern, was unsere Bäuche zu den Bezügen zwischen Sein, Bewusstsein und Sprache eigentlich beitragen und was sie dazu beitragen sollten. Mit der Überwindung von Vorbehalten gegenüber den psychologischen Betrachtungen von Geist und Bauch gelingt der Philosophie die Aktualisierung alltäglicher Fragen zum Wissen, Wählen und Urteilen, die sich in Hinsicht auf die Verdauung schon in der Antike stellten. In der akademischen Philosophie des 20. Jahrhunderts erscheint die Verdauung zunächst zwischen den Zeilen, dort aber umso deutlicher. Die psychologischen und neurologischen Einsichten in die Wechselwirkungen zwischen Bauch und Bewusstsein2 führen zur Behandlung gastraler Fragestellungen unter neuem Vorzeichen. Wittgensteins Behauptung einer Identität von Denken und Verdauen ist vielleicht eher eine private Bemerkung als eine philosophische Aussage. Nichtsdestoweniger verweist uns die Sprache des philosophischen Alltags auf die ursprüngliche Funktion der Verdauung bei der Erklärung des Geistes, etwa in der griechischen Philosophie oder zur Zeit der Aufklärung. Die Suche nach einer klaren Antwort auf Wittgensteins Frage, warum Philosophen sich denn gerade mit dem Denken und nicht mit der Verdauung beschäftigen, hat nichtsdestoweniger Konsequenzen für das philosophische Selbstverständnis. Gerade Wittgensteins Überlegungen zu ›inneren‹ Vorgängen unterstreichen die Bedeutung der Verdauung für seine philosophische Methode: Lassen sich Magenschmerzen, von außen betrachtet, als solche verstehen? Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Verdauung ist nach Wittgenstein ebenso sinnlos wie die Unterscheidung zwischen hörbaren und unhörbaren geistigen Reden. Aber sind unsere Verdauungsgefühle denn nicht an ein denkendes, vorstellendes Subjekt gebunden? Wird ›ein Gefühl im Bauch, das Wittgenstein kennt‹ 2 | Was Sutherland 1989 im International Dictionary of Psychology über ›Bewusstsein‹ schrieb (»Consciousness is a fascinating but elusive phenomenon; it is impossible to specify what it is, what it does, or why it evolved. Nothing worth reading has been written on it.«), hätte er mit ähnlicher Berechtigung in Hinblick auf die ›Verdauung‹ behaupten können.
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in der gewöhnlichen Sprache nicht schlichtweg ›Wittgensteins Bauchgefühl‹ genannt? Zusammenhänge zwischen seinen gastralen und begrifflichen Verdauungsaktivitäten erscheinen bei Wittgenstein in verschiedenen Bereichen. Dazu trägt bei, dass der Gebrauch des Wortes ›Speise‹ laut Wittgenstein sowohl den reflektierenden als auch den sinnlichen Geschmack betreffen kann. In Wittgensteins Verdauungsproblemen findet digestiver Alltag Eingang in die begrifflichen Probleme der philosophischen Betrachtung. Ähnlich wie im Alten Testament kann bei Wittgenstein ein treffendes Wort im Mund erscheinen wie ein Stück Speise. Auch bei Wittgensteins ›kontinentalen‹ Zeitgenossen führt der philosophische Umgang mit Verdauung zu komplexen Fragestellungen. Ausführliche Behandlungen finden sich bei Bachelard, insbesondere in seinen Überlegungen zur Vermeidung wissenschaftlich irreführender Metaphern. In Bachelards Ausführungen zum Mythos der Verdauung erscheint Verdauung als ein Bild für Prozesse der Umwandlung. Was Menschen in der Tiefe ihrer selbst spüren, werde mit metaphorischen Wechselwirkungen zwischen isomorphen Bildern verbunden: Höhle, Ei, Uterus, Samen und Magen konvergieren im Dunklen der materiellen Urbilder. Materielle und kognitive Tätigkeit formten einen ›Teig‹, aus dem der Mensch sich selbst und seine Welt knetend gestalte. Die Funktion der Verdauung könne eine Quelle der Ekstase oder des Opfers sein, ein Gedicht oder ein Drama. Verdauung sei eine evidente Form der Aneignung. Ihre Gewissheit sei unangreif bar. In mancher Hinsicht sei Wirklichkeit eben Nahrung. Das Bild der Schlange, die sich ihren eigenen Hinterleib einverleibt, symbolisiert laut Bachelard eine lebendige Ewigkeit, die ihren Grund in sich selbst findet. Ähnlich wie die Vorstellung einer ›kosmischen Schlange‹, die die ganze Welt umfassen kann, erscheine Verdauung im Mythos als allumfassende Funktion. Logiker, Realisten und Zoologen hätten bei der Zurückweisung solcher Vorstellungen leichtes Spiel, aber das Bild stehe auf psychologisch solidem Grund. Bachelards Plädoyer für die Ausgrenzung der ursprünglichen Bilder der Verdauung aus den Strukturen der wissenschaftlichen Forschung bleibt entsprechend zweischneidig. Einerseits soll Wissenschaft Abstand von irrigen Bildern nehmen, andererseits sind diese Bilder untrennbar mit der menschlichen Betrachtung der Welt verbunden. Philosophisch ist hier abzuwägen zwischen dem, was lebendige Menschen erfassen können, und dem, was aus wissenschaftlicher Sicht unerlässlich erscheint. Günter Anders erkennt einen wesentlichen Schwachpunkt in Heideggers Begriff des Daseins: Er habe keinen Hunger und keinen Leib. Er gehe deshalb fehl. Für Anders wurzelt die Intentionalität bei der Verfolgung von Beute zweifelsohne in den Bedürfnissen des Bauches. ›Hunger nach Welt‹ bestimme die Endlichkeit des Daseins und die mit ihm einhergehenden Sorgen. Bei Sartre erscheinen Verdauungsprozesse als existenzielle Erfahrung per se, etwa dann, wenn der Philosoph mit der Speichelflüssigkeit im eigenen Mund sich selbst
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als Teil des ihn umgebenden Seins erlebt. Die Vorstellung des Bauches als weicher, warmer und friedlicher Region der Freude durchkreuzt Sartre radikal und stellt sich dabei in die bewährte Tradition philosophischer Gastrophobie. Verstehen und Verdauen seien zweierlei, denn wir verleibten uns die Dinge nicht gedankenlos ein wie Tiere ihre Nahrung. Der Geist sei keine Spinne, die Dinge in ihr Netz locke, mit Geifer überziehe, verschlinge und ihrer eigenen Substanz angleiche. ›Nahrungsphilosophie‹ trivialisiere den Erkenntnisakt über Gebühr. Merleau-Ponty erkennt in der Verdauung dagegen eine überlebensnotwendige Bewegung, die sich mit der inneren Haltung eines Menschen zum Leben verbindet. Ihn interessiert insbesondere der Zusammenhang zwischen Sprache und Nahrungsaufnahme, als Mittel des Kontaktes zur Umwelt. Als Form der Aufnahme und Assimilierung des Geschehens symbolisiere Verdauung die Bewegung der Existenz überhaupt, gerade auch in Hinblick auf das christliche Sakrament. Levinas versteht Hunger als einen Aspekt der Begegnung mit Anderen, als einen Ankerpunkt des ethischen Verhaltens, durch den wir unsere Trennung von der Welt erleben und überwinden können. Für Foucault kann tierisches Verhalten bei der Gestaltung eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Körper und Seele nicht als Anhaltspunkt zur Verurteilung des menschlichen Appetits dienen. Einerlei ob Tiere ihren sexuellen Instinkten folgen oder Exkremente und Urin ausscheiden, folgen sie ihren körperlichen Bedürfnissen, nicht irrigen ›Meinungen‹. Appetit erscheint Foucault als ein Knoten im Netzwerk der sexuellen und digestiven Lüste, wobei die Ernährung in der griechischen und römischen Diätetik sehr viel mehr Platz eingenommen habe als die Sexualität. Die griechischen Ratschläge zu Ernährung beziehen sich weniger auf den Geschmack als auf die Verdauung. Foucault arbeitet klar heraus, wie die Funktion der Verdauung im antiken Denken Anhaltspunkte für das praktische Verhalten liefert, wobei das Essverhalten den Veränderungen folgt, die sich aus Zusammenhängen zwischen Verdauung und Jahreszeiten ergeben, etwa bei Athenaios oder bei Kelsos, ähnlich im Corpus Hippocraticum bei Galen oder Avicenna, s.o. Eine der Geschichte der Sexualität entsprechende Darstellung der Geschichte der Verdauung ist ein Desiderat. Dabei betrifft Verdauung nicht nur das individuelle Wohlsein und Verhalten. Ein Beispiel für die Wirkungen der Verdauung auf die politische Steuerung der Bevölkerung, die Foucault unter dem Schlagwort der ›BioMacht‹ vorstellt, liefert die Rolle von Scharfrichtern bei der Entwicklung des Kanalisationssystems der Stadt Frankfurt ab dem 16. Jahrhundert. Derrida thematisiert die Bedeutung der Einverleibung für die hermeneutische und spekulative Philosophie unter dem Stichwort ›Rhetorik des Kannibalismus‹. Die ›kannibalistische Trope‹ bezeichnet er als ein Grundmotiv des abendländischen Denkens. Der Begriff des Verstehens sei oft als eine Form der Einverleibung behandelt worden. Dass es dabei nicht nur um Nahrung, sondern auch um Worte gehe, zeige sich im gesamten westlichen Denken.
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Für Searle ist Geist mehr als die Ausführung eines Programms. Geist entspringe der materiellen Welt und sei mit den Mitteln der Wissenschaft und insbesondere der Biologie mehr oder weniger vollständig erklärbar. Searles Interesse für Verdauung entspringt der Hoffnung, den Begriff des Geistes von einer metaphysischen Altlast zu befreien. Das besondere Interesse seines Projektes liegt in der möglichen Umkehrung: Selbst für eine materialistische Betrachtung ist Verdauung ähnlich facettenreich wie Geist. Mit Richard Shusterman können wir Philosophie weniger als ein diskursives Feld abstrakter Theorie denn als Verkörperung einer Lebensweise verstehen. Dabei soll der Körper nicht in einem dualistischen Gegensatz zum Geist erscheinen, sondern im bewussten somatischen Erleben mit ihm versöhnt werden. Das Shustermans Somaesthetik die meditative Erfahrung ›schöner innerer Gefühle‹ umfasst, scheint für die Entwicklung einer Philosophie der Verdauung höchst vielversprechend. Die somaesthetische Bedeutung der Verdauung für die Gestaltung, die Erhaltung und das Bewusstsein unserer Selbst lässt sich über Shustermans Ausführungen zum Appetit, zur Nahrung, zu Mahlzeiten und zum Schlucken denn auch gut erschließen: Nicht allein die Regulierung der Atmung kann die Entwicklung unseres Denkens beeinflussen. Der Zusammenhang zwischen menschlicher Würde und dem gewohnten Zustand unseres Körpers umfasst auch die inneren Organe. Bei der Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins zur Stärkung von somatischem Wohlsein scheint die strikte Trennung zwischen äußeren und inneren Erscheinungen wenig hilfreich.
P sychologische O rientiertung Nietzsches Zusammenbruch lastet als Hypothek auf der Philosophie der Verdauung des 20. Jahrhunderts. Die Fröhlichkeit der Aufklärung beim Umgang mit dem Bauch und seinen Anliegen scheint unwiderruflich verloren. Zur Behandlung von Verdauungsstörungen konsultieren wir eher Ärzte als Philosophen. Das ist wenig überraschend, insofern auch zur Pflege von Muskeln, Lunge, Herz u.a. eher medizinische als philosophische Behandlung angemessen scheint. Allerdings packt manchen Philosophen das Interesse an Organen, wenn sich Neurologen anschicken, die Strukturen geistiger Prozesse auf Aktivitäten des Großhirns zu reduzieren. Können wir denn Bleistift und Papier nicht ebenso gut zum Ort des Denkens erklären wie den Kopf?3 Und warum soll der Geist denn nicht dem Magen entspringen? Wollen wir geistige Tätig3 | »Wenn wir über den Ort sprechen, wo das Denken stattfindet, haben wir ein Recht zu sagen, dass dieser Ort das Papier ist, auf dem wir schreiben, oder der Mund, der spricht. Und wenn wir vom Kopf und vom Gehirn als einem Ort des Denkens sprechen, dann ge-
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keiten angemessen erfassen, verdient die Verdauung als Form des Austauschs mit unserer biologischen, kulturellen und persönlichen Umwelt sicherlich Beachtung.
Freuds Backside Sigmund Freud (* 6.05.1856 in Příbor, † 23.09.1939 in London) unterstreicht die enge Bindung von physiologischen und geistigen Vorgängen, insbesondere für die Sexualität, deren Entwicklung er in Hinblick auf das organische Verdauungsgeschehen diskutiert.4 Freuds psychologisches Interesse wurzelt in philosophischen Untersuchungen zu Körper und Geist, für die sich Freud zu Beginn seiner Karriere begeisterte. Zur Zeit seines Studienbeginns war gastrophile Philosophie en vogue, Schopenhauer war in aller Munde, Nietzsche arbeitete als Professor in Basel. Freud kam im Rahmen seiner Beschäftigung mit atheistischen und materialistischen Ansätzen mit der philosophischen Debatte über Bezüge zwischen physischer und psychischer Verdauung in Berührung. Insbesondere begeisterte er sich für Ludwig Feuerbach, den er, nach eigener Einschätzung, unter allen Philosophen am höchsten verehrte und bewunderte.5 Auch Gustav Fechners Arbeit beeinflusste ihn nachhaltig.6 Eine besondere Rolle spielte Franz von Brentano, in dessen Vorlesungen Freuds spä-
brauchen wir den Ausdruck ›Ort des Denkens‹ in einem anderen Sinn.« Wittgenstein, Blaues Buch (BB), 1984, S. 23. 4 | Schon vor Freud wurde die Verdauung in psychologischer Hinsicht eingehend untersucht, etwa durch Domrich, der den Einfluss von Vorstellungen auf Magen, Darm und Appetit erforscht hatte, aber auch die Einwirkungen der physischen Zustände des Unterleibs auf Gefühle. Vgl. Domrich, 1849, S. 137. 5 | Vgl. Freud, Brief an Eduard Silberstein, 07.03.1875. Vgl. Levitt, 2012. 6 | Freud war auch mit Schriften Fechners vertraut, die unter dem Synonym Dr. Mises veröffentlicht wurden, möglicherweise also auch mit dem Encomium des Magens. Vgl. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, (1905c), S. 71N1. Ursprünglich beeinflusste Fechner den jungen Freud wohl über Sigfried S. Lipiner, mit dem Freud von 1874 bis 75 ein philosophisches Journal gemeinsam editierte und der neben Fechner auch freundschaftliche Verbindungen zu Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Erwin Rhode, Paul Natorp und Gustav Mahler unterhielt. Vgl. Heidelberger, 1993, S. 63. Auch über den Austausch mit Clemens Brentano und Josef Breuer dürfte Fechner auf Freud gewirkt haben. Mehrfach bat Freud seinen Freund Silberstein um Berichte aus den Vorlesungen Fechners, zeitweise soll er sie in Leipzig auch selbst besucht haben. Später bezieht sich Freud verschiedentlich auf Fechner, insbesondere in Hinblick auf die psychophysische Stabilität von Lust oder Unlust. Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips, (1920g), S. 4.
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tere Abwendung von einer materialistischen Auffassung der Medizin und sein Festhalten an der Trennung zwischen Physis und Psyche wurzeln dürfte.7 Im Frühjahr 1876 hatte Freud seine philosophische Begeisterung allerdings schon hinter sich gebracht.8 Seine akademische Karriere hoffte er im Labor des Institutes für Physiologie an der Universität Wien voranzubringen, unter Leitung von Ernst Brücke. Der schickte ihn zunächst an die Adria, an die Zoologische Station in Triest. Freud sezierte dort Aal-Bäuche, auf der Suche nach männlichen Sexualorganen.9 Im Anschluss an die letztlich unbefriedi7 | Brentano wendete sich vehement gegen die Gründung der Psychologie auf der Physio logie. Brentano, 1874, S. 60ff. Bei der Untersuchung des Seelenlebens möge man der Physiologie zwar für ihre warnenden Blicke dankbar sein, sie aber nicht zur Führerin nehmen. Ausdrücklich kritisiert Brentano die Analogie zwischen »der Verdauung im gewöhnlichen Sinne [...] und der tropisch sogenannten Verdauung auf dem Gebiete des Seelenlebens«, wie sie etwa von Adolf Horwicz angenommen wurde. »Von Außen treten die Einwirkungen der Dinge als Reize an die Perzeptionsorgane der sensiblen Nerven. Aus ihnen als dem Rohmaterial nimmt die Seele (was wir nun einmal so nennen) ihre Nahrung in Form von Empfindungen auf. Wir sagen mit Recht, wenn uns eine Menge ganz fremder Eindrücke auf einmal trifft, wir müssten das erst verdauen. Die Seele aber verdaut, indem sie das ihr durch die Nerven zugeführte Rohmaterial zu Empfindungen und seelischen Produkten immer höherer Art als Vorstellungen, Begriffe, Urteile, Schlüsse, Gefühlsrichtungen, Entschlüsse, Pläne, Maximen usw. verarbeitet.« Horwicz, 1872, S. 148. 8 | Vielleicht war es die Frustration über die argumentative Preisgabe seines eigenen Atheismus, die in Freud eine gewisse Abneigung gegen die philosophischen Methoden keimen ließ. Vgl. Tögel, 1994, S. 37. Anlass könnte auch seine Unzufriedenheit mit den Schwankungen seiner eigenen Auffassungen gewesen sein. So schreibt er in einem Brief an seinen Jugendfreund Eduard Silberstein: »Brechen wir hier in unsern philosophischen Erörterungen ab. Ich kann Dir nicht versprechen, dass ich nächste Woche diese meine Ansichten noch anerkennen werde...« Freud, Brief an Eduard Silberstein, 11.04.1875. 9 | Die psychologische Wirkung der erfolglosen Suche nach männlichen Genitalen auf Freud wurde nach meiner Kenntnis in der Forschung bisher nicht ausreichend beachtet. Die Fakten sprechen aber für sich: Im Zuge eines Stipendiums zur Erforschung des Aufbaus von Aal-Hoden sezierte der Junggeselle etwa 400 Aal-Bäuche. In einem Brief an Silberstein erklärt er dazu: »Lange Zeit hindurch war von dieser Bestie nur das Weibchen bekannt, schon Aristoteles wusste nicht, woher diese die Männchen nehmen und ließ deshalb die Aale aus dem Schlamm entstehen. [Vgl. Aristoteles, Historia animalium, VI,16] Ich plage nun mich und die Aale, seine Aalmännchen wiederzufinden, aber vergebens, […] die Hände befleckt vom weißen und roten Blut der Seetiere und vor den Augen flirrende Zelltrümmer, die mich noch in den Träumen stören, und in Gedanken nichts als die großen Probleme, die sich an die Namen Hoden und Ovarien – weltbedeutende Namen – knüpfen«. Freud, Brief an Eduard Silberstein, 05.04.1876. Da Freud Briefe, Manuskripte und andere Unterlagen vernichtete, die seine Zeit als Aalforscher
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gende Erfahrung beschäftigte er sich in Brückes Labor mit neurologischer Forschung und promovierte 1879: Über das Rückenmark niederer Fischarten.10 Brückes Einfluss auf Freud ist kaum zu unterschätzen.11 In Hinblick auf die Verdauung waren seine Einsichten zu Resorption und Assimilation für den betrafen, auch den Stipendienbericht, liegt manche Einzelheit seiner Beschäftigung mit Fischhoden im Dunkeln. Vgl. Bartz, 01.02.2015. Erhalten blieben immerhin Freuds »Beobachtungen über Gestaltung und feineren Bau der als Hoden beschriebenen Lappenorgane des Aals«. Was wäre wohl aus der Psychoanalyse geworden, hätte Freud sich nicht erfolglos mit Sexualorganen von Aalen beschäftigt, sondern erfolgreich mit Nervenzellen in der Darmwand von Hausschweinen? 10 | Vgl. Nitzschke, 2011, S. 16. 11 | Über Ernst Brücke wurde gesagt, dass keiner seiner Schüler ihm je untreu geworden sei. Vgl. Gardner u. Stevens, 1992, S. 41f. Freud nennt Brücke die »größte Autorität, die je auf mich gewirkt hat«, Freud, Nachwort zur Frage der Laienanalyse, (1927a), S. 290. Brücke war das diametrale Gegenteil eines Fachidioten, seine wissenschaftliche Kreativität war vorbildlich. Er vertrat eine radikal materialistische Anschauung. Gemeinsam mit Emil du Bois-Reymond unterzeichnete er 1842 einen »feierlichen Eid gegen Vitalismus«. Vgl. Gardner u. Stevens, 1992, S. 42. Brücke versuchte, »alle vegetativen Vorgänge der organischen Körper auf physikalischem Weg zu erklären« und »die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemein physikalisch-chemischen.« Bois-Reymond, 1918, S. 108. Als politisch liberaler Protestant und Gegner antisemitischer Diskriminierung prägte er zwei neurophysiologische Forschergenerationen sowie die Entwicklung der Psychiatrie durch rigorose Anforderungen an wissenschaftliche Forschung. Aufbauend auf seine Laborarbeit bei Brücke, richtete Freud seine späteren Untersuchungen zum materiellen Träger seelischer Prozesse auf Nervenzellen und Nervenfasern. Den Wissenschaftsrahmen seiner Lehren entwickelte er parallel zu Grundsätzen Brückes, die er von der Physiologie auf die Psychologie übertrug, insbesondere in Hinblick auf die Annahme deterministischer Bezüge zwischen Gefühlen, Gedanken und Phantasien. Vgl. Fancher, 1996, S. 371. Indem er Prinzipien der Physik und der Physiologie auf geistige Erscheinungen übertrug, entsprach Freud einer Forderung, die in den wissenschaftlichen Kreisen seiner Zeit allgemein anerkannt war. Vgl. Das Vokabular der Psychoanalyse, Laplanche u. Pontalis, 1992 S. 260ff. Sein Postulat einer »psychischen Energie« in einem »psychischen Apparat« respektiert Brückes Lehren zur energetischen Konstanz der Organismen. Auch sein Begriff der Dynamik geht auf Lehren Brückes zurück. Vgl. Jones, 1953, 41f. Freud durchdachte das Prinzip der Energieerhaltung in Hinblick auf die Frage nach der Existenz Gottes, in Anlehnung an Brücke, der die Funktion aller lebendigen Organismen dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik zur energetischen Konstanz physikalischer Systeme folgen lässt, Newton, 1995, S. 69, u. 80ff. Kurz nach dem Tode seiner »mächtigen preußischen Über-Ich-Figur«, Whitebook, 2011, S. 127, 1892, nannte Freud sein viertes Kind Ernst.
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damaligen Forschungsstand in der Physiologie maßgeblich.12 Seine hochspezialisierten Einsichten in die geistige Bedeutung der Verdauung vermittelt er in einfacher Sprache, etwa in einem populärwissenschaftlichen Beitrag zur ästhetischen Volksbildung mit dem Titel Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt. Als Malersohn ist Brücke mit künstlerischen Abbildungen des menschlichen Körpers gut vertraut. Ausgehend von klassischen Idealen der ästhetischen Schönheit setzt er sein Wissen um innere Bauchfunktionen bei der Deutung künstlerischer Darstellungen ein.13 Seine ästhetischen Urteile zur äußeren Form führt er mit chirurgischer Genauigkeit auf innere Gegebenheiten zurück, etwa bei der Erklärung der »hässlichen Form« eines Wulstes aus Haut und Fett, der seitlich tiefer über den Beckenrand herabragt als in der Mitte, durch eine Schwächung des Muskels Pyramidalis abdominis. Darstellungen weiblicher Bäuche interessieren Brücke besonders. Hier sei mit größerem Fettreichtum zu »rechnen«.14 Das ist wortwörtlich zu verstehen. Laut Brücke beruhen harmonische Proportionen auf Geometrie: Werde der Abstand zwischen Nabel und dem Scheidungspunkt der Linien der Schenkelbeugen gleich 100 gesetzt, so betrage der Abstand zwischen Nabel und Halsgrube bei den Grazien in Sienna 174, ebenso bei einer nicht näher bestimmten Venus im Vatikan, 167 bei der Venus von Sandro Botticelli, 160 bei der mediceischen Venus.15 An Michelangelos Figur der Nacht fallen ihm Zeichen einer vergangenen Schwangerschaft auf.16 Als äußerliche Spuren der Schwangerschaft interpre12 | Vgl. Neuberger u. Pagel, 1903, S. 409. 13 | Laut Brücke ist der männliche Bauch »künstlerisch um so verwendbarer« je kleiner er ist. Sei der Bauch fett, können seine anatomischen Einzelheiten nicht hervortreten. Zur äußeren Ausdehnung des Bauches trügen Nahrungsmittel bei; wo der Bauch große Mengen von verdauten und unverdauten Nahrungsmitteln beherberge, wo viele Darmgase aufträten und wo die Bauchmuskeln schwach entwickelt seien, da sei »der Bauch immer schlecht.« Brücke, 1891, S. 6 u. 74f. 14 | Ebd. S. 80. Das Tragen von Miedern hielt der Kunstkenner für die Ursache höchst abscheulicher Entstellungen. Vgl. ebd., S. 83. 15 | Vgl. ebd., S. 84. Was Freud über solche Berechnungen dachte, ist unbekannt. Es ist zu prüfen, inwiefern Freuds Erklärung zum »Nabel des Traums«, Die Traumdeutung, (1900a), S. 530, s.u., auch auf »traumhafte Nabel« zu beziehen ist. 16 | Grabmal von Giuliano Medici in Florenz. Die dargestellte Mutter sei über das Alter hinaus, in dem der weibliche Körper auf Schönheit im gewöhnlichen Sinne Anspruch machen könne. Vgl. Brücke, 1890, S. 261. Die Bedeutung der organischen Baucherscheinung für künstlerische Gestaltung unterstreicht er auch in Gedanken zur Bauchmuskulatur der Figur Aurora. Vgl. ebd., S. 269. Unter dem Eindruck seiner Ausführungen bezeichnet Borinski die Aurora und den Abend als »diätetische Musterbilder«: »Was speziell das auffallende Zurücktreten der Bauchpartie am Körper der Aurora betrifft, so könnten
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tiert Brücke insbesondere die »knorrigen« Brüste, durch deren Haut hindurch man die Lappen der »besogenen« Brustdrüsen hindurch zu sehen meine, und die schlaffe Muskulatur des Bauches, über den vier Querfalten hinlaufen – zwei über dem Nabel und zwei unter ihm – und der ihn »an Hekuba’s von Wehen erschöpfte Weichen« aus Shakespeares Hamlet erinnert.17 Sicher lassen sich aus Brückes Vorstellungen keine unmittelbaren Schlüsse auf Freud’sche Bauch- oder Frauenbilder ziehen. Es darf aber festgehalten werden, dass sich Freud zu Beginn seiner Karriere in einem kulturellen Umfeld bewegte, in dem der Zusammenhang zwischen Bauch und Ästhetik akademisch diskutiert wurde, insbesondere in Hinblick auf Verdauung und Sexualität. Hunger und Liebe dürften nicht nur für Freud die »beiden mächtigsten Triebfedern« gewesen sein.18 Sein wissenschaftliches Interesse an Verdauung entwickelt er als Kind seiner Epoche und Kultur zunächst einmal in Hinblick auf die Wirkungen von Kokain.19 Er vermag nicht mit Sicherheit zu beurteilen, was Kokain zur Erhöhung seiner geistigen Leistungsfähigkeit leiste, aber jedenfalls helfe es ihm »regelmäßig gegen Verstimmungen und gegen Druck im Magen mit dem glänzendsten Erfolg in sehr kleinen Dosen.«20 Die »älteste und am besten gerechtfertigte« Anwendung von Kokain erfolge bei Störungen der Magenverdauung.21 Freud verweist auf verschiedene Autoren: Coca lindere dyseptische Beschwerden und die von ihnen abhängige Verstimmung und Schwäche und bringe bei längerem Gebrauch dauernde Heilung zu Stande. Er selbst habe peinliche Beschwerden nach den großen Mahlzeiten und das »Gefühl von Druck und Völle im Magen, Unbehagen und Arbeitsunlust« durch geringe Dosen erfolgreich beseitigen können.22 Einigen Kollegen habe er mehrfach die gleiche Erleichterung verschafft. Die Nausea nach gastrischen Exzessen sei in kurzer Zeit gewichen und habe normaler Esslust und subjektivem Wohlbefinden Platz gemacht. Er habe auch gelernt, sich die Magenbeschwerden nach Einführung von salicylsaurem Natron durch Zudiese medizinischen Ausführungen [in Marsilio Ficinos De vita triplici von 1489] über die ›Leere des Magens‹ am Morgen und seine ›Anfüllung‹ am Abend einmal auch die nächstliegende Begründung zu Bewusstsein bringen.« Borinski, 1908, S. 164 17 | Brücke, 1890, S. 261, auch S. 87. 18 | Freud, Über Deckerinnerungen, (1899a), S. 546. 19 | Vgl. Freud, Über Coca, (1884e). 20 | Freud, 1884e, S. 305, vgl. Brief an Martha Bernays, 09.05.1884, Freud u. Bernays, 2013. 21 | Freud, 1884e, S. 306. Neben der Wirkung des Kokains auf die Verdauung lobt Freud die Stimulation physischer Leistungsfähigkeit, die lindernde Wirkung bei Kachexie bzw. Abmagerung, Asthma, Morphin- und Alkohol-Entwöhnung, die Belebung der Libido und den möglichen Nutzen für örtliche Anästhesie. 22 | Freud, 1884e, S. 306.
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satz einer kleinen Menge Kokain zu ersparen.23 Kokain helfe nicht nur gegen unangenehme subjektive Empfindungen des Magens, sondern auch gegen schwere »reflektorische Erscheinungen«.24 Es habe eine eingreifende Wirksamkeit auf die Schleimhaut und Muskulatur des Magens, die Wirkung sei eine zweifache: Einerseits Anregung der Bewegungen, andererseits Herabsetzung der Magenempfindlichkeit.25 Zusammenfassend führt er atonische Verdauungsschwäche und die sogenannten nervösen Magenstörungen als »gesicherte Indikation für den Coca-gebrauch« an, nicht nur für symptomatische Erleichterung, sondern zur dauernden Besserung.26 Bei der Behandlung von Verdauungsstörungen durch Kokain beobachtet Freud Zusammenhänge zwischen psychischen und gastralen Prozessen. So erklärt er, dass Melancholiker bei fortgesetzter Verabreichung von Kokain »heiterer wurden, Nahrung zu sich nahmen und sich geregelter Verdauung erfreuten.«27 Nach Freuds Auffassung entgingen bei einer Aushungerung der Stadt La Paz jene Einwohner dem Hungertod, die ›Coca‹ genossen hatten, weil beim »Menschen das Nervensystem einen unzweifelhaften, wie wohl dunkeln Einfluss auf die Ernährung der Gewebe ausübt.«28 Die Verabreichung geringer Dosen von Kokain führt laut Freud zu einer Aufheiterung, »die sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar nichts unterscheidet.«29 Das psychische und das physische Empfinden bedingen sich hierbei: Freuds Bemerkung zur »Ernährung der Hirnrinde« überführt die traditionelle Rede von geistiger Speise in die Physiologie. Das Unbewusste klopft hier auf den geistigen Bauch, insofern das »Wissen« der Hirnrinde kein Bewusstsein zu den organischen Ursachen ihrer »guten« Ernährung umfassen muss: »Es wird vielleicht gestattet sein, anzunehmen, dass auch die Euphorie der Gesundheit nichts Anderes ist als die normale Stimmung der gut ernährten Hirnrinde, die von den Organen ihres Körpers ›nichts weiß‹«. 30
Dass Freud dem Kokain einen »bleibenden Werth im Arzneimittelschatze« zuschrieb, mutet aus heutiger Sicht allerdings suspekt an.31 Seine Begeiste23 | Vgl. ebd., S. 306f. 24 | Ebd. 25 | Vgl. ebd., S. 308. 26 | Ebd. 27 | Ebd., S. 306. 28 | Ebd., S. 310. 29 | Ebd., S. 301. 30 | Ebd. 31 | Ebd., Nachtrag 4. Insbesondere die verheerenden Fehlbehandlungen von Emma Eckstein und Ernst von Fleischl-Marxow unterstreichen die berufliche Waghalsigkeit
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rung entwickelte der junge Mediziner im Rahmen der damaligen ›Coca-Mania‹: Ab 1860 waren Coca-Weine in Europa populär geworden und fanden bald darauf reißenden Absatz in den USA.32 Als Freud an seiner Veröffentlichung »Über Coca« arbeitete, war das Wundermittel Kokain also schon in allen Nasen bzw. Verdauungsschläuchen. Insbesondere der Vin Tonique Mariani à la Coca du Pérou, ein mit Extrakten aus Coca-Blättern versetzter Bordeaux-Wein, behauptete sich erfolgreich auf dem Markt, mit Segnung von Papst Leo XIII.33 Zum Erfolg dieses Getränks trug seine Wirkung auf Geist und Verdauung bei, jedenfalls nach Eigenwerbung der Getränkehersteller: »VIN MARIANI, nährt, stärkt und erfrischt; ist schmackhaft und verträglich für den empfindlichsten Magen; verursacht niemals Verstopfung, hilft im Gegenteil bei Verdauung und Assimilation, macht munter und stärkt den Appetit.« 34
Und das war erst der Anfang der Erfolgsstory der Coca-Medizin. Im »goldenen Zeitalter der Quacksalberei« boomten verschiedenste Verdauungsrauschgetränke besonders dort, wo bei unzureichender oder stark fleischhaltiger Diät ärztliche Hilfe schwer zu erreichen war.35 Bei der Vermarktung seiner French Wine Cola, dem »exzellentesten aller Stärkungsmittel«, einem Elixier aus Coca-Blättern, Kolanuss und Damiana, unterstrich der Apotheker John S. Pemberton besonders die Verdauungsfreundlichkeit.36 Als drogenabhängiger Veteran des amerikanischen Bürgerkriegs teilte er Freuds Überzeugung, dass
Freuds. Vgl. Brief von Joseph Breuer an Franziska von Wertheimstein, 23.10.1891 u. Brief an Wilhelm Fließ, 24.01.1895. Wahrscheinlich war Freuds öffentliches Plädoyer für Kokain durch Eigennutz motiviert, auch in finanzieller Hinsicht: Freuds Freund und Kollege Fleischl war aufgrund seines Kokain-Eigenbedarfs von einem deutschen Produzenten angeschrieben worden, Fleischl verwies den Produzenten an Freud, der seiner Verlobten brieflich mitteilte, dass er aus diesem Kontakt Profit zu ziehen gedenke. Vgl. Israëls, 2010, S. 88. 32 | Vgl. Gootenberg, 2008, S. 60, 112ff. 33 | Laut Originalrezept soll Vin Mariani 211 mg Kokain pro Liter enthalten haben, 254 mg für den Export in die USA, wo es gegen die höheren Dosierungen in Nachahmerprodukten zu konkurrieren galt. 34 | Werbe-Anzeige im Ottawa Citizen, 18.03.1899, S. 5. Für ausführlichere Stellung nahmen von Mariani zur therapeutischen Wirkung von Coca und Kokain auf das Ver dauungssystem vgl. Mariani, 1890, S. 43ff. 35 | Pendergrast, 2013, S. 9. 36 | King, 1987, 85ff. Neben den unmittelbar verdauungsanregenden Zutaten enthielt Coca-Cola verschiedene Substanzen zur Färbung und Geschmacksverfeinerung usw., insbesondere Öle und Zucker. Vgl. Pendergrast, 2013, S. 22 u. 456f.
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Kokain sich als Substitutionsmittel für Morphium eigne.37 Nachdem die gesetzliche Prohibition von Alkohol den Austausch des Weins gegen Sodawasser erfordert hatte, verkaufte Pemberton sein Produkt für 5 Cent pro Glas als CocaCola. Offensichtlich hatte Freud sich geirrt, wenn er ernsthaft angenommen hatte, dass der hohe Preis des Kokains allen weiteren Versuchen mit Kokain entgegenstehen müsse.38 Coca-Cola wurde zu einem konstitutiven Element des Amerikanischen Traums.39 Die eingehendere Beschäftigung mit Träumen führte Freud zu neuen Einsichten in die Bezüge zwischen Psyche und Verdauung. Laut Freud meinen gebildete Laien oft zu wissen, aus welchen Quellen die Träume herrühren: Sie würden sofort an den Einfluss gestörter oder beschwerter Verdauung denken, frei nach dem Motto »Träume kommen aus dem Magen.«40 Nun sieht auch 37 | Vgl. Pendergrast, 2013, S. 23ff. 38 | Vgl. Freud, 1884e, Nachtrag 4. 39 | William A. White, Pulitzer-Preisträger und ›spokesman for Middle America‹: »CocaCola is […] a sublimated essence of all that America stands for, a decent thing honestly made, universally distributed, conscientiously improved with the years.« Zitiert nach Pendergrast, 2013, S. 194. Eine Schattenseite des Traums: Bis 1891 lagen in den USA mindestens 200 Berichte über Kokainvergiftungen vor, 13 Todesfälle wurden bekannt, doch noch bis 1903 enthielt Coca-Cola etwa 250 mg Kokain pro Liter. Vgl. Fleischhacker, 2006, S. 1288. Heute soll das Getränk zwar weiterhin Auszüge der CocaPflanze enthalten, aber kein Kokain. Doch das Versprechen auf freudige Verdauung übt Macht aus auf Menschen, Markt und Macher: Auch nach dem Ende der ›Koka-Kicks‹ und der entsprechenden pharmazeutischen Profite hielt der Traum an. Noch heute empfehlen Gesundheitsratgeber das Getränk bei digestiven Erkrankungen, z. B. zur Verringerung der Anzahl von E. Coli im Verdauungsschlauch! Vgl. The doctors book of home remedies, 2002, S. 187. Auch die ›ernsthaft-wissenschaftliche‹ Erforschung der Wirkungen von Coca-Cola auf die Verdauung wird fortgesetzt. Vgl. Ladas u.a., 2013, S. 169ff. Als Asa Candler sich für die verdauungsfördernde Wirkung von Coca-Cola begeisterte, zeigte er Weitsicht. Vgl. Pendergrast, 2013, S. 9. 40 | Freud, 1900a, S. 225. »Die Ärzte sagen, Träume kommen aus dem Magen.« Wörtlich findet sich dieser Satz in Schriften des Wiener Theaterkritikers Moritz G. Saphir, einem wahren Spezialisten für Träume aus dem Magen. Zwei Kostproben: »Es gab mal eine Zeit, in der ich schöne Träume hatte, von Liebe, von Freundschaft, von Hochherzigkeit, von Treue, von Wahrheit, von Dankbarkeit, von Hoffnungen usw.; das war dazumal, als ich noch ein Narr war. Die Ärzte sagen, Träume kommen aus dem Magen; weiß der liebe Gott, was ich dazumal gegessen haben mag, als ich solche Träume hatte.« Saphir, 1833, S. 1. Und an anderer Stelle: »[...] die Ärzte sagen: Träume kommen aus dem Magen; bei Dichtern und Verliebten kommen Träume aber aus einem leeren Magen, die müssen also viel ätherischer und geistiger sein als die Träume aus einem vollen Magen. Wenn es aber Dichter und Verliebte gibt, die doch etwas schwerer träumen, so kommt es daher, weil
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Freud äußere Sinnenreize, subjektive Sinneserregung und organische Leibreize als Traumquellen an.41 Dass Traumbilder auf innere Leibreize zurückgehen, lässt sich nach seiner Auffassung an die »allbekannte Beeinflussung anlehnen«, welche die Erregung der Digestions-, Harn- und Sexualorgane auf unsere Träume ausüben.42 Der Einfluss der Verdauung auf das Traumgeschehen sei den »rezent verbliebenen aber indifferenten« Eindrücken des Tages vergleichbar.43 Zum Gesetz der Beziehung zwischen Traum und Leib-Reiz gebe es aber nur dunkle Auskünfte.44 Freud hält es deshalb für problematisch, eine Traumtheorie allein auf somatische Bedürfnisse zu gründen und richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf psychische Bedürfnisse. Ein Traum habe einen ihm eigenen Wert, als psychische Aktion, das Motiv seiner Bildung sei die Erfüllung eines Wunsches.45 Er sei eine Reaktion auf alles, was in der schlafenden Psyche vorhanden sei. Das Wesen des Traumes werde nicht dadurch verändert, dass somatisches Material hinzutrete.46 Die Rückführung von Träumen auf somatische Traumreize scheint ihm aber problematisch, weil solche Reize, die den seelischen Apparat im Schlafe zur Illusionsbildung auffordern, ja ungezählt viele Deutungsversuche anregen.47 Dieses Argument scheint insofern schwach, als auch Freuds Ansatz zur psychoanalytischen Traumdeutung nicht immer eindeutige Zuordnungen erlaubt. Die Trennung zwischen den somatischen und den psychischen Traumquellen bleibt vage. Freud argumentiert wohl zu Recht, dass es mehr als einen Hinweis auf ein somatisches Bedürfnis brauche, wenn ein weißer Soldat im Traum Kirschen isst, wenn es bei einem Souper nichts weiter gibt als geräucherten Lachs, wenn Bücher als Lieblingsspeise der Bücherwürmer erscheinen, wenn Teile eines Hauses als Verdauungsorgane erscheinen oder wenn der gute Geschmack von Menschenfleisch ins Spiel kommt.48 Wechselwirkungen zwischen psychischen und somatischen Verdauungsvorgängen sind Freud also gut vertraut. diesen vielleicht die Dichtkunst und die Liebe selbst in dem Magen liegt, dass sie ihn doch voll haben!« Saphir, 2012, o. P. 41 | Die organisch bedingten Ausgangspunkte von Träumen unterteilt er in »Total stimmungen« und die den »Hauptsystemen des vegetativen Organismus immanenten Sensationen«, unter denen er wiederum in fünf Gruppen unterscheidet: die musku lären, die pneumatischen, die gastrischen, die sexuellen und die peripherischen Empfindungen. Freud, 1900a, S. 39, vgl. Krauß, 1858-59. 42 | Freud, 1900a, S. 225. 43 | Ebd., S. 243. 44 | Vgl. ebd., S. 40. 45 | Vgl. ebd., S. 234. 46 | Vgl. ebd. 47 | Vgl. ebd., S. 228. 48 | Vgl. ebd., S. 136, 152, 197, 230, 423.
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Freud analysiert die Wechselwirkungen in Hinblick auf seine eigene Fähigkeit, Durstträume zu erzeugen, beliebig oft, gleichsam experimentell.49 Esse er am Abend stark gesalzene Speisen, so bekomme er in der Nacht Durst und träume daraufhin, in vollen Zügen Wasser zu schlürfen. Der Anlass des Traumes vom Trinken sei der Durst, den ihm der Traum als erfüllt zeige. Wenn der Traum vom Trinken seinen Durst beschwichtige, so brauche er nicht aufzuwachen. Es handele sich also um einen »Bequemlichkeitstraum«. Leider sei das Bedürfnis nach Wasser aber nicht immer träumend zu befriedigen.50 Mitunter schmecke das erträumte Wasser so salzig, dass er erwachen müsse, um tatsächlich zu trinken. Es gibt laut Freud also Träume, denen die Erfüllung des Wunsches zur Stillung des organischen Durstes das einzige Traummotiv ist.51 Darüber hinaus kann Verdauung dem Träumer auch Gedanken eingeben, in denen der Wunsch zur Erfüllung des organischen Reizes zusätzliche Bedeutungsebenen öffnet. Ein Traum vom organischen Hunger lasse sich etwa als Aufforderung dazu verstehen, sich nichts entgehen zu lassen und keine Gelegenheit zu versäumen.52 Das Leben sei so kurz, der Tod unvermeidlich. Weil uns die Begierde Recht und Unrecht vergessen lasse, werde Befriedigung aber nicht immer bewusst gefordert, sondern verberge sich im Traum. Das Carpe diem beziehe sich hier aber nicht ausschließlich auf die Befriedigung des Magens, sondern sei »auch sexuell gemeint«.53 Erneut zeigt sich das Miteinander sexueller und gastrischer Erscheinungen in Freuds psychischem Haushalt denn auch sexuell ist nicht gleichbedeutend mit ausschließlich sexuell. Die Vielschichtigkeit der Bezüge zwischen Psyche, Bewusstsein, Verdauung und Sexualität unterstreicht Freud in Hinblick auf seine eigene Vorstellungswelt.54 Den teuren Namen seines verehrten Professors Brücke erklärt er zu einem ursprünglichen Symbol für das männliche Glied, das Zusammen49 | Vgl. ebd., S. 128. 50 | Ebd., S. 129. 51 | Vgl. ebd., S. 238. 52 | Vgl. ebd., S. 214. 53 | Ebd. 54 | Die Aufrechterhaltung alter Strukturen und die Befriedigung »niederer Bedürfnisse« erfolgt laut Damasio, 2010, S. 217, auch nach der Entwicklung von Bewusstsein »nicht ohne Intelligenz«. Die Bedeutung solcher Bedürfnisse für unbewusste Entwicklungen geht auch bei Freud weit über einen einfachen Drang zum Überleben hinaus und zeigt sich auch auf höheren Bewusstseinsstufen: »Man weiss, was man Einfälle nennt, Gedanken, die plötzlich fertig im Bewusstsein auftauchen, ohne dass man ihre Vorbereitungen kennt, die doch auch psychische Akte gewesen sein müssen. Ja, es kann geschehen, dass man auf solche Weise die Lösung eines schwierigen intellektuellen Problems erhält, über das man eine Weile vorher vergeblich nachgedacht hat.« Freud, Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis (1938), S. 144.
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spiel des Gliedes mit den Namen anderer Kollegen führt zu mütterlichen Hautschuppen, den Brüsten der Weisheit und Mitteln zu Stillung des gastralen Verlangens: »Ja, als ob dem Drang, Verbindungen zu erzwingen, gar nichts heilig wäre, dient nun der teure Name Brücke (Wortbrücke siehe oben) dazu, mich an dasselbe Institut zu erinnern, in dem ich meine glücklichsten Stunden als Schüler verbracht, sonst ganz bedürfnislos (›So wird’s Euch an der Weisheit Brüsten mit jedem Tage mehr gelüsten‹), im vollsten Gegensatz zu den Begierden, die mich, während ich träume, plagen. Und endlich taucht die Erinnerung an einen anderen teuren Lehrer auf, dessen Name wiederum an etwas Essbares anklingt (Fleischl, wie Knödl), und an eine traurige Szene, in der Epidermisschuppen eine Rolle spielen (die Mutter – Wirtin) und Geistesstörung (der Roman) und ein Mittel aus der lateinischen Küche, das den Hunger benimmt, das Kokain.« 55
Von seiner »Namenspielerei« führt Freud seine Traumdeutung zur Lust an der oralen Aufnahme von Wissen, über »schwachsinnige Witzeleien« mit dem Namen Freud, hin zur dichterischen Neckerei, die Herder mit Goethe trieb, zwischen Exkrement und Götterbildern: »›Der von Göttern Du stammst, von Gothen oder vom Kote‹ – ›So seid ihr Götterbilder auch zu Staub.‹«56 Aus dem Staub gotischer Dichtung geht es dann wieder hinweg über Nahrungs- und Wissensaufnahme, zurück zur Mutter: Die zeigte ihrem Sohn schwärzliche Epidermisschuppen, erzeugt durch das Anreiben ihrer Hände »ganz ähnlich wie beim Knödelmachen«, als Probe der Erde, aus der er gemacht sei – und zu der er wieder werden würde.57 Mit dem ›Knödel‹ bzw. ›Knödl‹ trägt der Gedankenfluss Freud zu jenem Universitätslehrer, dem er seine ›histologischen Kenntnisse‹ verdankt.58 Freuds Assoziationsfluss erinnert an einen Verdauungsbrei, aus dem die nahrhaften Bestandteile nach und nach ausgesondert werden. Dass diese Aussonderung nicht vollständig erfolgt, unterstreicht Freud mit seiner Bemerkung zum Omphalos, also jenem Stein der Steine, der im griechischen Mythos als Garant göttlicher Überlistung des väterlichen Bauches erscheint.59 Der Omphalos versinnbildlicht bei Freud eine unergründliche Stelle, durch die jeder Traum mit dem Unbekannten zusammenhängt, die Stelle, an
55 | Freud, 1900a, S. 212f. 56 | Ebd., S. 213, in Bezug auf Johann Gottfried Herder, Gedicht »An Goethe«, u. Johann W. von Goethe, Iphigenie auf Tauris, Kapitel 3, II. Aufzug, II. Auftritt. 57 | Vgl. Freud, 1900a, S. 211. 58 | Vgl. ebd., S. 212. 59 | Zum griechischen Mythos s.o.: Abschnitt 1.
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der Träume dem Unerkannten »aufsitzen«.60 Der Nabel des Traums erscheint hier als Verbindungsstück zu einem dunklen Erfahrungsbereich der Urverdrängung, von der Analyse unerreichbar, der Versprachlichung entzogen, als ein Keim des Unbewussten, dem gegenüber alle weiteren Verdrängungen ein Nachdrängen bedeuten.61 Die sexuelle Symbolik verbindet sich hier nahtlos mit digestiven Aspekten.62 Bäuche können andere Lebewesen nicht nur ver60 | Freud, 1900a, S. 530. Noch in den bestgedeuteten Träumen bleibe etwas im Dunkeln, wenn sich ein Knäuel von Traumgedanken nicht entwirren lasse, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge liefere. Vgl. ebd., S. 530. Traumgedanken seien allgemein ohne Abschluss und liefen nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt aus, Freud dachte wohl an das verknotete Gitternetz, das den Omphalos-Stein in Delphi umgeben haben soll, an der Stelle, wo »der alte, abgeschlaffte Orakeldämon begraben lag«. Rohde, 1898, S. 133. Der Traumwunsch erhebt sich laut Freud aus einer dichteren Stelle eines Geflechts »wie der Pilz aus seinem Mycelium«. Laut Weber, 1979, S. 105ff. kann sich Freuds Rede von Pilz, Mycelium und der »netzartigen Verstrickung unserer Gedankenwelt« als Falle erweisen. Der Fruchtkörper und sein feines, zumeist unsichtbares Geflecht aus Zellfäden ist ein lebendiges, kein starres Gebilde. Wo sich der Traumwunsch aus der netzartigen Verstrickung unserer Gedanken erhebt, kann der Mittelpunkt selbst, der Nabel, in Bewegung geraten. Ich möchte zustimmen: Einerlei ob sich die Psyche um die Genitalien oder den Verdauungsschlauch dreht, wird statische Ruhe dabei nicht unbedingt kennzeichnend sein. 61 | Vgl. Küchenhoff, 2007, S. 293. 62 | Mit Lacan lässt sich die repräsentative Beziehung zwischen dem Nabel, als einem »Zentrum des Unerkannten«, und dem anatomischen Bauchnabel mit dem Begriff des Abgrunds bzw. der Kluft verknüpfen. »Ce n’est pas en vain que, même dans un discours public, on vise les sujets et qu’on les touche à ce que Freud appelle le nombril, nombril des rêves, pour en désigner au dernier terme le centre d’inconnu, mais qui n’est point autre chose... comme l’image anatomique dont il s’agit, et s’avère être la meilleure à le représenter...que cette béance dont nous parlons.« Lacan, Séminaire 11 (S11), 22.01.1964, S. 14 [37], vgl. Thonack, 1997, S. 71f. Leere als Prämisse des Schaffens habe auf der Suche nach einer verborgenen Realität schon in der prähistorischen Malerei (»autour d’une cavité, sur les parois d’une cavité«) zur Darstellung der Leere an den Wänden dieser Leere selbst geführt (»la figuration du vide sur les parois de ce vide«). Lacan, Séminaire 7 (S7), 10.02.1960, S. 1. Die Übungen auf den Wänden dienen laut Lacan der Fixierung des unsichtbaren Bewohners in den Höhlungen. Vgl. ebd. In der Freude an Höhlungen in Erde und Körper verbinden sich Sexualität und Verdauung, konkret und metaphorisch, das unterstreichen Lacans Ausführungen zu ›Vasen‹ als Repräsentationen der Leere (»[le potier] crée le vase autour de ce vide avec sa main [...] il le crée tout comme le créateur mythique ex nihilo, à partir du trou - tout le monde sait ca et chacun fait des plaisanteries sur le macaroni qui est un trou avec quelque chose autour, ou les canons [...]« Lacan, S7, 27.01.1960, S. 17. Sicher bezieht sich
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dauend zersetzen, sondern fremde Verdauungskraft schützend und nährend entwickeln: ohne die entsprechende Darmflora könnten wir keine Nahrung assimilieren.63 Sicher beschränkt sich Freuds Einsicht in die Funktion des Bauches nicht auf dessen sexuelle Funktionen. Das unterstreicht er besonders elegant in seinen Ausführungen zur Technik des Witzes in Hinblick auf Lichtenbergs Aphorismen zu Speise- und Lernstoffen (vgl. Abschnitt 3 dieser Arbeit): Es sei schade, dass »man bei Schriftstellern die gelehrten Eingeweide nicht sehen kann, um zu erforschen, was sie gegessen haben.«64 Auch die Lichtenberg’sche Verknüpfung zwischen der Wertschätzung des Lernens auf der Stube und der Vorliebe für gelehrte Stallfütterung amüsiert Freud.65 Der Witz dieser Aphorismen beruhe auf dem »verblüffenden Charakter« der Zusammenstellung, auf absurder Attribuierung bzw. der »Darstellung durch Widersinn«.66 Damit erklärt Freud die Assoziation zwischen gastraler und gedanklicher Verdauung zur Grundlage eines anregenden Widersinns. Das unterstreicht er mit einem weiteren Beispiel: »Brot – Brot – Ruhm oder Ruhm – Ruhm – Brot.«67 Laut Freud sollte der Eindruck des Treffenden, des Geistreichen und des Scharfsinnigen bei Lichtenberg unser Urteil über den Charakter des Witzigen nicht irreführen.68 Allein aus der Beimengung eines Scherzes zu einem ausgezeichLacans Begriff der ›béance‹ nicht ausschließlich auf eine Leere im Bauch, aber es ist doch schwer zu übersehen, dass Abgrund, Kluft, Höhlung, Hölle, Mund, Schlund und After begriffliche Leerstellen im Geflecht des Wissens bilden, aus denen heraus sich die Bedeutung der Verdauung für uns selbst und die Welt entwickelt, gerade auch in sexueller Hinsicht. 63 | Gerade in Hinblick auf die produktiv zeugende Kraft der Bäuche folgt Freud der philosophischen Tradition der Vernachlässigung. Seinen Blick auf den Bauch konzentriert er auf die ihm innewohnende Zerstörungskraft, wie sie der Mythos um Kronos symbolisiert, den sein Schicksal aus seinem eigenen Bauch heraus erreicht, obwohl er seine eigenen Kinder verspeist. Die grundlegende Bedeutung von Assoziationen zu Kannibalismus, Er-brechen und Schwangerschaft unterstreicht Julia Kristeva in ihren Ausführungen zur Behandlung von Florence. Kristeva, 1993, o. P. Den Abscheu vor Nahrung erklärt sie im Zuge eines Prozesses der Selbstgestaltung, wobei die durch den »Magen des Bauches« (»l’estomac du ventre«) abgelehnte Nahrung als ein Teil unserer selbst verstanden wird. Kristeva, 1980, S. 10. Der Begriff der Verdauung, gespannt zwischen Ernährung und Kot, führt zurück zu ursprünglichen Freuden und Leiden im und um den Bauch, wobei sich sexuelle und digestive Motive wiederum vermischen. 64 | Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, (1905d), S. 90. 65 | Vgl. ebd., S. 91. 66 | Ebd. 67 | Ebd., S. 92. 68 | Vgl. ebd.
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neten Sinn ergebe sich noch kein vortrefflicher Witz, zu dem eine Darstellung durch Widersinn erfordert sei. Lichtenbergs Bauch-Geist-Aphorismus wäre demnach witzig, weil er unterstreicht, dass Brot mitunter auf dem Schlachtfeld erworben wird und Ruhm in Bäckereien. Aber gründet der Witz hier nicht auch in der Fähigkeit zur Verdauung eines Widerspruchs zwischen Brot und Ruhm, etwa aufgrund von Unterschieden des Bauchgefühls beim Erwerb von Ruhm und Brot? Dafür, dass Freuds Analyse hier vor der Tiefe der digestiven Materie haltmacht, sprechen auch seine Überlegungen zu einem weiteren Aphorismus von Lichtenberg: »Jeder Mensch hat auch seine moralische Backside, die er nicht ohne Not zeigt und die er so lange als möglich mit den Hosen des guten Anstandes zudeckt.« 69
Das witzige der peinlich verborgenen Ansichten von hinten ergibt sich laut Freud als Resultat eines Vergleiches. Bei dem Wortspiel zwischen »Not« und den »Hosen des gutes Anstandes« ergebe sich eine Zusammenstellung, die wohl von sich aus witzig sei. Die Gleichnisse seien »in hohem Grade ›herabziehend‹«, insofern sie ein »Ding hoher Kategorie, ein Abstraktum« wie guten Anstand auf ein »Ding sehr konkreter Natur« und »niederer Art« wie eine Hose beziehen.70 Tatsächlich ist Lichtenbergs sprachliches Spiel geeignet, Assoziationen zwischen einer Hose, dem, was in die Hose geht, Not und Notdurft, Hinterbacken, moralischer Scham und universellen, anthropologischen Zuschreibungen zu wecken. Der Witz entspringt dem Widerspruch zwischen der Höhe, auf der sich unsere Gedanken gerne bewegen und der Tiefe, in die sie sich die Verdauung hinabwünschen. Bei Lichtenberg begegnen sich Gedanken und Verdauung sozusagen auf Augenhöhe, wobei das Zusammentreffen fröhlich verläuft. Freuds eigene Backside, die psychischen Wirkungen der Verdauungsfreude hinter der Sexualität, erscheinen in seinen Bemerkungen zu Lichtenberg immer schon als Voraussetzung des Witzes. Nichtsdestoweniger hält Freud sie verborgen, wohl aus Sorge darüber, dass seine Einsichten in sexuelle Motivationen des Verhaltens durch die psychischen Wirkungen der Verdauung relativiert werden könnten. Das Freud das psychische Gewicht der Verdauung kannte, unterstreicht seine Erklärung zur Liebesübertragung für die analytische Arbeit mit »Frauen von elementarer Leidenschaftlichkeit, [...] die das Psychische nicht für das Materielle nehmen wollen, die nach des Dichters Worten nur zugänglich sind ›für Suppenlogik mit Knödelargumenten‹.«71 Wo die Moderation sexueller Triebe auf den harten Felsen des Unabänderlichen trifft, erscheint bei Freud die 69 | Ebd., S. 91. 70 | Ebd. 71 | Freud, 1915a.
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Macht der Verdauung. Seine Referenz an Heines Die Wanderratten hat es in sich: Die bauchgesteuerten Ratten fürchten weder Kanonen, Hölle noch Syllogismen und pfeifen auf Monogamie, Eigentum und Metaphysik.72 Die Behandlung von Ratten sieht Freud in seiner Praxis dementsprechend nicht vor. Gastral 72 | Die wilde Kraft der bedürftigen Verdauung bringen Heines Worte eindringlich zur Geltung: Heine, 1975, Bd. 6, S. 306f. Es gibt zwei Sorten Ratten: Die hungrigen und satten. Die satten bleiben vergnügt zu Haus, Die hungrigen aber wandern aus. [...] Die radikale Rotte Weiß nichts von einem Gotte. Sie lassen nicht taufen ihre Brut, Die Weiber sind Gemeindegut. Der sinnliche Rattenhaufen, Er will nur fressen und saufen, Er denkt nicht, während er säuft und frisst, Dass unsre Seele unsterblich ist. So eine wilde Ratze, Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze; Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt. [...] Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete, Nicht hochwohlweise Senatsdekrete, Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder, Sie helfen Euch heute, Ihr lieben Kinder! Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste Der abgelebten Redekünste. Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen, Sie springen über die feinsten Sophismen. Im hungrigen Magen Eingang finden Nur Suppenlogik mit Knödelgründen, Nur Argumente von Rinderbraten, Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.
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gelagerte Zwänge scheinen ihm störend.73 Die psychische Bedeutung der Verdauung setzt Freud wohl voraus, spielt sie aber verschiedentlich herunter. In seiner Theorie der Organreize und Organempfindungen vertritt er in Hinblick auf die Verdauung eine ›rationale‹ Position: Unser Intellekt passe die ihn von außen treffenden Eindrücke in die Formen der Zeit, des Raumes und der Kausalität.74 Seine Furcht vor den Reizen »aus dem Innern des Organismus, vom sympathischen Nervensystem her« scheint aber gering, jedenfalls gesteht er ihnen höchstens einen unbewussten Einfluss auf die Stimmung zu.75 »[Erst] wenn die übertäubende Wirkung der Tageseindrücke aufgehört hat, vermögen jene aus dem Innern heraufdringenden Eindrücke sich Aufmerksamkeit zu verschaffen – ähnlich wie wir bei Nacht die Quelle rieseln hören, die der Lärm des Tages unvernehmbar machte.« 76
Dass sich die Aktivitäten der Verdauung aber nicht immer und überall auf sanftes Rieseln beschränken, unterstreicht seine Kollegin Lou Andreas-Salomé in ihrem Vergleich der periodischen Schübe und Antriebe der Kloake und des Genitalapparats: »Wie der Analdrang in seiner ursprünglichen Unbeherrschtheit schon, so tritt auch der genitale als unwillkürlicher Ich-Überwältiger auf.«77 Doch auch wenn wir dem friedvollen Verdauen mitunter wenig Aufmerksamkeit schenken, ein Einfluss auf das Bewusstsein ist dennoch gegeben.78 Die Macht, mit der unbefriedigte Verdauung auf unser Bewusstsein Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten, Behaget den radikalen Rotten Viel besser als ein Mirabeau Und alle Redner seit Cicero. 73 | Vgl. Fischer-Homberger, 1990, S. 286. 74 | Vgl. Freud, 1900a, S. 39. 75 | Ebd. 76 | Ebd. 77 | Andreas-Salomé, 1916, S. 259. 78 | Freud bestätigt: »[...] das spätere System Bw, empfängt aber auch Erregungen von innen her; die Stellung des Systems zwischen außen und innen und die Verschiedenheit der Bedingungen für die Einwirkung von der einen und der anderen Seite werden maßgebend für die Leistung des Systems und des ganzen seelischen Apparates. Gegen außen gibt es einen Reizschutz, die ankommenden Erregungsgrößen werden nur in verkleinertem Maßstab wirken; nach innen zu ist der Reizschutz unmöglich, die Erregungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in unverringertem Maße auf das System fort, indem gewisse Charaktere ihres Ablaufes die Reihe der Lust-Unlustempfindungen erzeugen. Allerdings werden die von innen kommenden Erregungen [...] der Arbeitsweise des Systems adäquater sein als die von der Außenwelt zuströmenden Reize.« Freud, 1920g,
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wirken kann, lässt sich nicht leicht auf verdrängte Wünsche zu geschlechtlicher Tätigkeit zurückführen. Auch ist es keine ausgemachte Sache, dass Menschen nur Nachts oder nur im Schlaf träumen.79 Pointiert thematisiert Freud die psychischen Wirkungen der Verdauung, wenn er sie in sexuelle Motiven überführen kann: »An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger.«80 An der Brust geht die digestive Lust der sexuellen Lust allerdings vorher, jedenfalls bei jenem jungen Mann, der es laut Freud rückwirkend bereute, die Brust seiner Amme im Säuglingsalter weniger sexuell als digestiv genossen zu haben.81 Freuds Rede von der »Erinnerung an die Zeit, da die geistige Nahrung dem Träumer allein genügte«,82 spricht ebenfalls für einen ursprünglichen Vorrang der digestiven Motive beim Säugen. Die ursprüngliche Bedeutung der Verdauung für geistige Entwicklung unterlegen auch Freuds Ausführungen zu Entwicklungsstufen der Sexualität, die er auf die »oralen« und »analen« Enden des Verdauungsschlauches bezieht.83 Indem Freud die Entziehung der Mutterbrust und die Abtrennung des Darminhaltes zu grundlegenden Erfahrungen des Kindes erklärt,84 unterstreicht er den Zusammenhang zwischen analen und oralen Erscheinungen und ihrer Verursachung durch den Verdauungsschlauch. Dessen Macht hebt er auch in seinen Erklärungen zum prägenitalen Sexualleben hervor:
S. 28. Werden die von innen kommenden Reize als nervliche Erregungen aufgefasst, so beeinflusst die Verdauung unser Bewusstsein über die ihr zugehörigen Nervenbahnen. Die Annahme einer direkteren Beeinflussung des Bewusstseins über die Aufnahme und Abgabe bestimmter Nährstoffe ist für diese Erklärung nicht notwendig. 79 | Vgl. Bachelard, 2004, S. 96. 80 | Freud, 1900a, S. 157. 81 | Vgl. ebd., S. 155. 82 | Ebd., S. 157. 83 | Freuds Übervater Brücke war davon überzeugt, dass volle Einsicht in die vielgestaltigen Bildungen der menschlichen Gestalten »nur an der Leiche und mit dem Messer in der Hand« zu gewinnen sei. Vgl. Brücke, 1891, S. 6. Wenn Freud seine Analyse nichtsdestoweniger auf Verdauungsorgane konzentrierte, die sich ohne Einschnitte erreichen lassen, so erwartete er wohl keine bahnbrechenden Neuentdeckungen im Körperinneren. Andreas-Salomé kritisiert Carl G. Jung, weil er die Sexualität nur umwerbe, um sie »zu köpfen oder richtiger: ihr den Bauch aufzuschlitzen«. AndreasSalomé, 1916, S. 266. Das spricht zumindest für die altbekannte Einsicht, dass metallische Klingen eine gefährliche Bedrohung für den Bauch darstellen, gerade auch dann, wenn sexuelle Motivationen im Spiel sind. Ein Beispiel gibt das Ende von Zimri und Kosbi im 1. Kapitel dieser Arbeit. 84 | Vgl. Freud, Der Untergang des Ödipuskomplexes, (1924d), S. 397.
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Vom Geist des Bauches »Organisationen des Sexuallebens, in denen die Genitalzonen noch nicht in ihre vorherrschende Rolle eingetreten sind, wollen wir prägenitale heißen. [...] Eine erste solche prägenitale Sexualorganisation ist die orale oder, wenn wir wollen, kannibalische. Die Sexualtätigkeit ist hier von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben nicht differenziert. Das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen, das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objektes, dem Vorbild dessen, was späterhin als Identifizierung eine so bedeutende psychische Rolle spielen wird. Als Rest dieser fiktiven, uns durch die Pathologie aufgenötigten Organisationsphase kann das Lutschen angesehen werden, in dem die Sexualtätigkeit, von der Ernährungstätigkeit abgelöst, das fremde Objekt gegen eines am eigenen Körper aufgegeben hat. Eine zweite prägnante Phase ist die der sadistisch-analen Organisation. Hier ist die Gegensätzlichkeit, welche das Sexualleben durchzieht, bereits ausgebildet; sie kann aber noch nicht männlich und weiblich, sondern muss aktiv und passiv benannt werden. Die Aktivität wird durch den Bemächtigungstrieb von Seiten der Körpermuskulatur hergestellt, als Organ mit passivem Sexualziel macht sich vor allem die erogene Darmschleimhaut geltend; für beide Strebungen sind Objekte vorhanden, die aber nicht zusammenfallen.« 85
Den Triebregungen der Analerotik spricht Freud eine außerordentliche Bedeutung für den Auf bau des Sexuallebens und der seelischen Tätigkeit zu.86 Als Teil des kindlichen Leibes sei Kot das erste Geschenk, das erste Zärtlichkeitsopfer, von dem sich ein Säugling auf Zureden einer geliebten Person trenne.87 Die Geldbedeutung des Kotes zweige von dieser Geschenkbedeutung ab.88 Der Wert des Geldes gründe in umgebildeter Analerotik, es werde zum wertvollen Stoff, weil es im Laufe des Lebens psychisches Interesse an sich ziehe, das ursprünglich »dem Kot, dem Produkt der Analzone« gebührte.89 Da der Anus Kot eigentlich nicht produziert, sondern nur ausscheidet, unterstreichen Freuds Erklärungen die Bedeutung der Verdauung nicht nur für die frühkindliche, sondern auch für die erwachsene Psyche.90 Mit einer gewissen Berechtigung wurde behauptet, dass Freud den Anus mit weitergehenden Ansprüchen
85 | Freud, 1905d, S. 98f. 86 | Vgl. Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, (1918b), S. 104. 87 | Vgl. Freud, Über Triebumsetzung, insbesondere der Analerotik, (1916-17e), S. 406. 88 | Vgl. Freud, 1918b, S. 114. 89 | Ebd., S. 104. 90 | Das psychische Gewicht der Verdauung im Erwachsenenalter unterstreicht etwa Freuds Bemerkung zum grumus merdae, also der Spur der Notdurft, die Einbrecher mitunter am Tatort hinterlassen. Freud, 1918b, S. 113.
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an Universalität versehen hat als die Genitalien.91 Dazu möchte ich bemerken, dass die Entwicklung universeller Ansprüche in Hinblick auf Anus und Genitalien ohne den Zusammenhang mit der dem digestiven Geschehen zugehörigen Lust nicht denkbar wäre. Freuds Ausführungen zur Analerotik machen das deutlich. Die Entwicklung des Afters aus dem Urmund der embryonalen Anlagen hat bei Freud eine biologische Vorbildfunktion für die psychosexuelle Entwicklung.92 Defäkation versteht er als Vorbild des Geburtsaktes.93 Der Kotballen sei sozusagen der erste Penis, die von ihm gereizte Schleimhaut die des Enddarmes.94 Das Verhältnis zwischen Penis und »dem von ihm ausgefüllten und erregten Schleimhautrohr« bilde sich in der prägenitalen, sadistisch-analen Phase aus.95 Das Interesse an der Vagina sei hauptsächlich analerotischer Herkunft.96 Sie sei nach einem guten Wort von Lou Andreas-Salomé dem Enddarm »abgemietet«.97 Im Träumen komme häufig eine Lokalität vor, die früher ein einziger Raum war und jetzt durch eine Wand in zwei geteilt ist oder auch umgekehrt. Gemeint sei damit immer das Verhältnis der Vagina zum Darm.98 In diesem Sinne ließe sich das Labyrinth aus der Sage als Darstellung einer analen Geburt erkennen; die verschlungenen Gänge seien der Darm, der Ariadnefaden die Nabelschnur.99 Die libidinöse Besetzung des Darminhaltes vergleicht Freud mit jener des ungeborenen Kindes in der Gebärmutter: etwas, das sich durch den Darm aus dem Körper löst.100 Ein sprachliches Zeugnis dieser Identität von Kind und Kot gebe die Redensart: ein Kind schenken.101 Kot, Kind und Penis sei gemeinsam, dass sie Schleimhautrohre durch Eindringen oder Herausdringen erregen könnten.102 Sie bildeten eine Einheit, einen unbewus-
91 | Vgl. Goodwin, 2012, S. 3. Laut Goodwin führt uns die »anale Stimme« über die Darmbewegungen bei der unbewussten Ausscheidung des Fremden zur Unterscheidung zwischen innen und außen. 92 | Vgl. Freud, 1905d, S. 99N2. Freud bezieht sich hier auf Abraham, 1924. Vgl. Freud, Neue Folge der Vorl. zur Einf. in die Psychoanalyse, (1933a). 93 | Vgl. ebd., 32. Vorl., S. 107. 94 | Vgl. Freud, 1916-17e, S. 407. 95 | Ebd., S. 407. 96 | Vgl. Freud, 1933a, 32. Vorl., S. 108. 97 | Ebd. 98 | Vgl. ebd. 99 | Vgl. ebd., S. 26. 100 | Vgl. Freud, 1916-17e, S. 406. 101 | Vgl. ebd. 102 | Vgl. ebd., S. 409-10.
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sten Begriff des vom Körper abtrennbaren Kleinen.103 Das Kotinteresse könne als Geldinteresse fortgesetzt, in den Wunsch nach einem Kind überführt und auf den Penis übertragen werden.104 Die Vorstellung des Darmes als ursprünglicher Ort der Schwangerschaft mache das Kind zum Haupterben der Analerotik.105 Der Penis bleibe aber der Vorgänger des Kindes, im doppelten Sinne. Die organische Übereinstimmung komme nach Umwegen im Psychischen als eine unbewusste Identität zum Vorschein.106 Die Sonderstellung von Hunger und Durst schafft laut Freud Verwirrung, wohl auch bei ihm selbst: Bei der Untersuchung des sexuellen Trieblebens wähnt er sich auf festerem Boden.107 Zur Begründung nennt Freud die Plastizität der Sexualtriebe, die Fähigkeit zum Wechsel der Ziele, die Vertretbarkeit einer Triebbefriedigung durch eine andere und ihre Aufschiebbarkeit, im Vergleich zu den Selbsterhaltungstrieben Hunger und Durst.108 Freud ist davon überzeugt, – ungeachtet seines eingehenden Wissens um die Möglichkeit zur Hemmung des gastrischen Appetits, etwa durch Kokain – dass unbefriedigter Nahrungstrieb eine beständige Bedürfnisspannung unterhält, die nur durch eine Befriedigungsaktion beschwichtigt werden kann.109 Klare Hinweise auf die psychoanalytische Bedeutung der organischen Verdauung liefert Freuds Darstellung der Geschichte einer infantilen Neurose am Falle seines Patienten Sergei K. Pankejeff, der sich durch einen Schleier von der Welt getrennt sah, der nur dann zerriss, als ihm eine durch Abführmittel herbeigeführte Entleerung des Darms seine hartnäckigen Störungen der Verdauungsfunktion erleichterte.110 Die Darmsymptomatik des Patienten hatte 103 | Vgl. Freud, 1918b, S. 116. Die Formulierung mag etwas dunkel erscheinen. Freud hatte selbst Zweifel daran, ob seine Darstellungen der vielfältigen Beziehungen in der Reihe Kot-Penis-Kind ausreichend übersichtlich geraten waren. Freud, 1916-17e, S. 408. 104 | Vgl. ebd. 105 | Vgl. ebd. 106 | Vgl. ebd., S. 409-10. 107 | Freud, 1933, 104-105. 108 | Vgl. ebd. Ob Hunger und Durst allerdings immer »unbeugsam, unaufschiebbar, in ganz anderer Weise imperativ sind« als Sexualtriebe, darf bezweifelt werden, und sei es nur unter Hinweis auf Fälle radikaler Nahrungsverweigerung auf sexuellem Hintergrund. Noch in der Weiterentwicklung nach Freud blieb die Psychologie des Umgangs mit Nahrung randständig. Insbesondere Ess-Brech-Leiden blieben lange Zeit praktisch unbeachtet. Fischer-Homberger, 1990, S. 294. Aufschlussreich für die Missachtung der Zusammenhänge zwischen sexueller und digestiver Unbefriedigung ist etwa der Tod der Witwe Blaesilla, s.o.: Abschnitt 2. 109 | Vgl. Freud, Die Verdrängung (1915d), S. 249. 110 | Vgl. Freud, 1918b, S. 106.
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sich laut Freud aus der Kinderneurose wenig verändert in die spätere psychische Erkrankung des Patienten fortgesetzt. Freud versprach seinem Patienten »die völlige Herstellung seiner Darmtätigkeit« und durfte mit Befriedigung erleben, dass »der Darm wie ein hysterisch affiziertes Organ bei der Arbeit ›mitzusprechen‹ begann, und im Laufe weniger Wochen seine normale, so lange beeinträchtigte Funktion wiedergefunden hatte.«111 Als Ursache des Schleiers zwischen dem Patienten und seiner Welt zeigt sich im Laufe der Analyse die kindliche Überzeugung, ein besonderes Glückskind zu sein, dem nichts Böses widerfahren könne.112 Die Klage über den Schleier sei eigentlich eine erfüllte Wunschphantasie der Weltflucht gewesen, die dem Patienten die Rückkehr in den Mutterleib erlaubte.113 Wenn dieser Schleier bei der Stuhlentleerung zerreiße, so erblicke der Patient die Welt. Der Stuhlgang sei das Kind, als welches er zu einem glücklicheren Leben wiedergeboren werde. Das entspräche der Wiedergeburtsphantasie, auf die sein Schüler Jung die Aufmerksamkeit gelenkt habe. Allerdings sei damit noch nicht alles gesagt, denn die Bedingung der Wiedergeburt sei hier ja, dass ein Mann dem Patienten ein Klysma verabreiche, das die Darmentleerung ermögliche. Das spreche für eine Identifizierung des Patienten mit dessen Mutter. Das Klysma wiederhole den Begattungsakt, als dessen Frucht der Patient als Kotkind geboren werde. Freud: »Nur wenn er sich dem Weib substituieren, die Mutter ersetzen darf, um sich vom Vater befriedigen zu lassen und ihm ein Kind zu gebären, dann ist seine Krankheit von ihm gewichen. Die Wiedergeburtsphantasie war also hier nur eine verstümmelte, zensurierte Wiedergabe der homosexuellen Wunschphantasie.« 114
Wohl zu Recht wurde Freud für seine Behandlung von Pankejeff vielfach kritisiert.115 Unterschätzte Freud auch hier die Wechselwirkungen zwischen Psyche und gastraler Verdauung? Sicher können wir die Ursache einer gastralen Erkrankung in psychischen Zusammenhängen suchen, aber können gastrale Erkrankungen nicht ihrerseits zu psychischen Problemen führen? Freud beobachtete entsprechende Wechselwirkungen.116 111 | Ebd., S. 107. 112 | Vgl. ebd., S. 133. 113 | Vgl. Freud, 1918b, S. 134. 114 | Ebd. 115 | Vgl. Deleuze u. Guattari, 1980; Torok u. Abraham, 1986; Oberholzer, 1986. 116 | Nach Freuds Einschätzung weckte die Klage der »unterleibsleidenden Mutter« (»So kann ich nicht mehr leben«) in diesem Patienten die Angst, an Dysenterie zu sterben, vgl. Freud, 1918b, S. 108f. Wenn Pankejeff an die Dreieinigkeit dachte, als er auf der Straße drei Häufchen Kot beisammen liegen sah, vgl. ebd., S. 100f., so ist klar,
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Dass die Engführung der Lust und Unlust des Bauchs auf anale oder sexuelle Motive nicht nur in Hinblick auf die Entwicklung kindlicher Verdauung problematisch ist, unterstreichen Freuds Erklärungen zur Schwangerschaft. So wie sich die psychische Bedeutung des Verdauungsschlauches bei Freud zuweilen hinter Ausführungen zu Mund und Anus verbirgt, verschleiern seine Bemerkungen zur Vagina mitunter die Bedeutung der Gebärmutter. Wenn Freud die Lust an einem im Bauch heranwachsenden Embryo auf ein Eindringen oder Herausdringen reduziert, könnte das auf ein männliches Unverständnis für die Lust am Zustand mütterlicher Füllung hinweisen. Mit der Abwertung der Vagina zum schrecklichen Gegenbild eines allgemein begehrenswerten Penis scheint einer angemessenen Würdigung der psychischen Wirkungen von Bauchfreuden der Boden entzogen zu sein. Ekel vor einem Zugang zum weiblichen Bauch, der Vagina, scheint hier den Ekel vor dem Anus zu überwiegen. Dafür spricht, dass Freud das mythologische Symbol des Grauens, das Medusenhaupt, weniger auf den Bauch als auf das weibliche Genital bezieht.117 Das Medusenhaupt isoliere die grauenerregende Wirkung des weiblichen Genitals von der lusterregenden. Die apotropäische Wirkung der weiblidass Freud das Zusammenspiel zwischen psychischen und physiologischen Aspekten der Verdauung nicht entging. Das unterstreicht Goodwin: »Freud understands the Wolf Man’s bowel movement as key to understanding the structure of his psyche, and also uses it as a baro-meter for the success of the analysis. The lengthy periods of constipation punctuated by bouts of diarrhoea become, therefore, expressions of the transference. Along with his obsessive thinking and his ambivalent relation to money, Freud traces the significance of the Wolf Man’s anal pleasure economy to the moment in the primal scene, when as an infant he interrupted his parents’ copulation by producing a stool. Whilst the excretory function is clearly important in the Wolf Man’s symptomatology, Freud’s reduction of this to a psychological structure of anal fixation with its origin in infancy overlooks a network of alternative signification that also demands exploration. [...] In his original text of the case study, Freud uses the various modifications of ›darm‹ when referring to the Wolf Man’s bowel and its movements, and ›kot‹ to refer to the faeces. This renders all meanings of the problematic bowel in scatological terms and Freud is therefore able to focus on the anus as central in the structuring of his patient’s psyche. By using the anus as the locus of his speculation, however, Freud neglects the significance of the bowel in a more general operation of excretion. It is by resignifying the bowel disorder according to its excretory function that the problematic intestine can symbolize with an earlier bout of gonorrhoea that precipitated the Wolf Man’s adult breakdown.« Goodwin, 06.03.2015. 117 | Vgl. Freud, 1922, S. 48, dazu Freud, Die infantile Genitalorganisation, (1923e), S. 296 N: »Ferenczi hat kürzlich mit vollem Recht das mythologische Symbol des Grauens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck des penislosen weiblichen Genitals zurückgeführt«. »Ich möchte hinzufügen, dass im Mythos das Genitale der Mutter gemeint
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chen Genitalien beruhe auf dem Grauen, das sie hervorrufen, anders als beim Penis, dessen Schaustellung die gleiche Wirkung auf dämonische Mächte habe, weil er mutigen Trotz symbolisiere. Mit seiner Vorstellung einer kastrierten und kastrierenden Vagina Dentata118 greift Freud zurück auf die traditionellen Bilder des Schreckens, mit denen die philosophische Tradition den Bauch assoziiert (s.o.: Abschnitt 1).119 Das Zusammenspiel sexueller und digestiver Sekretionen gehört vermutlich zu den Ur-Gründen gastrophober Ängste. Freud klammert das Zusammenspiel von Genitalien, Schlund und Anus im Grauen vor dem Medusenhaupt nichtsdestoweniger aus. Sein Hang, weibliche Sexualität mit dem vollen Gewicht der klassischen Bauchfeindlichkeit zu belasten, hat ihm denn auch offenen Widerspruch eingetragen. Freud’sche Angst vor Weib und Bauch wurde dabei als eine Reaktion auf die Bedrohung des männlichen Selbstgefühls gedeutet.120 Freuds eigenes Selbstgefühl ist durch Verdauungsprobleme geprägt. Ein Beispiel liefern seine »bösen« Träume vom 23/24.06.1895 zu Irma, die nicht von ungefähr neben Nasenmuscheln und Genitalien auch die Verdauungsorgane betreffen.121 Die Rückführung des füllenden Stillens der Säuglinge auf sexuelle Motive verträgt sich dabei gut mit Freuds Neigung zur Zügelung seines Appetits durch Nikotin und Kokain: Die scheinbare Beherrschbarkeit der Verdauungslust erlaubt deren Rückstellung gegenüber sexuellen Motiven. Für die Vorherrschaft der Verdauungslust in der psychischen Entwicklung spricht auch die jedenfalls in Freuds kulturellem Umfeld verbreitete Verteilung der Geschlechterrollen. Die regelmäßig von Frauen geleistete Nahrungszubereitung zur Füllung der Bäuche schafft eine Abhängigkeit des Mannes im Alltag. Vielleicht ist die Verdrängung der digesist. Athene, die das Medusenhaupt an ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt.« 118 | Vgl. Creed, 1993, 105ff. 119 | Alain, ein philosophischer Zeitgenosse Freuds, erinnert an die Beziehung des traditionellen Angstbilds der Medusa zu den im Bauch versammelten Lüsten: »Unter dem Diaphragma befindet sich der unersättliche Bauch, von dem schon der Bettler bei Homer spricht; wir nennen ihn nicht zufällig Hydra, sondern weil er uns an die unzähligen Verlangen erinnert die miteinander verwoben dazuliegen scheinen, in den seltenen Momenten in denen der Magen schläft. Und was sich am Boden des Sackes befindet ist kein Reichtum sondern Armut, die andere Seite der Liebe, das Verlangen und der Mangel. Hier liegt der kriechende, ängstliche Teil.« Vgl. Chartier, Idées, S. 57; dazu: Dictionnaire des symboles, 1969, S. 793 u. Bächtold-Stäubli, 1927. 120 | Vgl. Horney, 1932, S. 5ff. 121 | Freud, 1900a, 111ff. Aspekte des Traumes enthalten Hinweise auf Freuds Zusammenarbeit mit Wilhelm Fließ, der Menstruations- und Magenschmerzen durch Eingriffe in Genitalstellen innerhalb der Nase behandelte, insbesondere mit Kokain. Zur damaligen Kritik an den Lehren von Fließ, vgl. Ry, 1898, 240.
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tiven Abhängigkeiten für die Bewahrung des sexuellen Rollenverständnisses der klassischen Psychoanalyse konstitutiv,122 sicher steht sie der Ausarbeitung einer ausgewogenen Sexualtheorie im Weg. Sicher scheint auch soviel: Freud tendiert zur Aufwertung des Füllenden – der Kotstange, dem Penis, dem Kind – gegenüber dem zu Füllenden – dem Magen, der Vagina, der Gebärmutter. Sicher kann die Lust am Füllen durch das Gefüllte geschwächt oder gar verneint werden, insofern das Füllende gegenüber dem zu Füllenden, nicht aber gegenüber dem Gefüllten aktiv ist. Nichtsdestoweniger ist der Zustand der Fülle etwas Wünschenswertes, erinnern wir uns an die Bestimmungen in der hellenistischen Philosophie. Die Lust am Füllen ist nicht nur als Selbstzweck, sondern auch als ein auf die Lust des Gefüllten gerichtetes Mittel zu verstehen. Beim Streben zur Beseitigung unbefriedigender Leere ist nicht alleine die Lust des Füllenden entscheidend. Nichtsdestoweniger zog Freud in Betracht, dass sich »die beiden Grundtriebe« in den biologischen Funktionen kombinieren.123 Aus ihrem Mit- und Gegeneinander ergebe sich die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen. Der Akt des Essens sei eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Es könne keine Rede davon sein, den einen oder anderen der Grundtriebe auf eine der seelischen Provinzen einzuschränken.124 Das Verständnis für geistige Entwicklung führt also auch bei Freud über Sexualität und Verdauung, was sich auch in der weiteren Entwicklung der psychologischen und neurologischen Forschung bestätigt.
Groddecks Ver wunderung In dem von Georg Groddeck (* 13.10.1866 in Kösen; † 11.06.1934 in Knonau) geleiteten Sanatorium gehörte die Behandlung chronischer Verdauungserkrankungen zur Tagesordnung. Es ist also nicht erstaunlich, dass Groddeck einige Aufmerksamkeit auf Freuds Backside verwendet.125 1898 verfasste er einen Aufsatz »Verstopfung« zum psychischen Einfluss auf Körperfunktionen, insbesondere in Hinblick auf Analerotik.126 Infolge seiner Beschäftigung mit Psychoanalyse nach dem Ersten Weltkrieg begann Groddeck Verdauung nicht als organischen Prozess, sondern als eine Lebensäußerung des »Es« aufzufassen,
122 | Vgl. Fischer-Homberger, 1990, S. 293. 123 | Freud, Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, (1938), S. 71. 124 | Vgl. ebd. 125 | Das unterstreicht schon der für die Schriften zur psychoanalytischen Psycho somatik gewählte Titel der Werkausgabe: Vom Menschenbauch und dessen Seele. 126 | Hristeva, 2008, S. 207.
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das sich in einer Sprache des Körpers manifestiert.127 Wie Freud ist er davon überzeugt, dass die Darmentleerung die erste Ausdrucksform des Menschen ist, mit deren Hilfe schon Säuglinge ihren Willen ausdrücken.128 Verdauung erscheint bei Groddeck als ein symbolischer Ausdruck, eine Widerstandserscheinung.129 Es gebe keine Verstopfung, die nicht seelisch bedingt wäre.130 Verdauungs- und Verdrängungsvorgänge gingen miteinander einher, Verdrängtes werde vom Platz gedrängt, in andere Form gepresst und umgewandelt, um als Symbol erneut zu erscheinen.131 Zur psychischen Unterdrückung brauche es körperliche Unterstützung: Man solle einmal versuchen, den Gedanken an einen neuen Hut zu unterdrücken, ohne die Bauchmuskeln anzuspannen.132 Die mit der Unterdrückung einhergehende Kreislaufschwankung wirke auf die Organe und setzte dort Prozesse frei, von denen selbst der Gelehrteste nicht das mindeste verstehe.133 Die Wissenschaft werde noch so weit kommen, aus der Form der Entleerungen die Gedanken festzustellen, mit denen sich der Mensch am stillen Ort beschäftigte.134 Die Aktivität des Magens erscheint als Ursprung von emotionalen Mustern, die unsere Handlungen begleiten oder gar motivieren: »Wenn wir lieben, so lieben nicht wir, sondern der Wein, den wir tranken, liebt, wir hassen nicht, sondern der schwere Pudding, der uns im Magen liegt, hasst.«135 Es sei unanständig, aber doch wahr: »Geburt und Entleerung, Kind und Kacke« sind symbolisch ein und dasselbe.136 Ohne die »Millionen kleiner Mikrobenköche« in unserem Darm, »dieser vortrefflichsten Küche«, wäre unser Leben schnell zu Ende.137 Man solle nicht denken, dass alles, was durch den Mund in den Körper gelange, einen Tag später wieder durch den After austrete.138 Verdauung sei keine Umwandlung von Nahrung in Kot, der Mensch keine Hackmaschine, in die oben Fleisch gestopft werde, damit unten die fertige Wurst zum Vorschein 127 | Ganz im Sinne von Freud, der den Darm wie ein hysterisch affiziertes Organ bei der Arbeit »mitsprechen« lässt, s.o., vgl. Martynkewicz, 1998, S. 59. 128 | Vgl. Groddeck, 1926, S. 18. 129 | Vgl. Martynkewicz, 1998, S. 59. 130 | Vgl. Groddeck, 1983, S. 157. 131 | Vgl. Groddeck, 1979, S. 100. 132 | Vgl. ebd., S. 142. 133 | Vgl. ebd. 134 | Vgl. Groddeck, 1921, S. 37; dazu: Hristeva, 2008, S. 386 135 | Zitiert nach Hristeva, 2008, S. 387. 136 | Groddeck, 1933, S. 135f. 137 | Ebd.: Da er die Leistung der Bakterien bei der Verdauung für schwer bestimmbar hält, nimmt Groddeck an, dass ähnliche Verhältnisse vorliegen wie im Ackerbau, wo Mikroben das Wachstum befördern, vgl. Groddeck, 1913. S. 129. 138 | Vgl. ebd., S. 105.
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komme. Wachstum wäre unerklärlich, wenn Speise und Trank zu nichts weiter dienten als zur Füllung des leeren Bauches.139 Grundlegend sei die Umwandlung der Speisen im Darm, die, so seltsam das auch klingen möge, »einen nicht unerheblichen Verstand des Darms« voraussetze.140 »Wir Menschen sind leider sehr oberflächliche und hochmütige Gesellen und erkennen die Arbeit nur an, wenn sie sich wie bei den Möbelträgern durch trinkgeldhungriges Keuchen bemerkbar macht, und Verstand pflegen wir bloß uns selbst zuzutrauen. Aber es wäre doch nützlich, einmal darüber nachzudenken, was aus dem Menschen würde, wenn der Bauch nicht fleißiger und weiser wäre als sein Träger.« 141
In der Speise sei die Nahrung in allen möglichen Hüllen verpackt und mit einer Menge unbrauchbarem Material umgeben, etwa so wie Erz vom Gestein. Wenn Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate, Wasser und Salze aus der Speise herausgelöst werden, so sei das ein höchst komplizierter Prozess, über den wir noch keine volle Klarheit erlangt haben.142 Die Fähigkeit, Speise und Trank bewusst zu genießen, gehört laut Groddeck zum Begriff des harmonisch ausgebildeten Menschen.143 Selbst diejenigen, die mit »richtiger Andacht« und mit »Verstand« essen, brächten aber leicht »dummes Zeug zustande«.144 Wer eine Suppe löffele, Fleisch, Gemüse, Obst, Brot und Käse kaue und dazu noch ein Glas Wein trinke, vergesse oftmals, wie schwer er es seinen Verdauungsorganen damit mache.145 Werden Verdauungssäfte in den Mengen abgesondert, die der Art und Masse der eingeführten Nahrungsstoffe entspricht, so ist das laut Groddeck eine »seltsame Tatsache«, ebenso erstaunlich wie der »Kunstgriff der Natur, durch das Saugen des Kindes an der Mutterbrust Zusammenziehungen der Gebärmutter zustande zu bringen und diese so auf ihre frühern Größenmaße zurückzubringen.«146 Noch ehe wir einen einfachen Mittagstisch mit gesundem Menschenverstand genießen, noch ehe der erste Bissen zum Munde geführt wird, geschehe Wunderbares:147 Die Vorrichtungen zur Verdauung von Fleisch, Sauce, Blumenkohl, Kartoffeln, Salz, Obst, Butter, Käse und Brot werden getroffen. Allerdings sei es verfehlt, von einfachem Essen zu sprechen, 139 | Vgl. ebd., S. 108. 140 | Ebd., S. 120. 141 | Ebd. 142 | Vgl. ebd., S. 121. 143 | Vgl. ebd., S. 124. 144 | Ebd., S. 122. 145 | Vgl. ebd. 146 | Ebd., S. 187. 147 | Vgl. ebd., S. 122.
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wenn Tagelöhner heute Kirschen, Weißbrot, Zucker, Kaffee, Tee und Kartoffeln auf dem Tisch haben könnten, also Leckerbissen, nach denen die Cäsaren Roms vergeblich verlangt hätten.148 Aber wozu sollten wir heute so einfach bzw. schlecht essen wie die Menschen im Altertum und ein Fastengelübde für alles ablegen, was gut schmeckt?149 »Wer gesund ist, kann und soll essen, was und wie viel er will. Für ihn ist die Frage, ob etwas bekömmlich ist oder nicht, leicht oder schwer verdaulich, einfach oder raffiniert, ganz gleichgültig. Er verdaut zur Not auch Kieselsteine; er soll nicht einfach leben, sondern frei.« 150
Ein tüchtiger Chemiker hätte wohl lange zu tun, um die verdauungsförderlichen Mengenverhältnisse zu errechnen, aber der Verdauungsapparat reagiere prompt.151 Noch ehe wir eine Serviette ausbreiteten, beginne die »Verdauungsarbeit mit Absonderung von Speichel«, wenn uns das Wasser im Munde zusammenfließe.152 Und nun gehe es in ununterbrochener Folge weiter: »so und so viel Labferment, so und so viel Pepsin, so und so viel Salzsäure; die Leber hat diese Menge Galle zu liefern, die Bauchspeicheldrüse jene Menge ihres Safts, für die Darmdrüsen bleibt das zu tun übrig; und die Wände sollen sich darauf einrichten, nachher so und so viel Eiweiß, Fett, Kohlehydrate, Salz und Wasser aufzusaugen. Sie sollen sich in acht nehmen, nicht zu eilig trinken, es ist Wein dabei; für die Fortschaffung der Reste hat sich die Darmmuskulatur bereitzuhalten. Ist es denn ein Wunder, wenn dem Organismus dabei Irrtümer unterlaufen, wenn er zu viel oder zu wenig absondert?« 153
Nein: »dass der Irrtum so selten vorkommt, das ist ein Wunder«.154 Was wollen wir mehr anstaunen, den großartigen Apparat der Verdauung, der seine Aufgaben löst, oder die aufgeblasene Narrheit von Menschen, die das alles als selbstverständlich hinnehmen?155
148 | Vgl. ebd., S. 125. 149 | Vgl. ebd. 150 | Ebd. 151 | Vgl. ebd., S. 123. 152 | Ebd. 153 | Ebd., S. 123f. 154 | Ebd. 155 | Vgl. ebd.
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Mayrs Frieden Auch der Gastroenterologe Franz Xavier Mayr (* 28.11.1875 in Gröbming, † 21.09.1965 ebd.) lobt die wunderbaren Wirkungen der Verdauung auf Körper, Geist und Welt. Ausgehend von der Funktion der inneren Verdauungsorgane beschreibt er den Einfluss der Verdauung auf unser äußeres Erscheinungsbild, insbesondere auf die Haut, aber auch auf Mund, Nasenhöhle, Auge, Durchblutung, Skelett, Zeugungslust und -fähigkeit und das Aussehen unserer eventuellen Nachkommenschaft. Die Hoffnungen, die Mayr mit gesunder Verdauung verbindet, gehen sicher viel zu weit. Gerade Mayrs Rückführung des Begriffs der Schönheit auf gesunde Verdauung ist sehr unbefriedigend.156 Nichtsdestoweniger unterstreicht Mayr zu Recht die Bedeutung der Verdauung für die Formung unserer Selbstbilder, insbesondere in ästhetischer Hinsicht. Mayr bezeichnet Verdauungsstörungen als Volkskrankheit: Unter Hunderten gebe es kaum einen Menschen, »der sich mit Recht rühmen könnte, einen normalen Verdauungsapparat zu besitzen.«157 Die verbreiteten Probleme entstünden schon im Kindes- und Säuglingsalter.158 Insbesondere ungenügende Verdauungsaktivität des Dünndarms sei folgenreich, »denn es gibt nichts an unserem Äußeren und unserem Inneren, das nicht sie dem Grade ihrer Ent156 | Mayrs Tendenz zur Annahme allgemein verbindlicher Kriterien für ›Schönheit‹ ist problematisch, erinnert sei nur an Kants Bemerkungen zu den universellen Ansprüchen von Geschmacksurteilen. Mayr erkennt das Problem wohl auch selbst, insofern er zugesteht, dass sich über die Schönheit nicht streiten lässt, insoweit es sich um Kunstprodukte handelt. Mayr, 1951, S. 9. Nichtsdestoweniger begibt er sich auf unsicheres, ja politisch gefährliches Terrain, wenn er vom Standpunkt des Naturforschers oder des Arztes aus versucht, den Begriff der Schönheit für Produkte der Natur streng zu umgrenzen, um nur das als schön zu bezeichnen, »was normal, gesetzmäßig, ebenmäßig bzw. gesund ist.« Ebd. Der Begriff ›Schönheit‹ solle sich mit dem der ›Gesundheit‹ decken. Die Ursache der kategorialen Vermischung der Werte durch Mayr scheint klar: Die von ihm beobachteten Folgen von Verdauungsstörungen – Wölbung der Bauchwand, Mitesser, Doppelkinn, Zahnstein etc. – werden im aktuellen Wertekanon ja tatsächlich oft als hässlich empfunden. Das rechtfertigt aber nicht die Verwechslung ›volkstümlich‹ anmutender Ansichten zur Gesundheit mit allgemeinen Maßstäben menschlicher Schönheit. Nichtsdestoweniger werfen Mayrs Bemerkungen Licht auf Bezüge zwischen Verdauung und Schönheitsidealen, die uns in ähnlicher Form schon in altägyptischen Vorstellungen zur persönlichen Erscheinung vor den Göttern begegnen. Der Zusammenhang zwischen Verdauung und Schönheit ist vielfältig, zur Klärung gehört sicher mehr als ärztliche Einsicht. 157 | Ebd., S. 155. 158 | Vgl. ebd., S. 155ff.
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wicklung entsprechend eine Entartung, eine Entstellung unseres Äußeren und unseres Verhaltens erfährt.«159 Weit verbreitet sei sie obendrein, »schwer nämlich leiden darunter schon alle Menschen, die ihren After nach jedem Stuhlgang künstlich reinigen müssen.«160 Kein Mensch sei so schön, wie er sein könnte, aber es sei tröstlich zu wissen, dass es keinen Menschen gebe, der nicht mit der Bekämpfung seiner Darmträgheit »die Schönheit seines Körpers, seines Geistes und seiner Seele merklich zu bessern«161 in der Lage sei. Die Verbesserung unserer Verdauungstätigkeiten betrifft bei Mayr nicht nur die individuelle Schönheit, sondern auch die Leistungsfähigkeit ganzer Völker: »Durch die systematische ganz allgemeine Bekämpfung der Verdauungsstörungen lässt sich die Leistungsfähigkeit eines Volkes um ein Drittel steigern und sein Lebensmittelbedarf um ein Drittel vermindern.«162 »Die Verdauungsstörungen trüben wie der Alkoholismus die Urteilskraft und entfesseln alle bösen Leidenschaften und Triebe, bringen Unfrieden und Unrecht in die Welt und füllen die Irren- und Gefangenenhäuser.«163 Eingedenk der politischen Situation in Österreich nach der Niederschlagung der Nazi-Diktatur fordert Mayr von allen, die »zum Kriege gehetzt und gedrängt haben«, sich in den Dienst des Kampfes gegen die Störungen der Verdauung zu stellen, die er als einen »neuen Weltbrand« und »Feind aller Nationen« bezeichnet, denn wer hätte »an diesem Feind nichts zu rächen und möchte nichts gewinnen?«164 »Welche Mutter möchte säumen, wenn es gilt, ihrem Liebling Schönheit und Reichtum zu sichern?«165 Wie schon betont erhofft sich Mayr viel vom Kampf gegen schlechte Verdauung: Radikale Entbürokratisierung, Entpolitisierung und Entmilitarisierung der Bürger aller Kulturstaaten, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Abbau der Zollschranken, Steuerentlastung, Entmachtung des Kapitals, Ende der Klassenkämpfe, Reduzierung aller wirtschaftlichen, sozialen, politischen Nöte, auch des Krieges.166 »Videant consules!167 Seht zu, Ihr Minister für Volksgesundheit, Ihr alle, gar viel steht für jeden von Euch auf dem Spiel! Ich sehe eine Menschheit heranwachsen von noch un159 | Ebd., S. 175. 160 | Ebd. 161 | Ebd. 162 | Ebd., S. 167. 163 | Ebd., S. 161. 164 | Ebd., S. 181. 165 | Ebd. 166 | Vgl. ebd., S. 269. 167 | ›Die Konsuln mögen darauf sehen, dass der Staat keinen Schaden erleidet‹: Die römische Phrase bezieht sich geschichtlich auf die Stärkung der Konsulare und den Übergang der Republik zur Diktatur.
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Vom Geist des Bauches gekannter, kaum geahnter Schönheit des Körpers, des Geistes und der Seele! Ich sehe eine neue Erde!« 168
Wir brauchen nicht zu erwarten, dass die Behebung von Verdauungsstörungen unsere Probleme und die der Welt beseitigen wird, um zu erkennen, dass ›gesunde‹ Verdauung nicht nur ästhetische Werturteile erleichtern kann. Verstehen wir Verdauung als einen Aspekt der ›schönen Natur‹, die wesentlich zur Entwicklung des Begriffs der ›ästhetischen Kunst‹ beiträgt,169 so ist sie sicher ein Mittel, um neben der ökologischen Umwelt auch unserer psychisches Befinden zu bereichern.
Horneys Neid Laut Karen Horney (* 16.09.1885 in Blankenese; † 4.12.1952 in New York) sind nicht alle lustvollen Körpergefühle von Natur aus sexuell.170 Libidinöse Lust umfasse neben zwischenmenschlichen Kontakten auch die organische Freude an Muskelbewegungen, an Hautreizen, am Saugen, am Verdauen und am Ausscheiden.171 Dass es eine Reihe von Faktoren gebe, die sexuelle Erregung auslösen können, bedeute nicht, dass alle diese Faktoren sexuell seien.172 Horney begründet das insbesondere in Hinblick auf digestive Lust. Die Zufriedenheit eines gestillten Säuglings erinnere wohl an die Zufriedenheit eines genital befriedigten Erwachsenen, aber die körperliche Lust lasse sich nicht im gleichen Sinne auf sexuelle Befriedigung zurückführen.173 Freud habe ganz richtig bemerkt, dass sexueller Appetit und nicht-sexuelles Verlangen mitunter alternieren.174 Personen, die sich mit Nahrung und Verdauung beschäftigen, hätten häufig nur geringes Interesse an Geschlechtsverkehr. Wenn sich sexuelle und digestive Lust gegenseitig ersetzen können, so folge daraus nicht ohne weiteres, dass es sich um ein und denselben Antrieb handle.175 Es sei nicht entscheidend, ob nicht-sexuelle Antriebe letztlich ein ent-sexualisierter Ausdruck sexueller Antriebe seien: Auch Menschen mit höchst erhaben Gefühlen und noblen Aktivitäten dienten doch ihren Meistern, den Instinkten.176 Gerade in Hinblick auf instinktives Geschlechtsverhalten ergänzt Horney das psycho168 | Mayr, 1951, S. 291. 169 | Vgl. Seel, 1991. 170 | Vgl. Horney, 1947, S. 50. 171 | Vgl. ebd. 172 | Vgl. ebd., S. 52. 173 | Vgl. ebd., S. 51. 174 | Vgl. ebd., S. 52. 175 | Vgl. ebd. 176 | Vgl. ebd., S. 55f.
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analytische Verständnis der symbolischen Bindungen zwischen Penis, Kind und Kotstange um wesentliche Aspekte, insbesondere um eingehende Überlegungen zum weiblichen Bauch. Freuds Erklärungen zum Penis-Neid versteht Horney im Rahmen ihrer Überlegungen zur Schwangerschaft als Ausdruck eines phalluszentrierten Denkens. Gebärmutter-Neid, bzw. Neid auf »Schwangerschaft, Gebären und Mutterschaft sowie auf Brüste und Stillen«177 erscheint bei ihr als eine zumindest gleichwertige Kraft.178 Mit ihren Ausführungen zur Gebärmutter als einem Symbol weiblicher Identität unterstreicht sie die besondere Bedeutung des Bauches für geschlechtsspezifische Entwicklungen. Hinter der gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen stehe weniger eine durch Fehlen des Penis verursachte Minderwertigkeit als ein Wille zur Minderung weiblicher Macht der Frau über Leben und Tod. Ich habe bereits ausgeführt, dass Freud die Freude der Bäuche an Füllung zugunsten ihrer Freude an Auffüllung vernachlässigt. Das unterstreicht Horney in Hinblick auf weibliche Bäuche, in digestiver und in sexueller Hinsicht. Das Unheimliche der weiblichen Bäuche führt sie auf die Fähigkeit zum Schenken von Leben zurück. Ausgehend von dieser »mysteriösen« Fähigkeit entwickle sich ein Gebärmutterneid, der sich mitunter auch auf weibliche Brüste und die Fähigkeit zum Stillen beziehe und zur Abwertung der Mutterschaft als Behinderung führen könne.179 Den Beleg für das Auftreten von Gebärmutterneid findet sie bei Freud selbst: »Viele Menschen wissen deutlich zu erinnern, wie intensiv sie sich in der Vorpubertätszeit für die Frage interessiert haben, woher die Kinder kommen. Die anatomischen Lösungen lauteten damals ganz verschiedenartig: sie kommen aus der Brust oder werden aus dem Leib geschnitten oder der Nabel öffnet sich, um sie durchzulassen. An die entsprechende Forschung der frühen Kinderjahre erinnert man sich nur selten außerhalb der Analyse; sie ist längst der Verdrängung verfallen, aber ihre Ergebnisse waren durchaus einheitliche. Man bekommt die Kinder, indem man etwas Bestimmtes isst (wie im Märchen), und sie werden durch den Darm wie ein Stuhlabgang geboren. Diese kindlichen Theorien mahnen an Einrichtungen im Tierreiche, speziell an die Kloake der Typen, die niedriger stehen als die Säugetiere.« 180
Wenn Jungen angesichts des geschwollenen Bauches der schwangeren Mutter zu der Auffassung gelangen, dass Säuglinge aus dem Verdauungstrakt über den Anus in die Welt gelangen, so können sie dadurch ihren Glauben daran bewahren, selbst einmal schwanger zu werden und ein Baby zu entbinden. Die 177 | Ebd., S. 226. 178 | Vgl. Gerrig u. Zimbardo, 2008, S. 521. 179 | Horney, 1967, S. 60, auch 141. 180 | Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, (1905d), S. 96.
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Enttäuschung über die eigene Unfähigkeit zur Schwangerschaft verarbeiten Jungen durch die Phantasie einer Schwangerschaft der Mutter.181 Die kindliche Beziehung zur Mutter sei zunächst auf die Versorgung mit Nahrung aufgebaut, die das Kind direkt oder indirekt von der Mutter erhält. Für das Kind liegt die Annahme nahe, dass nicht nur die eigene Ernährung, sondern auch die reproduktive Befruchtung über den Mund erfolgt. So wie Nahrung aus der Brust der Mutter in den Mund des Kindes gelangt, erreicht sie in der kindlichen Vorstellung auch den Fötus über den Mund. Diese Phantasie erkläre die Befriedigung bei der Produktion von Kot, denn wenn eine Füllung des Bauches mit Nahrung durch den Mund möglich ist, dann kann bei entsprechender Befruchtung ein Baby anal produziert werden.182 Gäbe es keinen Gebärmutterneid, so wäre Freuds ›Kloakentheorie‹ laut Horney unnütz. Horney erkennt die Bedeutung der Verdauung für die Entwicklung der Sexualität und weist auf eine spezifisch männliche Schwierigkeit beim Verständnis dieser Bedeutung hin. Wenn die Fähigkeit zur Schwangerschaft Männer zu neidischer Verachtung weiblicher Bäuche führen kann, so könnte dieser Neid, im Verlauf der männlich geprägten Begriffsgeschichte, das Bild des Bauches im Allgemeinen geprägt haben, sozusagen als Nebenwirkung eines ursprünglichen Gefühls des Mangels. Der Ursprung der Gastrophobie wäre somit in der Unfähigkeit zur Schwangerschaft zu suchen. Gegen eine Zuspitzung der Bauchfeindlichkeit auf rein geschlechtliche Motive spricht allerdings, dass sich die Verachtung von Gebärmutter und Magen aus ähnlichen Quellen speist.183 Platon ist ein Kronzeuge: Die Gebärmutter hält er für ein gieriges Tier, dass Unfruchtbarkeit nur mühsam ertrage.184 Die Psychoanalyse bestätigt somit, was 181 | Vgl. Soros, 1998, 11ff. 182 | Vgl. ebd. 183 | Mit der Verachtung des unkontrollierten Appetits der Verdauungsorgane vermengt sich frühzeitig die Verachtung der Gebärmutter. Hinweise auf gemeinsame Ursprünge der Herabsetzung bietet etwa das Alte Testament (siehe Abschnitt I dieser Arbeit). Als Organ der Fruchtbarkeit wird die Gebärmutter ähnlich behandelt wie der Bauch im Allgemeinen und die Organe der Verdauung im Besonderen. Vgl. Buse, 2002, S. 130. Dass göttliche Barmherzigkeit mitunter über das Innere bzw. den Bauch in die Welt gelangt, lässt sich mit Recht als ein Anzeichen für Gottes Mutterschaft deuten. Vgl. Halkes, 1980, S. 58. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass die Mutterschaft Gottes ohne Bezug auf andere Ereignisse im Bauch verstanden werden muss. Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der lebensspendenden Kraft der Gebärmutter und anderen Organen im Inneren des Bauches legen einen unmittelbaren Bezug zwischen Geschlechts- und Verdauungsorganen nahe, der sich auch auf Veränderungen der Verdauungsgewohnheiten bei Schwangerschaft beziehen lassen könnte. 184 | Vgl. Platon, Timaios, 91c-d. Platons Höhle wurde als Abbild der Gebärmutter interpretiert und der Tunnel, der aus ihr herausführt, als Vagina. Vgl. Irigaray, 1974.
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ohnehin offensichtlich schien: Der männlich geprägte Mainstream der abendländischen Kultur verachtet die Lust des Bauches in sexueller und digestiver Hinsicht. Dabei besteht dringender Verdacht, dass sexuelle Diskrimination nicht nur den Blick auf weibliche Bäuche, sondern auch die verbreitete Unzufriedenheit zwischen Geist und Bauch motiviert. Horney untermauert diesen Verdacht mit den Mitteln der Psychoanalyse. Die Fähigkeit zur Mutterschaft erklärt sie zum Ursprung weiblicher Macht und physiologischer Überlegenheit.185 Das psychologische Defizit-Modell der Weiblichkeit erscheint damit als hinfällig. Im Unbewussten der männlichen Psyche spiegele sich weibliche Überlegenheit wieder, etwa beim Auftreten des Mutterschaftsneids bei Jungen. Das männliche Verlangen nach sexuellem Austausch mit Frauen gehe mit einer diffusen Furcht vor weiblichen Genitalien einher.186 Das »Unheimliche, Unbekannte, Rätselhafte« beziehe sich auf das »Mysterium der Mutterschaft«187 und sei ein Objekt von Kastrationsangst, nicht nur aufgrund des fehlenden Penis, sondern aufgrund der mit Blut und insbesondere mit Mens-truationsblut verbundenen Vorstellungen.188 Zur Erklärung der gegen schwangere Bäuche gerichteten sadistischen Triebe greift Horney Freuds Erklärungen zu den von Müttern für ihre Söhne erlassenen Triebverboten auf.189 Wirkungsvoll ist laut Horney aber auch die Angst der Söhne, der mütterlichen Vagina nicht gerecht werden zu können. Laut Horney fühlen die Söhne instinktiv, dass ihr Penis viel zu klein für das mütterliche Genital ist.190 Darauf reagieren sie mit der Angst, abgewiesen oder ausgelacht zu werden. Die Angst der Jungen vor Weiblichkeit sei anders gelagert als die Angst von Mädchen, bei denen der Wunsch zu empfangen mit Ängsten vor einem übergroßen väterlichen Phallus einhergehe.191 Laut Horney ist die männliche Angst vor Frauen keine Kastrationsangst, sondern eine Reaktion auf die Bedrohung des Selbstgefühls.192 Aufgrund der Furcht vor den mütterBei Aretäus erscheint die Gebärmutter als ein fast beseeltes Eingeweide, das sich wie ein Wesen im Wesen verhalte, vgl. Aretäus, 1838, 39ff. Trotz lebhaftem Widerspruch gegen diese Auffassung, insbesondere auch durch Galen, bleibt die Vorstellung eines im Körper herumwandernden Organs bis in das Mittelalter und die Neuzeit hinein vertreten: Die Gebärmutter wird wie eine Kröte in einer feuchten Körperhöhle imaginiert, vgl. Buse, 2002, S. 144. 185 | Vgl. Horney, 1932, S. 7. 186 | Vgl. Horney, 1927, S. 226. 187 | Horney, 1932, S. 13. 188 | Vgl. ebd., S. 7. 189 | Vgl. Horney, Die Angst vor der Frau, 1932, S. 13. 190 | Vgl. ebd. 191 | Vgl. ebd. 192 | Vgl. ebd.
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lichen Geschlechtsorganen ziehe sich die Libido des Sohnes von der Mutter zurück, um sie auf seinen eigenen Penis zu konzentrieren, Freuds phallische Phase nehme hier ihren Ausgang.193 Die Mutter könne im Unterbewusstsein ihrer Söhne einen Schrecken hervorrufen, der sich aus ihrer Omnipotenz ergebe.194 Die Einstellungen werdender Männer zu Frauen gewönnen Form, die Verletzung ihres kindlichen Egos motiviere Männer mitunter zur Revanche, die sich als Wunsch zur Schwächung des weiblichen Selbstbewusstseins äußere.195 Die Entstehung und Zeugung neuen Lebens wird unbewusst mit der Vorstellung in Verbindung gebracht, dass der Mann seinen Phallus in der Vagina verliert, wobei die Frau ein Kind in ihrem Bauch gewinnt.196 Mit der Angst des Mannes vor Vagina und Uterus trifft Horney einen wunden Punkt im geistigen Haushalt: Die Angst vor den »Gefahren der Tiefe«.197 Dass die Ursprünge dieser Angst sich nicht allein auf weibliche Höhlen beziehen können, scheint offensichtlich: In der Angst vor der wilden Gewalt erdiger Spalten und dem eigenen Ende in den dunklen Höllenräumen des feuchten Fleisches vereinen sich digestive und sexuelle Ängste. So unterschiedlich uns die Funktionen von Sexualität und Verdauung auch erscheinen mögen, sind sie doch jeweils Ursprung von Gefühlen der Lust und Unlust, aus denen heraus sich der Unwille gegenüber Bäuchen speist. Die Ablehnung der Freude an Schwangerschaft erscheint hier als ein konstitutiver Akt der Ablehnung gastraler Fülle im Allgemeinen, eng verbunden mit der Ablehnung digestiver Freude, eine Koppelung, die in der abendländischen Philosophie schon bei Pythagoras auftritt und seitdem verschiedentlich aktualisiert worden ist. Es scheint müßig, darüber zu spekulieren, ob die asketische Beschränkung sexueller Freude der asketischen Beschränkung digestiver Freude vorhergeht oder umgekehrt. Schwer zu bestreiten ist die Bedeutung gastraler Fülle und Leere für die Entwicklung von Macht. Das Vorrecht bei der Füllung des Magens findet eine sexuelle Entsprechung in dem auf den Penis projizierten Vorrecht zur Befruchtung, das als Instrument der Herrschaft über die Füllung weiblicher Bäuche kultische Bedeutung erlangt. Die Verunglimpfung voller Bäuche ist ein Mittel zur Disziplinierung freier Lustentfaltung.198
193 | Vgl. ebd., S. 14f. 194 | Vgl. Chasseguet-Smirgel, 1970, S. 112f. 195 | Vgl. Horney, 1966, S. 95, 553. 196 | Männliche Schwierigkeiten bei der Vorstellung der Vagina als Quelle der Lust und des Lebens könnten ihren Ursprung in der Entwicklung von Techniken haben, die Unabhängigkeit gegenüber »ausschließlich natürlichen Produktionsmitteln« erlauben. Vgl. Boehm, 1966, S. 146FN. 197 | Horney, 1932, S. 5. 198 | Siehe unten im Abschnitt die Erklärungen von Foucault.
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Wenn der Begriff des Gebärmutter-Neids nicht in derselben Weise gebräuchlich geworden ist wie der des Penis-Neids, legt das nahe, dass frauenfeindliche Haltungen auch in der Psychoanalyse nachwirken.199 Wir brauchen aber nicht die Geschichte der Psychoanalyse neu zu schreiben, um zu zeigen, dass Sexualität und Verdauung gerade im Fall von Schwangerschaft in mehr oder weniger lustvoller Weise zusammenwirken.200 Offensichtlich handelt es sich hier nicht um Zusammenhänge, die einem einfachen Ursache-Wirkungs-Schema folgen. Beim Zusammenspiel zwischen sexuellen und digestiven Gewohnheiten scheint einerseits alles ganz einfach, andererseits geraten wir leicht in die Enge, wenn es gilt, das Zusammenspiel zu erklären. Das bedeutet aber nicht, dass wir kein Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren Höhlen entwickeln können, die sich in unserem Verhalten spiegeln. Im Gegenteil: Das Geschehen zwischen Mund, Anus und Genitalien wirkt nicht nur auf unsere Persönlichkeit, sondern auch auf die kulturellen Umstände, in denen sich das Leben in einem sehr allgemeinen Sinne entwickelt. Die Zusammenhänge zwischen der Wertschätzung von Geschlechts- und Verdauungsorganen mögen uns komplex erscheinen, aber gerade auch deshalb ist die Entwicklung passender Umgangsformen mit Bäuchen eine spannende Herausforderung.
Perls Zähne Fritz Perls (* 8.07.1893 in Berlin; † 14.05.1970 in Chicago) erweitert Freuds Ansatz um dentale Aspekte. Nach seiner Auffassung steht die Bedeutung des 199 | Vgl. Demoy, 1988. Die Annahme, dass Frauen zu hysterischem Verhalten neigen, wenn es ihnen nicht gelingt, ihren Penisneid zu überwinden, indem sie den Übergang von der kindlichen und der klitoralen zur vaginalen Lustempfindung finden, wirkt bis heute. Vgl. Weickmann, 1997, S. 124. Zur Aufrichtung psychoanalytischer Dogmatisierung des Penis-Neides trug Freud selbst entscheidend bei, etwa mit folgender Bemerkung, die direkt auf Horney zu zielen scheint: »So wird man sich nicht zu sehr verwundern, wenn eine Analytikerin, die von der Intensität ihres eigenen Peniswunsches nicht genug überzeugt worden ist, dies Moment auch bei ihren Patienten nicht gehörig würdigt.« Freud, Abriss der Psychoanalyse, (1940), S. 58. 200 | Die Veränderungen der Nahrungsgewohnheiten schwangerer Frauen sind legendär. Psychologisch bemerkenswert sind aber auch die gastralen Veränderungen bei männlichen Partnern schwangerer Frauen. Aufsehen erregt insbesondere das »Couvade Syndrome« bzw. die »Sympathy Pains«, eine psychosomatische Erscheinung, die mit Symptomen wie Bauchschmerzen, Ekelgefühl, Erbrechen, Schlaflosigkeit, oszillierendem Appetit, Gewichtszunahme, Verstopfung, Durchfall, Kopf-, Zahn- und Rücken schmerzen sowie Hautreizungen einhergehen kann. Vgl. Wessel, 1982, dazu Kiefer, 20.02.2015.
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Hungers und der Nahrungszerkleinerung als lebenserhaltende Qualität der Bedeutung sexueller Triebbefriedung in nichts nach. Die Kopplung von Hunger und Aggression sei schwerlich auf rein sexueller Grundlage erklärbar. Die Quelle der Aggression verortet er weder in der analen Zone noch im Todestrieb, sondern in Entwicklung und Gebrauch des Zahnwerkes. Dahinter stecke die Lust an vermehrter Darmtätigkeit, die mit ihr verbundene Hyperacidität und Steigerung des geistigen Stoffwechsels.201 Wenn ein Hund nach einer Wurst schnappe, so folge er weniger einem Genitaltrieb als dem schlichten Verlangen nach Einverleibung von Nahrung.202 In polemischer Absicht fragt Perls, ob Rotkäppchens Wolf die Großmutter aus Lust und Liebe verspeiste, oder ob ein Verlangen nach Sättigung nicht doch eine gewisse Rolle gespielt haben könnte.203 Für Perls bleibt der ›richtige‹ Umgang mit der Verdauung über die Kindheit hinaus ein entscheidender Faktor für unsere psychologische Entwicklung. Wer Defäkation als lästig empfinde und seine Eingeweide zu unbedingtem Gehorsam zwänge, der missbrauche seine Ich-Funktion, die bei geringstem Energieaufwand ein Höchstmaß an organischer Funktionstüchtigkeit sichern solle.204 Das Grundmuster der von Pearls geprägten Gestalttherapie orientiert sich an der Aufnahme von Nahrung und ihrer Assimilation, die als Zweck des Handelns gilt.205 Das Nahrungsmittel werde kauend zerstört, geschluckt und im Magen verdaut, also den Bedürfnissen des Organismus entsprechend umgewandelt bzw. derart mit ihm ›verähnlicht‹, dass es dem Wachstum und der Erhaltung der Person dienen könne. Aber nicht alle Nahrung könne richtig verdaut und assimiliert werden, um zu einem Teil des Organismus zu werden. Was »schwer im Magen liegt«206 seien Introjekte, die man bemerken und wieder von sich geben könne. Werden die Introjekte nicht aus dem ›System‹ ausgestoßen, wird ein Unbehagen unterdrückt, auch Übelkeit und die Neigung zum Ausspucken.207 Es könne der Verdauung zwar gelingen, ein Introjekt zu bewältigen, der Vorgang sei aber mühevoll und könne zu Vergiftungen führen. Zur Vermeidung von Introjekten sei gute dentale Zerkleinerung dienlich. Geistige Verdauungsschwierigkeiten behandelt die Gestalttherapie in enger Anlehnung an organische Verdauungsschwierigkeiten: 201 | Vgl. Perls, 1969, S. 158. 202 | Vgl. ebd., S. 140. 203 | Vgl. ebd., S. 159. 204 | Vgl. ebd., S. 176. 205 | Vgl. Perls, Hefferline u. Goodman, 2013, S. 213. 206 | Ebd. 2013, S. 210. 207 | Vgl. ebd.
Unterscheidungen »Wo es nicht um körperliche Nahrung geht, sondern Begriffe, ›Fakten‹ oder Verhaltensnormen, ist die Situation die gleiche. Eine Theorie, die du beherrschen gelernt, in ihren Einzelheiten verdaut und dir zu Eigen gemacht hast, kann flexibel und wirksam gebraucht werden, weil sie dir zur ›zweiten Natur‹ geworden ist. Eine ›Lehre‹ dagegen, die du als Ganzes geschluckt hast, ohne sie zu verstehen – zum Beispiel weil sie von einer ›Autorität‹ kommt –, und die du nun anwendest, als ob sie dein eigen wäre, ist ein Introjekt. Obwohl du das anfängliche Befremden über das, was da in dich hineingezwungen wurde, unterdrückt hast, kannst du dieses fremdkörperhafte Wissen nicht wirklich gebrauchen; und in dem Maße, wie du dir die Persönlichkeit mit hinuntergewürgten Bissen von diesem und jenem verstopft hast, hast du deine Fähigkeit, aus eigenem Antrieb zu denken und zu handeln, geschädigt.« 208
Pearls Annahme des engen Bezugs zwischen organischen und psychischen Prozessen unterstreicht das Interesse an gut verdaulichen Nährstoffen für Körper und Gedanken.
Winnicotts Säuglinge Auch Donald W. Winnicott (* 7.04.1896 in Plymouth; † 28.01.1971 in London) bestätigt den Wert der Verdauung für die psychische Entwicklung. In seinen Erklärungen zur Ernährung von Säuglingen stellt er physikalische und biochemische Erkenntnisse der Wissenschaft den Gefühle und Beobachtungen von Personen gegenüber.209 Der Einfluss der im Säuglingsalter erworbenen Verdauungsgewohnheiten prägt laut Winnicott die weitere psychische Entwicklung einer Person.210 Für ihn ist das Stillen ein Vorgang zwischen Mutter und Säugling, der als eine besondere Form einer Liebesbeziehung zu verstehen ist. Die befriedigende Entwicklung der affektiven Beziehungen sei eng an die 208 | Ebd., S. 210f. 209 | Vgl. Winnicott, 2002, S. 33. 210 | Griffig formuliert erscheint Winnicotts Position bei Enders: »Darm und Hirn arbeiten schon sehr früh zusammen. Die beiden entwerfen einen großen Teil unserer ersten Gefühlswelt als Säuglinge. Wir lieben wohlige Sattheit, verzweifeln über Hunger und quälen uns quengelnd mit Blähungen herum. Vertraute Personen füttern, wickeln und machen Bäuerchen mit uns. Als Babys besteht unser ›ich‹ stark fühlbar aus Darm und Hirn. Wenn wir älter werden, erfahren wir die Welt immer mehr mit allen Sinnen. Wir weinen dann nicht mehr lauthals, wenn im Restaurant das Essen schlecht ist. Die Verbindung von Darm und Hirn ist allerdings nicht plötzlich weg, sondern nur deutlich verfeinert. Ein Darm, der sich nicht gut fühlt, könnte uns jetzt subtiler aufs Gemüt drücken, und ein gesunder, wohlernährter Darm unsere Stimmung diskreter verbessern.« »Die erste Studie über die Auswirkung von Darmpflege auf gesunde menschliche Hirne wurde 2013 veröffentlicht.« Enders, 2014, S. 138.
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Entwicklung des Stillens gebunden, die Funktion der Verdauung sei Teil der Freude, die sich aus der gelingenden Beziehung zwischen Mutter und Kind ergebe.211 Diese Freude sei mitunter so stark, dass es schwierig werde, sie zuzulassen. Die Trennung zwischen Mutter und Kind nach der Geburt, die Einschränkung des Hautkontakts während des Stillens und die Reglementierung der Stillzeiten – oft noch bevor das Baby eine Vorstellung einer Welt außerhalb seiner Bedürfnisse entwickelt – seien Ausdruck eines modernen Puritanismus, den Winnicott strikt zurückweist. Die gelingende Beziehung zwischen Mutter und Kind sei nicht nur die Grundlage der Beziehungen zwischen Kind und Vater, sondern auch derjenigen zu anderen Menschen und letztlich aller sozialen Beziehungen. Einer derart komplizierten menschlichen Angelegenheit sei simple Reglementierung nicht angemessen. Anstelle strikter Regeln fordert Winnicott Vertrauen in eine ›natürliche‹ Entwicklung. Das Baby kenne sich gut aus mit der Milch in seinen Mund,212 mit ihrem Geschmack und mit den befriedigenden Gefühlen, die sie verursache. Dieses Gefühl gehe zwar nach dem Schlucken der Milch vorbei, damit sei aber nicht alles verloren, denn Babys hätten auch eine Idee ihres Magens!213 Winnicott beschreibt den Babymagen als einen komplizierten Muskel mit der wunderbaren Fähigkeit, genau das zu machen, was Mütter für ihre Babys tun: nämlich sich an neuartige Gegebenheiten anzupassen. Ergänzen wir mit Dimitri Dourdine, dass ein Baby weit mehr ist als ein Verdauungsschlauch oder gar ein Auto-Tank, den es nach einer bestimmten Anzahl von Kilometern zu füllen gilt!214 Wechselnder Appetit gehe einher mit wechselnden Tageszeiten.215 Wenn sich das Baby gut fühle, arbeite auch sein Magen gut. Er passe sein Volumen an die geschluckte Milch an. Sei ein Baby aber leicht erregt, so habe sein Magen mitunter Schwierigkeiten bei der Anpassung. Das Baby stößt dann auf. Eine Notwendigkeit dazu gibt es laut Winnicott nicht. Mütter, die von ihrem Kind ein Bäuerchen erwarteten oder gar durch Rückenklopfen u. ä. ein Aufstoßen provozierten, zwängten dem Kind ihre eigenen Ideen (oder noch schlimmer: die Ideen Dritter) auf. Wenn die Phase ›Nahrungsaufnahme‹ endet und die Verdauung einsetzt, sei es gut, wenn das Baby Ruhe hat. Wenn das Baby sich gut fühle, liege es entspannt da und scheine nach innen zu schauen. Weil das Blut verstärkt den aktiven Teil seines Körpers durchströme, erfahre der Magen ein angenehmes Wärmegefühl und das Baby ein Gefühl des Wohlbefindens. Störungen dieses Zustands sollten vermieden werden, weil sie zu Unzufriedenheit, Erbrechen 211 | Vgl. Winnicott, 2002, S. 34. 212 | Vgl. ebd., S. 43. 213 | Vgl. ebd. 214 | Vgl. Dourdine-Mak, 1997, S. 6. 215 | Vgl. ebd., S. 2.
Unterscheidungen
oder einem zu schnellen Durchgang der Nahrung durch den Magen führen könnten.216 Die Nahrungsaufnahme ende nicht mit dem Schließen des Mundes, sondern ihrer Annahme durch den Magen. Gehe alles gut, dann ende die Nahrungsaufnahme mit Lachen und Blubbern. Die Verdauung schreite fort, die Nahrung werde in den Blutkreislauf überführt.217 Laut Winnicott bleibt dieser Prozess der Überführung für das Baby weitgehend »mysteriös«. Zum einen ist diese Feststellung zwar evident, denn das Selbstbewusstsein des Babys ist ja noch zu schwach, um ein Verständnis für seine eigenen Bauchgefühle zu entwickeln. Zum anderen ist sie aber fragwürdig, denn die Auswirkungen des funktionierenden Übergangs der Nahrung in den Blutkreislauf sind sicherlich nicht rein physiologisch. Winnicott geht hierauf nicht gesondert ein, sondern wendet seine Aufmerksamkeit den im Verdauungstrakt verbleibenden Stoffen zu, den unverdaulichen Resten, die mit Hilfe einer Serie von Kontraktionen durch die Därme geführt werden, um über den Anus ausgeschieden zu werden. Der letzte Darmabschnitt, das Rektum, ist im Normalfall zwar mehr oder weniger leer, füllt sich aber, wenn eine größere Menge Kot ausgeschieden werden muss. Das Baby spüre, wie das Rektum sich füllt, und entleere es. Eine Folge dieses Vorgangs ist der stete Bedarf nach Windeln in den ersten Entwicklungsstadien. Die unmittelbare Entleerung des Rektums habe aber Nachteile. Verbleibe der Kot einige Zeit im Rektum, so könne ihm Wasser entzogen werden. Er gewinne damit an Festigkeit. Die Ausscheidung von festem Kot sei für das Baby ein angenehmes Gefühl. Das Baby könne aus Erfahrung lernen, dass es eine Gute Sache ist, Kot im Rektum anzusammeln. Tatsächlich könne Defäkation – wenn dabei alles gut ginge – ein extrem befriedigendes Erlebnis sein. Dazu sei es wichtig, das Baby seinen eigenen Rhythmus entwickeln zu lassen. Auch ohne zu sprechen sei das Baby in der Lage, Mitteilungen über seine Verdauungstätigkeit zu machen. Die Eltern sollten darauf mit Interesse reagieren, nicht mit der Befürchtung, das Kind könnte seine Windel beschmutzen! Sie sollten das, was für das Kind wichtig ist, auch als wichtig für sich selbst erachten. Wichtiger als ein sauberer Hintern sei eine angemessene Antwort auf die Rufe eines menschlichen Wesens. Bedachtsame Pflege über eine längere Periode hinweg sei eine Grundlage eines Ordnungssinns des Babys bezüglich seiner Entleerungsfunktionen. Wenn es die Eltern zu eilig hätten, bleibe dem Baby ein wichtiges Erlebnis verborgen und es gerate in Verwirrung. Hierdurch falle es ihm später schwerer, Teile der mit Kotausscheidung verbundenen »extremen« Lust aufzugeben. Das Baby tue das nicht, um den Wunsch der Eltern nach Sauberkeit zu befriedigen. Es wolle vielmehr Kontakt mit der elterlichen Liebe halten. Noch später werde 216 | Vgl. Winnicott, 2002, S. 45. 217 | Vgl. ebd., S. 46.
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das Baby dann fähig zur Selbstkontrolle: Es beschmutze sich, wenn es seine Eltern dominieren wolle und es halte sich bis zu einem passenden Moment zurück, wenn es seinen Eltern gefallen wolle. Für die Blasenentleerung beschreibt Winnicott einen vergleichbaren Vorgang. Zunächst leere das Baby seine Blase nahezu automatisch. Schritt für Schritt stelle es dann fest, dass es sich lohnt, ein wenig zu warten und später bei der Abgabe mehr Lust zu empfinden. Auch diese kleine Freude, die sich entwickelt, bereichert sein Leben. Das Baby habe das Gefühl, dass es sich lohne zu leben und dass es sich in seinem Köper gut leben lasse.218 Leider würde manchen Babys die Möglichkeit dazu genommen, die Freude an der Passage der Exkremente selbstständig zu entdecken. Grund hierfür sei das krankhafte Bedürfnis nach Sauberkeit, mit dem manche Eltern die Beziehung zu ihrem Kind belasteten. Eltern hätten sich nicht nur um die Ernährung des Kindes zu kümmern, sondern auch um seine Ausscheidungen. Laut Winnicott sei es wünschenswert, dass Mütter die Bedürfnisse des Babys im Detail verfolgen und die erregenden Körpererfahrungen als Teil einer Liebesbeziehung zwischen sich und ihrem Kind erfahren. Wenn diese Beziehung nur lange genug anhalte, werde das Erlernen von Sauberkeit die Möglichkeiten des Babys nicht überstrapazieren und ohne große Schwierigkeiten erfolgen. Die frühkindliche Verdauung sei hervorragend auf das eingestellt, was sie verdauen soll: Muttermilch, die beste Babynahrung! Dass die beste Babynahrung nicht nur dem Körper, sondern auch dem Geist des Säuglings wohltut, scheint nach Winnicott selbstverständlich.
Gershons Second Brain Das aktuelle Interesse an philosophischen Fragen zur Verdauung unterstreicht auch die rasante Entwicklung der Neurogastroenterologie. Mit seinem Schlagwort vom ›zweiten Gehirn‹ öffnete Michael Gershon (* 3.03.1938 in New York) neue Perspektiven auf die neuronalen Bezüge zwischen Bauch und Kopf.219
218 | Vgl. ebd., S. 54. 219 | Wenn Gershon das enterale Nervensystem als ›Gehirn‹ bezeichnet, das sich im Gleichschritt mit dem Gehirn im Kopf entwickelt, so wirkt das provokativ. Vgl. Gershon, 1998, S. XIII. Nichtsdestoweniger erhebt er den Anspruch, Wissenschaft »ohne Ausschmückungen und Politur« zu betreiben, Gershon, 2001, S. 85. Seine Beobachtungen seien weder kreativ noch phantasievoll. Hier scheint Zweifel angebracht, insofern Gershon seine Forschungen mit Kreativität und Phantasie darstellt, ohne die im Ringen um wissenschaftlichen Fortschritt wohl wenig zu gewinnen wäre. Für das philosophische Verständnis des geistigen Erlebens der Verdauung ist es nicht entscheidend, ob sich der Bauch tatsächlich im Gleichschritt mit dem Kopf bewegt: Gerade
Unterscheidungen
Die Verortung des Geistes im Kopf ist keine ausgemachte Sache.220 Das unterstreichen Forschungen im Bereich der Neurogastroenterologie.221 Das in die Darmwand eingebettete Netzwerk aus Nervenzellen – von Leopold Auerbach in seiner Veröffentlichung Über einen Plexus myentericus von 1862 beschrieben – inspirierte William Bayliss und Ernest Starling bei der Erforschung des peristaltischen Reflexes der Darmmuskulatur, die sie zum ›Gesetz des Darms‹ führte: Durch wellenartige Muskelbewegungen wird der Darminhalt immer in eine Richtung geschoben, von der oralen Öffnung zur analen.222 Dieses ›Gesetz‹ bleibt in Kraft, wenn alle Nervenverbindungen zwischen dem Darm und seiner Umgebung chirurgisch abgetrennt werden.223 Im Gegensatz zu anderen organischen Reflexen funktioniert der peristaltische Reflex also unabhängig von Gehirn und Rückenmark.224 Der Begriff des ›enterischen Nervensystems‹ wurde 1921 eingeführt, doch in den folgenden Jahren spielte es, laut Gershon, die Verschiedenheit der Verdauungsformen in Kopf und Bauch scheint zur Entwicklung philosophischer Gastrosophie geeignet. 220 | Erinnert sei an die Ausführungen bei Van Helmont (s.o.: Abschnitt 2). Auch in der aktuellen Forschung provoziert die Reduzierung des geistigen Erlebens auf Hirnzustände Kritik: »We will never be able to understand the various elements of our mental life such as thoughts, beliefs, feelings, and values if we think of them as located inside the brain. [...] Conceptualising our mental life as some sort of enclosed world residing inside the skull does not do justice to the lived reality of human experience.« Bracken u. Thomas, 2002, S. 1433. Verstehen wir Geist als Teil einer sozialen Interaktion zwischen Person und Umwelt, als Teil einer Welt, in der wir unsere eigene Gegenwart erfahren, so hat Verdauung an der Entwicklung dieser Interaktion sicher Anteil. 221 | Wechselwirkungen zwischen Verdauungstrakt und Bewusstsein werden insbesondere in Hinblick auf gastro-enterologische Erkrankungen untersucht, die mit neurologischen und psychiatrischen Symptome einhergehen, etwa bei chronischen Entzündungen im Darm und psychogenen Essstörungen. Vgl. Barreiros u. Galle, 2008, S. 116. Die neurophysiologische Diskussion des Körper-Geist-Problems bezieht sich auch auf höhere Hirnaktivitäten. 222 | Vgl. Gershon, 2001, S. 24. 223 | Vgl. ebd. 224 | 1921 bemerkte John Newport Langley die vergleichsweise geringe Zahl der motorischen Nervenfasern, die Gehirn und Rückenmark mit dem Darm verbinden. Der Nervus vagus, also der Nerv, der u.a. den menschlichen Darm mit dem Gehirn verbindet, hat am Eingang zum Bauchraum nur etwa zweitausend präganglionäre Nervenzellen. Der Dünndarm verfügt dagegen über hundert Millionen Neuronen. Dieses Ungleichgewicht war für Langley ein Indiz, dass die meisten Nervenzellen im Darm keine Informationen vom Zentralnervensystem erhalten. Langley führte deshalb den Begriff ›enterisches Nervensystem‹ ein, der die Unabhängigkeit der intrinsischen Nerven des Darms von anderen vegetativen Nerven unterstreicht. Vgl. Gershon, 2001, S. 38.
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nur eine Nebenrolle in einem Drama, in dem das Gehirn der alleinige Star war, blieb und immer bleiben sollte.225 Das habe sich erst mit der Erforschung der neuronalen Informationsübertragung und insbesondere der Funktion des Serotonins als Neurotransmitter in den 1980er Jahren geändert.226 Die Annahme eines dreigeteilten Nervensystems setzte sich durch.227 Die Forschungen der Neurogastroenterologie unterstreichen die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Verdauungsorganen für die Entwicklung geistiger Kompetenzen. Die Rolle des Darms als ›funktionales Gedächtnis‹ sowie Einflüsse der Darmflora auf das Verhalten wurden nun untersucht, wobei chemische, biologische und physikalische Gegebenheiten im Bauch neurophysiologisch interpretiert wurden.228 Laut Gershon entwickelten unsere Vorfahren nach ihrem Rückgrat gleichzeitig Gehirn und einen ›Darm mit einem eigenen Geist‹.229 Für die Bezeichnung ›Second Brain‹ bzw. ›zweites Gehirn‹ sprechen gute Gründe. Der Darm ist das einzige Körperorgan mit einem Nervensystem, das Reflexe eigenständig vermittelt. Es funktioniert auch dann, wenn gar keine Verknüpfung mit dem Gehirn mehr besteht, etwa wenn die vom Gehirn kommenden Nerven chirurgisch durchtrennt wurden.230 Nur ein- bis zweitausend Nervenfasern verbinden das Gehirn mit dem Bauch, wobei die Hauptverbindung, der Nervus vagus, zu etwa 80% afferent ist, d.h. er vermittelt Nachrichten aus dem Bauch an den Kopf.231 Gershon vermutet, dass Nachrichten von unten nach oben auch bei Menschen wichtiger sind als Nachrichten von oben nach unten.232 225 | Vgl. Gershon, 2001, S. 88. 226 | Serotonin wird zum Großteil in der Darmschleimhaut produziert, nur etwa ein Prozent der Gesamtmenge entsteht im Zentralnervensystem. Vgl. Gershon, 2001, S. 86. 227 | Unter dem durch David Wingate geprägten Namen ›Neurogastroenerologie‹ entwickelte sich die neurologische Erforschung des Bauches zu einer eigenständigen Disziplin. Vgl. Gershon, 2001, S. 42ff. 228 | Vgl. Lindner, 2012, S. 365ff., Maes, 2008, S. 117ff. Der Magen-Darm-Trakt kommuniziert mit dem Gehirn über verschiedene Kanäle – Darmmikrobiom, Darmhormone, Immunbotenstoffe, sensorische Neurone – und beeinflusst Appetit, Stimmungslage, Emotionen und kognitive Prozesse. Eine gestörte Kommunikation zwischen MagenDarm-Trakt und Gehirn kann psychische Störungen verursachen, besonders offensichtlich bei funktioneller Dyspepsie und Reizdarmsyndrom. Vgl. Initiative Gehirnforschung Steiermark, Graz, www.gehirnforschung.at/project/die-darm-gehirn-achse/ (gesichtet 02.08.2013). 229 | Gershon, 2001, S. 17. Im Original: »a gut with a mind of its own«. Gershon, 1999, S. XIII. 230 | Vgl. ebd., S. 16, dazu S. 169. 231 | Vgl. Klinische Psychologie & Psychotherapie, Wittchen u. Hoyer, 2011, S. 204. 232 | Vgl. Luczak, 2000, S. 142ff.
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Der Dünndarm des Menschen verfügt über mehr als hundert Millionen Nervenzellen, also etwa ebenso viele wie das Rückenmark. Werden noch die Nervenzellen von Speiseröhre, Magen und Dickdarm dazugerechnet, haben wir mehr Nervenzellen in den Eingeweiden als in der Wirbelsäule und dem gesamten peripheren Nervensystem.233 Physiologisch ist die Verdauung zur Einflussnahme auf das zerebrale Denken also bestens ausgerüstet und zeigt das mitunter machtvoll. Der Darm muss ordnungsgemäß funktionieren, damit wir uns den Luxus des Denkens überhaupt leisten können.234 Zwingt er das Gehirn zur Konzentration auf die Toilette, so verliert sich die Fähigkeit zum vernünftigen Denken mitunter schnell.235 Die meisten Menschen werden diese wissenschaftliche Einsicht aus eigener Erfahrung bestätigen können. Die Suche nach vorteilhaften Formen des Umgangs mit den vielen Nachrichten, mit denen der Bauch den Kopf ständig versorgt, gilt als eine Triebfeder der Evolution, die zur Ausbildung der vorderen Hirnrinde im Kopf führte.236 Die Unzufriedenheit mancher Philosophen über die aufdringliche Informationsflut aus dem Bauch spricht also nicht unbedingt für einen lebensförderlichen Gebrauch der Intelligenz. Tatsächlich haben Nachrichten des Gehirns an den Bauch nicht immer wünschenswerte Folgen. Das unterstreichen nicht nur die in intellektuellen Kreisen verbreiteten Verdauungsstörungen, man denke nur an Augustinus, Kant, Nietzsche und Wittgenstein, sondern auch die Praxis der ›Vagotomie‹. Der ehemalige Königsweg bei der Behandlung von Magengeschwüren beseitigt störende Einflüsse des Gehirns auf den Bauch durch chirurgische Abtrennung des Vagusnervs.237 Allerdings birgt die Vagotomie Risiken, denn Nachrichten aus dem Bauch sind im Gehirn allgegenwärtig, auch wenn wir viele von ihnen nicht bewusst wahrnehmen.238 Der Inhalt der Nachrichten wurde bisher nicht voll entschlüsselt. Entwicklungsgeschichtlich sicherten solche Nachrichten das Überleben, in manchen Fällen dürfte das auch heute noch der Fall sein. Die komfortable neurale Ausrüstung des Darms dient nicht alleine der Erhaltung des Gleichgewichts im Verdauungsapparat, indem sie dem Gehirn die Organisation von Nahrungssuche, Fluchtverhalten und Fortpflanzung erleichtert, sondern wirkt auch auf ›höhere‹ kognitive Funktionen, etwa Gemütserregungen, Motivation und Intuition.239 Zur Erklärung des Einflusses des Bau233 | Vgl. Gershon, 2001, S. 14. 234 | Vgl. ebd., S. 17. 235 | Vgl. ebd. 236 | Vgl. Luczak, 2000, S. 160f. 237 | Die Wirkungen der Vagotomie für die Behandlung von Übergewicht werden weiterhin getestet, vgl. Neergaard, 2007. 238 | Vgl. Gräfe, 2008. 239 | Vgl. Gershon, 2001, S. 14; vgl. Mayer, 2000, 4ff.
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ches auf den Kopf wurde die Hypothese einer »Emotions-Gedächtnis-Bank« zur Sammlung von Daten aus dem Bauch im Gehirn vorgestellt. Informationen aus dieser Bank sollen intellektuelle Vorgänge mit Chiffren des Bauches unterlegen, die nur in Sonderfällen zu Bewusstsein gelangen, etwa bei Verstärkung durch chronischen Stress.240 Ein Bezug zwischen der Stimulierung der Eingeweide und unseren Traumbildern wird angenommen.241 In Tiefschlafphasen verursacht das emotionale Profil der Bauchaktivitäten rhythmische Wellenbewegungen, während der REM-Phasen beginnen die Innereien aufgeregt zu zucken. Der Eindruck zerebraler Entscheidungsfreiheit in gastralen Anliegen entwickele sich im Rahmen gastraler Steuerung. Das Gehirn herrsche über die Enden des Verdauungskanals, die Speiseröhre und den Magen. Aber je tiefer man in den Verdauungsschlauch hinabsteige, desto schwächer werde sein Einfluss. Autonome Aktivität entwickle das enterale Nervensystem schon im Magen, wo es Speicherung, Durchmischung und Zerlegung von Nahrung steuere.242 Die Ausscheidung von Säure im Magengewölbe und Magenkörper könne vom Gehirn ausgelöst werden, etwa bei der Vorstellung einer bevorstehenden Mahlzeit. Aber wir können ebenso gut etwas schlucken, ohne daran zu denken oder es überhaupt zu wissen, und diese Tätigkeiten werden dennoch stimuliert.243 Beim Magenpförtner komme es zur Zusammenwirkung zwischen den Nervensystemen,244 wogegen der Darm nicht der neuronalen Funktionshierarchie zwischen Gehirn, Effektoren und Sinnesrezeptoren unterstehe, sondern die Daten seiner Sinnesrezeptoren selbstständig verarbeite. Der Darm könne weder vernünftige Schlüsse ziehen noch Gedichte schreiben.245 Nichtsdestoweniger ist er laut Gershon ein autonomer Partner des Gehirns. Seine Autonomie erlaube es ihm, Informationen von Gehirn oder Rückenmark zu übergehen.246 Das enterale Nervensystem könne Nachrichten aus dem Gehirn unwirksam machen, indem es die sympathischen Nervenimpulse nicht an ihren Bestimmungsort gelangen lasse.247 Wo die Befehle des Gehirns nicht mehr wirken, übernimmt das enterale Nervensystem die Zuständigkeit.248 Gershon unterstreicht, dass vom Darm auch Anweisungen an Nachbarorgane ausgehen, zur 240 | Luczak, 2000, 160f. 241 | Vgl. ebd. 242 | Vgl. Gershon, 2001, S. 150f.: »Verdauung ist Lokalpolitik«. 243 | Vgl. ebd., S. 169. 244 | Vgl. ebd., S. 182. 245 | Vgl. ebd., S. 41, s.o.: Platon, Timaios. 246 | Vgl. ebd. 247 | Vgl. ebd., S. 202. 248 | Vgl. ebd., S. 182.
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Koordination von Infektabwehr und Muskelbewegungen. Gelangen Gifte in den Körper, sende das enterale Nervensystem Alarmsignale an das zentrale Nervensystem. Das Gehirn müsse sich nach Plan verhalten, es löse nun Erbrechen, Krämpfe oder Entleerung aus. Selbstverständlich könne der Darm auch positive Einflüsse auf das Gehirn geltend machen.249 Zum Glück gehöre ein funktionierender Darm. Gershon bestätigt die Machtlosigkeit unseres Bewusstseins gegenüber den Aktivitäten im Bauch, über die sich Nietzsche amüsierte. Bei guter Funktion erinnere der Verdauungsschlauch an eine Einbahnstraße, die lautlos durchlaufen wird. Falle uns der Darm nicht unangenehm zur Last, entwickelten wir wenig Bewusstsein von seiner Funktion. Die Wahrnehmung kehre aber mit Dringlichkeit zurück, wenn im Enddarm ›Stuhldrang‹ entstehe.250 Gegenüber den Aktivitäten des Darms erlangten die vom Zentralnervensystem beeinflussten Vorgänge am Anfang und Ende des Verdauungsschlauchs vergleichsweise viel Aufmerksamkeit im menschlichen Leben, besonders die Aufnahme und die Abgabe von Nahrung könne ja mit intensiven Gefühlen einhergehen.251 Nichtsdestoweniger seien die Vorgänge zwischen den Enden des Verdauungsschlauches höchst bedeutungsvoll: Der Darm sei nicht immun gegen Geisteskrankheiten.252 Das enterale Nervensystem verfüge über sensorische Nervenzellen, schon deshalb könnten Gefühle aus dem Darm die bewusste Wahrnehmung vehement beschäftigen – beispielweise bei Sodbrennen, Krämpfen, Durchfall oder Verstopfung.253 Umgekehrt könnten psychische Störungen Symptome im Darm verursachen.254 Wir seien an die Überzeugung gewöhnt, dass Gedanken – seien sie be249 | Vgl. Gibson, 2006, 53ff. und Van Oudenhove, 2011. Erklärungen zu den Wirkungen des enterischen Nervensystems auf das zentrale Nervensystem verspricht die Erforschung der Wirkung der im Bauch produzierten Neurotransmitter, die im Gehirn Reaktionen erzeugen ohne es direkt zu erreichen, vgl. Chuang, 2011, S. 2684. Die Behandlung chronischer Depressionen durch die Stimulierung des Nervus vagus wurde erfolgreich getestet, vgl. Corcoran, 2006, S. 282. Wie ›selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer‹ [SSRI] für eine Linderung von Depressionen sorgen, ist laut Gershon schwer zu klären, aber es stehe außer Zweifel, dass sie es tatsächlich tun, vgl. Gershon, 2001, S. 341. Die Wirkung auf den Darm sei mitunter desaströs: der winde sich zunächst, stoße sodann seinen Inhalt aus und stelle endlich seine Bewegungen ein. Vgl. Gershon, 2001, S. 341f. 250 | Vgl. ebd., S. 264ff. 251 | Vgl. ebd., S. 274. 252 | Vgl. ebd. 253 | Vgl. ebd., S. 327; auch S. 15. Insbesondere der mit starken Darmkontraktionen verbundene Druck könne sehr schmerzhaft sein. Nicht von ungefähr habe die Gestapo Rizinusöl als Folterinstrument eingesetzt. Vgl. ebd., S. 264. 254 | Vgl. ebd., S. 274f.
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wusst oder nicht – die Vorgänge im Darm beeinflussen können. Das Auftreten psychosomatischer Erkrankungen des Darms sei deshalb ohne Schwierigkeiten anerkannt worden. Zwanghaft auf die anale Stufe fixierte Personen seien aus der Fachliteratur ja hinlänglich bekannt. Auch persönliche Erfahrungen würden dafür sprechen, dass Funktionsstörungen des Darms Ursachen im Zentralnervensystem haben, etwa bei Übelkeit und Durchfall. Übelkeit und Durchfall gelten als Begleiterscheinungen von Angst. »Aber was intuitiv offensichtlich ist, muss nicht unbedingt richtig sein. Sind Abläufe gestört, die im Wesentlichen im Darm selbst gesteuert werden, dann ist keineswegs klar, dass das enterale Nervensystem anormale Anweisungen gibt, weil es vom Hirn dazu veranlasst wurde.« 255
Es sei durchaus vorstellbar, dass ein gestörter Geist seine Probleme an das enterale Nervensystem weitergebe. Aber nichts hindere das enterale Nervensystem daran, ganz unabhängig von den Informationen, die es aus dem Kopf erhält, auch selbst Fehlfunktionen des Darms zu verursachen.256 Nicht alle Störungen der Verdauung gehen auf Vorgänge des zentralen Nervensystems zurück. Die psychologische Annahme eines Einflusses der Verdauung auf das Unterbewusstsein findet in der Gastroenterologie jedenfalls eine starke physiologische Stützung. Gershons Ausführungen legen nahe, dass sich bestimmte Fehlfunktionen der Psyche überhaupt erst im Falle von Fehlleistungen des Darms entwickeln. Unter der Oberfläche der uns derzeit bekannten medizinischen Wirkungen lägen noch zahlreiche weitere Verbindungen, die sich etwa dann zeigten, wenn Medikamente, die zur Beeinflussung der Stimmungslage dienten, auf Magen und Darm wirkten.257 Neurotische Störungen seien nicht die einzig denkbare Erklärung für Verdauungsstörungen ohne erkennbare physiologische Ursache.258 In der medizinischen Praxis seien solche Störungen keine Seltenheit.259 Wie Signale aus dem Darm auf unser Ich-Gefühl wirken und insbesondere auf 255 | Ebd. 256 | Vgl. ebd., S. 276f. In gewisser Weise treffe auf die funktionelle Darmkrankheit zu, was Winston Churchill 1939 über die Sowjetunion sagte: »Sie ist ein Rätsel, verpackt in ein Geheimnis, das in ein Mysterium gehüllt ist.« Ebd., S. 281. 257 | Vgl. ebd., S. 339. 258 | Vgl. ebd., S. 278. 259 | Bis zu 20 Prozent der US-Bevölkerung fühlen sich von Darmbeschwerden in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt. Die häufigsten Formen der Störung sind die funktionelle oder nichtulzeröse Dyspepsie und vor allem das Reizkolon, volkstümlich auch Reizdarm genannt. Obwohl viele Patienten mit Reizdarm gar keine ärztliche Hilfe in Anspruch nähmen, führe diese Krankheit in den Vereinigten Staaten jährlich zu dreieinhalb Millionen
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unsere Ängste, Freuden, Motivationen und Erinnerungen, könnte sich mit der weiteren Erforschung der Signale klären, die aus dem Darm zur ›Insula‹ gelangen, bzw. zum limbischen System, zum präfrontalen Cortex, zur Amygdala, zum Hippocampus und zum anterioren cingulären Cortex.260 Die Bedeutung von Impulsen aus dem ›Inneren‹ für die Entwicklung des Geistes weckt neurologisches Interesse. Laut Damasio entwickeln sich sowohl der Geist als auch das Selbst auf Grundlage von im Inneren auftretenden Gefühlen, Damasio spricht auch von einem ›inneren Sinn‹.261 Seine Erklärungen zur Bedeutung des inneren Erlebens für den Zusammenhang zwischen Geist und Bauch kreisen insbesondere um die ›Insula‹.262 Die Kartographierung der Signale aus Brust und Bauch entwickle sich in einer Schleife mit der Signalquelle. Das führe zu einer engen Verbindung, ja zu einer Quasi-Fusion zwischen Körper und Gehirn.263 Damasio führt die Entstehung von Gefühlen auf die Notwendigkeit zur Bewertung der Bedeutung neuronaler Repräsentationen für das Überleben zurück.264 Das Gehirn würde besonders wichtige Praxisbesuchen. Die unmittelbaren Kosten beziffert Gershon auf 350 Millionen Dollar, wozu er noch eine Reihe mittelbarer Zusatzkosten anführt. Vgl. ebd., S. 279ff. 260 | Enders, 2014, S. 134; dazu Mayer, 2011: »Despite the continuous stream of interoceptive signals from the gut to the brain, only a small fraction of this information is consciously perceived, usually that which requires a conscious behavioural response (for example, ingestive behaviours and defecation). However, recent evidence suggests that various forms of subliminal interoceptive inputs from the gut, including those generated by intestinal microbes, may influence memory formation, emotional arousal and affective behaviours.« 261 | Vgl. Damasio, 2010, S. 122; dazu: S. 311. 262 | Vgl. ebd., S. 146. Der vordere, entwicklungsgeschichtlich ältere Teil der ›Insula‹ habe Anteil an der Wahrnehmung von Geruch und Geschmack sowie von Gefühlen und Emotionen, insbesondere des Ekels. Diese ursprüngliche Schutzfunktion gegen die Aufnahme unerwünschter Stoffe beziehe sich in sozialer Hinsicht auch auf moralische Verachtung: Die enge Bindung zwischen kultureller Identität und Speiseregeln dürfte hier ihren Ursprung nehmen. Vgl. ebd. Der hintere Teil der ›Insula‹ interagiere mit den Eingeweiden, die er repräsentiere und an deren Kontrolle er beteiligt sei. In Hinblick auf Eingeweide und inneres Milieu sei die ›Insula‹ eine Entsprechung des Visuellen und des Auditiven Cortex. Ebd., S. 146f. Die Aktivität der ›Insula‹ beziehe sich auf verschiedene Typen von Gefühlen, von Emotionen bis zu allen Formen von Lust und Schmerz, seien diese durch Musik, Bilder, Drogen oder Mangel stimuliert. Vgl. ebd. 263 | Vgl. ebd., S. 148ff. Damasio formuliert hier etwas irreführend, denn sicher betrachtet er das Gehirn ja als einen Teil des Körpers: Die neuronale Entwicklung von Gefühlen ohne Bezug auf Körperzustände tue der grundlegenden Bedeutung von Bauchzuständen für den geistigen Haushalt keinen Abbruch. 264 | Vgl. ebd., S. 215f.
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Repräsentationen der Körperzustände durch emotionelle Faktoren unterstreichen, mit einer emotionalen Parallelpiste somatischer Markierungen.265 Die Fähigkeit zur lebensfördernden Bildauswahl gehe dem Bewusstsein und überhaupt allen geistigen Erscheinungen voraus.266 Unter dem beschränkten Bewusstsein, das wir für unsere Existenz entwickeln, wirke die unbewusste Organisation des Lebens weiter.267 Die Entwicklung von Wissen um organische Zustände beruhe auf der vorhergehenden Entwicklung einer neuronalen Aufzeichnung, die in der Folge gedanklich manipuliert werden könne, um Situationen zu antizipieren, Konsequenzen abzuschätzen und Problemlösungen zu gestalten.268 Die Grundlagen des Bewusstseins liegen laut Damasio in Vorgängen zur Regulierung metabolischer Funktionen, Vorgängen der Belohnung und Bestrafung, die sich zu Antrieben, Motivationen und Emotionen entwickeln, aus denen auch jene Repräsentationen ausgewählt werden, die in unser Bewusstsein gelangen.269 Das erkennende Selbst entstehe im Laufe der biologischen Entwicklungsgeschichte mit einer Lage neuronaler Prozesse, auf deren Grundlage sich weitere Lagen neuronaler Prozesse entwickeln, bis hin zur Ausbildung von SelbstBewusstsein. Das erkennende Selbst ruhe auf einem Selbst-Objekt, also auf neuronalen Prozessen, die sich auf den lebendigen Organismus beziehen und ihren Ausdruck in mentalen Prozesse finden.270 Zwischen Selbst und SelbstObjekt gebe es keine Dichotomie, sondern Kontinuität und Fortschritt. Die Entgegensetzung eines durch innere Betrachtung beobachtbaren Geistes und durch äußere Betrachtung beobachtbarer biologischer Muster sei irreführend.271 Geistige Zustände könne es auch ohne Subjektivität geben.272 Auf allen Entwicklungsstufen des aktiven Geistes, bis hin zur Selbsterkenntnis und der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten, sei der Einfluss der Verdauung anzunehmen.273 Eingehendere Erklärungen zu gastro-neurologischen Grundlagen 265 | Vgl. ebd. 266 | Vgl. ebd. 267 | Vgl. ebd. 268 | Vgl. ebd. 269 | Vgl. ebd. 270 | Vgl. ebd., S. 16ff. 271 | Vgl. ebd., S. 22. 272 | Vgl. ebd., S. 24. 273 | In seinen Ausführungen zur Entwicklung des Geistes unterscheidet Damasio Proto-Selbst, Kern-Selbst und Autobiographisches Selbst. Vgl. ebd., S. 223. Obwohl Damasio dies nicht explizit ausführt, scheinen die Bezüge zwischen Verdauung, ProtoSelbst, Kern-Selbst und Autobiographischem Selbst doch evident. Proto-Selbst: Assim ilation gehört zu den relativ stabilen Grundfunktionen eines Organismus, insbesondere bei tierischen Lebensformen erfolgt die Assimilation im Rahmen eines
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von Geist und Bewusstsein kann ich, schon aufgrund meiner geringen Fachkompetenz, im Rahmen meiner Arbeit leider nicht leisten.274 Verdauung ist alles andere als ein einfacher Vorgang.275
U nterschichten bei H usserl Mit den Fortschritten der physiologischen und psychologischen Erforschung des Geschehens zwischen Mund und Anus stellt sich erneut die Frage nach dem philosophischen Umgang mit dem inneren Erleben. Edmund Husserl (* 8.04.1859 in Proßnitz; † 27.04.1938 in Freiburg im Breisgau) berührt diese Frage u.a. in Hinblick auf die Lust am Essen. Ansatzpunkte für seine Bemerkungen zum Einfluss des Essens auf das Denken liefert ihm sein eigener Bauch. So schreibt Husserl anlässlich der Genesung von einer Nikotinvergiftung an einen Schüler: »ich gehe wieder leichter, und Appetit und Verdauung sind in Ordnung. Nun wollen wir zusehen, wann ich wieder werde ordentlich nachdenken können.«276 Verdauungsvorgangs. Kern-Selbst: Zu den grundlegendenden Bildern, die den Bezug zwischen Organismus und Umwelt beschreiben, gehören Bilder jener Objekte, die der Funktion der Verdauung dienlich sind. Autobiographisches Selbst: die Ausbildung und Prägung bewusster Strukturen erfolgt unter dem Eindruck gelingender Verdauung. Zur Entwicklung selbstbewusster Strukturen, insbesondere von Sprache, trägt Verdauung maßgeblich bei, nicht nur bei der Entwicklung kultureller Mythen, sondern auch in Wirtschaft, Kunst, Religion und Philosophie. 274 | Mir scheint es allerdings vorteilhafter, ein grobes Bild der wissenschaftlichen Einsichten in die Bezüge zwischen Darm und Gehirn zu vermitteln als überhaupt kein Bild. Gerade die Populärwissenschaft spiegelt den alltäglichen Gebrauch von Begriffen ja mitunter außerordentlich klar: »[Das Gehirn] ist so isoliert und geschützt wie sonst kein anderes Organ. Es sitzt in einem knöchernen Schädel, ist umhüllt von einer dicken Gehirnhaut und filtert jeden Tropfen Blut noch einmal durch, bevor er die Hirnbereiche durchströmen darf. Der Darm dagegen befindet sich mitten im Getümmel. Er kennt alle Moleküle aus unserem letzten Essen, fängt herumschwirrende Hormone neugierig im Blut ab, fragt Immunzellen nach ihrem Tag oder lauscht andächtig dem Surren der Darmbakterien. Er kann dem Gehirn Dinge über uns erzählen, von denen es sonst niemals eine Ahnung hätte.« Enders, 2014, S. 137. 275 | Gershon, 1998, S. 218. Trotz seiner wissenschaftlichen Renaissance bleibe der Darm in vielen Hinsichten unerforschtes Neuland. Vgl. Gershon, 2001, S. 17, 189, 263, 287, 321. 276 | Husserl, Brief an Martin Heidegger, 30.01.1928, Briefwechsel IV, S. 151. Dass die Schwierigkeiten beim Nachdenken insbesondere das wissenschaftliche Denken betreffen, unterstreicht Husserls Brief an Ludwig Landgrebe, 31.03.1937, ebd. S. 366.:
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Bei Husserl enthüllt sich der Leib als Ort der Praxis.277 Zu dem »verhältnismäßig hohe[n] Stockwerk«, auf dem die traditionelle logische Problematik einsetzt, gehören »Unterschichten«, in denen logische Leistung vorliegt, und die verborgenen Voraussetzungen, auf deren Grund Sinn und Recht höherstufiger Evidenzen verständlich werden.278 Aus seiner Vorstellung des außerwissenschaftlichen ›Alltagslebens‹ gewinnt Husserl den Begriff eines aller Wissenschaft und Philosophie vorausgehenden Lebens praktischer Menschen in einer ihm korrelativen Umwelt, der vor und außerwissenschaftlichen Lebenswelt, aus der heraus sich der Einbruch der neuen Zielstellung ›Philosophie‹ ergibt.279 Das reife, wache Ich will nach Husserl nicht »überhaupt irgendwie leben, sondern gelingend«, und so liege im menschlichen Leben eine dem Leben-Wollen und Leben-Können dienende, »stets bereite Motivation zur Übung seiner immer schon ausgebildeten Erkenntnis-Freiheit.«280 Husserl verwendet einige Mühe auf die Unterscheidung zwischen außerwissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis. Die Frage nach den alltäglichen Beiträgen von Bauch und Brust zur wissenschaftlichen Arbeit stellt sich allerdings schon in Bezug auf Husserl selbst, dem die Überwindung der Grenze zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Aktivität ohne den Gebrauch von Tabak und Kaffee nicht immer gelingt.281 Das bleibende Interesse an Bauchzuständen betont Husserl explizit: »Es stellte sich konkret heraus, dass meine Zustände (abgesehen von der intellektuellen Erschöpfung vermöge der übermäßigen Arbeit der letzten Jahre) ihre wesentlichen Ursachen in dem zu schrankenlosen Rauchen und den anderen Reizmitteln hatten und in einer falschen Ernährung dazu. Einige Wochen lang blieb ich im Versuch einer radikalen Entziehung, mindest des Nikot[in]. Aber so sehr mein körperlicher Zustand sich besserte, wissenschaftlich denken konnte ich nicht [...]«. 277 | Die praktische Form der Intentionalität lässt sich auf einer rudimentären Ebene in Husserls Theorie mit der praktischen Leiblichkeit identifizieren. Vgl. Lotz, 2002, S. 21f. Der Wahrnehmungsleib ist nach Husserl »eine Praxis des Ich in der Welt, und zwar als eine Urpraxis, die für alle Praxis mitfungiert und im voraus schon fungiert hat«. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, 3 (Hua XV), S. 328; vgl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, 2 (Hua XIV), S. 470. 278 | Husserl, Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik, (EU), §1, S. 3. 279 | Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, (Hua XXIX), S. 381ff. 280 | Ebd., S. 384. 281 | Hier stellt sich nicht allein eine Frage der Forschungsmethode, sondern auch des Geisteszustands. Schon in seinem Brief an Heidegger, s.o., hatte Husserl neben dem Zusammenhang zwischen seiner wissenschaftlichen Produktivität und dem Nikotingenuss auch Auswirkungen auf seine Wahrnehmung der Welt angedeutet: »Seit 9 Tagen rauche ich nicht mehr. Die Welt mutet sich sehr fremdartig an [...].« Husserl,
Unterscheidungen »Nahrungsmittel als Wert bezieht sich auf mich als Menschen, der das bleibende instinktive Bedürfnis nach Nahrung hat, bleibend durch alle Perioden von Hunger und Sättigung hindurch.« 282
Die Lust am Essen bezieht Husserl auf aktuelle Sinnesempfindungen, teils auch auf Gegenständliches wie den Bissen im Mund und die Speise auf dem Teller.283 Das Lustgefühl sei hier mit einem Inhalt verbunden, auch wenn dieser Inhalt gesondert beachtet werden kann. Der Bissen verursache im Mund ein Wohlgefühl, besonders beim Kauen errege er den Geschmack und mit dem Geschmack das Gefühl.284 Die Sinne seien auf den Bissen bezogen, wobei das Lustgefühl mit dem Inhalt in eins zu fallen scheine, selbst dann, wenn dem Inhalt eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werde.285 Wohl unterscheidbar sei dagegen das Gefühl, das speziell an dem Inhalt hänge, von den Gefühlsflüssen, die es errege: die Seligkeit des Genießens, die Freude an der Lust selbst etc.286 Der Bissen errege Geschmack und Gefühl an ein und derselben »Stelle« im leiblichen Ich.287
Briefwechsel IV, S. 151. Auch 1937, als Husserl wiederum Abstinenz von Tabak und Kaffee verordnet wurde, sah er sich bei der Arbeit behindert: »ich bin noch immer nicht in den großen Arbeitszug hineingekommen, in jenen Arbeitswahnsinn, ohne den bei mir keine Publikation zustande kommt [...] die Gießener Kur mit der mehrwöchentlichen Entziehung aller Reize (Tabak, Kaffee, Tee) war hart.« Ebd., S. 374f. Offenbar vermochte Husserl seine eigenen Gedanken erst wieder zu verstehen, als er die üblichen »Reizmittel« konsumierte. Vgl. ebd., X, S. 36ff. Erfolgreiches wissenschaftliches Denken und Arbeiten war für Husserl ohne »Reizmittel« kaum zu erreichen. Husserl selbst soll über seine Gewohnheiten gescherzt haben. Schuhmann zitiert einen Bericht Gerda Walthers: »Es gab freilich doch etwas, was Husserl sehr schätzte in der Außenwelt, und das war starker Bohnenkaffee... ›Geben Sie mir Kaffee, dann mache ich Phänomenologie daraus!‹ sagte er wohl.« Walther, 1960, S. 211. Schuhmann bemerkt in seiner Einleitung zu Husserls Briefwechsel, dass man dennoch kaum sagen können wird, dass dieser Konsum mit Husserls Philosophieren in einem inhaltlichen Zusammenhang steht. Eher gehört er zu den Begleitumständen. Vgl. ebd., X, S. 40. Dem ist sicher zuzustimmen. Wollen wir wissenschaftlich philosophieren, ist die Beachtung von Begleitumständen nichtsdestoweniger geboten, nicht nur in Hinblick auf gastrale Wirkungen von Kaffee und Nikotin. 282 | Husserl, Manuskript E III, 9, 32a. 283 | Vgl. Husserl, Manuskript A VI, 8 I/73a,b. 284 | Vgl. ebd. 285 | Vgl. ebd. 286 | Vgl. ebd. 287 | Ebd.
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Aber wie verhält sich die Erregung sinnlicher Lust zu geistiger Lust bzw. Freude?288 Erregung ist mitunter ein »Im-Ich-bewirkt-Werden«, in dem Sinne, in dem Speise in uns Geschmacksempfindungen und Geschmackslust bewirkt.289 Das Erregte, die Empfindung, das Gefühl, hätten ihre »Ursache« in dem Erregenden, in einem Reiz, der auf das Ich ausgeübt werde.290 Errege Wohlgeschmack die Freude in uns, so habe sie ihren »Grund« im Wohlgeschmack, in der sinnlichen Empfindungslust.291 Als gründend oder motivierend komme das »Jetzt-Haben oder Genießen der sinnlichen Empfindungslust« in Frage, und die vorausgesetzten »Fakta«. Doch Empfindungslust beziehe sich weder auf Gründe noch auf Motive, noch auf Gegenstände, noch auf Sachlagen.292 Das Gefallen, die Freude, die geistige Lust hätten ihre Gegenstände und bezögen sich auf Sachverhalte.293 Die Rede von »geistiger Lust« könne hier irreführen: Soll denn das Gefallen am schönen Kuchen im Schaufenster auch als »geistige Lust« gelten?294 Da gilt es eben zu unterscheiden: Zwischen dem Wohlgefühl im Genuss einer Speise, der Geschmacksempfindung, dem Gefühl an der gegenständlichen Speise, die als »Bissen« im Munde zerkaut wird, dem auf den Bissen bezogenen Gefühl und dem auf den Rest der Speise auf dem Teller bezogenen Gefühl.295 Daneben gibt es noch das Gefallen im Anblick des Kuchens auf dem Tisch, verbunden mit der Erwartung, etwas abzubekommen, ein Gefallen, das wohl auch dann auftreten kann, wenn wir satt sind und gar nicht mitessen wollen.296 Der letzte Fall sei ähnlich gelagert wie der des Kuchens im Schaufenster des Kuchenladens.297 Der Kampf zwischen Willen und Vernunft: »Das Kind vor dem Kuchenladen: Anblick der Süßigkeiten. Der Reiz wird stärker, dann tritt ein inneres Willens-Ja ein oder auch bei Erinnerung an das Verbot nach Kampf ein ›entschlossenes‹ Nein.«298Zusätzlich erschwert wird die Klärung der Lust-Bezüge durch synästhetische Erscheinungen. Die Lust am Essen betrifft auch die Augen:
288 | Vgl. Husserl, Manuskript A VI, 8 I/73a,b. 289 | Ebd. 290 | Ebd. 291 | Ebd. 292 | Ebd. 293 | Vgl. ebd. 294 | Ebd. 295 | Ebd., 12 II/67a,b. 296 | Vgl. ebd. 297 | Vgl. ebd., sowie 12 I/130a. 298 | Ebd. 12 I/130a
Unterscheidungen »Die Speise im Essen ›erregt Lust‹, das Essen, die hervortretenden Geschmacksempfindungen fundieren Essenslust. Die Speise – abgesehen vom Essen, vermöge der sonstigen Wahrnehmungen – erregt andere Lust: Augenlust und dgl. Die Speise, die nicht gegessen wird, erregt auch eine empirisch mit der vorigen zusammenhängende Lust: Weil die Speise, wenn sie gegessen wird, Lust erweckt, erweckt sie ›Augenlust‹ im bloßen Anblick.« 299
Die Zuwendung zur Speise sei ein Gefallen.300 Die Speise weckt Husserls »Interesse«. Ist die Zuwendung selbst Trägerin der Lust oder gibt es noch einen davon zu unterscheidenden »Akt« des Gefallens?301 Manche Gegenstände erscheinen gefällig, »umflossen von einem ›rosigen Licht‹«.302 Doch einen Empfindungsinhalt umgebe kein rosiger Schimmer. Die Speise auf dem Teller erscheine in rosigem Licht, nicht aber der Bissen im Mund und auch nicht der Geschmacksinhalt.303 Das Gefallen an Speise und das gastrale Verlangen nach Füllung scheinen damit auseinanderzufallen. Es gibt aber Übergänge. Auch bei Hunger muss Speise nicht gefällig wirken, den Appetit können wir uns verderben, ohne das Licht zu löschen, das eine Speise umgibt: »Hungrig trete ich ins Zimmer, und es steht auf dem Tisch ein Brötchen, die Neigung ist alsbald da und geht ohne fiat in Essen über. [...] Unwillkürlich greife ich nach dem Brötchen. [...] Es kann eine Hemmung dazwischentreten und ich dann willkürlich tun, das fiat setzt dann ein: Ich verderbe mir den Appetit, gleichwohl: fiat.« 304
Hinter den Bezügen zwischen Lust und Speise steht auch bei Husserl der Trieb zur Füllung des Verdauungsschlauches. Das kündigt sich schon an, wenn er die Lust am Essen nicht als oberflächliche Erfahrung abtut: »Tiefer« in sich bemerkt er mittelbar erregte Gefühle, eine Freude am Wohlgeschmack, aber auch am ganzen Rhythmus sinnlicher Empfindungen beim Essen.305 Hier komme es zu einer »Freude des zentralen Ichs«, die allerdings nicht unbedingt aus dem »Innersten« kommen müsse.306 »Leere« und »uneigentliche« Gefühle seien mitunter sehr mächtig.307 Eine Nachricht über eine Ehrung oder eine Zurücksetzung könne uns mächtig aufregen und der Appetit, bzw. die 299 | Ebd., 12 II/67a,b. 300 | Vgl. ebd., 7/29a. 301 | Ebd. 302 | Ebd. 8 I/74a. 303 | Vgl. ebd. 304 | Ebd., 12 I/118b, 162a. 305 | Ebd., 8 I/73a,b. 306 | Ebd. 307 | Ebd., 7/35b.
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Lust am Essen, werde ganz zurückgedrängt. Sie könne nun nicht mehr lebhaft vergegenwärtigt werden, sie könne, »selbst wo sie aktuell ist, nicht eigentlich mit Aufmerksamkeit genossen werden.«308 Es gibt laut Husserl also geistige Dispositionen, bei denen wir Speise zwar aufnehmen, aber nicht genießen, obwohl die physiologischen Voraussetzungen für den Genuss gegeben sind. Hier überschatten die Gedanken sozusagen die organischen Gegebenheiten: Eigentlich schmeckt es, aber tatsächlich nehmen wir den Genuss gedanklich nicht wahr. Andererseits sei ungehemmt wachsender Appetit geeignet, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Beständige Entbehrung könne zu wahnsinnigem Hunger nach Genuss führen.309 Der Hungernde könne dabei schließlich einen leidenschaftlichen Hungerwahn entwickeln: Speise werde für ihn das Höchste, selbst wenn er für sie morden oder sich am Fleisch des Nebenmenschen sättigen muss. Leidenschaftliche Gier könne das Wünschen und Streben, aber auch das Genießen betreffen. Die nichtexistentiale Freude wisse dagegen gar nichts vom Begehren und Genießen des Seins.310 Bei gestilltem Hunger können wir uns laut Husserl in das Gefühl des Hungers »einleben«, uns darin einfühlen, ohne dabei besondere Lust oder Unlust zu empfinden.311 Die Macht des Magens tritt in Erscheinung: Bei Hunger empfinden wir auch dann einen Mangel, wenn wir uns die Sättigung des Hungers vorstellen.312 Zu dem Kontrast zwischen der unlustigen Leere, dem ungestillten Hungergefühl und dem lustvollen Sättigungsgefühl in der Vorstellung313 geselle sich etwas Neues, das Spezifische des Begehrens, ein Verlangen nach dem Vorgestellten, nach einer Sättigung des Hungers, nach der Beseitigung der Unlust oder nach Steigerung einer vorhandenen Lust.314 In Hinblick auf das Begehren nach Stillung des Hungers sei Folgendes zu unterscheiden:315 »die Sättigung des Hungers als solchen hinsichtlich der Triebgefühle; das angenehme spezifische Sättigungsgefühl ›im Magen‹ und was sich damit noch verbindet vor dem Bewusstsein des Nichtseins und vor dem Wunsch (Geschmackslust etc.). Weiter: die Sättigung des Gefühls des Mangels, d.i. des Gefühlsbewusstseins von mangelndem Essen; die stetige oder bissenweise Zuführung des Essens beseitigt diesen Mangel und füllt seine Leere aus mit der wachsenden Lust der Magensättigung etc., denn der Mangel ist Mangel am Nicht- sein der Nahrung als dieses Wohlgefühl versprechender. Endlich die 308 | Ebd. 309 | Vgl. ebd., 8I/47a,b. 310 | Vgl. ebd., 8I/47a,b. 311 | Ebd., 12 I/132b u. Husserl, Materialien III, 3 II III/12a. 312 | Vgl. ebd., 12 I/132b. 313 | Vgl. ebd. 314 | Vgl. ebd. 315 | Vgl. Husserl, Materialien III, 3 II III/12b-13a.
Unterscheidungen Wunschbefriedigung: die Freude, dass gerade eintritt, was erwünscht war. Die Entspannung des Langens, des Hinstrebens nach dem Begehrten.« 316
Durch die Verbindung von Gefühlen mit Vorstellungen und Urteilen fundierten sich neue Akte der Gemütssphäre.317 Das Gefühl eines knurrenden, leeren Magens zeige die Zuwendung auf dieses Gefühl und die Analyse desselben so, wie es gegeben ist.318 Es handele sich nicht um eine Bewusstseinsbeziehung auf Nichtseiendes. Die ergebe sich erst dann, wenn gesagt werde: Mir mangelt Essen. Hunger sei eine Unlust, die durch Essen beseitigt werden kann. Essen sei aber nicht bloß Beseitigung, sondern erzeuge positive Lust. Die überdecke die Unlustleere des Hungers, den Unlustraum, mit wachsender Dichte. »So findet eine charakteristische Ausgleichung, Ausfüllung, eben Sättigung statt, vermöge der in eigentümlicher Weise sich mit der Unlust deckenden und sie ›aufhebenden‹ (wie plus-minus sich ausgleicht oder wie zwei Kräfte) positiven Lust, und zwar in einem stetigen oder schrittweisen Prozess.« 319
Ebenso verhielten sich die »unbefriedigte Geschlechtslust«, das Unlustgefühl des Mangels und die Sättigung dieses Triebes.320 »Und empirisch stehen die Speise und das Essen als Unlust Beseitigende und zugleich Genuss Bereitende da: nämlich Wohlgeschmack gebend und zugleich verschmolzen mit diesem die in dieser Verschmelzung gesteigerte (oder wechselseitige Steigerung) Freude an der stetigen Beseitigung der Unlust. Stetige Aneinanderreihung von Lustempfindungen – sich deckend mit stetiger Abnahme der Unlust, zeitlich und empirisch-sachlich, und stetige Befriedigung in der Abnahme der Unlust. Alles verschmolzen und im positiven Lustcharakter sich steigernd.« 321
Doch schon durch die eingehende Beobachtung seines Hungers beim Verzehr des Frühstücks überzeugt sich Husserl davon, dass »die Sache komplizierter ist«.322 In der Hauptsache sei es wohl richtig, dass die füllende Lust und die Leere der Unlust qualitativ wesentlich aufeinander bezogen sind.323 Zu
316 | Ebd. 317 | Vgl. ebd. 318 | Vgl. Husserl, Manuskript A VI, 12 I/239b, 240b,a. 319 | Ebd. 320 | Ebd. 321 | Ebd. 322 | Ebd. 323 | Vgl. ebd.
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unterscheiden seien allerdings die »Schmecklust« und die »Magenlust«.324 Das Zusammengehörige sei hier der Hunger. Damit meint Husserl nicht das Begehren nach Speise, sondern das Gefühl »des leeren Magens« und das Sättigungsgefühl im »Magen«, etwa dann, wenn eine Suppe dem Magen Löffel für Löffel zugeführt werde.325 Dazu kämen die Geschmackslüste, die qualitativ in keiner Beziehung zur »Leere im Magen« stünden und auch nicht zur eigentlichen Sättigung gehörten.326 »Die eigentliche Sättigung ist also ein in den Gattungen der betreffenden Qualitäten wesentlich (a priori) gründendes Verhältnis.«327 Werde der Hunger zur Begierde, so sei offenbar zwischen der Sättigung als Aufhebung der Magenleere und der Befriedigung der Begierde zu unterscheiden. Husserl notiert: »Beim Essen haben wir nicht stetige Befriedigung bzw. Sättigung. Vielmehr essen wir in Bissen, und nun wäre zu beschreiben der Rhythmus in dem Sättigen, dann Leere und heftiger Drang, dann wieder Sättigung, dann Leere und wieder, etwas weniger heftiger, Drang usw.« 328
Husserls Erklärungen zur geteilten Freude an Speise führen zur Frage nach dem intersubjektiven Erleben von Verdauungsvorgängen. Husserl setzt bei seiner persönlichen Lust an: »Mir erregt die Speise Lust (mir erscheint sie als ›gut‹, oder wie man in Niederdeutschland sagt: ›schön‹).«329 Das Urteil über die Lust an der Speise könne zunächst als objektiv erscheinen. Wenn wir Speise als »gut« beurteilten, ein anderer sie dagegen als »schlecht«, so neigten wir dazu, dies zu missbilligen und zu sagen, er urteile falsch. Der kulturellen Verankerung unserer Urteile über Speise könne hierbei eine wichtige Rolle zukommen.330 Weil in Beziehung auf dieselbe Speise aber verschiedene Stellung324 | Ebd. 325 | Ebd. 326 | Vgl. ebd. 327 | Ebd. 328 | Ebd. 329 | Ebd., 3/72a,b. 330 | Eine Speise, die Europäern schmecke, schmecke Chinesen vielleicht nicht. Vgl. ebd., 7/37b. Vielleicht seien die ursprünglichen Lustbetonungen dieselben, aber die Kochkunst sei eine andere. Die durch Erziehung gewonnene Fähigkeit der Unterscheidung und die dadurch begründeten Gefühlswerte seien verschieden. Wir können uns denken, dass wir eine Ratte mit Wollust verspeisen, während die Vorstellung, eine Ratte zu verspeisen, uns mit Ekel durchschauert. Vgl. ebd., 12 II/118a. Eine »feine« Speise sei für den Gourmet eine Symphonie, in Geschmackselementen und Gefühlsempfindungselementen fundiert, die er herausanalysiert und in bestimmter Weise ordnet, rhythmisiert. Der Bauer könne hier nicht unterscheiden, für ihn fließe al-
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nahmen möglich seien, ja weil eine Speise uns selbst einmal schmecken könne und ein anderes Mal nicht, sei leicht einzusehen, dass unser Urteil hier nicht objektiv ist.331 Wenn wir es aber subjektivierten, d.h. es in Relation zum schmeckenden und demgemäß »wertenden« Subjekt brächten, werde es als solches relatives Prädikat wieder »objektiv«. Wenn ein anderer mit anderen Gefühlen auf eine Speise reagiere als wir selbst, so könnten wir sein Verhalten aber weiterhin missbilligen. Es gefalle uns, wenn der andere sich freue, wo wir uns freuen. Geteilte Freude sei doppelte Freude.332 Diese Feststellung muss sich nicht auf die Freuden von Zunge und Gaumen beschränken, sondern lässt sich auch auf die Lust und Unlust anderer Verdauungsorgane anwenden. Wenn uns der Genuss einer Speise Magenschmerzen verursacht, so nehmen wir berechtigt an, dass sie auf andere Mägen in ähnlicher Weise wirken muss. Speisegemeinschaften sind in der Regel auch Verdauungsgemeinschaften, wobei die Erwartung von Verdauungsfreude für die Teilnahme an einer Speisegemeinschaft durchaus motivierender sein kann als Freude an kulinarischem Genuss. Der Verdauungsschlauch ist kein abgeschlossenes System, in ihm enthaltene Speise verschwindet nicht aus der erfahrbaren Welt. Verzehrte Nahrung wird zum Teil-Besitz des Subjektes.333 Sicher können andere nicht das verdauen, was wir selbst verdauen, aber sie können ja auch nicht sehen oder hören, was wir selbst sehen und hören. So wie es bei der Lust am Speisen unterschiedliche Fälle zu unterscheiden gilt, so auch bei der Lust an der Verdauung.
les in ein Chaos zusammen, und demgemäß ist sein Geschmacksurteil nicht in gleicher Weise fundiert. Vgl. ebd., 3/72b. Wenn Husserl vermutet, dass die Annäherung an eine Einheit des Urteils, an Übereinstimmung umso größer sei, je größer die Erziehung des »Geschmackssinnes« ist, vgl. ebd., so scheint er davon auszugehen, dass es so etwas wie einen übergeordneten guten Geschmack gibt, der durch Erziehung universell ausgebildet werden kann. 331 | Vgl. ebd., 3/72a,b. 332 | Ebd. 333 | Der Widerspruch zwischen Rigotti und Dianconu in Hinblick auf den »Besitz« der Speise durch den Speisenden lässt sich hiermit aufheben. Diaconu, 2005, S. 328: »Das vernichtete und konsumierte Andere wirkt subversiv auf uns ein, dringt in unser Inneres ein, bis zum ›Magen der Seele‹ selbst; die ›besiegte‹ Materie penetriert den Leib. Wer ist dann eigentlich der Sieger, und wer der Verlierer? Gegen Rigotti ist das verzehrte Essen kein Besitz des Subjektes, sondern nimmt an seinem Wesen teil. Das aggressive Esssubjekt lässt es eigentlich zu, vom Assimilierten modifiziert zu werden; Handlung ist Wandlung, und die das Objekt vernichtende Aktivität ein Sich-wandeln-Lassen. Eine solche Auffassung führte zum relationalen Begriff der Person in der gegenwärtigen feministischen Philosophie.« Vgl. Rigotti, 2002, S. 57.
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U rbilder bei B achel ard Gaston Bachelard (* 27.06.1884 in Bar-sur-Aube; † 16.10.1962 in Paris) verteidigt die Bedeutung von Träumereien für die Entwicklung von Wissen. Die doppelte Perspektive der Bildbetrachtung als Ausdruck von Traum und Gedanke334 wendet Bachelard auch auf die Verdauung an, die er als ein grundlegendes Bild für Prozesse der Umwandlung behandelt. Unter den anatomischen Bildern, die wir alltäglichen Dingen bezeichnend beilegen – Tischbeine, Fettaugen, Kohlköpfen etc. –, komme dem Bild des Magens eine besondere Bedeutung zu: Es arbeite.335 Bachelard legt ein digestives Verständnis der Bezüge zwischen Vorstellungsbildern nahe. Was Menschen in der Tiefe ihrer selbst, der Dinge oder des Universum spüren, führe zu isomorphen Bildern, die metaphorisch ineinandergreifen.336 Bilder von Häusern, Mägen, Höhlen, Eiern und Samen im Dunklen konvergieren bei Bachelard in Träumen von der Rückkehr in den Bauch.337 Ausgehend vom Bauch sei der Weg zu Brust und Uterus nicht weit.338 Bachelards besondere Obacht für Bauch und Verdauung deutet sich in seinen Erklärungen zu materiellen Urbildern (»images matérielles premières«) an, deren Tragweite sich logisch nicht legitimieren lasse.339 Als Beispiele nennt Bachelard die Begriffe »weich« und »hart«. Im Zentrum unserer Bilder von dem, was wir mit diesen Begriffen benennen, sieht Bachelard träumerische Hände instinktiv das materielle Urelement (»l’élément matériel premier du matérialisme«) erfassen: den »optimalen Teig« (»la pâte optima«).340 In unserer Vorstellungswelt verknüpfe sich die Konsistenz des Teigs mit Bildern von Wasser, das Erde aufweicht und Erde, die dem Wasser Halt gibt.341 Weiche Erde berühre in den Vorstellungen zur Materie einen empfindlichen Punkt, weil sie in stark entgegengesetzten Wertspielen (»jeux de valeurs«) erscheine.342 Perfekter Teig sei die erste Materie des Materialismus (»matériel premier du matérialisme«).343 Ein Philosoph, der das als primitiv ablehne (»qui refuse cette primitivité«), kann laut Bachelard nicht wirklich in den Materialismus eindringen.
334 | Vgl. Bachelard, La Terre et les rêveries du repos (TRR), S. 148. 335 | Vgl. ebd., S. 191. 336 | Vgl. ebd., S. 195. 337 | Vgl. ebd., auch S. 231. 338 | Vgl. ebd., S. 166. 339 | Ebd., S. 70. 340 | Ebd., S. 79. An gleicher Stelle schreibt Bachelard auch von perfektem und idealem Teig (»la pâte parfaite«, »la pâte idéale«). 341 | Vgl. ebd., S. 75f. 342 | Ebd., S. 128. 343 | Ebd., S. 79.
Unterscheidungen
Bachelards Erklärungen zur ›pâte optima‹ sind reich an Referenzen zum Verdauungsbrei.344 Unser eigenes Fleisch sei ein perfekter Urteig (»une pâte première«), der in engster Verbindung mit einem »cogito pétrisseur« stehe, also einem »knetenden« Denken, das sich laut Bachelard vom »cogito cartésien« absetzt: »Mir ist alles Teig, ich bin mein eigener Teig, meine Zukunft ist meine eigene Materie, meine eigene Materie ist Aktion und Passion, ich bin wirklich ein Urteig«.345 Das Zusammenspiel zwischen Hand und Teig im ›cogito pétrisseur‹ lässt sich laut Bachelard als ursprüngliche Metapher für das Zusammenspiel zwischen Verdauungsschlauch und Speisebrei verstehen.346 Es sei unnötig, hier nach okkulten Qualitäten im Sinne eines Aberglaubens zu suchen. Das Offensichtliche des materiellen Bildes, das materiell gelebte Bild, beweise hinlänglich, dass weiche Materie unser Gemüt beruhige.347 Der Teig könne gewissermaßen im Inneren bearbeitet werden wie auch das Leben selbst.348 Feuerbachs »Stammtischthese«349 zur Identität von Sein und Essen würdigt Bachelard zwischen klassischer Etymologie und magischem Geistesleben.350 Gut und Böse würden hier nicht durch Geschmack unterschieden, sondern durch eine Instanz, die nicht allein auf Sinnlichkeit beruhe. Unter Missachtung der Sinnlichkeit werde infolge der Anerkennung der Maxime ›Was bitter schmeckt, ist gesund‹ alles geschluckt.351 Das Schlucken führe zu Rätseln in der Tiefe des Seins. Bachelard suggeriert, das Schluckens sei eine Transaktion, durch die das »In-sich« (»l’en-soi«) mit dem »Für-sich« (»le poursoi«) verbunden wird.352 344 | Die Bedeutung des Verdauungsbreis für Bachelards Ausführungen zum primitiven Urelement der Materialismen deutet sich schon in dem Zitat von Henri Michaux an, mit dem Bachelard seine Ausführungen zum Teig überschreibt: »Man muss die Attacken des inneren Seins auf die Gier ansehen.« (»Il faut voir l’être intérieur attaquant la concupiscence.«) Henri Michaux, Plume, S. 131, zitiert nach Bachelard, La Terre et les rêveries de la volonté, (TRV), S. 75. Kein Bäcker könne jemals ähnlich enorme Hände um seinen Teig senken. 345 | Bachelard, TRV, S. 80. 346 | Vgl. ebd. 347 | Vgl. ebd., S. 83. 348 | Vgl. ebd., S. 101. 349 | Lemke, 2004, S. 117ff. 350 | Den lateinischen Begriff für Sein, ›esse‹, versteht Bachelard im Sinne des deutschen Imperativs ›esse!‹ auch als Aufforderung zum Speisen. Das erinnert an die begriffsgeschichtliche Nähe zwischen Sein und Speisen: wie sich ›es_se‹ bzw. sein auf ›*h^es_‹ gründet, so geht ›ed_se‹ bzw. essen zurück auf ›*h^ed_‹, vgl. ›ed_mi‹. 351 | Vgl. Bachelard, TRV, S. 121. 352 | Ebd.
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Die Wechselwirkungen zwischen Teig und Bewusstsein thematisiert Bachelard in Hinblick auf das Kneten von ›Spermaceti‹ bzw. von ›Walrat‹, einer fett- und wachshaltigen Substanz aus dem Vorderkopf des Pottwals, die sich im Roman Moby Dick mit dem Bewusstsein des Knetenden zu verkneten beginnt.353 Die hohle Hand nennt Bachelard einen Muskelwald, dessen zugreifende, zupackende, sich ausbreitende, knetende, wollende Finger den Charakter verraten. Wenn sich bei psychoanalytischer Arbeit an der ›pâte optima‹ der Geiz und die Aggressivität einer Hand in Großzügigkeit verwandeln können,354 wie muss der Umgang mit ›pâte optima‹ dann erst den drückenden Magen erfreuen! Zur Entfaltung der wohltuenden Wirkungen der ›pâte optima‹ braucht es laut Bachelard neben Wasser und Erde auch Feuer. Soll der Teig nicht nur geknetet, sondern auch gegart werden, so müsse Feuer ins Spiel kommen.355 In vorwissenschaftlichen Vorstellungsbildern erscheine die Verdauung als Kochvorgang und das Kochen als ein Verdauungsvorgang.356 Laut Bachelard ist es fraglich, ob die wissenschaftliche Bestimmung unseres Nahrungsbedarfs nach Kaloriengehalt dem wirkliche Geschehen tatsächlich näher kommt als die Bestimmung entsprechend der Brennkapazität einer kleinen Flamme in unseren Mägen.357 Wissenschaftlicher Fortschritt ist laut Bachelard eng mit Verdauungsvorgängen verbunden. Bei Alexandre de la Tourette habe ein exzellenter Alchemist unsere Körper als Öfen erbaut, in denen ein stetes Feuer brenne, gut belüftet und geregelt, um seine alchemischen Operationen in ihm durchzuführen.358 Ausführungen zum Backen von Brot gebe es zuhauf, die Variationen der Vergleiche zwischen Gold und knusprigen Krusten erscheinen ihm monoton.359 Origineller seien Träume von Hefe, die den Teig gehen lassen. Als Ver353 | Vgl. ebd., S. 83. »Squeeze! squeeze! squeeze! all the morning long; I squeezed that sperm till I myself almost melted into it.« Herman Melville, Moby-Dick, Kapitel 94. (»Drücken, drücken, drücken, den ganzen Morgen lang; ich drückte Spermaceti bis ich selbst fast darin aufging, ich drückte die Spermaceti bis mich ein seltsamer Wahnsinn befiel.«) 354 | Vgl. ebd., S. 84. 355 | Vgl. ebd., S. 85. 356 | Vgl. ebd., S. 173. 357 | Bachelard, La Formation de l’esprit scientifique, (FES), S. 173. 358 | Vgl. ebd. Denis Papin habe seinen berühmten Druckkochtopf nicht zufällig einen »Verdauer« (»Digesteur«) genannt: Selbst Knochen ließen sich mit diesem Topf in wenigen Minuten in ein Gelee verwandeln. Der Vorgang wurde als Analogie zur Funktion des Magens verstanden, die im Topf aufgrund der starken Hitze lebendiger und eindringlicher wirke. 359 | Bachelard, TRV, S. 86.
Unterscheidungen
dauungshilfe im Teig erscheine Hefe in substanziellen Träumen.360 Im vorwissenschaftlichen Verständnis liefere die Verdauung den Schlüssel zum Verständnis von Backvorgängen. Bei Blaise de Vigenère koche Hefe den Teig von innen. Das spreche keineswegs dagegen, dass Backvorgänge auch den Schlüssel zum Verständnis der Verdauung liefern können. Der optimale Schlüssel der Träume vorwissenschaftlicher Forschung öffne alle Türen. Aus wissenschaftlicher Perspektive erschienen die erträumten Vorstellungen zur Funktion der Hefe zwar irrig, aber am Wert der ursprünglichen Bilder ändere das wenig.361 Wenn Erde, Wasser und Luft im gehenden Teig in der Erwartung des Feuers zusammenkämen, so erkläre das gut, warum Brot als vollwertiges Nahrungsmittel (»aliment complet«) gilt.362 Der von der Hefe gerundete Brotlaib (»la miche«) strecke sich beim Aufgehen wie ein Bauch. Zuweilen komme es zu so etwas wie einem Magenknurren, in dessen Folge an der Oberfläche eine Blase platze.363 Laut Boerhaave können die vom warmen Brot ausgehenden Dämpfe einen Menschen in einem engen Raum auf der Stelle ersticken. Wenn Bachelard den Ausdünstungen der Hefe Zeit zur Verflüchtigung zugesteht,364 so lässt sich das als Plädoyer für die verstärkte Entwicklung von Körpergasen deuten, welches das pythagoräische Bohnenspeiseverbot offen verspottet. Brei interessiert Bachelard nicht nur bei Vorbereitungen in der Küche am Morgen des Festtags,365 sondern auch bei der Beseitigung von Überresten am Tag danach. In Anlehnung an Hegel betont Bachelard, dass Tiere Materie zur Gestaltung ausscheiden, nicht aus Ekel, sondern zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse.366 Das Kneten von Teig sei die »Antithese« des Modellierens.367 Ein »Urbild« (»image première«) des Bezugs zwischen Verwesung und Erzeugung gebe eine Blume auf einem Misthaufen.368 Die mysteriöse Arbeit schwarzer Erde, die Blüten auf schattigem Schlamm zum Erleuchten bringt, betreffe das Reich der Bilder und das Reich der Ideen gleichermaßen.369 In der literarischen Vorstellungswelt von Henri de Régnier führt Bachelard Prozesse der inneren und äußeren Verdauung zusammen: Im Golf von Korinth würden Quallen treiben, gleich irisierten Eisstücken, milchiges, inkonsistentes Perlmutt, flüssige Opale in einer Kette der Amphitrite. In der Bretagne habe er sie wieder360 | Vgl. ebd., S. 117. 361 | Vgl. ebd., S. 118. 362 | Ebd., S. 86f. 363 | Vgl. ebd. 364 | Vgl. ebd. 365 | Vgl. ebd., S. 85. 366 | Vgl. ebd., S. 104. 367 | Ebd., S. 93. 368 | Ebd., S. 123. 369 | Vgl. ebd.
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gefunden: als schleimige Masse auf das Gestade geworfen, leblos, widerwärtig und trüb, als hätten Neptuns Herden ihre nächtlichen Überreste im Sand hinterlassen.370 Aber zurück von den göttlichen Ausscheidungen zur Herstellung von Speise: Ein guter Teig brauche Zeit, um zu reifen. Bei der Herstellung von Porzellan im alten China habe man Porzellanmischungen vor dem Gebrauch über Jahre hinweg fermentieren lassen, um eine außerordentliche Feinheit zu erreichen.371 Dem Kaolin sei eine lebendige Fruchtbarkeit zugesprochen worden, die es in einem Traum von Weiße, Reinheit und Gleichförmigkeit bis in den Himmel führe.372 Zur Erhaltung einer bestimmten Korrelation zwischen Verwesung und Fermentierung sei die Porzellanmasse nur zweimal im Jahr zur Tag-und-Nacht-Gleiche aus einer Mischung von altem und neuem Teig bereitet worden. In der Manufaktur habe nur ein einziger Mensch das Geheimnis der Dosierung gekannt, Bachelard spricht von einem »Traummeister« (»maître rêveur«): Beschützer der Träumereien der Arbeiter.373 Deren Aktivität habe das »Schicksal des Teigs« vollendet.374 Ohne Herz und Traum könne nichts Gutes gelingen, und auch das Zutun des Bauches sei erforderlich. Der Traummeister und seine Arbeiter dürften wahre Verdauungsexperten gewesen sein. Den Kampf gegen gastral inspirierte Träume von lebendigem Teig wende die rationale Wissenschaft aber schon in der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert zu ihren Gunsten:375 Es sei ein Irrtum zu glauben, dass gutes Porzellan lange in der Erde geruht haben müsse. Aber beendet ist der Traum damit noch längst nicht. Begradigte Ideen entwerten laut Bachelard nicht die ursprünglichen Bilder.376 Mit weicher Erde seien alte Werte verbunden, sowohl für das Individuum als auch für die Menschheit.377 Solche doppelt hergebrachten Werte gebe es häufiger, als man denke. Dass Philosophen zum Missbrauch solcher Parallelen neigen, mache die entsprechenden Bilder, die uns eine verlorene Vergangenheit entdecken, umso wertvoller.378 Die Autoren der Enzyklopädie vermuten manches schöne Stück Porzellan in Ruinen alter Häuser und 370 | Vgl. ebd., S. 109. 371 | Vgl. ebd., S. 88. 372 | Vgl. ebd. S., 89. Ein anderes Beispiel für »lebendigen Teig« liefert Bachelards Hinweis auf Guillaume Maxwell, der im XVII. Jahrhundert tierischen Exkrementen einen Anteil am Lebensgeist und somit am Leben zugesprochen habe, der so lange bestehe, bis die Auswürfe in den Körper einer anderen Natur umgewandelt würden. Vgl. ebd., S. 104f N1. 373 | Ebd., S. 89. 374 | Ebd., S. 92. 375 | Vgl. ebd., S. 89. 376 | Vgl. ebd., S. 118. 377 | Vgl. ebd., S. 129. 378 | Vgl. ebd.
Unterscheidungen
Brunnen, das dort zu Zeiten der Revolution versteckt worden sei.379 Laut Bachelard bewahren sie damit den alten Traum von der Tiefe der Erde, die dem Porzellan nach dem Brennen eine besondere Härte und Dauerhaftigkeit verleihe.380 Ein Psychoanalytiker könne hier Spuren der Phantasmen der Rückkehr in den Bauch der Mutter erkennen.381 Seine Ausführungen zum Mythos der Verdauung beginnt Bachelard mit der Feststellung, dass ihre Funktion eine Quelle der Ekstase oder des Opfers, ein Gedicht oder ein Drama sein könne.382 Wer Optimismus und Pessimismus zu Fragen des Magens erkläre, ziele damit auch auf die sozialen Verhältnisse, in denen etwa Schopenhauer seine Misanthropie genährt habe.383 Verdauung sei eine Form der Aneignung, ihre Gewissheit unangreif bar. Ihr entspringe ein Realismus in starker Ausprägung (»plus âpre des avarices…animistes«), in mancher Hinsicht sei Wirklichkeit eben vor allem Nahrung. Solche »Verinnerlichung« habe das Postulat einer »Innerlichkeit« gestützt. Der Realist sei ein Esser.384 Es gebe ein Verlangen zu wissen, was andere in ihrem Magen haben.385 Gerade in »vorwissenschaftlichen« Texten erscheine die digestive Aneignung als Teil eines Wertesystems, etwa bei Marin C. de la Chambre.386 Aneignung sei das Ziel und das Ende des Appetits. Wen es danach dränge, sich etwas anzueignen, dessen Magen müsse Appetit gehabt haben.387 Nach Philippe Hecquet werde Hunger dann vom Magen entfacht, wenn er seine eigene Kraft spüre. Hunger sei ein natürliches Bedürfnis nach integrierbarer Nahrung als Reserve der Macht.388 Manchem Forscher sei das ganze Universum als Verdauungsapparat erschienen.389 Die Sonne liefere die Wärme, um auf der Erde Mineralien zu Pflanzen und Früchte zu verdauen.390 Die Produkte der Erde würden dann in Küchen gemahlen, eingelegt, fermentiert, extrahiert, frittiert oder geröstet, um sie an den Bedarf unserer Mägen anzupassen. Danach könne unser Magen den Speisen ihre Quintessenz entziehen, damit sie
379 | Vgl. ebd., S. 90. 380 | Vgl. ebd. 381 | Vgl. ebd. 382 | Vgl. ebd., S. 169. 383 | Vgl. ebd. 384 | Ebd. 385 | Vgl. ebd., S. 157. 386 | Ebd., S. 169. 387 | Vgl. ebd., S. 170. 388 | Vgl. ebd. 389 | Vgl. ebd., S. 176. 390 | Vgl. ebd.
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nach der Fermentation in den Venen die Glieder erreichen könne.391 Jean-Baptiste-René Robinets Bemerkungen zu Flüssen im Erdinneren liefern laut Bachelard alle Elemente einer auf Bulimie gegründeten Theorie des Universums. Sei alles essbar, so werde im Umkehrschluss auch alles gegessen. In diesem Sinne ernähren sich die Dinge bei Robinet wechselseitig. Die Natur nähre sich auf ihre eigenen Kosten, die eine Hälfte verspeise die andere, bevor sie selbst zur Nahrung ihrer Nahrung werde. Der Vorgang lasse sich rational nicht leicht nachvollziehen, sei auch kaum vorstellbar, aber für einen Verdauenden sei es einfach, ihn zu erträumen.392 Wenn wir der kindlichen Verführungskraft solcher Bilder folgten, führe das zur Idee einer nährenden Muttererde mit einem unterirdischen Schaffensgeist in ihrer Tiefe.393 Unklare Bilder der Verdauung kennzeichnen laut Bachelard aber nicht nur die vorwissenschaftliche Forschung.394 Hinter dem zeitgenössischen Verständnis für Fragen zur Ernährung stehen mitunter irreführende Annahmen, etwa wenn die Einnahme von Phosphaten zur Stärkung des Knochenbaus angepriesen wird, weil Gleiches durch Gleiches angezogen werde.395 Das Unterbewusste gleiche insofern einem ungeheuren Verdauungsschlauch, als es eine erstaunliche Macht zur Assimilation besitze.396 Die Bedeutung mythischer Bilder der Verdauung in der psychologischen Tiefenstruktur der abendländischen Kultur unterstreicht Bachelard in seinen Ausführungen zum Jonas-Komplex (»complexe de Jonas«).397 Bilder von Lebewesen in den Bäuchen von Lebewesen sind laut Bachelard in einer Phänomenologie der Höhlungen (»phénoménologie des cavités«) zu analysieren bzw. im Rahmen digestiver Psychologie (»psychologie digestive«).398 Schlingende Schlünde in schlingenden Schlünden sind ein kultureller Gemeinplatz.399 Die Beschreibung des Todes eines Frosches im Bauch einer Natter durch Louis Pergaud wertet Bachelard als ein frühes Beispiel für »sar391 | Vgl. ebd. 392 | Vgl. ebd., S. 178. 393 | Vgl. ebd., S. 177. 394 | Vgl. ebd., S. 171. 395 | Vgl. ebd. 396 | Vgl. ebd., S. 170. 397 | Bachelard, TRR, S. 147ff. 398 | Ebd., S. 160ff. 399 | Bachelard nennt exemplarisch ein Gemälde von Hieronymus Bosch bzw. Pieter Bruegel (»Siet sone dit hebbe ick zeer langhe gheweten / dat die groote vissen de cleyne eten«), Märchen der Gebrüder Grimm – wo Daumesdick im Magen einer geschlachteten Kuh auf dem Mist landet, afrikanische Mythen – in denen der Magen als Ofen erscheint, in dem der Held seine Form erhält –, Erwähnungen bei Alexandre Dumas, Victor Hugo, Emile Zola, Guy de Maupassant, Elias Lönnrot u.a.
Unterscheidungen
trische Schwindelgefühle« (»vertige sartrien«).400 Die Kindergeschichte vom Schwein, das es sich im »Hause seines Bauches« gemütlich einrichte, relativiere die Furcht vor dem Lebensende im Inneren eines Bauches.401 Als wahrer »Auto-Jonas« verbringe das Schwein sein Leben wirklich bei sich selbst, im angenehm warmen »Zentrum seines eigenen Seins«.402 Nicht nur Kinder fasziniere die Vorstellung des Lebens im Bauch. In populären Träumen erscheine der Bauch als gastliche Höhlung.403 Jonas kehre unversehrt aus dem Bauch zurück in ein Leben mit einem neuen Bewusstsein.404 Auch bei Abbildungen mancher Schlangen stehe das Spucken im Vordergrund, nicht das Schlucken.405 Gerade feuerspuckende Schlagen symbolisierten weniger eine zerstörende als eine kreative Macht. Aufschlussreich für unsere Vorstellungen zu Leben, Tod und Verdauung seien Ouroboros (gr. ›Οὐροβόρος‹, ›Schwanzverzehrer‹). Eine Schlange, die sich den eigenen Schwanz einverleibt, symbolisiert laut Bachelard eine lebendige Ewigkeit, die ihren Grund in sich selbst findet.406 Ähnlich wie die Verdauung im Mythos als allumfassende Macht erscheinen könne, wirke die »kosmische Schlange« auf das Schicksal: Stürbe diese Schlange, so würden wir alle umkommen.407 Logiker, Realisten und Zoologen hätten bei der Zurückweisung solcher Vorstellungen leichtes Spiel, aber das Bild der alles umfassenden Schlange stehe auf psychologisch solidem Grund.408 Für ein Wesen der Erde sei die Erde eine passende Speise. Sind Schlangen nicht Würmer aus den Eingeweiden der Erde?409 Spätestens seit der Verurteilung im Alten Testament seien derartige Vorstellungen weit verbreitet.410 Schlangen stehen aber auch im Verdacht, unbemerkt in Bäuche zu dringen und sich dort mit Milch oder Wein 400 | »Lauwarmer, klebriger Geifer umschloss ihn: eine langsame und unaufhaltsame Bewegung zog ihn unerbittlich in die Tiefe. [...] Der Tod glitt über ihn, genau genommen war das noch nicht der Tod, sondern ein passives Leben, fast negativ, ein aufgeschobenes Leben, nicht in gelassener Ruhe, wie in der Mittagssonne, sondern sozusagen Angst kristallisiert, weil etwas Unmerkliches, vielleicht so etwas wie ein Bewusstseinszustand, schmerzhaft in ihm vibrierte.« Louis Pergaud, De Goupil à Margot, zitiert nach Bachelard, TES, S. 154, Übers. CWD. 401 | Bachelard, TRR, S. 151: »Ah ! je suis bien, disait-il, j’ai chaud.« 402 | Ebd., S. 151. 403 | Vgl. ebd., S. 161. 404 | Vgl. ebd., S. 171f. 405 | Vgl. ebd., S. 172. 406 | Vgl. ebd., S. 311. 407 | Ebd., S. 305. 408 | Vgl. ebd., S. 305f. 409 | Vgl. ebd., S. 302. 410 | Vgl. ebd., S. 307f.
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zu ernähren.411 Zuweilen sollen sie Bäuche auch über die Vagina erreichen, was sich laut Bachelard nicht nur Träumen, sondern auch Albträumen in Rechnung stellen lässt.412 Dass sich die Schlange mitunter im Menschen selbst entwickle, als Darm, der verführt, verrät und bestraft, zeige, dass sich ihre symbolische Bedeutung nicht nur aus sexuellen Motiven entwickelt.413 So betreffe der Jonas-Komplex den Bauch sowohl in geschlechtlicher als auch in digestiver Hinsicht.414 In digestiver Hinsicht beinhaltet er ein Schlucken ohne Kauen.415 In seinem bukkalen Verhalten falle auch der Vielfraß in eine primitive Freude aus der Periode des Schluckens bzw. Lutschens (»sucking«) zurück, das von der Periode des Kauens zu unterscheiden sei.416 Einen Eindruck der Periode des Schluckens gebe das Schlürfen lebendiger Austern.417 Dabei wirke das Schicksal eines verschluckten Wesens weniger erschreckend, wenn wir es mit dem Schicksal eines zerkauten Wesens verglichen.418 ›Geschluckt, aber nicht zerkaut‹, die Bedeutung dieser Nuance verdeutlicht Bachelard unter Hinweis auf Mythen zum Wechsel zwischen Tag und Nacht: Wer verschluckt wird, müsse nicht unbedingt zu einem Spielball des Elends werden.419 Bachelard verweist auf Carl G. Jung: Werde ein Held von einem Drachen oder einem Wal verschluckt, so gelange er in den Magen des Monsters, zumeist sei er gut bewaffnet. Er versuche die Magenwand zu durchdringen, verliere aufgrund der Hitze seine Haare und versuche ein lebenswichtiges Organ des Monsters zu verletzen. Währenddessen sei das Monster aus den Gewässern des Westens an einem Strand des Ostens gestrandet und verendet. Der Held durchstoße nun die Seite des Untiers und steige wie neugeboren, im Moment des Sonnenaufgangs, aus dem toten Körper. Aus dessen Innerem führe er noch seine verstorben geglaubten Eltern und die Geister der Ahnen zum Licht.420 Hier zeige sich der geschlechtliche Aspekt des Jonas-Komplexes. Eine Höhle sei unser erster und unser letzter Wohnsitz.421 Der digestive Akt des Schluckens führe letztlich zu einer geschlechtlichen Wiedergeburt. Denken wir zurück an das Bild des ungeheuren Königs zu Babel, Nebukadnezar 411 | Raspail, Histoire naturelle de la Santé et de la Maladie, 1843, nach Bachelard, FES, S. 174. 412 | Bachelard, TRR, S. 175. 413 | Vgl. ebd., S. 302. 414 | Vgl. ebd., S. 175. 415 | Vgl. ebd., S. 175f. 416 | Ebd., S. 176. 417 | Vgl. ebd. 418 | Vgl. ebd. 419 | Vgl. ebd., S. 177. 420 | Vgl. ebd., S. 177f. 421 | Vgl. ebd., S. 232.
Unterscheidungen
aus dem Buch Jeremiah, so erscheint der Bauch des Drachens ebenfalls als Ort der Entscheidung über Leben und Tod. Wer zerkaut wurde, der wird den Bauch wohl ohnehin über den Anus verlassen. Doch wer geschluckt wurde, dem bleibt eine Hoffnung, dem fremden Bauch durch andere Öffnungen zu entkommen. So erscheine der mütterliche Bauch als idealer Ort für Träume, aus denen der Lebendige erfrischt erwache, wie Tote aus Sarkophagen zum Leben.422 Ein Sarkophag sei ein Bauch und ein Bauch sei ein Sarkophag.423 Der Bauch sei ein »lebendiges Bild«.424 Er sei das Zentrum des großen, grauen Flusses, des vom Regen gewaschenen Himmels, der Rettungsring des Ertrinkenden. Selbst Bilder von toten Mägen bezieht Bachelard noch auf das Leben.425 Als Plädoyer für die Ausgrenzung der ursprünglichen Bilder der Verdauung aus den Strukturen der wissenschaftlichen Forschung bleiben Bachelards Ausführungen zweischneidig. Soll Wissenschaft Abstand von irrigen Bildern nehmen, so bleiben diese Bilder doch untrennbar mit der menschlichen Betrachtung der Welt verbunden, aus der heraus sich die Wissenschaft entwickelt und der sie letztlich dienen soll. Philosophisch ist hier abzuwägen zwischen der Art und Weise, wie Menschen die Welt erfassen, und dem, was aus wissenschaftlicher Sicht irreführend erscheint.
S chmerzen bei Wittgenstein Ludwig Wittgenstein (* 26.04.1889 in Wien; † 29.04.1951 in Cambridge) brachte den Zusammenhang zwischen Hirn und Bauch auf eine schlichte Formel: »Thinking is digesting« (»Denken ist verdauen«).426 Sind gedankliche Verdauung und gastrisches Denken bei Wittgenstein eins? Wie so oft liegen die Dinge nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Gleichsetzung von Denken und Verdauen ist im Zusammenhang von Wittgensteins Verständnis geistiger Aktivität wohl bemerkenswert, war aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und es ist nicht leicht einzuschätzen, welche Be422 | Vgl. ebd., S. 183. 423 | Vgl. ebd., S. 201. 424 | Ebd., S. 191. 425 | Vgl. ebd. 426 | Wittgenstein, Letter to Norman Malcolm, 26.6.1945, zitiert nach Malcolm, 1958, S. 95, auch: McGuinness u. v. Wright, 2008, S. 379. Die Annahme einer Identität zwischen Aktivitäten in Kopf und Bauch erinnert an die Position der »Alten«, die nicht zwischen dem unterschieden, was sie empfanden und was sie dachten, vgl. Aristoteles, De anima, III, 3, 427a45ff; dazu: Empedokles aus Agrigent, Über die Natur, 2 (223), 4 (225).
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deutung Wittgenstein ihr geben wollte.427 Sicher sind Denken und Verdauen bei Wittgenstein keine austauschbaren Begriffe. Ausdrücklich unterstreicht er die »Unvergleichbarkeit« von Vorgängen wie Verdauung und Atmung mit dem Denken, Fühlen und Wollen.428 Aber: »Warum beschäftigen wir uns denn gerade mit dem Denken und nicht mit der Verdauung?«429 Man könne dazu nicht sagen, dass »wir nun einmal denken und eben über das Denken denken wollen.«430 Wir verdauen ja auch! Weiter reicht die Analogie laut Wittgenstein aber nicht: Auch das Interesse stehe der Philosophie nicht frei gegenüber.431 Wenn wir uns für die Beschäftigung mit dem Denken entschieden und gegen die Beschäftigung mit der Verdauung, so hätte das »mit dem Wesen des Interesses zu tun«.432 Nichtsdestoweniger ist Wittgensteins Interesse für Fragen der Verdauung damit bei Weitem nicht erschöpft. Besonders in seinen Überlegungen zum Ort des Denkens bzw. zur ›gewöhnlichen‹ Auffassung, dass Denken ein Privileg des Kopfes oder der Seele sei, wird dieses Interesse offenkundig: »Ich will sagen: denk nicht dass das Denken im Kopf vor sich gehen muss (wie die Verdauung im Magen).«433 Damit scheint Wittgenstein zu unterstellen, dass Verdauung im Magen erfolgt. Aber wie das Denken ist auch die Verdauung bei Wittgenstein nicht zwingend an ein bestimmtes Organ oder einen geistigen Vorgang geknüpft. Denken ist für Wittgenstein kein menschlicher, sondern ein sachlicher Prozess. Ähnlich ist es auch mit der Verdauung. Als naturgeschichtlicher Akt sei Verdauung dem Magen wohl eigentümlich.434 Aber wie beim Denken brauche uns der damit verbundene physiologische Prozess nicht zu interessieren:435 Verdauung lasse sich einerseits als ein für menschliche Wesen charakteristischer Vorgang betrachten und andererseits auch als vom Magen unabhängiger chemischer Vorgang.436 427 | Vgl. Monk, 1990, S. 403. 428 | Vgl. Wittgenstein, Nachlass: The Bergen Electronic Edition (BEE), Item 133, S. 44r. 429 | Wittgenstein, BEE, Philosophische Bemerkungen (PB108), Item 108, S. 206. 430 | Ebd. 431 | Vgl. ebd. 432 | Ebd. Wittgenstein ergänzt: »Vergessen wir auch nicht dass der Unterschied zwischen einer Hypothese, einem Satz, einem mathematischen Gesetz etc. in die Frage nach dem Wesen des Gedankens und des Interesses hineinspielt.« 433 | Wittgenstein, BEE, Bemerkungen (B), Item 109, S. 44. 434 | Vgl. Wittgenstein, PB108, S. 241. 435 | Vgl. Wittgenstein, Wittgensteins Lectures: Cambridge 1930-1932 (L30-32), BII, S. 25. 436 | Vgl. ebd.; dazu Wittgenstein, PB108, S. 241.
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Wittgenstein geht also von einer Ähnlichkeit der Bindungen des Denken und des Verdauens an den menschlichen Körper aus. Aber können Chemiker die Verdauung denn tatsächlich unabhängig vom Magen betrachten? Wittgenstein scheint darauf zu zielen, dass unser Verständnis von Verdauung immer nur partiell ist und dass uns philosophisch nur ein spezieller Aspekt interessiert, ein symbolischer Vorgang, der so lange dauert wie sein Ausdruck.437 Die Abtrennung des symbolischen Verdauungsvorgangs aus seinem physiologischen Umfeld ist allerdings dann problematisch, wenn der Vorgang außerhalb seines physiologischen Umfelds nur eingeschränkt betrachtet werden kann. Inwiefern lassen sich Vorgänge in einem chemischen Labor überhaupt als Verdauungsvorgänge bezeichnen? Inwiefern kann von Verdauung als symbolhaftem Prozess ohne Bezug auf ein physiologisches Verdauungsumfeld gesprochen werden? Können Maschinen verdauen? Was bedeutet das für den Begriff der Verdauung? Die Rede von unorganischer Verdauung mag in wissenschaftlichen, pseudo-wissenschaftlichen oder künstlerischen Sprachspielen sinnvoll scheinen, dem alltäglichen Sprachgebrauch scheint sie aber fremd. Wittgensteins Verdauungs-Problem lässt sich auch anders fassen. Laut Wittgenstein verleiten uns bestimmte Vorstellungsbilder dazu, Gedanken als einen Vorgang im Geiste zu verstehen. Irreführend sei etwa das Gleichnis von »innerhalb« und »außerhalb« des Geistes.438 Wir meinen im Kopf zu denken, so wie wir aus dem Kopf herausschauen, und vergessen dabei, dass es sich eigentlich um Bilder handelt. Auch die Rede vom Geist des Menschen als Atem beruhe ursprünglich auf einem Bild. Solche Redensweisen lassen sich nur dann gefahrlos verwenden, wenn wir uns bei ihrem Gebrauch bewusst an das Bild erinnern.439 Betrachten wir das Bild vom Geist des Menschen als Atem, so stoßen wir auf die ursprüngliche Annahme eines Zusammenhangs zwischen Lufthauch und Leben: Tote atmen nicht. Mit dem Aussetzen der Atmung scheint der lebensspende Geist den Körper zu verlassen. Denken erscheint dabei insofern als ein geistiger Prozess, als wir keine Gedanken fassen können, wenn wir nicht mehr atmen. Das Bild gehört zur Wirklichkeit: kein Denken ohne Atmung. Ähnlich ist es mit der Verdauung: Ihr organisches Umfeld gehört zu Sprachspielen, in denen sie erscheint. Die Bedeutung von ›Verdauung‹ im Zusammenhang eines ›organischen Umfelds‹ ist nicht unbedingt die Bedeutung von ›Verdauung‹ im Zusammenhang eines ›geistigen Umfelds‹. Sicher lässt sich Verdauung als ein symbolischer Prozess verstehen und vielleicht ist es auch ganz einerlei, wo sich dieser Prozess abspielt, solange er sich nur abspielt. Faktisch spielt er sich aber dort ab, wo wir von Verdauung sprechen und das 437 | Vgl. Wittgenstein, L30-32, BII, S. 25. 438 | Ebd. 439 | Vgl. ebd.
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geschieht, in der Sprache der Philosophie und in der Sprache des Alltags, in der Regel im Zusammenhang von Wechselwirkungen zwischen ›organischen‹ und ›geistigen‹ Prozessen. In Überlegungen zum ›inneren‹ Erleben spielt Verdauung eine besondere Rolle. Bekanntlich geht Wittgenstein davon aus, dass ein innerer Vorgang äußerer Kriterien bedarf.440 Die Beobachtung äußerer Kriterien lasse auf innere Vorgänge schließen. Zwar gebe es keinen unzweifelhaften Bezug zwischen äußerem Verhalten und mentalen Inhalten, aber die Beobachtung erlaube die Anwendung passender Begriffe. Eine unfehlbare Garantie dafür, dass einem Begriff ein innerer Vorgang entspricht, gibt es demnach nicht. Aber wir müssen deshalb nicht in hoffnungslosen Zweifel darüber verfallen, was andere fühlen.441 Bekanntlich ist der Wegweiser bei Wittgenstein in Ordnung, wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt.442 Aber wie ist es denn mit den Magenschmerzen: Können wir sie, von außen betrachtet, denn als solche verstehen? Magenschmerzen von außen betrachtet, was ist damit eigentlich gemeint? Wittgenstein: »Es gibt doch hier gar kein außen & innen!«443 Wenn das äußere Verhalten und Erleben mit dem inneren Verhalten und Erleben in eins fällt, sind unsere Magenschmerzen anderen ebenso verständlich wie uns die Magenschmerzen anderer. So wie wir über Vorgänge im Inneren des Körpers sprechen können, so auch über Reden im Geiste. Die Unterscheidung zwischen zwei Arten geistiger Rede, einer hörbaren und einer unhörbaren, scheint laut Wittgenstein ebenso sinnlos wie die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Verdauung: »›Dem Menschen hat es die Natur gegeben, dass er im Geheimen denken kann.‹ Denk Dir, man sagte: ›Die Natur hat es dem Menschen gegeben, dass er hörbar, aber auch unhörbar, in seinem Geiste, reden kann.‹ Er kann also, heißt das, dasselbe auf zwei Arten tun. (Als könnte er sichtbar verdauen und unsichtbar verdauen.)« 4 4 4
Auch wenn wir nicht alles mitteilen, was wir über sie wissen, sind Bauchgefühle nicht privat. Im Gegenteil: Meldet sich der Magen allzu vehement, sind öffentliche Anzeichen auch mit bestem Willen nicht zu vermeiden. Aber ein Zweifel bleibt: Sind Wittgensteins Schmerzen mit der Person Wittgenstein nicht doch in einer Weise verbunden, die anderen Personen verborgen bleiben muss? Wittgenstein behandelt diesen Zweifel besonders in Hinblick auf seine 440 | Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (PU), §580. 441 | Vgl. Wittgenstein, Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (LS), §877, S. 462. 442 | Vgl. Wittgenstein, PU, §87. 443 | Wittgenstein, BEE, Philosophische Grammatik (PG), Item 114, S. 143v. 444 | Wittgenstein, BEE, Philosophische Bemerkungen (PB117), Item 117, S. 134.
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Zähne:445 »Warum nenne ich Zahnschmerzen ›meine Zahnschmerzen‹«?446 »Auf die Frage: wer hat Schmerzen wird auf einen Körper gezeigt & auch ich muss auf einen Körper zeigen.«447 Damit ist die Bindung zwischen Subjekt und Schmerzen aber noch nicht völlig beseitigt. Das wird in Wittgensteins Überlegungen zu Magen, Schmerz, Gesichtsfeld und Farben deutlich. Die Feststellung »Nichts am Gesichtsfeld lässt darauf schließen, dass es von einem Auge gesehen wird«448 hat eine stützende Funktion in Wittgensteins Strategie zur Hinterfragung des gewöhnlichen Gebrauchs des Subjektbegriffs:449 »Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.«450 In diesem Sinne spricht Wittgenstein dem Gesichtsraum eine »selbständige Realität« zu: Er enthalte kein Subjekt und sei autonom.451 Ähnlich argumentiert er in Hinblick auf Magenschmerzen: »Es ist nur wesentlich, dass ich den Raum vor mir habe in dem der Magen liegt und den worin die Schmerzen liegen.«452 Allerdings sind die Überlegungen zum Gesichtsfeld mit den Überlegungen zum Magen nur bedingt kompatibel. Unseren Eingeweiden fehlt die gemeinsame und öffentliche Geometrie sichtbarer Räume.453 Wie sollen Magenschmerzen denn überhaupt unabhängig vom Zustand der inneren Organe einer Person betrachtet werden? Wittgenstein investiert einige Mühe in die Vermeidung subjektiver Zuordnungen im Verdauungsschlauch, insbesondere beim Sprechen über Zahnschmerzen, sein Sprechen ist dabei nicht leicht mit dem gewöhnlichen Gebrauch der Sprache abzugleichen: »Das Phänomen des Schmerzgefühls in einem Zahn, welches ich kenne, ist in der Ausdrucksweise der gewöhnlichen Sprache dargestellt durch ›ich habe in dem und dem
445 | Ähnlich der Zunge gehören Zähne sowohl zum Sprach- als auch zum Verdauu ngs system. Die Empfindlichkeit dieses Schnittpunkts zwischen Einverleibung und Äußerung zeigt sich etwa in der enormen Wirkung, die Karies auf Körper und Geist haben kann, vgl. Damasio, 2010, S. 121. 446 | Wittgenstein, BEE, Philosophische Betrachtungen (PBtr), Item 107, S. 199. 447 | Wittgenstein, BEE, Pocket Notebook, ca. 1932-1934, Item 156a,1v[2]. Die anschließenden Notizen zu bewussten und unbewussten Zahnschmerzen werfen Licht auf eine allgemeine Schwierigkeit des Sprechens über Verdauungsgefühle: Die Sprache führt hier in einen Bereich, in dem Feststellungen schwierig scheinen. 448 | Wittgenstein, Tractatus (TLP), 5.633. 449 | Vgl. Hrachovec, 20.06.2012. 450 | Wittgenstein, TLP, 5.631. 451 | Wittgenstein, BEE, PBtr, Item 107, S. 1ff. 452 | Ebd. 107, S. 157. 453 | Vgl. Hrachovec, 20.06.2012.
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Vom Geist des Bauches Zahn Schmerzen‹. Nicht durch einen Ausdruck von der Art, ›an diesem Ort ist ein Schmerzgefühl‹.« 454
Müsste ›ein Gefühl im Bauch, das Wittgenstein kennt‹ im gewöhnlichen Gebrauch nicht als ›Wittgensteins Bauchgefühl‹ erscheinen? Ist der Philosoph bei der Einbindung seiner Bemerkungen in den gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht doch als Subjekt beteiligt? Beziehen sich Wittgensteins Überlegungen zu Magenschmerzen nicht auch auf Wittgensteins persönliche Verdauungsprobleme? Ein Zusammenhang zwischen eigenem Empfinden und philosophischen Bemerkungen liegt nahe. Wittgensteins Verdauungsprobleme sind legendär. Schon als junger Mann quälten ihn Schmerzen in Magen und Darm. Für die Zeit des Ersten Weltkriegs ist Wittgensteins Gebrauch von Medikamenten für den Magen, »sei es für den körperlichen oder den geistigen«, durch Schreiben von Stanislaus Jolles hinlänglich dokumentiert, auch für spätere Zeit sind Probleme belegt.455 Nach Wittgensteins eigener Auskunft beeinträchtigten die Verdauungsstörungen seine philosophische Arbeit.456 ›Bragg’s charcoal biscuits‹ sollen in Irland ein Hauptbestandsteil seiner Nahrung gewesen sein.457 Angeblich war ihm ziemlich gleich, was er aß, solange es nur immer das Gleiche war.458 Die anhaltenden Probleme mit seiner Verdauung besorgten Wittgenstein schwer.459 Ein physiologischer Grund wurde allerdings nicht festgestellt.460 Die Bedeutung gastraler Verdauungsprobleme für die Ausbildung philosophischer Gedanken ergibt sich aus Wittgensteins eigenen Erklärungen. Lehrer der Philosophie sollen anderen Personen Speisen verabreichen, um ihren 454 | Wittgenstein, BEE, Big Typescript (BT), Item 213, S. 507r[3]; auch Item 212, S. 1338[7]. 455 | Vgl. Schreiben von Stanislaus Jolles, 24.02.1916, dazu Schreiben von Stanislaus Jolles, 5.3.15, 9.03.15, 6.03.1916; für anhaltende Probleme mit der Verdauung sprechen Schreiben von Leopoldine Wittgenstein, 30.01.1917 (Hauptwunsch: »daß Dein Darm brav ist«); von Ludwig Hänsel, 6.11.20 (»Wie gehts mit dem Magen? In einer Woche komme ich mit dem Frege«), von Hermine Wittgenstein, 9. 10. 1921; von Rudolf Koder, 14.01.1931; an Ludwig Hänsel, Herbst 1936 und am 17.02.1949. 456 | Vgl. Monk, 1990, S. 522, vgl. ebd., S. 537. 457 | Vgl. ebd. Die in Wien gebräuchlichen EUCARBON-Produkte waren im Exil wohl nur schwer oder gar nicht erhältlich. 458 | Vgl. Weischedel, 2008, S. 353. 459 | »Seit ein paar Monaten schon blute ich wieder beim Stuhlgang & habe auch etwas Schmerzen. – [240] Denke oft daran, dass ich vielleicht an Mastdarmkrebs sterben werde. Wie auch immer – möge ich gut sterben! 20.4.1937.« 460 | Vgl. Monk, 1990, S. 542.
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Geschmack zu verändern, nicht weil sie schmecken.461 Aber inwiefern soll der (schlechte) Geschmack philosophischer Lehre dem entsprechen, was der Schüler verdauen kann? Soll mit dem Geschmack auch die Verdauung verändert werden? Die Vermengung zwischen gedanklichen und nutritiven Verdauungsvorgängen führt Wittgenstein zu Widersprüchen: Die Verbindung zwischen dem Geschmack geistiger Nahrung und den Notwendigkeiten gastraler Verdauung droht abzureißen. Aber wenn Wittgenstein vom Geschmack an Speise schreibt, zielt er nicht eher auf gedankliche Einsicht als auf gastrale Verträglichkeit? Tatsächlich erscheint Wittgensteins Umgang mit seinem organischen Bauch als eine Sache, und seine Gedanken zur Philosophie als eine andere. Dass Wittgenstein die funktionelle Störung der »mentalen Verdauung«462 als einen Grund für Langeweile bezeichnet, spricht nicht gegen eine strenge Trennung zwischen geistigem und organischem Geschmack.463 Gegenüber kognitiven Verdauungsvorgängen hätten gastrale Erscheinungen bei der philosophischen Behandlung sprachlicher Gewohnheiten allenfalls eine nebensächliche Bedeutung. Dass diese Auffassung problematisch ist, zeigt Wittgensteins Rat zu gesundheitsförderlicher Vielfalt bei der Ernährung unserer Gedanken. Wittgenstein: »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken nur mit einer Art von Beispielen.«464 Bei der Gestaltung einer abwechslungsreichen Diät des Denkens könnte der gastrale Bezug wohl wiederum rein metaphorisch aufgefasst werden. Zur Wahrung philosophischer Gesundheit wäre gedankliche Vielfalt hinreichend, organische oder sinnliche Zusammenhänge allenfalls Beiwerk. Aber die Trennung zwischen kognitiver und gastraler Verdauung ist mit Wittgenstein nicht durchzuhalten. Das deutet sich an, wenn er Übergänge zwischen sinnlichem und reflektierendem Geschmack konstatiert: Der Ton einer Stimme lasse sich genießen, aber auch ein Vanilleeis, beides lasse sich durch dazwischenliegende Fälle miteinander in Beziehung bringen, es gebe Verbindungen zwischen diesen Arten
461 | Vgl. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen ( VB), S. 474. Vgl. Montaigne, Essais, I.XXV.: Wissen soll nicht in Schüler gegossen werden wie Wasser in ein Fass, vielmehr gilt es ihren Geschmack anzuregen. 462 | Wittgenstein, Letter to Norman Malcolm, 26.6.1945, zitiert nach Melcom, 1958, S. 95, McGuinness u. Wright, 1984, S. 379: »if you’re bored a lot it means that your mental digestion isn’t what it should be.« 463 | Allerdings klingen auch bei Wittgenstein Einsichten in Zusammenhänge zwischen organischer Verdauung und Melancholie an, ähnlich wie bei Kant, der sich bekanntlich darüber wunderte, dass der Begriffs des Geschmacks auf die Erlebnisse des Gaumens bezogen wird, s.o. im Abschnitt zu Kant. 464 | Ebd., PU, §593.
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von Genuss.465 Zwischen diesen verschiedenen Fällen des ästhetischen Erlebens liegen laut Wittgenstein andere Fälle, die das eine mit dem anderen in Beziehung setzen. Aber wenn es Ähnlichkeiten zwischen ästhetischem und kulinarischem Genuss gibt, warum dann nicht auch zwischen geistiger und organischer Verdauung? Sicher lässt sich Wittgensteins Behandlung gedanklicher Verdauungsvorgänge in seinen Schriften von seiner Behandlung organischer Verdauung im Moment der Abfassung seiner Schriften unterscheiden. Aber die Möglichkeit zur Unterscheidung schafft die Ähnlichkeiten nicht aus der Welt. Wenn Wittgenstein erklärt, Malcom werde von dem, was er sehe, umso mehr haben, je besser er denke, dann eben deshalb, weil Wittgenstein davon ausgeht, dass Gesehenes durch besseres Denken besser verdaut werden kann.466 Organische und gedankliche Aspekte der Verdauung sind also auch bei Wittgenstein eng assoziiert. In seinen Bemerkungen vermengen sie sich miteinander, ähnlich wie in der Sprache des Alltags, und wir dürfen uns fragen, ob diese Vermengung nicht doch durch eine zumindest partielle Identität zu erklären ist. Ein weiter Anhaltspunkt dafür wäre, wenn sich hinter Wittgensteins Ratschlag zur Veränderung von Geschmack durch philosophische Lehrtätigkeit Motive zur praktischen diätetischen Veränderung verbergen. Geht Wittgensteins Erklärung zur philosophischen Lehre mit einer Sorge um organische Gesundheit einher? Bei Wittgenstein erscheint Verdauung als grundlegender Anhaltspunkt für das Verständnis der Bezüge zwischen Sprache und Denken.467 Erlernen wir 465 | Vgl. ebd.; vgl. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, (VG), §3f, S. 33. 466 | Wittgenstein, Letter to Norman Malcolm, 26.6.1945, zitiert nach Melcom, 1958, S. 95, McGuinness u. Wright, 1984, S. 379: »And the better you are at thinking the more you’ll get out of what you see.« 467 | Ähnlich bei Alfred J. Ayer (* 29.10.1910 in London; † 27.06.1989 ebd.), der bestreitet, dass die Bestimmung »gegebener, ursprünglicher Bezüge« (»so-called given or primitive data«) durch die logische Syntax sprachlicher Ausdrücke möglich sei. Ayer, 1940, S. 112ff. Sinneseindrücke hätten Eigenschaften, die ihnen faktisch zukommen, nicht durch eine Definition. Seine Theorie der Sinneseindrücke (»sense-data«) verteidigt Ayer in Analogie zur Nahrung. Auf die Frage »Was essen Menschen?« laute eine mögliche Antwort: »Nahrung«. Umgekehrt sei »Nahrung« das, »was Menschen essen«. Hieraus folge jedoch nicht, dass alle Fragen zur Ernährung rein verbaler Natur seien. (»We should think a philosopher very silly who maintained that all problems about nutrition were purely verbal, on the ground that they could be reformulated as questions about the words that occurred in nutrition-sentences.«) Wenn wir Speise zu uns nehmen, Käse, Brot und Salz zum Beispiel, so bilden diese Speisen laut Ayer eine Gruppe, nämlich die Gruppe der Dinge, die wir gerade essen. Ayer, 1940, S. 115. Aus
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den Gebrauch von Worten tatsächlich durch die Beobachtung von Verhalten, so liefern uns gastrale Vorgänge Grund zur Behandlung mentaler Störungen und umgekehrt. Wittgenstein: »Ich leide unter einer Art geistiger Verstopfung. Oder ist das nur eine Einbildung ähnlich der wenn man fühlt man möchte erbrechen wenn tatsächlich nichts mehr drin ist? [...] Es gibt Menschen die zu schwach zum Brechen sind. Zu denen gehöre auch ich. Das Einzige was vielleicht einmal an mir brechen wird & davor fürchte ich mich manchmal ist mein Verstand.« 468
Aus Sprachspielen zu Bezügen zwischen gedanklicher und gastraler Verstopfung muss keine Identität zwischen Denken und Verdauen folgen, es bleibt, wie gesagt, bei der Unterscheidung zwischen gedanklichen und digestiven Vorgängen: »Irreführende Parallele: Der Schrei, ein Ausdruck des Schmerzes – der Satz, ein Ausdruck des Gedankens! Als wäre es der Zweck des Satzes, Einen wissen zu lassen, wie es dem Andern zu Mute ist: Nur, sozusagen, im Denkapparat und nicht im Magen.« 469 der Zugehörigkeit dieser Dinge zu dieser Gruppe folge nicht, dass sie einen gemeinsamen Charakter haben. Die Dinge, die wir essen, seien nur dadurch vereint, dass wir sie essen. Das mache sie nicht zu Dingen einer bestimmten Art. (»Indeed to speak of a something which is being eaten by me, or something which is being eaten by someone is merely verbal, because to be eaten is not a character of anything.«) Ayer, 1940, S. 115. Aus der Unbestimmtheit des Zugehörigkeitskriteriums folge aber sicher nicht, dass es keine Nahrung gäbe oder dass wir nicht sinnvoll über Nahrung sprechen können. Aus gutem Grund gehören Landschaften, Zahlen oder Wissenschaftstheorien nicht zu den Dingen, mit denen wir uns ernähren und die wir gewöhnlich als Essen bezeichnen. Aber gibt es nicht doch etwas, das allen Gegenständen, die wir essen, gemeinsam ist? Muss nicht jede Form von Nahrung zumindest prinzipiell verdaubar sein? Sicher können wir alle möglichen Dinge kauen und schlucken, auch wenn unser Körper sie nicht assimilieren kann: Sand, Kot, Gift u.v.a.m. Aber die Möglichkeit zur oralen Aufnahme macht ein Ding nicht automatisch zu dem, was wir Nahrung nennen. Ursprüngliche, durch die Entwicklungsgeschichte gegebene Bezüge zur Verdauung prägen unseren Begriff der Nahrung und des Essens. 468 | Wittgenstein, BEE, Tagebuch 1930-37 (TB 183), Item 183, 26.04.1930, S. 19. 469 | Wittgenstein, PU, §317. Auch in seinen Bemerkungen zu Aufsätzen von Ludwig Hänsel bleibt es bei der Unterscheidung: »Und Freund! wenn der flache & bequeme Geist nicht aus Deinem Aufsatz spricht, so weiß ich nicht, wo diese Worte anzuwenden sind! --Welch ein Gemengsel von ganz ungenügend Verdautem & Durchdachtem! [...] Wenn ich in diesem Aufsatz lese, so erinnert er mich an das, was einer erbricht: Halbverdaute Speisebrocken & eigener Schleim. Ich will den Vergleich nicht fortsetzen.« Wittgenstein,
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Aber die Unterscheidung verweist hier erneut auf die Verwandtschaft: Wollen wir geistige Aktivitäten erklären, so steht organische Verdauung Pate. Manchem guten Geist mag es widerstreben, aber der Bauch bleibt sein ständiger Begleiter, konkret und metaphorisch, auch bei Wittgenstein: »Man kann den Magen an wenig Nahrung gewöhnen aber nicht den Körper; der leidet an der Unterernährung selbst wenn der Magen keinen Einspruch mehr erhebt, ja sogar schon mehr Nahrung von sich weisen würde. Ähnlich nun geht es mit dem Ausdruck der Gemütsbewegung: Zuneigung, Dankbarkeit etc. Man kann diese Äußerungen künstlich eindämmen bis man vor dem was früher natürlich war zurückschreckt, aber der übrige seelische Organismus leidet durch die Unterernährung.« 470
Sicherlich muss eine Person, die sich körperlich ›gut‹ ernährt, nicht notwendig ›gut‹ denken. In Hinblick auf eine »dumme« Kritik einer Aufführung der 4ten Symphonie von Bruckner verwundert sich Wittgenstein: »da dachte ich merkwürdig wie die gute körperliche Entwicklung aller dieser Leute mit völliger Geistlosigkeit zusammengeht (ich meine nicht Verstandlosigkeit) und wie andererseits ein Thema, von Brahms von Kraft, Grazie & Schwung ist & er selbst einen Bauch hatte.« 471
Worauf Wittgenstein mit dieser Bemerkung auch gezielt haben mag, es lässt sich nicht davon lösen, dass Brahms tatsächlich einen Bauch hatte, der ihn bei der Arbeit begleitete. Dass Wittgenstein selbst so einen Bauch besaß, und das in diesem eine gehörige Wut toben konnte, unterstreicht er dabei selbst mit drastischen Worten: »Ich denke mir dann immer: haben diese Großen dazu so unerhört viel gelitten, daß heute ein Arschgesicht kommt & und seine Meinung über sie abgibt.«472 Die Pointe eines Gedichts nennt Wittgenstein »überspitzt«, wenn Verstandesspitzen nackt zu Tage treten, weil sie nicht vom »Herzen« überkleidet seien.473 Aber wenn die Spitzen des Verstandes vom Herz überkleidet sein können, warum dann nicht von den tieferliegenden Organen, in denen schon Platon den Sitz zornmütiger Seelenteile vermutete?474 Wittgenstein legt die MöglichB2, Brief an Ludwig Hänsel, 09.02.1937, S. 140. Aus Hänsels Antwort: »Ich danke Dir für Deinen Brief! Er ist schwer zu verdauen. Ich bin noch lange nicht fertig damit.« Ludwig Hänsel an Wittgenstein, 04.03.1937. 470 | Wittgenstein , BEE, TB 183, 14. 02.1931, S. 40. 471 | Ebd., 29.-30.04.1930, S. 22. 472 | Ebd. 473 | Wittgenstein, VB, S. 527. 474 | Vgl. Tüpper-Fotiadis, 2001, S. 93.
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keit jedenfalls nahe. In aller großen Kunst sei ein wildes Tier gezähmt. Ihr Grundbass seien die primitiven Triebe des Menschen. Sie gestalteten nicht die Melodie, aber das, was der Melodie ihre Tiefe und Gewalt gebe.475 Vielseitiges Talent zeige sich nicht immer »nackt zu Tage liegend«, sondern könne verhüllt erscheinen, so »wie menschliche Eingeweide liegen« sollten.476 Ein erlösendes Wort kann bei Wittgenstein im Mund erscheinen wie ein Stück Speise: »Gestern lag es mir einmal ganz auf der Zunge. Dann aber gleitet es wieder zurück.«477 Das Wort, das nicht über die Zunge will, scheint in Richtung des Magens zu entschwinden. Aber wo wurde es denn überhaupt gebildet? Wittgensteins Bemerkungen zum auf der Zunge liegenden Wort erinnern an ursprüngliche Vorstellungen zum Zusammenspiel zwischen Sprache und Speise im Zusammenhang mit gastrosophischen Freuden und Leiden.478 Wittgensteins Philosophie betrifft die Verdauung von Gedanken und von Speise gleichermaßen: Die Fülle des Bauches gehört zu den ursprünglichen Metaphern des alltäglichen Sprechens. Soll Philosophie die Entwicklung von Gedanken positiv beeinflussen, so gilt das auch für Gedanken zur Verdauung, die damit einhergehenden organischen Prozesse und deren Wirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit. Ein digestiv motiviertes Paradigma der Philosophie bindet geistige Metaphern an den alltäglichen Verdauungsgebrauch. Das Ungleichgewicht zwischen der Bedeutung der Verdauung für das Verhalten im Alltag und dem, was wir davon sprachlich vermitteln, ist oftmals eklatant. In der akademischen Forschung wird dieses Ungleichgewicht selten beachtet, wie auch das begriffliche Gewicht der Bemerkungen zu Zahn- und Magenschmerzen bei Wittgenstein von der einschlägigen Forschung bisher nur bedingt erfasst wurde. Manche Philosophin und manchen Philosophen dürfte bei der Beschäftigung mit Wittgensteins ›Verdauungsproblemen‹ ein gewisser Unwille zum Nachdenken über die eigenen Gewohnheiten befallen. Sicher: Die Widersprüche zwischen unserem Wissen über uns selbst und dem, 475 | Vgl. Wittgenstein, VB, S. 502. 476 | Zitiert nach Monk, 1990, S. 537. 477 | Wittgenstein, Geheime Tagebücher, 22.11.1914. Zum Wechselspiel zwischen philosophischen und verschlüsselten Passagen zum erlösenden Wort vgl. Somavilla, 2010, S. 376, auch in Hinsicht auf die Bedeutung des erlösenden Wortes bei Wittgenstein: »Der Philosoph trachtet das erlösende Wort zu finden, das ist das Wort, das uns endlich erlaubt, das zu fassen, was bis jetzt immer ungreifbar, unser Bewusstsein belastet hat.« Ts-213,409r[5]. Wenn ein Haar auf der Zunge das Bewusstsein empfindlich stören kann, so steht das im Zusammenhang mit einer Störung der Verdauung. 478 | Die Kopplung zwischen Verdauung und Sprache findet sich früh in der abendländischen Geisteskultur: »Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke.« Psalm 137, s.o. Abschnitt 1.
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was wir philosophisch thematisieren, sind nicht immer leicht verdaulich. Den Ausbau einer analytischen Philosophie der Verdauung sollte das aber nicht behindern.
E xistenzieller H unger Martin Heidegger (* 26.09.1889 in Meßkirch; † 26.05.1976 in Freiburg im Breisgau) trug die Nase wohl ein bisschen zu hoch, um die Bedeutung des Hungers für das Dasein auszuführen. Über Vorgänge der Verdauung pflegte er in eher abschätziger Weise zu sprechen, etwa in einer kritischen Bemerkung zu Dichtung und Volk, die immerhin die Bedeutung der Verdauung für die Volksgesundheit unterstreicht: »Der Schriftsteller Kolbenheyer sagt: ›Dichtung ist eine biologisch notwendige Funktion des Volkes.‹ Es braucht nicht viel Verstand, um zu merken: das gilt ja auch von der Verdauung -- auch sie ist eine biologisch notwendige Funktion eines Volkes, zumal eines gesunden. Und wenn Spengler die Dichtung als Ausdruck der jeweiligen Kulturseele fasst, dann gilt dies auch von der Herstellung von Fahrrädern und Automobilen. Das gilt von allem -- d. h. es gilt gar nicht.« 479
Um Unterscheidungen zwischen Dichtung, Verdauung, Sport und Industrie macht sich Heidegger auch in seinen Überlegungen zur »Un-Fähigkeit« verdient, gerade in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen »Organen« und »Werkzeugen«.480 Abgesehen von seiner gewitzten Bemerkung zur Verdauung als biologisch notwendiger Funktion des Volkes entwickelt Heidegger keine nennenswerten Ansichten zu den existenziellen Aspekten des Verdauungsgeschehens, im Unterschied zu seinen philosophischen Freunde und Gegner.
Anders’ Gründe zur Sorge Mit harscher Kritik meldet sich Günther Anders (* 12.07.1902 als Günther S. Stern in Breslau; † 17.12.1992 in Wien): Heideggers Begriff des Daseins habe keinen Hunger und keinen Leib.481 Bei Husserl rechtfertige sich die mangelnde Beachtung des Hungers aufgrund seines bewusst eingegrenzten Forschungs479 | Heidegger, Hölderlins Hymnen, S. 27. 480 | Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 327ff., 341ff. 481 | Vgl. Anders, Nihilismus und Existenz, 1946, S. 64. »Das Dasein bei Heidegger aber ist nicht hungrig, sondern autark: es ähnelt der Schlange, die von sich selbst lebt, und sich vom Schwanze an auffrißt. Was bei dieser eigentümlichen Operation übrig bleibt, ist dann das Selbst, das Nichts oder der Tod - aber nicht das, was wir im norma-
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bereiches.482 Bei Heidegger läge die Sache aber anders, denn seine ganze Kritik der Philosophie kreise um das Problem, das sie unterschlage. Das ganze Gebäude bleibe ohne Fundament, denn »Hunger nach Welt« bestimme die Endlichkeit des Daseins und die mit ihm einhergehenden Sorgen. Die »Intentionalität« bei der Verfolgung von Beute und das »Nichts« wurzeln laut Anders zweifelsohne im Hunger. Die Idee der fensterlosen Monade sei völlig sinnlos, das Leben bestehe gerade »im Einnehmen, Verarbeiten und Ausscheiden von Welt.«483 Selbst der logos des Menschen müsse uns ein Rätsel bleiben, solange wir nicht auf die ihm »vorausliegende conditio sine qua non zurückzugehen, das ›Bedürfnis‹: denn zuerst ist die ›Allgemeinheit des Begriffs‹ das Korrelat des ›Hungers‹ (oder ›Bedürfnisses‹ oder ›Bedürftigseins‹.«484 Heidegger habe den Hunger als »Sorge« verbrämt und die Gefahr unseres Endes als Opfer, Sklave oder Speise unterschlagen.485 Tatsächlich sei Dasein Sorge, weil es Hunger ist.486 Der Grund zur Sorge ergebe sich aus der elementaren Basislosigkeit des Lebewesens, eingespannt in hungergetriebene Prozesse von Jagd, Erbeutung und Konsumption nach Essen überhaupt und Trank überhaupt.487 Anders unterstreicht, »dass wir als Stücke dieser Welt von Stücken dieser Welt leben […]dass unser ›Da‹ davon abhängt, dass dieses oder jenes Vorhandene für uns da sei bzw. wir nicht anderen Seienden zum Opfer fallen. Erst kommt das Fressen, dann die Ontologie.«488 Gäbe es keine Gefahr zu verhungern, »wären wir nicht essbar wie Vieh, zerschlagbar wie Holz, brennbar wie Kohle«, gäbe es keinen Grund zur Sorge.489
len Leben einen Menschen nennen.« Anders, »Die Trotz-Philosophie: ›Sein und Zeit‹«, 1936-50, S. 132. 482 | Vgl. Anders, 1946, S. 82f. »Hätte Husserl den Hunger als Modell intentionaler Akte gewählt [...] würde die Phänomenologie ganz anders ausgesehen haben. Hätte er statt der ›Vorstellung‹ und ihrer ›Adäquation‹ oder ›Erfüllung‹ den ›Hunger‹ und seine ›Adäquation‹ (oder besser ›Stillung‹) als ›Modellakt‹ gewählt, so wäre er gezwungen gewesen, sich auf die Diskussion strikt ›ontologischer‹ Prozesse einzulassen, statt sich der Beschreibung des ›reinen‹ und ›in Klammern stehenden‹ Flusses oder Kontextes von ›internationalen Beziehungen‹ zuzuwenden [...].« Anders, 1946, S. 76. 483 | Anders, 1936-50, S. 128. 484 | Anders, 1946, S. 82f. 485 | Anders, »Frömmigkeitsphilosophie« (ab 1950), S. 293. 486 | Vgl. Anders, 1946, S. 63. 487 | Vgl. ebd., S. 83. 488 | Anders, ab 1950, S. 293. 489 | Ebd.
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Die menschliche Angewiesenheit auf Wahrnehmung sei abgeleitet: »das Grundphänomen ist der Hunger«.490 Den Ausdruck ›Hungern‹ versteht Anders nicht im engen Sinne, sondern als Inbegriff einer auf die Einverleibung der Welt gerichteten Bedürftigkeit.491 »Und was als sogenanntes ›Innenleben‹ gilt ist weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich das ›Aussein auf...‹.«492 Die vortheoretische Sphäre »ist eben die des Bedürfnisses, des Hungers, oder der Situationen, die den Hunger hervorbringen.«493 Der Mensch müsse sich Ontisches einverleiben, um »da« zu sein.494 Der Hunger sei kein Sein, sondern »Substanzlosigkeit an ihm selbst«, er zeige an, was ich nicht bin und nicht habe, er zeuge dafür, dass das Lebendige weltbedürftig ist.495 Wäre Heidegger diesem Gedanken nachgegangen, hätte er die »Themengrenze für jede anständige Universitäts-Philosophie« überschritten.496 »[Hätte] er die Schwelle überschritten, hätte er den Hunger als Motor des Daseins anerkannt, so wäre er in Verdacht geraten, irgend etwas mit Materialismus zu tun zu haben. So ließ er lieber seine ganze Sorgetheorie, die ohne eine Theorie des Bedürfnisses in der Luft hängt, wirklich in der Luft hängen – und war die Sorge los.« 497
Laut Anders ist Hunger kein Materiestück.498 Selbst der »bornierteste Materialist« könne nicht behaupten, das Hunger ein Objekt sei: »Er ist nicht der Magen, sondern gewissermaßen das Loch im Magen«, die Anzeige einer Abhängigkeit von der Welt, Anzeige des möglichen Nichtseins.499 Der Hunger richte sich »nicht auf diese oder jene Suppe sondern auf Fraß überhaupt.«500 Lebewesen seien nicht darauf gefasst, das vom Hunger verlangte in Idealform zu finden, sondern auf eine Differenz, die es durch Ausscheidung zu bewältigen gelte. Das Leben bestehe »nicht im Finden, sondern im ›etwas aus etwas machen‹.«501 490 | Anders, 1936-50, S. 132. 491 | Vgl. ebd., S. 130. 492 | Ebd. 493 | Ebd., S. 147. 494 | Anders, 1946, S. 63. »Wer hungert, hängt ab von der Welt; wer seinen Hunger stillt, führt ein Stück Welt in sich ein. Wer das nötig hat, ist offenbar nicht frei. Oder erst dann frei, wenn er über die Bedingungen der Stillung verfügt.« Anders, N157. 495 | Ebd. 496 | Ebd. 497 | Ebd. 498 | Vgl. ebd., S. 130N13. 499 | Anders, 1936-50, S. 128. 500 | Ebd., S. 129. 501 | Ebd., S. 130.
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Sartres Ekel Wo Heidegger die ursprüngliche Triebkraft der Verdauung umschiffte, da erhebt Jean Paul Sartre (* 21.06.1905 in Paris; † 15.04.1980 ebenda) sie zu einer existenziellen Erfahrung per se. Die Erfahrung der Speichelflüssigkeit im eigenen Mund wird dabei zur Erfahrung unserer selbst als Teil des umfassenden Seins: »Ich habe schaumiges Wasser im Munde. Ich schlucke es, liebkosend gleitet es mir durch die Gurgel – aber da ist es schon wieder, bildet sich neu in meinem Munde, ich habe jetzt ewig ein kleines, unaufdringliches Wässerchen im Munde, das meine Zunge zart berührt. Und dies Wässerlein - das bin auch wieder ich. Und die Zunge, und die Gurgel- das bin ich.« 502
Verdauung und Geschmack exemplifizieren die allgemeine Dialektik zwischen den existierenden Dingen en soi und dem menschlich gestaltbaren pour soi.503 Sie schaffen Bezüge zwischen Sein und Selbst. Die Vorstellung des Bauches als weicher, warmer und friedlicher Region der Freude durchkreuzt Sartre radikal, etwa in einer Projektion des Ekels auf eine Sitzbank aus rotem Plüsch »in den Flanken« einer Straßenbahn: »Dieser enorme nach oben gewendete Bauch, blutrot, aufgeblasen - aufgebläht, mit allen seinen toten Pfoten, dieser Bauch, der in dieser Schachtel schwebt, in diesem grauen Himmel, das ist keine Bank. Das könnte genauso gut ein toter Esel sein, zum Beispiel, vom Wasser aufgebläht und der richtungslos dahintreibt, den Bauch nach oben in einem großen grauen Fluss, einem überschwemmenden Fluss; und ich säße auf dem Bauch des Esels und meine Füße durchnässte klares Wasser.« 504
Damit steht Sartre – trotz aller Besonderheit seines existenzialistischen Ansatzes – in bester Tradition der Bauchverachtung. Die Welt des Seins erscheint ihm als weich, unbestimmt, süß, verschwommen, organisch, schlüpfrig, zuckrig und lau, die des Bewusstseins trocken, abstrakt, streng, sauber, hart, metallisch, nüchtern, rein, kristallin, fein, fest, präzis und genau. Angesichts der Ambivalenz von Verlangen und Ekel gegenüber der unsauberen Versuchung zeigt Sartres Romanheld Antoine Roquentin infantile Züge:505 In freudiger Erwartung bückt er sich, um ein verschmutztes Stück Papier aufzuheben, um frischen, weichen Brei zwischen den Fingern zu grauen Kügelchen zu formen. 502 | Sartre, 1938, S. 107, Übers. CWD. 503 | Vgl. Diaconu, 2010, S. 318. 504 | Sartre, 1938, S. 159, Übers. CWD. 505 | Vgl. Bachelard, 2004, S. 111; Bachelard, 1948, S. 190.
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Aber er bringt es nicht über sich.506 Die ekelhaft materiellen Aspekte der Speise erscheinen als ein dem Bewusstsein Äußerliches.507 Beim Erbrechen entladen wir uns der Dinge, setzen eine Grenze zwischen Subjekt und Objekt, die mit Sartre als ein Sieg einer antidigestiven und auf Seheindrücke zentrierten Phänomenologie gegen die Ernährungsphilosophien gewertet werden kann, in denen das Subjekt die Gegenstände assimiliert.508 Sartre zielt dabei insbesondere auf Humanisten, die nicht erfahren haben, was es heißt zu existieren. Sie erinnern ihn an lauwarme Schmelztiegel, in deren schaumiger Lymphe jede Eigencharakteristik verdaut werden könne, selbst noch die des Menschenverächters, um am Ende zu einer Grundharmonie des positiven Menschen zu gelangen, der in sich alles glücklich vereinigt.509 Laut Sartre können wir uns die Dinge nicht in das Bewusstsein einverleiben wie Nahrung in den Magen. Als Bollwerk gegen »die Verdauungsphilosophie des Empiriokritizismus, des Neukantianismus und jeden ›Psychologismus‹«510 dient ihm Husserl: Dessen Phänomenologie sei in höchstem Maße antidigestiv. Polemisch fragt Sartre, ob die Dinge nicht doch den Inhalt unserer Wahrnehmung bildeten und unsere Wahrnehmung im Bewusstsein gegenwärtig sei. Aber wenn sich Dinge mit Ideen und Geistern assimilieren wie Speise, die sich in Sinnesdaten und Bewusstseinsinhalte auflöse, dann wird laut Sartre die wirkliche Welt von Diastasen zerfressen. Nahrungsphilosophie trivialisiere und vereinheitliche den Erkenntnisakt über Gebühr. Die Rückführung der Vorgänge des Verstehens auf die des Verdauens, bzw. die Ansicht ›Erkennen ist Essen‹, sei irrig.511 Der Geist sei keine Spinne, die Dinge in ihr Netz locke, mit weißem Geifer überziehe, langsam einsauge und dabei ihrer eigenen Substanz angleiche.512 Erkennen, das bedeute, sich aus der feuchten Intimität der dunklen Magenhöhlen loszureißen, um blitzend zu erreichen, was wir selbst nicht sind, dahinten, die Bäume, die wir nicht in unsere finsteren Mägen hineinbringen können, und auf die das Bewusstseins keine gerechtfertigten Besitzansprüche geltend machen kann.513 Sartres argumentatives Manöver erinnert an Platons Strategie, in der gastrale Verdauung zunächst als Modell für geistige Verdauung dient, um sodann 506 | Vgl. Sartre, 1938, S. 25. 507 | Mit Rigotti ist ihre Realität besonders an gewissen Produkten der FastfoodIndustrie erkennbar. Vgl. Rigotti, 2002, S. 86. 508 | Vgl. Diaconu, 2005, S. 318. 509 | Vgl. Schütz, 1984-85. 510 | Sartre, 1939, S. 29. 511 | Vgl. ebd., S. 29ff. 512 | Vgl. ebd. 513 | Vgl. ebd.
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als Minderwertigkeit dargestellt zu werden. Auch Sartre setzt zunächst geistige und gastrale Verdauung in Analogie: Das Bewusstsein kann die Welt ebenso wenig umfassen wie der Magen. Anschließend ordnet Sartre die Bezüge zwischen Sein und Bewusstsein in seinem Sinne und bringt das Bewusstsein erneut zu Ehren: Sein, das heiße als Bewusstsein-in-der-Welt-platzen.514 Haben wir uns vom inneren Leben befreit, bleibt nur Äußeres, in der Welt, auf der Straße, in der Stadt, inmitten der Menge, Dinge zwischen Dingen, Menschen zwischen Menschen.515 Von der Verdauung ist dann keine Rede mehr. Und wenn doch, dann abwertend, wie etwa im Drama Die Fliegen: Was hat Orest, der Prinz von Mykene, dem Volk zu bieten, anstelle gottgefälliger Angst und schlechtem Gewissen? »Gute Verdauung, den öden Frieden der Provinzen und die Langeweile, ach, die alltägliche Langeweile des Glücks.«516
Merleau-Pontys Weltbezüge Maurice Merleau-Ponty (* 14.03.1908 in Rochefort-sur-Mer; † 3.05.1961 in Paris) versteht die Welt als ein Feld von Gedanken und Wahrnehmungen.517 In der Phänomenologie der Wahrnehmung bezieht er das Feld der Erscheinungen nicht auf eine innere Welt der Bewusstseinszustände. Die Wahrnehmung der Erscheinungen sei keine Introspektion oder Intuition im Sinne Bergsons.518 Der Leib sei nicht einfach ein Fragment des Raumes, denn ohne seinen Körper gebe es gar keinen Raum.519 Unser Körper sei uns immer nahe, immer für uns da, nicht vor uns, sondern bei uns,520 ein synergetisches System, dessen Funktionen sich in einer umfassenden Bewegung des Seins in der Welt verbinden.521 Wenn Merleau-Ponty Verbindungen zwischen psychischen und somatischen Erscheinungen annimmt,522 so geschieht das selten unter ausdrücklichem Bezug auf die Verdauung. Nichtsdestoweniger unterstreichen seine Ausführungen zur Sexualität ein waches Bewusstsein für die Anliegen des Bauches und insbesondere der Verdauung. Die sexuelle Geschichte einer Person sei ein Schlüssel zu ihrem Leben: In der Sexualität projizieren Menschen 514 | Vgl. ebd.: »Etre, c’est éclater dans le monde, c’est partir d’un néant de monde et de conscience pour soudain s’éclater-conscience-dans-le-monde.« 515 | Vgl. ebd., S. 32. 516 | Vgl. Sartre, 1947b. 517 | Vgl. Merleau-Ponty, 1945, S. V. 518 | Vgl. ebd., S. 70. 519 | Vgl. ebd., S. 119. 520 | Vgl. ebd., S. 106. 521 | Vgl. ebd., S. 270. 522 | Vgl. ebd., S. 104.
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ihre Seinsweise.523 Nichtsdestoweniger sei die Bedeutung der Existenz durch das Sexualleben nicht vollständig verständlich. Bevor wir die Gesellschaft anderer Menschen erreichen und erleben können, müssen wir immer schon leben. Das Sexualleben sei kein einfacher Reflex der Existenz, sondern benenne einen besonderen Bezug zur Existenz.524 Sexualität entwickelt sich nach Merleau-Ponty in einem Bereich von Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche, an denen auch die Verdauung Anteil hat. Die verschiedenen Regionen des Gehirns funktionieren nicht unabhängig voneinander.525 Deutlich wird das insbesondere in Merleau-Pontys Erklärungen zu einem jungen Mädchen, dem ihre Mutter Kontakte zu dem Geliebten verbietet.526 Das Mädchen verliert die Fähigkeit zu schlafen, zu essen und zu sprechen.527 Merleau-Ponty interessiert der Zusammenhang zwischen Sprachlosigkeit und der verweigerten Nahrungsaufnahme. Die Fixierung auf den Mund betreffe nicht allein die Sexualität, sondern die Bezüge zu Anderen überhaupt und insbesondere die Sprache als ein Verhältnis zum Anderen, ein Mittel, mit dem wir zu unserem Umfeld Kontakt aufnehmen.528 Die Aufgabe des Sprechens erscheint als eine Verweigerung der Koexistenz mit den Mitmenschen. Das werde durch die Verweigerung der Nahrungsaufnahme unterstrichen, insofern Nahrung eine Grundlage für unser Überleben sei. Die Verweigerung gleiche einer Verneinung des Weiterlebens überhaupt. Die Bewegung der Existenz ist insofern an Verdauungsvorgänge gebunden, als Schlucken529 bei Merleau-Ponty als eine symbolisierte Bewegung der Existenz erscheint – als Aufnahme und Assimilierung des Geschehens.530 Eine einfache Gleichsetzung zwischen Existenz und Verdauung mag zwar ebenso verfehlt scheinen wie die Gleichsetzung zwischen Existenz und Sexualität, nichtsdestoweniger erklärt Merleau-Ponty das Verhalten des Mädchens vor ihrem Hintergrund.531 In der Verdauung erkennt er eine überlebensnotwendige Bewegung, 523 | Vgl. ebd., S. 185. 524 | Vgl. ebd., S. 185f. 525 | Vgl. ebd., S. 186. 526 | Vgl. ebd., S. 187. 527 | Vgl. ebd. 528 | Vgl. ebd. 529 | Merleau-Ponty schreibt »la déglutition«, ebd., Rudolf Boehm übersetzt 1966 mit »die Verdauung«. 530 | Vgl. Merleau-Ponty, 1945, S. 187. »[...] le mouvement de l’existence qui se laisse traverser par les événements et les assimile.« 531 | Hier zeigt sich erneut die Nähe zwischen digestiven und sexuellen Aspekten persönlicher Entwicklungen. Fabeck unterstreicht, dass Körperöffnungen, die »primären Zonen symbolischen Ausdrucks«, als Kontaktpunkte zwischen Leib und Welt Passagen von Außen nach Innen und von Innen nach Außen erlauben, aber auch die Möglichkeit
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die sich mit der inneren Haltung des Mädchens zu ihrem Leben verbindet. Das Verbot wird ihr erteilt, so wie ihr Essen vorgesetzt wird. Beides lehnt sie ab. Sie wolle das Verbot »nicht schlucken«.532 Das Geschehene kann sie weder psychisch noch physisch zur Ernährung gebrauchen, sie kann es nicht aufnehmen, annehmen oder verdauen. Der kommunikativen und digestiven Stellung der Person in der Welt entspricht hier ihre Haltung zur Welt. Nahrung und Kommunikation schaffen Bezüge zwischen äußerem und innerem Verhalten. Wenn Sexualität laut Merleau-Ponty das Leben wie eine Atmosphäre ›koextensif‹ begleitet,533 so gilt das sicher auch für die Verdauung. Ein Lebensstil ließe sich dann ebenso als ein allgemeiner Ausdruck digestiver Zustände beschreiben. Die menschliche Existenz unterliege einem umfassenden Prinzip der Unbestimmtheit. Man solle nur nicht glauben, dass ein Gott die Herzen und Nieren erforschen könne, um zu unterscheiden, wo unsere Freiheit beginnt und unsere Natur endet.534 Der Verdauung dürfte auch insofern ein Anteil an der Unbestimmtheit der Existenz zukommen, als alle »Funktionen« im Menschen sich in einem strengen Sinne solidarisch zueinander verhalten.535 Es sei unmöglich, in einem ganzen Menschen notwendige und kontingente Körperbestandteile zu unterscheiden. Der Hinweis auf einen psychisch kranken Mann, der beim Sprechen über traumatische Erlebnisse die Kontrolle über seine Sphinkter-Muskulatur verliert,536 bestätigt dabei, was ohnehin offensichtlich scheint: Zwischen intellektuellen und gastralen Vorgängen bestehen Zusammenhänge, die sich ebenso der rationalen Kontrolle entziehen können wie sexuelle Vorgänge und die ihrerseits auf rationale Entwicklungen Einfluss nehmen. Was er in der Phänomenologie in Bezug auf die Sexualität erklärte, vertritt Merleau-Ponty nun ausführlich in Hinblick auf die Verdauung als eine Dimension des erlebten Körpers im Strom des Lebens, besonders in seinen Diskussionen in der Sorbonne. Dort bekräftigt Merleau-Ponty die Bedeutung der Verdauung für die Psychoanalyse nach Freud in Hinblick auf die frühkindliche Entwicklung. In der prägenitalen Phase gebe es keine Sexualität im engeren Sinne.537 Der Bezug zum Anderen werde zwar von einem Körper getragen, der Verweigerung. In Bezug auf die Aufnahme und Ausscheidung von Nahrung gestalte sich eine ursprüngliche Intentionalität, ein universelles Bemächtigungsvermögen, das zunächst insofern sexuell sei, als es auf die Unterschiede der elterlichen Körper reagiere. Vgl. Fabeck, 1994, S. 107. 532 | Merleau-Ponty, 1945, S. 187 533 | Vgl. ebd., S. 197. 534 | Vgl. ebd. 535 | Ebd. 536 | Vgl. ebd., S. 187. 537 | Vgl. Merleau-Ponty, 1964, S. 314.
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nicht aber von den Genitalien, eine Sexualität im Sinne der Erwachsenen gebe es noch nicht.538 Schon bei Freud spiele der Verdauungsapparat eine »erklärende Rolle« als Träger einer »typischen Attitude«.539 Die Psychoanalyse verstehe die Struktur des Körpers als Wahrzeichen des Lebens. Der Körper als materielle Masse spiele dabei keine wichtige Rolle, wichtiger sei der in ein menschliches Leben integrierte Körper, wobei der Mund als Symbol der Aufnahme (»réception«), der Anus als Symbol der Erhaltung (»conservation«) und der Genitalapparat als Symbol der Opfergabe (»oblation«) zu verstehen sei.540 Hinweise auf die psychische Bedeutung des kindlichen Körpers erniedrigen nicht die Erwachsenen, sondern erheben die Kinder, die Freud ernst genommen habe.541 Er habe über Kinder geschrieben, was Mütter schon immer über das Stillen und die Verdauung gewusst haben. Der Verdauungsschlauch diene nicht allein der Verdauung, sondern sei eine Weise, mit der Welt in Bezug zu treten.542 Die sinnliche Bedeutung der Verdauung untersucht Merleau-Ponty auch in Hinblick auf den Genuss der Sakramente.543 Das Sakrament symbolisiere das Wirken der Gnade nicht nur in sinnlicher Gestalt, sondern sei die wirkliche Gegenwart eines Gottes. Wer innerlich darauf vorbereitet sei, könne beim Essen des geweihten Brotes die Gegenwart Gottes in einem Stück des Raumes erleben, motorisch und lebensweltlich sei sie sinnlich als eine Weise des Zur-Welt-Seins erfahrbar, als eine Kommunion.544 Wenn wir uns entsprechend öffneten, könne die Nahrungsaufnahme eine so große Wichtigkeit einnehmen, dass sie nicht nur jene traditionelle symbolische Bedeutung trage, sondern uns als tatsächliche Erscheinung höchster Macht begegne. Die symbolische Macht gehe weit darüber hinaus, ein Zeichen für etwas zu sein. Laut Merleau-Ponty wird das Symbol unter bestimmten Umständen zum Träger einer tatsächlichen Erfahrung.
L e vinas ’ G enuss Emmanuel Levinas (* 30.12.1905 in Kaunas; † 25.12.1995 in Paris) erhebt den Hunger des Anderen zum philosophischen Schlüsselphänomen, als ein Begehren, das nicht ausgreift, sondern einverleibt.545 Speise charakterisiere unsere 538 | Vgl. ebd. 539 | Ebd., S. 315. 540 | Ebd. 541 | Vgl. ebd., S. 316. 542 | Vgl. ebd. 543 | Vgl. Merleau-Ponty, 1945, S. 245 f. 544 | Vgl. ebd., S. 246. 545 | Vgl. Röttgers, 2009, S. 183.
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Existenz in der Welt.546 Die Moral der »irdischen Speisen« sei die erste Moral.547 Bevor die Welt ein System von Werkzeugen werde, sei sie schon eine Sammlung von Speise.548 Allerdings widersetzt sich Levinas der Analogie zwischen Wahrheit und Speise.549 Die Unersättlichkeit des moralischen Bewusstseins entspringe nicht dem Hunger oder der Sattheit.550 Das metaphysische Verlangen stehe über dem Leben und sei nicht zu sättigen, der Verbrauch von Speisen sei Speise für das Leben. 551 Das Nahrungsbedürfnis habe nicht die Existenz zum Ziel, sondern die Speise.552 Das menschliche Leben in der Welt gehe nicht über die Objekte hinaus, die es erfüllen. Vielleicht sei es falsch zu sagen, dass wir leben, um zu essen, aber es sei nicht richtiger zu sagen, dass wir essen um zu leben. Die letzte Finalität des Speisens sei in der Nahrung erhalten.553 Das Subjekt sei zunächst ganz Genuss. Im Genuss komme das Ich zu sich, einmalig, egoistisch und selbstständig. Der Genuss sei die eigentliche Vereinzelung, das Ich in ausgezeichneter Weise einsam. Die Nichtteilhabe an der Gattung sei der eigentliche Egoismus des Glücks.554 In seinem Bezug mit dem ›Anderen‹ der Speise genüge das Glück sich selbst. Im Genuss seien wir in einem absoluten Sinne bei uns selbst, egoistisch, alleine, völlig taub für die anderen, jeder für sich, bereit für einen Bissen Brot zu töten:
546 | Vgl. Levinas, Le Temps et l’autre (TA), S. 46. Wie Günther Anders kritisiert Levinas die Auslassung des Hungers bei Heidegger: »Le Dasein chez Heidegger n’a jamais faim. La nourriture ne peut s’interpréter comme ustensile que dans un monde d’exploitation.« Levinas, Totalité et infini: Essai sur l’extériorité (TI), S. 142. Wie Günther Anders bemerkt auch Levinas, dass die Sorge, auf die Werkzeuge bei Heidegger letztlich verweise, durch Hunger motiviert sei. »C’est aux époques de misère et de privations que derrière les objets du désir se profile l’ombre d’une finalité ultérieure qui obscurcit le monde. Quand il faut manger, boire et se chauffer pour ne pas mourir, quand la nourriture devient du carburant, comme dans certains travaux durs - le monde aussi semble à sa fin, renversé, absurde.« Levinas, De l’Existence à existant (EE), S. 68. Dazu Lemke: »In unserer existenziellen Sorge ums tägliche Essen [...] öffnen wir das ontologische Problem – und nicht nur dieses – in seiner ganzen Dimension.« Lemke, 2008, S. 160FN15. 547 | Levinas, TA, S. 46. 548 | Vgl. ebd., S. 45. 549 | Vgl. Levinas, TI, S. 117. 550 | Vgl. ebd., S. 103f. 551 | Vgl. ebd., S. 117. 552 | Vgl. ebd., S. 142. 553 | Vgl. Levinas, TA, S. 45. 554 | Vgl. Levinas, TI, S. 122.
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Vom Geist des Bauches »Im Genuss bin ich absolut für mich. Egoistisch ohne Bezug auf Andere – bin ich allein ohne Einsamkeit, unschuldig egoistisch und allein. Kein ›gegen die Anderen‹, kein ›was mich betrifft‹ – sondern vollständig taub für andere, außerhalb aller Kommunikation und aller Verweigerung von Kommunikation – ohne Ohren, wie ein hungriger Bauch.« 555
Aus der Verschlossenheit gegen Andere erwächst bei Levinas ethisches Verhalten. »Menschenliebe und soziale Gerechtigkeit« sollten wir besser nicht bei Heidegger lernen, aber laut Levinas gibt der Begriff der Fürsorge, als Antwort auf eine wesentliche Not, doch Zugang zur Andersheit des Anderen: »Sie wird dieser Dimension der Höhe und des Elends gerecht, durch die sich das Verhältnis viel besser kennzeichnet als durch die Umfassung. Man darf sich fragen, ob Nacktheit kleiden und Hunger stillen nicht der wahre konkrete Zugang zur Andersheit des Anderen ist - und zwar echter als die ätherische Luft der Freundschaft.«556 Die Nacktheit des Antlitzes sei Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen heiße einen Hunger anzuerkennen. und zu stillen.557 Die Verinnerlichung des Genusses lasse sich als Begeisterung deuten, als »überdem-sein«.558 Bei Levinas hat das Ich ein Innen und ein Außen.559 Durch den Sinn, die Durchlässigkeit des Geistes, sei das Äußere schon auf das Innere bezogen und ihm angemessen.560 Ein Ding existiere für jemanden, sei für ihn bestimmt, es neige einem Inneren entgegen, dem es sich ergebe, ohne aufgesogen zu werden. Die Deutung der Bezüge zwischen Ich und anderem in digestiver Hinsicht liegt nahe:561 Ich bin getrennt von der Welt und die erste Wirkung dieser 555 | Ebd., S. 122f.: »Ventre affamé n’a point d’oreilles«. Die Formulierung »venter auribus caret« soll auf Cato den Älteren zurückgehen, vgl. Plutarch, The Life of Cato the Elder, 8. Sie findet sich auch bei Seneca: »Venter praecepta non audit: poscit, appellat«, Epustulae morales ad Lucilium, 21,11 und wörtlich in der Fabel Le Milan et le Rossignol von Jean de La Fontaine. Sie erinnert an die analyse-resistenten Wanderratten bei Freud und inspirierte die lyrische Avantgarde ›au début de siècle‹: »Et tous ces mets criaient des choses nonpareilles / Mais nom de Dieu! / Ventre affamé n’a pas d’oreilles / Et les convives mastiquaient à qui mieux mieux.« Apollinaire, 1920, 38. Wer hungert, kann das Interesse an Worten verlieren, anscheinend bewegt schon die Aussicht auf einen Schokoladenriegel manche Person zur Preisgabe geheimer Computer-Passwörter. Vgl. Palmer, 29.03.2010. 556 | Capurro, 1991, S. 445. 557 | Levinas, TI, S. 73, dazu: Levinas, TU, S. 102-105. 558 | Ebd., S. 124: »au-dessus de l’être«. 559 | Vgl. Levinas, EE, S. 73. 560 | Vgl. ebd., S. 74f. 561 | Bezüge finden sich bei Hirst, 2004, auf deren Ausführungen ich mich in der Folge stütze.
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Trennung ist, dass ich sehr, sehr hungrig bin.562 Wie bei allen endlichen Wesen sind die verdaubaren Ressourcen im Körper begrenzt. Ich weiß, dass ich hungrig bin, weil ich sehe und denke und dabei die Trennung zwischen mir und der Welt erfahre, über die ich mich erhebe, wie ein Blick sich über Nahrung erhebt. Um zu überleben, reicht es nicht aus, Essen zu sehen oder Essen zu wissen. Um meinen Abstand zur Welt zu bewahren, muss ich mich in vulgärer Weise mit der Welt einlassen. Es reicht nicht zu sehen, was ich brauche, ich muss haben, was ich brauche, ich muss es berühren, ich muss es essen.563 Ich brauche die Welt und ich weiß, wie ich meine Bedürfnisse erfüllen kann. Ich muss die Welt ergreifen, in mir aufnehmen, um meinen Hunger zu stillen. Dabei ist mir bewusst, dass die Sättigung nicht dauert, der Hunger wird zurückkehren. Genuss ist nicht dauerhaft, denn die Erfüllung ist es auch nicht und deshalb kommt Freude immer neu, mit jedem neu erfüllten Bedürfnis.564 Hunger und Sättigung setzen die Bedingungen für die Kontinuität des menschlichen Lebens. Mensch sein bedeutet den Anfang und das Ende einer unendlichen Zahl von Bedürfnissen zu erleben. Das Objekt ist für mich bestimmt, es ist für mich da.565 Das Begehren als Bezug zur Welt beinhaltet einen Abstand zwischen mir und dem Begehrten, also auch Zeit, die ich vor mir habe und den Besitz des Begehrten vor und nach dem Begehren.566 Was geschieht im Moment der Erfüllung? Vor der Erfüllung erlebe ich meine Trennung von der Welt. Nach der Erfüllung bin ich voll und zufrieden. Während der Erfüllung bin ich ein hungriger Magen ohne Ohren. Beim Essen verschwindet die Distanz zwischen mir und der Speise. Während ich einen Bissen kaue, ist die physische Distanz zwischen mir und der Welt aufgehoben. Ich verschwimme mit meinen Empfindungen. Gekaute Speise wird zu mir selbst. Neben der Überwindbarkeit der Trennung zwischen Person und Welt wird dabei die Unterscheidung von Person und Welt erfahren. Mit der Empfindung breiten sich die Dinge der Welt laut Levinas über einen Horizont aus, der die Leere vollkommen verdeckt, in der sie sich für das Denken halten.567 Was passiert Levinas zufolge, wenn ich meinen Hunger stille, etwa mit einer Suppe? Ich bringe einen Löffel mit Suppe an die Lippen und nippe. Wenn die Flüssigkeit in meinem Mund ist, sehe ich sie nicht mehr und kann sie nicht mehr erfassen. Das ganze Erleben der Suppe findet nun in meinem Mund 562 | Vgl. Hirst, 2007, S. 167: »I am separate from the world, and the first repercussion of this separateness is that I am very, very hungry.« 563 | Vgl. Hirst, 2007, S. 168. »I cannot simply look at what I need. I must have what I need. I must touch it. I must eat it.« 564 | Vgl. Levinas, TI, S. 117. 565 | Vgl. Levinas, EE, S. 59. 566 | Vgl. ebd. 567 | Vgl. ebd., S. 143.
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statt, wie sie auf meine Zunge und meine Zähne wirkt, wie die Brühe tiefer sinkt und schmeckt, während ich schlucke.568 Allmählich versinkend löst sich die Freude in Erinnerung auf.569 Bis zum nächsten Löffel trenne ich mich wieder von der Welt. Ich schmecke sie nicht mehr. Wieder und wieder dippe ich in meine Schüssel, mache mich mit der Versenkung vertraut, wieder und wieder durchschwimme ich das unmittelbare Empfinden und finde mich selbst auf der anderen Seite wieder. Die Schüssel ist geleert, ich bin zufrieden. Mein Magen ist voll. Dinge befriedigen mich. Der Moment des Speisens ist im faktischen Vorgang der Ernährung phänomenologisch enthalten, ja er ist hier das Wesentliche, was wir uns ohne jegliches physiologisches oder ökonomisches Wissen klar machen können.570 Nahrung sei, als Mittel der Neubelebung, eine Transformation des Anderen in ein Selbst. Das Wesentliche des Genusses von Nahrung liege darin, uns eine Energie anzueignen, die als Anderes erkannt wird, das zu unserer Kraft beiträgt und zu uns selbst.571 Ist der Hunger befriedigt, werde ich mich erneut von der Welt abtrennen. Das sagt mir die Erinnerung an frühere Zustände der Befriedigung.572 Vom Zustand der Trennung bei Hunger, bei Bedarf, gelange ich zu einem Zustand der Versenkung bei der Stillung des Hungers, zurück zu einem Zustand der Trennung, wenn der Bauch voll ist und der Hunger gestillt. Die Zustände der gastralen Befriedigung lassen sich auch als Übergänge zwischen Dunkelheit und Erleuchtung beschreiben.573 Es ist zu prüfen, inwiefern die ›dunklen‹ Bilder der Verdauung, wie das des im ungeheuren Bauch des Nebukadnezar verendenden Volkes, in Levinas Vorstellungen zur Ataraxie bzw. Ruhe des reinen Seins, des Raums, der Nacht, des »il y a« mitwirken, gerade auch in Hinblick auf die Suche nach dem Selbst im Thomas l’obscur, dem ersten Roman von Maurice Blanchot.574 Beim Genuss 568 | Vgl. Hirst, 2007, S. 177. 569 | Vgl. ebd., S. 178. 570 | Vgl. Levinas, TI, S. 113. 571 | Vgl. ebd. 572 | Vgl. Hirst, 2007, S. 178. 573 | Vgl. ebd. 574 | Das Selbst sucht sich bei Blanchot in einem Gemenge zwischen Körper und Gedanken, wo sich die Grenze zwischen sexuellen und digestiven Prozessen verliert: »Während dieser Nacht hatte sie scheinbar etwas Imaginäres assimiliert, es war wie ein brennender Dorn, der sie ihre eigene Existenz nach außen drücken ließ, wie Abfall. Unbeweglich gegen die Wandung gedrückt, den Körper mit reiner Leere vermengt, die Schenkel und den Bauch in einem Nichts ohne Geschlecht und Organe [...] hatte sie sich in einen anderen Körper verwandelt, dessen Leben, Mangel, Bedürftigkeit sie langsam ganz zu dem hatte werden lassen, was sie nicht werden konnte.« Blanchot, 1950,
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von Speise tritt die sensible Empfindung von Geschmack und Textur mit dem Schlucken in einen biologischen Prozess ein, der sich außerhalb meiner Intentionen abspielt. Die Speise geht in mich ein, aber ich verliere die Kontrolle über sie, so wie die Augen die Speise nicht mehr erblicken, wenn sie gekaut wird.575 Die Auflösung der Grenzen zwischen mir und der Welt führt zu Gefühlen des Ekels, wenn Inneres Äußeres erreicht.576 Bei Levinas ist der Umgang mit Nahrung allerdings weitgehend positiv konnotiert: »Nahrung kommt wie ein glücklicher Zufall.«577 Um zu begreifen, wie Speise zu den Schrecken des »il y a« führt, hilft es, an die Verschmelzung unserer Selbst mit der Welt im Inneren eines fremden Magens zu denken.
B iomacht bei F oucault In seinen Ausführungen zur Geschichte der Sexualität untersucht Michel Foucault (* 15.10.1926 in Poitiers; † 25.06.1984 in Paris) den praktischen Gebrauch des menschlichen Körpers in Hinblick auf philosophische Vorstellungen vom guten Leben und die Sorge um sich selbst (»Le souci de soi«). Diese Sorge umfasst insbesondere die Wahl von Nahrungsmitteln, gymnastische Übungen und den Austausch von Flüssigkeiten mit anderen Personen zur Stärkung des körperlichen und seelischen Wohls.578 Die frühe Vermengung zwischen digestiven und geistigen Erscheinungen thematisiert Foucault mit einem Zitat des Stoikers Epiktet: »Heute kaufen Leute, die nicht den geringsten Bissen schlucken können, eine Abhandlung und schlingen sie in sich hinein. Sie erbrechen oder bekommen eine Verstopfung.
S. 90f. Übers. CWD. In der obskuren, unbestimmten Gegend hinter dem Schweigen versucht Thomas von Blanchot, Unerfassbares einzuverleiben, wie ein mächtiges Wort, das wie eine gigantische Ratte, wie ein allmächtiges Tier mit stechenden Augen und blanken Zähnen erscheint, wenige Zoll entfernt von seinem Gesicht, wo es bei Thomas das Verlangen weckt, es zu fressen, es in die tiefste Intimität seiner selbst zu führen. Vgl. Blanchot, 1950, S. 40. 575 | Vgl. ebd., S. 185. 576 | ›Abjektion‹ bzw. ›Verwerfung‹ ist im Sinne von Julia Kristeva eine Bedrohung von Innen, ein Verlangen nach Trennung und Autonomie, verbunden mit der Einsicht in die Unmöglichkeit sie zu erreichen, die sich bei Kristeva insbesondere auf menschliche Abhängigkeit von Speise bezieht, vgl. Kristeva, 1982. 577 | Levinas, TI, S. 151. »La nourriture vient comme un hasard heureux.« 578 | Foucault, Histoire de la sexualité III: Le souci de soi, 1984b, S. 79f.
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Vom Geist des Bauches Dann kommen die Koliken, die Katarrhe, die Fieber - sie hätten beizeiten an ihr Auffassungsvermögen denken sollen.« 579
Laut Foucault sei das Schlimme an seelischen Erkrankungen, dass man sie nicht immer bemerke oder sie gar mit Tugenden verwechseln könne.580 Zwar folge der Körper im Verständnis der antiken Medizin seinen eigenen Gesetzen, die Seele beeinflusse aber seine Bedürfnisse, mitunter entgegen den ›natürlichen Veranlagungen‹.581 Die Seele könne sich selbst zur Unaufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen des Körpers verleiten.582 Erwünscht sei kein Kampf der Seele gegen den Körper, sondern ein ausgeglichenes Verhältnis, unseren Kräften entsprechend.583 Innerhalb einer der Vernunft entsprechenden Ordnung diene tierisches Verhalten nicht als Anhaltspunkt zur Verurteilung des menschlichen Appetits. Einerlei ob Tiere ihren sexuellen Instinkten folgen oder Exkremente ausscheiden, sie gehorchen ihren körperlichen Bedürfnissen, nicht irrigen »Meinungen«.584 In der antiken Praxis werden Wechselwirkungen zwischen Kunst, Ernährung und Sexualität angenommen,585 die in der Freude an uns selbst (»plaisir qu’on prend à soi-même«) philosophische Bedeutung erhalten.586 Foucault bemerkt ausdrücklich, dass die Ernährung in der griechischen und römischen Diätetik sehr viel mehr Platz einnimmt als die Sexualität.587 Die große Sache sei Essen und Trinken. Wenn die Sorge um die Sexualität gegenüber der Sorge um alimentäre Vorschriften ein Übergewicht erlange, so 579 | Epiktet, Discourses, I.26. Übers. Lemke, 2007, S. 256N. 580 | Vgl. Foucault, 1984b, S. 81. 581 | Vgl. ebd., S. 179. 582 | Vgl. ebd., S. 182. Bei Rufus und Galen erscheine der Überschwang der Seele ohne körperliche Entsprechung als »doxa«. 583 | Vgl. ebd., S. 182. 584 | Ebd. 585 | Vgl. ebd., S. 184f. 586 | Ebd., S. 92. Unter Berufung auf Senecas Briefe an Lucilius unterscheidet Foucault zwischen äußerlicher, unsteter »voluptas« und der Freude am Zugang zu uns selbst, die zu finden sei, wenn wir unseren Blick auf das wahrhaft Gute richten und mit unserem eigenen Gründen (»de tuo«) glücklich sind. Auf seine Frage, welche Gründe hier denn gemeint sind, antwortet Foucault wiederum mit Seneca: »Du selbst und der beste Teil von Dir«, vgl. Seneca Ad Lucilium, 11,1-2 (»te ipso et tui optima parte«). Es scheint nicht von vornherein ausgemacht, dass die guten Gründe in unserem Inneren keinen Raum für die Verdauung von Nahrung bieten, sei letztere geistig oder körperlich. 587 | Vgl. ebd., S. 189f. Auch zur Zeit der Römer sei sexuellen Freuden, gerade in moralischer Hinsicht, ein eher bescheidener Platz neben den Freuden des Essens und des Trinkens eingeräumt worden.
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sei ein wichtiger Moment in der Geschichte der europäischen Ethik erreicht. Ob und wann dieser Moment überhaupt erreicht wurde, lässt Foucault offen. Entsprechend stellt Foucault seine Überlegungen zur Sexualität in Anlehnung an Überlegungen zur Verdauung an. So sei die Tugend für die antiken Moralisten durch das Ausbleiben von Appetit und unwillentlichen Seelenbewegungen beim Träumen gekennzeichnet.588 Der Appetit sei ein Knoten im Netzwerk der sexuellen und digestiven Lüste. Foucault unterstreicht das in Hinblick auf Galen. Der Koitus könne zum Verlust des Appetits und schwacher Verdauung führen.589 Manche Männer hätten ein stetes Bedürfnis nach der Abgabe von Samen, verspürten nach der Ausscheidung aber Mattheit im Magen.590 Sie seien erschöpft. Von Trockenheit ergriffen magerten sie ab. Wenn sie sich deshalb dem Koitus enthielten, hätte das wiederum Unwohlsein in Kopf und Magen zur Folge.591 Das philosophische Interesse an medizinischer Pflege der Verdauung untersucht Foucault insbesondere im Rahmen der Sorge für Gesundheit und Umwelt, die seit der Antike bemerkenswert gleichbleibend sei.592 Ohne die Pflege der Gesundheit lasse sich keine vernünftige Existenz entwickeln.593 Die Kunst der Hygiene sei eine Art permanenter Rüstung für das Alltagsleben. Die Verdauung wird dabei zum Anhaltspunkt für das praktische Verhalten: Hat eine Person gut verdaut, so soll sie früh aufstehen. Hat sie schlecht verdaut, so soll sie sich ausruhen. Hat sie gar nicht verdaut, so soll sie vollständige Ruhe bewahren und keine Arbeit, keine Übung und kein Geschäft betreiben.594 Mit Plutarch unterstreicht Foucault das Zusammentreten philosophischer und medizinischer Interessen.595 Ein Beispiel für praktische Bezüge zwischen sexueller und digestiver Praxis liefert ihm Rufus. Vor dem Essen sei Sex zu vermeiden, nicht weil der Akt zu ermüdend sei, sondern weil er an Kraft verliere. Anderseits solle nicht zu reichhaltig gegessen und getrunken werden. Während der Verdauung sei der Akt immer schädlich. Deshalb sei vom koitieren in der Nacht und am Morgen abzuraten, wenn die Verdauung noch nicht recht fortgeschritten sei, bzw. wenn sich noch unverdaute Speise im Magen finden 588 | Vgl. ebd., S. 21. 589 | Vgl. ebd., S. 161f. 590 | Vgl. ebd. 591 | Vgl. ebd. 592 | Vgl. ebd., S. 141. 593 | Vgl. ebd., S. 138. 594 | Vgl. ebd., S. 140. 595 | Vgl. ebd., S. 75, auch 135f. Eine »gewisse Lebenskunst« (»un certain art de vivre«, ebd., S. 93) definiere mit den ethischen und ästhetischen Kriterien der Existenz die Aufgabe einer achtsamen Kontrolle unserer selbst in einer Serie klar definierter Übungen. Vgl. ebd., S. 94.
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könne oder nicht alles Überschüssige mit dem Urin oder Kot ausgeschieden sei.596 Angeraten wird das Koitieren nach einer leichten Mahlzeit und vor dem Schlafen, evtl. auch bei einer nachmittäglichen Ruhe.597 Der Ausrichtung der antiken Vorstellungen zur asketischen Kontrolle von Verdauung entsprechend, entwickelt Foucault seine Untersuchung der moralischen Bewertung sexueller Aktivität im Rahmen einer übergreifenden Ethik, in der sich die mit Füllung einhergehende Lust vergegenwärtigt. Laut Foucault unterscheiden sich die philosophischen Forderungen zur Einschränkung sexueller Aktivitäten in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung insofern von vorhergehenden Reglementierungen, als sie eine erhöhte Achtsamkeit im Umgang mit der eigenen Person beinhalten. Mit der Zunahme individualistischer Tendenzen wachse die Aufmerksamkeit für private Aspekte der Existenz, das persönliche Verhalten und das Interesse für sich selbst.598 Die Kontrolle der Lust sei gleichermaßen Zeugnis der Macht und Garantie der Freiheit, im Rahmen eines Selbstbezugs, der nichts weiter beinhaltet als das, was von der Wahlfreiheit eines vernünftigen Subjekts abhängig sein könne.599 Veränderungen der Sexualmoral gehen mit Veränderungen des digestiven Selbstverständnisses einher. Die Preisgabe verbindlicher Gesetze im Sinne der hebräischen Tradition führt zu einer extrem starken Akzentuierung der Eigenbezüglichkeit (»des rapports de soi à soi«) der Askese bei den frühen Christen, die laut Foucault mit der Disqualifizierung der Werte des Privatlebens einhergeht.600 Die Freiheit zur Entscheidung über den Umgang mit dem eigenen Bauch führt zu einer Tradition der Selbstbeschränkung in sexueller und digestiver Hinsicht als Ausdruck der Entscheidung zu einem gottgefälligen Selbstbezug. Wie Sexualität und Verdauung im antiken Denken ineinandergreifen, unterstreicht Foucault in Hinblick auf weibliche Bäuche. In Soranus Gynokologie erscheine der Uterus hungrig.601 Als Nahrung konsumiere er Blut und bei der Befruchtung auch Samen.602 Damit sie zur Befruchtung führen könne, solle sexuelle Aktivität dem Rhythmus der Ernährung folgen. An Ratschlägen 596 | Vgl. ebd., S. 176f. 597 | Vgl. ebd. 598 | Vgl. ebd., S. 58. 599 | Vgl. ebd., S. 89. 600 | Ebd., S. 60. 601 | Vgl. ebd., S. 170f. 602 | So wie ein Mann ohne Appetit Samen abgeben könne, könne eine Frau ihn nicht ohne Appetit aufnehmen. Werde Nahrung unwillig und ohne Appetit geschluckt, so werde sie nicht gut angenommen und verdaut. Der Körper solle weder überfüllt noch bedürftig sein. Verstopfung und Trunkenheit könnten alle Körperfunktionen stören, auch die Befruchtung und die Ernährung des aufgenommenen Samens mit Blut und Pneuma.
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fehlt es nicht. Foucault zitiert als zuträglich: Fleisch vom Ziegenbock, Lamm, Huhn, Hahn, Rebhuhn, Gans, Ente, Fisch, Krake und Muscheln, als Gemüse weiße Rüben, Saubohnen, grüne Bohnen, Kichererbsen und Rosinen. Als Getränk biete sich Strohwein an.603 Vor der Menstruation sei keine Befruchtung zu erwarten, weil der mit Blut gefüllte Uterus alle Nahrung zurückweise, gleich einem mit Speise gefüllten Magen. Während der Menstruation, einer Art von »natürlichem Erbrechen«, werde das Sperma ebenfalls fortgespült. Der beste Zeitpunkt sei mit dem Ende der Blutungen gekommen, wenn der Uterus nach Sperma hungere. Der nach der Reinigung neu erwachende Appetit des weiblichen Körpers zeige sich im Verlangen nach Beischlaf.604 Während der Schwangerschaft solle bei sexuellen Kontakte Moderation geübt werden, weil der Koitus den ganzen Körper bewege, der Uterus aber keine Erschütterungen vertrage und wie der Magen seinen Inhalt abweisen könne.605 Schwangeren Frauen werden alimentäre Beschränkungen angeraten, digestive Probleme unverheirateter Mädchen lassen sexuelle Aktivität als angeraten erscheinen.606 Laut Rufus sollen Männer, die Kinder zeugen wollen, vor dem Beischlaf gut essen und trinken, Frauen weniger, denn die einen sollen geben, die anderen empfangen. Galen habe den Moment vor dem Einschlafen empfohlen, nach einer soliden, aber nicht übertriebenen Mahlzeit. Die Einsichten Foucaults zur Geschichte der Sexualität lassen sich ohne größere Schwierigkeiten auf die Geschichte der Verdauung übertragen.607 Ein Beispiel liefert die Stadthygiene in Frankfurt am Main. »Ohne geordnete Defäkation ist städtisches Leben auf Dauer nicht möglich«, schreibt Thomas Bauer in der Einleitung seiner Monographie zu ihrer Entwicklung.608 Für urbane 603 | Vgl. Foucault, 1984, S. 178. 604 | Ebd. S. 171. 605 | Vgl. ebd. 606 | Vgl. ebd., S. 175. 607 | Foucaults Einleitung zum ersten Band der Geschichte der Sexualität lässt sich auch für die Verdauung formulieren: Auf fröhliche Gemeinschaftlichkeit folgte die rasche Vereinzelung, bis hin zu den monotonen Sitzungen des viktorianischen Bürgertums. Die Verdauung wurde sorgsam eingeschlossen. Sie wird von der Kleinfamilie konfisziert und dem Ernst der Ernährung unterworfen. Zur Verdauung wird von nun an geschwiegen. Saubere Personen machen das Gesetz, werden zum Modell, stellen Normen auf, verfügen über die Wahrheit, behalten sich das Recht zum Sprechen vor. Im gesellschaftlichen Raum wie in den Häusern gibt es spezielle Orte, an denen der abschließende Verdauungsakt erlaubt ist – sofern er sauber und ordentlich verläuft –: die Toilette. Der Rest verschwindet im Halbdunkel; die Schicklichkeit der Worte übertüncht die Reden. Wo Unsauberes weiterbesteht und sich offen zu zeigen wagt, erhält es den Status des Anomalen und unterliegt Sanktionen. Vgl. Foucault, 1976, S. 9f. 608 | Bauer, 1998, S. 9.
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Siedlungen sei die geordnete Entsorgung von Exkrementen von existenzieller Bedeutung.609 In Frankfurt wurden erste Abwasserkanäle für das 12. und 13. Jahrhundert nachgewiesen. Im Jahre1864 begann der Bau einer Schwemmkanalisation. Zur Jahrhundertwende war Frankfurt kanalisiert, »und wer etwas auf sich hielt, thronte auf einem Wasserklosett.«610 Frankfurts Weg zur Hausentwässerung erinnert in mancher Hinsicht an die Bemühungen um hygienisches Zusammenleben in anderen Großstädten. Historische Aufmerksamkeit erlangte die Frankfurter Kanalisation insbesondere deshalb, weil es ab 1867 mit der Einrichtung einer Stadtentwässerung nach dem Mischprinzip in Deutschland die Vorreiterposition von Hamburg übernahm. Die ersten planmäßig angelegten städtischen Kloaken waren in England angelegt worden, infolge von Epidemien in den 1830er Jahren. Eingedenk der Bedrohung, die insbesondere die Cholera für die städtische Bevölkerung darstellte, tat Frankfurt einen wichtigen Sprung. Schon 1584 hatten die Ratsherren der Stadt eine umfassende Verordnung zur Straßenreinhaltung angestrebt, weil der von Exkrementen ausgehende »vbeln Gerouch« leicht zu Seuchen und Pestilenz führe könne.611 Der Londoner Arzt und Biochemiker John L. Thudichum, Begründer der Gehirnchemie und glühender Anhänger der Schwemmkanalisation, formulierte das Interesse des Projektes so: »Von Frankfurts Beispiel hängt eine ungeheure Entscheidung ab, eine Entscheidung, welche das Geschick von Millionen für die kommenden Geschlechter festsetzen wird. [...] Ich will Ihnen nun jetzt in großen Zügen das Ziel angeben, nach welchem Sie mit Ihrer Kanalanlage hinarbeiten müssen. Ihr System muss so eingerichtet sein, dass, wenn Abends um elf Uhr der Bürger sich in sein Bett legt, er sich sagen kann: Jetzt sind alle Haus- und Küchenwasser, alle Fäkalmaterien aus Frankfurt draußen. Frankfurt ist rein.« 612
Die Bedeutung der Stadtentwässerung für das, was wir mit Foucault als Biomacht bezeichnen können, liegt auf der Hand. Die Einrichtung der Kanäle bezieht sich ja nicht auf den Einzelnen, sondern auf die gesamte Bevölkerung, gerade in Hinblick auf die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die
609 | Systeme zur Stadtentwässerung wurden mit den frühen urbanen Siedlungen entwickelt, lange vor der Gestaltung der Cloaca Maxima in Rom. Als früher Beleg gelten die in der nordsyrischen Ortschaft Habuba Kabira gefundenen Rohre aus Ton, die schon zur Zeit der Uruk-Kultur zwischen 3500 und 3000 Jahren v.u.Z. zur Abwasserentsorgung gedient haben sollen. Vgl. Kottmann, 1999, 391f. 610 | Bauer, 1998, S. 10. 611 | Ebd. 612 | Zitiert nach Bauer, 1998, S. 12.
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Wohnverhältnisse.613 Bemerkenswert für das Verständnis der Struktur der digestiv orientierten Biomacht scheint ein weiteres Detail: Seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts bestand in Frankfurt die Personalunion von Scharfrichter und Wasenmeister.614 Hatte der Scharfrichter einerseits Schand-, Körper- und Todesstrafen zu exekutieren, so stand er andererseits im Dienste der Stadthygiene. Unter anderem war er für die Beseitigung verendeten Viehs sowie die Entleerung der Abortgruben zuständig.615 Diese Ämtervereinigung trug wie bei den Kollegen in Hamburg, Köln, Leipzig oder Nürnberg zur Sicherung seines Lebensunterhaltes bei.616 Der Scharf- bzw. Nachrichter vertrat Macht im doppelten Sinne. Die Macht, Körper zu versehren und Leben zu nehmen, verband sich mit der Macht über die hygienischen Existenzbedingungen der Bevölkerung. Foucaults Analyse zur politischen Bedeutung der Sexualität ist von hier auf die Verdauung übertragbar. Der Scharfrichter sorgt für individuelle Disziplinierung des Körpers und die Regulierung der Lebensbedingungen. Sein Amt bildet ein Glied zwischen anatomischer Politik und Biopolitik, am Kreuzungspunkt der Disziplinierungs- und Regulierungsformen.617 Wir dürfen mutmaßen, dass die Regulierung der Verdauung und insbesondere des Umgangs mit Verdauungsprodukten in dieser Funktion schon bei den ersten Stadtplanungen als erstrangiges politisches Instrument diente, in Frankfurt tritt sie aus dem Mittelalter in die Neuzeit.
613 | Vgl. Foucault, 2005, S. 230ff. 614 | Vgl. Bauer, 1998, S. 126. 615 | Vgl. ebd., S. 127f. 616 | Vgl. ebd., S. 127. Laut Bauer wurde die soziale Stellung von Scharfrichtern in der vorhergehenden Forschung weitgehend unter Aspekten des Strafrechts unters ucht, das »peinliche Thema der Fäkalienentsorgung« stark vernachlässigt. Unterb ewusste Berührungsängste könnten dafür mitverantwortlich sein, dass sich die Geschichts wissenschaft noch nicht näher mit dieser für die Organisation städtischer Lebensformen so bedeutsamen Problematik befasst habe. Vgl. ebd., S. 143. 617 | Vgl. Foucault, 2005, S. 230 ff.
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Der Scharfrichter, »den man nicht im Hauß will hab«,618 hielt das Monopol die ›Profeien‹, also die gemauerten Abortgruben, zu ›fegen‹.619 Dieses Privileg wurde durch das Versenken der Verdauungsrückstände in unbefestigte Gruben gefährdet, auch durch den Gebrauch von ›Strohsitzen‹, die insbesondere auf dem Lande in Eigenregie gereinigt wurden und durch ›Kübelweiber‹, die ganze Profeien ausschöpften.620 Mit der ›Freisprechung der Profeireinigung‹ wurde der Beruf des Wasenmeisters ehrbar, aber auch entbehrlich.621 Privatrechtliche Gesellschaften übernahmen die Entsorgung der Fäkalien. Die wurden nun nicht mehr ausschließlich in den Fluss geschüttet, sondern fanden zunehmend als Düngemittel Gebrauch. Die Verabschiedung des Scharfrichters aus der Fäkalienbeseitigung hinterließ allerdings ein machtpolitisches Vakuum. Soldatenpatrouillen, Gasseninspektoren, Schild- und Nachtwächter waren mit der Durchsetzung der Straßenhygiene überfordert. Ab 1817 fielen die Aufsicht über das »Kehren in der Stadt« und die »Wägen zur Abholung des Kehrichts« in die 618 | Bauer, 1998, S. 152. Bemerkenswert ist dabei auch die Stigmatisierung des Scharfrichters zu einer Figur außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Schon der Amtseid enthielt seit 1446 eine Passage zum öffentlichen Verhalten, die erst im Jahre 1777 gestrichen wurde: »Er sal sich auch alleyn halden, als sym ampt zusteet und sich under die gemeynschaft nit mengen.« Vgl. ebd., S. 134. Die gesellschaftliche Situation des Scharfrichters lädt zu Vergleichen mit Agambens ›Homo sacer‹ ein. Farbige Schnüre an der Kleidung machten den Scharfrichter und Wasenmeister für jedermann als ›Unberührbaren‹ kenntlich. Bis ins 17. Jahrhundert war den Amtsinhabern ein ›ehrliches‹ Begräbnis versagt. Die berufsbedingte Ausgrenzung betraf auch die Angehörigen. Söhne waren ›unehrlich‹ von Geburt und waren bis zu den Reichshandwerkerordnungen von 1731 und 1772 gezwungen, den Beruf ihrer Väter zu ergreifen. Noch 1765 wurde der Ehefrau eines Nachrichters die Anmietung eines Kirchstuhls im Weißfrauenkloster verweigert. Vgl. ebd., S. 133 u. S. 136ff. 619 | In diesen gemauerten Kloaken wurden die Fäkalien vor der Einführung der Kanalisation gesammelt. War eines der ›heimlichen‹ Gemächer angefüllt, wurden sie mit Eimern ausgeschöpft, in Fuhrwerken auf die Mainbrücke transportiert und von dort in den Fluss gekippt, vorzugsweise im Winter und in der Nacht. Bauer, 1998, S. 145. Dem Scharfrichter standen dabei mehrere Knechte zur Seite. Unter Umständen wurde Beaufsichtigung des Fegens durch einen Stöcker übernommen, was dem Schafrichter erlaubte, sich auf die Geschäftsführung zurückziehen. Gewöhnlich hatten Stöcker auch Leibesstrafen zu vollstrecken, insbesondere das Auspeitschen mit Ruten. Digestive und sexuelle Disziplinierung gingen dabei Hand in Hand. Zeitweise hatte der Stöcker auch Prostituierte zu »schuren, schirmen und regieren«. Für Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Körper- und Biomacht dürfte die Person des Stöckers neben der des Scharfrichters von großem Interesse sein. 620 | Vgl. Bauer, 1998, S. 148f. 621 | Ebd., S. 159.
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Kompetenz des neugeschaffenen Polizeiamts.622 Der Zusammenhang zwischen Hygiene und Disziplin bei der Beseitigung von Verdauungsrückständen blieb somit gewahrt.623 Foucault verwundert sich über die Funktion einer Gesellschaft, die ihre eigene Heuchelei lauthals kritisiert, ihr eigenes Schweigen ausführlich detailliert, ihren eigenen Gebrauch der Macht denunziert und vorgibt, sich von den Gesetzen befreien zu wollen, nach denen sie funktioniert.624 Allerdings lassen sich verschiedene Formen des Schweigens unterscheiden, entsprechend den verschiedenen Strategien der Diskurse, die sie unterstützen und durchziehen.625 Einerseits scheinen Sexualität und Verdauung dabei derart verkoppelt, dass eine Trennung nur bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung möglich erscheint. Anderseits bestehen wesentliche Unterschiede: Wenn Hoffnung auf ›befreiten‹ oder ›besseren‹ Sex durch orgastische Vollendung infolge wohlgeübter Reproduktionsgymnastik in olympischen Wolkenbetten bestehen kann, so bleibt die Hoffnung auf Befreiung von schlechter Verdauung auf den Besuch einer Apotheke beschränkt. Aber auch hier gilt es zu unterscheiden. Gespräche über den Geschmack von Nahrung folgen anderen Spielregeln als Gespräche über die Funktion des Dickdarms. Die Diskurse zur Unterdrückung von Sexualität und Verdauung mögen verschiedene Formen annehmen, im Grunde scheinen sie aber verbunden zu sein. Kann die Emphase eines wahrhaften Diskurses die Ökonomie der Sexualität tatsächlich beeinflussen, die entsprechenden Gesetze untergraben und verändern, so gilt das auch für eine veränderte Praxis der Verdauung. Befriedigender Sex führt nicht automatisch zu besserer Verdauung und vice versa, aber das eine verspricht sich doch mit dem anderen zu verbessern oder eben auch zu verschlechtern. So stützt die Hoffnung auf verbesserte Verdauung die Hoffnung auf befreiende Sexualität. Für Wechselwirkungen zwischen sexueller und digestiver Repression besteht also Klärungsbedarf, nicht nur im Bereich medizinischer Versorgung. Die Be622 | Ebd., S. 122. 623 | Die aufkommende Angst vor der gastrointestinalen Infektionskrankheit Cholera führte zu strengen Quarantäne-Maßregeln, wobei sich wirtschaftspolitische Taktik mit der Sorge um die Gesundheit noch die Waage hielt. Vgl. ebd., S. 164. Clemens Brentano schrieb seinem Bruder Georg nach Frankfurt, es helfe nur »das alte Haus- und Himmelsmittel: Beten, Fasten und Almosen geben.« Vgl. ebd., S. 165. Das Polizei-Amt stellte Gesundheits-Pässe aus und plante die Verwaltung des Elends im Ernstfall. Obwohl Frankfurt von der Cholera weitgehend verschont blieb, lieferte die Seuchengefahr doch Grund genug für den Bau der Schwemmkanalisation. Vgl. ebd., S. 176. Deren erste elf Kilometer wurden 1845 fertiggestellt, zu Baukosten von 1,2 Millionen Mark. Ab 1845 bestand für alle Neubauten Anschlusszwang an das Kanalnetz. 624 | Vgl. Foucault, 1976, S. 16. 625 | Vgl. ebd., S. 39.
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hauptung notwendiger Zusammenhänge zwischen der Unterdrückung von Verdauung und Sexualität muss insofern unfruchtbar bleiben, als die Verdauung ihre Freiheit gegenüber geistiger Bevormundung effektiv behauptet, gerade auch gegenüber den Maßgaben rationaler Einsicht.
K noten bei D errida Der Bezug zwischen Verstehen und Essen ist laut Jacques Derrida (* 15.07.1930 in El Biar; † 8.10.2004 in Paris) nicht an eine bestimmte Strömung der westlichen Philosophie gebunden, sondern als ein kulturelles Apriori zu betrachten.626 Dass nicht nur Nahrung, sondern auch Worte einverleibt werden, sei eine das ganz westliche Denken überspannende Erscheinung. Doch insbesondere in der hermeneutischen und spekulativen Philosophie erscheine der Begriff des Verstehens als eine Form der Einverleibung.627 Derrida selbst pointiert die philosophische Bedeutung von Verdauungsvorgängen mit Überlegungen zu »Tropen des Kannibalismus«.628 Dabei bezieht er sich insbesondere auf die Umwandlung von Wein und Brot in Fleisch und Blut, das »große Mysterium des Christentums«.629 Im unmittelbaren Geist der Natur, im Selbstbewusstsein der hohen Gottheiten Ceres und Bacchus (»sine Cerere et Baccho friget Venus«), vermutet Derrida die Ankündigung eines mit dem Mysterium von Fleisch und Blut einhergehenden Wahnsinns. Die Jahreszeiten, konzeptuelle Grippe, Saturnalien, Übergänge von der Blüte zur Frucht, von Frucht zu Wein, von Wein zu Blut, geistige Gärung, die ein Geschlecht in das andere einführt, versteht er im Rahmen seiner Interpretationen Hegel’scher Gedankenfunken als Erscheinungen einer Erwärmung.630 Erwärmung bedeute organisches, geistiges und vergehendes Leben. Das sei nicht metaphorisch zu verstehen, denn die Tropen selbst werden laut Derrida ja durch geistige Gärung produziert. Das natürliche Leben zerstöre sich, um sich zum geistigen Leben zu erheben, Erwärmung gestatte Assimilation, Verdauung, Ernährung, Verinnerlichung, Idealisierung und letztlich auch die Aufhebung (»la relève«).631 Bezüge zwischen Geist und Verdauung behandelt Derrida besonders ausführlich in Bezug auf Hegel, bei dem die Tropen des Kannibalismus besonders klar erscheinen.632 Der Geist verleibe sich die Ge626 | Vgl. Birnbaum u. Olsson, 15.02.1991. 627 | Vgl. ebd. 628 | Ebd. 629 | Ebd. 630 | Vgl. Derrida, Glas, 1974, S. 262. 631 | Ebd., S. 262f. 632 | Vgl. Birnbaum u. Olsson, 15.02.1991.
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schichte ein, indem er sich an seine eigene Vergangenheit erinnere. Die Assimilation sei eine Art des sublimierten Essens. Der Geist esse, was ihm äußerlich und fremd sei, um es in etwas Inneres zu verwandeln, etwas, das zu ihm selbst gehört. Durch den »großen Verdauungstrakt« (»the great digestive system«) werde alles einverleibt – nichts sei ungenießbar für Hegels unendlichen Metabolismus.633 Dabei fresse der Mensch nicht wie ein Tier. Anders als Tiere, die Objekte nur schlucken könnten, brauchten Menschen die Objekte nicht zu verschlingen, sondern könnten sie abstrakt einverleiben, wobei sie den inneren Raum schaffen, den wir Subjekt nennen. Die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem möchte Derrida mit dem in Beziehung setzen, was gegessen werden kann und dem, was sich nicht dazu eignet.634 Sie sei die Grenze zwischen dem, was assimiliert werden kann und dem, was in der Assimilierung immer schon vorausgesetzt wird. Das Sein mache Dinge in der Welt zugänglich, während es sich selbst verberge.635 Ähnliches gelte für die Auslegung heiliger Schriften und die Aufnahme göttlicher Worte als Speise. Bei gefräßigen Denkern wie Gadamer wirke das nach. Radikal Fremdartiges habe da keine Chance – es werde verdaut, in die Tradition verschmolzen, gnadenlos verschlungen. Zur Veranschaulichung bezieht sich Derrida auf den Film von Peter Greenaway aus dem Jahr 1989, Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, aber auch auf einen Text des Romantikers Novalis.636 Für Novalis sei alles Genießen, Zueignen und Assimilieren Essen, das gemeinschaftliche Essen eine sinnbildliche Handlung der Vereinigung.637 Alles geistige Genießen lasse sich durch Essen ausdrücken. In der Freundschaft esse man von seinem Freunde, ja lebe von ihm. Novalis: »Es ist ein echter Trope, den Körper für den Geist zu substituieren und bei einem Gedächtnismahle eines Freundes in jedem Bissen mit kühner, übersinnlicher Einbildungskraft, sein Fleisch, und in jedem Trunke sein Blut zu genießen.«638 Laut Novalis muss man nicht immer gleich an rohes, verwesliches Blut und Fleisch denken. Die körperliche Aneignung sei geheimnisvoll genug, um ein schönes Bild der geistigen Meinung zu sein. Blut und Fleisch seien nichts un633 | Ebd. 634 | Vgl. ebd. S.o. das hungrige Dasein bei Anders und Levinas. 635 | Der »Übermalte Bauchraum« von Arnulf Rainer auf der Titelseite dieses Buches verdeutliche das Paradox, dass ein Sichtbares das Unsichtbare des anderen Sichtbaren durch Akzentuierung hervortreten lassen kann. Vgl. Trinks, 2006, S. 89. 636 | Novalis ist im Denken Derridas wohl eher von marginaler Bedeutung. In den Bemerkungen zu den von Novalis verfassten theoretisch-wissenschaftlichen Notizen, behandelt Derrida ihn nichtsdestoweniger wie einen ›verbündeten‹ Denker. Vgl. Krell, 2006. 637 | Vgl. Novalis, 1837, S. 263f. 638 | Novalis, 1837, S. 263f.
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bedingt Widriges und Unedles. Bald werde man höhere Begriffe vom organischen Körper haben.639 Ist es denn unvorstellbar, dass das Fleisch eines Freundes Brot und sein Blut Wein sein kann? Laut Derrida zeigt dekonstruktives Speisen Respekt für das, was nicht gegessen werden kann. Das entspricht dem Schema seiner Theorien zum Unübersetzbaren in Texten. Das nicht Lesbare, das, was immer fremd bleibe, steht in Bezug zum Un- bzw. Halbverdauten. In Überlegungen zu Kant unterstreicht Derrida die Bedeutung von »Erbrochenem« (»vomi«) für die Grenzen des systematischen Denkens, insbesondere in Hinblick auf Überlegungen zu Anthropologie und Urteilskraft.640 Einen Ansatzpunkt für seine Gedanken zum Erbrochenen liefert ihm der »sens interne«, den Kant nicht nur auf anthropologische, sondern auf psychologische Erfahrung beziehe.641 Erscheine es beim Uns-selbst-Sprechen-hören als hätten wir einen inneren Mund, so komme es zu einer Selbst-Affektion.642 Dann werde in idealer, nicht aber in natürlicher Weise verdaut.643 Der Mund der inneren Sprache konsumiere, was er nicht konsumiere, und vice versa. In der Möglichkeit des Verzichts auf Urteile stelle er Interesselosigkeit her. Polemisch fragt sich Derrida, was denn den Raum dieser kantischen Problematik begrenzen könne, wenn besagter Mund eine räumliche Analogie fordere, in die er sich gar nicht einfügen lasse und aus der heraus er doch das Phantasma der Lust anordne? Welcher Rahmen könnte hier eine interne oder externe Grenze bilden? Für Derrida ergeben sich Form, Grenze und Konturen der Theorie gerade aus dem, was sie selbst nicht erfasst: dem Ausgeschlossenen.644 Aber was ließe sich denn nicht in orale Selbst-Affektion transformieren? Derrida gibt seiner Antwort eine tautologische Form: Das Ausgeschlossene sei nichts Negatives, sondern einfach das, was sich weder verdauen, noch repräsentieren, noch sagen lasse.645 Die Tautologie liege darin, dass etwas, das weder in spürbarer, noch in idealer Weise gegessen werden kann, ja das sich überhaupt gar nicht schlucken lässt, ohnehin nur erbrochen werden kann.646
639 | Vgl. ebd. 640 | Vgl. Derrida, 1975, S. 86ff. Michel Foucault hatte Kants Anthropologie im Rahmen seiner am 20. Mai 1961 an der Sorbonne vorgelegten Dissertation übersetzt und 1964 veröffentlicht. Die Bedeutung dieser Schrift für das philosophische Verständnis der Verdauung dürfte auch ihm nicht entgangen sein. 641 | Kant, KdU, §24. 642 | Vgl. Derrida, »Economimesis«, 1975, S. 87. 643 | Vgl. ebd. 644 | Vgl. ebd. 645 | Vgl. ebd. 646 | Vgl. ebd.
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Das Schema des Erbrechens, wie auch die Erfahrung des Ekels, sei in einem besonderen Sinne aus dem System ausgeschlossen. Laut Derrida gibt Erbrochenes dem ganzen System seine Form.647 Das versucht er durch die Rückbindung seiner Überlegungen zum Erbrochenen an den Begriff der negativen Lust bei Kant zu unterstreichen.648 Kants Rede von einer »augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung« lässt laut Derrida eher an Ejakulation denken als an Erbrechen.649 Der Bezug zwischen Lust und Erbrochenem ergebe sich mit Kants Ansicht, es gebe eine Abneigung gegen Gegenstände, die Ekel erregen, weil sie sich zum Genuss aufdrängen. Das Erbrochene stehe sowohl in Bezug zum Genuss (»jouissance«) als auch zur Lust (»plaisir«). Es repräsentiere das, was uns, wider den eigenen Willen, zum Genuss zwinge.650 Wir stellen uns Erbrochenes als etwas vor, das zur Lust zwinge. Dadurch erzeuge es Ekel, wider den wir laut Kant doch mit Gewalt streben.651 Diese Vorstellung setze sich selbst außer Kraft. Aus diesem Grund sei das Erbrochene unvorstellbar bzw. unsagbar. Und weil wir uns bei der Trauerarbeit immer »an die Kandare nehmen« müssen, kann das Ekelerregende laut Derrida nur das Erbrochene sein.652 Das sei wiederum tautologisch: Das Andere des Systems des Geschmacks müsse der Ekel sein. Der orale Bezug zwischen Geschmack und Ekel bestimmt laut Derrida den Diskurs über den Diskurs: Logozentrische Systeme können alles sagen, assimilieren, repräsentieren, verinnerlichen und idealisieren, nur nicht das Erbrochene.653 Ekel sei im Allgemeinen nicht unbedingt abstoßend oder negativ, sondern reize zum Erbrechen.654 Derrida zitiert Kants Allgemeine Anmerkung über die äußern Sinne: Der Ekel erscheint dort als ein Anreiz, sich des Genossenen durch den kürzesten Weg des Speisekanals zu entledigen, sich zu erbrechen. Er sei den Menschen als eine starke Vitalempfindung beigegeben worden, weil »innigliche Einnehmung dem Thier gefährlich werden kann.«655 Wir haben schon im Abschnitt zum verdauungsfördernden Lachen gesehen, 647 | Vgl. Derrida, 1975, S. 87. 648 | Vgl. Kant, KdU, 23, 245. 649 | Derrida, 1975, S. 88. Schon an dieser Stelle bietet sich allerdings eine digestive Lesart an: die hier der Lust zugrunde liegende Hemmung und der folgende Erguss der Lebenskräfte dürfte ihre Entsprechung im Inneren des Bauches haben. Und könnte sie nicht sogar auf Vorgängen im Bauch beruhen? 650 | Derrida, 1975, S. 90. 651 | Vgl. ebd. 652 | Ebd. 653 | Vgl. ebd., S. 91. 654 | Vgl. ebd. 655 | Kant, AA, VII, S. 157.
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wie Kant diese Feststellung zum körperlichen Befinden auf den Geistesgenuss bezieht, bzw. auf den natürlichen Instinkt, widerliche Geistesnahrung loszuwerden. Derrida nimmt den Bezug zwischen gastraler und intellektueller Verdauung auf, indem er den Ekel nur dann als symmetrische Umkehrung des Geschmacks für verständlich hält, wenn es ein Interesse für ein solches Verständnis gibt, etwa ein Interesse des Mundes, dass es verbiete, ihn durch eine nicht-orale Analogie zu ersetzen, »die Chemie des Wortes«.656 Das Ausgeschlossene sei nichts Erbrochenes, sondern die Möglichkeit zu seiner Ersetzung durch etwas Obszönes, nicht Repräsentierbares, nicht Nennbares, nicht Erkennbares, nicht Spürbares, das zum Genuss zwinge und mit der hierarchisierenden Autorität der logozentrischen Analogie ihr Vermögen zur Gleichsetzung untergrabe.657 Eine Unmöglichkeit erzwinge die Bezüge zwischen mimetischen und ökonomischen Operationen, bzw. den Prozess der Economimesis. Dabei handle es sich nicht um eine erfahrbare, verständliche Sache, die sich sinnlich oder begrifflich erfassen lasse.658 Das logozentrische System habe dafür keinen Namen, sondern könne es nur »erbrechen« bzw. »sich in ihm erbrechen«. Zu fragen, was es denn sei, hieße es zu essen oder zu erbrechen. Im Grunde seien Essen und Erbrechen ohnehin ein und dasselbe. Das Wort »Erbrochenes« (»le mot vomi«) bringe die Sache in den Mund, es ersetze das Anale exemplarisch mit dem Oralen. Es sei durch das System des Schönen bestimmt, als »Symbol der Moralität«, als ein anderes: Mit seinem schlechten Geschmack bleibe es für die Philosophie ein Elixier.659 Bei seiner Auszeichnung des Erbrochenen als Grenze logozentrischer Systematik stellt Derrida das Erbrochene in den Vordergrund. Das Erbrochene (»vomi«) sei weniger mit Aktivität bzw. mit dem Traum von Selbst-Affizierung und dem Glauben an ein initiatives Subjekt verbunden, das sich selbst zum »Erbrechen« (»vomir« bzw. »vomissement«) bringt.660 Die Fremd-Affektion erscheine hier nicht als »Vor-Verdauung« zu einem »Sich-zum-erbrechen-bringen«.661 Hier ließe sich wohl einwenden, dass Kant seine Überlegungen zu Ekel und Erbrochenem eher auf eine Aktivität bezieht. Das Erbrochene gehört bei ihm zu einem Erbrechenden, denn der Ekel bzw. der Anreiz, sich des Genos656 | Ebd. S. 92. 657 | Vgl. ebd. 658 | Vgl. ebd., S. 93. 659 | Ein ›Elixier‹, das ist ein in Alkohol gelöster Auszug mit verschiedenen Zusätzen. Der alchemistische Begriff ›elixirum‹ wurzelt im arabischen Begriff ›al-iksīr‹ ( إل › ريسك ‹, ›Quintessenz‹, bzw. ›Stein der Weisen‹). 660 | Derrida, 1975, S. 88. 661 | Ebd.
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senen durch den kürzesten Weg des Speisekanals zu entledigen, ist ja eine Vitalempfindung des sich Übergebenden. In einem gewissen Sinne mag das Erbrochene vom Erbrechenden trennbar sein, es kann ja durch den Mund ausgeschieden werden. Nichtsdestoweniger bleibt der Verdauungstrakt des Erbrechenden der Ort, dem das Erbrochene entstammt. Im Verdauungstrakt verschwimmt die Grenze zwischen Körper und Umwelt, frisch aufgenommene Speise vermengt sich hier mit Magensaft und Chymus.662 Sowohl das Erbrochene als auch der Chymus können Ekel erregen, wobei Ekel ja gerade der Grund dafür sein kann, dass Teile des Chymus erbrochen werden. Derrida selbst kommt auf die Angst vor der Umkehrung des Verdauungsvorgangs zu sprechen, bei der Inhalte des Verdauungsschlauches oral statt anal ausgeschieden werden. Wenn sich Ekel aber auf orale und auf anale Ausscheidungen beziehen kann, so bleibt unklar, warum Derrida seine Ausführungen zur Grenze logozentrischer Systematik vorwiegend auf Erbrochenes bezieht, nicht aber auf den Kot oder Mageninhalt. Problematisch scheint die Annährung zwischen Erbrochenem und dem logozentrisch Unfassbaren auch in Hinblick auf die systematische Erforschung der Verdauung, die sich besonders im 17. Jahrhundert ja vielfach auf die Untersuchung von Erbrochenem konzentrierte. Erbrochenes hat Anteil an der Entwicklung des Logozentrismus, das unterstreicht die wissenschaftliche Bedeutung des Vermögens, sich »nach Belieben zu übergeben«.663 Der Verdacht, dass die Untersuchung von Erbrochenem unser Wissen um die Verdauung letztlich nicht verbessert, spricht allerdings für Derridas Position. Aber wie erklärt sich die Grenze, auf die das logozentrische Wissen hier stößt? Derridas Bemerkungen zum Erbrechen erinnern an die Annahme, dass die Wirkungskraft der Verdauung deshalb unerklärlich bleiben muss, weil sie Phänomene betrifft, die untereinander auf eine Art und Weise verbunden sind, die wir nicht wahrnehmen können, weil sie auf geheimnisvolle Wirkungen im Inneren von Massen beruhen, von denen wir uns keine Vorstellungen machen können.664 Vom Gegenstand der Verdauung lässt sich ja tatsächlich nicht sagen, dass er eine bestimmte Sache ist, die sich mit diesem oder jenem Sinn oder mit diesem oder jenem Begriff erfassen ließe. Dass Ekel nicht an streng fixierte stoffliche und lokale Erscheinung gebunden ist, unterstreicht die Schwierigkeit der 662 | Verdauungsprodukte müssen den Körper nicht verlassen, um Ekel erregen zu können. In den Gedanken scheint etwa Chymus im Inneren des Bauches ähnlich ekelig wie Chymus, der aus ihm austritt, wie etwa durch die Fistel im Bauch von Alexis St. Martin, vgl. Beaumont, 1838, S. 10. 663 | Rigoli, 2006, S. 219 u. S. 211. »[...] j’ai profité de la faculté dont jouissent certaines personnes de rendre à volonté, à toutes les époques de la digestion, ce que contient leur estomac [...]« Montègre, 1814, S. 3. 664 | Vgl. Grimaud, 1818, I, S. 324f. u. II, S. 242f., zitiert nach Rigoli, 2006, S. 237.
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begrifflichen Fassung dessen, was systematisch von theoretischer Erkenntnis ausgeschlossen ist. Die Veränderungen, die unsere Speise beim Gang durch den Verdauungsschlauch erfährt, sind derart komplex, dass eine Bestimmung immer nur annähernd und fragmentarisch scheint. Was sich in diesem Moment in unserem Bauch bewegt, steht nicht fest. Die Bedeutung des Bauches als Grenze des Erfassbaren zeigt sich schon beim Mund. Wenn es kein gemeinsames Maß zwischen Geist und Körper geben sollte, so können Geist und Körper in der Vorstellung der Öffnung des Mundes ohne Gesicht doch zusammenfallen. Die Funktion der ursprünglichen Öffnung des Mundes für die Entwicklung von Sprache ist ohne Berücksichtigung der Verdauung nur unvollständig aufklärbar. Begreifen wir den Mund als einen Ort des Austausches zwischen Geist und Körper, so tragen die Aktivitäten der Verdauung zur Entwicklung geistiger Fähigkeiten bei. Sprachlicher Ausdruck gehört zu einer Reihe von Mund-Aktivitäten, die sich infolge der ersten Schreie nach Nahrung entwickeln. Auch wenn die metaphorischen und organischen Funktionen des Mundes sich nicht direkt berühren, wenn Körper und Geist kein gemeinsames Maß kennen, so trägt der essende Mund doch zu den Verschiebungen zwischen Geist und Körper bei.665 Für das Verschlingen interessiert sich Derrida in Überlegungen zur Ausbildung von Souveränität. Souveräne Macht beruhe auf der Fähigkeit zur Verinnerlichung anderer durch Verschlingen und Verschlucken. Nicht von ungefähr sei der Ort des Verschlingens auch der Ort der Stimme bzw. der Schreie. Ein Souverän müsse sich verständlich machen: Er spreche, heule und brülle aus voller Kehle, um seinen Äußerungen Gehör zu verschaffen, in ihm selbst und bei anderen, die ihm gehorchen sollen, die seinen Befehlen und Weisungen folgen sollen. Der Souverän müsse den anderen aber auch mit Hilfe von Mund und Zähnen inkorporieren. Er müsse andere beißen, töten, in sich aufnehmen und – im Zuge der Trauerarbeit – auch in sich aufheben.666 Der Nabel, durch den unsere Träume mit dem Unerkannten zusammenhängen sollen, beschäftigt auch Derrida.667 Freuds Bemerkung betreffe keine provisorische Grenze, sondern ein absolut Unbekanntes, das kongenital mit dem Wesen des Traumes verbunden sei, mit dem Ort seiner Entstehung, dessen Geburtsmal er trage. Der Nabel, der »omphalische Ort«, sei eine Verbindung, ein Knoten- und Nabenpunkt, der das Gedenken einer Trennung und einer bei der Geburt zerschnittenen Schnur bewahre. Damit werde gesagt, dass jeder Traum unweigerlich zumindest eine unergründliche, unerreichbare, unerforschbare, unanalysierbare Stelle in sich trage, wie einen Nabel, 665 | Vgl. Derrida, Le Toucher, 2000, S. 38. 666 | S.o. Abschnitt 1: »Nebucadnezar der König zu Babel hat mich gefressen und umgebracht«, Jer, 51:34. 667 | Vgl. Derrida, 1996, S. 25ff.
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einen Omphalos. Um die wunde Stelle gut zu vernähen, habe man den Traum an dieser Stelle mit dem Unerkannten verbunden, was Derrida an Verknotung, Anknüpfung, Verbindung und Auf hängung denken lässt, an einen mit sprachlichen Mitteln nicht auf knüpf baren, nicht lösbaren, nicht auflösbaren, nicht zertrennbaren Knoten. Derrida interessiert eher die Fadenführung als das durch sie verschlossene Loch oder der anatomische Nabel als Repräsentation der Öffnung oder Lücke (›béance‹) bei Lacan. An der Gestalt des Steines, der heute den ursprünglichen Omphalos aus der delphischen Kultstätte repräsentiert, lässt sich die Funktion der Verdauung für Derridas Behandlung der Sprache verdeutlichen. Die auf der Oberfläche des Omphalos repräsentierten Knoten symbolisieren ein sprachliches Netz, das den körperlichen Mittelpunkt der Welt umspannt. Im Zentrum des Omphalos, also sozusagen in der Mitte des Mittelpunktes, findet sich ein leerer Schacht, der die Verbindung zwischen Welt und Unterwelt bzw. zwischen Mund und Anus symbolisiert. Derridas Überlegungen bleiben hier insofern oberflächlich, als seine Untersuchung psychischer Verknotungen nicht in den Schacht dringt. Aber der für das Verständnis psychischer Verknotungen wesentliche Kern des Pudels scheint beständig durch, ähnlich wie in den Schriften Freuds. Der hat mit seiner Rede vom Omphalos laut Derrida dem allgemeinen Fortschritt der Vernunft eine Grenze gezogen. Freuds Text bleibe in der Verflechtung seines eigenen Gewebes ebenso rätselhaft wie der Omphalos und die vernetzte Verstrickung der verwobenen Fäden im verwickelten Knäuel zwischen Text und Textur.668 Es gelte Fäden zu ziehen, um die Rhetorik von Faden und Knoten aufzulösen. Die Ausführungen von Derrida zum Zusammenhang zwischen Sprache und Verdauung verweisen auf eine Tiefe in der Kehrseite der sprachlichen Struktur, aus der heraus sich das philosophische Fragen entwickelt. Der Omphalos symbolisiert das digestive Dilemma: Ein geordnetes Netz sprachlicher Bezugspunkte umspannt den Bauch, ohne 668 | Ursprünglich umgab den Omphalos ein geknotetes Netz aus Wollgirlanden, ein ›Agrenon‹ (›τὸ ἀγρηνόν‹ von ›ἡ ἄγρα‹, die Jagd). So wurde ein beim Jagen verwendetes Wurfnetz bezeichnet, aber auch ein weitläufig geknüpftes Netz aus dicken, lockeren Fäden weißer Wolle, das zur Bekleidung diente. Genelli, 1818, S. 94. Solch ein »göttliches Schutzkleid« soll insbesondere griechische Propheten vom Hals abwärts vollständig umhüllt haben, wobei die weiten Netzrauten Durchblick auf das Unterkleid erlaubten. Eine Vorstellung vermittelt der Torso eines Mannes, Apollon im Maschengewand, aus der Hadriansvilla vor Tivoli. Das Netz soll die Stiftungsweihe des Omphalos besiegelt und als seine erste sowie heiligste Umkleidung seine Unantastbarkeit unterstrichen haben. Boetticher, 1859, S. 9f. Wenn das Netz als Symbol Zeus angehörte und von Apollon samt dem Omphalos und der Hestia nur als Erbe übernommen wurde, könnte das erklären, warum die Pythia den Hermesstab tragen kann, nicht aber das Netz: Sie wurde von Apollon eingesetzt, nicht von Zeus.
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seine innere Aktivität zu erfassen oder zu definieren. Liegt der Ursprung des Traumwunsches, der sich aus einer dichteren Stelle dieses Geflechtes erhebt, wirklich genau dort, wo die Analyse ihr Ende finden muss? Oder liegt er nicht eher in jenem unergründlichen Dunkel, in dem er laut Freud belassen werden muss? Liegt der Ursprung im Knoten selbst oder entsteht der Knoten nicht erst aufgrund von Aktivitäten, von denen uns die Veränderungen der Geflechte einen oberflächlichen Eindruck vermitteln? Beschränkt sich die nicht analysierbare Synthese auf ein gedankliches Knäuel oder ergibt sich das gedankliche Knäuel in der Folge von Ereignissen, die wir gedanklich nicht zu erfassen vermögen? Laut Derrida kann die Traumanalyse den omphalischen Knoten nicht auflösen. Werde ein Faden zerschnitten wie eine Nabelschnur, so bleibe die entstehende Narbe doch ein Knoten, gegen den die Analyse nichts ausrichten könne. Die sprachliche Erfassung von Verbindung und Trennung, Schnitt und Knoten stoße auf einen Widerstand in der Sprache selbst, der das Vordringen in die Bereiche jener Ausblendungen verhindere, die der Sprache ihre Form geben. Anders gesagt: Die sprachliche Durchdringung des Verdauungsgeschehens scheitert an der Unmöglichkeit, die Grenze zwischen Sprache und Verdauung mit sprachlichen Mitteln zu erfassen. Sprache erscheint hier als ein Verdauungsvorgang, der sich nicht selbst verdauen kann. In Hinblick auf die Verdauung kann sich die Sprache ihrer eigenen Grenzen vergewissern. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Betrachtung des Omphalos auf Äußerlichkeiten wie das umgebende Netz beschränken muss. Den Kanal im Inneren des Steins müssen wir nicht auf alle Zeit im Dunkeln lassen, nur weil ihn keine bedeutungstragenden Fäden durchziehen. Derrida unterstreicht das, wenn er fragt, ob die Beschränkungen der Analyse auf Widerständen gegen die Analyse beruhen, denen nur provisorische Geltung zukäme, etwa in dem Sinne, in dem Freud seine eigenen Träume anders bewertet, nachdem sie einige Jahre zurückliegen. Oder liegen die Grenzen der Analyse in nicht reduzierbarer und nicht historischer Weise in der Struktur des Traumwunsches selbst? Hier deutet sich laut Derrida die Alternative zwischen aufklärerischer Hoffnung auf eine Beseitigung von Widerständen durch eine in die ursprüngliche Dunkelheit vordringende Analyse und einem fatalistischen Pessimismus an, der mit bleibender Dunkelheit rechne und das Nicht-Analysierbare als seine eigene Ressource verstehe.
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E nt wicklungsgeschichte mit S e arle John R. Searle (* 31.07.1932 in Denver) versteht mentale Ereignisse und Prozesse ebenso als einen Teil unserer biologischen Entwicklungsgeschichte wie Verdauung, Mitose, Meiose oder die Ausschüttung von Enzymen.669 Geist im Sinne von Searle entspringt der materiellen Welt und ist mit den Mitteln der Wissenschaft und insbesondere der Biologie mehr oder weniger vollständig erklärbar. Diese Auffassung steht in der Tradition der »digestiven Hinwendung« in Antike, Mittelalter und Neuzeit, in der die Bindungen zwischen gedanklicher und gastraler Verdauung zur Erklärung geistiger Aktivitäten herangezogen wurden. Searle interessiert sich für den Zusammenhang zwischen Geist und Verdauung weniger aufgrund der schillernden Vielfalt dessen, was die philosophische Tradition mit dem Begriff der Verdauung verbindet, als vielmehr aufgrund seiner Hoffnung, den Begriff des Geistes von einer metaphysischen Altlast zu befreien, die ihm im Laufe der Begriffsgeschichte aufgeladen wurde. Der Erfolg dieses Versuches hängt unter anderem davon ab, ob sich der Begriff der Verdauung in einer Weise auf physische Gegebenheiten bezieht, die uns das Verständnis des Geistes erleichtert.670 Zur Klärung kann Searles berühmtes Gedankenexperiment zum Chinesischen Zimmer beitragen. Das Experiment nimmt Bezug auf den legendären Turing-Test für ›denkende‹ Computer: Mit Hilfe einer Tastatur wendet sich ein Fragesteller an eine Person und an eine Maschine. Die Antworten erscheinen auf einem Bildschirm. Person und Maschine versuchen den Fragesteller zu überzeugen, dass sie Personen sind. Solange der Fragesteller nicht sagen kann, welche Antworten von der Person und welche Antworten von der Maschine stammen, besteht die Maschine den Test. 669 | Searle, The Rediscovery of the Mind, 1992, S. 1. Searle hat diese Position in verschiedenen Formulierungen verteidigt, kürzlich im folgenden Wortlaut:»Consciousness is a biological property like digestion or photosynthesis. Now why isn’t that screamingly obvious to anybody who’s had any education? And I think the answer is these twin traditions. On the one hand there’s God, the soul and immortality that says it’s really not part of the physical world, and then there is the almost as bad tradition of scientific materialism that says it’s not a part of the physical world. They both make the same mistake, they refuse to take consciousness on its own terms as a biological phenomenon like digestion, or photosynthesis, or mitosis, or miosis, or any other biological phenomenon.« Searle, 2013. Eine andere Formulierung liefert Searle, Intentionality, 1983, S. 15: »They [dualists and physicalists] both attempt to solve the mind-body problem when the correct approach is to see that there is no such problem. The ›mind-body problem‹ is no more a real problem than the ›stomach-digestion problem‹.« 670 | Inwiefern die Untersuchung von Mitose oder der Meiose unser Verständnis des Geistes erleichtert, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geprüft werden.
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Wenden wir den Test auf die Verdauung an, erkennen wir leicht seine begrenzte Aussagekraft: Durch einen Schlauch füttert ein Ernährer eine Person und eine Maschine mit Nahrung. Über einen anderen Schlauch werden die Verdauungsrückstände ausgeschieden. Person und Maschine versuchen den Ernährer zu überzeugen, dass sie Personen sind. Solange der Ernährer nicht klar sagen kann, welche Exkremente von der Person und welche von der Maschine stammen, besteht die Maschine den Test. Die Fortschritte bei der Erforschung maschineller Intelligenz im 20. Jahrhundert sollte uns nicht das Interesse an der Erforschung maschineller Verdauung vergessen lassen.671 Verdauungsmaschinen wurden im 20. Jahrhundert insbesondere von Wim Delvoye derart perfektioniert, dass sich die künstlichen Exkremente mit bloßen Sinnen kaum mehr von Exkrementen aus menschlichen Körpern unterscheiden lassen. Die Maschinen bestehen den Test: Im Sinne Turings können sie verdauen. Somit scheint alles geklärt: Maschinen können verdauen und wenn es der Fortschritt erlaubt, so werden sie auch immer besser denken. Das stimmt allerdings nur dann, wenn wir Verdauung als die Umwandlung von Nahrung in Kot verstehen, ohne dabei auf die Umstände der Umwandlung zu achten. Betrachten wir neben Ausgangs- und Endprodukt der Verdauung, also Nahrung und Exkrement, auch ihren ökologischen Zusammenhang, so ist die Maschine leicht zu entlarven. Die Unterschiede zwischen lebendiger und maschineller Verdauung können der Aufmerksamkeit eines Beobachters nur dann entgehen, wenn seine Einsicht in die Verdauungsvorgänge künstlich beschränkt ist. Das Problem der ausgeblendeten Umwelt betrifft auch Searles Chinesisches Zimmer. Searle stellt sich einen Raum vor, in dem ein Mensch Schriftzeichen anhand einer Anleitung so manipuliert, dass ein Chinese, der schriftliche Fragen in das Zimmer reicht, den Eindruck erhält, im Zimmer müsse sich ein Mensch befinden, der Chinesisch spricht. Eine Person im Chinesischen Zimmer kann ein Programm ausführen und Symbolreihen nach syntaktischen Regeln verändern wie ein Computer, ohne deshalb die Bedeutung oder Semantik der chinesischen Sprache zu verstehen. Und wie ist es mit der Verdauung? Wird eine bestimmte Speise in das Zimmer gebracht, gibt die Person, die darin sitzt, eine bestimmte Menge von Kot aus. Der Eindruck wäre perfekt: Das Zimmer verdaut. Die Verdauung der Person in dem Zimmer käme dabei überhaupt nicht ins Spiel. Aber die Fähigkeit zur Annahme von Nahrung und zur Ausgabe entsprechender Exkremente ist kein hinreichender Beleg für die Fähigkeit zur Verdauung. Wie zum Denken braucht es auch zum Verdauen mehr als die Fähigkeit zur syntaktisch richtigen Verarbeitung von Informationen oder Materialien. 671 | Beispiele liefern die Versuche von Helmont, s.o. Abschnitt 3, aber auch diejenigen der Physiologen des 18. Jahrhunderts. Vgl. Rigoli, 2006, S. 220.
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Einerlei wie sich eine Maschine verhält, und einerlei auf welchen Mechanismen dieses Verhalten beruht, zur Verdauung gehört mehr als die Umwandlung von Material nach einem formellen Schema. Laut Searle ist es eine »objektive Tatsache, dass es in der Welt gewisse Systeme (nämlich Hirne) mit subjektiven Geisteszuständen gibt, und es ist eine physikalische Tatsache, dass solche Systeme geistige Merkmale haben«.672 Die Lösung des Geist-Körper-Problems liege nicht in der Leugnung geistiger Erscheinungen, sondern in der angemessenen Würdigung ihres biologischen Wesens. Zum Denken gehören laut Searle innere semantische bzw. bedeutungstragende Zustände, die zur Entwicklung intentionaler bzw. mentaler Zustände führen können.673 Und nun wieder zurück zur Verdauung. Searle geht, wie schon erwähnt, von Ähnlichkeiten zwischen Bewusstsein und Verdauung aus. Aber was haben wir gewonnen, wenn wir Denken und Verdauen als Teile unserer Entwicklungsgeschichte verstehen? Wenn wir »die ganze Geschichte« (»the entire story«) über die Funktion von Enzymen, die Aufspaltung von Kohlenhydraten etc. erzählt haben, dann ist laut Searle alles über Verdauung gesagt, was zu sagen ist, selbst dann, wenn die Geschichte auch noch auf der Ebene von Mikro-Elementen bis hin zu den fundamentalsten Vorgängen der Quanten u.a. erzählt werden kann.674 Mit dem Bewusstsein verhalte es sich anders: Wenn wir die kausale Grundlage des Bewusstseins erklärt haben, etwa in Hinblick auf neuronale Aktivität im Thalamus oder in Hinblick auf das Verhalten von Quarks, so bleibe doch immer noch etwas zu erklären. Im Falle des Bewusstseins gebe es »ein nicht reduzierbares subjektives Element« (»an irreducible subjective element«).675 Die Abgrenzung des laut Searle für das Bewusstsein konstitutiven subjektiven Elementes von Verdauungsvorgängen bereitet aber schon insofern Schwierigkeiten, als bewusstseinsstiftende Aktivitäten des Gehirns, sei es in biologischer, chemischer oder physikalischer Hinsicht, nicht unabhängig von anderen Körperaktivitäten vorstellbar sind. Die verbreitete Gewohnheit der Assoziation 672 | Searle, 1987, S. 11. 673 | Einen Überblick über die an Searle anschließenden Diskussionen um das Chinesische Zimmer gibt Hauser, 2014. Die Frage nach der philosophischen Bedeutung intentionaler Zustände hat im Anschluss an Brentanos Ausführungen zu einer schwer überschaubaren Debatte geführt, die ich im Rahmen meiner Arbeit nicht aufschlüsseln kann. Sollte sich erweisen, dass der Verdauungsschlauch nicht in derselben Weise durch seinen Inhalt charakterisiert werden kann wie psychische Erscheinungen durch intentionale bzw. mentale Inexistenz von Gegenständen, so ist der Beitrag der Verdauung zur Entwicklung psychischer Erscheinungen dennoch kaum zu unterschätzen. Ich vermute, dass Verdauung bei der Entwicklung von Intentionalität eine tragende Rolle zukommt. 674 | Searle, 1998, S. 55. 675 | Ebd.
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zwischen Gehirn und Gedanken ist insofern unzureichend, als gerade neuronale Funktionen mit anderen Körpervorgängen, insbesondere denjenigen des Verdauungsschlauches, in komplexer Weise verknüpft sind. Versuche zur Reduzierung der Verdauung auf biologische Prozesse (»the complex process involving enzymes and the like«).676 sind insofern irreführend, als Verdauung kognitive und gastrale Vorgänge betrifft. Unser Begriff des Denkens ist mit dem Begriff der Verdauung derart verwoben, dass sich die Trennung zwischen gastraler und gedanklicher Verdauung nur schwer stützen lässt. Auch wenn sich gastrale und gedankliche Vorgänge voneinander unterscheiden, sind sie doch durch ein Geflecht von Ähnlichkeiten verknüpft, in denen sie aufeinander wirken. Dabei lässt sich die ›ganze Geschichte‹ der Verdauung nicht so leicht erzählen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das gilt sowohl für umfassende Darstellungen als auch für die Erklärung von Details. In der Geschichte der Verdauung vermengen sich ›objektiv-begriffliche‹ und ›subjektiv-emotionale‹ Aspekte zu schwer nachvollziehbaren Handlungssträngen. Einerseits stärken und begründen die vielschichtigen Prozesse der Verdauung Searles Verständnis des Geistes. Was wir Verdauung nennen, mag höchst verworren erscheinen, aber wir können doch darüber sprechen, als wäre die ganze Geschichte im Grunde kinderleicht verständlich. Andererseits trägt die von Searle unterstellte Ähnlichkeit zwischen Geist und Verdauung wenig zur Klärung dessen bei, wovon die ganze Geschichte eigentlich handelt. Solange die Geschichte der Verdauung nicht vollständig erzählt wurde, bleibt ja auch die Geschichte des Denkens offen. Gerade im alltäglichen Umgang mit Gehirn und Bauch tragen wissenschaftliche Werke zuweilen mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Unüberwindliche Ignoranz gegenüber Vorgängen, die wir bewundern, aber nicht begreifen, kennzeichnet nicht nur Flauberts Hobbywissenschaftler Bouvard und Pécuchet.677 In gewissem Sinne gilt noch heute, was Charles Nodier 1820 notierte: »[W]ir verdauen, aber wir wissen nicht wie.«678 Aber wie weit wir die Verdauung auch durchschauen: Searles Beschränkung geistiger Aktivität auf gedankliche Vorgänge ist irreführend. Das unter676 | Manson, 2003, S. 145. 677 | Vgl. Rigoli, 2006, S. 223. 678 | Nodier, 1820, S. 42. »[...] nous sommes obligés de digérer, jusqu’à nouvel ordre, sans savoir comment.« Sicher hat die wissenschaftliche Erforschung der Verdauung enorme Fortschritte gemacht. Dennoch ist keinesfalls sicher, dass zukünftige Forscher keine weiteren »Wunder« entdecken werden. Damasio bemerkt, dass Gefühle an einen lebendigen Körper gebunden sind, einerlei, ob wir sie als rein neuronale Produkte oder Reaktionen des Geistes auf äußere Ereignisse auffassen. Vgl. Damasio, 2010, S. 31FN17 (S. 388). Aber wenn das zutrifft, erleichtert das tatsächlich unser Verständnis dessen, was wir als Geist bezeichnen?
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streicht die philosophische Rede von geistiger Verdauung. Wollen wir diese Rede verstehen, dann scheint eine strenge Trennung zwischen Denken und Verdauen wenig hilfreich. So wie zur Entwicklung von Gedanken mehr gehört als ein Kopf, gehört zur Verdauung mehr als ein Verdauungsschlauch. Der Begriff der Verdauung umfasst Vorgänge in Körper und Geist, in Gedanken und bei der Ernährung, die miteinander verbunden sind, so wie unsere Köpfe mit unseren Bäuchen. Dem Begriff der Verdauung kommt eine wissenschaftliche Bedeutung zu, aber er findet auch in Kunst, Religion und Medizin Verwendung. Das Problem geistiger Komplexität lässt sich durch die Rückführung auf Verdauungsvorgänge nicht vereinfachen. Verdauung umfasst Vorgänge, die durch abstraktes Denken oder konkrete Beobachtung nur unvollständig nachvollziehbar sind. In der Funktion der Verdauung verbinden sich die Schwierigkeiten der Philosophie des Geistes mit den Schwierigkeiten der alltäglichen Lebensführung. Gastrale und gedankliche Verdauung sind keine funktionell getrennten Vorgänge. Obwohl sich diese Vorgänge klar unterscheiden lassen, gehören sie doch zu einem umfassenden Ganzen. Werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Verdauungsaktivitäten ohne Bezug auf den umfassenden Zusammenhang untersucht, kommt es zu einer im philosophischen Alltag weit verbreiteten Schwierigkeit: der Entfremdung zwischen gedanklicher Theorie und körperlicher Praxis.
L ebenskunst bei S husterman Richard Shusterman (* 3.12.1949 in Philadelphia) versteht Philosophie weniger als ein diskursives Feld abstrakter Theorie denn als Verkörperung einer Lebensweise.679 Verkörperte Philosophie suche nicht nach einem für alle Menschen gültigen universellen Körperbewusstsein, sondern wolle kulturell geprägte Formen somatischer Bewusstheit beschreiben und verbessern, nicht nur durch diskursive, sondern auch durch physische Übung.680 Die Philosophie soll die Rolle des Körpers für Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken also nicht nur theoretisch untersuchen, sondern ihre Anliegen in der eigenen Lebensweise ausdrücken.681 Dabei soll der Körper nicht in einem dualistischen Gegensatz zum Geist erscheinen, sondern im bewussten somatischen Erleben mit ihm versöhnt werden.682 Von gesteigerter Aufmerksamkeit auf die somatische Quelle unseres Erlebens verspricht sich Shusterman neben einer verstärkten Fähigkeit zu künstlerischer Gestaltung und Wahrnehmung 679 | Vgl. Shusterman, Thinking through the body, 2012, S. 3. 680 | Vgl. ebd., S. 4. 681 | Vgl. ebd. 682 | Vgl. ebd., S. 5.
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die Entwicklung attraktiver Formen der Lebenskunst, durch eine erweiterte Aufmerksamkeit für ästhetische Potenziale des Alltagslebens.683 Mit seinem Projekt der Somaesthetik versucht er, die intimen Bezüge zwischen den reflektierten, unreflektierten, kognitiven und affektiven Dimensionen des somatischen Verhaltens zu unterstreichen, unter Berücksichtigung von äußerlichen somatischen Repräsentationen und innerem somatischem Erleben.684 Das ästhetische Potenzial des Körpers sei mindestens ein doppeltes: Als der äußerlich wahrnehmbare Körper kann er eine Quelle schöner Sinneserfahrungen oder schöner Vorstellungen sein. Daneben gibt es aber auch die schöne Erfahrung des eigenen Körpers von innen (»beautiful inner feelings«): »das Glühen des durch Endorphine angeheizten Herz-Kreislauf-Systems, das genussvolllangsame Bewusstwerden einer verbesserten, tieferen Atmung, die kribblige Erregung, die durch die differenzierte Wahrnehmung weiterer Wirbel des Rückgrats entsteht.«685 Geistige Achtsamkeit für das somatische Erleben scheint für die Entwicklung einer Philosophie der Verdauung höchst wünschenswert, gerade in Hinblick auf die Entwicklung einer kritischen Somaesthetik.686 Nichtsdestoweniger wurde Shustermans Untersuchung des Körpers als Ort von direkten, nicht-diskursiven Formen des Wissens und der Lust verdächtigt, eine kommerzielle Obsession mit geistloser Körperfreude und oberflächlichen Stereotypen des guten Aussehens zu reflektieren. Es wurde auch befürchtet, sie sei ein kaltes, intellektuelles Projekt, das somatische Spontaneität, Emotionen und die Schönheit körperlicher Oberflächen nicht ausreichend beachte.687 Die Untersuchung der somaesthetischen Funktion des Verdauungsschlauches beugt beiden Einwänden vor. Die kommerzielle Obsession mit der Verdauung beschränkt sich – sehen wir einmal von pharmazeutischen Vermarktungskampagnen ab – weitgehend auf den Konsum von Nahrungsmitteln. Da pfleglicher Umgang mit Verdauung überschwänglichen Konsum von Nahrung nicht fördert, fällt die Eingliederung einer philosophischen Würdigung der Verdauung in eine Strategie zur exzessiven Vermarktung gegenwärtig nicht in den Rahmen der kommerziell reizvollen Stereotypen. Auch wirkt die Beschäftigung mit der Verdauung in einem intellektuellen Projekt weniger kalt als erheiternd. Selbst Gedanken zu gestörter Verdauung lassen sich mit einer hohen emotionalen Qualität formulieren. Die Schönheit körperlicher Oberflächen ge-
683 | Vgl. ebd., S. 3. 684 | Vgl. ebd., S. 14.: »[…] it engages both inner somatic experience and external somatic representation.« 685 | Ebd. S. 119, Übers. CWD. 686 | Vgl. ebd., S. 14. 687 | Vgl. ebd.
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staltet sich auf Bildern der Wände des Verdauungsschlauches zum Ausdruck einer tiefen Vielfalt. Tatsächlich beschränkt Shusterman seine Ausführungen zu Körperteilen des Verdauungsapparats weitgehend auf Lippen, Zähne und Zunge, also auf Organe, die sich, verglichen etwa mit Leber, Milz und Nieren, eher zu Betrachtungen von Außenerscheinungen, die etwa bei der Vermarktung von Lebensmitteln eine gewisse Rolle spielen, eignen. Denken wir zurück an Nietzsches Bemerkung zur Verachtung des hinter einer glatten Haut versteckten inneren Leibes688 als Inbegriff der ästhetischen Beleidigung. Die somaesthetische Funktion der Verdauung für die Gestaltung, die Erhaltung und das Bewusstsein unserer Selbst lässt sich über Shustermans Ausführungen zum Appetit, zur Nahrung, zu Mahlzeiten und zum Schlucken gut erschließen. Bodybuilding und Dickleibigkeit betreffen ja nicht nur bestimmte Formen des Umgangs mit äußeren Muskeln. Wenn somaesthetische Theorie und Praxis nicht nur unser abstraktes Wissen über den Körper, sondern auch gelebte Erfahrung, Performance und die Schönheit unserer Bewegungen in einer Umwelt betreffen, aus der wir unsere Energie und Bedeutung erlangen, so spielt die Verdauung dabei eine zentrale Rolle.689 Sie diktiert die mit der Notwendigkeit der Ernährung verbundene Furcht vor den Mägen anderer, wie sie uns etwa im Alten Testament begegnete. Wenn wir unseren Bauch nicht befriedigen, wird die Schönheit unserer Bewegungen bald einem Bild aus der Vergangenheit angehören. Shusterman postuliert eine somatische Fähigkeit zu aktiver Wahrnehmung.690 Die neuronale Unabhängigkeit der Verdauung vom Gehirn gibt hierfür einen guten Grund. Wenn die Regulierung der Atmung zur Beruhigung des Denkens beitragen kann, so dürfte auch die Verdauung Einfluss auf Bewegungen der Gedanken haben. Soll der Körper dort erscheinen, wo sich die Philosophie gewöhnlich auf den Mund beschränkt,691 dann wird mit dem Körper auch der Bauch und seine Fähigkeit zur Verdauung zu berücksichtigen sein. Das sinnlich-ästhetische Erleben (›aesthesis‹) des Körpers umfasst auch die Eindrücke der Organe der Verdauung.692 Die Versorgung unseres Verdauungsschlauches mit ›guter‹ Nahrung ist ein tragendes Element für jede Form von kreativer Selbstgestaltung.693 Shusterman bestätigt diese Einsicht, wenn er bemerkt, dass Kultur die Sprachen, Werte, Institutionen und Medien, durch die wir uns ausdrücken, ebenso prägt wie die Diät, die nicht nur unsere körperliche Erschei688 | Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[112], s.o. 689 | Vgl. ebd., S. 27. 690 | Vgl. ebd., S. 5. 691 | Vgl. ebd., S. 4. 692 | Vgl. ebd. 693 | Vgl. ebd., S. 27.
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nung und unser Verhalten beeinflusst, sondern auch die Erfahrung unseres Körpers. Dass eine Diät ihre Wirkung über die Verdauung entfaltet, braucht nicht weiter betont zu werden. Shustermans Hinweis auf die Betrachtung des Körpers als heiliges Gefäß einerseits und als Last des sündigen Fleisches andererseits weist zurück auf eine Tradition, in welcher der Umgang mit der Lust des Bauches als zentrales Motiv der Ethik entwickelt wurde.694 Mentales Erleben beruht auf somatischem Empfinden und kann nicht vollkommen von Körpervorgängen getrennt werden, insbesondere nicht von Vorgängen der Verdauung.695 Unser mentales Erleben wirkt auf unsere Körper, wenn uns bestimmte Gedanken zum Erröten bringen, unseren Herzrhythmus verändern oder das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.696 Wurde der Körper in der abendländischen Tradition der Philosophie abgewertet, weil er die fundamentale Ambiguität des menschlichen Daseins kraftvoll ausdrückt, so ist dieser kraftvolle Ausdruck untrennbar mit der Funktion der Verdauung verbunden.697 Der doppelte Status als Objekt und Subjekt698 – ich habe einen Körper und ich bin ein Körper – definiert den Bezug zu anderen Körpern, wobei Fressen und Gefressen-werden zu den ursprünglichen Motivationen von Verhalten gehören, in denen die Lust der Verdauung nach Befriedigung sucht. Shustermans Hinweis auf Wittgensteins Bemerkung zum Zusammenhang zwischen menschlicher Würde und dem gewohnten Zustand unseres Körpers699 betrifft nicht nur die äußeren Organe. Die Vorstellung eines an einem Ring in unserer Zunge befestigen Seils gibt eine Idee der Macht, mit der das Versagen oder das Verlangen unserer inneren Organe moralische Ideale zunichtemachen kann. Ist ein Mensch mit gelähmtem Körper von der moralischen Pflicht zur Rettung eines Ertrinkenden durch einen Sprung in den Fluss befreit,700 wie steht es dann um den Respekt von Menschen mit hungrigen Körpern gegenüber dem Eigentum? Heines Wanderratten bei Heinrich gehören sozusagen zu einer anderen Lebensform als ihre satten Artgenossen. Wenn unser Körper das Zentrum des Sturms bildet, den Ursprung der Koordinaten, den konstanten Ort der Spannung im Zug unseres Erlebens, um den herum sich alles anordnet und von dem aus alles erfahren wird,701 so findet 694 | Vgl. ebd.: »a holy vessel or a burden of sinful flesh«. 695 | Vgl. ebd. 696 | Vgl. ebd. 697 | Vgl. ebd., S. 28. 698 | Vgl. ebd. 699 | Vgl. ebd., S. 31. 700 | Vgl. ebd. 701 | Vgl. William James: »The body is the storm centre, the origin of co-ordinates, the constant place of stress in [our] experience-train. Everything circles round it, and is felt from its point of view.« Zitiert nach Shusterman, 2012, S. 33.
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sich im Inneren dieses Zentrums der Visionen, Aktionen und Interessen doch wiederum der Verdauungsschlauch. Wenn Sokrates nach Diogenes Laertius erklärt, dass es für den Gebrauch des Körpers sehr wichtig sei, ihn so fit wie möglich zu halten, dass er an allen menschlichen Aktivitäten Anteil habe, selbst am Denken, und dass schlimme Fehler aus physischer Krankheit erwachsen können, so gehören zu diesen Krankheiten sicher auch die der Verdauung.702 Shusterman bemerkt zu Recht, dass die Verschiedenheit unserer Körper mit tiefer sozialer Bedeutung beladen ist. Ethnische und rassistische Gewalt sei oftmals weniger Ausdruck rationaler Gedanken als somatischer Vorurteile gegenüber fremden Körpern, die auf Gefühlen unter dem Level des expliziten Bewusstseins beruhen.703 Dass Fragen zur ›richtigen‹ Diät über Leben und Tod entscheiden, wissen wir nicht erst seit dem Festhalten mancher Pythagoreer am Bohnenverbot, mögen wir es als standhaft loben oder als störrisch verwerfen. Die philosophische Bevorzugung äußerer Wahrnehmung gegenüber somatischer Introspektion gründet laut Shusterman in einem evolutionären Vorteil. Nach außen gerichtete Augen sind dem Überleben und Gedeihen in unserer Umwelt dienlich. Irrig sei dagegen eine exklusive Verengung der Wahrnehmung auf äußere Ereignisse. Die Beobachtung unserer Selbst und unserer Gefühle könne sich als sehr nützlich erweisen. Bewusste Atmung liefere uns wichtige Informationen über unsere Emotionen und schütze vor Verletzungen. Ähnliches gilt für Vorgänge der Verdauung. Einfach gesagt kann ein Gespür für Unwohlsein uns bei der Aufnahme von Nahrung bremsen, noch bevor unser Bauch sie zurückweist. Die grundlegende, biologische Bedeutung des Körpers für die Entwicklung des Denkens wirkt in der persönlichen Produktivität nach: Wenn schlechter Gebrauch des Körpers manchen Gelehrten bei allzu angestrengtem Denken Schmerzen im Kopf bereite oder angestrengtes Schreiben zu Schmerzen in der Hand führe, so ließen sich die vom Körper aufgezeigten Grenzen nicht durch reine Willenskraft aufheben.704 Das gilt sicher auch dann, wenn die intellektuelle Bewegungsfreiheit Einschränkungen durch die Verdauung erfährt, man denke etwa an Kants Ausführungen zur Melancholie. Ob sich Shustermans Unterscheidung zwischen ›Professoren der Philosophie‹ und ›wirklichen Philosophen‹, die ihre Gedanken wahrhaft verkörpern, durch feinsinniges Abtasten der Bauchregion treffen lässt, muss allerdings offenbleiben. Dass Epikur, Augustinus, Montaigne, Kant, Nietzsche und Wittgenstein an Bauchproblemen litten, sagt nichts Eindeutiges über den philosophischen Wert ihrer Gedanken. Nichtsdestotrotz wäre wohl einiges gewonnen, wenn die großen philosophi702 | Vgl. ebd., S. 33. 703 | Vgl. ebd., S. 30. 704 | Vgl. ebd., S. 41.
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schen Geister nicht mit Verdauungsproblemen belastet wären. Und auch manchen kleineren Gelehrten wäre sicher geholfen, wenn die Vorgänge in ihren Bäuchen freudvoller verliefen. Insofern bestehende Probleme nicht aus der Welt verschwinden, wenn sie nur beharrlich genug ignoriert werden, scheint die Zeit reif für mehr somatische Achtung, nicht nur unter akademischen Philosophen.
Nach der Verdauung ... ... ist vor der Verdauung
Gedanken sind weder theoretisch noch praktisch von Vorgängen im Verdauungsschlauch trennbar: Der Geist wurzelt im Bauch. Wer sich zu entwickeln wünscht, geistig und organisch, muss seine Verdauung pflegen und Sorge dafür tragen, nicht in einem fremden Verdauungsschlauch zu enden, konkret und metaphorisch. Diese Gewissheit war schon vor den Kindheitstagen der Philosophie relevant und bleibt aktuell. Zum Umgang mit Verdauung im Alltag der abendländischen Philosophie gehören vorgebliches Desinteresse, kulinarische Vergöttlichung, asketische Verdammung, rationale Einordnung, ekelige Verwirrung, aufgeklärter Spott, revolutionäre Politisierung, kreative Glorifizierung, psychologische Analyse und gastro-neuronal orientierte Erforschung. Die Spannweite der Fragen zur Verdauung ist entsprechend breit, insbesondere das digestive Dilemma des Selbstbewusstseins motiviert zur gedanklichen Erschließung organischer Prozesse. Dabei sieht sich das reflektierte Denken durch Verdauungsvorgänge einerseits behindert und andererseits beflügelt. Verdauung erscheint als potenzielle Gefährdung gedanklicher Entwicklung, weil reflektierte Einsichten im Bauch ihre Grenzen erreichen. Lust und Unlust der Verdauung bewegen den Geist mitunter dermaßen machtvoll, dass an geordnetes ›Denken‹ überhaupt nicht mehr gedacht werden kann. Nichtsdestoweniger gehören Wechselwirkungen zwischen gedanklichen und gastralen Verdauungsvorgängen zu den Grundlagen, auf denen sich geistiges Selbstbewusstsein entwickelt. Wir denken, wenn wir verdauen und wir verdauen, wenn wir denken. Diese Feststellung ist deshalb nicht trivial, weil sie nicht nur die organischen Voraussetzungen des Denkens betrifft, sondern auch die Funktion des Geistes, der einiges verdaut haben muss, bevor er Begriffe oder gar ›reine‹ Denkstrukturen entwickeln kann: Wir reflektieren uns selbst, wenn wir uns als verdauend erkennen und wir verdauen Teile der Welt, indem wir uns gedanklich von der Welt unterscheiden.
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Verdauung prägt das Denken und das Denken prägt die Verdauung. Die Wirkungen der Verdauung auf Vernunft und Intelligenz bestehen unabhängig von der Entscheidung darüber, ob sie materiell oder ideell aufzufassen sind. Wir verdauen, einerlei ob sich der Geist von seinen erfahrbaren Tätigkeiten unterscheidet oder ob wir ihn als Element eines inneren oder eines äußeren Erlebens verstehen. Auch unsere persönliche Entwicklungsgeschichte und auch die Entwicklungsgeschichte der Gattung Mensch liefern wenig Grund zum Zweifel am Vorrang der Verdauung gegenüber dem Denken. Die unterschiedlichen Aspekte der Verdauung, sei sie gedanklich oder organisch, gehören zu einem komplexen Geflecht von Begriffen, deren Bedeutung sich in mythischen, theologischen, philosophischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen und alltäglichen Sprachspielen ergibt. ›Gastrosophische Wenden‹ gehören zur philosophischen Tagesordnung. Zu Bewegungen der Abwendung kommt es etwa dann, wenn ein Geist die Grenzen seiner Autonomie gegenüber den Ansprüchen des Körpers erprobt und sich dabei anschickt, den Zumutungen des Verdauungsschlauches zu trotzen. Drang zur Hinwendung entsteht dagegen, sobald die Freuden und Leiden des Verdauungsschlauches als unvermeidliche Aspekte geistiger Entwicklung akzeptiert werden. Die Perioden der Abwendung sind in der Regel kurz, jedenfalls bei all jenen Philosophen, die sich weder zu Tode hungern noch dursten. ›Gastrosophische Wenden‹ der Philosophie sind also weniger etwas Neues unter der Sonne als Aspekte einer anhaltenden Verdauung von Informationen auf dem Weg von den Ursprüngen des reflexiven Denkens hin zur Weisheitsliebe im Zeitalter elektronischer Wissensverarbeitung. Alltägliche Wünsche nach guter, gesunder und schmackhafter Speise entwickeln sich vor dem Hintergrund der Freuden und Leiden der Verdauung. Ernährung ist schon deshalb philosophisch bedeutungsvoll, weil der Bauch epistemologische, ethische und ästhetische Formen der Einbindung in das ökologische Gefüge symbolisiert. Ginge es bei Tisch nur um die Freuden des Gaumens, so bliebe die ganze Tischgesellschaft wohl besser im Bett. Wer gerne im Bett tafelt, der bemerkt es gewiss: Gastrische Notwendigkeiten liefern Gründe zum Verzicht auf endlose Freuden. Kulinarisches Interesse wurzelt im Bauch, ohne gastrisches Wohlwollen verliert es seinen Sinn. Nichtsdestoweniger ist Fehlernährung weltweit verbreitet, sei es weil die Bedürfnisse des Bauches allzu leicht oder auch gar nicht befriedigt werden können. Das führt zu spezifisch philosophischen Fragen, gerade auch in akademischen Kreisen, die sich nicht durch wissenschaftliche oder medizinische Einsichten beseitigen lassen: Was trägt der Bauch zum gelingenden Leben bei? In Zuständen der Lust und Erfüllung behauptet der Bauch seine Bedeutung für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten, nicht nur in den Kreisen philosophischer Weisheit, sondern inmitten der Welt, im alltäglichen Geschehen in Stadt, Land und Medien, wo uns äußere und innere Bauchzustände begeistern und entsetzen.
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Die Behandlung der Verdauung in der philosophischen Tradition spricht für die Entwicklung einer ›gastrosophischen‹ Haltung, die das Interesse des Bauches angemessen wahrnimmt. Eine solche Gastrosophie beschränkt sich nicht auf Überlegungen zur oralen Erfahrung gastronomischer Kochkunst, sondern behandelt auch die dem Bauch wesentlichen Themen wie Lust und Liebe.1 Gerade weil Essen nicht allein der Befriedigung gustatorischer Sensoren am Eingang des Verdauungssschlauches dient, sondern in der Tiefe des Leibes wirkt, fällt es manchen Philosophen schwer, eindeutig Stellung zu beziehen. Der Geist gilt als willig, das Fleisch als schwach und so wird der Einfluss des Bauches auf das Verhalten verdammt oder ignoriert. Hier liegt das eigentliche Interesse philosophischer Gastrosophie: die Hinterfragung von Urteilen über den Bauch. Das gastrosophische Interesse an Epikur bezieht sich weit weniger auf kulinarische Vorlieben als auf gastrische Befriedigung. Nur scheinbar beschränkt sich der philosophische Umgang mit Verdauung auf zwei Schulen, von denen die erste einen möglichst vollständigen Verzicht auf gastrale Freuden fordert und die zweite Fragen zur Verdauung überhaupt als bedeutungslos erachtet. Das wesentlich philosophische Interesse an Fragen der Verdauung erscheint zumeist mittelbar, in griechischen Idealen der Askese, christlichen Warnungen vor der Vergötterung des Bauches, aufgeklärten Einlassungen zu physiologischen Funktionen, psychologischen Analysen geistiger Entwicklungen und existenziellen Einsichten in die Macht des Hungers. Dabei lässt sich der Skandal der Philosophie auf den bleibenden Zweifel an der Existenz innerer Erscheinungen beziehen, die uns aus der eigenen Erfahrung doch bestens vertraut sind. Verdauend lassen wir die Grenzen zwischen außen und innen verschwimmen, assimilieren Lebensformen mit möglichen Welten, verbinden die Umwelt mit uns selbst. Wer will sich darüber wundern, dass philosophische Denker zuweilen auf Holzwege geraten, wenn sie die verwirrende Vielschichtigkeit der Verdauung bei der Bildung ihrer Begriffe vom 1 | Gastrosophen, die ihr Interesse am Geschehen im Bauch auf Untersuchungen zu Speisegewohnheiten beschränken, greifen zu kurz. Ein Beispiel liefert Onfray, 1989, der seine Ausführungen zu den Bäuchen von Philosophen nahezu durchgängig auf Erklärungen zu deren Speisegewohnheiten beschränkt. Ähnlich Lemke, 2014, der sich besonders für ethisch vertretbare Formen des Einkaufens und Kochens interessiert. Sicher liefern Beobachtungen zur Beschaffung, Zubereitung und Aufnahme von Nahrung Hinweise auf Vorgänge im Bauch. Aber die Ursache sollte nicht mit der Wirkung verwechselt werden: Nahrung dient dem Bauch, nicht umgekehrt. Auch in Hinblick auf selbstbewusste Reflexion kann das philosophische Interesse an Nahrung ohne Bezug auf die Verdauung allenfalls eingeschränkt begreifbar sein. Als zentraler Raum der Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren Erscheinungen hat der Bauch einen Anteil an der Erfassung der Welt, der den philosophischen Umgang mit Speise wesentlich prägt.
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Säuglings- bis ins Greisenalter beeinflusst? Nichtsdestoweniger birgt das digestive Mit-, Durch- und Ineinander auch verlässliche Gewissheit. Wohin uns die Beine bei der Erkundung von Denkgebieten auch führen, zum Übergang von Speise in Kot kehren wir doch zurück. Der Anteil der Verdauung am Geist lässt sich in einer schwachen, einer starken und einer radikalen Lesart beschreiben. In schwacher Lesart liefert Verdauung die grundlegenden Bilder für geistiges Selbstverständnis. Digestive Metaphern prägen unsere Vorstellung geistiger Vorgänge derart, dass wir uns fragen müssen, ob geistige Entwicklungen nicht dem Modell folgen, das vorgeblich nur als Mittel zur Veranschaulichung dient. Metaphorische Bezüge zwischen organischen und geistigen Vorgängen in Bauch und Kopf bilden ein konstitutives Element für philosophische Hinwendungen und Abstandnahmen von Person und Umwelt. Die geistigen Wechselwirkungen zwischen gedanklicher und organischer Verdauung können wir in unserem Alltag empirisch nachvollziehen, an uns selbst und an anderen: Verdauung ist nicht privat. Bauchgefühle motivieren gedankliche Höhenflüge, können umgekehrt aber auch jede gedankliche Bewegung hemmen. Verdauend binden wir unsere innere Existenz an das Wohl und Wehe ökologischer und ökonomischer Gegebenheiten des Daseins und umgekehrt: Die Metapher der geistigen Verdauung reicht zurück zu den Ursprüngen des philosophischen Sprechens. In starker Lesart bedingt Verdauung geistige Aktivität und insbesondere das bewusste Denken. Unsere Entscheidungen zur ›vernünftigen‹ Ernährung betreffen die Entwicklung unserer selbst, unseres Selbstverständnisses und unserer Bezüge zur Welt. Asketische Widerstände gegen Völlerei unterstreichen den Einfluss der gastralen Verdauungsgewohnheiten auf die Befindlichkeiten unseres geistigen Verdauungsvermögens derart, dass die Trennung zwischen Körper und Geist hinfällig scheint. Nicht nur materialistische Denker bemerken den Einfluss der Verdauung auf den Geist, der die abendländische Begriffsgeschichte wie ein roter Faden durchzieht, sei es in Hinblick auf das Verständnis übersinnlicher Erscheinungen, das soziale Miteinander oder das Wissen um uns selbst. Verdauung prägt Gedanken: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Sicher ändern Verdauungsfähigkeiten nichts an den Grundlagen der Logik und umgekehrt. Das eine gehört zum anderen. Zu den Lebensformen gehören Verdauungsformen. Kant, Nietzsche und Wittgenstein liefern Beispiele. In radikaler Lesart ist geistige Aktivität eine Funktion der Verdauung, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Ein solches Verständnis bleibt wohl spekulativ, da wir die Bedürfnisse der Verdauung im Rahmen begrifflicher Festlegungen letztlich nicht bestimmen können. Die Verdauung zieht der Autonomie unserer Gedanken Grenzen. Dass umgekehrt auch unsere Gedanken die Verdauung in Grenzen weisen können, spricht für die spekulative Annahme: Mit der Unterstützung ihres Geistes regelt die Verdauung sich selbst. Das Ringen
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des Geistes mit dem Bauch ist im Grunde nur eine Folgeerscheinung des Ringens des Bauches mit sich selbst. Das spricht nicht gegen geistige Autonomie, denn dem Bauch kann selbstorientiertes Denken zur Wahrung seiner Interessen mitunter höchst dienlich sein. Gute Verdauung macht noch keinen guten Philosophen, schlechte Verdauung auch nicht. Das schmälert nicht den Anteil der Verdauung an der Entwicklung des philosophischen Denkens. ›Verdauung‹ ist ein Codewort zum Eintritt in einen Ver- und Entsorgungsschacht, der den ganzen philosophischen Haushalt zwischen Küche und Toilette durchquert. Sie ist ein wesentliches Merkmal unserer selbst und unserer Bezüge zur Welt. Das macht Verdauung sicher nicht zur ersten, einzigen oder ergiebigsten Quelle des philosophischen Fragens. Nichtsdestoweniger hat sie gerade jene philosophischen Geister beflügelt, deren Schriften uns die Wechselhaftigkeit der Bauchgefühle zwischen wütenden Stürmen brachialer Unterdrückung, dem sanften Rieseln des befriedigenden Miteinanders und der drückenden Stille der totalen Flaute vermitteln. Die Verdauung wurde oft verunglimpft, gerade in Hinblick auf organische Vorgänge und tierisches Verhalten. Bäuche erscheinen als Un-Orte des Denkens, die imaginäre Aufladung von Magen und Innereien durch intime und mystische Strukturen gilt als problematisch. Aber stellt sich der Geist dabei nicht auf den Kopf? Ist es nicht eigentlich der Bauch, der das Imaginäre mit rationalen Strukturen auflädt, mit dem Ziel seiner eigenen, lebenserhaltenden Füllung? Die Gründe dafür, dass der Anteil der Verdauung am Geist gedanklich nicht leicht verdaulich scheint, entwickeln sich im Dunkel der Tiefen zwischen Körper und Geist. Sollten wir die Verdauung besser aus der Liste der philosophisch relevanten Begriffe streichen, aus Gründen einfacher Vernunft, um uns aus dem erkenntnisfeindlichen Dunkel unserer Bäuche zu befreien? Wohl kaum, denn die Abhängigkeiten zwischen Bauch und Kopf verschwinden ja nicht aus der Welt, nur weil wir sie ignorieren. Mit Gründen der Vernunft lässt sich eine Ausgrenzung der Verdauung aus dem Bereich der philosophisch relevanten Begriffe allenfalls gewaltsam durchsetzen, durch Beschneidung der Tradition, die reflektiertes Selbstverständnis konkret und metaphorisch mit Prozessen der Füllung und Leerung assoziiert. Dass sich die Gewissheiten der Verdauung gedanklich nicht vollkommen erfassen lassen, bedeutet nicht, dass diese Gewissheiten nicht zur Aufstellung brauchbarer Wegweiser dienen. Gerade dort, wo körperliche und geistige Lust ineinandergreifen, muss die Philosophie gegenüber der allgemeinen Wissensentwicklung nicht im Rückstand bleiben. Rationale Perspektiven schaffen Hoffnung auf positive Veränderungen ökologischer und ökonomischer Gegebenheiten, zu deren Behandlung nicht nur Medizin, Kunst, Religion, Politik und Wissenschaft beitragen können, sondern auch Philosophie. Digestive Gewissheit stärkt die Überzeu-
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gungskraft philosophischer Argumentation. Gerade bei der Wahl passender Behandlungsmethoden von Verdauungsproblemen in Wirtschaft, Politik und Religion kann philosophische Problembeschreibung hilfreich sein. Wollen wir den Problemen in der Welt begegnen, so sollten wir den Zusammenhang zwischen der Welt und unserer Verdauung nicht vernachlässigen, weder konkret noch metaphorisch. Gelingende Verdauung erfreut Bauch und Kopf, fördert den Austausch zwischen innerer und äußerer Umwelt und bereichert die persönliche Vita. Sie motiviert zum Lernen, Erinnern, Phantasieren, Überlegen, Entscheiden, Beabsichtigen, Beobachten und Überwachen. Nichtsdestoweniger ist der Bauch kaum zum Richter über Gut und Böse geeignet, sei es auch nur in Hinsicht auf kulinarisches Wohl und Übel. Die philosophische Anpassung der Bedürfnisse der Verdauung an die Bedürfnisse unserer selbst als Teil einer lebensfördernden Umwelt kann dann gelingen, wenn gedanklich erfasste Notwendigkeiten die Verdauung erleichtern. Als universelle Grundlage der Weisheitsliebe taugt Verdauung denkbar wenig. Aber eine Philosophie des Geistes, die sich um die Festlegung der Grenzen ihrer eigenen Ansprüche bemüht, sollte den Beitrag der Verdauung zu ihrer eigenen Entwicklung nicht leichtfertig übergehen. Allgemein verbindliche Anleitungen zur Verdauung sind von der Philosophie ebenso wenig zu erwarten wie zu erwünschen. Das muss nicht zu grundloser Relativität führen, denn Verdauung ist Teil des Flussbetts der philosophischen Gewissheiten. So wie sich ein Spaten an hartem Fels der Logik zurückbiegen kann, so auch im Schlamm der Gefühle. Gastrale Gewissheit betrifft Verdauung und Sexualität gleichermaßen. Anregungen zum verbesserten Umgang mit unseren Bäuchen bietet neben medizinischen und wissenschaftlichen Untersuchungen wohl auch der alltägliche Umgang mit Personen, die Freude an digestiver und sexueller Bauchaktivität haben. Bei der Abwägung zwischen verschiedenen Formen der Freude sollte philosophische Selbstbefragung dienlich sein. So what? Die Verdauung bereichert das Denken um wesentliche Aspekte, sie schafft Gewissheiten und erlaubt die Rückbindung der Philosophie an den Alltag und an die Ursprünge des Lebens. Im Rahmen philosophischer Bemühungen um die Versöhnung zwischen Körper und Geist ist sowohl der kulturelle als auch der individuelle Umgang mit der Verdauung zu überdenken. Verdauungsfreundliche Gedanken sind dazu geeignet, das Interesse am Leben und am Überleben in einer durch menschliche Bauchaktivitäten geprägten Umwelt zu stärken. Meine Arbeit bitte ich – wie schon in der Einleitung angedeutet – als Anstoß zu erweiterter Forschung zu verstehen, nicht als Ergebnis. Dem gemeinen Bauchverstand dürfte das philosophische Interesse an der Verdauung wohl sofort einleuchten. Ich bin zuversichtlich, dass sie auch manchem ge-
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lehrten Kopf Freude bereiten wird.2 Für die Rückbindung der akademischen Philosophie an Fragen des Alltags wäre wohl einiges gewonnen, wenn die Führer der kleinen und großen Worte im Triumphzug konzeptueller Spitzfindigkeiten auf den Gemeinplätzen der platten Postenhascherei ihr Gespür für Bauchzustände verfeinern. Realistisch betrachtet wäre allerdings schon die Berücksichtigung des Schlagworts ›Verdauung‹ in kommenden Wörterbüchern der Philosophie ein unerwarteter Erfolg. Die Gewalt des gastrophoben Mainstreams ist gewichtig. Wir können darüber weinen oder besser noch lachen.3
2 | Und warum nicht auch manchem gebildeten Hintern? Belustigt (es scheint mir vorteilhafter zu lachen als zu weinen!) denke ich an die Bedingungen der Nahrungsaufnahme und -abgabe an gewissen Akademien und die mit ihnen verbundenen Verdauungsstörungen. Und anderswo ist es wohl gar noch schlimmer? Wahrlich, wahrlich: Manch kluger Bauch leidet bitter unter seinem dummen Geist. 3 | Ist es eine Tragödie oder eine Komödie? Am Ende ist Humor, wenn man trotzdem lacht, vgl. Bierbaum, 1909, S. 164. Und da wir, jedenfalls nach Bierbaums Einschätzung, wohl alle etwas Humor haben, können wir vielleicht auch dann noch lachen, wenn nicht einmal mehr unsere Verdauung Anlass dazu bietet.
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Literatur
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Index P ersonenregister Anaximenes von Milet 86 Anders, Günther 113, 128, 208, 300, 308, 344, 424-426, 433, 447, 454 Andreas-Salomé, Lou 362-363, 365 Antisthenes 94 Aquin, Thomas 12, 125, 139, 200-203, 205-209, 232-234 Aristophanes 46, 66, 70 Aristoteles 12, 15, 26, 28, 79, 83, 103109, 154, 167, 201-205, 207, 209, 224, 226, 228, 255, 348, 413 Aristoxenos 81, 83 Athenagoras von Athen 124, 156, 205 Augustinus, Aurelius 12, 19, 125, 172, 182-191, 203, 207, 258, 330, 389, 463 Avicenna 194, 196-200, 345 Ayer, Alfred J. 420, 421 Bachelard, Gaston 62, 94, 237, 344, 363, 404-413, 427 Balzac, Honoré de 283-284 Baudy, Gerhard 15, 78, 94-97, 109, 114-116 Berengar von Tours 203 Blesilla 168-170, 310 Botticelli, Sandro 350 Brentano, Franz von 347-348, 445 Brillat-Saverin, Jean Anthelme 279, 281-285
Brücke, Ernst 130, 348-351, 356-357, 363 Cassianus, Johannes 191-192 Cassirer, Ernst 72 Chrysippos von Soloi 209 Chrysostomos, Johannes 125, 176-182 Cicero, Marcus Tullius 76, 81-82, 115, 121, 123, 125-128, 167, 209, 258, 362 Clemens von Alexandria 159-161 D’Alembert, Jean-Baptiste 220, 237, 239, 408 Demokrit 97 Derrida, Jacques 12, 345, 446-454 Descartes, René 9, 12, 19-20, 139, 220, 229-236, 305 D’Holbach, Paul H. T. 239 Diaconu, Mădălina 18, 254, 256, 403, 427-428 Diderot, Denis 12, 220, 237-242, 408 Diels, Hermann 64, 72 Diogenes von Apollonia 86 Diogenes von Sinope 9, 12, 28, 76-79, 82-83, 86, 94, 101-103, 110-112, 463 Enders, Giulia 18, 105, 383, 393, 395 Epikur 12, 25-26, 28, 30, 109-118, 126-127, 130, 172-173, 207-209, 218, 246, 463, 467 Erasistratos 15, 124, 150-152
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Vom Geist des Bauches
Euripides 64-66, 116 Falconet, Etienne-Maurice 238 echner, Gustav T. 12, 20, 223, 314317, 347 Feuerbach, Ludwig A. 12, 143, 223, 317-327, 347 Firmicus Matemus 74 Flusser, Vilém 21 Foucault, Michel 15-16, 243, 264, 310, 345, 380, 437-445, 448 Fourier, Charles 221-222, 279-280, 285-288, 291 Frazer, James George 70-71 Freud, Sigmund 12, 65, 68, 93, 159, 272-273, 341-342, 347-371, 376377, 381, 431-432, 434, 454 Galen 81, 124, 149-154, 196, 224, 345, 379, 438-439, 441 Gerngross, Heidulf 5, 18 Gershon, Michael 22, 284, 302, 319, 386-391, 393, 395 Greenaway, Peter 447 Groddeck, Georg 58-61, 342, 370-372 Haarmann, Anke 19 Hegel, Georg W. F. 12, 16, 222, 299310, 407, 446 Heidegger, Martin 256, 344, 395-396, 424-427, 433-434 Heine, Heinrich 361 Helmont. Jean Baptista van 198, 219, 220, 224-229, 239, 305, 387, 456 Heraklit 70, 79 Herodot 56, 63, 80 Hesiod 59, 66-69 Hieronymus, Sophronius Eusebius 113, 125, 166-176, 181, 189190, 207, 410 Hippokrates von Kos 12, 19, 81, 8589, 116, 149, 154, 209 Homer 56-57, 61, 63-64, 66, 68, 70, 369
Horney, Karen 342, 369, 376-381 Husserl, Edmund 395-403, 424-425, 428 Jovinianus 15, 172 Jung, Carl G. 363, 367, 412 Kant. Immanuel 12, 19, 23, 68, 220221, 242-263, 298, 331, 389, 419, 448-450, 463, 468 La Mettrie. Julien O. de 274 Lemke, Harald 5, 111, 114, 136, 176, 182, 191, 280, 306-307, 309, 321, 324, 326, 405, 433, 438 Levinas, Emmanuel 17, 345, 432-437, 447 Lichtenberg, Georg C. 12, 16, 221, 269-279, 359-360 Lombard, Peter 204-205 Luther 15, 43-46, 49-50, 204, 306 Mayr, Franz X. 342, 374-376 Menoikeus 109-114, 117 Merleau-Ponty, Maurice 345, 429-432 Michelangelo 350 Montaigne, Michel 12, 16, 19, 30, 68, 121, 125, 209-215, 217-218, 463 Nietzsche, Friedrich W. 9-10, 12, 19, 59-61, 68, 71, 117, 191, 223224, 270, 327-340, 347, 389, 391, 461, 463, 468 Novalis 447 Onfray, Michel 172, 285, 467 Ott, Christine 271, 283, 300, 302-303, 306 Pankejeff, Sergei K. 366-367 Pascal, Blaise 20 Paulus von Tarsus 124, 145-149, 176, 188, 195 Pausanias 81 Pemberton, John S. 353-354 Perls, Fritz 342, 381-382 Philon 12, 16, 123, 128-133, 195 Pindar 63
Index
Platon 12, 18, 26-28, 71, 89-101, 106, 109, 129, 135, 152, 181-182, 242, 246, 293, 317, 378, 390, 422, 428 Plutarch 65, 70, 79, 82, 110, 116-117, 123, 135-136, 434, 439 Poimen, Abbas 155 Pythagoras 12, 19, 61, 76-83, 85, 87, 320, 380 Rigotti, Francesca 17, 54-55, 92, 109, 112, 224, 309, 403, 428 Rohde, Erwin 57, 61, 328, 358 Röttgers, Kurt 257, 261, 279, 287, 335, 432 Rumohr, Carl F. L. F. von 136, 280, 289-290 Sabinianus 171 Sade, Donatien A. F. de 221, 262-268 Sandnes, Karl O. 110, 128-132
Sartre, Jean-Paul 344-345, 427-429 Schopenhauer, Arthur 9, 12, 222, 302, 311-313, 347, 409 Searle, John R. 12, 346, 455-458 Seel, Martin 5, 275, 376 Shusterman, Richard 5, 12, 100, 215, 346, 459, 461-463 Spoerri, Daniel 13 Steiner, Rudolf 20 Tabor, Jan 13 Tertullian 125, 162-166 Vaerst, Friedrich C. E. von 221-222, 280, 290-299 Venel, Gabriel F. 240 Winnicott, Donald W. 342, 383-386 Wittgenstein, Ludwig 12, 17, 59, 68, 111, 248, 273, 287, 343-344, 347, 389, 413-423, 462-463, 468
S ach - und B egriffsregister Alltag 18, 22, 29, 30, 36, 92, 182, 190, 214, 235, 236, 243, 248, 249, 261, 271, 278, 343, 344, 369, 416, 420, 423, 459, 465, 468, 470, 471 Appetit 19, 41, 44, 66, 68, 69, 98, 99, 123, 127, 128, 131, 136, 137, 184, 199, 201, 202, 203, 212, 217, 227, 231, 247, 248, 249, 253, 255, 256, 261, 262, 263, 264, 269, 273, 275, 284, 287, 294, 297, 319, 322, 339, 340, 345, 346, 347, 353, 366, 369, 376, 378, 381, 384, 388, 395, 399, 400, 409, 438, 439, 440, 441, 461 Armut 102, 103, 112, 113, 125, 177, 180, 323, 332, 369
Askese 26, 30, 81, 84, 102, 110, 121, 123, 124, 125, 136, 140, 153, 155, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 174, 176, 189, 380, 440, 465, 467 Assimilation 18, 19, 21, 55, 78, 86, 106, 107, 149, 150, 156, 187, 204, 205, 222, 234, 235, 236, 240, 265, 282, 300, 301, 303, 304, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 318, 341, 345, 349, 353, 382, 394, 410, 428, 430, 436, 446, 447 Atem, Atmung 16, 22, 25, 37, 61, 62, 72, 84, 87, 104, 107, 158, 227, 244, 257, 346, 414, 415, 460, 461, 463
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Ausschweifungen 96, 136, 192, 257, 274 Orgien 101, 222, 264, 288 Trunkenheit 39, 78, 82, 189, 190, 212, 213, 264, 440 bauchbezogene Krankheiten 13, 17, 21, 37, 100, 214, 220, 224, 229, 337, 344, 369, 418, 423, 464, 470 Appetitlosigkeit 17, 88, 212, 230 Bauchkrankheiten (allgem.) 16, 45, 87, 138, 210, 215, 216, 381 Blähungen 38, 80, 81, 82, 84, 87, 90, 212, 216, 250, 328, 383 Brechreiz 22, 228 Depressionen 17, 88, 89, 224, 334, 391 Diarrhoe, Durchfall 11, 12, 17, 38, 87, 151, 229, 269, 381, 391, 392 Epilepsie 88, 227 Erbrechen 17, 38, 39, 45, 59, 86, 127, 134, 184, 200, 227, 230, 253, 255, 262, 264, 381, 384, 391, 421, 428, 437, 441, 449, 450, 451 Favismus 80, 81 Fettleibigkeit 16, 17, 192, 265 Fieber 87, 151, 168, 188, 438 Flatulenzen 81, 82, 83, 84, 101, 104, 107 Hämorrhoiden 45, 46, 328 Koliken 210, 214, 217, 438 Koprophagie 221, 256, 265, 266 Kwashiorkor, Marasmus 17 Magenschmerzen 182, 343, 369, 403, 416, 417, 418, 423 Magersucht 169 Ruhr 328 Schlaflosigkeit 16, 296, 328, 381 Übelkeit 17, 22, 296, 382, 392 Übersättigung 39, 78, 177, 195 Verdauungsstörungen, Indigestionen, Dyspepsien 37, 39, 86, 104, 228, 250, 328, 329, 332, 342, 346, 352,
374, 375, 376, 388, 389, 392, 418, 471 Verstopfung, Obstipation 12, 34, 38, 72, 87, 105, 199, 200, 216, 250, 266, 269, 286, 289, 353, 370, 371, 381, 391, 421, 437, 440
Bauchgefühle 16, 56, 114, 124, 132, 153, 342, 344, 368, 385, 416, 418, 468, 469 Diät, Diätiker, Diätetik 26, 29, 79, 83, 88, 90, 95, 96, 97, 101, 136, 140, 154, 196, 197, 248, 249, 250, 268, 275, 297, 328, 345, 353, 419, 438, 461, 462, 463 Durst 25, 26, 41, 64, 87, 91, 95, 104, 110, 113, 127, 128, 133, 161, 171, 185, 188, 207, 212, 213, 221, 227, 301, 316, 320, 325, 329, 334, 356, 366 Einverleibung 18, 118, 143, 147, 149, 165, 204, 223, 271, 309, 320, 324, 332, 333, 336, 338, 339, 345, 364, 370, 382, 417, 426, 446 Ekel 10, 34, 113, 116, 134, 175, 201, 222, 252, 253, 255, 256, 262, 263, 264, 308, 310, 333, 334, 340, 368, 393, 402, 407, 427, 437, 449, 450, 451 Enthaltsamkeit 84, 160, 164, 168, 170, 173, 192 Erfüllung 15, 65, 78, 94, 95, 117, 123, 128, 182, 284, 355, 356, 425, 435, 466 Erinnerung 11, 21, 25, 28, 36, 55, 92, 97, 115, 116, 117, 132, 146, 186, 199, 335, 357, 363, 398, 436 Erkenntnis 9, 49, 92, 164, 202, 251, 272, 281, 299, 312, 318, 330, 340, 396, 452
Index
Esslust 164, 276, 280, 289, 295, 297, Bohnen 15, 76, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 351 87, 220, 239, 320, 441 Feinschmeckerei 102, 113, 123, 133, 276, Darmflora 20, 139, 359, 388 284, 287 Darmwürmer 33 Fresslust, -gier 54, 100, 124, 155 Feigen 38, 117, 295, 329 Gaumenlust 125, 163, 164, 172, 192, 193, Fische 43, 110, 133, 134, 137, 156, 163, 206, 207, 208 174, 195, 221, 270, 293 Gourmandise 280, 286, 287, 293, 325 Früchte 54, 86, 188 Schlemmerei 67, 100, 127, 163, 173, 177, Getreide 53, 152 181, 289 Hühner 272 Exkremente, Kot, Faeces 20, 28, 35, Hunde 53, 241, 273 37, 38, 43, 45, 66, 104, 106, 107, Knoblauch 164, 229, 290 116, 118, 125, 126, 134, 149, Kohl 101, 135, 278, 295 162, 174, 176, 177, 178, 181, Krokodile 30, 36, 40 182, 187, 197, 199, 204, 205, Löwen 42, 53, 64, 95, 96, 165, 325 211, 215, 222, 223, 224, 255, Mandeln 184 256, 265, 266, 267, 268, 306, Mäuse 28, 108 308, 309, 310, 315, 333, 334, Pferde 21, 106, 129, 173, 282, 296 338, 339, 340, 345, 357, 359, Quallen 407 364, 365, 366, 367, 370, 371, Rhabarber 274 377, 378, 385, 386, 408, 421, Schafe 57, 106 438, 440, 442, 451, 456, 468 Schlangen 20, 27, 33, 41, 42, 43, 45, Fasten 70, 104, 145, 164, 166, 167, 48, 60, 73, 123, 130, 171, 172, 195, 168, 173, 174, 175, 176, 190, 242, 300, 311, 344, 411, 412, 424 192, 193, 194, 445 Schweine 111 Fehlernährung 16, 26, 39, 123, 135, Vieren 139, 274 136, 323, 466 Vögel 163, 237, 310 Mangelernährung 16, 17, 323 Wale 406, 412 Unterernährung 16, 323, 422 Widder 106 Völlerei, Schwelgerei 96, 99, 124, 147, Würmer 176, 178, 243, 247, 411 160, 166, 171, 178, 180, 181, 182, Zwiebeln 135, 164 189, 191, 200, 253, 264, 281, 289, Freude 5, 11, 13, 15, 19, 22, 26, 27, 28, 37, 40, 41, 44, 45, 46, 47, 50, 291, 468 52, 58, 59, 68, 70, 71, 74, 77, Feste, Feiern 56, 65, 67, 74, 82, 131, 79, 91, 92, 93, 95, 97, 99, 100, 132, 145, 169, 174, 214, 232 101, 109, 113, 114, 116, 117, Flora, Fauna 118, 121, 123, 124, 126, 127, Amöben 21 128, 129, 135, 136, 138, 141, Bakterien 18, 139, 371 145, 146, 147, 148, 149, 154, Bären 165 155, 167, 171, 173, 174, 182, Bilsenkraut 227 185, 186, 188, 191, 196, 200, Blauer Eisenhut 226
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Vom Geist des Bauches
207, 208, 212, 213, 215, 218, 219, 220, 221, 222, 230, 231, 242, 259, 262, 263, 264, 268, 269, 272, 280, 284, 285, 286, 287, 288, 291, 292, 293, 320, 324, 327, 333, 335, 345, 358, 359, 376, 377, 380, 384, 386, 393, 397, 398, 399, 400, 401, 402, 403, 412, 423, 427, 435, 436, 438, 466, 467, 470, 471 Fröhlichkeit, Frohsinn 23, 215, 241, 242, 346 Furcht, Angst 27, 28, 40, 41, 42, 43, 52, 53, 57, 60, 65, 80, 83, 84, 98, 107, 123, 124, 135, 155, 186, 194, 245, 250, 297, 362, 367, 369, 379, 380, 392, 411, 429, 445, 451, 461 Gastrophobie, Gastrophagie 15, 16, 18, 25, 30, 93, 114, 136, 137, 279, 280, 285, 286, 287, 291, 292, 293, 295, 297, 298, 299, 345, 378, 387, 427, 467 Gastrosophie, Gastrophilie 15, 173 Genuss 11, 13, 45, 55, 60, 70, 78, 80, 82, 94, 103, 113, 118, 121, 125, 127, 128, 131, 135, 137, 140, 143, 146, 148, 158, 161, 184, 187, 188, 189, 191, 192, 193, 207, 210, 220, 248, 252, 256, 260, 262, 266, 267, 276, 284, 288, 290, 292, 293, 301, 302, 306, 322, 325, 326, 337, 398, 400, 401, 403, 420, 432, 433, 434, 435, 436, 449, 450 Geschmack 13, 32, 88, 104, 111, 112, 113, 117, 118, 125, 127, 141, 153, 160, 186, 196, 199, 200, 204, 210, 211, 213, 221, 222, 237, 242, 245, 246, 251, 252, 253, 254, 255, 257, 265, 266,
268, 269, 275, 276, 278, 279, 280, 281, 282, 284, 285, 286, 287, 289, 290, 291, 292, 293, 298, 299, 311, 324, 325, 326, 332, 334, 335, 336, 344, 345, 355, 384, 393, 397, 403, 405, 419, 420, 427, 437, 445, 449, 450 Gesundheit 13, 78, 84, 85, 86, 89, 96, 100, 103, 110, 113, 114, 116, 117, 118, 119, 123, 131, 136, 139, 153, 160, 168, 169, 177, 184, 188, 189, 192, 194, 195, 196, 200, 213, 214, 218, 220, 222, 228, 229, 230, 244, 249, 250, 251, 253, 273, 275, 287, 288, 290, 291, 292, 298, 299, 318, 328, 352, 374, 419, 420, 423, 439, 445 Gier, Begierde, Verlangen 32, 39, 41, 43, 66, 67, 77, 91, 98, 99, 103, 113, 125, 126, 128, 129, 132, 133, 134, 155, 157, 161, 164, 167, 168, 173, 186, 189, 193, 195, 198, 202, 206, 207, 208, 232, 263, 265, 327, 356, 369, 376, 379, 382, 399, 400, 402, 405, 409, 427, 433, 437, 441, 462 Götter, Propheten Adonis 70 Apollon 27, 60, 61, 62, 453 Attis 70, 73, 74 Demeter 27, 68, 69, 70, 71, 72, 503 Dionysos 27, 69, 70, 75, 84, 101 Gaia 60 Gilgamesch 145, 491, 500 Hades 68, 80 Hesekiel 54 Isis 163, 174 Jesus 121, 124, 137, 148, 169, 178, 203, 204, 236, 267
Index Jonas 43, 137, 195, 410, 411, 412 Kore (Persephone) 68, 70, 72 Kronos 59, 75, 359 Mithras 143 Mohammed 194, 195 Moses 129, 130, 142, 188 Osiris 33, 35, 36, 70 Venus 124, 133, 154, 350, 446 YHWH 45, 47, 48, 49, 51, 54, 131 Zarathustra 59, 68, 329, 334 Zeus 59, 64, 65, 66, 74, 75, 102, 453
Höhlen, Höhlungen 15, 40, 42, 54, 58, 60, 62, 65, 69, 86, 93, 100, 137, 157, 163, 166, 180, 186, 244, 254, 269, 310, 344, 359, 378, 380, 381, 404, 411, 412 Hunger 9, 16, 19, 25, 26, 28, 30, 41, 44, 53, 63, 64, 66, 67, 70, 78, 87, 88, 91, 95, 96, 101, 102, 110, 111, 113, 114, 119, 121, 123, 124, 125, 127, 128, 129, 133, 140, 141, 152, 155, 156, 161, 164, 166, 167, 168, 169, 171, 174, 175, 176, 180, 183, 184, 188, 191, 200, 207, 221, 222, 223, 227, 246, 247, 255, 258, 286, 293, 311, 315, 316, 317, 320, 321, 323, 324, 325, 326, 327, 334, 342, 344, 345, 351, 356, 357, 363, 366, 382, 383, 397, 399, 400, 401, 402, 409, 424, 425, 426, 432, 433, 434, 435, 436, 440, 447, 466, 467 Inneres, Innerstes 10, 18, 27, 29, 30, 33, 34, 40, 42, 43, 44, 45, 47, 54, 72, 74, 76, 78, 94, 96, 107, 118, 131, 139, 163, 165, 166, 170, 181, 183, 184, 185, 186, 192, 193, 195, 198, 223, 224, 238, 241, 242, 248, 251, 254,
255, 257, 258, 259, 266, 268, 269, 270, 272, 274, 277, 295, 301, 303, 305, 312, 316, 322, 328, 334, 341, 343, 345, 346, 374, 378, 381, 393, 395, 405, 407, 409, 411, 416, 417, 429, 431, 434, 437, 438, 447, 448, 449, 451, 454, 461, 462, 463, 466, 467, 470 Intelligenz 32, 59, 89, 92, 93, 96, 101, 123, 127, 148, 170, 198, 259, 263, 298, 313, 356, 389, 390, 456, 463, 466 Kannibalismus, Menschenfressereien 65, 77, 142, 205, 220, 231, 232, 237, 260, 261, 262, 263, 345, 359, 364, 446 Körperflüssigkeiten 86, 230, 256 Blut 53, 57, 63, 65, 72, 77, 98, 106, 107, 124, 138, 141, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 158, 159, 162, 197, 200, 203, 204, 205, 209, 220, 225, 226, 230, 231, 232, 234, 235, 236, 237, 238, 259, 265, 301, 302, 304, 305, 306, 317, 319, 323, 337, 348, 379, 384, 395, 440, 441, 446, 447, 448 Chymus 312, 451 Gallenflüssigkeit 225, 308 Lymphe 301, 304, 305, 428 Magensaft 118, 259, 331, 451 Schweiß 128, 150, 160, 162, 165, 187, 201, 308 Speichel, Spucke 200, 218, 259, 333, 373 Urin 35, 104, 118, 138, 162, 197, 201, 216, 217, 333, 340, 345, 440
Kulinarisches 16, 85, 111, 112, 113, 116, 121, 122, 123, 125, 133, 135, 136, 137, 139, 140, 141, 162, 176, 190, 199, 200, 203,
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Vom Geist des Bauches
207, 208, 219, 248, 260, 268, 280, 281, 285, 289, 290, 292, 309, 310, 316, 324, 326, 403, 420, 465, 467, 470 Kulte Abendmahl 144, 148, 267 Attis-Kult 70, 73, 74 Mysterien 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 306 Opfer 40, 43, 49, 65, 70, 90, 126, 137, 141, 142, 166, 169, 170, 205, 263, 266, 267, 268, 291, 318, 334, 425 Trankopfer 57, 62, 71 Pessach-Fest 132, 148
Kunst 13, 96, 97, 100, 146, 183, 196, 212, 214, 220, 237, 241, 255, 262, 287, 289, 290, 310, 315, 316, 336, 376, 395, 423, 438, 439, 459, 469 Lachen 11, 23, 41, 68, 69, 220, 221, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 302, 342, 385, 449 Lebensformen 21, 78, 107, 111, 341, 394, 443, 467, 468 Liebe 19, 32, 68, 71, 97, 100, 143, 145, 179, 194, 220, 229, 230, 231, 232, 236, 237, 259, 260, 261, 262, 264, 269, 275, 280, 284, 285, 288, 291, 317, 322, 333, 351, 354, 355, 363, 369, 382, 385, 467 Geliebte 44, 46, 241, 291, 430 Liebende 46
Lust 15, 19, 28, 29, 52, 63, 65, 66, 82, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 101, 109, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 123, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 136, 145, 149, 153, 155, 160, 161, 162, 171, 172, 175, 183, 185, 189, 191, 192, 194, 200,
207, 208, 210, 212, 220, 221, 246, 247, 253, 256, 257, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 268, 287, 291, 297, 302, 327, 329, 333, 335, 336, 342, 347, 357, 362, 363, 365, 368, 370, 376, 379, 380, 382, 385, 386, 393, 395, 397, 398, 399, 400, 401, 402, 403, 440, 448, 449, 460, 462, 465, 466, 467, 469 lüstern, geil 77, 110, 113, 132, 161, 162, 163, 165, 168, 171, 175, 276, 291 Maß, Unmaß 16, 78, 94, 100, 121, 122, 160, 161, 165, 176, 178, 180, 181, 184, 185, 189, 190, 195, 200, 207, 208, 289, 291, 298, 452 Medikamente 28, 105, 106, 392 Abführmittel 11, 86, 90, 366 Bragg's Charcoal Biscuits 418 EUCARBON 11, 12, 17, 418 Kassia (Sennesblätter) 215 Latwergen (Pflaumenmus) 216
Musik 130, 152, 214, 243, 246, 257, 393 Mythische Figuren Abraham 15, 365, 367, 473, 498 Adam 41, 45, 46, 48, 124, 141, 155, 164, 191, 195, 204, 220, 225, 228 Agamemnon 66 Archilles 57 Baubo 68, 69, 70, 71, 72, 73 Drachen, Ungeheuer, Monster 43, 44, 60, 61, 62, 96, 102, 129, 176, 178, 179, 311, 317, 334, 413 Delphyne, Pythia 60, 282, 453 Hilarion 171 Isaak 142 Klytaimnestra 66 Kronos 59, 75, 359
Index Lot 267 Monster 61, 102, 412 Nebukadnezar 43, 50, 65, 81, 311, 412, 436 Nymphen 276 Odysseus 57, 63, 65, 66, 70 Pandora 66, 67 Pygmalion 220, 238 Rhea 59 Saul 15 Zyklopen 64, 65
Ökologie 13, 18, 20, 87, 276, 309, 314, 346, 376, 456, 466, 468, 469 Omphalos 58, 59, 60, 61, 62, 357, 358, 453, 454 Organe Anus, After, Darmausgang 34, 35, 37, 38, 45, 48, 83, 162, 218, 228, 266, 301, 341, 359, 364, 365, 368, 369, 371, 375, 377, 381, 385, 395, 413, 432, 453 Augen 20, 44, 88, 126, 162, 166, 171, 177, 201, 234, 252, 269, 272, 277, 284, 291, 335, 339, 348, 374, 398, 417, 437, 463 Bauchorgane (allgem.) 27, 34, 74, 86, 179, 224, 242, 302 Blase 28, 34, 105, 107, 117, 153, 162, 215, 217, 218, 386, 407 Blutkreislauf 16, 22, 25, 385 Brust, Brüste, Busen 42, 52, 69, 180, 187, 342, 351, 357, 377, 393 Darm (allgem.) 18, 19, 21, 22, 33, 40, 50, 63, 78, 81, 82, 86, 92, 99, 100, 105, 114, 116, 118, 150, 152, 153, 195, 197, 220, 230, 231, 243, 247, 253, 272, 282, 317, 328, 330, 343, 347, 365, 366, 367, 371, 372, 377, 383, 385, 387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 395, 412, 418 Diaphragma, Zwerchfell 31, 32, 88,
98, 106, 243, 244, 245, 246, 247, 284, 369 Dickdarm 46, 389, 445 Dünndarm 374, 387, 389 Enddarm 365, 391 Gaumen 51, 52, 53, 55, 112, 114, 127, 133, 139, 174, 178, 201, 212, 213, 223, 239, 254, 255, 285, 289, 318, 326, 335, 338, 403, 423 Gebärmutter, Uterus, Matrix 38, 40, 47, 48, 54, 60, 66, 67, 72, 82, 151, 153, 228, 342, 344, 365, 368, 370, 372, 377, 378, 379, 380, 381, 404, 440, 441 Gehirn 22, 35, 49, 88, 105, 150, 180, 181, 198, 199, 200, 209, 210, 223, 227, 230, 231, 248, 252, 276, 280, 281, 282, 284, 302, 312, 313, 314, 315, 343, 346, 386, 387, 388, 389, 390, 391, 393, 395, 458, 461 Geschlechtsorgane (allgem.) 174, 220, 261, 262, 380 Harnleiter 48, 217 Herz 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 39, 40, 44, 49, 50, 67, 75, 86, 98, 106, 127, 137, 138, 139, 140, 146, 149, 166, 175, 184, 192, 196, 198, 205, 220, 223, 225, 230, 231, 246, 272, 273, 274, 313, 314, 322, 323, 325, 327, 329, 333, 346, 408, 422, 431, 460 Hoden 40, 50, 79, 83, 348, 349 Kehle 41, 118, 178, 212, 271, 272, 452 Leber 30, 31, 32, 33, 35, 37, 40, 50, 99, 107, 124, 149, 150, 156, 157, 165, 196, 197, 198, 220, 225, 230, 231, 234, 298, 301, 302, 304, 311, 373, 461 Lippen 16, 44, 46, 49, 52, 53, 54, 67, 72, 107, 254, 265, 435, 461 Lunge 31, 35, 86, 98, 150, 220, 231, 313, 346
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Vom Geist des Bauches Magen 15, 19, 20, 28, 31, 32, 34, 35, 36, 38, 40, 44, 45, 50, 54, 56, 63, 64, 65, 68, 71, 81, 82, 85, 86, 92, 93, 94, 99, 102, 103, 104, 105, 107, 109, 110, 111, 113, 114, 115, 117, 118, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 131, 133, 134, 136, 137, 139, 143, 149, 150, 151, 152, 153, 156, 157, 158, 160, 161, 162, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 173, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 185, 186, 187, 188, 191, 192, 195, 196, 197, 199, 204, 209, 210, 211, 212, 215, 216, 217, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 234, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 250, 252, 253, 256, 258, 259, 260, 261, 264, 269, 270, 272, 273, 274, 275, 276, 278, 280, 281, 282, 283, 285, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 301, 303, 304, 312, 313, 314, 315, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 336, 337, 338, 341, 342, 344, 346, 347, 351, 352, 353, 354, 355, 356, 359, 361, 369, 370, 371, 378, 380, 382, 384, 385, 388, 389, 390, 392, 400, 401, 402, 403, 404, 406, 409, 410, 412, 414, 415, 416, 417, 418, 422, 423, 426, 428, 429, 435, 436, 437, 439, 440, 441, 469 Magenausgang, -pförtner 225, 390 Mastdarm, Rektum 34, 37, 162, 385 Milz 33, 86, 150, 151, 209, 219, 225, 226, 227, 230, 304, 461 Mund 16, 20, 31, 35, 36, 42, 44, 46, 51, 52, 53, 54, 55, 62, 72, 85, 88, 92, 107, 113, 124, 125, 134, 138, 139, 140, 147, 152, 163, 164, 166, 175, 177, 182, 191, 196, 204, 206, 218, 221,
223, 252, 254, 261, 263, 264, 265, 266, 276, 299, 301, 304, 307, 322, 341, 342, 344, 346, 347, 359, 368, 371, 372, 373, 374, 378, 381, 384, 385, 395, 397, 398, 399, 423, 427, 430, 432, 435, 448, 450, 451, 452, 453, 461, 462 Muskeln 16, 220, 230, 231, 244, 245, 280, 319, 323, 346, 350, 371, 376, 384, 387, 391, 406, 461 Nabel 47, 58, 59, 60, 61, 62, 98, 211, 350, 351, 358, 377, 452, 453 Nerven, Nervensystem 21, 22, 25, 107, 196, 222, 228, 230, 257, 259, 276, 295, 312, 332, 333, 348, 349, 352, 362, 363, 386, 387, 388, 389, 390, 391, 392, 515 Nieren 27, 33, 35, 40, 41, 49, 50, 99, 107, 124, 149, 196, 216, 217, 298, 431, 461 Ohren 12, 44, 50, 51, 72, 126, 162, 191, 198, 210, 284, 299, 434, 435 Ovarien 348 Penis, Phallus 69, 73, 342, 365, 366, 368, 369, 370, 377, 379, 380, 381 Plexus myentericus (Auerbach’scher Plexus) 22, 387 Schamlippen 80 Schlund, Rachen 39, 42, 43, 134, 174, 178, 254, 261, 301, 311, 315, 359, 369 Speiseröhre 31, 85, 152, 200, 215, 228, 282, 389, 390 Vagina 69, 342, 365, 368, 369, 370, 378, 379, 380, 412 Verdauungskanal 34, 59, 301, 390 Verdauungsorgane (allgem.) 35, 50, 71, 99, 114, 118, 149, 168, 220, 223, 236, 242, 251, 257, 258, 260, 265, 283, 301, 355, 363, 369, 374, 378, 403 Vulva 50, 72
Index Zähne 53, 106, 107, 123, 147, 174, 183, 188, 203, 243, 245, 271, 290, 292, 302, 311, 322, 324, 332, 339, 381, 417, 436, 437, 452, 461 Zirbeldrüse 273 Zunge 16, 45, 51, 52, 53, 85, 92, 107, 114, 131, 138, 163, 174, 187, 210, 251, 252, 254, 255, 261, 264, 274, 279, 291, 315, 316, 325, 333, 403, 417, 423, 427, 436, 461, 462
philosophische Bedeutung, philosophisches Interesse 16, 22, 26, 27, 29, 64, 76, 87, 89, 100, 103, 107, 111, 156, 209, 223, 224, 233, 244, 280, 329, 341, 438, 439, 446, 467, 470 Pneuma, Wind, Gas, Hauch, Blähung 25, 61, 81, 82, 83, 84, 87, 88, 89, 124, 147, 150, 186, 197, 216, 217, 301, 440 Rausch, Ekstase 61, 78, 88, 264, 269, 278, 306, 344, 409 Reichtum 32, 35, 39, 45, 48, 68, 92, 94, 96, 102, 112, 149, 166, 177, 180, 188, 209, 242, 260, 283, 295, 369, 375, 407 Säfte 151, 153, 157, 165, 177, 178, 193, 196, 197, 198, 200, 230, 231, 276, 282, 294, 299, 307 Sättigung 74, 91, 95, 103, 136, 157, 167, 168, 188, 192, 193, 249, 263, 309, 382, 397, 400, 401, 402, 435 Schlaf 22, 77, 88, 140, 155, 162, 165, 200, 217, 243, 249, 304, 313, 337, 363, 497 Schmerzen 41, 46, 109, 117, 158, 164, 179, 188, 201, 216, 217, 218, 413, 416, 417, 418, 463 Geburtsschmerzen 48 Kopfschmerzen 216
Magenschmerzen 182, 343, 369, 403, 416, 417, 418, 423 Menstruationsschmerzen 369 Rückenschmerzen 381 Zahnschmerzen 417
Schneebrundsa 13 Schönheit 46, 67, 96, 162, 177, 211, 215, 264, 350, 374, 375, 376, 460, 461 Schwangerschaft 38, 41, 47, 49, 60, 82, 83, 227, 350, 359, 366, 368, 377, 378, 380, 381, 441 Entbindung 41, 179 Schweigen 15, 16, 19, 53, 56, 131, 437, 445 Selbstbewusstsein 22, 259, 310, 385, 446, 465 Sexualität 9, 12, 15, 16, 19, 25, 27, 41, 47, 48, 60, 63, 66, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 78, 82, 84, 102, 127, 130, 131, 146, 147, 153, 155, 159, 162, 163, 170, 171, 173, 200, 212, 219, 221, 242, 256, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 284, 285, 342, 345, 347, 351, 355, 356, 358, 359, 360, 363, 366, 368, 369, 370, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 412, 429, 430, 431, 432, 436, 437, 438, 439, 440, 441, 443, 444, 445, 446, 470 Fortpflanzung 68, 71, 80, 106, 187, 260, 284, 307, 389 Geschlechtsneigung, Wollust u.ä. 77, 110, 117, 132, 163, 165, 171, 175, 256, 260, 262, 402 Koitus, Sexualakt u.ä. 82, 213, 222, 261, 262, 288, 333, 439, 441 Küsse 52, 261, 262, 269 Speisebrei, Chymus 42, 153, 224, 307, 312, 405, 451
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Vom Geist des Bauches
Speiseregeln, -gesetze, -verbote 19, 45, 65, 77, 78, 79, 121, 132, 139, 147, 164, 206, 393 Sprache 10, 21, 27, 36, 41, 43, 46, 51, 52, 54, 55, 56, 92, 97, 101, 152, 154, 168, 199, 219, 227, 259, 261, 266, 279, 295, 307, 334, 343, 344, 345, 350, 371, 395, 416, 417, 420, 423, 430, 448, 452, 453, 454, 456 Theophagie 75, 142, 143, 144, 147, 148 Transsubstantiation, Wesensverwandlung 5, 148, 220, 230, 232, 233, 234, 235, 236, 305, 306 Träume 165, 350, 354, 355, 356, 357, 358, 369, 404, 408, 409, 450, 452, 453 Albträume 227, 412 Traumbilder 79, 83, 355, 390 Traumdeutung 350, 355, 357 Träumereien 166, 242, 404, 408 Traummotive, -quellen, reize 355, 356 Traumwunsch 358, 454 Überfluss, Überfüllung 87, 133, 136, 141, 157, 159, 162, 177, 178, 180, 185, 189, 193, 289 Umwelt 13, 18, 29, 78, 81, 155, 195, 268, 345, 347, 376, 387, 395, 396, 439, 451, 456, 461, 463, 467, 468, 470 Unlust 28, 95, 96, 97, 118, 253, 257, 336, 347, 368, 380, 400, 401, 403, 465 Verdauungsphilosophie, verdauungsphilosophisch 10, 13, 34, 54, 76, 85, 99, 101, 194, 231, 310, 340, 346, 424, 428, 460 Vernunft 19, 95, 96, 98, 99, 114, 115, 117, 125, 129, 136, 146, 173, 180, 192, 200, 201, 202, 203,
206, 207, 208, 209, 219, 223, 226, 235, 243, 249, 251, 252, 253, 258, 259, 260, 271, 277, 307, 317, 327, 329, 336, 398, 438, 453, 466, 469 Wahrheit 9, 51, 55, 64, 71, 82, 92, 95, 100, 124, 159, 160, 165, 184, 185, 195, 205, 209, 235, 247, 265, 299, 306, 329, 336, 349, 354, 433, 441 Weisheit 28, 29, 42, 44, 54, 95, 109, 110, 112, 114, 116, 136, 146, 184, 185, 195, 223, 244, 254, 280, 285, 286, 287, 300, 306, 322, 329, 334, 342, 357, 466 Wissen 17, 18, 27, 29, 54, 55, 91, 92, 97, 112, 118, 125, 183, 187, 195, 204, 209, 210, 211, 235, 237, 270, 271, 281, 299, 320, 336, 343, 350, 352, 357, 383, 394, 404, 423, 436, 451, 461, 468 Wissenschaft 71, 95, 97, 100, 104, 117, 154, 183, 209, 211, 212, 219, 220, 234, 236, 286, 287, 301, 302, 328, 329, 342, 344, 346, 371, 383, 386, 396, 408, 413, 455, 469 Wissensdurst, Wissenshunger 9, 92, 105, 317 Witze, Späße, Spaß 220, 238, 241, 243, 244, 247, 278, 347, 357, 359, 360 Zauberei, Magie 36, 38, 42, 70, 76, 224, 236 Zorn 49, 65, 77, 98, 142, 193, 201, 245, 302, 305, 306, 309
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Bedürfnisse des Bauches | 9 Von Konrad Paul Liessmann
Fröhliche Verdauung Zur Erinnerung an die Nacht, in der Herr Denker EUCARBON entdeckte. | 11 Einleitung | 15 1. Wurzeln Von altägyptischen Texten zu Epikur | 25 Begriffliche Inseln der alten Ägypter | 29 Furcht und Freude im Alten Testament | 40 Griechische Kulte und Mythen | 56 Peinliche Pannen bei Pythagoras | 76 Verdauungspflege im Corpus Hippocraticum | 85 Dualistische Entzweiung bei Platon | 89 Diätetische Freiheit bei Diogenes | 101 Psychische Aktivitäten bei Aristoteles | 103 Die Wurzel des Guten bei Epikur | 109
2. Exzesse Von Cicero zu Montaigne | 121 Entgleisung vermeiden mit Cicero | 125 Sauber bleiben mit Philon | 128 Dekadenz beklagen mit Seneca | 132 Gesittet diskutieren mit Plutarch | 135 Göttlich verdauen mit Jesus | 137 Feiern mit Paulus | 145 Körpersäfte bei Galen | 149
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Vom Geist des Bauches
Kirchenväterliche Bauchbeschränkung | 155 Athenagoras’ Menschenleiber | 156 Clemens’ Milch | 159 Tertullians Würste | 162 Hieronymus’ Opfer | 166 Chrysostomos’ Drache | 176 Augustinus’ Schwäche | 182 Cassians Kampf | 191 Menschen behandeln mit Avicenna | 194 Vernünftige Füllung mit Thomas von Aquin | 201 (Un-)Verdauliches bei Michel de Montaigne | 209
3. Freuden Von Helmont zu Nietzsche | 219 Seelenkreise bei Helmont | 224 Machtfragen bei Descartes | 229 Lebendige Kunst bei Diderot | 237 Lachend verdauen mit Kant | 242 Umkehrung bei Sade | 263 Hand auf den Magen mit Lichtenberg | 269 Bauchpflege bei den ersten Gastrosophen | 279 Brillat-Saverins Kategorien | 281 Fouriers gastrischer Krieg | 285 Rumohrs Kunst der Verdauung | 289 Vaersts Paradies | 290 Innere Prozesse bei Hegel | 299 Hilfssysteme bei Schopenhauer | 311 Fechners Hymne an den Magen | 314 Der hungrige Bauch bei Feuerbach | 317 Große Vernunft bei Nietzsche | 327
4. Unterscheidungen Von Freud zu Shusterman | 341 Psychologische Orientiertung | 346 Freuds Backside | 347 Groddecks Verwunderung | 370 Mayrs Frieden | 374 Horneys Neid | 376 Perls Zähne | 381 Winnicotts Säuglinge | 383 Gershons Second Brain | 386 Unterschichten bei Husserl | 395
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Urbilder bei Bachelard | 404 Schmerzen bei Wittgenstein | 413 Existenzieller Hunger | 424 Anders’ Gründe zur Sorge | 424 Sartres Ekel | 427 Merleau-Pontys Weltbezüge | 429 Levinas’ Genuss | 432 Biomacht bei Foucault | 437 Knoten bei Derrida | 446 Entwicklungsgeschichte mit Searle | 455 Lebenskunst bei Shusterman | 459
Nach der Verdauung ... ... ist vor der Verdauung | 4 65 Literatur | 473 Monographien und Sammelbände | 473 Artikel | 500 Internet-Quellen | 514 Nachschlagewerke | 517
Index | 521 Personenregister | 521 Sach- und Begriffsregister | 523
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Edition Moderne Postmoderne Andreas Hetzel Vielfalt achten Eine Ethik der Biodiversität Februar 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2985-9
Sandra Markewitz (Hg.) Grammatische Subjektivität Wittgenstein und die moderne Kultur Januar 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2991-0
Stefan Deines Situierte Kritik Modelle kritischer Praxis in Hermeneutik, Poststrukturalismus und Pragmatismus Dezember 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3018-3
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Edition Moderne Postmoderne Ralf Krüger Quanten und die Wirklichkeit des Geistes Eine Untersuchung zum Leib-Seele-Problem September 2015, 166 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3173-9
Karl Hepfer Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft August 2015, 192 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3102-9
Dirk Stederoth Freiheitsgrade Zur Differenzierung praktischer Freiheit Juni 2015, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3089-3
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Edition Moderne Postmoderne Nicola Condoleo Vom Imaginären zur Autonomie Grundlagen der politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis
Filipe Campello Die Natur der Sittlichkeit Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel
November 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3189-0
März 2015, 234 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2666-7
Daniel Martin Feige, Judith Siegmund (Hg.) Kunst und Handlung Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven Oktober 2015, 262 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2796-1
Sebastian Bandelin Anerkennen als Erfahrungsprozess Überlegungen zu einer pragmatistisch-kritischen Theorie
Ferdinand Auhser Die Macht der Form Versuch einer dynamischen Ontologie Februar 2015, 292 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2998-9
Angelo Maiolino Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus Eine Hegemonieanalyse 2014, 448 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2760-2
Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Ethik – wozu und wie weiter?
Steffi Hobuß, Nicola Tams (Hg.) Lassen und Tun Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken
April 2015, 236 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2916-3
2014, 264 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2475-5
Marc Rölli (Hg.) Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik
Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic, Joost van Loon (Hg.) Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften
Mai 2015, 332 Seiten, kart., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-3131-9
März 2015, 232 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2956-9
Martin Eichler Von der Vernunft zum Wert Die Grundlagen der ökonomischen Theorie von Karl Marx März 2015, 216 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2803-6
2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2644-5
Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel 2014, 216 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-1069-7
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