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German Pages 228 [230] Year 2009
Georg Römpp Der Geist des Westens
Georg Römpp
Der Geist des Westens Eine Geschichte vom Guten und Bösen
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandabbildung: Odilon Redon, „Die goldene Zelle / Das blaue Profil“, Gemälde von 1892, British Museum; © akg-images
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ISBN 978-3-534-23033-4
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Das göttliche und das menschliche Gute . . . . . . . . . . . . 2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen . . . . . . 2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen . . . . .
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3.
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1.
Kultur und Geist des Westens
Das Gute und sein philosophischer Anfang . . . . . . . . . 3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon) . . . . . . . . . 3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles) . . . . . . 3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen . . . . . . . . 4.1 Die Lust und das Gute (Epikur) . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Freiheit im Guten (Stoa) . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens . . .
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6. Das Gute im Menschen und in der Welt . . . . . . . . . . . 6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant) . . . . . . . . . . . 6.2 Der Staat und das Gute (Hegel) . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
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Das kalkulierte und das natürliche Gute . . . . . . 5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus) . . . . 5.2 Der Sinn für das Gute (Moral-Sense-Ethik) . . . 5.3 Der Nutzen des Guten und der Geist des Westens
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Das Gute und der Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche) . . 7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik) 7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens .
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Inhaltsverzeichnis
8. Der andere Mensch und das Gute . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas) . . . . . . . 8.2 Das Gute im Angesicht des Anderen (Levinas) . . . . . . . 8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens .
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9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
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1. Kultur und Geist des Westens Der Westen als Kultur und Wertsystem? Viele Jahrhunderte lang konnte sich der Westen als die allein maßgebliche Kultur verstehen. In der Bedeutung von ‚Hochkultur‘ galt schon der Begriff der Kultur als eine Auszeichnung des Abendlandes, und deren Fehlen bei anderen Völkern und in anderen Kontinenten wurde als Beweis für die Überlegenheit Europas genommen. Aber auch wenn der Begriff der Kultur anders gebraucht wurde und eine bestimmte Einheitlichkeit von Formen des Lebens und des Zusammenlebens bezeichnete, so wurden die anderen Kulturen doch in der Regel als mindere Formen der eigenen Lebensweise aufgefasst. Eine Anerkennung als ‚Hochkultur‘ fanden allenfalls noch die arabische Welt sowie die chinesische und japanische Kultur. Die Beschäftigung oder gar die Auseinandersetzung mit diesen ‚fremden Kulturen‘ war jedoch ein weitgehend folgenloser Randbereich des europäischen Denkens und fand in erster Linie im engeren Bereich der Kultur als Kunst und Wissenschaft statt. Die außereuropäischen Kulturen erforderten auch keine besondere Aufmerksamkeit. Die Kontakte blieben auf Randbereiche beschränkt. Dass jene Kulturen das Selbstverständnis des Abendlandes in Frage stellen könnten, war kein vorstellbarer Gedanke. Diese Situation hat sich inzwischen fundamental verändert. Dies hängt auch mit der Ausweitung des Kulturbegriffes durch verschiedene Geistesund Sozialwissenschaften zusammen. Aber wirkungsmächtiger ist die in wenigen Jahrzehnten vollzogene Globalisierung unserer Welt geworden. Globalisierung ist nicht nur ein ökonomischer Vorgang, der auf der politischen Ebene zu einer Herausforderung für die Steuerungsmöglichkeiten des Nationalstaates und die demokratische Selbstbestimmungsfähigkeit der westlichen Länder geworden ist. Globalisierung ist auch der Vorgang, in dem die europäisch-amerikanische Welt das Bewusstsein ihres Alleinvertretungsanspruches als Weltkultur verlieren musste. Diese Entwicklung verlief im Vergleich zu den Zeiträumen, die Jahrhunderte lang fundamentale geschichtliche Ereignisse benötigten, mit einer solchen Geschwindigkeit, dass die Verarbeitung der Folgen für unser Selbstverständnis und für unser Selbstbild gerade erst begonnen hat. In vielen Bereichen wurde überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen, was es bedeutet, dass eine Kultur, die 7
1. Kultur und Geist des Westens
sich in einer langen Abfolge von Generationen als die Kultur verstehen konnte, nun damit fertig werden muss, sich selbst nur noch als eine Kultur unter anderen mit gleichen Rechten auffassen zu können. Je stärker sich ein Funktionsbereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch technische Rationalität definieren kann und sich instrumentellen Handlungszwängen ausgesetzt sieht, desto einfacher ist eine solche Umstellung zu bewältigen. Die Ökonomie kann sich an den veränderten Bedingungen der Kapitalverwertung orientieren und sich auf solche notwendigen Umstellungen im Selbstverständnis beschränken, die sich auf die Prozesse der Produktion und Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen beziehen. Internationales Marketing erfordert zwar neue Fähigkeiten auf dem Gebiet der kulturellen Kompetenz, aber diese Veränderungen sind durch die Bedingungen des Markterfolgs vorgegeben und deshalb in ihrem Umfang beschränkt. In vielen Bereichen der staatlichen Politik gilt Ähnliches. Handlungsbereiche wie Wirtschafts- und Außenpolitik können sich darauf beschränken, ihre Kompetenzen um geopolitische Perspektiven und Kenntnisse zu erweitern. Auch dort, wo sich globale Herausforderungen im innerstaatlichen Bereich in veränderte Bedingungen des Wirtschaftens umsetzen, kann sich die instrumentelle Vernunft an vorgegebene Reaktionsverläufe halten, die sich nicht prinzipiell von denen unterscheiden, die durch intern erzeugte Problemlagen erfordert werden. Die Handlungsmöglichkeiten der Angebotsund/oder Nachfragepolitik sind prinzipiell die gleichen, ob es sich um endogene Strukturprobleme oder exogene Folgen der Globalisierung handelt. Das Selbstverständnis des Westens gerät jedoch dort in Probleme, wo die technische Rationalität nicht ausreicht, um Handlungsmöglichkeiten vorzugeben und zweckmäßig unter ihnen zu wählen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich Alternativen überhaupt nicht daraus ableiten lassen, dass geeignete Mittel für gegebene Zwecke gesucht werden, sondern die Bestimmung der Zwecke selbst eng mit dem Selbstverständnis des Westens verflochten ist und entsprechend durch dessen Veränderungen beeinflusst wird. Mit den Folgen der ökonomischen und politischen Globalisierung konnte Deutschland sehr schnell und sehr effizient umgehen. Die Folgen der Migration aus anderen – nicht-westlichen – Kulturen dagegen sind bisher noch kaum verstanden. Deshalb reagiert die Politik so hilflos bemüht mit dem Repertoire ökonomischer und ordnungspolitischer Eingriffe, wenn einzelne Folgeprobleme von der politischen Öffentlichkeit nicht mehr länger ignoriert werden können. Aus dem gleichen Grund dauerte es so lange, bis das Problem der Migration endlich als kulturelles Problem zum Thema einer Auseinandersetzung werden konnte, die allerdings immer noch unangemessen verengt geführt wird. 8
1. Kultur und Geist des Westens
In dieser Situation sind zwei Leitbegriffe für die Diskussion bestimmend geworden, die in einem engen Zusammenhang stehen. Die Veränderungen im Selbstverständnis des Westens in einer globalisierten Welt werden als Herausforderungen an eine ‚Kultur‘ des Westens verstanden, die sich durch ‚Werte‘ definiert. Die Aufgabe wird dann darin gesehen, diese Kultur zu verteidigen, indem man ihre Werte rekonstruiert und rechtfertigt. Der Begriff der Werte weist in dieser Perspektive darauf hin, dass eine Kultur nicht nur aus einem Zusammenhang solcher Vorstellungen besteht, mit denen Menschen gemeinsam ihr Leben in der Welt verstehen, sondern auch aus gemeinsamen Handlungsorientierungen. Die Identität in einer Kultur ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine ‚praktische‘, d. h. sie bezieht sich auf ein Handeln, das durch technische Mittel-Ziel-Beziehungen allein nicht ausreichend bestimmt werden kann. Man könnte als Kultur also eine bestimmte Disposition zum Handeln verstehen, die sich von anderen Dispositionen unterscheidet, wenn sich beide auf vergleichbare Situationen beziehen. Wenn auf die westliche Kultur Bezug genommen wird, so dient der Begriff der ‚Werte‘ in der Regel dazu, in der politischen Diskussion anwendbare Konzepte zu finden, die diese Kultur konkretisieren. ‚Kultur‘ wird dann als ein Sinnsystem aufgefasst, das konkrete und formulierbare Bedeutungen und Bewertungen enthält. ‚Werte‘ sind die Grundlagen solcher Handlungsweisen und Verhaltenstendenzen, durch die sich eine Kultur von einer anderen unterscheidet. Sie können in Institutionen gelernt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Deshalb bieten sie eine gemeinsame Verständigungsgrundlage, auf die die Mitglieder einer Kultur verpflichtet werden können. Bei Menschen, die gleiche Werte haben, können wir uns relativ sicher darauf verlassen, dass sie im Normalfall wissen, was ‚man‘ tut. Auf diese Weise bilden sie das Gerüst für eine Identität, durch die sich die Angehörigen einer Kultur dadurch erkennen können, dass sie sich selbst und andere nach ähnlichen Mustern beschreiben und interpretieren.
Zweifel Durch die Konzentration auf die Begriffe der ‚Kultur‘ und der ‚Werte‘ wird die Welt, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden in Europa und von Europa ausgehend in Amerika entstanden ist, nur in der Verzerrung einer Karikatur erkennbar. Der Begriff der Kultur kann unter Umständen noch so erweitert und umformuliert werden, dass er zur Bestimmung des Besonderen des Westens herangezogen werden kann. Der Begriff der Werte 9
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dagegen ist prinzipiell nicht geeignet, die Identität des Westens zum Ausdruck zu bringen. Er kann auch nicht zur Selbstbehauptung des Westens gegen andere Kulturen und Welten beitragen. Er ist darüber hinaus nicht in der Lage, eine Politik anzuleiten und zu begründen, die nicht nur mit neuen Herausforderungen von außen umgehen können muss, sondern auch mit noch kaum verstandenen Veränderungen im Inneren eines Landes, das mehr und mehr durch Migranten aus anderen Kulturen und Denkwelten geprägt sein wird. Die Begriffe der Kultur und der Werte sind gleichzeitig zu allgemein bzw. abstrakt und zu konkret, um das Besondere der Welt des Westens ausdrücken zu können. Sie sind zu allgemein, weil sie sich auf Gedanken und Dispositionen beziehen, die alles oder nichts bedeuten können. ‚Demokratie‘, ‚Toleranz‘, ‚Solidarität‘ und der ‚Wert des Individuums‘ sind Propagandabegriffe, die von allen totalitären Regimen verwendet werden, die Andersdenkende verfolgen, sozialen Ausgleich als Werk des Teufels ablehnen und den einzelnen Menschen nur als Rad im Getriebe des Apparates wahrnehmen wollen. Mit solchen Werten ist nicht nur kein Staat mehr zu machen, der in die Welt des Westens passen könnte. Sie reichen auch nicht aus, um das Besondere dieser Welt auf Begriffe bringen zu können. Wir werden in den folgenden Erörterungen jedoch darüber hinaus die Frage stellen, ob das, was den Westen ausmacht, überhaupt sinnvoll auf einzelne bestimmte Begriffe gebracht werden kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt sind die Begriffe der Kultur und der Werte zu allgemein und zu abstrakt. Diese Begriffe sind jedoch gleichzeitig zu konkret, um das Besondere des Westens umschreiben zu können. Das Phänomen, das wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können, wird damit so radikal vereinfacht verstanden, dass es nur noch als Karikatur erscheinen kann. Der Westen besteht nicht aus einem gegebenen Set von Bedeutungen und Bewertungen, er besteht auch nicht aus einem Werkzeugkasten von Interpretationsanleitungen. Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind also zunächst deshalb zu konkret, weil sie den Westen auf einem zu niedrigen Niveau auffassen. Der Westen wird damit gewissermaßen auf Grundschulniveau bestimmt. Eine so einfach strukturierte Weltsicht ist nicht fähig, eine Selbstverständigung und Selbstbesinnung zu ermöglichen, die Grundlage einer Selbstbehauptung des Westens sein könnte. Auf diesem Niveau geschieht eine Implosion dessen, was wir als ‚Westen‘ bezeichnen können, und übrig bleiben einfache und tote Begriffe, mit denen allenfalls noch parteipolitische Kämpfe ausgefochten werden können. Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind darüber hinaus deshalb zu kon10
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kret, weil mit ihnen eine geschichtliche Kurzsichtigkeit und ein geistesgeschichtlicher Gedächtnisverlust verbunden sind, die den Westen auf letztlich zwei Jahrhunderte gedanklicher und politischer Entwicklungen reduzieren. Was wir ‚den Westen‘ nennen dürfen, reicht jedoch viel länger zurück und kommt aus weiterer Vergangenheit. Der Westen beginnt mit der jüdischen Erzählung von der Erschaffung der Welt, er beginnt mit dem Entstehen eines autonomen Denkens in den griechischen Stadtstaaten, und er beginnt mit der christlichen Erzählung von der Menschwerdung Gottes. Entwicklungen wie die Aufklärung und deren politische Folgeerscheinung in der Französischen Revolution bleiben vollkommen unverstanden, wenn diese Geschichte nicht berücksichtigt wird. Die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Werte‘ sind schließlich deshalb zu konkret, weil damit die umfassendere Dimension ausgeblendet wird, die erst den Westen als eine bestimmte Welt in der Entwicklung der Menschheit erkennbar werden lässt. Es wird die Dimension ausgeblendet, die erst verstehen lässt, welcher Stellenwert Interpretationen und Handlungsdispositionen, Bedeutungen und Werten für die Bestimmung einer Welt zukommt, von der als von ‚dem Westen‘ gesprochen werden kann. Solche Begriffe setzen immer schon zu viel voraus. Wer sie verwendet, nimmt an, dass die Kriterien für die Bestimmung einer Kultur unabhängig von dieser Kultur in der Welt vorhanden sind wie Steine oder Bäume. Von ‚Kulturen‘ und von ‚Werten‘ zu reden ist aber ein voraussetzungsvolles Unternehmen, das gerade und nur in der Welt des Westens möglich geworden ist. Die Rede von ‚Kultur‘ und ‚Werten‘ ist also auch deshalb zu konkret, weil mit ihr gerade die Reflexion auf die Voraussetzungen eines Denkens ausgeblendet wird, die für die westliche Welt von so fundamentaler Bedeutung ist. Wer den Westen mit jenen Begriffen verstehen will, konzentriert sich auf einen schmalen, verengten, abstrakten und reflexionsarmen Gedanken, der selbst nur auf der Grundlage der umfassenden Welt des Westens entstehen konnte. Die Welt, aus der diese Begriffe kamen, kann aber selbst nicht mit solchen Begriffen verstanden werden, die sie zu bestimmten Zwecken und deshalb mit geringer Reichweite entwickelt hat. Die westliche Welt hat sich entschlossen, mit solchen Begriffen bestimmte Phänomene zu verstehen, um sie innerhalb dieser Welt ordnen und in gedankliche Fächer sortieren zu können. Das Ordnungs- und Verständnisprinzip dieser Einteilung in Fächer selbst kann damit nicht zum Verständnis kommen.
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1. Kultur und Geist des Westens
Der ‚Geist‘ des Westens Es muss deshalb ein besserer Begriff für die Identität des Westens gefunden werden, die ihn prägt und leitet, und durch den das, was den Westen ausmacht, sich von anderen Identitäten unterscheiden und abgrenzen lässt. Ein solcher Begriff darf vor allem nicht die Geschichte der langen Entwicklung abblenden, in der die komplexe Identität geworden ist, die wir heute als ‚Westen‘ bezeichnen können. Er darf auch nicht die vielen Widersprüche überdecken, die diese Geschichte geprägt haben. Es würde zu einem ungenügenden Verständnis führen, wenn der Westen als ein zu einheitliches Phänomen aufzufassen versucht wird. Dieser Begriff muss es erlauben, eine Identität in Widersprüchen und im Zusammenhang komplexer Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Das Phänomen, das wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können, ist zu komplex, als dass es durch ein einheitliches und begrifflich klar abgrenzbares Prinzip bestimmt werden könnte, aus dem sich die einzelnen Elemente auf eine einheitliche Weise ableiten ließen. Es bietet sich deshalb an, statt von der ‚Kultur‘ oder den ‚Werten‘ des Westens vom ‚Geist des Westens‘ zu sprechen. Der Ausdruck ‚Geist‘ hat sich in der deutschen Sprache für das eingebürgert, was am Beginn des abendländischen Denkens ‚pneuma‘ hieß und dann als ‚spiritus‘ ins Lateinische übersetzt wurde. Die romanischen Sprachen haben dieses Wort abgewandelt beibehalten, und im Englischen entspricht der Ausdruck ‚spirit‘ ziemlich gut dem, was in unserem Zusammenhang mit ‚Geist‘ gemeint ist. Ursprünglich war damit der Hauch bzw. der Atem benannt worden, was bald übertragen wurde auf das ‚Lebensprinzip‘ oder auch die immaterielle ‚Seele‘. Wir sehen für unsere Erörterungen jedoch von der philosophischen Begriffsgeschichte ab und verwenden den Ausdruck in dem Sinn, in dem er in den europäischen Sprachen geläufig wurde. Darin ist die ursprüngliche Bedeutung gut bewahrt. Der Geist ist der ‚belebende Atem‘ oder der ‚Lebensodem‘, man könnte auch sagen: die ‚Seele‘ eines komplexen Zusammenhangs. Es geht dabei also nicht um die Details, sondern um die gedankliche ‚Seele‘, die viele und sogar disparate Gedanken zusammenhalten und am Leben erhalten kann. Wenn wir vom ‚Geist des Westens‘ sprechen, dann in dem Sinn, in dem wir den Ausdruck in Wendungen wie ‚der Geist eines Volkes‘ oder ‚der Geist der Gesetze‘ verwenden. Gemeint ist dann der ‚Sinn‘, der die einzelnen Regeln der Gesetze prägt und ohne den sie zu toten Buchstaben werden, die schematisch eingesetzt werden, und, wenn nur auf ihren Wortlaut geachtet wird, geradezu zu Entscheidungen führen können, die ihrem Sinn widersprechen. Der Geist eines literarischen Kunstwerks ist dasjenige, woran 12
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sich der Übersetzer halten kann, wenn er vor der Frage steht, wie einzelne Ausdrücke und Sätze in eine andere Sprache übertragen werden sollen. Wir könnten sogar an den Begriff der ‚Lebensgeister‘ denken, der ursprünglich aus der griechischen Medizin stammt und eine Übersetzung von Ciceros ‚spiritus vitales‘ darstellt. Der hier gemeinte Geist ist nicht passiv, sondern dasjenige, was das Leben in einem komplexen Zusammenhang erhält. Wenn der Geist des Westens verdeutlicht werden kann, dann lässt sich auch genauer erkennen, unter welchen Umständen man davon sprechen könnte, dass der Westen ‚seinen Geist aufgibt‘, also sein Lebensprinzip verliert und ohne belebendes Wesen zu einem ‚Zombie‘ wird – zu etwas nur noch scheinbar Lebendigem, aber eigentlich doch ‚Untotem‘. Dazu kann eine Bedeutung beitragen, die in ‚Geist‘ auch enthalten ist, nämlich ‚Gesinnung‘ oder ‚Einstellung‘. Der Geist des Westens ist auch eine bestimmte Tendenz, wie man die Fragen des Lebens und die Probleme mit der Welt angeht und sich ihnen stellt. Solange der Geist des Westens im Sinne einer ‚Lebenseinstellung‘, die ein Verhalten zum Leben und aus dem Leben bedeutet, erhalten ist, solange wird dieser Geist lebendig sein. Man könnte hier auch an ein Bedeutungselement denken, das im englischen ‚spirit‘ noch lebendig ist, nämlich ‚Mut‘ oder ‚Elan‘. Schließlich bedeutet ‚spirit‘ auch die ‚richtige‘ Stimmung und Einstellung, die von der Situation gefordert ist, wie etwa in ‚that’s the spirit!‘ Der Geist als das, was eigentlich lebendig macht und über die Buchstaben und die Details hinaus den Sinn einer Sache darstellt, wurde bereits am Beginn des abendländischen Denkens jedoch nicht nur generell als eine ‚Stimmung‘ und ‚Einstellung‘ aufgefasst. Der Begriff des Geistes stand in enger Verwandtschaft zu Verstand und Vernunft. Der griechische Ausdruck für Vernunft bzw. Verstand (‚nous‘) wurde oft gerade mit ‚Geist‘ übersetzt. Dies führte schließlich bei Descartes dazu, von ‚Geist‘ im Singular zu sprechen und als ‚einen Geist‘ ein ‚Ding‘ anzusprechen, das denkt, mit anderen Worten: ‚ein Geist‘ war nun der vernunftbegabte Mensch. Diese Bedeutung ist heute noch lebendig, wenn wir einen Menschen etwa als ‚geistvoll‘ oder ‚geistreich‘ bezeichnen. In diesem Sinne ist im Begriff des Geistes stets auch die schöpferische Intelligenz enthalten. Geist erscheint hier als ergänzender Begriff zu ‚Materie‘. Diese Bedeutung findet sich etwa auch in der christlichen Vorstellung von einem ‚heiligen Geist‘ als dritter Person der Gottheit. Damit sind zwei Momente im Begriff des Geistes deutlich geworden, die ihn geeignet erscheinen lassen, um mit seiner Hilfe das Phänomen ‚der Westen‘ über seine geographische Bedeutung hinaus besser verstehen zu können, als dies unter den Titeln der ‚Kultur‘ oder der ‚Werte‘ gelingen könnte. Der ‚Geist‘ ist eine Stimmung oder Einstellung, die den Sinn einer Sache über den 13
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toten Buchstaben hinaus lebendig macht. Damit gewinnt diese Sache ein Leben, das aus Mut und Elan die richtige Einstellung erschafft. Der ‚Geist‘ ist aber all dies gerade deshalb, weil er ebenso Verstand und Vernunft in sich enthält. Wir können nur schwer und nur in übertragenem Sinn von einem Geist sprechen, der ein Bienenvolk oder eine Vogelschar erfüllt. Den Sinn gewinnt eine Sache nicht durch ihre materielle Struktur, sondern durch das Denken, das sie begreift. Ihr Geist ist sozusagen stets über sie hinausgegangen, um über diesen Umweg zu ihr zurückzukehren. Darin findet sie ihren Begriff, der sie zu einer verstehbaren und denkbaren Sache macht.
Der Geist und die Geister Wir haben oben schon auf Descartes und seine Bestimmung des Menschen als ‚Geist‘ im Sinne eines denkenden Wesens hingewiesen. Wenn wir vom ‚Geist des Westens‘ sprechen, so scheinen auf den ersten Blick darin aber keine Individuen vorzukommen. Das ist jedoch ein Missverständnis, das nur geschehen kann, wenn wir den Geist als ‚Substanz‘ auffassen, die ein Eigenleben in einer Welt reiner Ideen führt. Aber der Geist ist nichts ohne die Menschen, die ihn erzeugen, formen und stets neu gestalten. Das kann jedoch andererseits nicht heißen, dass der Geist von den Entscheidungen einzelner Menschen abhängt, von denen er planvoll und gezielt hergestellt wird, wie man eine Ware oder eine Dienstleistung für den Markt produziert. Aber auch die umgekehrte Vorstellung entspricht nicht dem, was unter ‚Geist‘ verstanden werden sollte. Es ist keineswegs so, dass der Geist der Produzent ist, der sich in den denkenden Menschen nur darstellt und bestimmt, wie er erscheinen will und soll. Beide Vorstellungen folgen dem Schema eines Dualismus von Subjekt und Objekt. Danach gibt es entweder eine quasi-objektive geistige Welt, die sich in den Köpfen denkender Menschen widerspiegelt, oder es gibt nur Subjekte, die die geistige Welt aus der Tiefe ihres Inneren heraus erschaffen, ohne auf etwas anderes Bezug zu nehmen als ihre individuelle Genialität. Beide Vorstellungen haben mit der Wirklichkeit der Entwicklung des Geistes wenig zu tun. Der Geist in der oben skizzierten Bedeutung entwickelt sich nicht in der Form eines solchen Dualismus, sondern als eine ‚Dualität‘, d. h. in einem Prozess, in dem subjektive und objektive Faktoren so ineinander greifen, dass sie letztlich nur gewaltsam getrennt werden können. Es gibt im Geist weder eine feste und bleibende Struktur noch die Produkte einzelner großer Geister, die die Elemente, durch die sich der Geist des Westens auszeichnet, durch ihre Einfälle in die Welt bringen. 14
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Man könnte auch in Bezug auf den Geist des Westens deshalb von einem Prozess der ‚Strukturierung‘ sprechen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Strukturen des Geistes ebenso durch das Denken von Menschen erzeugt werden, wie dieses Denken durch die Strukturen des Geistes bestimmt wird. Wenn wir nur die eine Seite sehen, so nehmen wir eine Abstraktion vor, die in manchen Fällen hilfreich sein kann, die aber zum Verständnis des Entwicklungsprozesses im Geist des Westens nur wenig beitragen kann. Der einzelne Denker nimmt das auf, was er in den geistigen Strukturen vorfindet und setzt sich damit kritisch auseinander. Indem er das tut, wird er abhängig von dem, was er kritisiert. Hegel hat hier von ‚bestimmter Negation‘ gesprochen, womit gemeint ist, dass wir nie abstrakt einfach kritisieren, sondern stets etwas Bestimmtes kritisieren. Das Ergebnis dieser Kritik bleibt deshalb von den bestimmten Gedanken abhängig, in deren Kritik gerade dieses Ergebnis erreicht wurde. Damit ist nicht gesagt, dass der einzelne Denker keine individuelle und kreative Leistung vollbringt. Auch der Weg des Geistes des Westens ist durch viele geniale Einfälle und schöpferische Entwürfe bestimmt. Die Genialität und die kreative Kraft wären jedoch ins Leere gelaufen, hätten sie nicht Widerstände vorgefunden, an denen sie arbeiten und so das Neue bilden hätten können. Deshalb bleibt das Neue aber auch durch eben diese Widerstände bestimmt. Wären die kritisierten Gedanken und Vorstellungen anders gewesen, so wäre im Durchgang durch die Kritik ein anderes Neues entstanden, ohne dass die Individualität und Kreativität des einzelnen Denkers eine andere hätte sein müssen. Im Grunde wird damit nur der ganz einfache Sachverhalt beschrieben, dass kein Denker ohne den vorgefundenen Geist seiner Zeit hätte denken können. Er hätte diesen Geist auch nicht weiterentwickeln können, wäre er nur auf die Vorstellungswelt seines Inneren angewiesen gewesen. Niemand hätte ihm in diesem Fall zugehört. Die Voraussetzung für die Bedeutung eines Denkers ist es, dass er seine neuen Ideen an den gegebenen Entwicklungsstand des Geistes anschließen kann. Dies kann in der Form schärfster Kritik geschehen. Auch Kritik ist eine Form, sich an das geltende Denken anzuschließen. Die größten Geister schließen sich am stärksten an den Geist an, den sie kritisieren. Dies hängt damit zusammen, dass sie am tiefsten mit diesem Geist vertraut geworden sind und ihn deshalb in seinem Zentrum angreifen können. Gerade weil sie ihn dort auffassen, wo er am ‚dichtesten‘ ist, können sie wirkungsmächtige neue Ideen entwickeln, die den Geist verändern, weil ihre Urheber ihn auf seiner eigenen Höhe kritisieren konnten. Sie können ihn aber nur deshalb verändern, weil sie sich durch ihn verändern ließen. Hätten sie auf ihrer Individualität beharrt und sich nicht in eine Entspre15
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chung zu dem gebracht, was im Geist des Westens galt, wären sie nicht in der Lage gewesen, ihn zu verändern. Nur weil sie sich an ihn angepasst hatten, waren sie in der Lage, ihn in einem mehr oder weniger großen Ausmaß an sich anzupassen. Das Beharren auf einer abgeschlossenen Subjektivität ist nicht der Weg des Geistes des Westens. Aber dieser Geist existiert auch nicht in einer Welt für sich, sondern nur in der Welt der ‚Geister‘, die sich ihm anpassen, um ihn an sich anzupassen und auf diese Weise zu verändern. Subjektivismus wie Objektivismus sind keine Begriffe, die den Entwicklungsprozess des Geistes des Westens beschreiben könnten. Deshalb können wir den Geist des Westens am besten und am deutlichsten erkennen, indem wir die Auseinandersetzung großer Geister mit diesem Geist rekonstruieren. In deren gedanklichen Entwürfen hat sich nicht nur ihre Individualität zum Ausdruck gebracht. Ebenso hat sich dieser Geist darin mit eben diesen Geistern auseinandergesetzt, die ihn kritisiert und verändert haben. Nur deshalb konnten sie darin auch ihre individuelle Kreativität zur Geltung bringen. Die Gedankengänge der großen Denker zeigen die Anschlussstellen, an denen sie ihre Ideen in eine Auseinandersetzung mit dem Geist des Westens bringen konnten. Im Grunde ist dies die einzige Darstellungsmöglichkeit des Geistes des Westens, die ihn in seiner Entwicklung und inneren Lebendigkeit zeigt. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass der Geist des Westens keine Zusammenstellung einfacher Begriffe ist. Er ist auch kein System, in dem sich alle Elemente nach einem einheitlichen Prinzip aufeinander beziehen ließen. Er ist die Geschichte seines Werdens, in der die großen Geister sich an ihn angepasst haben, um ihn kritisieren, verändern und weiterentwickeln zu können. Die folgende Untersuchung über den Geist des Westens wird deshalb zwölf Positionen aus der Geschichte des philosophischen Denkens über das Gute und das Böse, über das gute Leben und das richtige Handeln, also über das, was wir tun und lassen sollen, daraufhin untersuchen, wie sie den Geist des Westens bestimmt haben. Es wird nun nicht mehr das Missverständnis möglich sein, damit werde behauptet, diese zwölf Denker hätten den Geist des Westens geschaffen. Die Behauptung lautet auch nicht, dieser Geist habe im Sinne eines Subjekts sich diese gedanklichen Konzeptionen erschaffen, um sich in ihnen darstellen zu können. Er hat sich in diesen Gedankengängen entwickeln können, weil diese sich an ihn angeschlossen hatten, um ihn gestalten und verändern zu können. Auf diese Weise wird deutlich, woran sie sich jeweils angeschlossen haben. Dieses Verständnis der Entwicklung des Geistes des Westens bietet eine einzigartige Möglichkeit, ihn so zu verdeutlichen, dass er nicht weit unter seinem Niveau verstanden werden muss. Jedes Unternehmen, den Geist des Westens zu verdeutlichen, stellt selbst 16
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einen Anschluss an diesen Geist dar. Er kommt darin nur zum Ausdruck, wenn es ihm auf der entsprechenden Höhe begegnet. Deshalb werden die zwölf philosophischen Positionen, aus denen dieser Geist deutlich werden kann, im Folgenden nur so weit vereinfacht dargestellt, wie es für ein angemessenes Verständnis noch gestattet erscheint. Es wurde darauf verzichtet, sie auf Schlagworte zu reduzieren. Der Geist des Westens lebt nicht aus ‚schlagenden Worten‘, sondern aus subtilen Gedankengängen und Auseinandersetzungen, die nachvollzogen werden müssen, um die Höhe und die Besonderheit dieses Geistes verdeutlichen zu können. Die für diese Verdeutlichung herangezogenen zwölf Denker sind nicht als Mitglieder einer Jury im angelsächsischen Strafprozess zu verstehen, die nur einstimmig zu einer Entscheidung kommen kann. Der Geist ist nicht in der Einheit einer Stimme, sondern in der Vielheit der Stimmen, die ihn bestimmen. Deshalb werden zwölf sehr verschiedene Denker herangezogen. Sie haben im Grunde nur zweierlei gemeinsam: es sind die wichtigsten Philosophen des Abendlandes, was die Frage nach der Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse betrifft, und sie haben den Geist des Westens an zentraler Stelle mitgeformt. Er konnte in ihnen je verschieden und in einem bestimmten Moment zur Darstellung kommen, weil sie ihn auf seiner jeweiligen Höhe aufgenommen und kritisch untersucht haben. Deshalb konnten sie ihn verändern, indem sie ein wichtiges Moment verstärkten oder ihm eine neue Bedeutung verschafften. Der ‚Westen‘ ist kein einzelner Gedanke, sondern ein Gedankenzusammenhang – ein sehr komplexer Zusammenhang verschiedener Gedanken. Diese sind nicht immer einheitlich, dennoch bilden sie einen Zusammenhang, den wir als ‚den Westen‘ bezeichnen können. Damit soll nicht behauptet werden, die dargestellten Denker hätten einen vorhandenen Geist nur unter bestimmten Perspektiven betrachtet, indem sie sich auf bestimmte Ausschnitte konzentrierten. Sie haben den Geist des Westens auch geschaffen – um den Preis, dass er sie als Denker erschaffen konnte. Wir könnten dieses Verhältnis auch paradox so formulieren: sie haben ihn nachträglich so geschaffen, wie er schon immer war. Nachdem sie sich mit ihm auseinandergesetzt hatten, war er nicht mehr der Gleiche. Aber gleichzeitig war die Bedingung für ihre Wirkung, dass sie etwas in ihm gefunden hatten, was schon immer galt, obwohl wir eben dies gerade erst im Durchgang durch diese Denker erkennen können. Wir könnten auch sagen: sie hatten etwas in diesem Geist erfunden. Wir könnten aber auch sagen: nach den Gedankengängen dieser Geister war der Geist des Westens für die nach ihnen Kommenden schon vorher ein anderer als für die denkenden Menschen, die vor ihnen gelebt hatten. Auch die Auffassung 17
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vom Geist des Westens verändert sich mit der Entwicklung dieses Geistes. Damit zeigt sich auch auf der Ebene unserer Wahrnehmung dieses Geistes, dass er weder im Sinne eines Subjektivismus noch eines Objektivismus aufgefasst werden kann. Der Geist des Westens stellt sich in den Geistern dar, die ihn auf seiner Höhe auffassen konnten, weil es ihnen gelungen war, sich in ihm darzustellen.
Der Geist des Westens und die Geschichte vom Guten und Bösen Am Beginn der Geschichte des abendländischen Denkens findet sich eine Unterscheidung, die bis heute die Einteilung unseres Wissens prägt. Das Wissen ist zum einen ‚Theorie‘, d. h. ursprünglich ‚Schau‘, ‚Betrachten‘. Es geht hier um das richtige Erkennen in einem Wissen, das Ausschnitte der Welt so beschreibt, dass daraus ein zusammenhängender Bestand von Kenntnissen entsteht, den wir dann als ‚eine Theorie‘ bezeichnen können. Theorien können uns jedoch nicht nur zu einer besseren Erkenntnis der Welt, in der wir leben, verhelfen. Mit ihrer Hilfe können wir auch die Welt so verändern, dass sie unseren Zwecken besser entspricht, als dies von der Natur geplant war. Das theoretische Wissen ist damit die Grundlage für das technische Wissen als Kenntnis über die geeigneten Mittel, die wir für unsere Zwecke einsetzen können. Das Wissen ist zum anderen ‚praktisches Wissen‘. Damit wurde ursprünglich nicht das verstanden, was wir heute im Alltag so bezeichnen. Heute wird ein unmittelbar anwendbares Wissen so genannt, das uns nicht eine reine Erkenntnis gibt, sondern sich in konkreten Situationen einsetzen lässt. Dazu gehören auch Wissensformen, die nicht den Standards der Wissenschaften entsprechen, etwa das Erfahrungswissen eines Handwerkers, Lehrers oder Managers. Ursprünglich wurde als ‚Praxis‘ jedoch der Bereich des Lebens verstanden, in dem wir danach fragen, ob unser Handeln richtig ist in einem Sinn, der sich nicht auf technische Zusammenhänge bezieht. Es geht in diesem Lebensbereich nicht darum, dass wir für gegebene Ziele durch die Anwendung des theoretischen Wissens die geeigneten Mittel finden. Es geht vielmehr darum, dass wir unsere Ziele und Zwecke selbst bestimmen. Es geht also um die Frage, wann wir sagen können, dass unsere Ziele ‚gut‘ heißen können. Das Wissen, das die ‚praktische Philosophie‘ gewinnen wollte und will, bezieht sich auf die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, auf das richtige Handeln und das gute Leben, so dass wir wissen können, was wir tun und lassen sollen. Von ‚Sollen‘ ist hier also die Rede im 18
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moralischen Sinn, nicht in den anderen Bedeutungen, in denen wir auch sagen, man ‚sollte‘ dies oder jenes tun. Vor allem unterscheidet sich das Sollen der ‚Praxis‘ von dem Sollen in einem technischen Sinn. Wenn wir sagen ‚Wer eine Last anheben will, sollte die Hebelwirkung einsetzen‘, so geben wir einen Rat, mit dem wir keinen moralischen Anspruch verbinden; gemeint ist nur der Hinweis auf einen theoretischen Zusammenhang, der für technische Zwecke verwendet werden kann. Auch der Rat, man solle am Vormittag besser keinen Smoking tragen, bezieht sich nicht auf ein moralisches Sollen, obwohl er auch nicht auf einen technischen Zusammenhang hinweist. Der Bereich des praktischen Wissens umfasst die Kenntnis von dem, was wir in diesem besonderen – ‚moralischen‘ – Sinn als ‚gut‘ bezeichnen können. Bereits am Anfang des abendländischen Denkens galt dieses Wissen als ganz besonders erstrebenswert, mehr noch als das theoretische Wissen. Dies ging auf die Einsicht zurück, dass der Mensch in seinem Wesen stärker durch das bestimmt wird, was er über sein Sollen denkt, als durch seine Theorien über die Welt. Als besonders wichtig wurde das praktische Wissen also deshalb angesehen, weil mit dem Menschen die Freiheit in die Welt gekommen war. Die Frage nach dem, was wir im praktischen Sinne ‚sollen‘, weil es ‚gut‘ ist, kann nur unter der Voraussetzung der Freiheit gestellt werden. Wir könnten aber auch sagen: wenn wir uns als frei verstehen, dann müssen wir nach dem fragen, was wir ‚sollen‘, weil uns in diesem Fall die ‚Natur‘ nicht mehr sagt, was wir tun müssen. Mit dem Bewusstsein von der menschlichen Freiheit war auch die Frage nach der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen in die Welt gekommen, also zwischen dem, was wir tun sollen, und dem, was wir lassen müssen. Umgekehrt war diese Frage auch der Beweis für die Freiheit. Nur ein Wesen, dem die Natur nicht mehr alles vorschreibt, was es tun muss, kann eine solche Frage stellen. Das praktische Wissen ist also in einer ganz besonderen Weise mit der menschlichen Freiheit verbunden. Im theoretischen Wissen dagegen fragen wir gerade nach dem Notwendigen, also nach Naturzusammenhängen, die so verlaufen, dass wir Gesetze formulieren können, mit deren Hilfe wir dann Voraussagen darüber treffen können, wie sich die Natur in Zukunft verhalten wird. Wegen dieser Notwendigkeit – also Unfreiheit – in der Natur können wir solche Gesetze dann dafür einsetzen, die Natur nach unseren Zwecken und Zielen umzugestalten. Wenn wir berücksichtigen, dass das Streben nach theoretischem Wissen in den meisten Fällen – obwohl nicht notwendig immer – durch das Ziel geleitet wird, die physische Welt so zu beherrschen, dass wir sie durch Technik an unsere Wünsche anpassen können, so könnten wir sagen, dass das 19
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theoretische Wissen in einem großen Ausmaß von unseren Zielen und Zwecken geleitet wird. Dieses Wissen sollte nicht unseren Wunschvorstellungen entsprechen, sonst könnte es nicht als Grundlage für technische Erfindungen und Innovationen dienen. Aber der Bereich des theoretischen Wissens ist jenseits des engen Bezirks völlig zweckfreier Forschung um der bloßen Erkenntnis willen doch auch durch unsere Zielsetzungen umgrenzt. Darin zeigt sich eine gewisse Vorrangstellung desjenigen Wissens, das die Ziele und Zwecke selbst bestimmen soll, also des ‚praktischen Wissens‘ in dem genannten Sinn. Was wir tun sollen, wenn wir ‚gut‘ leben und richtig handeln wollen, bleibt nicht ohne Einfluss auf das, was wir theoretisch über die Gesetzlichkeiten der Natur wissen. Das Wissen von der Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist aber nicht nur dadurch ausgezeichnet, dass sich in ihm die menschliche Freiheit darstellt und dass es in weitem Ausmaß die Suche nach theoretischen Kenntnissen steuert. Das ‚praktische‘ Wissen bezieht sich auf zentrale Fragen der menschlichen Existenz. Dies gilt für das individuelle Leben ebenso wie für das Leben der Gemeinschaft. Seit Beginn des abendländischen Denkens geht es in diesem Bereich des Wissens um die Frage, wie wir leben sollen, wenn wir ein gutes und gelingendes Leben führen wollen. Die Suche nach Bedingungen eines guten Lebens stand nicht immer im Zentrum der praktischen Philosophie. Sie blieb aber immer der Hintergrund, vor dem die Verhandlungen in diesem Bereich des Wissens geführt wurden. Manche Positionen stellten jedoch gerade diese Suche in das Zentrum ihrer Bemühungen um ein praktisches Wissen. In anderen Konzeptionen stand die Frage nach dem richtigen Handeln in der Gemeinschaft der Menschen im Mittelpunkt. Solche Untersuchungen beginnen mit der Suche nach einem Sozialverhalten, das wir als ‚gut‘ und moralisch begründbar bezeichnen können, weil es nicht einfach durch die animalische Natur des Menschen bestimmt ist, sondern durch das, was ihn spezifisch als Menschen und als freies Wesen ausmacht. In größeren Gemeinschaften wird das Verhalten der Menschen zu einander in der Regel durch feste Normen geleitet, die in höher entwickelten Gesellschaften in der Form des Rechts gesetzt und durch den Staat durchgesetzt werden. Die Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, wenn wir ‚gut‘ und richtig leben wollen, wird dann zu einer Untersuchung darüber, wie die Normen des Zusammenlebens und die staatlichen Institutionen gestaltet sein sollen, damit ein gutes Leben in der Gemeinschaft möglich wird. Es gibt also mehrere gute Gründe dafür, dem praktischen Wissen einen Vorrang vor dem theoretischen Wissen einzuräumen. Schon deshalb wird es sinnvoll sein, die Suche nach dem, was den Geist des Westens ausmacht, auf 20
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den Bereich des praktischen Wissens zu konzentrieren, also auf die Wissensformen, die uns sagen, was wir tun und lassen sollen und wie wir ein gutes Leben führen. Wenn wir uns auf die leitende Frage nach dem Geist des Westens besinnen, so zeigt sich jedoch sofort noch ein weiterer Grund, gerade diese Form des Wissens für die Charakterisierung des Westens heranzuziehen. Das theoretische Wissen ist heute so universal geworden, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Welten und Kulturen so gut wie keine Rolle mehr spielen. Allerdings gilt dies nicht so radikal, wie es zunächst scheinen könnte. Die Rolle des theoretischen Wissens kann etwa in der Medizin in verschiedenen Kulturen sehr verschieden sein. Ein anderes Beispiel wäre die Auseinandersetzung zwischen Evolutionstheorie und Kreationismus in den USA. Der Streit darüber, ob sich das Leben auf der Erde durch Mutation und überlebensrelevante Selektion oder aber durch die Schöpfungstätigkeit Gottes entwickelt hat, bezieht sich im Grunde auf eine theoretische Frage. In den allermeisten theoretischen Fragen können wir jedoch keine Unterschiede zwischen dem Westen und anderen Welten und Kulturen feststellen. Damit hat das theoretische Wissen aber auch seine Fähigkeit verloren, die Identität des Westens bestimmen zu können. Wir könnten vielleicht feststellen, dass die westliche Weise der Begründung dieses Wissens in der Gegenwart ihren globalen Siegeszug vollendet hat, der keine anderen theoretischen Wissensformen als gültigen Erkenntniszugang zur materiellen Welt mehr möglich macht. Aber auch damit sagen wir, dass das theoretische Wissen keine Möglichkeiten bietet, sich der Identität des Westens zu vergewissern. Die entscheidenden Abgrenzungslinien sind nur auf ethischem Gebiet zu finden. Auch deshalb werden wir uns dem ‚praktischen Wissen‘ in dem genannten Sinn zuwenden müssen, um zu verdeutlichen, was den Geist des Westens heute ausmacht und wie er sich in seiner Geschichte entwickelt hat. Wir werden den Geist des Westens also nicht nach der Seite des theoretischen Wissens erkunden, sondern nach der Seite des Wissens um Gut und Böse. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass der Geist des Westens nicht losgelöst von den Geistern zu bestimmen ist, die ihn entwickelt haben, indem sie in seinem Entwicklungsprozess selbst zu kreativen Denkern werden konnten. Es wird sich also um die wichtigsten Positionen in der philosophischen Ethik handeln müssen, die zur Bestimmung des Geistes des Westens beigetragen haben, indem sie die Fragen nach dem guten Leben und der richtigen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen auf dem Niveau gestellt haben, das diesem Geist entsprach. Die Jury, die über die wichtigsten Perspektiven bestimmen soll, aus denen sich der Geist des Westens zeigt, besteht deshalb aus Denkern, die in der praktischen Philosophie entscheidende und maßgebende Positionen entwickelt haben. 21
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Das Christentum in der Geschichte vom Guten und Bösen Wenn die Frage nach dem Geist des Westens mit Hilfe einer Untersuchung über solche Positionen aus der philosophischen Ethik beantwortet wird, in denen am tiefsten über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nachgedacht wurde, so wird eine andere Seite weitgehend außer Acht gelassen, die für diese Unterscheidung von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Das Christentum war für den Geist des Westens zumindest von gleicher Bedeutung, wie es die Entwicklung des Denkens über Gut und Böse in den dargestellten gedanklichen Positionen war. Wenn man Freude an extremen Vereinfachungen hat, so könnte man den Geist des Westens sogar auf die einfache Formel ‚Christentum plus Philosophie‘ bringen. Wie in jedem geglückten Slogan, so steckt auch darin ein Fünkchen Wahrheit, auch wenn die einfache Addition die komplexe Struktur im Geist des Westens bei weitem unterbietet. Das Denken, das wir als charakteristisch für das Abendland ansehen können, war jedoch auch Religion, und es gab Epochen, in denen der Glaube des Christentums so im Vordergrund stand, dass jenes Denken, das seine Herkunft der Vernunft der Philosophie verdankt, kaum mehr zu erkennen war. Das Denken des Westens war nie nur Philosophie und reines Denken ohne Zusammenhang mit einer religiösen Verpflichtung. Auch die Zusammenhänge des Denkens, das sich ohne Bindung an vorgegebene Ausgangspunkte und Ziele rein aus sich selbst entwickeln wollte, waren in ihrem Innersten von einem Glauben geleitet, der selbst nicht reines Denken war, obwohl er beanspruchte, sich auch gegenüber dem Denken behaupten zu können. Aber ein Glaube, der sich auch durch seinen positiven Bezug auf das reine Denken definiert und sich damit der begründenden Vernunft öffnet, gerät in eine Verbindung zur Philosophie, von der er sich nicht mehr lösen kann. Er kann nicht ohne vernünftige Begründung und unangefochten als die Lehre auftreten, die von den Guten angenommen wird, während die Bösen sich durch ihre Abwendung von ihr zu erkennen geben. Deshalb ist der Geist des Westens auch in der extremen Vereinfachung nicht angemessen als eine ‚Addition‘ von Christentum und Philosophie aufzufassen. Der Geist des Westens ist ebenso das Ergebnis von Christentum gegen Philosophie und Philosophie gegen Christentum. Er ist gerade charakterisiert durch diese Auseinandersetzung. Auch diese Kritik verlief nach dem Muster einer ‚bestimmten Negation‘, d. h. das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen der Philosophie und dem Christentum ist nicht aus einer beliebigen Auseinandersetzung entstanden, sondern gerade in diesem Konflikt. Deshalb bleibt das Ergebnis von dem bestimmt, wogegen sich die Kritik – und auch 22
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die Feindschaft – richtete. Die neue Position entsteht stets aus der kritischen Auseinandersetzung mit einer anderen vorgefundenen Position. Die neue Position wäre anders, wäre sie in der Kritik an einem anderen Denken entstanden. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Christentum und Philosophie, das die Bewegungsstruktur ausmacht, die den Geist des Westens mit geprägt hat. Wenn wir im folgenden den Geist des Westens nur nach der Seite untersuchen, nach der er von der philosophischen Ethik bestimmt wurde, so ist im Grunde das Christentum stets als der Hintergrund präsent, gegen den sich die dargestellten Positionen entwickelt haben. Sie waren von ihm umfangen und mussten sich kritisch gegen ihn behaupten. Wir gehen jedoch nicht näher auf die christliche Ethik und ihre Auffassung von Gut und Böse ein. Dies ist in der Sache gut gegründet, da der Geist des Westens sich in erster Linie daraus entwickelt hat, dass sich die philosophische Seite gegen die christlichen Auffassungen über Gut und Böse durchsetzen musste. Deshalb können wir uns darauf beschränken, aus dem Geist des Christentums nur die gedanklichen Linien aus zwei der Großen Erzählungen auszuziehen, die die Entwicklung des philosophischen Denkens über Gut und Böse so folgenreich geprägt haben, dass es ohne sie nicht in der uns bekannten Gestalt vorhanden wäre. Wir konzentrieren uns dabei auf die Großen Erzählungen der Schöpfungsgeschichte und des zentralen Geschehens am Beginn des Christentums. Mit dem Ausdruck ‚Große Erzählung‘ wird versucht, nicht die Selbstinterpretation des Christentums zu übernehmen. Es geht nicht um eine Kritik an oder eine Verteidigung der christlichen Lehre. Uns kommt es nur darauf an, denjenigen Hintergrund im Geist des Westens deutlich zu machen, ohne den seine Bestimmung aus dem Geist der philosophischen Ethik nicht verständlich werden kann. Das Zentrum der Großen Erzählung des Alten Testaments ist die Entscheidung der ersten Menschen für die Freiheit zum Guten und Bösen. Das Zentrum der Großen Erzählung des Neuen Testaments ist das Leben und Sterben eines Gottes, der sich den Menschen gleich gemacht hat. Ohne diese beiden fundamentalen Gedanken der Freiheit im Guten und Bösen und der Gleichheit der Menschen, von denen einer eine Zeit lang der Gott selbst war, ist die Geschichte des Geistes des Westens nach der Seite der Bestimmung von Gut und Böse nicht in ihrer ganzen Struktur zu verstehen. Deshalb legen die Interpretationen dieser beiden Großen Erzählungen die Grundlage für die Darstellung der Entwicklung des Geistes des Westens in den Gedankengängen der wichtigsten Denker über Gut und Böse. 23
2. Das göttliche und das menschliche Gute 2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen Gut und Böse und der Auszug aus dem Paradies Nach der Erzählung des Alten Testamentes begann die Vertreibung aus dem Paradies mit einem Versprechen, das den beiden ersten Menschen das Wissen des Guten und des Bösen in Aussicht stellte, so dass sie wären wie Gott. Die Einsicht, die Adam und Eva dazu brachte, vom Baume der Erkenntnis zu essen, und die sie so hoch schätzten, dass sie wegen ihr sogar im Paradies noch ein Verlangen nach etwas Besserem verspürten, war im Grunde die Fähigkeit zu einer Unterscheidung, die sie im Zustand des Glücks nicht zu kennen brauchten. In der Vollkommenheit, die im Alten Testament den Namen ‚Paradies‘ trägt, erscheint das Verlangen nach einer solchen Unterscheidung zunächst widersinnig. Vom Bösen können wir nur in einer Welt wissen, die nicht vollkommen ist, wir könnten sogar sagen: das Böse ist ein wesentlicher Teil der Unvollkommenheit der Welt. Wir könnten auch noch einen Schritt weitergehen und das Böse als Synonym für die Unvollkommenheit der Welt auffassen. Der Begriff des Bösen gibt uns die Möglichkeit, ein Defizit im Guten auszudrücken. Wenn das Böse in der Welt ist, so kann sie nicht mehr vollständig gut sein. Damit ist der Status der Vollkommenheit verlassen und nur noch als Wunschvorstellung und als anzustrebendes Ziel präsent. Die biblische Erzählung beginnt also damit, dass die Schlange einen merkwürdigen und paradoxen Wunsch in den ersten Menschen erweckte. Dieser Wunsch muss bereits in ihnen vorhanden gewesen sein, denn im anderen Fall hätte die Schlange ihn erzeugt und die Verantwortung wäre nur ihr angelastet worden, so dass der alttestamentarische Gott nur sie aus dem Paradies vertreiben hätte müssen. Er machte aber Adam und Eva selbst für diesen Wunsch verantwortlich, und, so geht die Erzählung weiter, mit ihnen alle ihre Nachkommen bis zum heutigen Tage. Am Anfang der Menschheitsgeschichte, wie wir sie inzwischen kennen, steht nach dieser Legende also ein Wunsch, der eigentlich nicht hätte vorkommen können. Im Stande der Vollkommenheit wünschten sich die ersten Menschen die Unvollkommenheit, jene Unvollkommenheit nämlich, die mit der Unter24
2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen
scheidung zwischen Gut und Böse verbunden ist. Wir könnten etwas vorsichtiger sagen, sie wünschten sich nur das Wissen von der Unvollkommenheit, als sie nach der Erkenntnis über das Gute und das Böse strebten. Aber das ist ein sophistischer Vorbehalt. Wenn wir wissen, was gut und was böse ist, so ist die Welt nicht mehr im Stande der Unschuld. Bereits in ihrer einfachen Wahrnehmung beginnen wir zu unterscheiden – wir ‚sehen‘ sie unter den Vorzeichen einer Unterscheidung, die ihr die Vollkommenheit raubt. Wir blicken auf sie und unterscheiden in ihr das Gute und das Böse. Mit diesem Blick hat sie ihre Vollkommenheit verloren. Was bringt zwei Menschen im Stande der Vollkommenheit dazu, wissen zu wollen, was gut und was böse ist? Die Paradoxie der biblischen Erzählung geht jedoch noch weiter. Das Versprechen des Verführers lautete auch, damit würden sie sein wie Gott. Dass zu einem Gott, was immer wir uns innerhalb und außerhalb der Restbestände von Religionen in der westlichen Welt darunter vorstellen mögen, ein Wissen über Gut und Böse gehört, ist uns heute eine selbstverständliche Vorstellung. Aber sie versteht sich nur deshalb von selbst, weil wir ebenso sicher davon ausgehen, dass dieser Gott über eine unvollkommene Welt wacht oder herrscht oder richtet oder wie immer wir uns das Verhältnis des Gottes zur Welt vorstellen mögen. Die Vorstellung von der Unvollkommenheit der Welt ist unter den Vorzeichen des Gottesglaubens nicht von der Vorstellung zu trennen, zu einem Gott gehöre in seinem Verhältnis zur Welt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Stellen wir uns die Welt dagegen in einem radikalen Sinne als vollkommen vor, d. h. phantasieren wir sie uns nicht nur so zurecht, dass sie unseren Wünschen entspricht, so können wir den Unterschied zwischen Gut und Böse aus unserer Vorstellung über das Verhältnis des Gottes zur Welt entfernen. Das zweite Element in der Paradoxie der biblischen Erzählung von dem Wunsch der ersten Menschen, das Gute und das Böse zu kennen, finden wir also in dem Versprechen des Verführers, die Realisierung dieses Wunsches werde sie dazu bringen, zu sein wie Gott. Diese Paradoxie liegt darin, dass Adam und Eva diesen Wunsch im Stande der Vollkommenheit hegen und ihrem Gott doch ein Verhältnis zu seiner Welt unterstellen, das er nur zu einer unvollkommenen Welt unterhalten kann. Sie leben in einer vollkommenen Welt und nehmen doch an, der Gott verhalte sich zu seiner Welt gemäß der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, d. h. als ob sie unvollkommen wäre. Sie wollen sein wie ein Gott, der sich zu einer Welt verhält, die im Stande der Unvollkommenheit ist, und dessen Stellung zu dieser Welt deshalb durch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bestimmt wird. Sie wollen sein wie Gott, aber sie wollen sich wie ein Gott zu einer unvoll25
2. Das göttliche und das menschliche Gute
kommenen Welt verhalten. Nur deshalb trifft das Versprechen der Schlange, sie könnten das Gute und das Böse kennen und damit sein wie Gott, auf fruchtbaren Boden. Hätten sie dies nicht gewollt, so wäre die Verantwortung bei dem Verführer geblieben und es hätte keine Vertreibung aus dem Paradies gegeben. Das dritte Element der Paradoxie in der alttestamentarischen Erzählung liegt darin, dass die ersten Menschen in einer vollkommenen Welt überhaupt den Wunsch entwickeln, zu sein wie Gott. In der uns bekannten unvollkommenen Welt ist den meisten Menschen dieser Wunsch nicht ganz fremd. In der Regel stellen wir uns dann Gott als einen Machthaber vor, der die Welt so einrichten könnte, wie wir sie uns gerne vorstellen möchten, und, wenn wir altruistisch gestimmt sind, wie wir sie auch allen anderen Menschen zumuten möchten. Aber warum sollte man sich in einer in einem radikalen Sinne vollkommenen Welt, von der die biblische Erzählung vom Paradies berichtet, wünschen wollen, zu sein wie Gott? Es gab nichts zu verändern oder zu verbessern, es fehlte an nichts, Konkurrenz oder Feindschaft waren unbekannt, und der Löwe lag friedlich neben dem Lamm. Die ersten Menschen lebten in einem Glück, in dem sie nichts von der Möglichkeit des Unglück wussten. Warum also konnte die Schlange bei ihnen auf Resonanz stoßen, als sie ihnen in Aussicht stellte, sie könnten sein wie Gott? Wir könnten sogar noch eine vierte Seite der Paradoxie in der Erzählung über den Anfang vom Ende des Paradieses erkennen. Warum konnte bei Menschen der Wunsch nach einem Wissen vom Guten und Bösen entstehen, wenn sie in einem Zustand lebten, in dem die Erde so vollkommen war, dass alles gut und nichts böse war? Die biblische Legende stellte zuvor ausdrücklich fest: ‚und Gott sah, dass es gut war‘. Damit wird nicht gesagt, es wäre relativ gut gewesen, oder: angesichts der Umstände war es ziemlich gut gelungen, sondern der Satz lautet einfach: ‚es war gut‘. Wer will in einer solchen Lage etwas von der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen wissen? Es geht hier nicht um eine bloße persönliche Motivation, die psychologisch zu erklären wäre. Die Psychologie war noch lange nicht erfunden, und wir sollten vermeiden, die biblische Legende auf solche einfachen Modelle des Verstehens zu reduzieren. Die Frage, die diese Paradoxie zum Ausdruck bringt, lautet deshalb genauer: wie kann in einer Lage, in der alles vollkommen ist, der Wunsch nach einem Wissen über das Gute und das Böse entstehen, wenn die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Problematik überhaupt nicht gegeben sind?
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2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen
Die Paradoxie des unvollkommenen Paradieses Die Erzählungen des Alten Testaments haben für uns heutige Menschen eine sehr verschiedene Bedeutung. Menschen, zu deren Selbstverständnis das Bewusstsein einer religiösen Verpflichtung gehört, werden darin auf die eine oder andere Weise Berichte vom Wirken Gottes in der Welt sehen. Wer eine solche Weltorientierung nicht für sich gelten lassen will, der kann diese Erzählungen als Teil eines der ältesten und folgenreichsten Texte der literarischen Selbstvergewisserung der Menschheit auffassen. Niemand wird heute mehr gezwungen, darin die Verkündung göttlicher Wahrheiten zu lesen. Zu den wichtigsten Errungenschaften des Abendlandes spätestens seit der Aufklärung gehört die Freiheit, selbst auf die eine Weise zu lesen und andere nach ihrer eigenen Façon lesen zu lassen. Selbst wer mit religionskritischem Bewusstsein die Texte des Alten Testaments auffasst, muss jedoch zugeben, dass es sich hier um einen der Texte handelt, in dem Menschen ihr Selbstverständnis so zum Ausdruck gebracht haben, dass ihm Bedeutung nicht nur im Sinne des individuellen Ausdrucks eines Autors in einem literarischen Text zukommt. Anders ist es nicht zu erklären, dass diese Erzählungen zum Teil des abendländischen Selbstverständnisses geworden sind. Es ist deshalb eine sinnvolle Unterstellung, dass die Paradoxien in der Geschichte über den Beginn der Vertreibung aus dem Paradies nicht einfach auf Denkfehler des Autors bzw. der Autoren des Textes zurückgehen, die an seiner Niederschrift und Weitergabe über viele Jahrhunderte hinweg beteiligt waren. Wir können deshalb feststellen, dass zu unserem abendländischen Selbstverständnis an einem prominenten Ort eine Erzählung gehört, die an zentraler Stelle eine komplizierte Paradoxie über das Wissen vom Guten und Bösen und die Bedeutung dieses Wissens für den Menschen enthält. Wir können weiter vermuten, dass gerade diese Paradoxie mit gutem Recht ein wichtiges Stück des menschlichen Selbstverständnisses ausdrückt, wie es sich in der christlich-abendländischen Kultur entwickelt hat. Wenn dem so ist, so kann die Struktur einer solchen ‚Fundamentalerzählung‘ auch eine Einsicht über die Bedeutung anbieten, die wir mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbinden, um die es in dieser Erzählung geht. Die Paradoxie besteht zunächst darin, dass sich die ersten Menschen im Stande der Vollkommenheit die Unvollkommenheit wünschten, die mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verbunden ist. Die Paradoxie liegt weiter darin, dass die ersten Menschen bereit waren, in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Auszeichnung ihres Gottes in seinem Verhältnis zu ihrer Welt zu sehen, obwohl diese Welt doch in einem radikalen Sinne 27
2. Das göttliche und das menschliche Gute
vollkommen war, so dass sie dem Gott in seinem Verhältnis zu ihrer Welt eine solche Unterscheidung der Unvollkommenheit eigentlich überhaupt nicht hätten zuschreiben können. Eine weitere Seite dieser Paradoxie können wir darin sehen, dass die ersten Menschen in einer vollkommenen Welt den Wunsch hegten, zu sein wie Gott, obwohl es doch nichts zu wünschen gab, was nur ein Gott hätte gewähren können. Wir könnten die Paradoxie nach einer anderen Seite schließlich noch durch das Problem umschreiben, wieso in einer vollkommenen Welt überhaupt der Wunsch nach einem Wissen über das Gute und das Böse entstehen konnte? Die Welt des biblischen Paradieses bot keine Grundlagen, die als Bedingungen der Möglichkeit eines Problems gedacht werden könnten, für das diese Unterscheidung eine Lösung anbieten hätte können. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Paradoxie in der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies zu beheben und die Wahl der ersten Menschen, sein zu wollen wie Gott und das Gute und das Böse zu kennen, aus den Bedingungen ihrer eigenen Situation zu verstehen. Wir müssen zugestehen, dass das Leben im Paradies ganz vollkommen doch nicht gewesen sein kann, wenn die ersten Menschen darin die Unterscheidung zwischen Gut und Böse vermissten und bereit waren, der Schlange zu folgen, die ihnen in einem diese Einsicht und zu sein wie Gott versprach. Wäre das Paradies ein Ort gewesen, an dem Adam und Eva wunschlos glücklich hätten sein können, so hätte nie der Wunsch in ihnen keimen können, sich wie der Gott zu einer unvollkommenen Welt zu verhalten, in der der Unterschied zwischen Gut und Böse Wirklichkeit geworden ist, und sie hätten keine Einsicht in das Gute und das Böse verlangen können. So paradiesisch kann das Paradies nicht gewesen sein, das uns die biblische Erzählung als den Anfang der Welt der Menschen schildert. Aber das Alte Testament beschreibt uns auch den Zustand nach dem Sündenfall nicht als einen angenehmen Ort. Adam und Eva werden von dem Engel mit dem flammenden Schwert aus dem Paradies gejagt und, so lautet ihr Urteil, sie und ihre Nachkommen werden künftig ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes essen und, so können wir hinzufügen, sie werden es ebenso erarbeiten. Der Fortgang der Geschichte entspricht dieser Prophezeiung und übertrifft sie sogar noch. Es beginnt die Geschichte der Menschen mit Besitzgier, Neid, Hass und Mord; es beginnt eine Geschichte, in der ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit dazu führen, dass der Bruder zum Mörder seines Bruders wird. Es ist die Geschichte, in der die Menschen nicht mehr Brüder und Schwestern sind, sondern sich durch viele Umstände vermittelt zu einander verhalten, so dass sie im anderen nicht mehr sich selbst erkennen, sondern sich fremd und in vielen Fällen feind28
2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen
selig gesonnen sind. Man könnte auch sagen: es beginnt die Geschichte der Welt der Menschen, wie wir sie kennen.
Der Auszug aus dem Paradies und der Beginn der Geschichte Wenn zum Begriff der Geschichte eine Entwicklung gehört, in der sich Situationen, Strukturen und Beziehungen verändern, so beginnt die Geschichte der Menschen erst mit der Vertreibung aus dem Paradies. Das Paradies gehört nicht zur Geschichte. In ihm war alles gut. Deshalb konnte es keine Entwicklung geben. Sie hätte nur zum Schlechteren oder zum Besseren führen können. Im ersten Fall wäre nicht alles gut gewesen, weil in ihm die Bahn zum Schlechteren vorgezeichnet gewesen sein musste. Auch im zweiten Fall wäre nicht alles gut gewesen, sondern nur relativ gut, also unvollkommen, so dass Raum für das Bessere war. Eine Entwicklung innerhalb des vollkommen Guten können wir nicht denken. Deshalb beginnt die Geschichte erst mit dem Ende des Paradieses auf Erden. Sie beginnt also mit der Herausforderung durch die Schlange und mit der Bereitschaft der ersten Menschen, ihr zuzuhören und ihre Versprechungen ernst zu nehmen. Sie beginnt mit dem neuen Blick auf das Paradies, der mit dieser Bereitschaft in die Welt kam. Der Anfang der Geschichte ist die neue Perspektive, der neue Standpunkt, den die ersten Menschen gegenüber ihrer vollkommenen Welt einnehmen wollten. Die Geschichte der Menschen beginnt nach der biblischen Erzählung also mit dem Wunsch, das Gute und das Böse zu kennen und auf diese Weise zu sein wie Gott. Wir würden diese Erzählung ungenügend verstehen, würden wir sie nur als eine Erzählung von der Vermessenheit der ersten Menschen auffassen. So einfach ist es nicht. Zwar wollten Adam und Eva sein wie Gott. Aber sie wollten einem Gott gleichen, der eine Beziehung der Unvollkommenheit zu seiner Welt unterhält, d. h. eine Beziehung zu einer Welt, die unvollkommen ist, also nicht gottgleich, wenn wir Gott als das vollkommene und deshalb höchste Wesen auffassen. Im Grunde wollten sie nicht so sein wie der Gott des Paradieses. Dieser Gott bezog sich auf seine Welt – die gleichzeitig die Welt der ersten Menschen war – nicht in einem Verhältnis, das die Differenz zwischen Gut und Böse und damit die Unvollkommenheit enthielt. Er war der Gott in seiner Vollkommenheit, an der er die Welt und die ersten Menschen teilhaben ließ. In seiner Welt war alles gut und nichts böse. Er war der Gott vor der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Zwar wollten die ersten Menschen sein wie Gott, aber nicht wie der Gott des Paradieses. Wenn die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies 29
2. Das göttliche und das menschliche Gute
den Beginn der Geschichte der Menschen schildert, so erzählt sie auch von einer folgenreichen Verwandlung der Vorstellung von Gott, die ebenso an diesem Anfang unserer Geschichte stand wie der Wunsch, zu sein wie Gott. Es sollte nicht der Gott sein, der sich in Identität mit seiner göttlich vollkommenen Welt befand. Dieser Gott verwandelte sich in der Bereitschaft der ersten Menschen, auf die Versprechen der Schlange zu hören, in einen Gott, der mit seiner Welt zerfallen war und zu ihr in einem Verhältnis stand, das nicht durch Identität, sondern durch Differenz bestimmt war. Dieses Verhältnis war nicht mehr dasjenige der Welt des Paradieses zum Gott des Paradieses. Der Gott, dem die ersten Menschen gleichen wollten, sollte ein Gott sein, dessen Welt in Gut und Böse zerfällt, so dass sie sich nur zum Teil zu ihm verhält, während sie sich zum anderen Teil von ihm abwendet. Die ersten Menschen wollten sein wie ein Gott, von dem sich die Welt abgewandt hatte. Diese Abwendung können wir im Grunde nicht auf einen Teil der Welt beschränken. Wenn die Welt sich zu ihrem Gott verhält, indem sie in sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse trägt, so ist auch die Seite dieser Welt, nach der sie gut ist, nicht mehr die gleiche wie in einer vollkommenen Welt, die sich in Identität mit ihrem Gott befindet. Das Gute in der Welt ist nun in ein Verhältnis zum Bösen in der Welt getreten und es kann sich nicht mehr aus dieser Beziehung lösen. Zwar ist das Gute weiterhin gut, aber nicht mehr auf die gleiche Weise wie zuvor im Stande der Gnade in der vollkommenen Welt des Paradieses. Seine Qualität bemisst sich nun aus seiner Relation zu dem Bösen. Es kann nicht mehr in sich und vollkommen für sich gut sein wie in der Welt des Paradieses, die den Unterschied zwischen Gut und Böse noch nicht kannte. Wenn die ersten Menschen also sein wollten wie ein Gott, dessen Welt in Gut und Böse zerfällt, so wünschten sie nicht, so zu sein wie der Gott des Paradieses, sondern wie ein Gott, von dem sich die ganze Welt abgewandt hat, die ihm nun unter den Vorzeichen von Gut und Böse gegenüber steht. Nach der biblischen Erzählung steht am Beginn der Geschichte der Menschen also der Wunsch nach einem anderen Gott. Wir könnten darin das Prinzip des Sündenfalls sehen. Viel später wird eine andere Geschichte von einem Gott handeln, der den Menschen sein Gebot gibt, dessen erstes lautet: Du sollst keinen Gott haben neben mir. Wir könnten dieses Gebot auch so formulieren: Du sollst Dir keinen anderen Gott wünschen, oder: Du sollst Dir nicht wünschen, ich wäre anders als ich bin. Eigentlich expliziert dieses Gebot damit nur den hebräischen Namen Jahwe, d. h. ‚Ich bin, der ich bin‘, d. h. auch: ich bin nicht der, den sich die Menschen wünschen, und ich bin nicht der, den sie einmal so und einmal anders beschreiben, sondern ich 30
2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen
bin der Gleiche, der deshalb allen Beschreibungen entgeht, d. h. der Unbeschreibliche. Vielleicht könnte man die Deutung noch weiter treiben und sagen, dass dieses Gebot ein später Reflex auf den ursprünglichen Sündenfall ist, der in seinem Wesen darin bestand, sich den Gott anders zu wünschen, d. h. einen anderen Gott zu wollen. In eins mit dem Wunsch nach einem anderen Gott beginnt die Geschichte der Menschen, wenn man der biblischen Erzählung folgen will, mit dem Wunsch nach der Erkenntnis des Guten und Bösen. Wir haben bereits die Paradoxie eines solchen Wunsches in der Situation des Paradieses, in dem alles gut war, betont. Wir können deshalb jetzt sagen, die Geschichte beginnt mit der Unzufriedenheit mit dem Paradies. Auch dies ist ein Begriff, der die ursprüngliche Paradoxie noch einmal zum Ausdruck bringt. Wenn wir vom Paradies sprechen, so ist eigentlich die vollendete Zufriedenheit in diesem Begriff eingeschlossen und es scheint keinen Sinn zu machen, von der Unzufriedenheit mit dem Paradies zu sprechen. Wenn es tatsächlich das Paradies war, so konnte niemand unzufrieden damit sein; war tatsächlich jemand auch nur im Geringsten unzufrieden, so konnte es sich nicht um das Paradies handeln. Nach der Erzählung des Alten Testaments beginnt die Geschichte der Menschen jedoch genau mit dieser Paradoxie. Man könnte auch sagen: sie beginnt damit, dass die ersten Menschen einen in der Schöpfung eigentlich nicht vorgesehenen Begriff fanden.
Gut und Böse und der Beginn der Freiheit Der Wunsch nach einer Kenntnis des Guten und des Bösen ist nur eine andere Ausdrucksweise für die Erfindung eines solchen ‚unmöglichen‘ Begriffes. Unmöglich war dieser Begriff allerdings nur in der Welt des Paradieses. Vielleicht mussten die ersten Menschen die ursprüngliche Sünde begehen, um solche unmöglichen Begriffe denken zu können. Die Paradoxie der Unzufriedenheit mit dem Paradies ist das Ungenügen an einer Situation, in der alles gut war, und zwar so, dass es nicht etwa gut im Unterschied zum Bösen war, sondern für sich und absolut gut. Demnach beginnt die Geschichte der Menschen damit, dass sie einem Guten, das nur in Bezug auf das Böse gut ist, jenem Guten, das für sich und absolut gut ist, den Vorzug gaben. Sie wollten nicht einfach das Gute wissen, sondern das Gute und das Böse. Sie wollten wissen, was das Gute in seinem Verhältnis zum Bösen ist, und wie das Böse in seiner Beziehung auf das Gute zu verstehen ist. Sie wollten den Unterschied kennen, nicht nur das Gute und das Böse isoliert voneinander. 31
2. Das göttliche und das menschliche Gute
Wer das Gute in seiner Beziehung zum Bösen kennen will, der muss in Kauf nehmen, dass damit diese Relation zum Guten selbst gehört. Das gleiche gilt auch umgekehrt: wer wissen will, was das Böse in seinem Verhältnis zum Guten ist, der muss als Preis bezahlen, dass das Böse damit eine Relation zum Guten einschließt. Auf diese Weise gehört zum Guten in gewisser Weise das Böse, und zum Bösen gehört auch das Gute. Das heißt nicht, dass das Gute nicht mehr gut ist, sondern vielleicht böse, und es bedeutet auch nicht, dass das Böse nicht mehr böse ist, sondern vielleicht gut. Der einfache Bezug führt nicht dazu, dass die Begriffe verwechselt oder gar ausgetauscht werden könnten. Aber das Gute und das Böse können nicht mehr unabhängig von einander verstanden werden. Die Situation ist also nicht mehr so eindeutig wie zuvor, als das Gute isoliert und an sich gelten konnte, ohne neben sich das Böse gelten lassen zu müssen, in der Abgrenzung von dem es sich nun definieren lassen muss. Das Gute hat seine alte Herrlichkeit eingebüßt und ist nun in eine Abhängigkeit von seinem Widerpart geraten. Am Beginn der Geschichte der Menschen, die nach der biblischen Erzählung mit dem ersten Sündenfall beginnt, steht damit auch ein Wandel in dem Begriff des Guten. Am Anfang der Geschichte steht der Verlust der Herrlichkeit und Selbstmächtigkeit des Guten. Es kann sich nicht mehr vom Bösen fernhalten, sondern ist von ihm infiziert, weil es ohne seine Beziehung auf das Böse nicht mehr bestimmt werden kann. Diese Herabsetzung des Guten in ein Gutes, das nur im Verhältnis zum Bösen gilt, ist ein Teil des Preises, den die ersten Menschen dafür bezahlen mussten, dass sie das Gute und das Böse kennen wollten. Weil dieses Ziel zusammen mit dem Wunsch entstand, zu sein wie Gott, deshalb beginnt die Geschichte mit dem Willen, einem Gott zu gleichen, der nicht nur in einem Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt steht, die sich in Gut und Böse unterscheidet, sondern der in diesem Verhältnis auch nur ein minderes Gutes bewahren kann. Die Geschichte beginnt nicht nur mit dem Wunsch nach einem anderen Gott als dem Gott des Paradieses, sondern zu diesem anderen Gott gehört auch eine andere Beziehung zum Guten, als es die Beziehung zum Guten des Paradieses war. Wenn die Geschichte der Menschen also mit dem Begehren beginnt, zu sein wie Gott und das Gute und das Böse zu wissen, so beginnt sie mit einer vielschichtigen Paradoxie. In dieser Paradoxie wählen sich die Menschen einen anderen Gott und bringen das Gute in ein Verhältnis zum Bösen. Sie tun etwas, was in der Konzeption des Paradieses nicht vorgesehen war. Sie ermächtigen sich zu der Unmöglichkeit, einen anderen Gott zu wollen, und sie setzen das Gute herab zu einem Guten, das gut nur im Verhältnis zum 32
2.1 Die erste Große Erzählung vom Guten und Bösen
Bösen ist. Der Gott der Geschichte der Menschen ist nicht mehr der Gott des Paradieses, und das Gute in der Geschichte ist das im Anspruch reduzierte und ambivalente Gute, das sich gegen das Böse behaupten und abgrenzen muss. Die Bedeutung der biblischen Erzählung vom ursprünglichen Sündenfall liegt am Ende in dieser Erklärung des Grundes und des Anfangs der Geschichte der Menschen aus der Wahl eines anderen Gottes und eines anderen Guten. Der Gott der Geschichte der Menschen ist der Gott, von dem sich die Welt abgewandt hat, zu der er sich nun in ein Verhältnis setzen muss, das durch die Unterscheidung von Gut und Böse bestimmt ist. Die Geschichte der Menschen ist demnach nicht mehr zu unterscheiden von der Geschichte von Gut und Böse. Sie ist die Geschichte eines Verhältnisses, das nur durch den Auszug aus dem Paradies erkauft werden konnte. Sie ist aber auch die Geschichte einer Freiheit, in der eine unmögliche Entscheidung getroffen wurde. Am Anfang standen Menschen, die mit dem Paradies unzufrieden waren und dem Wissen vom Guten und vom Bösen den Vorzug gaben. Beides zusammen konnte ihnen auch ihr Gott nicht gewähren. Sie wählten den unvollkommenen Gott, von dem sich die Welt abwenden musste, die nun ein neues Verhältnis von Gut und Böse zu ihm aufnehmen konnte. Die menschliche Freiheit beginnt am gleichen Punkt wie die Geschichte der Menschen: sie beginnt mit dem Auszug aus dem Paradies in der Entscheidung für ein herabgesetztes Gutes, das sich nur noch in der Relation zum Bösen bestimmen kann. Der ursprüngliche Sündenfall war eine Entscheidung. Der Auszug aus dem Paradies war nicht die Strafe für diese Wahl, sondern ihr Ziel. Es war die Wahl für die menschliche Geschichte und damit für die Geschichte von Gut und Böse. Die biblische Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall berichtet also von der ursprünglichen Entscheidung des Menschen zur Geschichte. Sie behauptet, die Wahl der Geschichte sei die Wahl des Wissens vom Guten und Bösen gewesen. Sie erklärt darüber hinaus, dass dieses Wissen am Grunde der Geschichte wirkt. Zu diesem Wissen gehört die Reduktion des Guten zum Guten im Verhältnis zum Bösen und die Herabsetzung des Gottes des Paradieses zum Gott im Verhältnis zur Welt. Dieses Verhältnis wird durch die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen angetrieben. Die ursprüngliche Entscheidung des Menschen zur Geschichte ist demnach die Entscheidung zum Guten und Bösen. In dieser Wahl begann der Auszug aus dem Paradies und damit das menschliche Leben, wie wir es kennen. Wir können uns den Auszug aus dem Paradies vorstellen als eine Katastrophe, die ein Engel mit flammendem Schwert inszeniert, und in der Tat mussten die ersten Menschen das Paradies verlassen, weil sie den ursprünglichen Sündenfall begangen hatten. Aber sie hatten die Sünde be33
2. Das göttliche und das menschliche Gute
gangen, einen anderen Gott und das Gute und das Böse zu wollen, um das Paradies verlassen zu können.
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen Das Christentum und das philosophische Denken Wir haben eine alttestamentarische Erzählung verwendet, um einige Perspektiven des Beginns der Geschichte vom Guten und vom Bösen im Abendland zu erläutern. Daraus sollte nicht der Schluss gezogen werden, diese Geschichte sei in erster Linie die Geschichte der christlichen Religion. Es ist eine philosophische Geschichte, die durch Denker vorangetrieben wurde, von denen sich die meisten nur nebenbei und außerhalb ihres Philosophierens religiös verpflichtet fühlten. Aber die Philosophie entstand zwar im historischen Kontext des besonderen sozialen und politischen Lebens in den griechischen Stadtstaaten, sie verband sich jedoch Jahrhunderte später immer enger mit dem Denken, dessen Ursprung in Palästina lag. Bereits an diesem Ursprung war das Christentum schon von den Folgen des griechischen Denkens beeinflusst. Diese in der menschlichen Geschichte einzigartige Konstellation von philosophischer Überlieferung und religiösem Offenbarungsglauben entwickelte sich in der römischen Welt weiter und führte schließlich in der gedanklichen Welt des Mittelalters zu einer Einheit von philosophischem und theologischem Denken. Als Autorität dieses philosophisch-theologischen Denkens galt nun Aristoteles, der in vielen Schriften kurz und einfach als ‚der Philosoph‘ bezeichnet wurde. Diese Einheit war nicht von langer Dauer. Mit der Emanzipation des Menschen von einem ausschließlich religiösen Selbstverständnis befreite sich auch das philosophische Denken wieder von den Beschränkungen und Vorgaben der christlichen Religion. Der Prozess dieser Emanzipation war darüber hinaus auch eine Folge der Eigendynamik des philosophischen Denkens, das sich nicht lange durch die Verbindlichkeiten einer Religion binden lassen konnte. Mit dem Ende dieser Symbiose von Philosophie und Theologie fand auch die Geschichte vom Guten und Bösen wieder zu einer in erster Linie philosophischen Grundlage zurück. Aber auch das Denken kann seine Geschichte nicht einfach hinter sich zurücklassen. Die Geschichte des Denkens am Anfang der Philosophie in den griechischen Stadtstaaten blieb auch dann wirksam, als Philosophie und Theologie nahezu ununter34
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
scheidbar wurden, und die Philosophie, die aus dieser Verbindung hervorging, war durch diesen Weg eine andere geworden und auch diese Geschichte folgte ihr. Nichtsdestoweniger entstand in der Auflösung der theologischphilosophischen Symbiose wieder ein eigenständiges Denken über das, was als gut und was als böse gelten soll. Dieses Denken war zwar durch die theologische Phase hindurch gegangen, aber es konnte auch wieder an die Denkmodelle vor dieser Verbindung anknüpfen, dies umso leichter, als diese Modelle in der christlichen Theologie bestimmend geblieben waren. Die ursprüngliche Entscheidung zum Auszug aus dem Paradies und damit zu einem Wissen des Guten und Bösen war auch die Wahl eines Gottes, der in einem Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt steht, die durch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bestimmt wird. Diese Geschichte setzte sich in der Religion und in der Philosophie fort. An diesen Anfang konnte nicht mehr jede Religion anschließen. Es musste sich eine Religion entwickeln, die in einer unvollkommenen Welt die durch den Auszug aus dem Paradies bewiesene Freiheit mit dem Gedanken der Vollkommenheit des Gottes zu vereinbaren suchte. Diese Religion musste den Menschen als frei und damit als fähig zum Guten und Bösen auffassen. Sie musste deshalb auch Gedanken enthalten, die Bestimmungen über das vorgaben, was der christlich verpflichtete Mensch als richtig und als falsch aufzufassen hatte. Es war deshalb notwendig und konsequent, dass eine auf der Grundlage der biblischen Erzählung vom Paradies und vom ursprünglichen Sündenfall als dem Anfang der Geschichte der Menschen sich entwickelnde Religion eine Lehre vom Guten und vom Bösen enthalten musste. Diese Religion aber hatte sich seit ihrer Neubegründung im Christentum mit den Folgewirkungen des ursprünglichen philosophischen Denkens in der christlichen und römischen Welt verbunden. Deshalb folgte die Geschichte des Guten und Bösen, wie es nun in der Religion bestimmt und für alle Gläubigen verpflichtend gemacht wurde, der Philosophie wie ein Schatten und wie ein Schatten blieb sie abhängig von und hinter dem Denken zurück, das den Schatten warf. Auch in der Religion wurde vom Guten und Bösen nie nur eine religiöse Geschichte vom Guten und Bösen erzählt. In dieser Geschichte war immer auch Vernunft enthalten, die über die bloße Offenbarung hinaus das bestimmte, was auf der Grundlage des Glaubens verbindlich gemacht wurde. Der christliche Glaube war nie nur Glaube. Das Christentum zeichnet sich unter allen Religionen in der Welt dadurch aus, dass es stets den Anspruch erhob, auch auf Vernunft gegründet zu sein. Was die Religion vorschrieb, sollte sich auch gegenüber dem reinen Denken ausweisen können. Im diesem Gedankenzusammenhang konnte es im Grunde überhaupt kein Denken geben, das in der Lage gewesen wäre, den 35
2. Das göttliche und das menschliche Gute
Aussagen des Glaubens zu widersprechen, wenn es denn wirklich aus der einen und universalen Vernunft entstammte. Auch deshalb konnte das philosophische Denken über das Gute und das Böse ohne Brüche an das ursprüngliche Verfahren des reinen Denkens anschließen, als sich die Symbiose von Philosophie und Theologie aufzulösen begann. Zwar hatte die Religion die Philosophie nur als ‚Magd der Theologie‘ gelten lassen wollen, aber sie hatte sich dieser ‚Magd‘ doch so bedient, dass sie selbst von ihrer spezifischen Leistung des vernünftigen Denkens abhängig geworden war und nicht mehr darauf verzichten wollte. Dies ist heute etwas in Vergessenheit geraten, da wir gewohnt sind, zwischen dem Diskurs der Vernunft und den Lehren der Amtskirche eine unüberbrückbare Kluft zu sehen, zumindest aber zwei Reiche des Denkens gelten zu lassen, die weitgehend unverbunden neben einander oder auch gegen einander stehen. Das philosophische Denken über das, was wir gut und was wir böse nennen sollen, hatte seine Identität bewahren können und vermochte deshalb problemlos zu sich zurückzukehren. Allerdings gab es in der langen Periode der Symbiose von Theologie und Philosophie in Europa keine bedeutenden Fortschritte in diesem Denken, so dass uns die Epoche der unumschränkten Herrschaft des christlichen Glaubens heute als eine gedankenarme Zeit vorkommen könnte. Einen zentralen und in sich vielschichtigen Gedanken hatte die Philosophie jedoch aus dem Gedankenbestand des christlichen Glaubens übernehmen können. Der Gedanke der fundamentalen Gleichheit aller Menschen prägt unsere Kultur und unser Denken bis heute so sehr, dass wir ihn aufgrund seiner Selbstverständlichkeit oft kaum noch eigens als der christlichen Gedankenwelt zugehörig wahrnehmen. Wenn wir uns auf diesen Gedanken beziehen, so ordnen wir ihn in der Regel gerade der Kritik an der christlichen Welt zu. Wir fassen ihn als Teil der Emanzipation des Denkens von der Gebundenheit durch die aus dem Glauben entnommenen Ansprüche einer Offenbarung auf, die so lange Zeit ihre Geltung ohne kritische Ausweisung vor der Vernunft durchsetzen hatte können. Diese Auffassung kann gute Gründe für sich beanspruchen. Bei genauerer Hinsicht ist sie jedoch nur zum Teil wahr. Es gibt noch eine andere Seite dieser Wahrheit, die gerade unter der Perspektive des in der christlichen Welt entstandenen Diskurses über jene die Geschichte der Menschen von ihrem Beginn an prägende Unterscheidung zwischen Gut und Böse zur Geltung gebracht werden sollte.
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2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
Der Gott, der sich dem Menschen gleich gemacht hat Der Gott der Christenheit bezog sich von Anfang an auf alle Menschen gleich. Das Neue Testament ist unter diesem Gesichtspunkt ein einzigartiges Dokument der Menschheitsgeschichte. Dieser Text handelt in erster Linie nicht von der Verkündigung einer göttlichen Botschaft, die als Lehre niedergeschrieben werden konnte. Er handelt unter anderem auch davon, und diese Botschaft ist für den Geist des Westens prägend geworden. Aber er erzählt zunächst eine andere Geschichte. Die zentrale Botschaft dieser Geschichte handelt von einem Gott, der Mensch geworden ist und sich den Menschen gleich gemacht hat. Ein Gott, der geboren werden und sterben kann, ist in der Geschichte des menschlichen Denkens einzigartig. Nur scheinbar kann dieser Gedanke an die sterblichen Götter der Antike erinnern. Diese waren Gleiche unter Gleichen, und die Welt der Götter war auf eine andere Weise streng getrennt von der der Menschen, obwohl sie sogar mit Menschen Kinder zeugen und direkt Einfluss auf deren Welt nehmen konnten. Sie konnten mit Menschen umgehen, aber sie konnten keine Menschen werden, äußerstenfalls konnten sie sich den Anschein von Menschen geben, um ihre göttlichen Wünsche besser verfolgen zu können. Sie konnten sich als Menschen ausgeben, aber nicht als Menschen geboren werden und als Menschen sterben. Sie konnten keine Menschen sein. Dass ein antiker Gott von Menschen gekreuzigt und getötet wird, wäre ein nicht zu denkender Gedanke gewesen. Wenn der Gott Mensch wird, wird der Mensch deshalb nicht Gott. Im Gegenteil, er wird im Grunde nun dazu verpflichtet, erst recht Mensch zu werden und zu bleiben. Ein Mensch zu sein hat nun eine grundsätzlich andere Bedeutung gewonnen. Er ist ein Wesen geworden, dem Gott gleich werden kann und will. Dies wird die Geschichte der Menschen verändern, weil es ein Gedanke ist, der eine neue Perspektive in das menschliche Selbstverständnis einführt. Von nun an kann sich der Mensch nicht mehr als ein Wesen verstehen, das nur mit seinen eigenen Angelegenheiten befasst ist. Auch der Gott des Alten Testaments und die Götter anderer Religionen mischten sich in die Geschäfte der Menschen ein. Aber es war nie der Gott, der selbst Mensch geworden war. So nah war der Mensch seinem Gott nie zuvor gekommen, und der Gott war ihm nie so sehr gleich gewesen. Wir pflegen diese Revolution des menschlichen Selbstverständnisses zu unterschätzen, da wir in der westlichen Welt seit vielen Jahrhunderten in ihm leben und sie deshalb nicht mehr als etwas Außergewöhnliches betrachten. Es ist jedoch eine Sache, sich als Mensch der Welt der Götter gegenüber gestellt zu sehen, die Herrschaft ausüben und Gehorsam einfordern, deren 37
2. Das göttliche und das menschliche Gute
Kontakt mit der Menschenwelt sich jedoch stets aus einer Distanz abspielt, die nie überwunden werden kann. Es ist eine ganz andere Sache, Mensch zu sein mit dem Bewusstsein, dass der Gott von sich aus und kraft seiner eigenen Entscheidung ein Mensch unter Menschen geworden ist. Was als ‚Neuer Bund‘ zwischen den Menschen und dem Gott bezeichnet wird, reflektiert also eine fundamentale Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses. Diese Revolution konnte nur so stattfinden, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird. Der Mensch konnte seinen Gott nur als Person unter Personen erkennen, wenn er ihn auf menschliche Weise geboren, als Mensch und unter Menschen leben und als Mensch sterben sah. Von nun an ist das Gute und Böse, dessen Unterscheidung wir den Göttern bzw. dem Gott zuschreiben, ebenso Sache der Menschen wie Sache des Gottes. Damit sind Gut und Böse bereit dafür, von Philosophen gedacht und durch Vernunft bestimmt zu werden. Die Menschen, die nun das Gute und Böse bedenken, sind die gleichen, denen sich der Gott gleich gemacht hat. Sie müssen ihr Wissen deshalb nicht mehr als etwas Minderes auffassen, dem gegenüber die höhere göttliche Instanz steht, für die jenes Wissen nur Tand aus Menschenhand sein könnte. Das menschliche Denken über Gut und Böse hat nun eine wahre Bedeutung. Nicht jedes Denken kann diese Wahrheit beanspruchen. Aber alle Anstrengungen dieses Denkens können nun mit der Zuversicht betrieben werden, dass dieses unvollkommene Tun von einem Geist stammt, der dem Gott nicht fern ist, weil sich der Gott ihm gleich gemacht hatte. Die Philosophie gewinnt mit ihrem vernunftgeleiteten Denken über Gut und Böse nun eine neue Bedeutung. Sie muss zwar als menschliches Wissen verstanden werden, aber als Wissen des Menschen, dem Gott gleich geworden war. Nur deshalb kann sie nun dazu beitragen, den Menschen über seinen Gott aufzuklären. Nur deshalb kann die Vernunft überhaupt eine Bedeutung für das Wissen und das richtige Bewusstsein von Gott gewinnen. Zwar ist es immer noch eine menschliche Vernunft, aber es ist die Vernunft des Menschen, dem der Gott sich gleich gemacht hatte. Die Vernunft der Sterblichen hat ein neues Gewicht gewonnen, weil sie sich nun als gleich mit dem Gott verstehen können, der geboren wurde und gestorben ist. Wir sollten uns nicht vorstellen, dass die Philosophen jetzt statt mit Menschenmit Engelszungen sprechen könnten und all ihr Wissen von der Weisheit Gottes gelenkt würde. Die Philosophen befinden sich auch jetzt in keiner besseren Lage als andere Menschen. Sie irren, solange sie streben. Aber sie können sich auf ihrem Weg über das Wagnis des Denkens und seine Irrtümer nun in einer Beziehung zum Ursprung alles Wissens verstehen. Ihr Tun ist nicht mehr bedroht von dem Bewusstsein der grundsätzlichen Ver38
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
geblichkeit des Wissens in einer Welt, die nicht in der ausgezeichneten Beziehung zu dem Gott steht, welche in der Großen Erzählung des Neuen Testaments beschrieben wird. Mit dieser neuen Stellung des Menschen in der Welt hat sich auch das Verhältnis des Menschen zu seiner Freiheit, zu seinem Wissen um Gut und Böse und zu dem Reich des ganz Anderen, von dem her er sich bestimmt verstand und das er unter dem Titel ‚Gott‘ zusammenfasste, grundlegend verändert. Nach der ersten Großen Erzählung der westlichen Welt, die am Anfang des Alten Testaments vom Verlassen des Paradieses berichtet, wählten die ersten Menschen ihre Freiheit zum Guten und Bösen und damit den Beginn eines Lebens in der Geschichte. Sie drückten damit ihr Ungenügen an einer Welt aus, in der ‚alles gut‘ und nichts böse war, so dass sich das Gute nicht gegen das Böse bestimmen konnte. Sie wandten sich damit auch gegen einen Gott, der ein Verhältnis nur zu einer vollkommenen Welt unterhalten wollte, nicht aber zu einer Welt, in der es das Gute und das Böse gibt. Die Erzählung vom Auszug aus dem Paradies berichtet davon, dass den ersten Menschen ihr Wunsch gewährt wurde: sie wurden aus dem Stand der Vollkommenheit ohne die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und mit der Beziehung zum Gott einer vollkommenen Welt vertrieben. Sie gewannen dafür das Leben in einer unvollkommenen Welt und einen Gott, der in einem Verhältnis zu einer solchen Welt stehen konnte. Gewannen sie damit aber das angestrebte und von der Schlange versprochene Wissen um Gut und Böse, mit dem sie sein wollten wie Gott? Sie erreichten zwei Voraussetzungen für dieses Wissen. Zum einen verließen sie eine vollkommene Welt, in der ‚alles gut‘ und nichts böse war, und lebten nun in einer ganz anderen Welt, in der ihr Dasein so von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse geformt wurde, dass sie das Streben nach dem Guten nicht mehr von ihrem Wesen trennen konnten, obwohl es nie zur Erfüllung gelangte. Zum anderen stand ihnen nun ein Gott gegenüber, den seine Beziehung zu einer unvollkommenen Welt bis ins Innerste prägte, in der nicht alles gut, sondern vieles böse war. Damit waren sie den Bedingungen ihrer Freiheit näher gekommen, die sie dazu gebracht hatte, das absolute Gute der vollkommenen Welt ohne Verhältnis zum Bösen zu verlassen, obwohl dies gleichbedeutend war mit dem Auszug aus dem Paradies. Aber sie waren nicht wie Gott geworden und wussten wenig vom Guten und Bösen und auch über das Wenige hatten sie keine Gewissheit.
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2. Das göttliche und das menschliche Gute
Das neue Wissen vom Guten und Bösen Erst die Große Erzählung des Neuen Testaments berichtet von der – prekären – Erfüllung des tiefsten Wunsches, der die ersten Menschen aus dem Paradies geführt hatte. Aber diese Erfüllung war von Bedingungen abhängig, die in der paradoxen Geschichte vom Auszug aus dem Paradies ihren Anfang genommen hatten. Mit der auf diese Weise gewonnenen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen begann die Geschichte der Menschen. Die nicht vergehende Zeit des Paradieses war an ihr Ende gekommen und die ersten Menschen traten in eine Entwicklung ein, die nach langer – und nun wirklich vergehender – Zeit zu einer neuen Großen Erzählung führen konnte. Keine andere Entwicklung hätte mit der Geschichte des Gottes enden können, der sich zum Menschen macht. Wäre der Boden für diese Geschichte nicht bereitet gewesen, so wäre sie vielleicht erzählt worden, aber sie wäre eine Zeit lang verbreitet worden und nach einiger Zeit in Vergessenheit geraten, als neue und unterhaltsamere Legenden in Umlauf kamen. Nur weil sich die ersten Menschen mit ihrer Entscheidung für die Bedingungen des Wissens vom Guten und Bösen auch für das Eintreten in die Geschichte entschieden hatten, deshalb konnte die Entwicklung dieser Geschichte dazu führen, dass Jahrtausende später eine neue Große Erzählung die Geschichte des Westens prägen konnte. Aber auch diese Große Erzählung erfüllt den Menschen, die nun in der Geschichte und damit in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse leben, den ursprünglichen Wunsch nicht so, wie er ursprünglich formuliert worden war. Auch der Neue Bund der Beziehung zwischen Gott und den Menschen stellte ihnen kein endgültiges und für alle Situationen passendes Wissen über Gut und Böse zur Verfügung, und sie sind dadurch nicht geworden wie Gott. Aber ihr Verhältnis zu dieser Unterscheidung hat sich nun fundamental verwandelt und das gleiche gilt für die Beziehung zu ihrem Gott. Mit dieser Verwandlung beginnt eine neue Epoche der Geschichte des Westens. Der Geist, der nun entstanden ist, konnte eine Kultur bilden, die nicht mehr der strikten Trennung zwischen Denken und Offenbarung, zwischen Philosophie und Religion folgen musste, sondern deren Philosophie durch die Große Erzählung des Christentums angeregt und deren Religion durch das Denken über Gut und Böse erleuchtet werden konnte. Diese Kultur enthält deshalb ein neues Bewusstsein über das mögliche Wissen vom Guten und Bösen, ebenso wie zu ihr das Bewusstsein einer fundamental veränderten Beziehung zwischen Gott und den Menschen gehört. Dieses neue Bewusstsein über den Status des Wissens vom Guten und Bösen ergibt sich daraus, dass der Mensch sich nun verstehen kann von der 40
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
besonderen Göttlichkeit eines Gottes her, der sich dem Menschen gleich gemacht hat. Damit ist das menschliche und unvollkommene Wissen mit einer neuen Würde ausgezeichnet. Es ist nicht mehr das Wissen der Sterblichen, das nichts ist im Angesicht des überlegenen Wissens des Gottes, dessen Denken alle Dinge der Welt schafft und vor dem alles herrliche Denken der Menschen höchstens ist wie des Grases Blumen. Es ist das Wissen von Menschen, deren einer der Gott selbst war, und zwar nicht der Gott in Verkleidung, sondern der Gott selbst, der geboren werden und sterben konnte als Mensch. Der neue Status des menschlichen Wissens über Gut und Böse ergibt sich also aus dem neuen Verhältnis des Menschen zu seinem Gott. Dieser Zusammenhang bestand schon in der Großen Erzählung des Alten Testaments. Der Anfang des Wissens vom Guten und Bösen im Wissen von deren Unterscheidbarkeit war gleichzeitig das Bewusstsein von einem Gott, der in einer Beziehung zu einer unvollkommenen Welt steht, in der nicht ‚alles gut‘, sondern manches gut und vieles böse ist. Man könnte sogar behaupten, dass die Große Erzählung des Christentums von der Aufhebung der Vertreibung aus dem Paradies berichtet. Das soll nicht bedeuten, dass sie die Rückkehr in das verlorene Reich der Vollkommenheit ankündigt. Wenn das Zentrum dieser Erzählung aber in der Menschwerdung des Gottes zu sehen ist, so wird von ihm gesagt, er habe sich nun mit seiner Auffassung als Gott einer unvollkommenen Welt versöhnt. Wie anders sollte es verstanden werden, dass er bereit ist, voll und ganz Mensch und damit Teil der unvollkommenen Welt zu werden, in der die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herrscht und das Gute nur in seiner Relation zum Bösen bestimmt werden kann und nicht einmal auf diese Weise ein sicheres Wissen vom Guten zu gewinnen ist? Er ist nun nicht mehr nur der Gott, wie ihn sich die ersten Menschen wünschten, nämlich der Gott in seiner Beziehung zu einer unvollkommenen Welt. Er ist auch selbst Mensch in dieser unvollkommenen Welt geworden. Diese Welt kann deshalb nicht mehr die Welt sein, die der vollkommenen Welt des Paradieses als eine Welt im Stand der Verderbnis entgegen gesetzt werden musste. Die unvollkommene Welt ist keine mindere Welt mehr. Damit hat auch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr den Status des Kennzeichens einer minderen Welt. Dies macht das Ergebnis des Auszugs aus dem Paradies, wie er in der Großen Erzählung des Alten Testaments berichtet wird, vollends rückgängig, was den Bezug auf Vollkommenheit angeht. War die Welt der Menschen zunächst unvollkommen, weil die ersten Menschen sie durch die Abwendung vom Paradies gewonnen hatten, in dem ‚alles gut‘ und damit vollkommen war, so kann diese Unvollkommenheit nun als vollkommen angesehen werden, weil der Gott nicht in 41
2. Das göttliche und das menschliche Gute
seiner Abwendung von dieser Welt geblieben ist, sondern sich als sterblicher Mensch zu ihrem Teil gemacht hat. Die Welt, in der die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herrscht, ist nach der Großen Erzählung des Christentums nicht mehr die unvollkommene Welt, auch wenn die Kenntnis vom Guten und vom Bösen weiter nur bruchstückhaft und nie mit Gewissheit verbunden zu gewinnen ist. Die Welt, in der wir das Gute nur in der Absetzung vom Bösen kennen und uns deshalb nur um sein Wissen bemühen können, ist nun die Welt der Menschen, mit denen sich der Gott gleich gemacht hat. Eine solche Welt kann nicht mehr ganz und gar nichtswürdig sein.
Die Vollkommenheit des Unvollkommenen Von nun an gehört zum Geist des Westens der Gedanke, dass diese unvollkommene Welt ihre eigene Vollkommenheit besitzt. Die Menschen, die dieses Selbstverständnis für sich gelten lassen, können damit auch den Status ihres Wissens auf doppelte Weise begreifen. Dessen Begrenztheit und Endlichkeit wird ihnen zwar gerade im Bewusstsein der göttlichen Vollkommenheit zu einer selbstverständlichen Gewissheit. Aber in dieser Endlichkeit können sie dem gleichen Wissen einen neuen Status zuschreiben: es ist das Wissen von Menschen, denen sich der Gott gleich gemacht hat. Die grundsätzliche Begrenztheit dieses Wissens teilten sie eine Zeit lang mit dem Gott, der Mensch geworden war. Von nun an ist auch das menschliche und endliche Wissen kein minderes Wissen mehr. Die Große Erzählung des Christentums berichtet also auch von einer Versöhnung des Gottes mit dem Wissen des Menschen. Die ‚Gottesgelehrten‘ können nun beginnen, ihr menschliches Denken einzusetzen, um den Gott durch ihre vernünftigen Erörterungen besser begreifen zu können. Wenn sich eine Theologie als Wissenschaft entwickelt, die beansprucht, den Logos von Gott geben zu können, dann kann sie darauf vertrauen, keine Gotteslästerung zu begehen, denn der menschliche Logos – der Verstand, die Vernunft, das Urteilen, das Begründen – ist dem Göttlichen nicht fremd, sondern Teil der Welt, die nun die Welt des Menschen und des Gottes ist. Die Große Erzählung des Christentums handelt aber nicht davon, dass sich der Gott mit einem bestimmten Menschen oder einem bestimmten Volk gleich gemacht hat. Der Gott wurde Mensch wie alle Menschen und er starb wie alle Sterblichen, ungeachtet der besonderen Umstände dieses Todes. Die Geschichte berichtet also nicht nur davon, dass sich der Gott mit den Menschen und ihrer unvollkommenen Welt gleich gemacht hat, 42
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
sondern auch davon, dass er sich darin auf alle Menschen gleich bezog. Auch dieser Gedanke wurde für den Geist des Westens und sein Wissen um Gut und Böse zu einem zentralen Bestandteil. Wir sollten diesen Gedanken nicht deshalb gering schätzen, weil wir seine schlechte Umsetzung in der Wirklichkeit der sozialen, politischen und religiösen Welt kennen. Auch ein in der Realität des Lebens der Menschen pervertierter Gedanke kann in der Tiefenstruktur einer Kultur und einer geistigen Welt wirksam sein, wenn auch nicht immer so, wie wir es uns wünschen mögen. Die Geschichte von dem Gott, der sich den Menschen gleich gemacht hat, berichtet auch von dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen. Dieses Prinzip ließ sich in der Wirklichkeit des Lebens nahezu beliebig verkehren. Aber schon wenn wir von der Verkehrung eines Prinzips in sein Gegenteil sprechen, erkennen wir es doch an. Auf jeden Fall gab es nun die Möglichkeit, sich auf diese Gleichheit zu berufen, auch wenn eine solche Berufung bei den Mächtigen der Welt oft wenig Gehör fand. Die Machtlosen haben immer dann den ersten Schritt zu ihrer Befreiung zurückgelegt, wenn sie ein Prinzip gefunden haben, das ihre Lage nicht mehr rechtfertigt, sondern als wider alles Recht erklärt. Für die Frage nach der Bedeutung des Wissens um Gut und Böse im Geist des Westens können wir uns aber auf einen anderen Gedanken konzentrieren, obwohl die Frage nach der sozialen und politischen Gleichheit in diesem Zusammenhang eine eigene Bedeutung gewinnt. Die Versöhnung der göttlichen mit der unvollkommenen Welt, die die ersten Menschen gewählt hatten, als ihnen das Paradies nicht mehr genügte, bedeutet auch eine Versöhnung des göttlichen Wissens um Gut und Böse mit dem menschlichen Wissen von ihrer Unterscheidung. Damit ist nicht gesagt, dass der Gott nun ebenso wenig wie wir weiß, was gut und was böse ist. Diese Definitionsmacht gehört notwendig zum Begriff ‚Gott‘, wie ihn die Menschen verstanden haben, seit sie sich die ersten Vorstellungen von einem solchen Wesen machten. Aber nach der Großen Erzählung des Alten Testaments hatten sich die ersten Menschen dafür entschieden, sein zu wollen wie Gott und das Gute und das Böse zu wissen. Sie wurden zwar nicht wie Gott und sie erreichten auch kein solches Wissen. Aber sie fanden einen Gott, der eine Beziehung zu einer unvollkommenen Welt aufnahm und dem deshalb nicht mehr ‚alles gut‘ war, sondern der selbst die Unterscheidung vornehmen musste, die die ersten Menschen angestrebt hatten. Der Gott nach dem Auszug der ersten Menschen aus dem Paradies war ein anderer geworden, der sich aus einer neuen Beziehung zu seiner Welt definierte. Er wurde zu einem Gott, der mit dem Guten und dem Bösen bekannt geworden war und nicht mehr ‚alles gut‘ finden konnte, sondern die Last des Wissens vom Guten und vom Bösen tragen musste. Die ersten 43
2. Das göttliche und das menschliche Gute
Menschen waren zwar nicht wie Gott geworden, aber sie hatten ihren Gott verändert. Sie hatten auch in Bezug auf ihr Wissen nicht genau das erreicht, was sie angestrebt hatten. Es war ihnen nicht gegeben worden zu wissen, was gut und was böse ist. Aber auf eine andere Weise war dieses Wissen von nun an ständig bei ihnen. Es beherrschte sie so sehr, dass sie in die Geschichte eintreten und eine Entwicklung beginnen mussten, die sie Jahrtausende später zu einer neuen Großen Erzählung und dann bis zu der uns bekannten Welt führte. Dieses Wissen war bei ihnen in der Gestalt eines Mangels, der ihr Streben beherrschte. Das Gute und das Böse zu kennen war der Wunsch, der sie aus dem Paradies geführt hatte. In ihrer neuen Welt war dieser Wunsch nun auf Dauer gestellt und die bewegende Kraft auf ihren weiteren Wegen.
Die Ambivalenz des Wissens von Gut und Böse Diese Beziehung zwischen einem Gott, der ein Verhältnis zu einer unvollkommenen Welt unterhält und deshalb das Gute und das Böse wissen muss, und den Menschen, die bis in ihr Innerstes durch die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen angetrieben werden, ohne jemals zu einer endgültigen Entscheidung darüber gelangen zu können, verwandelt sich nun mit der Großen Erzählung des Christentums fundamental. Auch jetzt gelangen die Menschen nicht zu der Erfüllung des Verlangens, das sie aus dem Paradies getrieben hatte. Nicht nur werden sie auch jetzt nicht wie Gott, sie erreichen auch nicht das Wissen vom Guten und Bösen. Aber wie sich ihre Beziehung zu ihrem Gott fundamental veränderte, nachdem er Mensch geworden und sich mit ihnen gleich gemacht hatte, so verändert sich nun auch der Status des Nicht-Wissens vom Guten und Bösen. Sie wissen nun von sich und ihrer Welt, dass sie weder sich noch jener einen minderen Status zuschreiben müssen. Ihre Welt ist die Welt, in der der Gott als Gleicher unter ihnen lebte und starb. Als einer von ihnen verfügte er über das gleiche unvollkommene Wissen, und Gut und Böse waren ihm nur im Status des Nicht-Wissens gegenwärtig. Zwar hatte er Gebote vorgetragen, aber sie waren in menschlicher und geschichtlicher Sprache gesprochen und blieben deshalb Ansprüche, die nicht den Status eines Wissens beanspruchen konnten. Es ist bemerkenswert, wie sehr die ethischen Forderungen des Neuen Testaments auf das neue Verhältnis des Gottes zu den Menschen bezogen bleiben, und es ist bemerkenswert, wie wenig dieser Status in der folgenden Auslegungsgeschichte berücksichtigt wurde. Weit bedeutsamer für die künftigen Versuche, zu einem Wissen vom 44
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
Guten und Bösen zu gelangen, wurde der Neue Bund zwischen Gott und den Menschen, von dem die Große Erzählung des Christentums berichtet. Dieser Bund gründet auf der Menschwerdung des Gottes, mit welcher der Mensch ein neues Selbstverständnis gewinnt. Zu diesem Bewusstsein von sich selbst gehört auch ein neuer Bezug zu dem Wissen, das dem Menschen vom Guten und Bösen möglich ist. Nun kann das menschliche und stets unvollkommene Wissen beanspruchen, dasjenige Wissen zu sein, das einem Wesen möglich ist, dem sich der Gott so sehr gleich gemacht hat, dass er auf gleiche Weise geboren wurde und starb. Gerade weil es sich aber sowohl als Wissen dieses Wesens und in der Differenz zur göttlichen Kenntnis des Guten und des Bösen versteht, deshalb findet sich im Zentrum der westlichen Kultur eine Ambivalenz, die nur scheinbar eine Schwäche ist. In Wahrheit ist sie die Grundlage des Geistes, der zur machtvollsten Kultur der Weltgeschichte geführt hat. Der westliche Mensch weiß von nun an, dass er wissen kann. Der Gedanke von einem Gott, der sich so weit entäußerte, dass er als Mensch geboren wurde und als Mensch starb, hat den Geist des Westens in seinem innersten Wesen geprägt. In den Kernländern dieser Kultur identifizieren sich heute nicht mehr sehr viele Menschen mit der Großen Erzählung, in der dieser Gedanke beschrieben wurde. Eine Kultur benötigt aber nie die bewusste Identifikation der Menschen, die von ihr geformt wurden. Sie kann ihre Macht noch lange ausüben, wenn der Glaube an die Große Erzählung, mit der sie begann, nur noch von einer Minderheit aktiv gelebt wird. Allerdings ist keine Kultur von ewiger Dauer. Niemand vermag zu sagen, ob der Niedergang des Christentums in den europäischen Kernländern des Westens der Anfang vom Ende der Kultur ist, die durch die Große Erzählung des Christentums und zuvor durch die Große Erzählung des Alten Testaments begründet wurde. Niemand weiß, welche Folgen die Verlagerung des christlichen Glaubens von den europäischen Kernländern weg nach Südamerika, Südasien und Afrika für die westliche Kultur nach sich ziehen wird. Im Zusammenhang der Frage nach dem Status der Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen für den Geist des Westens sind diese Veränderungen von geringer Bedeutung. Die Großen Erzählungen des Alten Testaments und des Christentums haben sich so sehr in das Selbstverständnis des Westens eingegraben, dass der Niedergang des christlichen Glaubens in der europäischen Welt deren Geist nur wenig berührt. Dieses Selbstverständnis verbindet das Vertrauen in die Fähigkeit, das Gute vom Bösen unterscheiden und von beidem wissen zu können, mit dem Wissen um die Unvollkommenheit dieses Wissens und jener Fähigkeit. Das Bewusstsein dieser ausgezeichneten Fähigkeit und ihrer 45
2. Das göttliche und das menschliche Gute
Schwäche geht auf den Gedanken eines Gottes zurück, der sich den Menschen gleich gemacht und als einer der ihren in ihrer Welt gelebt hat. Vom Guten und Bösen zu wissen und nicht zu wissen ist ein zentrales Bewusstsein im Geist des Westens. Es ist ein ambivalentes Bewusstsein, in dem sich dieser Geist demonstriert. Diese Ambivalenz geriet in der Geschichte dieser Kultur immer wieder in Vergessenheit, sie wurde verdunkelt und geleugnet. Die Geschichte des Westens ist auch eine Geschichte von Selbstgerechtigkeit und Hochmut in Bezug auf das, was gut und was böse heißen soll, und in ihr finden sich Organisationen und Vertreter des Glaubens, die die endgültige Definitionsmacht über das Gute und das Böse beanspruchten und Tod und Verderben über alle brachten, die an dieser Macht zweifelten.
Das Wissen, die Verzeihung und der Andere Aber die Geschichte des Geistes des Westens ist nicht identisch mit der Geschichte einer bestimmten Religion, noch weniger mit bestimmten Erscheinungen innerhalb dieser Religion. Der Hochmut galt stets als eine der Kardinalsünden, aus denen alle anderen entspringen, und in der Großen Erzählung des Christentums steht auch die Warnung an jene, die richten, obwohl sie doch selbst gerichtet werden. Wichtiger aber ist, dass sich an zentraler Stelle eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Menschen findet, die diese Erzählung für sich verbindlich machen wollen. Nach dieser Beschreibung sollen sie sich gegenseitig in einer Liebe begegnen, die Verzeihung ist. Dieses Verzeihen ist die Korrektur des Anspruchs, vom Guten und vom Bösen zu wissen. Das Liebesprinzip jener Erzählung demonstriert die Ambivalenz dieses Wissens auf eine Weise, die weit über den kognitiven Zweifel am Alleinvertretungsanspruch bestimmter Auslegungen des Guten und des Bösen hinausgeht. Dass Gottes Bodenpersonal zuweilen sehr ungnädig mit diesem Prinzip umgegangen ist, sagt wenig über dessen Bedeutung für den Geist des Westens aus. Das Liebesprinzip wäre jedoch um seine Kraft gebracht, würde man es auf eine Unverbindlichkeit des NichtWissens um Gut und Böse reduzieren. Es entfaltet seine Bedeutung nur in der Ambivalenz zwischen dem Wissen, das einem Wesen möglich sein muss, dem Gott sich gleich gemacht hat, und dem Nicht-Wissen, das dem gleichen Wesen zugeschrieben werden muss, weil es weiter in der irdischen Welt und damit in der Differenz zu seinem Gott lebt. Das Liebesprinzip und die Ambivalenz, die es in das Wissen vom Guten und Bösen einführt, könnten wir als die Grundlage verstehen, auf der die philosophische Erörterung dieser Unterscheidung und ihrer Bestimmung 46
2.2 Die zweite Große Erzählung vom Guten und Bösen
innerhalb der westlichen Kultur beginnt. Im Grunde baut die ganze westliche Philosophie – also alle Philosophie – ihre Gedankengebäude auf diesem Fundament. Sie hat nun die Erlaubnis gewonnen, innerhalb und außerhalb des theologischen Zusammenhangs vernünftig über das, was wir tun und lassen sollen, nachdenken zu können. Mit diesem Denken kann sie die Gewissheit verbinden, kein unverbindliches Spiel zu betreiben, das nur zum Zeitvertreib für die müßigen ‚happy few‘ dienen kann – und die griechische Philosophie kann man auch unter dieser Perspektive auffassen, obwohl sie sich freilich nicht in dieser Perspektive erschöpft. Aber die Suche nach einer denkerischen Bestimmung des Guten und Bösen hat nun eine andere Bedeutung gewonnen. Sie hat die Gewähr, dass es schon auf Erden Ernst ist mit dem Guten und dem Bösen, wie es durch menschliches Denken festgestellt werden kann. Was gewusst wird, gilt, denn es wird von Wesen gewusst, denen sich der Gott gleich gemacht hat. Auf der anderen Seite aber findet sich in der Großen Erzählung des Christentums ebenso die ständige Korrektur dieses Anspruchs auf ein Wissen vom Guten und Bösen. Das Liebesprinzip des Neuen Testaments ist ja in erster Linie nicht ein Bestandsstück einer bestimmten Lehre, sondern ein Strukturelement der zentralen Geschichte, von der das Neue Testament berichtet. Der Gott hat sich nicht einfach zum Menschen gemacht, ohne ein bestimmtes Ziel damit zu verfolgen. Dieses Ereignis ist eingefügt in eine weitere Erzählung, die noch ungewöhnlicher ist und mit der sich das Christentum noch stärker von allen anderen Religionen unterscheidet. Dieser Erzählung zufolge ist der Gott Mensch geworden, um die Menschheit zu erlösen und auf der Grundlage dieser Erlösung einen Neuen Bund zwischen Gott und den Menschen zu schließen. Die Große Erzählung des Christentums berichtet also von einem Gott, der gewillt ist, seine Göttlichkeit aufzugeben um der Menschen und deren Erlösung willen. Gerade darin zeigt sich die Göttlichkeit des Gottes. Ein Gott, der für die Menschen stirbt, wäre kein möglicher Gedanke der Antike oder irgendeiner anderen Religion gewesen. Das Neue Testament berichtet also von einem Gott, der so sehr für die Menschen da ist, dass er sich nicht nur mit ihnen gleich macht, sondern sogar für sie als Mensch auf schmähliche und elende Weise zu sterben bereit ist. Erst jetzt und zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte ist der Gott der Gott der Menschen. Eine solch revolutionär neue Perspektive musste auch die Wahrnehmung des anderen Menschen verändern. Er ist von nun an nicht mehr nur der Mensch, dem sich der Gott gleich gemacht hat und der schon deshalb einen Respekt verdient, der ihm durch seine zeitweilige Gleichheit mit dem geborenen und gestorbenen Gott zukommt. Er ist auch der Mensch, für den 47
2. Das göttliche und das menschliche Gute
der Gott geboren wurde und starb, damit jener Erlösung finden konnte. Wir müssen diese Erzählung nicht im Einzelnen als für uns gültig anerkennen, um die Bedeutung für das Selbstverständnis des Westens zu sehen. Wieder zeigte sich die Veränderung nicht so sehr an der konkreten Behandlung des anderen Menschen. Auch die Geschichte der christlichen Zeit ist eine Folge von Machtstreben, Unterdrückung und Grausamkeit. Wir sollten von den Großen Erzählungen der Menschheit keine Wunder erwarten und ihren Einfluss nicht überschätzen. Aber der Geist des Westens war nun durch eine andere Perspektive auf die Bedeutung des anderen Menschen geprägt. Dieser neue Blick ging von nun an in die Geschichte von Gut und Böse ein. Auch diese Veränderung im Selbstverständnis der Menschen des Westens trug dazu bei, dass die Gewissheit der Möglichkeit eines Wissens um Gut und Böse durch den fruchtbaren Zweifel an jeder Sicherheit des Wissens korrigiert wurde. Nach der Großen Erzählung des Christentums konnte auch die Philosophie nicht mehr sicher sein, dass ihre Gewissheiten tatsächlich für alle Menschen wahr sein müssen. Auch die Berufung auf die eine Vernunft fand nun eine prinzipielle Grenze. Diese Grenze war der andere Mensch, der nach der Großen Erzählung des Christentums nicht nur durch das Liebesprinzip grundsätzlich in seiner Andersheit gerechtfertigt war. Er stellte auch deshalb eine Grenze für alle Erörterungen über Gut und Böse dar, weil sich ihm der Gott so sehr gleich gemacht hatte, dass er sogar für ihn geboren wurde und gestorben war. Die Große Erzählung des Christentums, die die Große Erzählung des Alten Testaments auf eine bestimmte Weise fortsetzt und korrigiert, enthält damit eine Ambivalenz, die den Geist des Westens fortan prägte. Auf der einen Seite stand die Sicherheit des Wissens vom Guten und Bösen, die den Menschen selbstverständlich werden konnte, die in dem Bewusstsein lebten, dass sich der Gott ihnen gleich gemacht hatte. Auf der anderen Seite fand gerade diese Sicherheit eine Grenze im anderen Menschen, der nun bewusst wurde als jemand, für den der Gott in gleicher Weise Mensch geworden und für dessen Erlösung er in gleicher Weise gestorben war. Eine Ambivalenz ist keine statische Konstellation. Es kann immer versucht werden, sie nach der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Die Geschichte der Auffassungen vom Guten und Bösen in der abendländischen Kultur können auch als Versuche zu einer solchen Auflösung gedeutet werden. Allerdings gibt es kaum einen Ansatz, der die Ambivalenz radikal beseitigen wollte. Die wichtigen und folgenreichen Positionen enthielten stets beide Seiten, deren Gewicht jedoch verschieden bestimmt wurde.
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3. Das Gute und sein philosophischer Anfang 3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon) Ethik oder Klugheitslehre? Die philosophische Erkundung des Guten begann jedoch schon einige Jahrhunderte vor der Großen Erzählung des Christentums, und sie begann ohne Zusammenhang mit der Großen Erzählung des Alten Testaments. Das mit dem Christentum in die Welt gekommene Verständnis des Menschen und seines Wissens und speziell seiner Kenntnis über Gut und Böse spielte bei dieser für den Geist des Westens fundamental gewordenen Erkundung keine Rolle. Als jedoch der Geist des Christentums in die Welt gekommen war, verband er sich schon in den ersten schriftlichen Zeugnissen über die Botschaft vom Mensch gewordenen Gott mit den Grundlinien des philosophischen Denkens, das Jahrhunderte zuvor in Griechenland entstanden war. Die christliche Lehre kam nicht in eine jungfräuliche Welt. Zwar war sie neu und die ersten Philosophen hätten sie höchst erstaunlich gefunden, hätte sie in der griechischen Welt überhaupt zur Sprache kommen können. Wahrscheinlicher ist, dass sie so wenig in den athenischen Horizont gepasst hätte, dass man sie nicht einmal artikulieren hätte können. Nichtsdestoweniger waren es genau die gedanklichen Bestände aus den Anfängen der griechischen Philosophie – und damit der Philosophie überhaupt, mit denen sich die christliche Botschaft verband. Ohne griechisches Denken wäre die christliche Lehre nicht die, die wir kennen. Vielleicht würden wir überhaupt kein Christentum kennen, hätte diese Verbindung nicht stattfinden können. Vielleicht würden wir von Jesus heute nur als von einem der zahlreichen wandernden Prediger wissen, die in der damaligen Zeit nicht so selten waren, und vermutlich wäre diese Kenntnis auf einige spezialisierte Historiker beschränkt. Die christliche Botschaft konnte nur deshalb in wenigen Jahrhunderten zu einer bestimmenden Macht in der zu jener Zeit den Westen ausmachenden Welt werden, weil sie einen inneren Zusammenhang mit dem Denken aufwies, das Jahrhunderte zuvor in Griechenland entstanden war, und das wir heute in dem verengten Begriff der Philosophie zusammenfassen. Wir sind dabei, den Geist des Westens nicht nach der Seite des theore49
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
tischen Wissens zu erkunden, sondern nach der Seite des Wissens um Gut und Böse. Deshalb werden wir zunächst zwei Gedankenzusammenhänge aus der antiken Ethik heranzuziehen, die die christliche Welt schon vor ihrer eigentlichen Geburt fundamental geprägt haben. Beide haben darüber hinaus den Horizont des philosophischen Denkens über Gut und Böse so bestimmt, dass viel später behauptet werden konnte, die ganze Philosophie bestünde im Grunde nur aus Fußnoten zu Platon – wir könnten hinzufügen: und zu Aristoteles. Dieses philosophische Denken über das, was wir gut und was wir böse nennen können, verband sich so eng mit dem Denken, das mit dem Christentum in die Welt gekommen war, dass die platonischen und aristotelischen Ansätze über ihr Fortwirken im ethischen Philosophieren bis heute nicht nur direkt in den Geist des Westens eingegangen sind, sondern dass sie auch die zweite Hauptströmung – die christliche Lehre – fundamental prägten. Wir beginnen deshalb den Gang durch die philosophischen Grundlegungen des westlichen Geistes in Bezug auf die Frage nach dem Guten bei Platon. Hier findet sich eine bestimmte Frageform, die das nachfolgende Denken entscheidend geprägt hat. Dieses Fragen scheint uns heute selbstverständlich zu sein, und wir gebrauchen es fast alltäglich. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass es sich für uns nur deshalb von selbst versteht, weil ihre Erfindung bei Platon unser Denken und Fragen durchwirkt und strukturiert. Diese Frageform sucht allgemein nach dem, ‚was etwas ist‘. Wir können sie im Zusammenhang unserer Erörterungen sofort auf die Form ‚was ist das Gute‘ bringen. Als Platon diese Form des Fragens erfand, war dies keineswegs selbstverständlich. In den frühen Dialogen stellt Platon selbst dar, wie seine Gesprächspartner mit vollkommenem Unverständnis auf diese Frage reagierten und sie kaum verstehen konnten. Auf der anderen Seite müssen wir jedoch auch berücksichtigen, dass die antike Ethik mit einer Fragestellung beginnt, die heute für uns nicht mehr den ganzen Umfang der Frage nach dem ausmacht, was wir tun sollen. Die moderne Ethik tendiert dazu, die Frage nach dem, was wir mit Bezug auf die anderen Menschen tun sollen, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Für sie steht nicht mehr im Zentrum, dass eine ethische Untersuchung auch danach fragen kann oder soll, was je ich für mich selbst wahrhaft will oder wollen soll. Man könnte dies pointiert auch so formulieren: im Zentrum der antiken Ethik stand die Frage ‚Wie soll man leben?‘, während der Mittelpunkt der modernen Ethik das Problem darstellt ‚Wie soll man handeln, wenn das Handeln sich auf andere Menschen auswirkt?‘. Aber auch schon bei Platon und Aristoteles lassen sich die ethischen Gedankengänge nicht auf eine bloße Klugheitslehre reduzieren. Dies wird 50
3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon)
vor allem bei Platon deutlich. Es geht hier nicht in erster Linie um individuelle Ziele, die um des Eigeninteresses willen verfolgt werden, sondern diese Ziele sind eingeordnet in eine größere Ordnung der jeweils verfolgten Zwecke. Innerhalb dieser über den einzelnen Menschen hinausgehenden Ordnung verfolgt jeder seine Ziele in der Ausrichtung auf ein umfassendes letztes Ziel, das ihm nicht als einzelnen Menschen zugehört, der eine kurze Zeit auf der Erde lebt und sein Leben so angenehm wie möglich verbringen will. Mit dieser Annahme einer übergreifenden Ordnung der Ziele geht Platons Ethik – ebenso wie dann die des Aristoteles – weit über eine Klugheitslehre hinaus. Was ‚gut‘ genannt werden soll, darf sich nicht an den am Eigeninteresse orientierten Zielen des einzelnen Menschen orientieren, sondern muss ausgerichtet sein an der übergreifenden Ordnung der Zwecke. Die platonische Ethik beginnt mit dem Begriff der ‚Tugend‘ und von hier führt ihr gedanklicher Weg zur Konzeption des ‚Guten‘ bzw. zur Idee des Guten. ‚Tugend‘ ist die übliche Übersetzung des griechischen Wortes ‚arete‘, aber es wäre vielleicht besser, von ‚Güte‘ oder von ‚Gutsein‘ zu sprechen. Allerdings ist der Nachteil des Ausdrucks ‚Güte‘, dass er doppeldeutig ist und auch im Sinne von ‚Gütigkeit‘ als Haltung eines Menschen verstanden werden kann, was hier nicht gemeint ist. ‚Arete‘ wird sprachlich im Griechischen von dem substantivierten Superlativ von ‚agathos‘ abgeleitet, das bedeutet ‚edel, gut, zweckmäßig, nützlich‘. Man könnte also auch von ‚Bestheit‘ oder von ‚Vortrefflichkeit‘ sprechen. Gemeint ist eigentlich der werthöchste Zustand einer Sache, d. h. der Status, in dem sie am meisten ‚sie selbst‘ ist. Es geht in der Tugend nicht um Klugheitsregeln. Es geht um ein ‚gelingendes‘ Leben, aber nicht im Sinne der Verwirklichung des subjektiven Eigeninteresses, sondern in der Orientierung an einem Wissen, das unabhängig von und vor der Erfahrung und aus der Einsicht in eine objektive Ordnung von Mitteln und Zielen gewonnen werden kann. Die Tugend wird danach als ein Wissen verstanden, das sich ‚an der Sache‘ selbst orientiert, nicht am subjektiven Wünschen. Man könnte bei aller gebotenen Vorsicht also sagen, dass mit dem Begriff der Tugend ein ‚Gelingen‘ des Lebens aus einem Wissen darüber bezeichnet wird, was es überhaupt heißt, dass Leben ‚gelingt‘, d. h. aus dem, was sich aus der Idee des Lebens dafür überhaupt ausmachen lässt. Man könnte Platons Vorstellung vom gelingenden oder geglückten Leben also auch mit dem Begriff des Glücks bestimmen. Zu einem ‚Gut‘ wird etwas dadurch, dass es zu unserem Glück beiträgt. Aber es geht dabei um ein objektiv gelingendes Leben, nicht um eine subjektive Gemütsverfassung. Man könnte auch sagen: die Güter werden gemessen nach ihrem Beitrag 51
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
zum Erfüllungsglück, nicht zum Empfindungsglück. Dieses Glück ist dort erreicht, wo das Streben zur Erfüllung kommt, aber nicht ein beliebiges Streben, sondern das Streben, das sich auf das Erstrebenswerte richtet. Daraus ergibt sich, dass von der ‚Güte‘ bzw. der ‚Tugend‘ nicht in einem beliebigen Sinne die Rede sein kann; was Tugend ist und wann man von ‚Güte‘ oder ‚Vortrefflichkeit‘ bei einer Handlung oder einem Verhalten reden kann, dies ist auch nicht durch eine empirische Untersuchung über das, was wir tatsächlich erstreben, herauszufinden. Folglich wird Platon einen Weg suchen müssen, auf dem er unabhängig von der erfahrbaren Welt herausfinden kann, was zur Erfüllung des ‚wahren‘ menschlichen Strebens führt. Diese Unterscheidung zwischen der bloßen Erscheinung und der wahren Natur einer Sache beginnt mit der Lehre von den Ideen, und diese Lehre wird durch eine bestimmte Frage geprägt.
Die Idee und die Ethik Bei Sokrates bzw. bei Platon – und wir können hier nicht zwischen beiden unterscheiden – beginnt die Ethik mit der Frage ‚Was ist … ?‘ : ‚Was ist die Weisheit?‘, ‚Was ist die Tapferkeit?‘, ‚Was ist die Besonnenheit?‘, ‚Was ist die Gerechtigkeit?‘ ; und darüber hinaus wird die grundsätzliche Frage in dieser Form gestellt ‚Was ist die Tugend?‘. Für das Denken Platons und für die ganze Geschichte des abendländischen Denkens weit über die Ethik hinaus wird es prägend, wie er auf eine Antwort kommen will. Zunächst können wir davon ausgehen, dass zu Platons Zeit ein gewisses Wissen in Athen und vermutlich in allen griechischen Stadtstaaten darum vorhanden war, dass es sich bei der Weisheit, der Tapferkeit, der Besonnenheit und der Gerechtigkeit um ‚Tugenden‘ handelt. Vermutlich haben die Kinder schon gelernt, dass sie diese Tugenden üben sollen und dass sie nicht ‚gut‘ sind, wenn sie in ihrem Leben und Handeln davon abweichen. Vermutlich hat man sie darüber so unterrichtet, wie das heute noch ganz ähnlich geschieht: man hat ihnen Beispiele für ein ‚tugendhaftes‘ Handeln und/oder Verhalten genannt oder gezeigt und man hat sie getadelt, wenn sie gegen diese Tugenden verstoßen haben. Platon hat jedoch in die Philosophie eine Fragestellung eingeführt, die den athenischen Eltern und Erziehern wahrscheinlich sehr seltsam vorgekommen wäre. Er wies darauf hin, dass man Fragen nach dem richtigen Handeln oder Verhalten nicht abschließend beantworten kann, indem man Beispiele anführt. Mit Beispielen kann man eine Frage von der Form ‚Was ist etwas?‘ nicht so beantworten, dass sie ein für allemal geklärt ist und die 52
3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon)
Antwort als ein immer wieder neu einsetzbarer Besitz zur Verfügung steht. Mit jedem neuen Beispiel verändert sich das, was wir als ‚Tugend‘ oder als eine bestimmte Tugend ansehen wollen. Wir können ja nicht vorweg bestimmen, dass es sich nur um Beispiele für z. B. die ‚Gerechtigkeit‘ handelt, wenn wir nicht schon wissen, was die Gerechtigkeit ist. Das aber sollten wir gerade erst aus den Beispielen erfahren. Im Grunde können wir so überhaupt nicht wissen, dass es sich um Beispiele gerade für Gerechtigkeit handelt. Wenn wir nicht zuvor und unabhängig von den Beispielen wissen, was die Gerechtigkeit ist, so dienen die Beispiele ja nicht zur ‚Erläuterung‘ und dazu, den Begriff der Gerechtigkeit für Menschen verständlich zu machen, denen Definitionen nicht liegen, sondern sie sollen uns erst zu einem Begriff von der Gerechtigkeit verhelfen. Haben wir diesen Begriff aber noch nicht, woher sollen wir dann wissen, dass es sich dabei tatsächlich um Beispiele gerade für ‚Gerechtigkeit‘ handelt? Platon will also zunächst darauf aufmerksam machen, dass wir ein bestimmtes Vorwissen immer schon einsetzen, wenn wir etwas durch Beispiele erklären, die Beispiele für etwas Bestimmtes sein sollen. Wer die Gerechtigkeit durch Beispiele gerechten Handelns oder Verhaltens erklärt, der setzt eine allgemeine Kenntnis von der ‚Gerechtigkeit‘ voraus – er weiß, warum er ein bestimmtes Verhalten als ‚gerecht‘ und ein anderes nicht als ‚gerecht‘ bezeichnet. Er kennt etwas, das in allen möglichen Beispielen für etwas identisch ist und das allen Beispielen gemeinsam ist. Ein solches Identisches und Gemeinsames ist eine ‚Form‘, nicht ein ‚Gehalt‘. Platon bezeichnet diese Form, aufgrund derer wir von einem Identischen in vielen Einzelfällen sprechen können, als die ‚Idee‘ (‚eidos‘ bzw. ‚idea‘). Demnach ist es die Bekanntschaft mit der Idee der Tapferkeit oder mit der Idee der Gerechtigkeit, die es uns erlaubt, von einzelnen Beispielen von Tapferkeit oder Gerechtigkeit sagen zu können, es seien Beispiele gerade von Tapferkeit bzw. von Gerechtigkeit. Die Idee ist aber nicht einfach nur das Identische in den vielen Einzelfällen. Sie ist auch das, was eine Sache zu dem macht, was sie eigentlich ist. Was die Gerechtigkeit eigentlich ist, kann nach diesem Gedanken nur von der Idee der Gerechtigkeit her verstanden werden. Platon wendet diesen Gedanken allerdings nicht nur in der Ethik an, sondern es handelt sich um den Grundgedanken seiner Philosophie, der in den nachfolgenden Jahrhunderten – wir könnten auch sagen: in den folgenden beiden Jahrtausenden – zu einem der Gedanken wurde, die das Denken des Abendlandes bestimmten. Er kann etwa auch von der Idee einer Biene sprechen, die das Identische in allen Bienen ist und das, was die Biene zu einer solchen macht; ‚eigentlich‘ ist die Biene also erst in ihrer Idee. Andererseits muss Platons Gedanke doch auch berücksichtigen können, 53
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
dass wir es im Leben üblicherweise nicht mit der Idee der Gerechtigkeit oder der Idee der Biene zu tun haben, sondern mit der Frage, ob eine bestimmte Handlung gerecht genannt werden kann, und mit Problemen nicht mit Ideen-Bienen, sondern mit stechenden Bienen. Dafür hat Platon zwei Verständnismodelle entwickelt. (1) Es gibt zunächst das Modell der Teilhabe. Danach ist eine bestimmte Biene eine Biene und ist eine bestimmte Handlung gerecht, weil die Biene an der Idee der Biene und die Handlung an der Idee der Gerechtigkeit teilhat. (2) Ein zweites Modell ist das der Mimesis bzw. der Darstellung oder Nachahmung. Die konkrete Biene ist danach eine Biene und nicht eine Wespe oder eine Hummel, weil sie in ihrem Dasein die Idee der Biene zur Darstellung bringt, indem sie diese Idee nachahmt. Eine gerechte Handlung ist deshalb gerecht, weil sie in ihrer individuellen Gestalt die Idee der Gerechtigkeit darstellt oder nachahmt oder abbildet. Man könnte dieses Modell auch als Urbild-Abbild-Verhältnis verstehen. Dann ist die Idee das Urbild oder auch Vorbild, und die konkreten Dinge bzw. Einzeldinge sind, was sie sind, indem sie die Idee nachbilden bzw. abbilden. Mit dieser Relation der Nachahmung oder Darstellung oder Teilhabe ist nun ein sehr wichtiger Bestandteil der platonischen Ideenlehre angesprochen. Das Verhältnis zwischen der Idee und dem Einzelding ist asymmetrisch. Die gerechte Handlung ist gerecht, weil sie an der Gerechtigkeit teilhat und sie darstellt, aber die Gerechtigkeit selbst ist nicht von der einzelnen gerechten Handlung abhängig und wir lernen sie nicht durch diese Handlung kennen. Man könnte das Verhältnis also so beschreiben: die Ideen sind wirklich und vollkommen das, was sie sind, ohne von den Einzeldingen abhängig zu sein. Die Einzeldinge dagegen sind nur ‚etwas‘, so dass wir sagen können, was sie sind, weil sie die Ideen zur Darstellung bringen. Die Einzeldinge sind abhängig, die Ideen dagegen selbständig. Die Einzeldinge können nicht für sich bestehen, wenn sie etwas sein sollen, das wir zum Ausdruck bringen können, sie sind überhaupt nur ‚etwas‘ durch ihren Bezug zu den Ideen. Mit Platons Gedanken von den Ideen ist nun auch eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsformen verbunden, die wiederum eine Rangordnung angibt. Alles, was wir mit Hilfe unserer Sinne erkennen, sind nur Einzeldinge. Die Einzeldinge sind, was sie sind, nur in Abhängigkeit von den Ideen. Daraus ergibt sich, dass auch die Wahrnehmung durch die Sinne nur eine zweitrangige Erkenntnis leisten kann, nämlich solcher Dinge, die unselbständig sind und nur durch ihren Bezug auf die Ideen sind, was sie sind. Wenn die Ideen jedoch nicht von den Einzeldingen abhängig sind, so können wir sie auch nicht durch die Wahrnehmung der Einzeldinge erkennen. Es muss also einen besonderen Zugang zu 54
3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon)
den Ideen geben: wir können die Ideen nur durch Denken erkennen. Damit ist eine für das platonische Denken ganz charakteristische Problemlage gegeben. Es besteht eine Kluft zwischen der Welt der Einzeldinge, die durch die Sinnlichkeit wahrgenommen werden können, und der Welt der Ideen, die nur durch Denken erkannt werden. Damit können wir zur Ethik zurückkehren und zu verstehen suchen, was die Ideenlehre denn dazu beiträgt, dass wir in einem ethischen Sinn von richtigen und von falschen Handlungen oder Verhaltensweisen sprechen können. Der Grundgedanke Platons ist hier sehr einfach. Dass wir bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen überhaupt nach ihrem ethischen Gehalt auszeichnen können, also sagen können, sie seien in einem ethischen Sinne richtig oder falsch, dies geht darauf zurück, dass wir mit den Ideen von dem, was richtig oder falsch ist, ein Kriterium besitzen, mit dessen Hilfe wir Handlungen oder Verhaltensweisen beurteilen können. Wären wir nicht mit der Idee der Gerechtigkeit vertraut, so könnten wir nicht sagen, eine bestimmte Verteilung von Lebenschancen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft sei ‚gerecht‘ und eine andere ‚ungerecht‘. Würden wir die Idee der Tapferkeit nicht kennen, so könnten wir eine Handlung – gleichgültig ob im Krieg oder im Frieden – nicht als tapfer oder feige bezeichnen. Aus dem Gesagten geht auch hervor, dass wir nur unter der Voraussetzung einer Bekanntschaft mit den Ideen der Tugenden sagen können, wir wissen etwas von den Tugenden. Jenseits der Ideen sind wir auf die unvollkommenen Darstellungen angewiesen, die wir mit Hilfe der Sinnlichkeit von etwas gewinnen können. In diesem Fall können wir aber keine wirkliche Erkenntnis darüber erreichen, was etwas ist. Wir können also auch nicht wissen, ob eine bestimmte Handlung Gerechtigkeit enthält, oder ob eine andere Handlung tapfer war, wenn wir nicht durch das Denken Erkenntnis über die Ideen gewinnen, von denen her die gerechte Handlung gerecht und das tapfere Verhalten tapfer genannt werden kann. Die Ideenlehre hat für die Ethik also auch die Bedeutung, dass wir nur mit Hilfe der denkenden Einsicht in die Ideen der Tugenden wissen können, was gerecht oder tapfer ist. Wir können nur durch Erkenntnis der Ideen wissen und nicht nur vermuten oder glauben, wann etwas in einem ethischen Sinne richtig oder falsch genannt werden kann. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung. Bei Platon ist die Tugend primär ein Wissen über etwas, das von den einzelnen Fällen unabhängig ist und für sich selbst besteht. Sie ist nicht ein Wissen von der gerechten Handlung, sondern von der Idee der Gerechtigkeit. Die gerechte Handlung kann viele unterschiedliche Gestalten annehmen, aber was sie gerecht macht, ist ihre Teilhabe an oder Darstellung bzw. Nachahmung der Idee der Gerechtig55
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
keit. Demnach können wir in der Ethik auch nicht den kleinsten Fortschritt machen, wenn wir nur Beispiele gerechter Handlungen aufzählen können. Die Bedingung der Ethik ist die ‚geistige Schau‘ der Ideen der Tugenden – nur so können wir wissen, was die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Besonnenheit ‚eigentlich‘ ist, und nur dann können wir sie in einzelnen Handlungen erkennen, und nicht nur vermuten oder meinen, es handle sich um eine gerechte, tapfere oder besonnene Handlung.
Die Tugend und das Glück Der Begriff ‚Glück‘ beinhaltet die Bedeutung der Selbstzweckhaftigkeit, es ist ein Ziel, das seinen Sinn in sich selbst hat und nicht darin, wieder als Mittel für andere Zwecke eingesetzt zu werden. Damit ergibt sich für Platon eine Anleitung, um die Bedeutung der Tugenden für das menschliche Glück zu bestimmen. Zunächst ist das Streben nach Glück eng mit dem Streben nach solchen Gütern verbunden, die ihren Sinn und Zweck in sich selbst haben. Wenn wir ein Gut um eines anderen Gutes willen anstreben, so werden wir nicht sagen, das erstere sei Teil unseres Glückes. Zu unserem Glück rechnen wir nur das letztere Gut, aber auch nur dann, wenn es nicht wiederum um eines noch anderen Gutes willen erstrebt wird. Wir finden in unserem Handeln und Verhalten also Ketten von Ziel-Mittel-Zusammenhängen, innerhalb derer wir Güter um anderer Güter willen erreichen wollen. Am Ende einer solchen Kette steht immer ein Gut, das um seiner selbst willen erstrebt wird, weil es seinen Sinn und Zweck in selbst hat. Wenn das menschliche Glück nun von solchen Gütern abhängt, die um ihrer selbst willen begehrt werden, so könnte es als der Inbegriff dieser Güter verstanden werden. Damit würden wir aber das Problem außer Acht lassen, wie das Glück denn mit diesen Gütern zusammenhängt, die einen Selbstzweck darstellen. Das Glück könnte sich von diesen Gütern unterscheiden und selbst ein neues Gut darstellen. Das Problem des Zusammenhangs zwischen dem menschlichen Glück und den selbstzweckhaften Gütern wäre jedoch gelöst, wenn wir Güter finden könnten, die wir um ihrer selbst willen erstreben. Es müsste sich um Güter handeln, die immer und in jeder Situation zum menschlichen Glück beitragen. Man könnte auch sagen: es müssten Güter sein, deren Glücksbeitrag nicht von dem jeweiligen Kontext abhängt, in dem wir sie erstreben, und die uns glücklich machen, ohne dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Platon behauptet in der Tat, es gebe solche Güter und sie seien identisch mit den Tugenden bzw. mit der Tugend. 56
3.1 Das Gute als theoretische Idee (Platon)
Speziell die Tugend der richtigen Einsicht (‚sophia‘ – auch als ‚Weisheit‘ bezeichnet) soll nun ein Gut darstellen, das frei ist von den Ambivalenzen der anderen Güter, die wir um ihrer selbst willen anstreben. Dies ist insofern leicht einzusehen, als derjenige, der ‚weise‘ ist, alle Güter richtig einsetzen kann, also so, dass sie nicht kollidieren und keine Ambivalenzen zeigen. Wer ein Gut mit der richtigen Einsicht anstrebt, der kann bei allen Gütern davon ausgehen, dass sie ein Gelingen enthalten, und für den werden alle Güter, die er um ihrer selbst willen anstrebt, zum Gelingen seines Glücks im Leben beitragen. Darüber hinaus ist bei der richtigen Einsicht auch die missbräuchliche Verwendung ihrer selbst und aller anderen Güter, die auf ihrer Grundlage angestrebt werden, ausgeschlossen. Also macht die richtige Einsicht erst alle anderen Güter, die um ihrer selbst willen angestrebt werden, zu Gütern, die ohne Ambivalenz und ohne Zweifel bezüglich der Folgen begehrt werden können, so dass sie auch ohne Ambivalenz und Zweifel zum menschlichen Glück beitragen. Die Tugend trägt diesem Gedanken zufolge ganz entscheidend zum Glück bei, weil sie uns dazu führt, alle Güter in der richtigen Weise anzustreben. Für die Tugend der richtigen Einsicht ist dies relativ einfach nachzuvollziehen, aber was ist mit den anderen Tugenden – um nur die wichtigsten zu nennen: mit der Tapferkeit (wir könnten auch Mut sagen) und der Gerechtigkeit? Platon behauptet zwar, dass der Weg zu einer Tugend auch immer der Weg zur der Tugend ist. Aber ist damit das Prinzip der Tugend der rechte Weg zum gelingenden menschlichen Leben, das wir als höchstes Glück bezeichnen können? Wir könnten dieses Problem aufzulösen versuchen, indem wir das gerechte und das mutige bzw. tapfere Bemühen um die Erfüllung des Strebens als Bedingungen für die richtige und erstrebenswerte Erfüllung alles Strebens auffassen. Wer gerecht und mutig und mit der richtigen Einsicht strebt, der wird auch zu der richtigen Erfüllung seines Strebens gelangen, mehr noch, er wird zuvor schon wissen, was erstrebenswert ist, und er wird nur das Erstrebenswerte begehren, so könnte man diesen Gedanken zusammenfassen. Ist die Tugend also das Glück, bzw. sind die Tugenden insgesamt das Glück? Nicht ganz: Platon kennt durchaus einen Unterschied zwischen der Tugend und dem Glück. Das Glück ist das Ziel alles Strebens, das darin zu seiner vollen und erstrebenswerten Erfüllung kommt. Die Tugend dagegen ist selbst kein Ziel des menschlichen Strebens. Sie ist die Bedingung des genuin menschlichen Glücks – also des Glücks, das der Mensch aufgrund seiner richtigen Einsicht bejahen und reflektiert erstreben kann, man könnte sagen: des ‚wahren‘ Glücks der Erfüllung, das sich nicht auf ein Empfindungsglück reduzieren lässt. Es ist auch möglich, die Tugend im platoni57
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
schen Sinne als die Bedingung des ‚vernünftigen Glücks‘ zu verstehen, wobei ‚vernünftig‘ allerdings nicht im landläufigen Sinne der Klugheit als Sicherung des langfristigen Eigeninteresses verstanden werden darf und nicht auf die richtige Kalkulation von Mitteln für bestimmte Ziele reduziert werden kann. Es ist deutlich, wie die platonische Ethik als Tugendphilosophie in diese Auffassung von einem ‚vernünftigen‘ Glück im Sinne des Glückes des wahrhaft Erstrebenswerten passt. Platons Begriff des Glücks ist damit weit von gegenwärtigen Vorstellungen entfernt. Er hat aber die Vorstellung vom guten und gelingenden Leben im Abendland nachhaltig geprägt. Platon kannte jedoch noch nicht die Wende zum Subjekt und zum Individuum, die erst viele Jahrhunderte später einsetzte und die unser Denken heute auf eine andere Weise bestimmt. Diese Vorstellungen wären jedoch ohne Platons Gedanken nicht möglich gewesen. Nach seinem Begriff von Glück ist es eine selbstzweckhafte Erfüllung des genuin menschlichen Strebens, das nur durch Tugend erreicht werden kann. Das Gute ist also das, was den Menschen in seinen ‚besten Zustand‘ versetzt, d. h. ihn der ‚Tugend‘ als der Selbstvollendung annähert. In diesem Zustand ist er als Mensch im höchsten Sinne ‚entfaltet‘, d. h. seine Möglichkeiten als Mensch sind auf das Beste verwirklicht. Deshalb ist die Idee des Guten auch das letzte Ziel alles Strebens, wenn wir mit Platon annehmen, dass der Mensch in seinem Leben in erster Linie danach strebt, das, was er ist, im höchsten Maße zu verwirklichen und zur Darstellung zu bringen. Am Anfang des abendländischen Denkens bei Platon geht es auf der Grundlage des Gedankens von einer Idee des Guten immer auch um eine Selbsttranszendenz, um den Weg über sich hinaus. Dies liegt schon daran, dass es nach dem platonischen Gedankengang keinem Menschen anheim gestellt ist, die Idee des Guten allein und individuell für sich zu wählen und zu bestimmen. Das gelingende und glückliche Leben ist diesem Gedankengang zufolge also nicht das aufgrund von klugen Vorkehrungen maximal lustvolle Leben, sondern das Leben, das sich vervollkommnet in der Orientierung an der Idee des Guten und damit an der Einheit der Gesichtspunkte des Maßes, der Schönheit und der Wahrheit. Das setzt letztlich voraus, dass es darauf vertraut, seine Selbstvervollkommnung bestehe nicht in der Verwirklichung eines individuell und subjektiv vermuteten Selbstes, sondern in der Gewinnung seines Selbstes aus der Einsicht in eine es übersteigende wahre Ordnung, die sich in Maß, Schönheit und Wahrheit zeigt. Es ist kein Zufall, dass darin christliche Vorstellungen erkennbar werden.
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3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles)
3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles) Platon und Aristoteles Platons Denken blieb schon in der Antike nicht ohne Widerspruch. Die Kritik kam vor allem von einem zweiten Denker, der ebenso für den Geist des Westens von fundamentaler Bedeutung werden sollte. Der wichtigste Einwand von Aristoteles gegen Platons Lehre von der Idee des Guten ist sehr einfach: wenn wir uns darauf beschränken, die Idee des Guten in der Theoria – also in der ‚Schau‘ der Ideen – zu betrachten, so ändert dies nichts an unseren Handlungen. Fassen wir das Gute nur als Idee auf, so bleibt es folgenlos für unser Leben. Es ändert nichts am Lauf der Dinge in der Welt, ob wir die Idee des Guten nun schauen oder nicht. Darüber hinaus verwenden wir den Ausdruck ‚gut‘ auf vielfältige Weise, ohne dass ein Zusammenhang zwischen diesen Verwendungsweisen mit der Idee des Guten hergestellt werden könnte. Deshalb kann es auch nicht eine einzelne Wissenschaft vom Guten geben. Wenn wir es aber nicht in seiner Einheit wissen können, dann wird die Annahme einer Idee des Guten ‚über‘ dem, was wir in den verschiedenen Bedeutungen als ‚gut‘ bezeichnen, ganz und gar sinnlos. Wir können das Gute als solches nicht von den einzelnen Handlungen und Haltungen abtrennen, die wir als ‚gut‘ bezeichnen. Es gibt ‚Güter‘, aber nicht ‚das Gute‘. Die aristotelische Ethik tritt also mit einem ganz anderen Selbstverständnis auf als die platonische; es geht nicht um die theoretische Schau des Guten, sondern um seine Verwirklichung im täglichen Leben – es geht um das gute und gelingende Leben. Wir wissen vom Guten deshalb auch nicht in der Weise der Theorie; vor allem können wir hier keinen Anspruch auf Letztgültigkeit und auf letzte Begründbarkeit erheben. Dies wird schon durch die Konzentration auf das Handeln statt auf die Theorie unmöglich. Das Handeln ist viel zu kompliziert, als dass es möglich wäre, es durch ein gesichertes Wissen über das richtige Handeln im Einzelfall zu leiten. Wenn wir nichts über ‚das Gute‘ wissen können, so müssen wir uns mit dem Wissen von den ‚Gütern‘ zufrieden geben. Damit differenziert sich das ethische Wissen grundsätzlich in viele einzelne Wissensbereiche, die sich jeweils aus dem Bereich der Praxis begründen, nicht aber aus einer übergreifenden Theorie. Zwar sind ethische Erwägungen möglich, aber sie erreichen nicht von selbst die Ebene des alltäglichen Handelns, dessen Komplexität die Theorie immer überschreitet. Das Wissen um das gute und gelingende Leben bedarf der Umsetzung in das alltägliche Leben, wohin die Theorie nicht reicht. Es ist über die Ethik hinaus zumindest immer noch das Urteilsvermögen notwendig, um im Ein59
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
zelfall wissen zu können, was wir tun sollen. Die Ethik hat es also mit einem Thema zu tun, das es von sich aus nicht erlaubt, es auf dem Niveau wissenschaftlicher Exaktheit zu behandeln. Daraus ergibt sich auch, dass für das Wissen um das Gute nun nicht mehr der Philosoph das Monopol beanspruchen kann. Für das gelingende und gute Leben ist es nicht notwendig, zur Wesensschau des Guten befähigt zu sein. Deshalb weiß der ‚Fachmann‘ auf dem Gebiet der Ethik nun nicht mehr ohne weiteres besser als der Laie, was gut ist und was wir tun sollen. Aristoteles behauptet sogar, eigentlich wüssten wir alle, was zu tun sei, wenn wir ein ‚gutes‘ Leben führen wollen. Der Ethiker kann uns allenfalls in Zweifelsfällen belehren, indem er uns hilft, unsere Vorstellungen in der richtigen Weise auch auf diesen einzelnen Fall anzuwenden. Allerdings besteht nun auch nicht mehr die Möglichkeit, den ethischen Urteilen oder Vorurteilen der ‚Vielen‘ oder der ‚meisten‘ eine grundsätzliche Alternative entgegenzuhalten. Deshalb besitzt diese Ethik nur geringe Möglichkeiten, sich kritisch gegen die in einer Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen über das gute und gelingende Leben zu wenden und andere Konzepte zur Geltung zu bringen. In Aristoteles’ Ethik kommt zum ersten Mal im Abendland deutlich zum Ausdruck, dass die Ethik keine theoretische Aufgabe hat – sie soll uns nicht lehren, wie wir etwas über das Gute wissen können, sondern wie wir gute Menschen werden können. Es geht also an dieser Stelle der Geschichte der Ethik nicht um das Wissen um die richtige Begründung von Sätzen, in denen wir ein Sollen zum Ausdruck bringen. Ethik hat hier viel mehr die Bedeutung von ‚Charakter‘. Darunter kann eine sich durch das Leben ziehende Haltung verstanden werden, mit der wir unser Leben führen und mit der wir uns anderen Menschen und darüber hinaus der Welt gegenüber darstellen. Es ist das, was unser Leben von uns selbst her prägt. Auch Aristoteles setzt also voraus, dass wir nicht nur geprägt werden, sondern dass wir unser Leben auch selbst formen und gestalten. Eine solche Selbstformung unseres Lebens geschieht jedoch nicht, indem wir Urteile über einzelne Forderungen darauf hin untersuchen, ob in ihnen ein begründetes Wissen zum Ausdruck kommt. Das wird schon durch die Abzielung auf ‚Charakter‘ deutlich. Wir formen uns selbst, indem wir einen Charakter formen – oder einen in der Kindheit und Jugend geprägten Charakter umformen – und uns auf dieser Grundlage durch Handlungen gegenüber anderen Menschen und gegenüber der unbelebten Welt darstellen.
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3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles)
Die Seele und der Zweck Für Aristoteles stellt sich nun die Frage, ob es eine Leitlinie oder ein Orientierungskriterium für unsere Lebenshaltung gibt, ob wir also einen Maßstab haben, nach dem wir uns richten können, wenn wir uns von uns selbst her und durch uns selbst prägen wollen. Der Ausdruck für dieses Kriterium lautet allgemein wiederum ‚arete‘, ein Ausdruck, der oft mit ‚Tugend‘ wiedergegeben wird. Wir haben schon im Zusammenhang mit Platons Denken darauf hingewiesen, dass dies nicht ganz falsch ist, wenn wir das Wort Tugend nicht in dem Sinn verwenden, den es heute angenommen hat. Gemeint ist aber eigentlich etwas, das wir am besten mit ‚Gutsein‘ oder auch mit ‚Vortrefflichkeit‘ übersetzen können. Kennen wir aber ein Verfahren, mit dessen Hilfe wir bestimmen können, was eine ‚gute‘ Lebenshaltung ausmacht, so dass wir von einem Menschen mit einer solchen Haltung sagen können, er sei ein ‚guter Mensch‘ ? Aristoteles’ Antwort besteht grundsätzlich in der Erörterung dessen, was die ‚eudaimonia‘ ausmacht. Dieser Ausdruck wird gern mit ‚Glück‘ übersetzt, und auch das ist nicht ganz falsch, es kommt nur darauf an, was wir mit diesem Ausdruck meinen. Bei Aristoteles ist in erster Linie nicht ein Zustand der Erfüllung aller Wünsche gemeint, es wird damit eigentlich überhaupt kein Zustand bezeichnet, sondern eine Tätigkeit. Es ist die Tätigkeit, in der und mit der das Leben gelingt, indem wir aufgrund dieses Tätigseins als Menschen ‚gedeihen‘. Wenn die Eudaimonia also ein Kriterium darstellen soll, mit dem die Lebenshaltung eines gelingenden menschlichen Lebens von dem eines nicht gelingenden abgegrenzt werden kann, und wenn sie eine Tätigkeit der Seele sein soll, so muss sie sich auf das beziehen, was speziell dem Menschen als sein Prinzip des Lebens zukommt. Damit wird nicht gesagt, dass der Mensch ohne die anderen Vermögen wie Nahrungsaufnahme oder Wahrnehmung leben könnte, die auch den Tieren zukommen. Aristoteles behauptet nur, dass für den Menschen noch darüber hinaus Prinzipien des Lebens gelten, über die etwa die Tiere nicht verfügen. Er behauptet außerdem, dass gerade in diesen Fähigkeiten jene Tätigkeit der Seele gesucht werden muss, die er Eudaimonia nennt, und die wir mit etwas Vorsicht als Glück bezeichnen können. Wenn Aristoteles hier Denken und Einsicht nennt, so sollten wir darunter nicht einfach die Fähigkeiten verstehen, die wir in den Wissenschaften für die Gewinnung von Erkenntnissen einsetzen. Es geht bei diesen spezifisch menschlichen Eigenschaften auch nicht um abstrakte Logik oder Mathematik. Gemeint ist vielmehr ganz allgemein die Fähigkeit, im Leben nicht nur in Abhängigkeit von Forderungen der Natur handeln zu müssen, sondern 61
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
über einen Bereich der Freiheit zu verfügen, in dem wir zwischen verschiedenen Handlungsalternativen abwägen können. Ein solches Abwägen setzt voraus, dass wir uns verschiedene Alternativen zumindest für eine kurze Zeit gleichzeitig vor Augen halten können, ohne uns sofort für eine Möglichkeit entscheiden zu müssen. Der Zusammenhang zwischen einem Umweltreiz, der uns zum Handeln zwingt, und der Reaktion muss also unterbrochen sein, d. h. wir können ‚innehalten‘, um zu überlegen, wie wir am besten handeln. Im Grunde können wir erst hier von ‚Handeln‘ sprechen, denn ohne diese Unterbrechung des Reiz-Reaktions-Zusammenhangs gibt es nur Verhalten, das wir auch den Tieren zuschreiben, die reflexhaft aufgrund von Instinkten und gelernten und dann automatisierten Schemata reagieren. Wenn Aristoteles also das ‚gute‘ Leben als eine Tätigkeit der Seele bestimmt, so muss er einen Zweck angeben können, der nicht bedingt ist, wie dies bei allen technischen Zusammenhängen der Fall ist. Er muss nicht einen der vielen Zwecke im Leben als Kriterium für die ‚Tugend‘ bzw. ‚Vortrefflichkeit‘ auszeichnen, die das Leben zu einem ‚guten‘ macht, sondern er muss einen Zweck des Lebens finden, mit Hilfe dessen wir nicht einen einzelnen Lebensvollzug, sondern das ganze Leben ‚gut‘ heißen können. Vom Glück als Zweck des Lebens her soll demnach angeben werden können, was ein ‚gutes‘ Leben ist. Ein ‚gutes‘ Leben ist also ein solches, das ‚glücklich‘ ist, und daraus ließe sich ein Maßstab für das Streben nach dem Guten entnehmen, das in einer Tätigkeit der Seele besteht: nach dem Glück streben heißt nach dem guten Leben streben. Damit ist die aristotelische Ethik allerdings nicht am Ende, sondern hier beginnen die Probleme erst richtig, mit denen sie sich beschäftigt. Eine wichtige Folge für die aristotelische Konzeption der Ethik zeigt sich schon an dieser Stelle. Das Glück des Menschen ist für Aristoteles durchaus irdisch zu verstehen, es geht also nicht um das Streben nach der ‚Glückseligkeit‘ im Sinne eines das persönliche Leben transzendierenden Heils, also nicht um die Teilhabe am Göttlichen. Auch hier finden wir den Widerspruch gegen Platon, und dieser Widerspruch ist ebenso in das Denken des Abendlandes eingegangen wie das Denken, dem damit widersprochen wird. Der aristotelische ‚Eudämonismus‘, wie die Auffassung, das Streben nach Glück sei das Fundament der Ethik, heute genannt wird, hat es mit Affekten, mit Handlungen und Haltungen im Leben zu tun. Damit scheiden an sich geltende Normen und Werte als Maßstäbe für das ethisch Richtige von vornherein aus. In gewisser Weise hat es die Ethik nun mit dem ‚Nützlichen‘ zu tun, auch wenn dieser Begriff nicht eng verstanden werden darf und die philosophische Position des Utilitarismus noch sehr lange auf sich warten lassen wird. Es geht nicht um abstrakte Konzepte und Ideen, es geht bei 62
3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles)
Aristoteles aufgrund der Orientierung am gelingenden und guten menschlichen Leben um Handlungsorientierungen, die sich am Leben orientieren, wie es von den Menschen wirklich gelebt wird. Die Eudaimonia ist eine Tätigkeit der Seele in Übereinstimmung mit der ‚Tugend‘ im Sinne der ‚Vortrefflichkeit‘ des Lebens. Wir haben schon im Zusammenhang mit der aristotelischen Seelenvorstellung darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit der Seele, die Aristoteles Glück nennt, in den spezifisch menschlichen Fähigkeiten des Denkens und der Einsicht liegt, die dem Menschen eine Freiheit verleihen, die wir den Tieren nicht zuschreiben. In der Tat sieht Aristoteles darin Glücksmöglichkeiten, die spezifisch dem Menschen zukommen und in denen wir das erkennen können, was die ‚Vortrefflichkeit‘ des Menschen ausmacht. Auf diese Weise gelingt ihm eine Selbstprägung seiner Lebenshaltung, in der er sein eigenes Glück als Mensch findet. Wenn Denken und Einsicht als die Fähigkeiten ausgezeichnet werden, die das spezifische Glück des Menschen ausmachen, durch das er als Mensch ‚gut‘ heißen kann, so können wir nun sagen: das menschliche Leben findet sein eigenes Gelingen darin, dass es diese Fähigkeiten als die speziell dem Menschen offenstehenden Glücksmöglichkeiten einsetzt. Gerade die Vernunft – die Fähigkeit des Denkens und der Einsicht – ist das, was den Menschen so von allen anderen Lebewesen unterscheidet, dass er darin sogar etwas ‚Göttliches‘ besitzt, wie Aristoteles sich ausdrückt. Es ist verständlich, dass er die Eudaimonia des Menschen deshalb vor allem in einer Tätigkeit sieht, die ‚vernünftig‘ genannt werden kann. Diese vernünftige Seite des Menschen, die ihm spezifisch zukommt, kann aber in zwei Richtungen verwirklicht werden. Zum einen kann die Tätigkeit der Vernunft selbst und bloß als solche als die im eigentlichen Sinne das Menschliche verwirklichende Lebensweise ausgezeichnet werden. Dann ist das Ideal des Lebens der Weise, der sich mit dem Denken beschäftigt, d. h. mit der ‚Theorie‘, was im Griechischen auch ‚Schau‘ hieß. Aber für Aristoteles ist das gute Leben ebenso eine Tätigkeit der Seele in einem zweiten Sinne. Damit ist die Leistung der Vernunft und der Einsicht für die spezifisch menschliche Gestaltung des Lebens in seinen alltäglichen Verwirklichungen gemeint. In diesem Sinne muss das ‚Gedeihen‘ und Gelingen des Lebens nicht darin bestehen, dass es auf ein bloß ‚schauendes‘ und denkendes Betrachten reduziert wird. Die spezifisch menschlichen Fähigkeiten werden auch dann eingesetzt, wenn bei den alltäglichen Lebensvollzügen Vernunft und Überlegung verwendet wird. Es ist bezeichnend für die aristotelische Ethik, dass sie keine abschließende Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Glück gibt. Wir wissen nur, dass die menschliche Praxis nicht wie der Tiere ‚von Natur aus‘ 63
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
gelenkt wird, d. h. es ist nicht ‚natürlich‘ vorgegeben, worin der Zweck des Lebens und die Zwecke im Leben zu suchen sind. Aristoteles ist sich also durchaus bewusst, dass bereits die Gesellschaft des griechischen Stadtstaats so differenziert ist, dass es in ihr viele Ziele geben kann. Daraus ergibt sich vor allem, dass allgemeine Auskünfte über das gelingende und gute Leben sich gegenüber den Menschen selbst ausweisen müssen, die in der Gemeinschaft zusammenleben und darin ihr Glück suchen. Sie können also nicht durch Dekrete von Philosophen bestimmt werden, die über ein Wissen über das Glück zu verfügen beanspruchen. Die Ethik des Aristoteles ist sehr stark durch seine Einsicht in das von Natur aus zu geringe Wissen in Fragen der Führung eines guten und gelingenden Lebens bestimmt.
Die Bestimmung der Tugenden Aristoteles’ Ethik besteht nicht aus einer Ableitung ethischer Vorschriften aus Prinzipien der reinen Vernunft, die allgemeine und notwendige Geltung für sich beanspruchen könnten, weshalb dann auch die daraus gewonnenen Anweisungen für alle vernünftigen Wesen gelten müssten. Aber Aristoteles will auch nicht einfach die in seiner Zeit vorhandenen Sitten auf Begriffe bringen, um sie dann als das Maß aller Dinge auszugeben. Seine Methode ist durch zwei Maßstäbe geleitet. Zum einen geht er von den Phänomenen aus, von dem also, was sich beobachten lässt. Das sind im Falle ethischer Erörterungen die Meinungen der Menschen in der gegebenen Kultur und Gesellschaft, hier also im athenischen Stadtstaat. Dies geht letztlich selbst auf eine wichtige Einsicht des Aristoteles zurück: das gute Leben ist nur im Zusammenhang der Gemeinschaft zu führen und es ist abhängig von der Verfassung der Gesellschaft, unter deren Bedingungen es gelebt wird. Deshalb gibt es keine ethischen Erörterungen, die ohne Bezug auf das geführt werden könnten, was in der gegebenen Welt als richtig und als gut angesehen wird. Aber Aristoteles beginnt die Ethik zwar mit einer Untersuchung über das, was in der Wirklichkeit seiner Welt als gutes und gelingendes Leben angesehen wird, er bleibt dabei jedoch nicht stehen. Wir haben bisher diesen Bereich der aristotelischen Überlegungen herausgestellt, in dem er nach der ‚Natur‘ und dem Wesen des Menschen sucht und von hier aus das gute und gelingende Leben bestimmen will. Wollen wir jedoch herausfinden, wie einzelne Tugenden so bestimmt werden können, dass sie zum Glück des Menschen und damit zu seinem guten Leben beitragen können, so müssen wir auf die ‚phänomenologische‘ Seite der aristotelischen Ethik zurückgehen. 64
3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles)
Nach dieser Seite versucht Aristoteles einen engeren Anschluss an die Vorstellungen seiner Zeit und seiner Gesellschaft zu finden – aber er geht auch hier auf eine originelle Weise über diese Vorstellungen hinaus. Damit sind wir bei der Lehre von den ‚wahren‘ Tugenden als Verhaltensweisen in der Mitte von Extremen, also bei der Mesotes-Lehre. Über die aristotelische Lehre von den Tugenden als der richtigen Mitte zwischen extremen Verhaltensweisen gibt es viele unrichtige Vorstellungen, etwa als Forderung, sich stets lau und halbherzig zu verhalten, oder als eine unsinnige Übertragung arithmetischer Proportionen auf menschliche Maximen nach dem Schema ‚6 ist die Mitte zwischen 2 und 10‘. Aristoteles war sich natürlich bewusst, dass man das richtige Handeln nicht ausrechnen kann, wie man die Mitte zwischen zwei Zahlen errechnen kann. Er betonte auch, dass die von ihm gemeinte ‚Mitte‘ nicht die Mittelmäßigkeit ist, sondern gerade die vollkommene Weise des vortrefflichen Verhaltens, d. h. die Realisierung des guten Lebens und nicht seine gehemmte und reduzierte Form. Es geht in der Mesotes-Lehre im Grunde stets um die ‚richtige‘ Mitte, d. h. von der Mitte ist in einem proportionalen Sinne die Rede, und ‚proportional‘ ist die Mitte in Bezug auf die Situation, aber auch in Bezug auf die Person in der Situation. Aristoteles führt als ein Beispiel die sinnliche Lust an, deren ‚Tugend‘ als ‚Besonnenheit‘ in der Mitte zwischen der Zügellosigkeit und der Empfindungslosigkeit liegt. Wenn man an die Lust am Essen denkt, so leuchtet dies unmittelbar ein, denn wer ständig zu viel isst, wird bald in einen ähnlich krankhaften Zustand geraten wie der, der sich jeden Genuss am Essen verbietet, und beide werden über kurz oder lang keine sinnliche Lust mehr auf diesem Gebiet verspüren. Hier legt sich eine Auffassung nahe, die die ‚Mäßigung‘ als eine Bedingung für die Beständigkeit der Lust im und am Leben versteht. Ein anderes Beispiel ist die schon genannte Tapferkeit; hier kommt es nicht nur darauf an, mit Überlegung und Besonnenheit zu handeln, sondern tapfer kann nur der heißen, der auch das richtige Maß zwischen Feigheit und Tollkühnheit hält. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass Aristoteles seine Lehre von der richtigen Mitte nicht schematisch und für alle Verhaltensdispositionen durchführen kann, die wir als ‚vortrefflich‘ und als Beitrag zum guten Leben ansehen. Es ist auch zu sehen, dass man die richtige Mitte nicht ausrechnen kann. Vor allem aber gibt es kein Patentrezept, das uns sagt, wo für wen unter welchen Umständen die Mitte ist. Deutlich ist auch geworden, dass es bei der aristotelischen Lehre nicht nur um Handlungen geht, sondern auch um Affekte. Handlungen wie Affekte sind dann in der richtigen Mitte, wenn sie dem Sachverhalt angemessen sind, der sie auslöst oder auf den sie 65
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
sich beziehen. Angemessen sind sie, wenn sie durch Vernunft bestimmt sind, wenn sie also nicht einem Reiz-Reaktions-Zusammenhang gehorchen, sondern durch Überlegung und Einsicht gelenkt werden. Nur in dieser Angemessenheit tragen Handlungen und Affekte zum gelingenden und guten Leben und damit zur Verwirklichung der spezifisch menschlichen ‚Vortrefflichkeit‘ bei.
Die Gerechtigkeit und der Staat Es gibt in der aristotelischen Ethik eine ‚Vortrefflichkeit‘, die er besonders auszeichnet: die Gerechtigkeit. Also muss darin auch besonders deutlich werden, worin das gute und gelingende Leben liegt, das die Eudaimonia realisiert, indem dem Menschen durch eine Tätigkeit in der Orientierung an der ‚Vortrefflichkeit‘ eine ‚Selbstprägung‘ gelingt, in der er sein Wesen am besten darstellt. Die Gerechtigkeit kann das gute Leben besonders deutlich zeigen, weil sie alle anderen Tugenden unter einer bestimmten Perspektive zusammenfasst. Mit der Haltung der Gerechtigkeit werden alle ‚Vortrefflichkeiten‘ auf andere Menschen bezogen und damit auf das Leben in der Gemeinschaft, d. h. für Aristoteles im Stadtstaat, der Polis. Dass der Mensch seinem Wesen nach ein ‚gemeinschaftsbildendes‘ Lebewesen ist, hat Aristoteles in der berühmten Formulierung vom ‚zoon politikon‘ zum Ausdruck gebracht, also vom ‚seinem Wesen nach in der Polis lebenden Tier‘. Die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn und damit das gute Leben im Verhältnis zu anderen Personen nimmt bei Aristoteles nun einen besonderen Sinn an, der uns fremd anmuten kann. ‚Gerecht‘ in diesem Sinn von Gerechtigkeit ist jeder Mensch, der sich an die Gesetze des Staates hält, und ‚ungerecht‘ ist dementsprechend der Gesetzesbrecher. Uns ist diese Auffassung von Gerechtigkeit heute fremd, weil wir zwischen dem, was ‚legal‘ ist, und dem, was ‚legitim‘ ist, auch im Verhältnis zwischen Personen und sogar im staatlichen Zusammenleben zu unterscheiden gelernt haben. Aristoteles verbindet jedoch die ‚Tugend‘ bzw. das ‚Vortreffliche‘ mit der Eudaimonia bzw. dem Glück des Menschen und bezeichnet die Suche nach dem Glück, das dem Menschen nach seinem Wesen entspricht, als Kriterium für das gute und gelingende Leben. Daraus ergibt sich, dass auch die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn als Gehorsam gegenüber den Gesetzen ihren letzten Sinn aus ihrem Beitrag zu dem spezifisch menschlichen Glück finden muss. Demnach ordnet Aristoteles also auch den Staat und seine Gesetze in den Bereich der ‚Vortrefflichkeiten‘ ein, die dem Menschen zu seinem Glück und seinem guten und gelingenden Leben führen. 66
3.2 Das Gute im Handeln der Praxis (Aristoteles)
Wir könnten hier den Bezug auf die zu befolgenden Gesetze etwas weiter fassen und als Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn all das verstehen, das in der staatlichen Gemeinschaft zum Glück der Bürger führt, indem es den Staat als Instanz für die Regelung der Beziehungen unter den Menschen erhält. Wenn die Gerechtigkeit des Staates die ‚Vortrefflichkeit‘ unter dem Aspekt der Beziehungen zu anderen Menschen angeben soll, und die ‚Vortrefflichkeit‘ sich aus der Orientierung am guten und gelingenden Leben orientiert, dann dürfen auch die staatlichen Gesetze nicht gegen die ‚Vortrefflichkeiten‘ oder Tugenden verstoßen, die Grundlage des menschlichen Glücks sind, und denen offensichtlich eine große Bedeutung für unser Verhalten gegenüber anderen Menschen zukommt. Die Regelungen im Staat müssen also grundsätzlich die Tapferkeit in der Verteidigung des Staates oder der Verfassung vorschreiben, nicht aber die Tollkühnheit oder die Feigheit; sie müssen Großzügigkeit gegen andere gebieten, nicht aber Verschwendung oder Geiz. Auch Aristoteles spricht also von der ‚richtigen‘ Verfassung der Gesetze, die sich unter Umständen von der tatsächlichen Verfassung der Gesetze unterscheiden kann. Dieser Aspekt tritt jedoch in seiner Ethik, die sich als Teil einer Staatsphilosophie versteht, in den Hintergrund. Wichtiger wird für ihn die andere Seite der Beziehung zwischen den ‚Vortrefflichkeiten‘ und den staatlichen Regelungen für das Zusammenleben. Nicht nur sollen die Tugenden die Gesetze bestimmen, sondern mehr noch sollen umgekehrt die Gesetze dazu da sein, den Bürgern zu einem ‚tugendhaften‘ Leben zu verhelfen. Ist die aristotelische Ethik also eine Lehre von der notwendigen Anpassung an die Meinungen, die in der staatlichen Gemeinschaft vertreten werden dürfen, vor allem aber an die Gesetze des Staates? Nicht ganz. Die Ethik ist für Aristoteles zwar grundsätzlich ein Teil der Philosophie des Staates. Aber das muss nicht heißen, dass ihr nicht auch eine Korrekturfunktion zukommt. Anders als bei Platon gehört die Ethik nicht mehr allein der Theorie an, d. h. der Schau der Idee des Guten. Sie gehört aber auch nicht einfach so in die Praxis, dass sie nur das beschreiben sollte, was ohnehin geschieht, und außerdem noch das vom Staat gebilligte Verhalten als das einzig richtige auszeichnen müsste. Von einer solchen Position entfernt sich die aristotelische Ethik schon dadurch, dass sie auf der Vernünftigkeit des Abwägens bei der Bestimmung der Tugenden beharrt und durch ihr zentrales Anliegen im gelingenden und guten Leben des Menschen. Auf der anderen Seite ist der Mensch für Aristoteles so sehr ein ‚staatsbildendes Lebewesen‘, dass sein Glück und damit auch seine ‚Vortrefflichkeit‘ nicht unabhängig von den Regeln des Zusammenlebens der Menschen im Staat bestimmt werden kann. Die Ethik kann uns lehren, die Grundsätze 67
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
richtig auf Fälle anzuwenden; sie kann die Grundsätze erläutern und vernünftig untersuchen. Sie kann allerdings nicht aus reiner Vernunft das angeben, was wir tun sollen. Dafür ist sie auf das angewiesen, was in einem gegebenen Staat als richtig und gut gilt. Darin liegen aber nicht nur die Grenzen der aristotelischen Ethik. Diese Grenzen wurden zu einem grundsätzlichen Problem des abendländischen Denkens über das Gute und das Böse. Aristoteles hat dieser Problemkonstellation bereits in der Antike zu ihrem ersten und fundamentalen Ausdruck verholfen.
3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens Die platonische Grundlegung Platons Denken gewann im Unterschied zu der aristotelischen Lehre nicht die gleiche Bedeutung eines expliziten Referenzzentrums, wie dies bei der letzteren in der christlichen Philosophie über Jahrhundert hinweg geschehen sollte. Aber es waren zentrale Elemente der platonischen Philosophie, die das Denken im Abendland prägten und bis heute gestalten. Erst in den letzten drei Jahrhunderten fanden sich mehr und mehr Fundamentaleinwände gegen das platonische Denken. Schon das erwähnte Urteil, alle Philosophie habe bis heute im Grunde nur aus Fußnoten zu Platon bestanden, war nicht unbedingt positiv gemeint. Die Kritik begann mit Descartes’ Begründung des philosophischen Denkens und führte von da zu Kant und in den Deutschen Idealismus. Im 20. Jahrhundert wurde diese Kritik in einem grundsätzlichen Sinne von Heidegger und von Wittgenstein vorgebracht, und heute steht Platons Denken nicht mehr in sehr hohem Ansehen in der philosophischen Profession. Der Geist des Westens ist jedoch keine Angelegenheit, über die auf kurze Frist in den Dienstzimmern der akademischen Philosophen entschieden wird. Unser Denken ist so sehr von den Strukturen beherrscht, die mit Platons Philosophie in die Welt kamen, dass wir nur mit Mühe bemerken können, wie wenig selbstverständlich einige unserer zentralen Denkformen sind, obwohl wir sie ständig gebrauchen. Wir fragen ganz natürlich, was eine Sache ‚ist‘, die uns problematisch oder zweifelhaft erscheint, und begnügen uns nicht mehr mit Beispielen, sobald wir eine gewisse Bildung erworben haben. Es erscheint uns auch notwendig, dass die Sache in ihrer richtigen Bestimmung dann für alle gleich erscheinen soll, soweit die Begriffe reichen, 68
3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens
mit deren Hilfe wir sie bestimmt haben. Soll diese Bestimmung verändert werden oder wird ein gegebener Begriff als unzureichend oder falsch bezeichnet, so fordern wir Gründe, die uns eine vernünftige Rechtfertigung für eine solche andere begriffliche Bestimmung der Sache geben sollen. Diese Begründung soll sich auf die Sache selbst beziehen können, so dass sie uns dann mit Hilfe der richtigen Begriffe gegeben ist, wie sie selbst ist, nicht nur, wie wir sie uns individuell vorstellen mögen. Der Geist des Westens ist zutiefst durchwirkt von der Ambivalenz dieses Anspruchs, mit Hilfe von Begriffen die Sache selbst angeben zu können, und die Sache selbst nur durch die richtigen Begriffe zugänglich machen zu können. Auf der einen Seite dieser Ambivalenz steht die Erfahrung der Geschichte der westlichen Welt, aus der wir heute zuerst lernen, dass die begrifflichen Bestimmungen der Sachen selbst auf eine doppelte Weise mit Macht zu tun haben. Zunächst kann es sich um eine Macht gegenüber den Sachen selbst handeln, die nicht als sie selbst erscheinen können, wenn menschliche Begriffe sie konstruieren und sie nur in diesen Konstruktionen für Menschen bewusst werden können. Darüber hinaus ist die Weltgeschichte auch eine Geschichte der von Menschen ausgeübten Macht über Begriffe und damit über die Vorstellungen von den Sachen selbst, die als die richtigen Vorstellungen gelten sollten oder mussten. Mit welchen Begriffen wir über die Sachen sprechen, dies hängt auch von der Macht der Menschen ab, die die Begriffe beherrschen und sie anderen Menschen vorschreiben, deren Zugang zu den Sachen damit selbst der Macht anderer unterworfen ist. Niemand wird annehmen wollen, die Bestimmung der Begriffe sei stets von den Weisen und Wohlmeinenden und sachangemessen Denkenden vorgenommen worden. Auf der anderen Seite dieser Ambivalenz steht jedoch die kritische Kontrolle aller begrifflichen Bestimmung und Erkenntnis der Sachen selbst. Grundsätzlich muss sich auch die Macht, die Begriffe bestimmt und damit den Zugang zu den Sachen beherrscht, mit Gründen ausweisen können. Die Macht ist damit nie mehr unumschränkt. Sie kann sich lange Zeit gegen das Ablegen von Rechenschaft über die richtige begriffliche Bestimmung der Sachen selbst wehren. Auch wenn sie darin sehr erfolgreich ist, so bleibt sie doch stets bedroht. Sie kann sich ihrer nie mehr vollkommen sicher sein. Will sie beanspruchen, dass es sich in einem gegebenen Fall um die richtigen Begriffe handelt, so muss sie ebenso beanspruchen, dass sie in der Lage ist, diese Begriffe vor der Vernunft ausweisen zu können, und dass nur in dieser Ausweisung die Sachen selbst zu ihren richtigen Begriffen kommen können. Damit wird sie angreifbar. Diese Angreifbarkeit gehört nun zu ihrem Wesen. Jede Macht, die Gründe für ihre Begriffe angeben muss, ist keine 69
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
absolute Macht mehr. Sie ist in ihrem Zentrum schon dem Zweifel anheim gegeben, auch wenn sie ihm lange Zeit durch den Einsatz ihrer physischen Machtmittel widerstehen kann. Diese kritische Potenz ist von nun an ein zentrales Moment im Geist des Westens. Man könnte pointiert sagen: der Geist des Westens ist ein Geist der Kritik, die Rechtfertigung und Ausweisung fordert. Diese Forderung kann nur vorübergehend stillgestellt werden. Diese Dynamik des im Prinzip kritischen Bewusstseins des Fragens nach dem, was ist, und nach seiner richtigen begrifflichen Bestimmung war eine der entscheidenden Triebkräfte des Fortschritts auf dem Gebiet des theoretischen Wissens. Sie führte zu einer Kultur des theoretischen Diskurses, in dem Begriffe und Theorien sich durch die begrifflichen Bestimmungen der Sachen ausweisen mussten und die Sachen deshalb stets für neue Bestimmungen offen blieben. Damit war die Entwicklung in Gang gesetzt, die von den ersten Anfängen der Naturwissenschaften in der Naturbeobachtung bis hin zur Quantenphysik führen konnte.
Das Gute und das Begründen Wichtiger in unserem Zusammenhang sind aber die Auswirkungen des Denkens von Platon und Aristoteles auf den Umgang mit der Frage, was wir tun und lassen sollen und wie wir ein gutes Leben führen können. Wir hatten einleitend darauf hingewiesen, dass der Geist des Westens in dieser Frage nach dem Guten und wie wir von ihm wissen können sein eigentliches Zentrum besitzt. Auch diese Seite unseres Wissens wird von nun an durch die Frage geprägt, die mit Platons Suche nach einheitlichen vernünftigen Begriffen in die Welt gekommen ist. In allen Zusammenhängen der ‚Praxis‘, also dort, wo wir fragen, was wir tun sollen, ohne dass uns ein Ziel vorgegeben ist, für das wir nur ein technisch praktikables Mittel benötigen, beginnt nun ein Diskurs, der sich auf allgemeine Bestimmungen und Begriffe berufen muss, um für seine Ergebnisse eine ausreichende Akzeptanz und Legitimation finden zu können. Auch hier begnügen sich die Menschen des Westens nun grundsätzlich nicht mehr mit der Angabe von Beispielen, und auch Lehrsätze können nicht mehr unbezweifelt sagen, was getan werden soll. In den Fragen nach dem guten Leben und nach dem, was wir tun und lassen sollen, wenn es ‚gut‘ heißen soll, wird nun der Grundsatz des Begründens und d. h. der Bezugnahme auf allgemeine Begriffe und Gründe herrschend. Auch dieses Prinzip ist nicht so zu verstehen, dass es von nun an nur noch vernünftig zugehen wird, wenn nach dem Guten gefragt wird. Die 70
3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens
Macht wird weiter in einem mehr oder weniger großen Ausmaß über das bestimmen, was die Menschen als das Gute und als das Böse ansehen sollen und müssen. Die Macht wird in langen Zeiten der Geschichte so umfassend sein, dass den Menschen keine Zweifel an dem erlaubt sind, was ihnen als gut und als böse gelten soll. Aber auch hier handelt es sich um eine Macht, die von nun an in ihrem Innersten bedroht ist. In gewisser Weise kann sie nur bestehen, weil und solange sie sich gegen sich selbst wendet. Die Macht ist nun davon abhängig, dass mit ihr eine vernünftige Bestimmung des Guten verbunden ist. Diese kritische Potenz in ihr kann sie lange unterdrücken, aber sie bleibt in ihr selbst wirksam. In der Regel entwickelt sich diese kritische Seite in ihr selbst weiter und tendiert zu ihrer Überwindung und zu einer neuen Bestimmung dessen, was Gut und Böse heißen soll. Es ist nicht sicher, ob damit eine höhere Vernunft und ein besseres Wissen um das Gute und Richtige erreicht ist. Es kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Aber der Geist des Westens enthält auch in Bezug auf die Fragen über das richtige Leben und Tun eine innere Dynamik, die durch das vernünftige Begründen in Gang gehalten wird und damit durch das begriffliche Bestimmen, was etwas ist, von dem nur eine allgemeine Rechenschaft gegeben werden kann. Weil diese Rechenschaft begrifflich und allgemein ist und auf eine gemeinsame Sache Bezug nehmen muss, deshalb kann über das Gute und das Böse grundsätzlich nicht mehr von einem einzelnen Menschen entschieden werden. Im Prinzip müssen diese Fragen von nun an von allen entschieden werden. Allerdings kann vielen die Fähigkeit dazu abgesprochen werden. Dann muss aber gleichzeitig behauptet werden, dies dürfe deshalb geschehen, weil sie nicht vernünftig genug sind, um sich am Diskurs über die allgemeinen Wahrheiten zu beteiligen. Dieser Nachweis wiederum muss im Prinzip ebenfalls von allen Menschen entschieden werden können, denen die eine Sache vernünftig ausgewiesen werden kann. Das Prinzip der allgemeinen Wahrheit, an der sich die Entscheidungen über das Gute ausweisen müssen, wird dadurch nicht aufgehoben. Die Frage nach dem Guten kann sich deshalb jetzt nicht mehr nur als Frage nach dem je für mich Guten stellen, wenn damit gemeint ist: ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit, die von meinen Entscheidungen tangiert wird. Auch dieser Bezug auf das Allgemeine im Bereich der Fragen nach dem Guten und Bösen ist zu einem fundamentalen Moment im Geist des Westens geworden, und auch dieses Moment ist ambivalent. Es bringt auf der einen Seite der Ambivalenz die Verpflichtung mit sich, die Vernunft nicht als private Angelegenheit aufzufassen und sich selbst als fähig zu sehen, über die Fragen des Guten und des Bösen mit letzter Gewissheit zu entscheiden. An diese Stelle der ‚Privatheit‘ des Guten tritt nun die diskursive Auseinander71
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
setzung mit allgemeinen Begriffen, an der sich auch andere Menschen mit ihrer Vernunft beteiligen müssen und können. Diese Orientierung an der einen Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen gehört ebenso in den Geist des Westens wie das Prinzip der vernünftigen Begründung selbst. Die andere Seite dieser Ambivalenz ist jedoch die Abhängigkeit dessen, was für den einzelnen Menschen als gutes Leben gelten soll, von der allgemeinen Stimme der Vernunft, die ein solches Gelten nun in Begriffen ausweisen muss, die vor der Vernunft selbst Bestand haben können. Darin ist eine Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen angelegt, die sich in der Geschichte des Geistes des Westens fortsetzen und das westliche Denken fundamental prägen wird. Das Positive darin ist jedoch gerade, dass diese Spannung nie aufgelöst werden kann. Das Allgemeine kann gerade nicht das Individuelle so überwuchern, dass es nicht mehr erkennbar ist, jedenfalls nicht für immer. Lange Perioden werden folgen, in denen das Individuelle als sehr gering geschätzt zurücktreten muss, und sein Recht wird sich erst in der Neuzeit deutlicher durchsetzen können. Aber das Individuelle kann sich nur deshalb so durchsetzen, wie wir es heute gewohnt sind, weil es immer schon in den gedanklichen Grundlagen des Westens bewahrt wurde. Ebenso bleibt das Individuelle stets an die Auseinandersetzung mit dem Allgemeinen gebunden. Darin findet der moderne individuelle Geist seine allgemeine und individuelle Schranke. Diese Ambivalenz prägt über den Begriff des Guten und damit des guten Lebens auch den Begriff des menschlichen Glücks. Auch diese Konzeption ist mit Platon in den Geist des Westens eingegangen. Die Auffassung, was für den Menschen Glück heißen kann, ist auf diese Weise im Innersten mit den Fragen nach dem, was etwas ist, und nach dem Guten als dem Allgemeinen verbunden worden. Deshalb ist das menschliche Glück im Westen von nun an mit der Vernunft verbunden. Das gilt nicht in erster Linie für die technische Rationalität, die nach geeigneten Mitteln für gegebene Ziele sucht. Was nun für die Suche nach Glück bestimmend wird, ist vielmehr die Vernunft, die nach begründbaren und richtigen Zielen selbst fragt. Dass die Vernunft dazu beitragen kann, dass der Mensch glücklich werde, ist von nun an eine der Grundüberzeugungen, die den Geist des Westens prägen. Die Kehrseite wird jedoch sein, dass stets zwischen einem ‚wahren‘ und einem ‚falschen‘ Glück gesprochen werden muss. Auch hier geht es letztlich darum, durch richtige und d. h. vernünftig ausweisbare Begriffe zu einer Orientierung an den Sachen selbst zu kommen, die in der Allgemeinheit der Vernunft ihre richtigen und d. h. ihnen angemessenen Begriffe finden.
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3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens
Das Allgemeine und das Besondere Man könnte die aristotelische Lehre bis zu einem gewissen Grad als eine Fundamentalkritik an Platon verstehen und auf dieser Grundlage darauf hinweisen, dass die Erfindung des Guten durch Platon doch keine so große Bedeutung für den Geist des Westens besitzen könne, wenn Aristoteles ebenso als einer der beiden Gründer des abendländischen Philosophierens gelten kann. Aber es wäre ein Missverständnis, den Geist des Westens als eine eindimensionale Entwicklung einiger weniger Gedanken aufzufassen. Dies gilt im Übrigen auch für das Christentum als den zweiten der tragenden Pfeiler des Westens neben der Philosophie. Auch das Christentum war nie ein Monolith, auch zu den Zeiten nicht, als es noch keine konkurrierenden christlichen Glaubensrichtungen gab. Der Westen lebte stets von Auseinandersetzungen, die seinen Geist prägten und die Verpflichtung auf einzelne Positionen oder Denkschulen ausschlossen oder doch nur vorübergehend gelten ließen. Insofern kommt der Geist des Westens eben nicht zu einem Selbstbewusstsein, wenn er auf einen oder wenige Gedanken reduziert werden soll. Dieser Geist war stets diskursive Auseinandersetzung und gerade deshalb ‚Geist‘. Diese Auseinandersetzung begann in der Antike bereits mit der Kritik des Aristoteles an Platon. Kritisieren kann man jedoch nur von einer gemeinsamen Plattform aus. Diese Einsicht war fundamentaler Teil der Lehre Platons und der platonischen Verpflichtung des Wissens auf eine vernünftig ausgewiesene begriffliche Einsicht in das, was die Sachen selbst sein können oder sein sollen. Auch Aristoteles versuchte keineswegs, hinter diese Stufe zurückzugehen. In Aristoteles ist so viel Platon, dass er Platon auf einem angemessenen Niveau kritisieren konnte. Gerade deshalb ist er zum zweiten Gründer der abendländischen Philosophie geworden und nur deshalb gilt er heute noch als einer der bedeutendsten Philosophen, an den sich ganze Gedankenrichtungen vor allem in der politischen Philosophie und in der Ethik anschließen lassen. Und nur deshalb konnte er in kritischer Absetzung gegen Platon Gedanken entwickeln, die ebenso in den Geist des Westens gehören. Es geschah auf dem Boden des platonischen Vernunftideals, dass Aristoteles sich gegen Übertreibungen der platonischen Ideenlehre wandte, und seine Einwände gegen deren unzureichende Fähigkeit, für unser Handeln in der Welt unter praktischen Vorzeichen ausreichend Orientierung zu geben, waren genau der begrifflich ausweisenden Vernunft verpflichtet, die Platon zur Grundlage des Denkens und des Handelns machen wollte. Er erkannte jedoch sehr genau das Defizit, das in Platons Ideenlehre deren Heranziehung für die Zwecke der vernünftigen Begründung des Handelns ohne Orientie73
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
rung an vorgegebenen Zielen so schwierig machte. Wenn wir nur das Allgemeine kennen, so wissen wir noch nicht ausreichend über das Besondere Bescheid, so könnten wir diesen neuen Zug im Geist des Westens pointiert bezeichnen. Damit ist noch nicht entschieden, dass es nun das Besondere sein müsse, um das sich das Denken bemühen sollte. Aber es ist eine Ambivalenz bezeichnet, die nicht nur das aristotelische Denken charakterisiert, sondern das Denken des Westens überhaupt. Wir könnten diese Ambivalenz aber auch als die Weiterentwicklung eines Problembewusstseins bezeichnen. Gerade die fortwährende Höherentwicklung des Bewusstseins über die Probleme des Denkens und Handelns ist einer wesentlichen Entwicklungsfaktoren des westlichen Denkens. Die aristotelische Konzentration auf das Besondere in der Theorie und in der Ethik ist gegen Platon gerichtet, obwohl sie doch ebenso an Platon anschließt. Dies gilt auch für die ‚neue Bescheidenheit‘, die mit Aristoteles beginnt, und der wir in der weiteren Geschichte des Denkens stets als Reaktion auf überzogene Ansprüche des Denkens auf letztgültige Erkenntnisse in der Theorie und im Wissen über das Gute begegnen werden. Ein weiteres Element ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: war bei Platon der Philosoph, also der rein dem Denken verpflichtete Experte, derjenige, der über das Gute entscheiden sollte, so kommt bei Aristoteles der ‚Praktiker‘ zur Geltung. Auch darin können wir eine der vielen fruchtbaren Ambivalenzen des Geistes des Westens erkennen. Einerseits soll über das Gute durch die Vernunft entschieden werden, und dies ist letztlich auch die Auffassung von Aristoteles, aber über diese Vernunft kann in der Regel nicht ein einzelner Mensch verfügen. Diese Auffassung ist grundsätzlich schon im diskursiven Charakter der Vernunft bei Platon angelegt, aber sie wird nun von Aristoteles zum Zentrum seines Denkens. Wenn über das Gute nicht durch eine Setzung der Vernunft entschieden werden kann, so kommen nun modern anmutende Begriffe wie Geschichte und Entwicklung zu ihrem Recht. Das Gute geschieht nicht durch einen einmaligen Vernunftentschluss, sondern es ist uns in einer langen Entwicklung zur zweiten Natur geworden – wir sind auch, was wir geworden sind. Aber auch bei Aristoteles gibt es sofort die Korrektur dieses zunächst fatalistisch anmutenden Gedankens: für das, was wir geworden sind, tragen wir zum Teil selbst die Verantwortung. Wir haben in den verschiedensten Entscheidungssituationen unseres Lebens stets die Möglichkeit, uns auch anders zu entscheiden. Aber durch die getroffene Entscheidung legen wir uns auch für die künftigen Entscheidungssituationen fest, indem wir Gewohnheiten und Charaktere ausbilden. Es wird also eine Konzeption von der Geschichtlichkeit des Lebens des Menschen in Bezug auf seine Wahl von Gut 74
3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens
und Böse ausgearbeitet, die keineswegs die Freiheit der Wahl und die Verantwortlichkeit ausschließt. Auch diese Ambivalenz von Geschichtlichkeit und Verantwortlichkeit ist zu einem Teil des Geistes geworden, in dem wir im Westen über das gute Leben und Handeln entscheiden.
Das Gute im Leben der Gemeinschaft Damit sind wir bereits bei dem wichtigsten Gedanken des Aristoteles in Bezug auf Gut und Böse. Der Staat war auch bei Platon einer der Zentralbegriffe des ethischen Denkens, aber es ging in erster Linie um die Idee des Staates und wie er nach den Grundsätzen der reinen Vernunft gestaltet werden sollte. Nun erscheint die Bedeutung des wirklichen Staates in der Philosophie, des Staates also, in dem unvollkommene Menschen auf unvollkommene Weise und ohne Kenntnis der Idee des Guten miteinander leben und auskommen müssen. Die neue und folgenreiche Erkenntnis ist nun, dass dieser Staat keineswegs philosophisch bedeutungslos ist. Er ist auch nicht vom guten Leben der Menschen getrennt zu halten, das unabhängig von der Wirklichkeit des Staates in einer idealen Sphäre beschrieben werden könnte, unabhängig davon, wie es in der Wirklichkeit der Welt gelebt werden kann. Was gut heißen kann, ist damit von der Gemeinschaft abhängig geworden, in der über das Gute und Böse nicht nur mit Begriffen gestritten, sondern in der Praxis des gelebten Lebens mit anderen Menschen verhandelt wird, von denen man sich nur in Grenzfällen vollkommen unabhängig machen kann. Die neue Frage, die sich nun stellt, und damit das neue Moment, das der Geist des Westens damit in sich aufnehmen wird, ist die nach dem guten Leben im Staat. Diese Frage führt zu dem, was von der Allgemeinheit von den einzelnen Menschen gefordert werden kann. Aristoteles kommt auf diese Weise zu dem Begriff der ‚Tugenden‘, der bis heute einer der Grundbegriffe der Ethik geblieben ist, auch wenn nachfolgende Ethiker ihm eine eher randständige Bedeutung zugemessen haben. Wichtig und bleibend für den Geist, in dem künftig um das Gute und Böse verhandelt werden wird, ist daran vor allem, dass es sich um Eigenschaften handelt, die der Einzelne übernehmen soll, wenn er ein gutes Leben führen will. Dieses Leben ist nach der aristotelischen Lehre nur im Staat und d. h. in der Gemeinschaft der Menschen zu führen. Es ist damit nicht mehr ein Leben, das nur aus reiner Vernunft konzipiert werden könnte, indem die Idee des Guten verwirklicht wird. Es ist vielmehr ein Leben, das in der Spannung zwischen dem einzelnen Menschen und seinen individuellen Wünschen auf der einen Seite und 75
3. Das Gute und sein philosophischer Anfang
den Anforderungen der Gemeinschaft auf der anderen Seite geführt werden muss. Die Vernunft, die aristotelisch nun der Entscheidung über Gut und Böse und über das gute Leben zugrunde gelegt werden muss, ist damit eine Vernunft in der Gemeinschaft des Staates. Auch hier findet sich wieder eine fundamentale Ambivalenz. Der Staat kann die Vorstellungen der Herrschenden über die richtige Lebensführung verbindlich machen und so dem einzelnen Menschen gegenüber eine tyrannische Herrschaft ausüben. Dieser Gefahr kann nur begegnet werden, wenn ein kluger Ausgleich stattfindet zwischen den Bestrebungen des einzelnen und den Notwendigkeiten des Staates. Die aristotelische Lösung muss uns hier keineswegs überzeugen. Wichtig ist jedoch, dass dieses Problem nun bezeichnet wurde; man könnte die Leistung des aristotelischen Denkens sogar darin sehen, dass er nicht versucht hat, diese Ambivalenz eines Glückes des einzelnen, der sein Glück doch an der Allgemeinheit ausrichten muss, in einer einfachen Lösung aufzuheben. Sie wird bis heute eine der fundamentalen Problemlinien des ethischen Denkens bleiben. Es ist aber weiter die Vernunft, die uns dabei helfen soll, diese Problematik wenn schon nicht aufzulösen, so doch wenigstens aushaltbar zu machen. Damit wird die Vernunft zu einer Leitlinie für eine Lebensführung, die nicht an einer technischen Rationalität ausgerichtet wird, sondern an einem letzten Ziel, das Aristoteles ‚Glück‘ nennt, ohne damit aber einen Zustand zu bezeichnen, mit dem ein Ende erreicht wäre. Es geht ihm vielmehr um eine Anleitung für eine vernünftige Lebensgestaltung in allen Phasen, die sich am Glück ausrichtet, ohne doch jemals mit ihm identisch zu sein. Die Vernunft ist damit in das irdische Reich des Lebens des Menschen in der Gemeinschaft und seines Strebens nach Glück eingetreten. Damit hat das Glück eine bestimmte Begrifflichkeit gewonnen, von dem sich dieser Gedanke nicht mehr lösen wird. Die Vernunft hat nun die Aufgabe, sich um das Glück des konkreten Menschen zu bemühen, und diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn sie nicht nur jeweils den einzelnen Menschen betrachtet, sondern seine Lebenszusammenhänge im gesellschaftlichen und staatlichen Leben. Dass die staatliche und zuvor schon die gesellschaftliche Ordnung vernünftig sein sollen, ist von diesem Gedanken deshalb nicht mehr weit entfernt. Auch dies wird zu einem zentralen Moment im Geist des Westens werden. Bei Aristoteles kommt der Gedanke der ‚Gerechtigkeit‘ in die Welt. Damit wird die Frage nach einem Ausgleich zwischen den Forderungen des einzelnen und der Allgemeinheit allerdings nicht gelöst, aber doch so bezeichnet, dass die Vernunft des einzelnen und der Allgemeinheit verpflichtet werden, für die Gerechtigkeit zu sorgen, also für die Angemessenheit der 76
3.3 Der philosophische Anfang des Guten und der Geist des Westens
Forderungen und Leistungen der Gemeinschaft an und für den einzelnen Menschen. Dieses Problem wird die gesamte politische Philosophie in der weiteren Geschichte des Westens prägen. Wie die Gerechtigkeit ausgestaltet werden soll, ist noch nicht anzugeben, dazu vertraut Aristoteles viel zu sehr der Weisheit des Staates. Aber man kann von nun an auch nicht mehr zu Beispielen für gerechte Handlungen zurückkehren. Es ist vielmehr die Verpflichtung in den Geist des Westens aufgenommen, sich auf eine vernünftige Weise um die Bestimmung der Gerechtigkeit zu bemühen.
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4. Das gute Leben und das Glück des Menschen 4.1 Die Lust und das Gute (Epikur) Hedonismus und Glück Aus der Erörterung der Konzeptionen von Platon und Aristoteles ist schon deutlich geworden, dass die Frage nach dem Guten und Bösen im Abendland von vornherein in einem inneren Zusammenhang mit der Frage gestellt wurde, wie der Mensch sein Glück finden kann. Das gute und das glückliche Leben galten allerdings nicht als identisch. Aber von Glück sollte in einem Leben, das nicht gut genannt werden kann, nicht die Rede sein können. Umgekehrt waren Platon und Aristoteles grundsätzlich nicht bereit, ein unglückliches als ein gutes Leben zu bezeichnen. Diese Ambivalenz konnte nur aufgelöst werden, indem das spezifisch menschliche Glück selbst als ein ethischer Begriff definiert wurde. Ein solches Glück unterscheidet sich damit von dem nur Angenehmen und der bloßen Lust. In seiner höchsten Form wird es identisch mit der spezifischen Vollkommenheit des Menschen, die sein Leben zu einem guten werden lässt. Damit wird das Glück in erster Linie zu einer Angelegenheit des Betrachtens, der Weisheit und der theoretischen Einsicht. Dies ist nicht die ganze Wahrheit der Lehre vom Glück bei Platon und Aristoteles, aber damit ist die vorherrschende Tendenz in ihrem Denken bezeichnet. Gegen diese Tendenz wandten sich sowohl Epikur als auch die Stoa. Sie brachten eine in der antiken Grundlegung des Denkens schwächer gebliebene Tendenz zur Geltung, die das Glück mit der sinnlichen und körperlichen Wirklichkeit des Menschen zusammendenkt. Beide Richtungen sind in der Gestalt einer bleibenden Auseinandersetzung im Geist des Westens bewahrt worden. Epikurs philosophische Lehre ist vor allem unter dem Titel ‚Hedonismus‘ bekannt geworden. Dieser Ausdruck ist von dem griechischen Wort ‚hedone‘ abgeleitet, das mit Lust oder Freude übersetzt werden kann. Als ‚Hedonismus‘ wäre damit eine Ethik zu verstehen, die uns erklärt, wir ‚sollten‘ in erster Linie nach Lust bzw. Freude streben. Wir sollten jedoch Epikurs Hedonismus nicht vorschnell auf das Streben nach Lust in dem heutigen Verständnis dieses Begriffs festlegen. Zunächst ist es besser, wenn wir den Hedonismus als Gegenbegriff zu dem 78
4.1 Die Lust und das Gute (Epikur)
Begriff verstehen, der bei Platon und Aristoteles im Zentrum des ethischen Denkens stand. Dort war die Rede vom Streben nach Glück, und die Ethik sollte nicht nur zur Rechtfertigung moralischer Urteile beitragen, wie dies in der Neuzeit in den Vordergrund trat, sondern sie sollte den Menschen auf den Weg zum guten Leben führen, das nach diesen Gedankengängen von selbst auch ein glückliches und gelingendes Leben war. Im Mittelpunkt der Ethik stand dort die ‚eudaimonia‘ – die Glückseligkeit als das gelingende Leben. Das gelingende Leben wurde in einem bestimmten Sinne als eine ‚Selbstverwirklichung‘ gedacht, nämlich als Verwirklichung der Möglichkeiten, die im Menschen seinem Wesen nach angelegt sind. Epikur hat diese ethische Fragestellung keineswegs aufgegeben. Grundsätzlich geht es bei ihm ebenso wie bei Platon und Aristoteles um das gute Leben. Die zentrale Frage ist also nun, was bedeutet es für die Suche nach dem richtigen und guten Leben, wenn bei Epikur nicht mehr die Eudämonie, sondern die ‚hedone‘ im Mittelpunkt der ethischen Erörterung steht. Wenn Anfang und Ende des glücklichen Lebens die ‚Lust‘ ist, so stellt die Lust den Maßstab für alles das dar, was im menschlichen Leben erstrebenswert ist. Man sollte die Radikalität des epikureischen Gedankenganges nicht unterschätzen. Behauptet wird nicht, dass der Mensch nach Lust strebe. So weit hätten auch Platon und Aristoteles zustimmen können. Es wird vielmehr beansprucht, mit dem Begriff der Lust das Zentrum und gleichzeitig das Ziel des gelingenden menschlichen Lebens gefunden zu haben. Der Mensch strebt also nicht ‚auch‘ und gelegentlich nach Lust, sondern er findet gerade in diesem Streben die Erfüllung seines spezifisch menschlichen Lebens, das er dann als ein gelungenes bezeichnen kann. Die Lust ist also das höchste Gut und nicht ein Gut unter anderen, und sie ist das wahre Gut. Alles, was wir sonst noch als Güter bezeichnen, erhält diesen Titel nur abgeleiteterweise von der Lust, die den Maßstab für alle Güter darstellt. Epikur beansprucht also keine Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens von Menschen auf psychologischer Grundlage; er sagt nicht, dass unsere Handlungen nach ihren ersten Motiven durch das Streben nach Lust geleitet sind. Er erhebt vielmehr durchaus einen philosophischen Anspruch und will seine Thesen nicht als eine Beschreibung dessen verstanden wissen, was sowieso geschieht. Es geht auch ihm wie schon Platon und Aristoteles um die Frage nach dem Guten. Das Gute wird zum Guten, weil es zur Lust beiträgt; das gute Leben ist ein Leben der Lust, weil die Lust der Maßstab des Guten ist. Die Lust ist das ‚telos‘, d. h. das Endziel und der Endzweck, in dem nun die ‚eudaimonia‘ – das Glück als das gelingende Leben – ihre Realisierung findet. Sie ist nicht nur ein großer und bedeutender Teil des Lebens, sondern sie 79
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
ist der Mittelpunkt in dem Sinn, dass alle anderen Bestrebungen sich darauf beziehen müssen. Sie ist auch deshalb der Mittelpunkt, weil sie selbst sich auf nichts anderes bezieht. Die Lust bestimmt also alle anderen Bestrebungen und macht sie zu Funktionen, während sie selbst keine Funktion von irgendetwas anderem ist, sondern absolut zu verstehen ist. Sie ist der in sich ruhende und sich selbst genügende Mittelpunkt des gelingenden menschlichen Lebens. Epikurs Hedonismus ist deshalb durchaus ein Gedankenzusammenhang, der Anspruch auf die Bezeichnung ‚Ethik‘ erheben kann. Insofern ist seine Lehre nicht zu verwechseln mit den heute üblichen Ausdrücken ‚hedonistisch‘ oder ‚Hedonismus‘, wenn damit nur eine Beschreibung einer tatsächlichen Lebensorientierung gemeint ist.
Lust und Unlust Das Glück wird nun zu einer Angelegenheit des Individuums; es handelt sich um ein ‚privates‘ Glück. Diese Individualisierung des Guten und des Glücks beginnt zunächst mit der Konzentration auf die Empfindung. Nach Epikur ist alles Gute und alles Böse in der Empfindung bzw. Wahrnehmung (aisthesis), d. h. in der Sinnlichkeit. Die Lust der Empfindung ist ein Faktum, das seine eigene Wirklichkeit ohne Prüfung an derjenigen Instanz hat, die wir gewöhnlich Vernunft nennen. Wenn die Vernunft also urteilt, dass das höchste und wahre Gute in der Lust besteht, so nimmt sie eigentlich nicht selbst Stellung dazu, sondern sie folgt dem Urteil der Empfindung selbst. Die Vernunft ist sekundär, während der Empfindung ihre eigene Weisheit zugeschrieben wird, da aus ihr die Lust entsteht, die das wahre Gute darstellt. Die Vernunft ist kein Prinzip innerhalb der Ordnung der Welt, sondern ein subjektives Instrument, dessen sich der Mensch für seine individuellen Zwecke bedient, um sein gutes Leben zu befördern, das ausschließlich in der Lust gefunden werden kann. Epikurs Lehre gewinnt damit ihre philosophische Bedeutung vor allem deshalb, weil sie den ursprünglich platonischen Begriff des Guten nun so mit der Lust verbindet, dass die letztere bestimmen soll, was gut heißen kann. Sowohl für Platon als auch für Aristoteles konnte die Lust gut oder schlecht sein, und es konnte nicht die Lust selbst sein, die darüber entscheidet, ob sie gut oder schlecht ist. Letztlich ist im vollkommenen Sinne gut nur die Lust am Guten. Man muss sich vor diesem Hintergrund die Radikalität des epikureischen Gedankens für die Ethik verdeutlichen. Dies gelingt nur dann, wenn man hinzunimmt, dass Lust hier prinzipiell auf die Empfindung bezogen wird. Eine ‚Lust am Guten‘ kann es für Epikur prinzipiell nicht geben, 80
4.1 Die Lust und das Gute (Epikur)
da es sich hier um eine vernünftige Auswahl handeln müsste, was der Vernunft den Primat über die sinnliche Empfindung einräumen würde, so dass der Gedanke der eigenen und ursprünglichen Vernünftigkeit der Empfindungslust zurückgenommen werden müsste. Eine ethische Unterscheidung zwischen verschiedenen Lüsten bzw. zwischen den verschiedenen Empfindungen, die uns zu Lust verhelfen, kann es nach Epikur nicht geben. Von Übel kann eine Lust prinzipiell nur durch ihre schlechten Folgen sein, wobei in Epikurs Gedankenzusammenhang von ‚schlecht‘ allerdings nicht im platonischen Sinne die Rede sein kann, sondern ‚schlecht‘ heißt hier einfach, dass eine Lust dann zu vermeiden ist, wenn sie zu einer größeren Unlust führt. In diesem Sinne hat auch für Epikur die Vernunft eine wichtige Funktion, indem sie uns sagen kann, welche Lüste wir im Einzelnen wählen sollen, wenn wir uns am Prinzip der Lust als dem Prinzip des Guten orientieren. Das Gegenteil von Lust muss Epikur zufolge das größte Übel sein, also auch das Gegenteil des Guten. Zwischen Lust und Unlust besteht jedoch eine gewisse Asymmetrie. Es gibt für Epikur nämlich nur zwei Zustände des Empfindungslebens, die Lust und die Unlust bzw. das Leiden. Er kennt keinen Zustand ‚dazwischen‘, in dem wir weder Lust noch Unlust empfinden. Das hat aber zur Folge, dass der Zustand ‚Nicht-Unlust‘ gleichbedeutend ist mit dem Zustand ‚Lust‘, ebenso wie der Zustand ‚Nicht-Lust‘ äquivalent ist mit dem Zustand ‚Unlust‘. Insofern ist es aber gleichgültig für das epikureische Gute, ob wir uns in einem Zustand der Lust oder der Nicht-Unlust befinden. Epikur benutzt diese Gleichsetzung nun, um den Zustand der Nicht-Unlust als den eigentlichen Status des Guten auszuzeichnen. Das merkwürdige Ergebnis ist, dass der ‚Hedonist‘ Epikur das Gute und das gute Leben nicht in erster Linie in einem Maximum an Lust realisiert sieht, sondern in einem Maximum an Unlustvermeidung. Er wählt also den Zustand der Freiheit von Unlust bzw. von Leid als den Zustand, der dem guten Leben am nächsten kommt, obwohl er damit gerade nicht den Gedanken zurücknehmen will, dass alles Gute sich letztlich auf die Lust zurückführen lässt, wobei alle Lust schließlich auf sinnlichen Empfindungen beruht.
Tugend und Lust Die Lust ist nach Epikur nicht einfach nur das, wonach der Mensch in seiner empirischen Wirklichkeit strebt. Sie ist auch das, wonach er streben sollte. Die Empfindungen sind in ihrer Unterscheidung nach Lust und Unlust gewissermaßen eine ‚Sprache‘, durch welche die Natur dem Menschen sagt, 81
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
was er ist und was er demnach tun soll. Wenn er also auf ‚des Fleisches Stimme‘ hört, dann hört er im Grunde auf sein Wesen, das ihm die Selbsterhaltung zur Aufgabe macht. Empfindungen der Lust zeigen das an, was dem Menschen zuträglich ist, während sich das Schädliche durch Empfindungen der Unlust deutlich macht. Natürlich war auch Platon und Aristoteles bewusst, dass die Erfüllung der leiblichen Bedürfnisse eine notwendige Bedingung darstellt, um ein gutes Leben führen zu können. Allerdings hätten sie den Gedanken nicht teilen können, dass darin auch schon eine hinreichende Bedingung für ein solches Leben gegeben ist. Daraus ergibt sich auch, dass bei Epikur der Begriff der Tugend eine ganz andere Bedeutung annimmt. Im Unterschied zu Platon und Aristoteles kann er nicht mehr im Zentrum des ethischen Denkens stehen. Als Traditionsbestand kommt er jedoch noch vor, nun aber in einer fundamental gewandelten Bedeutung. Wichtig war der Tugendbegriff zuvor geworden, weil er an das angeschlossen werden konnte, was an sich selbst Ziel für den Menschen sein sollte und musste. Der Mensch verwirklichte in der Tugend bzw. in einem an den Tugenden ausgerichteten Leben das höchste Gut, also das, was um seiner selbst willen zu erstreben ist und nicht um anderer Güter willen begehrt wird. Die Tugend war damit die Handlungsempfehlung, die den Menschen einem Zweck an sich selbst näher bringen sollte, wo alle nur vorläufigen Ziele an ihr Ende kommen. Diese Bedeutung des Tugendbegriffes muss festgehalten werden, um verstehen zu können, wie radikal Epikur seine Wendung gegen die damals traditionelle Ethik vollzogen hat. Der neue Status des Tugendbegriffes geht also letztlich auf eine neue Auffassung vom ‚telos‘ des Menschen zurück, also von seinem letzten Ziel und Zweck, an dem das Streben nach Mitteln an ein Ende kommt, das selbst nicht wieder ein Mittel ist. Das ‚telos‘ ist auch für Epikur bestimmt als die Verwirklichung der ‚eudaimonia‘ oder des Glücks im Sinne des Zustandes, für den alles getan wird und über den hinaus nichts mehr Bedeutung für das menschliche Leben haben kann. Aber dieser Inhalt des menschlichen Lebens ist nun die Lust bzw. die Vermeidung von Unlust. An ihr muss sich deshalb das ganze Leben ausrichten, wenn es ein gutes bzw. gelingendes Leben sein soll. Dieser höchste Inhalt des Lebens ist aber nun selbst aus der ‚Natur‘ des Menschen abgeleitet. Die Lust ist die uns als Menschen angemessene Natur; sie ist die natürliche ‚Veranlagung‘, die für Epikur zu einem Sollen wird, wenn das Streben nach Lust bzw. nach Unlustvermeidung in einem ethischen Sinne als Inhalt eines guten Lebens ausgezeichnet wird. Aus diesem letzten Ziel des menschlichen Lebens sind nun auch die Tugenden zu bestimmen, so weit sie in einer epikureischen Konzeption überhaupt noch Bedeutung haben. Wenn man die Bedeutung dieses Begrif82
4.1 Die Lust und das Gute (Epikur)
fes an Platon und Aristoteles orientiert, so kann man auch sagen, dass es Tugend und Tugenden für Epikur eigentlich überhaupt nicht gibt. Eine Restbedeutung kann nur für solche Verhaltensweisen und Einstellungen beibehalten werden, die das eine höchste Gut im epikureischen Sinne befördern, die also funktional für das Erreichen der Lust bzw. die Vermeidung von Unlust sind. Es handelt sich also auch hier um abgeleitete Güter, die nun jedoch vom Ziel der Lust her bestimmt werden. Man könnte sie deshalb auch als Klugheitsregeln bezeichnen, die an sich keinen Wert besitzen, sondern nur danach beurteilt werden können, inwieweit sie zum Erreichen des obersten Zieles und Zweckes des Menschen beitragen können. Für sich selbst hat die Tugend und haben die Tugenden keinerlei Wert. In diesem Gedankenzusammenhang ist die Ungerechtigkeit nicht an und für sich von Übel, d. h. sie führt nicht zu einer ‚Schlechtigkeit‘ der Seele, wie Platon behauptet hatte. Für sich selbst genommen ist es gleichgültig, ob ein Mensch gerecht oder ungerecht ist und handelt. Allerdings kann die Ungerechtigkeit auch für Epikur gegen die zentrale ethische Forderung verstoßen, nämlich dann, wenn sie zu Folgen führt, die das Prinzip Lust bedrohen. Führt eine ungerechte Handlung also zu einer Verringerung der Lust bzw. zu einem geringeren Maß an Unlustvermeidung, so ist sie ethisch relevant und soll gemieden werden. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sie durch das Rechtssystem geahndet wird oder wenn der Ungerechte in der Gesellschaft geächtet wird, so dass er seinen Lustkonsum verringern muss. Auch die praktische Einsicht (‚phronesis‘) kann unter diesem Gesichtspunkt im epikureischen Gedankenzusammenhang zu Ehren kommen. Ein kluges Wissen um das richtige Tun und Lassen kann ganz offenbar sehr nützlich sein, wenn die Lust das oberste und letzte Lebensziel darstellt. Es gibt auch eine Stelle bei Cicero, wo er davon berichtet, dass die Epikureer nicht nur die Gerechtigkeit und die Besonnenheit, sondern auch die anderen Kardinaltugenden – also Weisheit und Tapferkeit – in einem hedonistischen Sinne interpretierten, d. h. sie als Instrumente zur Maximierung der Lust auffassten. Manchmal bedarf es auch der Weisheit, um die richtigen Mittel zu wählen, die zur Lust führen, und noch mehr bedarf es ihrer, um die Unlust zu vermeiden. Man kann sich auch Situationen ausdenken, in denen ein gehöriges Maß an Tapferkeit das Mittel der Wahl ist, um zu einem Lustgewinn zu gelangen, der dem Feigen verwehrt bleiben muss.
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4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Staat und Gesellschaft Wenn die Gewinnung von Lust bzw. die Vermeidung von Unlust das Kriterium für ein gutes und gelingendes Leben ist, so muss sich eine solche Ethik in erster Linie am Individuum orientieren und das Leben der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft als sekundär ansehen. Damit wird dieses Leben nicht bedeutungslos. Aber es gewinnt seinen Stellenwert ebenso wie die Tugend und alle Tugenden nur aus dem Wert für die Lustmaximierung bzw. Unlustminimierung des Einzelnen. Das Individuum ist damit grundsätzlich der Gemeinschaft übergeordnet, wobei berücksichtigt werden muss, dass ‚Individuum‘ im epikureischen Denken stets heißt: der Einzelne in seiner Empfindungsfähigkeit, aus der er Lust und Unlust bezieht. Auf die Funktion zur Gewinnung von Lust bzw. zur Vermeidung von Unlust muss sich nun auch alles Zusammenleben der Menschen beziehen lassen, wenn es in der epikureischen Ethik eine Bedeutung für das gute und gelingende Leben haben soll. Die Bedeutung einer solchen Konzeption zeigt sich vor allem im Konfliktfall. Wenn das Prinzip des Lebens in der – staatlichen – Gemeinschaft gegen das Glück des Einzelnen steht, so hätten Platon und Aristoteles auf der Grundlage ihrer nicht-individuellen Orientierung in der Ethik für das Recht der Gemeinschaft plädiert. Dies geht nicht darauf zurück, dass sie dem Staat per se das höhere Recht zubilligen, sondern dieser Gedanke hat seinen Anfang in einer bestimmten Auffassung vom menschlichen Wesen und von der Harmonie in der Seele. Ein gutes und gelingendes Leben kann der Mensch nach diesen Gedanken nur in der Gemeinschaft leben, und dies gilt nicht in erster Linie, weil die Gemeinschaft Schutzfunktionen wahrnimmt, sondern weil er in seinem Wesen ein ‚staatenbildendes‘ Lebewesen ist und seine Vernunft nur im Zusammenleben mit anderen Menschen verwirklichen kann. Epikur dagegen muss in einem solchen Konfliktfall für das Recht des Einzelnen eintreten, da das gute und gelingende Leben nur von der Lust bzw. Unlustfreiheit abhängig ist, für die jede staatliche Gemeinschaft nur einen Wert gewinnt, wenn sie Funktionen übernimmt, die der einzelne nicht sicherstellen kann. Das bedeutet aber auch, dass im Konfliktfall das Gelten des Rechts und der staatlichen Ansprüche dann bedeutungslos werden, wenn sie nicht mehr zur Lust des Einzelnen beitragen. Natürlich plädiert Epikur deshalb nicht für das Verletzen der Gesetze. Aber auf der Grundlage seiner ethischen Konzeption kann er nur dann auf eine solche Option verzichten, wenn die Befolgung der Gesetze zu der Klugheit gehört, die zur Lustmaximierung bzw. Unlustminimierung beiträgt. Insbesondere bei Aristoteles war deutlich geworden, dass die Suche nach 84
4.1 Die Lust und das Gute (Epikur)
dem, was wir ‚gut‘ nennen können, nicht ohne Bezug auf das Leben in der Gemeinschaft zum Ziel kommen kann. Bei Epikur wird dieses innere Verhältnis der Tugend bzw. der Tugenden und damit des ‚guten Lebens‘ zum Zusammenleben unter den Menschen zum ersten Mal radikal unterbrochen. Dies geht zunächst darauf zurück, dass Epikur eine ethische Qualität des Staates grundsätzlich verneint. Dieser Gedanke zeigt sich dort am besten, wo Epikur vom Recht spricht, das ja die Grundlage des Lebens im Staat darstellt. Das Recht und damit der Staat ist für Epikur nur eine Zweckgemeinschaft, die auf freier Vereinbarung beruht. Den Staat gibt es also, weil er nützlich ist als eine Institution, die dafür sorgt, dass sich die Individuen nicht allzu sehr wechselseitig schädigen. Das epikureische Individuum schließt sich mit anderen nur deshalb zusammen, weil es sich davon einen Vorteil verspricht, nicht aber, weil es seinem Wesen entspricht, in einer staatlichen Gemeinschaft zu leben. Die staatliche Gemeinschaft hat keine andere Beziehung zum guten Leben und zum richtigen Handeln als über diese Nützlichkeit. Das Individuum befindet sich auch nicht in dem Sinne in einem Zustand der Gerechtigkeit, von dem bei Platon und Aristoteles die Rede war, nämlich in einer umfassenden richtigen Ordnung. Seine Beziehungen zu anderen sind nicht durch Gerechtigkeit geregelt, sondern nur durch Vertragsbeziehungen. Im Grunde kommt bei Epikur der Gerechtigkeit überhaupt kein innerer Wert zu, den sie aus sich selbst heraus beanspruchen könnte. Was gerecht ist, bestimmt sich aus den vertraglichen Regelungen, welche die Bürger eingegangen sind, um bessere Grundlagen für die Verfolgung ihrer individuellen Ziele zu schaffen. Diese Ziele sind für Epikur stets an der sinnlichen Lust bzw. an der Vermeidung sinnlicher Unlust orientiert. Insofern ist auch die Gerechtigkeit nur noch ein Instrument, um die sinnliche Lust der Vertragspartner zu befördern. Unter den sozialen Beziehungen ist in der epikureischen Ethik deshalb auch nicht der Staat zentral, sondern die Freundschaft, also ein privates Verhältnis zwischen wenigen Individuen. Vom staatlichen Leben soll derjenige, der das gute Leben sucht, sich dagegen fernhalten, so weit dies möglich ist. Epikur rät grundsätzlich dazu, lieber im Verborgenen zu leben, als Konflikte mit anderen Menschen im öffentlichen Leben zu riskieren. Für Epikur ist der Mensch von Natur aus weder ein ‚staatliches‘ noch ein ‚gesellschaftliches‘ Wesen. Also ist auch die kleine Gesellschaft der Freundschaft nicht ein Ergebnis des Wesens des Menschen, dem er nachkommen muss, wenn er seiner ‚Natur‘ gemäß leben will. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Abwägung zwischen Ertrag und Kosten, zwischen dem Aufwand, den Freundschaften erfordern, und dem Nutzen, den sie erbringen. 85
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Epikur erklärt also auch soziale Nahbeziehungen wie Freundschaften nicht aus dem Wesen des Menschen. Der Mensch ist weder ein von Natur aus staatliches Lebewesen, wie Platon und Aristoteles gelehrt hatten, noch ist er auch nur von Natur aus ein gesellschaftliches Wesen. Während für Platon und Aristoteles die Harmonie in der Seele des Menschen ihrem Wesen nach mit der Harmonie im staatlichen und gesellschaftlichen Leben verbunden war, ist bei Epikur diese Wechselseitigkeit aufgebrochen. An ihre Stelle tritt die einseitige Funktion des Staates und aller gesellschaftlichen Formen für das private Glück des Einzelnen. Man könnte pointiert sagen, dass es Platon und Aristoteles schwer gefallen wäre, den Gedanken eines ‚privaten‘ Glücks zu denken, dem das Leben in der Gesellschaft dienen müsse. Der epikureische Gedanke ist für uns heute keine Schwierigkeit und dürfte für die meisten Menschen den eigenen Vorstellungen sehr nahe kommen. Aber das sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass diese Selbstverständlichkeit einer Sicht auf Staat und Gesellschaft als funktional für das private Glück nur auf der Grundlage einer langen geschichtlichen Entwicklung entstanden ist. Wenn ein solcher Gedanke aber selbst ein Resultat einer geistigen Entwicklung darstellt, so ist er eigentlich nur scheinbar ‚selbstverständlich‘. Er versteht sich heute ‚von selbst‘, weil wir in solchen Gedankenzusammenhängen zu leben gewohnt sind, die an ihn angepasst sind, weil er sich zusammen mit ihnen entwickelt hat. Selbstverständlich ist ein solcher Gedanke also, weil er in gewisser Weise die Gedankenwelt mit sich bringt und sich stets auf sie bezieht, die ihn hervorgebracht hat und in deren Rahmen und in deren Grenzen er sich ‚von selbst‘ versteht. Das sollte aber nicht zu der Vorstellung führen, er müsse auch in anderen Gedankenwelten und auf der Grundlage einer anderen Entwicklung des Geistes ebenso ‚selbstverständlich‘ sein. Nichtsdestoweniger hat sich nun im Abendland auch die Stellung der platonischen und aristotelischen Gedankenwelt verändert. Auch sie ist in eine Bewegung geraten, weil sie sich nun mit ganz anderen Gedankengängen auseinandersetzen und sich ihnen gegenüber rechtfertigen muss. Diese Bewegung erweitert sich mit der ganz anderen Konzeption über den Zusammenhang zwischen dem Glück des Menschen und dem Guten, die in der Stoa entwickelt wurde.
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4.2 Die Freiheit im Guten (Stoa) Freiheit und Determinismus Eine ‚stoische‘ Lebenshaltung wird meist gerade als Entgegensetzung zu einer ‚hedonistischen‘ aufgefasst. Die Bedeutung, in der wir in der Gegenwart solche Ausdrücke verwenden, hat sich jedoch im großen Ausmaß selbständig und ohne Orientierung an den philosophischen Konzeptionen entwickelt, die heute noch als Namensgeber fungieren. Für uns ist wichtiger, dass die Stoa einerseits eine weitere Spielart der philosophischen Untersuchung desjenigen Themenbereiches im Geist des Westens darstellt, in dem das Glück des Menschen in einen inneren Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen gebracht wurde, und dies so, dass nun die Bedeutung des sinnlichen und körperlichen Menschen für das Glück und damit für das Gute in das Zentrum der Erörterung rückt. Andererseits kann die Differenzierung zwischen der Stoa und der epikureischen Lehre auch dazu dienen, die Ambivalenz zu verdeutlichen, in der im westlichen Geist über das menschliche Glück in seinem Zusammenhang mit dem Guten gedacht wurde. Ob auf der Grundlage der stoischen Philosophie die Frage nach dem guten Leben angemessen gestellt werden kann, muss jedoch zunächst selbst fraglich erscheinen und wurde in der Tat auch bestritten. Nach der stoischen Naturphilosophie gibt es für alles, was in der Welt geschieht, eine äußere und eine innere Ursache. Die erstere bestimmt als Anstoß eine Wirkung, deren nähere Struktur durch die innere Ursache des betreffenden Gegenstands oder Systems vorgegeben ist. Diese innere Ursache bestimmt das Wesen des angestoßenen Gegenstands oder Systems, weil er bzw. es deshalb so ist, wie er oder es ist. Man könnte auch sagen: die innere Ursache ist verantwortlich für die Verhaltensdispositionen eines Gegenstandes. Diesen Gedanken wenden die Stoiker nun auch auf den Menschen an. Sie nehmen also eine innere Ursache an, die den Menschen zu einer bestimmten Person macht und ihm einen bestimmten Charakter verleiht. Man könnte hier von einer vollständigen Determiniertheit durch äußere Reize im Zusammenwirken mit der Persönlichkeit bzw. dem Charakter sprechen. Das universelle Kausalprinzip, das in der Welt alle Zusammenhänge bestimmt und Zufälle ausschließt, wurde in der Stoa verschieden bezeichnet, unter anderem auch als Vorsehung, Notwendigkeit und Schicksal. Wird ein Ereignis nicht als schicksalhaft und notwendig aufgefasst, so liegt dies nur an der mangelnden Einsicht der Menschen. Ohne diesen Defekt ließen sich alle Ereignisse der Gegenwart und der gesamten Zukunft aus den Gesetzen der 87
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Natur und der Kenntnis der Vergangenheit ableiten. Der Lauf der Welt liegt also unabänderlich fest und jede Handlung eines Menschen ordnet sich bei richtiger Einsicht in diesen Verlauf ein. Es entsteht also auf der Grundlage der stoischen Naturlehre das Problem, wie mit dieser Handlungstheorie die Freiheit des Handelns vereinbar sein kann, die für jede Konzeption der Ethik notwendig vorausgesetzt werden muss. Wenn wir nicht anders handeln könnten, als äußere und innere Ursachen es vorschreiben, so bräuchten wir nicht mehr zu fragen, was wir tun oder lassen sollen. An diesem Problem ändert sich nichts, wenn wir die inneren Ursachen als Persönlichkeit oder Charakter bezeichnen. Wenn die Handlungen eines Menschen durch seinen Charakter determiniert sind, ohne dass er ihn bestimmen kann, so stellt sich für ihn nicht die Frage, was er tun soll. Eine Lösung für diese Frage bietet sich nur dann an, wenn die innere Ursache – also die Persönlichkeit bzw. der Charakter – anders gedacht wird als die äußere Ursache. In ihr muss ein Freiheitsspielraum gefunden werden, der eine Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Reaktion auf äußere Reize erlaubt. Wenn die Konzeption von der Determination des Geschehens durch äußere Reize und innere Ursachen im Sinne von Persönlichkeit und Charakter beibehalten werden soll, so muss dieser Freiheitsspielraum also nicht in erster Linie bei der einzelnen Handlung gesucht werden, sondern bereits in der Persönlichkeit bzw. im Charakter. Letztlich ist mit der stoischen Konzeption über den Zusammenhang der Ereignisse in der Welt nur eine ethische Position vereinbar, welche die Freiheit des Menschen in erster Linie als freie Verantwortung für seine Persönlichkeit und seinen Charakter auffasst. Die Lösung müsste also in etwa so aussehen: bei einer einzelnen Handlung kann der Mensch nicht anders entscheiden, als es seine Persönlichkeit erlaubt. Bei jeder einzelnen Handlung besitzt er aber auch eine Freiheit der Bewertung seiner Handlung. Er kann sich mit ihr identifizieren, er kann sich aber auch bewertend von ihr distanzieren. Eine Handlung wird nicht allein durch eine Vorstellung bestimmt, die wir vielleicht als determiniert durch die innere Ursache auffassen können. Zu einer Handlung kommt es erst, wenn durch einen Zustimmungsakt die Vorstellung akzeptiert wird oder nicht; erst auf dieser Grundlage kommt es zu einem Handlungsimpuls. Diese Zustimmung ist im Grunde der moralische Faktor in einer Handlung, durch die der Mensch eine Verantwortlichkeit für sein Tun und Lassen gewinnt. Durch die Folge solcher Zustimmungs- oder Ablehnungshandlungen bildet der Mensch seine Persönlichkeit, die als innere Ursache seine Handlungen in der Reaktion auf äußere Reize determiniert. 88
4.2 Die Freiheit im Guten (Stoa)
Ethik und Natur Für die stoische Lehre ist nun wichtig, dass der universelle Determinismus keineswegs zu einer negativen Weltsicht führt. Indem in der Welt ein durchgängiger Kausalzusammenhang herrscht, waltet die Vernunft als Natur in der Welt. Wir hatten oben darauf hingewiesen, dass das universelle Kausalprinzip als Schicksal, Vorsehung und Notwendigkeit bezeichnet wurde. Darüber hinaus gab es in der Stoa auch noch andere Bezeichnungen dafür, nämlich Vernunft oder Natur. Die Vernunft kann nach dieser Auffassung nicht in einen Gegensatz zur Natur geraten, ebenso wenig wie die Natur der Vernunft widersprechen könnte. Daraus ergibt sich der enge Zusammenhang der stoischen Ethik mit einer Ethik der Vernunft und der Natur. Man könnte pointiert sagen: für die Stoiker ist ein gutes Leben dadurch ausgezeichnet, dass es der Ordnung der Natur folgt, die zugleich die Ordnung der Vernunft ist. Nur auf dieser Grundlage ist die stoische Forderung zu verstehen, in Übereinstimmung mit bzw. gemäß der Natur zu leben: vivere secundum naturam. Die Stoa verfolgt im Grunde eine metaphysische und kosmologische Konzeption, der zufolge im Universum ein einheitliches Prinzip waltet, das auch das menschliche Leben als Teil einer einheitlichen Zwecksetzung umfasst. Der Begriff von Tugend bezieht sich deshalb auf den Zusammenhang der kosmischen Natur mit der je eigenen Natur des Menschen. Die eigenen Naturen der Menschen sind Teil der Natur des Ganzen und damit Teil des göttlichen Logos in der Welt. Gemäß der Natur leben ist deshalb auch die Forderung, gemäß der eigenen Natur zu leben, die das gemeinsame Gesetz für das Ganze und für das Eigene darstellt. Dieses Gesetz ist identisch mit der rechten Vernunft, dem universellen Logos als dem Prinzip alles Geschehens. Bei den Stoikern findet sich demnach ein Gedanke am Ausgangspunkt der Ethik, der uns heute fremd erscheint, obwohl er unser Denken in seiner Tiefenstruktur immer noch stark bestimmt. Von den Gesetzen dessen, was ist, auf die Gesetze dessen zu schließen, was sein soll, wird heute als ‚naturalistischer Fehlschluss‘ bezeichnet, denn aus dem Sein lässt sich kein Sollen ableiten. Für die stoische Ethik wäre ein solcher Gedanke unverständlich gewesen – denn woraus sollte sich das Sollen denn ableiten lassen, wenn nicht aus der rechten Ordnung, die gleichzeitig das Gesetz der Natur bzw. des Kosmos und der Vernunft bzw. des Logos ist? Hier zeigt sich auch die radikal optimistische Haltung der Stoiker. Die stoische Philosophie behauptet im Grunde, dass wir immer in der besten aller möglichen Welten leben, denn alles Leiden und alle Unvollkommenheiten sind Teil der Natur, die aufgrund ihres göttlichen und vernünftigen Gesetzes besteht. Als Glied des 89
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Kosmos ist das Leben eines jeden Lebewesens also immer Teil der göttlichen und vernünftigen Harmonie. Wenn die ganze Welt von einer vernünftigen und göttlichen Harmonie durchwaltet ist, warum muss dann vom Menschen gefordert werden, er möge gemäß der Tugend handeln, wenn das Gute doch sowieso schon immer geschieht? Hier müssen zwei wichtige Unterscheidungen beachtet werden, durch die die Stoiker eine Art Unordnung in die ansonsten so geordnet erscheinende Welt einführen, und diese Unordnung kann erst mit Hilfe eines Handelns aufgelöst werden, das sich an der kosmischen Natur und Vernunft orientiert und die Abweichung wieder zurücknimmt. Zunächst ist die ganze Natur vernünftig. Das schließt ein, dass die Vernunft alle Wirklichkeit durchdringt, so dass auch die nichtsprachliche Wirklichkeit grundsätzlich ein Gebilde aus Sinn darstellt. Andererseits aber ist die Vernunft doch auch eine Fähigkeit gerade des Menschen, mit der er sich auf den Sinn des Kosmos bezieht, indem er ihn deutet und versteht. Das eröffnet die Möglichkeit, dass er diesen Sinn auch falsch verstehen kann. Gemäß der ethischen Konzeption der Stoa, der zufolge das richtige Handeln ein Leben gemäß der vernünftigen Natur bzw. der natürlichen Vernunft ist, kann der Mensch deshalb auch falsch handeln, wenn er das vernünftige Prinzip des Kosmos nicht recht versteht. Es gibt also auch für die Stoiker die Möglichkeit, vom Pfad der Tugend abzuirren, was hier gleichbedeutend ist mit dem Abirren von der Harmonie des Kosmos und der Vernunft. Der Gedanke einer Differenz zwischen der vernünftigen Natur des Kosmos und dem Denken und Handeln des Menschen ist für die Stoa Grundlage der Notwendigkeit einer Ethik. Diese Differenz besteht aber noch auf eine andere Weise. Der Mensch wird nicht mit der Einsicht in die vernünftige Natur der Welt geboren. Zunächst lebt er nur aufgrund seines Strebens nach Selbsterhaltung, und von Gut und Böse weiß er noch nichts. Erst wenn er seine Vernunft erkennt und sie ausbildet, kann er die ihm eigene Natur auffassen und damit eine Einsicht darüber erwerben, wie er nach dieser Natur und in Einheit mit der Natur des Ganzen leben kann. War zunächst der höchste Wert die Selbsterhaltung, so tritt nun die Tugend an die erste Stelle, also das Streben nach einem Leben ‚secundum naturam‘. Das ethische Sollen hat also auch die Bedeutung, dass es den Menschen von der ‚bloßen‘ Natur in seinem Selbstverständnis und in dem daraus resultierenden Handeln zu der Erkenntnis und der Übereinstimmung mit der ‚wahren‘ Natur führt. Der Natur entspricht der Mensch – und nur der Mensch – erst dann, wenn er den Logos des Kosmos bzw. der Natur verstanden hat und sich auf der Grundlage dieses Verstehens ‚naturgemäß‘ verhält. Genau dann ist er als 90
4.2 Die Freiheit im Guten (Stoa)
Mensch mit seinem spezifischen Logos in den umfassenden und einen Logos eingeordnet und kann ‚secundum naturam‘ leben. Wenn die stoische Ethik den Menschen also lehren will, sein Schicksal zu leben, so will sie ihn darin unterrichten, er selbst zu sein und seinem eigenen Logos zu folgen. Dies kann er aber nicht, wenn er auf dem Zustand vor der Einsicht in den allgemeinen Logos beharrt, sondern nur, indem er sich mit Hilfe ethischer Erkenntnis zur Identifikation mit dem einen und allumfassenden Logos entwickelt. Wenn der Mensch sich auf diese Weise in sein stoisch verstandenes Schicksal einstellt, so ordnet er sich in den Logos des Kosmos ein, d. h. er gewinnt die Ordnung für sein Leben, die nur die Entfaltung der göttlichen Ordnung darstellt. Die Aufgabe der Ethik besteht demnach im stoischen Sinne darin, dem Menschen zu seinem Schicksal zu verhelfen.
Tugend und Affekte Im Unterschied zu Platon soll nach den Stoikern die Tugend nicht darin bestehen, ein jenseits der Welt liegendes Gut zu erstreben. Im Grunde besteht das Ziel der Tugend in diesem Gedankengebäude nur darin, zu einem harmonischen Verhältnis im Zusammenhang des Kosmos zu gelangen, der zugleich vernünftig und natürlich ist. Sittlich gut kann der Mensch nur werden, wenn und indem er die Prinzipien einsieht, die den Kosmos leiten. Da diese Prinzipien aber auch unsere eigene Existenz bestimmen, liegen die Normen des ethischen Verhaltens immer schon ‚in uns‘. Zwar ist auch der Mensch ein Teil des Kosmos, aber er weist die Besonderheit auf, dass er sich aufgrund seines Bewusstseins diese Zugehörigkeit ‚aneignen‘ kann, indem er den Logos der Welt zu verstehen sucht. Er muss diese Aneignungsleistung aber auch vollbringen, wenn er seiner besonderen Stellung in dieser Ordnung gerecht werden soll, denn im anderen Fall tritt er bis zu einem gewissen Grad aus dieser Ordnung heraus, zu der eben gerade seine verstehende Einsicht in den Logos der Welt gehört. Zur Natur des Menschen gehört es also, dass er nicht in einer unvermittelten Harmonie mit der Natur und ihrem Logos lebt, sondern in einer vermittelten Position existiert, so dass er zu dieser Harmonie erst aufgrund seiner vernünftigen Einsicht zurückkehren kann und soll. Erst auf dieser Grundlage wird die stoische Affektenlehre verständlich, die im Begriff ‚stoisch‘ in unserer Alltagssprache nicht sehr präzise bewahrt ist. Grundsätzlich geht es der stoischen Ethik darum, den Menschen vor solchen Leidenschaften zu bewahren, die die Stabilität in seiner Seele gefährden. Es sollte aber beachtet werden, dass damit nicht eine Unempfänglich91
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
keit gegenüber Gefühlen bzw. Emotionen gefordert wird. Es geht auch nicht um eine Lustfeindlichkeit und um ein Leben ohne Begierden und Wünsche. Für die Stoiker war die Lust geradezu das Resultat eines Lebens in Harmonie mit der Natur des Kosmos, während der Schmerz als Ergebnis einer Disharmonie verstanden wurde. Sie waren auch keine Befürworter der Askese als Verzicht auf alle leiblichen Genüsse. In einem abgeleiteten Sinne sind auch die weltlichen Güter als ‚gut‘ zu bezeichnen. Dazu gehören etwa Nahrung und andere körperliche Güter für das leibliche Wohl, aber auch glückliche soziale Beziehungen, darüber hinaus können in diesem Sinne auch Reichtum, Macht und Ansehen als ‚gut‘ bezeichnet werden. Wichtig ist für die stoische Ethik jedoch, den Rangunterschied zwischen diesen Gütern und der Tugend selbst zu beachten und zu befolgen. Als im eigentlichen Sinne ‚gut‘ soll nur die Tugend gelten. Für diese ‚Güte‘ sind die Dinge, die wir als dem Leben zuträglich schätzen, nicht entscheidend, was aber nicht heißt, dass man sie nicht erstreben dürfte. Im Grunde sind sie in Bezug auf das eigentlich Gute weder nützlich noch schädlich. Das eigentliche Gute in der Übereinstimmung mit der Natur des Menschen als Teil der umfassenden Natur bzw. des Kosmos und des vernünftigen Logos wird dadurch nicht tangiert. Wenn es der Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst – also mit seiner Natur als Teil des vernünftigen Kosmos – nicht entgegensteht, dann können die Güter der Welt auch für den stoischen ‚Weisen‘ eine wichtige Grundlage seines Glücks darstellen. Im Zustand der Tugend befindet sich der Mensch jedoch nur dann, wenn er frei von ‚Affekten‘ ist, d. h. er ist dann in einem Zustand der Harmonie mit seiner eigenen Natur und mit der Natur des Ganzen, also mit dem Logos des Kosmos. Unter ‚Affekt‘ wird in der stoischen Ethik nicht ein Gefühl oder eine Emotion verstanden. Es handelt sich vielmehr um den griechischen Begriff ‚pathos‘, der heute bei uns nur als Fremdwort und in einem anderen Sinn gebraucht wird. Ein Affekt entspricht einer praktischen Meinung bzw. einer Zustimmung, und genauer einer falschen Zustimmung, d. h. er wird in Analogie zu der Zustimmung zu einer falschen Aussage verstanden. Im Unterschied zum Gefühl entsteht der Affekt aufgrund einer Haltung, nicht einfach durch die psychische Konstitution. Dies wird mit der wichtigen Charakterisierung als ‚Zustimmung‘ zum Ausdruck gebracht. Außerdem ist ein Affekt immer handlungsorientiert, worin er sich wiederum von Gefühlen unterscheidet, die man auch ohne Handlungstendenz haben kann. Man könnte versuchen, diese Bestimmung des Affekts und damit des spezifischen Themas der Ethik als einer Handlungsanleitung unter dem Begriff des ‚Kontrollverlusts‘ zusammenzufassen. Von einem Affekt und dem 92
4.2 Die Freiheit im Guten (Stoa)
mit ihm verbundenen Kontrollverlust ist im Denkzusammenhang der stoischen Ethik allerdings nur dann die Rede, wenn damit ein Fehlurteil verbunden ist, also etwas nicht richtig erkannt wird. Ein solches Urteil ist zunächst fehlerhaft im Hinblick auf die Richtigkeit der Zustimmung. Man billigt die Entstehung einer exzessiven Gefühlsregung, obwohl sie kontrolliert werden könnte und unter ethischer Perspektive nicht gebilligt werden kann. Es bricht also nicht einfach eine Gefühlsregung hervor, sondern sie wird bewusst und willentlich gefördert und für richtig gehalten, obwohl sie nicht der vernünftigen Natur entspricht. Insbesondere widerspricht sie dem ethisch geforderten Leben gemäß der Natur, weil das im Affekt enthaltene Fehlurteil auch in Bezug auf die Angemessenheit der Reaktion einen Irrtum enthält. Eine Reaktionstendenz wird irrtümlich als angemessen angesehen und deshalb beibehalten, obwohl sie nach der Natur des Menschen und der sich in ihm aktualisierenden Natur im Sinne des vernünftigen Kosmos in Wahrheit nicht angemessen ist. Die stoische Affektenlehre unterscheidet zwischen Gefühl und Affekt also vor allem im Hinblick auf das Element der ‚Stellungnahme‘. Mit dem ‚Stellungnehmen‘ entspricht der Mensch seiner Natur, indem er dadurch bewusst und deutend auf Reize reagiert, die ihn nicht automatisch bestimmen. Dies entspricht seiner Stellung im vernünftigen Kosmos, wo es seiner stoisch verstandenen Natur gemäß ist, in gewissem Sinne nicht ‚natürlich‘ zu sein, nämlich nicht so, dass er sich durch automatische Reiz-Reaktions-Zusammenhänge bestimmen lässt. Der Umschlag von der Emotion zum Affekt ist für die Stoa also insofern ‚unnatürlich‘, als die Freiheit als Distanz von der Bestimmung durch die unbewusste Natur gerade zur Natur des Menschen gehört. Erst mit dieser Freiheit stellt sich der Mensch in den Zusammenhang der Natur des Kosmos und damit der Vernunft und des Logos. Als Entfaltung des kosmischen Logos stellt sich seine eigene Natur also dann dar, wenn sie der Natur dort ihren Lauf lässt, wo sie wirklich nur Natur ist. Dies ist etwa der Fall bei Emotionen oder auch bei sinnesphysiologisch begründeten Reaktionen. Die eigene Natur des Menschen kommt jedoch dann nicht zur Darstellung als Entfaltung des kosmischen Logos, wenn sie einen ‚bloß natürlichen‘ Zusammenhang behauptet, wo in Wirklichkeit Entscheidung und Stellungnehmen stattfindet. Die stoische Ethik besteht im Grunde in der Forderung, unsere ‚wirklichen‘ Emotionen zuzulassen und unsere Affekte unter die Kontrolle der Freiheit zu bringen. Wenn in diesem Zusammenhang von ‚Apathie‘ die Rede ist, so ist deshalb etwas ganz anderes gemeint, als es unsere heutige Verwendung des Ausdrucks ‚apathisch‘ nahe legt. ‚Pathos‘ bedeutet im stoischen Denkzusammenhang nicht die Emotion, sondern den Affekt. ‚A-pathie‘ heißt deshalb 93
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
nicht die Unempfänglichkeit für Emotionen oder die gefühlsmäßige Teilnahmslosigkeit an den Vorgängen in der Umwelt. Dieser Ausdruck bezeichnet vielmehr in erster Linie die Freiheit von Affekten, also von solchen exzessiven Handlungsimpulsen aus der falschen Stellungnahme zu Vorstellungen, mit denen wir unsere Freiheit aufgeben. Darin zeigen wir, dass wir sie nicht ‚angemessen‘ angeeignet haben, d. h. nicht so, wie es für ein bewusstes und zu freiem Stellungnehmen fähiges Wesen möglich ist. Gefühle zu haben und sogar bewusst zuzulassen ist für die Stoiker also durchaus nicht unethisch. Der ethischen Forderung widerspricht es jedoch, die eigene Freiheit durch die Selbstauslieferung an Affekte aufzugeben.
4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens Das Gute im individuellen Leben In der ganzen Geschichte der philosophischen Ethik war der Gedanke stets ein zentraler Teil der Fragestellung, dass es bei allen Erwägungen über das, was wir tun und lassen sollen, stets und letztendlich um das Glück des Menschen gehen müsse. Platon und Aristoteles waren bereits dieser Auffassung, und in allen weiteren Untersuchungen über das Gute bleibt diese Frage der Mittelpunkt, um den sich das Denken der Ethik bewegt. Auch die gedanklichen Entwürfe, die explizit darauf verzichten, das Glück des einzelnen Menschen zum Thema zu machen, geben implizit doch eine Antwort auf diese Frage. In diesen Fällen beschränkt die philosophische Ethik sich aus guten Gründen selbst auf Gedankengänge, die nur die Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen betreffen. Sie will die Frage nach dem Guten ausschließlich für diesen Bereich mit vernünftigen Gründen beantworten, weil sie die Frage nach dem Guten im individuellen und persönlichen Leben eines Menschen – soweit andere Menschen nicht davon betroffen sind – nicht mit philosophischen Mitteln beantworten zu können glaubt. Dies aber ist selbst eine vernunftgegründete Antwort. Die Vernunft begrenzt sich damit selbst und erklärt, aus vernünftigen Gründen könne über das Gute im individuellen Leben nur das Individuum selbst entscheiden. Dieser Verzicht auf eine Personalethik wird später zu einem wichtigen und aus philosophischen Gründen entstandenen Moment im Geist des Westens werden. Dann wird das Individuum so hoch geschätzt werden, dass der Philosophie jede Kompetenz abgesprochen wird, auf diesem Gebiet mit vernünftigen und d. h. allgemeinverbindlichen Gründen Regeln und Hand94
4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens
lungsanweisungen aufstellen zu können. Das soll aber nicht heißen, dass es die Ethik dann vollkommen aufgeben wird, sich über das Glück des Menschen Gedanken zu machen. Auch die Beziehungen zwischen den Menschen gehören in den Bereich, in dem es sich entscheidet, ob der Mensch glücklich sein kann. Es wird jedoch der Anspruch geringer sein, den die Ethik mit ihren Erwägungen verbinden wird. Statt Regeln mit dem Anspruch vernünftiger Allgemeinheit aufzustellen, wird sie sich darauf beschränken, Vorschläge zur persönlichen Erwägung zu machen. Auch diese Beschränkung wird ein Teil des Geistes werden, der den Westen ausmacht. In der Frühzeit der Philosophie war die Ethik jedoch noch an zentraler Stelle mit dem Glück des Menschen im Sinne seiner persönlichen Lebensführung beschäftigt. Allerdings könnte man schon hier darauf hinweisen, dass der Anspruch dieser philosophischen Erwägungen es gerade nicht war, für ihre Ergebnisse eine im wissenschaftlichen Sinne strenge Geltung für alle Menschen zu fordern. Was uns Epikur und die Stoa zu diesem Thema anbieten, ist im Grunde schon so zu verstehen, wie die philosophische Ethik Gedankengänge über das persönliche Glück viel später explizit verstanden wissen wollte, nachdem sie aus vernünftigen Gründen darauf verzichtet hatte, vernünftige Regeln für das persönliche und individuelle Leben des Menschen aufzustellen. Auch hier handelt es sich um Erwägungen, die ‚konsiliatorisch‘ zu verstehen sind, d. h. die nicht den Status einer verpflichtenden Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen, sondern dem vernünftig über sein Glück nachdenkenden Menschen eine Anleitung geben wollen, den Grad an Vernunft in diesem Denken zu erhöhen.
Das Gute und die Vernunft der Lust Dass das gute Leben auch ein glückliches und gelingendes sein muss, darüber waren sich die antiken Philosophen einig. Epikurs Antwort auf die Frage, wie denn eine solche Einheit eines guten und glücklichen Lebens gefunden werden könne, unterscheidet sich allerdings stark von derjenigen, die Platon oder Aristoteles gegeben hatten. Dass die Bestimmung der ‚Lust‘ im Mittelpunkt des Selbstverhältnisses stehen soll, das für die Ethik und ihre Frage nach dem Guten und nach dem Glück die Grundlage ihrer Erörterungen darstellt, dies hätte für Platon und Aristoteles sehr befremdlich geklungen. Einen Zugang zu der hedonistischen Lehre hätten sie vermutlich überhaupt nicht gefunden, wenn wir uns auf die Seite dieser Lehre beschränken, die heute unter dem Titel einer hedonistischen Lebenseinstellung bekannt ist. Leichter hätte ihnen dies jedoch fallen können, wenn sie den an der 95
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Freiheit und am Glück des Menschen orientierten gedanklichen Ansatz genauer studiert hätten. Wenn in der hedonistischen Ethik die Lust im Mittelpunkt steht, so handelt es sich doch nicht um ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst, in der er die vernünftige Differenz zu seiner Sinnlichkeit vergisst, die ihm erst ein freies Verhältnis zu seiner sinnlichen Seite ermöglicht. Man könnte pointiert sagen, nach der hedonistischen Lehre wird der Begriff der Lust so angegeben, dass gerade er geeignet erscheint, dieses freie Verhältnis näher zu bestimmen und auszugestalten. Im Streben nach Lust erfüllt der Mensch seine wahre Bestimmung – aber dies geschieht nicht in einer vernunftlosen Identität mit seiner Sinnlichkeit, wie wir sie gewöhnlich den Tieren zuschreiben. Wir müssen die genuine Lust des Menschen deshalb strikt von der Bedürfnisbefriedigung im Bereich der animalischen Welt unterschieden halten. Wir könnten auch sagen: genau um die Bestimmung dieser genuinen Lust des Menschen geht es in der hedonistischen Ethik. Nur deshalb kann überhaupt der Begriff der Lust im Zentrum einer Ethik stehen. Es handelt sich also um eine tiefgreifende Verwandlung dieses Begriffes, den wir nicht mit einer bloß sinnlichen Befriedigung gleichsetzen dürfen. Diese begriffliche Bestimmung des Lustbegriffes könnten wir als ein weiteres Moment des westlichen Geistes ansehen, das sich durch die weitere Geschichte des Denkens erhalten wird. Der Geist des Westens wird im Fortgang seiner Entwicklung immer wieder auf diese Frage nach der spezifisch menschlichen Lust zurückkommen. Die Antworten werden verschieden ausfallen, aber sie werden sich stets auf das Moment des bewussten Verhältnisses zu sich selbst beziehen. Sie werden ebenfalls immer auf den Gedanken der Freiheit rekurrieren, die sich auf die eine oder andere Weise in einer Lust darstellen können muss, die als spezifisch menschlich bezeichnet werden kann. Und diese Antworten werden immer aufs Neue um eine vernünftige Bestimmung dieser Lust durch den Menschen selbst kreisen. Gerade durch den Gedanken einer eigenen Vernunft der Lust zeigt sich bei Epikur dieses spezifisch westliche Moment seiner Lustethik. Hier sollte nicht das kritische Element seiner Konzeption vergessen werden, das sich gegen solche ethischen Entwürfe wendet, die gerade in einer Unterdrückung der Lust und der Sinnlichkeit das Zentrum einer ethischen Handlungsorientierung sehen. In dieser Kritik wird bereits ein weiteres Moment des Geistes des Westens deutlich. Auch dieses Moment ist ambivalent. Auf der einen Seite wird die philosophische und erst recht die christliche Ethik immer wieder auf die Notwendigkeit hinweisen, sich auf die Lust vor allem in einem negativen Sinne zu beziehen, wenn sie spezifisch menschlich gestaltet werden soll. Lustkritik wird ein wichtiges Moment im Geist des Westens 96
4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens
unter der Perspektive der Frage nach dem Guten und Bösen bleiben. Auf der anderen Seite wird vor allem die philosophische – und in neuerer Zeit zum Teil auch die christliche – Ethik stets die Bedeutung des Sinnlichen für die Entfaltung des Menschlichen zur Geltung bringen. Der Geist des Westens wird deshalb nicht durch die eine oder die andere dieser Positionen geprägt. Das wichtige Moment ist vielmehr die Auseinandersetzung zwischen ihnen – und diese ist keineswegs gleichbedeutend mit derjenigen zwischen Christentum und Philosophie. Eine Auseinandersetzung kann aber nur stattfinden, wenn zumindest so weit eine Gemeinsamkeit vorhanden ist, dass man sich auf gedankliche Bestände beziehen kann, von denen man sich auf verschiedene Weisen abheben kann. Dieses Gemeinsame haben wir in der hedonistischen Ethik – und ebenso in der Stoa – bereits vorliegen. Es geht nicht um eine vom Menschen ununterschiedene Sinnlichkeit, mit der er seine Lust realisieren könnte, ohne zu ihr Stellung zu nehmen. Wenn Epikur von der Vernunft der Lust spricht, so hat er diesen Begriff bereits so bestimmt, dass dagegen die Lust der Vernunft zur Geltung gebracht werden kann. Er hat ihn darüber hinaus so bestimmt, dass eine weitere Ambivalenz im Geist des Westens deutlich werden kann. In allen Erörterungen über das Gute und Böse wird es immer um eine Lust gehen, die durch Vernunft bestimmt wird. Dies gilt dann, wenn die Aufgabe der Vernunft darin gesehen wird, die Lust und die Sinnlichkeit zu begrenzen und womöglich ganz aus dem guten Leben des Menschen auszuschließen. Dies gilt aber auch dann, wenn die sinnliche Seite des Menschen gerade als seine eigentliche Wahrheit aufgefasst wird, die von den Einschränkungen durch eine sinnenfremde Vernunft befreit werden muss. Diese Befreiung kann nicht im Namen der prinzipiell stummen Sinnlichkeit und Lust gefordert werden. Lust und Sinnlichkeit können sich nicht diskursiv artikulieren. Sie können nur durch den Diskurs der Vernunft zur Geltung gebracht und von Grenzen befreit werden, die selbst wieder durch eine andere Vernunft bestimmt waren. Der Geist des Westens wird bestimmt bleiben durch diese Auseinandersetzung innerhalb der Vernunft über die richtige Stellung zur Lust und zur Sinnlichkeit. Damit ist eine wichtige Frage über das, was den Menschen ausmacht, grundsätzlich beantwortet: er ist ein Sinnenwesen, das gerade unter diesem Aspekt nicht identisch mit sich ist. Wird er als Sinnenwesen bezeichnet, so ist dies also nur wahr, wenn das Gegenteil ergänzt wird: er ist ebenso kein Sinnenwesen. Darin realisiert sich wiederum seine genuin westliche Bestimmung, wonach er ein Wesen ist, das sich zu sich verhält und in dieser Struktur seine Freiheit verwirklicht. Dass er ein Sinnenwesen ist, dies ist eine 97
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
Behauptung, die er nicht als reines Sinnenwesen aufstellt. Die Behauptung schließt also immer schon ihr Gegenteil ein. Nur in dieser Struktur ist sie überhaupt sinnvoll zur Geltung zu bringen.
Das Bewusstsein und das sinnliche Gute Wir haben auch die zweite wichtige Position zur Bedeutung der Sinnlichkeit und der Lust für das Gute und das Glück im menschlichen Leben dargestellt. Auch hier war das Missverständnis abzuhalten, in der Stoa sei eine Verneinung der Sinnlichkeit und des Strebens nach Lust gefordert worden. Im Grunde wird hier nur die fundamentale Struktur des Verhältnisses des Menschen zu sich unter dem Gesichtspunkt seiner Sinnlichkeit und seines Strebens nach Lust zur Geltung gebracht. Nur deshalb kann es sich überhaupt um eine Ethik handeln, die das Gute im Unterschied zum Bösen und das menschliche Glück im Unterschied zum menschlichen Unglück zum Thema nimmt. Dadurch verdeutlicht sich dieses Moment im Geist des Westens weiter, das bereits auf der Grundlage der Ethik Epikurs nach der Seite des Hedonismus in der näheren Bestimmung der Freiheit innerhalb des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst herausgearbeitet wurde. Wir könnten den Grundsatz der stoischen Ethik im Unterschied zur hedonistischen Ethik Epikurs als den einer vernünftigen Regulierung der sinnlichen Seite des Strebens nach Glück bezeichnen. Man könnte auch sagen, dass es sich um zwei verschiedene Akzentuierungen des Zusammenhangs zwischen dem guten Leben und dem Glück des Menschen handelt. Nach Epikur sollte das Leben gelingen und darin ‚gut‘ sein, indem die sinnliche Seite des Lebens vernünftig gelebt wird. Zwischen einer vernünftigen Regulierung und einer vernünftigen Verwirklichung des Sinnlichen im menschlichen Leben und im Streben nach Glück ist der Unterschied nicht so groß, wie er zwischen hedonistischer und stoischer Ethik auf den ersten Blick erscheint. Die Auffassung von einer stoischen Verneinung des sinnlichen Lebens auf der Grundlage einer Abkehr von der affektiven Seite des Menschlichen ist ebenso ein modernes Missverständnis wie die Auffassung von einer hedonistischen Aufforderung zum hemmungslosen und nicht vernunftkontrollierten Ausleben aller Begierden. Epikur hat das letztere nicht empfohlen und die Stoa riet nicht zum ersteren. Wohl aber betonten sie verschiedene Seiten des vernünftigen Verhältnisses zur sinnlichen Seite des Guten und des menschlichen Glücks. Nur weil beide Gedankengänge nicht dem populären Missverständnis entsprechen, deshalb können sie in einer Erörterung über den Geist des Westens 98
4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens
vorkommen. In der Tat müssen sie sogar zum Thema werden, gerade weil sie bei aller Verschiedenheit in der Betonung des richtigen Verhältnisses zur sinnlichen Seite des Lebens doch so ähnlich sind. Die hedonistische und die stoische Ethik repräsentieren beide das Prinzip einer an vernünftigen und damit allgemeinen Prinzipien orientierten Stellungnahme zur sinnlichen oder auch animalischen Seite des menschlichen Glücks. Darin enthalten sie beide ein wichtiges Moment des Geistes des Westens. Auch in der Stoa ist der Grundsatz bewahrt, dass es zum Wesen des Menschen gehört, sich in ein bewusstes Verhältnis zu seiner sinnlichen Seite zu setzen. Ebenso wird die Geltung des Gedankens als unbezweifelbar vorausgesetzt, dass dieses bewusste Verhältnis sehr viel mit dem zu tun hat, was wir als Gut und Böse bezeichnen. Ebenso wie bei Epikur ist in der Stoa der Gedanke selbstverständlich, dass das Glück des Menschen in Bezug auf die sinnliche Seite seines Lebens nicht abgetrennt von der Frage nach dem Guten und Bösen betrachtet und untersucht werden kann. Jenes Verhältnis, das der Mensch möglichst bewusst zu der sinnlichen Seite seiner selbst einnehmen soll, ist von einer solchen Art, dass es in sich einen einheitlichen Bezug auf das Gute und auf das Glück enthält. Beiden Positionen ist gemeinsam, dass es weder ‚gut‘ heißen kann noch zum Glück beiträgt, wenn der Mensch ohne vernünftige Reflexion sich mit seiner Sinnlichkeit identifiziert.
Die Freiheit im individuellen Guten Der Unterschied, der die Stoa von der hedonistischen Ethik trennt, bezieht sich also nicht auf diese Prinzipien. Es geht in beiden Gedankenzusammenhängen vielmehr um die nähere Ausgestaltung dieses Verhältnisses, in dem der Mensch nicht mehr mit der sinnlichen Seite seines Lebens identisch ist. Nach beiden philosophischen Schulen beginnt in dieser Nicht-Identität im Menschen seine Freiheit. Der Unterschied liegt in den Auffassungen, wie dieser Zustand der Freiheit verwirklicht werden kann. Die Nicht-Identität und die vernünftige Reflexion auf die sinnliche Seite des Lebens eröffnen nur die Chance, ein freies Verhältnis zu sich selbst gewinnen zu können. Realisiert werden kann diese Chance nach der hedonistischen Auffassung, indem der Mensch auf vernünftige Weise seine Sinnlichkeit gemäß der ihm gegebenen Möglichkeiten auslebt. Er soll sein Sinnen und Trachten also in erster Linie darauf richten, diese Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen. Die Ökonomie des Lebens ist danach auf die Verwirklichung des sinnlichen Glücks hin zu orientieren, und die Freiheit des vernünftigen Selbst99
4. Das gute Leben und das Glück des Menschen
verhältnisses ist durch diese Gestalt der Reflexion auf die sinnliche Seite des Lebens am besten zu realisieren. Die Stoa sieht die optimalen Möglichkeiten der Realisierung der Freiheit im Selbstverhältnis dagegen in der Kontrolle und Steuerung der sinnlichen Wünsche und Begierden. Was die Stoa von der hedonistischen Ethik unterscheidet, ist also nicht in erster Linie der Rat zu einer Einschränkung der Wünsche und zum Verzicht auf das Streben nach sinnlicher Lust. In erster Linie geht es in ihr um eine andere Sicht auf die Möglichkeiten zur Freiheit, die sich im vernünftigen Verhältnis zur sinnlichen Seite des menschlichen Lebens finden. Erst auf dieser Grundlage kommt sie dann zu dem Rat, in erster Linie die Wünsche und Begierden in einem einschränkenden Sinne zu kontrollieren, statt die Lebensenergien für eine möglichst weitgehende Verwirklichung der Wünsche und Begierden einzusetzen. Der Unterschied zur hedonistischen Ethik betrifft also nicht so sehr den Gedanken, das Gute und das Glück im Verzicht statt im Ausleben zu suchen. Der Unterschied ist zunächst eine Differenz in der Einschätzung der freien Verwirklichungschancen der sinnlichen Seite des menschlichen Glücks und des damit verbundenen Guten. Die hedonistische Ethik und die Stoa repräsentieren zwei Möglichkeiten, sich im Verhältnis zur Sinnlichkeit vernünftig und am Guten orientiert zu verhalten. Beide Möglichkeiten finden sich als Lebensentwürfe bis heute im Leben der Gemeinschaften ebenso wie im individuellen Leben. Es gab Zeiten, in denen die hedonistische Ausgestaltung der Freiheit des menschlichen Verhältnisses zur Sinnlichkeit im Vordergrund stand. Wir müssen uns nur an die Kultur des Barock erinnern, und auf andere Weise könnte die Gegenwart reiches Anschauungsmaterial liefern. In anderen Zeiten dagegen forderte die herrschende Ethik den Verzicht auf die Befriedigung sinnlicher Wünsche. Die viktorianische Zeit ist in diesem Sinne sprichwörtlich geworden. Auch diese ‚Freiheit gegenüber der Freiheit‘ ist ein Bestandteil des westlichen Geistes. Darin entfaltet sich eine Ambivalenz, die nur aus dem Bezug auf eine gemeinsame Grundlage möglich war. Diese Ambivalenz besteht darin, dass die Ausgestaltung der Nicht-Identität des Menschen mit seiner Sinnlichkeit und die darin gewonnene Chance zur Freiheit nicht auf eine vorgegebene Weise geschehen muss. Die Freiheit kann sich vielmehr auf sich selbst beziehen und es eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten, die Freiheit zu realisieren. Diese Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffes können wir als ein weiteres Moment im Geist des Westens erkennen. Natürlich ist diese Frage mit Epikur und der Stoa noch nicht zu Ende. Bei Kant und Hegel werden sich wichtige Fortschreibungen dieses Gedankens zeigen, die auch dieses Moment im Geist des Westens zu einer 100
4.3 Das Glück des Menschen und der Geist des Westens
weiteren Entwicklung bringen. Der Anfang dieser Auffassung der Freiheit geschah jedoch in Zusammenhang mit der Reflexion auf die genuin menschliche Möglichkeit, sich von der Sinnlichkeit zu unterscheiden und sich frei auf sie zu beziehen. Dieser freie Selbstbezug in der gedanklichen Einheit mit der Reflexion auf das Gute und das Glück des Menschen ist eines der wichtigsten Momente im Geist des Westens, die bereits in der antiken Philosophie zur Geltung gebracht wurden.
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5. Das kalkulierte und das natürliche Gute 5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus) Hedonismus und Utilitarismus Der zeitliche Abstand des utilitaristischen Denkens zu Epikur und zur Stoa sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier die Erörterung des guten Lebens in seinem Zusammenhang mit dem Glück des Menschen fortgesetzt wurde. Aber es war eine lange Zeit vergangen, bis der Geist des Westens von der Seite der philosophischen Untersuchung über die Bestimmung des Unterschieds zwischen dem Guten und dem Bösen her weiter entwickelt werden konnte. Dies hing vor allem damit zusammen, dass in der Blütezeit des Christentums eine eigenständige Philosophie neben der Theologie nicht mehr gedeihen konnte. Die Selbstverständigung des westlichen Geistes repräsentiert sich jedoch nun in einer folgenreichen Verwandlung, die vor allem die Einschätzung der Möglichkeit betrifft, über das gute und gelingende Leben des einzelnen Menschen gesicherte Einsichten gewinnen zu können. In einer gewissen Weise wird auf eine solche Einsicht gerade explizit verzichtet. Stattdessen konzentriert sich das Denken nun darauf, das Gute im Zusammenleben der Menschen im Staat näher zu bestimmen. Allerdings impliziert die utilitaristische Konzeption sehr wohl ein Verständnis vom Glück des einzelnen in seinem individuellen Leben. Im Zentrum dieser Position steht ein solches Verständnis jedoch nicht. Der Utilitarismus kann insofern an Epikur – und bis zu einem gewissen Grade sogar an die Stoa – anschließen, als auch hier das Interesse des Individuums als Prinzip des richtigen Handelns und des richtigen und guten Lebens das gedankliche Zentrum darstellt. Der Begründer des neueren Utilitarismus – Jeremy Bentham – verwies sogar ausdrücklich auf Epikur als seinen Vorläufer. Auch der Utilitarismus ist grundsätzlich eine hedonistische Position, d. h. die Lust bzw. Freude (‚hedone‘) des Einzelnen ist Ausgangspunkt für die Suche nach der Einsicht, was in einem ethischen Sinne zu tun oder zu lassen sei. Eine Handlung ist demnach grundsätzlich in dem Ausmaß in einem moralischen Sinn ‚richtig‘, als sie das Glück befördert; sie ist in dem Ausmaß moralisch verwerflich, als sie zum Gegenteil von Glück führt. Den Begriff ‚Utilitarismus‘ könnte man mit ‚Nützlichkeitsethik‘ übersetzen 102
5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus)
(lat. ‚utilitas‘ = Nutzen). Damit ist schon gesagt, dass der Nutzen einer Handlung für den Einzelnen oder/und für die Gemeinschaft im Zentrum ihrer moralischen Bewertung stehen soll. Die ‚Utilität‘ ist die Eigenschaft einer Handlung, durch die sie zur Lust des Einzelnen oder der Gemeinschaft beiträgt. Der moralische Wert einer Handlung soll also nicht von einem transzendenten Wissen vom Guten und Bösen abgeleitet werden, sondern grundsätzlich aus Zielen und Werten von Menschen, die zunächst ohne Bezug auf moralische Begriffe und Urteile angestrebt werden. Auch hier enthalten unsere Ausdrücke ‚Lust‘ bzw. ‚Unlust‘ die Tendenz, uns in die Irre zu führen, da sie sehr stark auf das unmittelbare sinnliche Genießen eingeschränkt sind. Schon der griechische Ausdruck ‚hedone‘ umfasste aber auch das Gefühl, das wir als Freude bezeichnen und vielleicht besser als ein Bewusstsein statt als ein Gefühl auffassen sollten. Ähnlich ist es nun mit den englischen Ausdrücken ‚pleasure‘ bzw. ‚pain‘, die im Utilitarismus gewöhnlich verwendet werden. Der erstere umfasst auch Freude und Vergnügen und könnte etwa als ‚Wohlgefühl‘ übersetzt werden, während der letztere nicht vor allem Schmerz bezeichnet, sondern im Grunde jede negative Empfindung, die ein gewisses Mindestniveau erreicht. Statt ‚pleasure‘ schreibt John Stuart Mill auch ‚benefit‘, ‚advantage‘, ‚good‘ und ‚happiness‘, und an die Stelle von ‚pain‘ kann er auch setzen ‚mischief‘, ‚evil‘ und ‚unhappiness‘. Während Epikur wenig an der Frage interessiert war, ob und inwieweit es zum guten Leben gehört, dass der Einzelne im gesellschaftlichen und staatlichen Leben sich auch zu anderen Menschen richtig verhält, ist der Utilitarismus nun von vornherein eine Sozialethik. Dies wird sich vor allem bei John Stuart Mill zeigen; am Anfang des utilitaristischen Denkens bei Jeremy Bentham findet sich noch der Vorrang des Individuums und die Gesellschaft wird nur als eine Summe von Individuen aufgefasst. Vor allem aber wird die Frage nach dem guten und gelingenden Leben nun zweitrangig – obwohl nicht bedeutungslos, während sie in der Antike und hier speziell bei Epikur im Mittelpunkt der Überlegungen stand. Wichtiger wird nun die Frage: wie soll ich handeln, wenn dadurch andere Menschen betroffen werden? Aus der Suche nach generellen Regeln für ein solches Handeln ergibt sich dann die Frage: wie sollen wir handeln? Erst von dieser zentralen Frage aus findet der Utilitarismus zur Frage nach dem guten und gelingenden Leben.
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5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
Utilitaristische Grundprinzipien Die zwei Grundprinzipien der utilitaristischen Konzeption sind das hedonistische Prinzip und das sog. Konsequenzenprinzip. Eine Handlung ist nicht ethisch bedeutsam wegen ihrer Motivation, sondern aufgrund der Folgen, die sie für den Handelnden und/oder andere Menschen nach sich zieht. Die beste Handlung ist prinzipiell die mit dem optimalen Nutzen. Hier ist es wichtig, die utilitaristische Ethik mit ihrem normativen Anspruch von einer erklärenden Theorie zu unterscheiden, die beansprucht, die Geltung ethischer Normen in einer Gesellschaft und für die einzelnen Menschen aus dem Nutzen der Ethik für die Gesellschaft abzuleiten. Eine solche deskriptive Theorie findet sich etwa bei David Hume. Aber schon bei Jeremy Bentham ist der Utilitarismus eine normative Theorie geworden, und das gilt mehr noch für den wichtigsten Vertreter des ‚klassischen‘ Utilitarismus, John Stuart Mill. Bentham sieht den Menschen als Diener zweier Herren, die man als Freude und Schmerz bezeichnen könnte. Alles, was wir als richtig oder falsch bezeichnen können, geht von diesen zwei Fundamentalprinzipien des menschlichen Lebens aus. Wenn wir diese beiden Prinzipien anerkennen, dann können wir das richtige Tun und Lassen auf rationalem Wege erkennen. Wenn wir akzeptieren, dass richtiges Handeln zu einem guten und gelingenden Leben führt, so können wir auch sagen, das gute Leben selbst lasse sich auf dieser gedanklichen Grundlage rational aus diesen Prinzipien ableiten. Dazu müssen wir jede Handlung nur auf ihre Folgen hin untersuchen. Was die Handlung unter ethischen Aspekten bedeutet, dies ergibt sich durch einen einfachen Kalkül aus dem Nutzen, den sie für die Gruppe von Menschen erbringt, auf die sich diese Handlung bezieht. Der Nutzen wird definiert durch die Veränderung des Niveaus an Glück, welche eben diese Gruppe daraus erfährt. So weit kann die utilitaristische Ethik in der Forderung zusammengefasst werden, jede Handlung solle das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen zur Folge haben. Damit gibt es ein Kriterium, mit dem zwischen verschiedenen Handlungen nach ihrem moralischen Wert unterschieden werden kann. Von zwei möglichen Handlungen ist diejenige unter moralischen Gesichtspunkten zu bevorzugen, die mehr zum Glück der Menschen beiträgt, die von dieser Handlung betroffen sind. Damit ist schon deutlich, dass sich der utilitaristische Hedonismus grundlegend von dem antiken – etwa Epikurs – unterscheidet. Es ist durchaus möglich, dass gerade diejenige von zwei möglichen Handlungen, die das größere Glück für die betroffenen Menschen zur Folge hat, den Handelnden selbst nicht glücklicher macht. 104
5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus)
Der Handelnde könnte vielleicht gerade durch die andere Handlung glücklicher werden, die zu einem geringeren Glück der betroffenen Menschen führt. Sein eigenes Glück und die Veränderung dieses Glücks durch die Handlung gehen zwar wohl in die utilitaristische Glücksrechnung ein. Aber diese Rechnung bezieht eben nicht nur den Handelnden ein, sondern alle, die durch die Handlung betroffen werden. Deshalb kann das größere Glück der anderen Betroffenen in dieser Rechnung durchaus das geringere Glück des Handelnden übertreffen. In diesem Fall ist nach dem utilitaristischen Grundgedanken diese Handlung moralisch zu bevorzugen, obwohl der Handelnde selbst durch sie zu einem geringeren Glück findet, als es ihm bei der anderen Handlung gelungen wäre. Es zeigt sich schon hier sehr deutlich, dass das utilitaristische Prinzip nicht einfach als Egoismus bezeichnet werden kann. Wichtig ist zunächst jedoch, dass Rationalität für diese Ethikkonzeption nur beansprucht werden kann, wenn die Folgen verschiedener Handlungen in Bezug auf den Nutzen und d. h. in Bezug auf die Veränderung des Glücks der Betroffenen miteinander verglichen werden können. Nur so kann zwischen dem moralischen Wert verschiedener Handlungen entschieden werden. Bentham versuchte dafür ein sehr einfaches Kriterium heranzuziehen, nämlich die Quantität der einzelnen Lustgefühle, aus der sich die Gesamtquantität der Glücksveränderung der Betroffenen durch die Handlung auf dem Wege einer Addition ergeben soll. Das Maß des Glücks sollte dabei seine Dauer und seine Intensität sein. Das bedeutet auch, dass außer Betracht bleibt, welche Ursachen einer Glücksempfindung zugrunde liegen. Jedes Glück ist prinzipiell gleichwertig, so lange es sich nach Dauer und Intensität messen lässt. Es war erst John Stuart Mill, der gedanklich von der einfachen Berechnung der Glücksempfindungen in einer Addition zu einer Berücksichtigung der Qualität der Glücksempfindungen fand. Jetzt wurde zur Frage, ob das Glück, das als Folge einer Handlung für deren moralische Beurteilung herangezogen werden soll, nicht auch besser oder schlechter sein kann und nicht nur länger andauernd und intensiver. Vor allem wird nun die Überlegung herangezogen, dass es niedere und höhere Lüste gibt. Damit wird aber ganz offensichtlich das ursprüngliche Prinzip gefährdet. Diesem Prinzip zufolge kann man das Glück, das durch die Folgen einer Handlung für eine Gruppe von Menschen entsteht, so zusammenfassen, dass es für verschiedene mögliche Handlungen vergleichbar wird. Mill muss also einen Weg finden, um die Unterscheidung der Lust in bessere und in schlechtere Arten mit dem utilitaristischen Prinzip zu vereinbaren. Eine solche Lösung muss den Unterschied zwischen verschiedenen For105
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
men von Lust bzw. Glück so beschreiben, dass es sich um einen Unterschied in der Intensität handelt. Höheres Glück muss also zugleich intensiver sein und niedrigeres Glück muss mit geringerer Intensität ausgestattet sein. Mill unterscheidet zwischen der höheren geistigen und der niedrigeren sinnlichen Lust. Deshalb muss er auch behaupten können, die geistige Lust sei grundsätzlich intensiver als die rein sinnliche. Er sieht hier zwar durchaus einen Wertunterschied, der aber zugleich ein Unterschied in der Intensität des Glücks sein soll. Nichtsdestoweniger bleibt die Erfahrung ein Problem, dass viele Menschen Glück vor allem durch rein sinnliche Lust kennen und dass bei nahezu allen Menschen diese Lust zumindest einen wichtigen Teil ihres Glücks darstellt. Mill muss deshalb eine wichtige Unterscheidung einführen, die das utilitaristische Grundprinzip in einer nicht unproblematischen Hinsicht modifiziert. Er unterscheidet nun zwischen Glück und Zufriedenheit. Ersteres ist nur über geistige Lust zu erreichen, zur letzteren reicht dagegen auch die bloße sinnliche Lust.
Das Glück der Gemeinschaft Darüber hinaus wird bei John Stuart Mill auch ein weiteres Teilprinzip des utilitaristischen Grundgedankens deutlicher. Mit diesem Prinzip wird der Übergang von einer prinzipiell hedonistischen Ethik zu einer Sozialethik radikal durchgeführt. Damit wird jedoch der hedonistische Charakter dieser Ethik zu einem Problem, denn es geht nun nicht mehr in erster Linie und ausschließlich um das Glück des Einzelnen, sondern es geht um das Glück der Gemeinschaft. Ein solcher Gedanke wäre etwa Epikur sehr fremd gewesen. Es geht nicht mehr nur darum, dass unter der ethischen Perspektive die Folgen von Handlungen entscheidend sind, dass die Folgen unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit beurteilt werden müssen und dass die Nützlichkeit aus dem Bezug auf das menschliche Glück erwogen werden muss. Darüber hinaus wird gefordert, dass die Folgen für das Glück aller von einer Handlung betroffenen Menschen berücksichtigt werden müssen, wobei das Glück des einen so viel zählen soll wie das des anderen. Mill vertritt also nicht einen subjektiven Hedonismus, wie dies bei Epikur der Fall war, sondern man könnte besser von einem ‚objektiven‘ Hedonismus sprechen. Seine ethischen Prinzipien erlauben im Grunde überhaupt keine Entscheidung über Handlungen oder Verhaltensweisen, wenn nur ein einzelner Mensch nach seinem Glück strebt und solange daraus keine Folgen für andere Menschen entstehen. Diese Beschränkung in der utilitaristischen Ethik muss mit aller Deutlichkeit gesehen werden, da sich an diesem Punkt 106
5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus)
die fundamentalen Gedankengänge der antiken und der modernen Ethik voneinander trennen. Für die antike Ethik stand im Zentrum ihrer Überlegungen stets die Frage nach dem guten Leben. Das gute Leben des Einzelnen war auch das ethisch geforderte Leben, weil es sich an ‚dem Guten‘ ausrichtete, also an einem höchsten Ziel, das selbst nicht wieder zu einem Mittel für andere Ziele werden kann. Nun ist der gedankliche Ansatz vollständig verändert. Der Utilitarismus kann eine rationale Grundlage für ethische Beurteilungen nur vorschlagen, indem er auf den Gedanken des ‚guten Lebens‘ des Einzelnen verzichtet und den Gedanken einer ethischen Handlungsorientierung von vornherein mit dem Glück einer Gruppe von Menschen verbindet. Nur wenn die Folgen für den Nutzen und damit das Glück anderer Menschen als Kriterium herangezogen werden können, ist überhaupt eine ethische Beurteilung von Handlungen möglich. Das bedeutet auch, dass alle anderen Verhaltensweisen und Handlungen von Menschen grundsätzlich aus dem Bereich der Ethik ausgegrenzt werden müssen. Vom ‚guten Leben‘ kann also nur noch in dem Sinn die Rede sein, dass die Handlung eines Menschen auf ihre Folgen für den Nutzen und das Glück aller betroffenen Menschen hin untersucht wird. Hat sie keine Folgen für andere Menschen, so ist sie ethisch vollständig irrelevant. Es könnte nun scheinen, als wäre der Utilitarismus – jedenfalls bei John Stuart Mill – überhaupt nicht am Glück des einzelnen Menschen interessiert, sondern nur am Glück von Kollektiven und Gemeinschaften von Menschen, die von den Folgen von Handlungen betroffen sind. Glück kann aber offensichtlich nur der Einzelne empfinden, nicht eine abstrakte Summe von Menschen. Nichtsdestoweniger beanspruchte Mill, gerade mit seinem ‚objektiven Hedonismus‘ das Prinzip des ‚subjektiven Hedonismus‘ mit der Ausrichtung am individuellen Glück bewahren zu können. Aber Mills Anspruch ist anders, als er von der stoischen und epikureischen Ethik erhoben worden war. Er will gerade deshalb eine Konzeption des ‚objektiven‘ Hedonismus ausarbeiten, um damit die Möglichkeit eines ‚subjektiven‘ Hedonismus zu retten. Er stimmt also der subjektiven Grundlage des Glücks durchaus zu, d. h. jeder Einzelne strebt nach Glück und die Ethik hat zum Ziel, dieses Streben zu unterstützen. Das ‚allgemeine‘ Glück ist nur deshalb ein Ziel, weil jeder einzelne Mensch nach Glück strebt und streben soll. Das heißt allerdings nicht, dass Mill behaupten würde, das allgemeine Glück sei das höchste Ziel für jeden einzelnen Menschen. So altruistisch ist die utilitaristische Konzeption nicht. Mill behauptet vielmehr, dass die Berücksichtigung des allgemeinen Glücks eine Bedingung ist, die auch den einzelnen Menschen am besten zu seinem Glück führt. Er kann selbst also 107
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
dann am wahrscheinlichsten glücklich werden, wenn er bei seinen Handlungen berücksichtigt, dass sie Folgen für andere Menschen haben, die deren Glück beeinträchtigen oder fördern können. Es ist aber auch hier wieder deutlich zu sehen, dass Mill zwar einen Zusammenhang zwischen dem Glück des einzelnen Menschen und dem Glück der Allgemeinheit herstellt, dass diese Verbindung aber nur über die Handlungsfolgen und die Vergleichbarkeit von Handlungen aufgrund ihrer Folgen für den Nutzen bzw. das Glück für andere Menschen gefunden werden kann. Es geht im Utilitarismus aber nicht in erster Linie um ethische Regeln, mit denen einzelne Menschen ihr Verhältnis zu einzelnen anderen Menschen ethisch bestimmen können. John Stuart Mill hat selbst darauf hingewiesen, dass das Individuum im Regelfall eigentlich nicht der Adressat der utilitaristischen Ethik ist. Vor allem sind es die gesetzgebenden Institutionen und die Regierungen, die ihr Handeln an den utilitaristischen Prinzipien ausrichten sollen, um das größte Glück der größten Zahl zu garantieren. Die Mittel zur Verwirklichung der utilitaristischen Ethik stehen insofern nicht in der Macht des Einzelnen. Sie finden sich vielmehr in den Gesetzen eines Staates, in der sonstigen Einflussnahme des Staates auf Wirtschaft und Gesellschaft, wozu etwa auch das Erziehungs- und Bildungssystem gehört, aber auch in der Durchsetzung der Gesetze im exekutiven Handeln. Man könnte pointiert sagen: der Staat ist der eigentliche und zentrale ethische Akteur in der utilitaristischen Ethik, so wie Mill sie verstanden hat. Eine weitere Konsequenz der utilitaristischen Konzeption besteht darin, dass Handlungen für sich genommen eigentlich überhaupt nicht beurteilt werden können. Die Ethik muss sich vielmehr darauf beschränken, verschiedene Handlungen zu vergleichen, indem sie deren Folgen für das Glück der Betroffenen gegeneinander abwägt. Handlungen ohne Folgen für andere Menschen scheiden aus dem Bereich möglicher ethischer Erwägungen deshalb grundsätzlich aus. Ebenso aber kann eine einzelne Handlung im Grunde überhaupt nicht beurteilt werden, wenn man das utilitaristische Grundprinzip akzeptiert. Das bedeutet auch, dass es nicht im ‚Inneren‘ von Handlungen angelegt ist, ob und inwieweit sie verglichen werden können. Eine solche Beurteilungs- und Vergleichsmöglichkeit ergibt sich vielmehr ausschließlich daraus, dass ihre Folgen vergleichbar gemacht werden können. Die utilitaristische Ethik erlaubt also stets nur das Urteil, eine Handlung A sei ethisch besser als eine Handlung B; sie erlaubt nicht die Behauptung, die Handlung A oder die Handlung B ‚ist gut‘. Das bedeutet auch, dass eine Handlung in sich und für sich überhaupt keinen ethischen Wert haben kann, sondern stets nur durch ihren Bezug auf andere Handlungen. 108
5.1 Das Gute und sein Nutzen (Utilitarismus)
Handlungs- und Regelutilitarismus Es ist deutlich geworden, dass das fundamentale Problem einer utilitaristischen Ethik darin besteht, die Handlungsfolgen zu bestimmen, zu bewerten und vergleichbar zu machen. Um solche Probleme zu lösen, wurde das utilitaristische Prinzip durch ‚Sekundärregeln‘ ergänzt, die es in der Praxis anwendbar machen sollen. Wenn eine solche Ergänzung eingeführt wird, so ist zunächst die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus zu berücksichtigen. Der wichtigste Unterschied bezieht sich auf die Verbindlichkeit von Sekundärregeln. Wer einen Handlungsutilitarismus vertritt, der sieht eine Sekundärregel nur dann als verbindlich an, wenn sichergestellt ist, dass sie in dem jeweils zu beurteilenden Fall des Vergleichs von Handlungsfolgen tatsächlich dazu führt, dass dem utilitaristischen Prinzip entsprochen wird, d. h. dass auf diese Weise das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl erreicht wird. Es darf also nicht bloß aufgrund einer Regel angenommen werden, durch eine bestimmte Handlung werde vermutlich der Nutzen der betroffenen Menschen maximiert. Wer hingegen einen Regelutilitarismus bevorzugt, der dehnt die Verbindlichkeit solcher Sekundärregeln weiter aus. Sie sollen nun für eine bestimmte Handlungssituation auch dann gelten, wenn für diese Situation nicht bewiesen werden kann, dass durch die Anwendung einer solchen Sekundärregel das utilitaristische Prinzip verwirklicht werden kann, d. h. dass bei ihrer Anwendung die größtmögliche Zahl von Menschen das größtmögliche Glück erreicht. Es genügt dem Regelutilitaristen vielmehr, dass die Befolgung einer solchen Sekundärregel sich bisher in ähnlichen Fällen als förderlich für das Glück der betroffenen Menschen gezeigt hat. Er fordert also keinen Nachweis, dass die Anwendung einer solchen Regel auch in der konkreten zu beurteilenden Situation den besten Nutzen erbringen wird. Er verlässt sich vielmehr auf die Regel, ohne einen Nachweis über ihre Anwendbarkeit in der bestimmten Situation zu verlangen. Die Frage des Regelutilitarismus steht also in erster Linie danach, welche Beziehungen eine Gesellschaft charakterisieren, in der eine bestimmte Regel gilt, und wie sie sich von einer anderen und darüber hinaus identischen Gesellschaft unterscheidet, in der diese Regel keine Gültigkeit besitzt. Die Regel ist dann moralisch gefordert, wenn in der ersteren Gesellschaft das addierte Glück der Menschen größer ist als in der zweiten. Die Regel ist jedoch moralisch verwerflich, wenn in der letzteren Gesellschaft das Glücksniveau höher ist als in der ersten, in der die Regel gilt. Der Regelutilitarismus bringt besonders deutlich zum Ausdruck, dass es in der utilitaristischen Ethik nicht um das Glück und/oder das gute Leben 109
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
des Handelnden geht, sondern um die Veränderung des Glücks aller Beteiligten durch die Folgen der Handlung für alle betroffenen Menschen. Damit wird die Ethik auf eine Argumentationsform verpflichtet, die sie nur noch als Sozialethik gelten lassen kann. Was der Einzelne will oder tut, ist auf dieser Grundlage ethisch nicht mehr für sich selbst relevant. Das bedeutet auch, dass kein Mensch – auch kein Ethiker – sich zum Richter über den Wert des Tuns und Lassens anderer Menschen aufschwingen kann. Eine ethische Argumentation und damit ein Urteil über Handlungen ist nur noch gerechtfertigt, wenn Handlungen zu Folgen führen, die das Glück anderer Menschen betreffen. In dieser Beschränkung liegt das eigentlich Revolutionäre der utilitaristischen Ethik und ihre Bedeutung für das westliche Denken. Allerdings ist es für das Individuum auf utilitaristischer Grundlage nicht mehr möglich, in einem ethischen Sinne darüber zu befinden, ob sein Leben gut genannt zu werden verdient, wenn es von den Folgen seiner Handlungen absieht. Es verliert damit auch ein gewisses Maß an Freiheit im Sinne der Bestimmbarkeit des Wertes seines Lebens. Es genügt nach dem Grundsatz der utilitaristischen Ethik nicht, nach bestem Wissen und Gewissen so gehandelt zu haben, dass die gewollten Wirkungen das Glück anderer Menschen vermehren und nicht vermindern. Es kommt auf die tatsächlichen Handlungsfolgen an, die in den meisten Fällen nicht in der Macht des Individuums stehen. Das Individuum verliert deshalb nach dem utilitaristischen Grundprinzip in einem gewissen Ausmaß die Freiheit, überhaupt ethisch richtig oder falsch handeln zu können. Damit verliert es aber auch die ethische Perspektive auf sich als Individuum. Die utilitaristische Ethik ist also eine Ethik, die nach ihrem Prinzip eingeschränkt ist auf den Menschen nur im sozialen Zusammenhang. Sie schließt damit jedoch den Menschen aus dem ethischen Argumentieren aus, wie er für sich ist und Fragen danach stellt, ob sein Leben gut heißen kann oder schlecht genannt werden muss.
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5.2 Der Sinn für das Gute (Moral-Sense-Ethik) Der Gedanke eines ‚moralischen Sinnes‘ Die Grundgedanken des Utilitarismus schließen sich einerseits an die antike Philosophie über den Zusammenhang zwischen dem Glück und der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen an. Sie entfalten andererseits eine ganz andere Richtung des Denkens, die in der westlichen Welt und in der Wirklichkeit ihres sozialen und politischen Lebens tiefe Spuren hinterlassen hat. Wir konfrontieren den Utilitarismus nun mit einer Konzeption, auf die in dieser Welt weit weniger explizit Bezug genommen wird. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie ein Denken zum Ausdruck bringt, das in den Fragen nach dem, was wir gut oder böse nennen sollen, im Westen zumindest genau so stark präsent ist wie die Frage nach dem Nutzen des Guten. Diese Konzeption schließt sich ebenso wie der Utilitarismus an antike Positionen an, und auch sie entwickelt deren Gedanken in radikaler Weise weiter. Hier ist es jedoch mehr ein platonischer Ansatz, obwohl auf Platon nicht explizit Bezug genommen wird. Mit dem Utilitarismus hat die jetzt zu erörternde Konzeption gemein, dass sie das Leben des einzelnen Menschen in der Gemeinschaft in das Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Sie wendet sich jedoch strikt gegen die Vorstellung von einem Nutzenkalkül als Grundlage des Wissens vom Guten und Bösen. Ein vernünftiges Berechnen des Guten erscheint ihr in fundamentaler Weise gerade gegen die Natur des Menschen als eines Gemeinschaftswesens zu verstoßen. Diese Richtung der Moralphilosophie entstand im 18. Jahrhundert in England. Ihre Grundgedanken finden sich jedoch in weniger expliziter Form in vielen unserer alltäglichen Überlegungen über das, was wir gut oder böse nennen sollen. Die Grundprinzipien des richtigen Handelns und des guten Lebens können dieser Konzeption zufolge auf keinen Fall aus der Vernunft oder aus übergeordneten Zielen wie dem Streben nach Glück abgeleitet werden. Der Mensch in seiner gesamten Wirklichkeit sollte vielmehr als Ausgangspunkt für jede Untersuchung über das gelten, was wir als richtig und gut auffassen wollen. Am Anfang der Moralphilosophie steht nun die Erfahrungswissenschaft vom Menschen in seinem tatsächlichen Leben. Die Natur des Menschen selbst gibt uns die Möglichkeit vor, in einem moralischen Sinne richtig zu handeln, und nur aus dieser Natur ergibt sich die Möglichkeit, uns philosophisch darüber zu unterrichten, was gut und was böse heißen kann. Die Schule der Moral-Sense-Ethik vertraute darauf, dass der Mensch weder auf die Offenbarungen eines höheren Wesens noch auf die 111
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
Prinzipien reiner Vernunft angewiesen sei, um wissen zu können, wie er richtig zu handeln hat und ein gutes Leben führen kann. Alle Menschen besitzen demnach ein ursprüngliches Wissen vom Richtigen und vom Guten, so dass das philosophische Denken sich im Grunde darauf beschränken kann, dieses Wissen zu verdeutlichen und dem Menschen das zu erklären, was er im Grunde seines Wesens eigentlich immer schon weiß. Dieses ursprüngliche Wissen wurde von den wichtigsten Denkern dieser Richtung der Moralphilosophie als ‚moral sense‘ bezeichnet. Dieser Ausdruck bezeichnet bereits sehr genau, worum es diesen Denkern geht: die Ethik hat auszugehen von einem ‚Vermögen‘ des Menschen, das sich hinsichtlich seiner Natürlichkeit nicht prinzipiell von anderen Sinnen unterscheidet. Wie die anderen Sinne kann das ethische Vermögen zwar geschult, gebildet und entwickelt werden, aber es hängt nicht von einer solchen Schulung, Bildung und Entwicklung ab, ob es dieses Vermögen gibt. Das Ziel dieser Moralphilosophie besteht im Grunde darin, das moralische Urteilsvermögen von der einseitigen Fixierung auf Gefühl oder Vernunft bzw. Verstand zu befreien und eine Einheit von Emotionalität und Rationalität zu denken, die vor der Unterscheidung in beide Vermögen steht. Ein moralisches Urteil, das allein aus der Tätigkeit des Verstandes abgeleitet werden kann, ist nach dieser Auffassung abstrakt und von dem Ursprung der Fähigkeit zu moralischen Urteilen abgetrennt. Deshalb kann es eigentlich nicht den Status eines solchen Urteils beanspruchen und sein Inhalt kann selbst nicht moralisch genannt werden, weil er keine Beziehung zur Quelle der Moral aufweist. Das ethische Vermögen wird aber auch nicht durch die Erkenntnisse von Philosophen erzeugt, sondern existiert naturgemäß in jedem Menschen. Die Aufgabe der Moralphilosophie kann deshalb hauptsächlich nur darin bestehen, dem Menschen zu verdeutlichen, dass er ganz natürlich einen solchen ‚moralischen Sinn‘ besitzt, ebenso wie er über Gesichts-, Gehör-, Geschmacks-, Tast- und Geruchssinn verfügt. Darüber hinaus kann sie zu jener Schulung, Bildung und Entwicklung beitragen, zu der der moralische Sinn fähig ist. Sie kann die Grundlage des Wissens um Gut und Böse aber nicht erzeugen oder aus höheren Prinzipien ableiten. Das moralphilosophische Wissen bleibt also grundsätzlich abhängig von einem Wissen über die menschliche Natur und dem zu ihr gehörigen ‚Sinn für Moral‘. Man könnte auch sagen: die Moralphilosophie muss sich darauf beschränken, den in der Natur des Menschen angelegten ‚Sinn für Moral‘ über sich selbst aufzuklären. In dieser Aufklärung muss sie auf ihr eigenes Zutun aus Vernunft verzichten. Sie kann nur verdeutlichen, was immer schon vorhanden war. Um den kritischen Gedanken der ‚Moral-Sense‘-Ethik in seiner ganzen 112
5.2 Der Sinn für das Gute (Moral-Sense-Ethik)
Stärke erfassen zu können, muss man sich vor Augen halten, welche Auffassungen von den Aufgaben und Möglichkeiten der Moralphilosophie damit ausgeschlossen werden. Das, was wir gut nennen, soll nicht davon abhängig sein, ob es den Bestrebungen des Menschen dient. Das Gute soll also nicht nur deshalb so heißen, weil es von Menschen gewollt wird. Die ‚Moral-Sense‘-Philosophie will keineswegs das empirisch feststellbare Wollen und Streben des Menschen zum Maßstab des moralisch Richtigen machen, obwohl dessen Grundlage doch im tatsächlichen Leben des Menschen gefunden werden soll. Auf der anderen Seite soll das Gute aber auch nicht aus einem Reich der Ideen oder von einem höchsten Wesen oder aus der reinen Vernunft abgeleitet werden können. Der moralische Sinn muss uns in die Lage versetzen, zwischen einem bloßen Gefallen an Gefühlen, an Handlungen oder auch Personen und einem besonderen Gefallen, das wir als moralisch bezeichnen können, zu unterscheiden. Wir wenden uns auf unsere Gefühle nicht nur mit einem reflektiven Gefühl zurück, das aus unseren subjektiven und individuellen Vorlieben stammt. Wir können dies auch mit einem Sinn tun, der weder rein emotional noch rein vernünftig, weder nur individuell noch nur allgemein ist. Dazu benötigen wir allgemeine Begriffe, vor allem einen, nämlich den des ‚öffentlichen Interesses‘ (public interest) bzw. des ‚öffentlichen Guten‘ (public good). Der moralische Sinn urteilt jedoch über Handlungen und Personen, ohne dass er einen festen Begriff vom Gemeinwohl vor Augen haben würde. Er ist insofern ein Sinn für das Allgemeine, ohne einen Begriff des allgemeinen Wohls zugrunde zu legen. Wir beurteilen Handlungen moralisch, indem wir sie auf ihre Bezüge im sozialen Zusammenhang und damit auf ihre Auswirkungen auf andere Menschen hin bewerten. Wir nehmen dabei aber keine Kalkulation vor, bei der wir Handlungen mit gegebenen Kriterien vergleichen würden. Eben deshalb sprechen Shaftesbury und Hutcheson von einem moralischen ‚Sinn‘, mit dem wir begrifflos moralisch werten.
Der Mensch im System der Natur Das Begehren des Individuums kann bei Shaftesbury und Hutcheson schon deshalb nicht zur Grundlage ihrer Erklärung des moralisch Guten gemacht werden, weil sie den Menschen nicht als ein autarkes Lebewesen ansehen. Sie fassen darüber hinaus das Streben nach Autarkie auch nicht als ein zum Wesen des Menschen gehöriges Ziel auf. Zum Wesen des Menschen – wie aller Lebewesen – gehört es vielmehr, in Systemen von Umweltbeziehungen 113
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
zu leben, die gleichsam ein Teil von ihm sind. Der Mensch ist kein Einzelwesen, sondern Teil der Gattung Mensch, die wiederum selbst nur zu verstehen ist als Teil der Gattung ‚Lebewesen‘. Wenn das moralisch Richtige also aus der Natur des Menschen zu bestimmen sein soll, so kann es nicht aus dem einzelnen Individuum und seinen Wünschen und Bestrebungen abgeleitet werden. Es muss vielmehr der Zusammenhang berücksichtigt werden, in dem der Mensch durch seinen Gattungscharakter und als Lebewesen in einer Umwelt steht, wenn die Frage nach dem natürlichen Guten beantwortet werden soll. Was der Mensch ist, lässt sich zunächst am System seiner Affekte ablesen. Mit seinen Affekten organisiert er sein eigenes Leben und bezieht sich auf die soziale Umwelt, von der er sich nicht ablösen kann, ohne seine eigene Natur zu verletzen. Daraus ergibt sich als erste Antwort auf die Frage nach dem Guten, dass das Ausleben solcher Affekte nicht gut genannt werden kann, die zwar dem einzelnen Menschen nutzen würden, aber dem allgemeinen Wohl schaden müssten. Das Gleiche gilt natürlich für solche Affekte, die sowohl das Individuum als auch die Gattungsnatur des Menschen und sein Dasein in einer natürlichen Umwelt beeinträchtigen würden. Das allgemeine Wohl ist in diesem Zusammenhang allerdings kein Wert, der durch Abstimmung, Konsens oder durch vernünftige Ableitung aus Prinzipien bestimmt werden könnte. Das allgemeine Wohl ist hier das Wohl der Gattung als des Ganzen, in dem der einzelne Mensch lebt. Shaftesburys Philosophie eines moralischen Sinnes, der uns in einer mit anderen Sinnen vergleichbaren Natürlichkeit dazu veranlasst, Handlungen spontan mit Rücksicht auf das Wohl oder Wehe anderer Menschen zu beurteilen, hängt mit einer metaphysischen Perspektive auf den Menschen und sein Leben in seiner Welt zusammen. Die Ordnung des Kosmos ist demnach aufgebaut wie ein großer Organismus, in dem alle Teile mit allen anderen Teilen zusammenhängen. Er setzt sich aus einer Vielzahl von Untersystemen zusammen, die wiederum Untersysteme enthalten, bis schließlich das Individuum erreicht ist. Bei ihm endet der Systemaufbau, weil es ein ‚Selbstsystem‘ ist, das nicht wiederum Untersysteme enthält. Alle Systeme hängen so von einander ab, dass sie selbst jeweils nur dann in der richtigen Ordnung sind, wenn sie in Harmonie mit den anderen Systemen leben. Die gute Ordnung des Kosmos selbst hängt von der guten Ordnung seiner Untersysteme ab, wie diese Systeme selbst nur dann ‚gesund‘ sein können, wenn das Ganze des Kosmos ‚gesund‘ ist. Hier ist deutlich die platonische Orientierung dieses Denkens zu erkennen. Das Prinzip des Kosmos kann als Ordnung oder Harmonie bezeichnet werden. Dies gilt für die Welt der Natur ebenso wie für die soziale Welt. 114
5.2 Der Sinn für das Gute (Moral-Sense-Ethik)
Diese göttliche Ordnung (divine order) nehmen wir im Erleben von Schönheit in der Kunst und in der Natur wahr. Ebenso zeigt sich diese Ordnung in der moralischen Wahrnehmung, d. h. sie stellt sich im Menschen in Gestalt seines moralischen Sinnes dar. Dieser Sinn ist deshalb nicht subjektiv oder nur individuell. In ihm verwirklicht sich vielmehr die umgreifende Ordnung des Universums in der menschlichen Reflexion auf die unmittelbaren Wahrnehmungen von Handlungen, Gefühlen oder Personen. Der einzelne Mensch hat den Status des Guten und der Tugend dementsprechend dann erreicht, wenn er seine verschiedenen Affekte bzw. Antriebskräfte zu einem harmonischen Ausgleich bringt. Wenn die altruistischen und egoistischen Affekte in ein organisches Verhältnis gebracht werden, so realisiert sich darin die Ordnung des Kosmos. Mit dem Wohl des Individuums wird in diesem Fall das Wohl der Gattung und der Gesellschaft erreicht, wie umgekehrt dieses Wohl das Wohl des Individuums einschließt.
Der ‚moralische Geschmack‘ Der moralische Sinn ist einerseits dem Menschen von Natur aus eigen. Auf der anderen Seite gehört zu der Natur des Menschen auch, sich von seiner unmittelbaren Natur unterscheiden zu können, so dass er sich auf sie mit der Fähigkeit zur moralischen Beurteilung und Entscheidung beziehen kann. Diese Fähigkeit kann er grundsätzlich nicht von außen beziehen, sondern nur aus dem selbst zu seiner Natur gehörigen moralischen Sinn. Deshalb ist in der ‚Moral-Sense‘-Philosophie nicht die Rede davon, dass alle Urteile und Handlungen des Menschen richtig wären. Sie rechtfertigt sich vielmehr selbst daraus, dass dem nicht so ist, sondern dass auch schlechte und böse Urteile und Handlungen die Wirklichkeit des menschlichen Lebens bestimmen. Sie kann diesem Zustand aber nicht abhelfen, indem sie dem Menschen unter Berufung auf die reine Vernunft sagt, wie er zu urteilen und zu handeln habe, wenn er ein unter moralischen Gesichtspunkten richtiges Leben führen möchte. Sie kann sich nur auf den schon in der Natur des Menschen vorhandenen moralischen Sinn berufen. Ihre Aufgabe ist es demnach, zur Bildung und zur Entwicklung dieses moralischen Sinns beizutragen. Hier ist der Ort, an dem in der Systematik des Denkens der ‚MoralSense‘-Ethik der Gedanke vom ‚moralischen Geschmack‘ als einem ‚moralischen Urteilsvermögen‘ erscheint. Den Begriff des Geschmacks verwenden wir heute fast nur in der ästhetischen Dimension. Darin ist er ein Vermögen zu wissen, ob etwas schön ist oder nicht, jedoch ohne dass wir ein 115
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
solches Wissen letztgültig begründen könnten. Wir erheben einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für unser Urteil, können diesen Anspruch aber nicht durch den Verweis auf in der objektiven Welt selbst anzutreffende Eigenschaften begründen. Andererseits soll ein solches Urteil doch auch nicht bloß subjektiv sein und nur unsere Meinungen beschreiben. Darüber hinaus ist der Geschmack als Beurteilungsvermögen des Schönen nicht einfach vorhanden, sondern er kann und muss gebildet und entwickelt werden, so dass wir besser und treffender urteilen können, ohne dass diese höhere Entwicklung unserer Urteilsfähigkeit jedoch auf ein besseres Wissen über die objektive Welt zurückgehen müsste. Im Prinzip ist es genau diese Struktur des Urteilsvermögens, das wir als ‚Geschmack‘ bezeichnen, die Shaftesbury bereits vor der späteren Beschränkung des Begriffs auf die ästhetische Sphäre veranlasste, von einem ‚moralischen Geschmack‘ (moral taste) zu sprechen. Er verwendet diesen Begriff im Grunde nur als eine andere Perspektive auf den moralischen Sinn, ohne damit etwas anderes zum Ausdruck bringen zu wollen. Er will damit also keineswegs sagen, unsere moralischen Urteile beruhten auf unserer subjektiven Beliebigkeit, so wie die ‚Geschmäcker‘ eben verschieden sind, und stünden deshalb im Belieben des Individuums. Sie erheben vielmehr einen allgemeinen Anspruch, ohne ihn durch den Verweis auf die objektive Welt, auf die reine Vernunft oder die Wünsche eines höchsten Wesens einlösen zu können. Sie stammen aus unserer eigenen Natur, insofern zu ihr der moralische Sinn gehört. Deshalb beziehen sie sich aber gerade nicht auf das einzelne Lebewesen, das moralisch urteilt, sondern dieses Lebewesen bezieht sich in diesem Urteilen auf sich als auf ein Gattungswesen, das in einem natürlichen und sozialen Zusammenhang lebt. Schließlich ist das moralische Urteilsvermögen eine Fähigkeit, die zwar im moralischen Sinn angelegt ist, die ihren Gehalt aber dennoch nicht einfach daraus ableiten kann. Sie muss vielmehr gebildet und entwickelt werden, um Irrtümer und falsche Vorstellungen aus unserer außer-moralischen Natur abzuhalten. Genau wie der ästhetische Geschmack bedarf also auch der moralische Geschmack der Übung und der Ausbildung. Darin manifestiert sich die Entwicklung der Einsicht und der Vertrautheit mit sich selbst, die dem moralischen Sinn den Status einer Beurteilungsinstanz von Gut und Böse verleihen. Auch das Bewusstsein des Zusammenhangs des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt bedarf also der Entwicklung und der Bildung, wenn der moralische Sinn als Einsicht in das Ganze seine Fähigkeit zum moralischen Urteilen vollständig entfalten soll.
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5.2 Der Sinn für das Gute (Moral-Sense-Ethik)
Der moralische Sinn in der Gesellschaft Bei Shaftesbury ist die Haltung des Wohlwollens (benevolence) das Zentrum des moralischen Gefühls, da darin das Eigeninteresse zugunsten einer Orientierung am Wohle anderer Menschen und schließlich am Gemeinwohl überstiegen wird. Das moralische Gefühl sagt uns also grundsätzlich, dass es am besten sei, wenn alle glücklich sind. Hutcheson versuchte darüber hinaus noch ein Kriterium für das richtige moralische Urteil zu entwickeln, das sich im Prinzip an die utilitaristische Position anlehnt. Danach ist diejenige Handlung die beste, die das größte Glück für die größte Zahl von Menschen zur Folge hat (the greatest happiness for the greatest number). Im Unterschied zum Utilitarismus bestand jedoch auch er darauf, dass eine Beurteilung nur dann ‚moralisch‘ genannt werden kann, wenn sie auf der Grundlage einer ‚moralischen Wahrnehmung‘ aus dem moralischen Sinn stammt. Im anderen Fall würde es sich nur um ein Kalkül ohne moralischen Gehalt handeln. Jeder Mensch erscheint damit als ein Wesen, das der ‚Tugend‘ fähig ist, d. h. in erster Linie fähig ist, anderen Menschen Wohlwollen entgegenzubringen und ihren Interessen im Zusammenhang einer Orientierung am Gemeinwohl Wert zuzuschreiben. Daraus ergibt sich in Bezug auf die Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dass die ‚Moral-Sense‘-Ethik nicht von einem Naturzustand als einem Krieg aller gegen alle ausgehen kann. Diese Position wurde dann bei Hutcheson in Bezug auf die politische Ordnung weiter entwickelt. Das Problem, auf das die politische Ordnung eine Antwort finden soll, ist hier nicht, einer Horde von Wölfen Gesetze zu geben. Die Ordnung kann vielmehr von dem Wohlwollen ausgehen, das alle Menschen aufgrund ihres moralischen Sinnes für andere empfinden und das sie auch anderen Menschen unterstellen, indem sie sie als moralische Wesen auffassen. Das Problem mit dem Guten in der politischen Regelung des Zusammenlebens der Menschen entsteht deshalb nicht aus bösen Anlagen, sondern aus den einerseits ambivalenten und andererseits korrumpierbaren Anlagen des Menschen. Es ist also ein Problem aus der Unvollkommenheit des Menschen, in dem sich das Wohlwollen aus dem moralischen Gefühl mit intellektueller Unzulänglichkeit und mit Selbstliebe verbindet. Die politische Ordnung muss entstehen, weil nur sie die Schwächen der menschlichen Natur und des moralischen Sinnes kompensieren kann; man könnte auch sagen: weil das Wohlwollen stets durch die Selbstliebe bedroht wird. Die politische Ordnung besitzt deshalb eine Korrekturfunktion gegenüber dem irrtumsanfälligen und verderbbaren moralischen Sinn. Nichtsdestoweniger 117
5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
betonte Hutcheson, jede politische Ordnung müsse sich auch daran messen lassen, ob sie durch den moralischen Sinn anerkannt werden könne. Shaftesburys moralphilosophischer Gedankengang führt über die Bedeutung des moralischen Sinns in der Gesellschaft und in der politischen Ordnung in der Fluchtlinie zu einer Konzeption, die er selbst als eine Weiterentwicklung des Prinzips der ‚guten Erziehung‘ bezeichnete. Gemeint ist eine ‚Kultur der Höflichkeit‘. Dieser Begriff soll jedoch nicht eine Kultur beschreiben, die auf ritualisierten Formen des Umgangs unter Menschen beruht. Gemeint ist vielmehr ein Prinzip der Rücksichtnahme aufeinander, das Freiheit und Wohlwollen vereinigt. Der moralische Sinn soll in der Gesellschaft zu einer Kultur führen, die durch relativ unbestimmte Begriffe wie ‚Anstand‘ und ‚Gerechtigkeit‘ zu charakterisieren ist. Man könnte als zentralen Begriff jedoch in der Tat den der ‚Höflichkeit‘ (politeness) wählen. Hier muss man auch berücksichtigen, dass der englische Begriff weit weniger die Assoziation an ‚höfische‘ Umgangsformen hervorruft als der deutsche. In ihm klingt noch das Wort ‚polis‘, das das Leben im griechischen Stadtstaat bezeichnet. In dem so verstandenen Begriff der ‚politeness‘ spiegelt sich das zentrale Konzept des moralischen Sinns unter der Perspektive des moralischen Geschmacks, der ausgebildet und geformt werden muss. Aber es zeigt sich noch ein weiteres Element, das auf die natürliche Gemeinwohlorientierung des moralischen Sinns zurückgeht. ‚Höflichkeit‘ in dem hier gemeinten Sinn ist die Fähigkeit, in seinen Gedanken und Neigungen das Wohl der anderen Menschen zu berücksichtigen, jedoch ohne dass letztbegründbare Prinzipien aus reiner Vernunft uns dazu zwingen. Es gibt auch keine aus der Vernunft ableitbaren Regeln, wie man sich anderen gegenüber zu verhalten hat. Die Regeln bilden sich vielmehr im Umgang selbst heraus, und sie begründen sich nur daraus, dass sie uns ein angenehmes Zusammenleben mit anderen Menschen erlauben. Auf der Grundlage einer solchen Haltung berücksichtigen wir die möglichen Reaktionen anderer Menschen auf unser Verhalten unter den Gesichtspunkten des Gefallens oder Missfallens. Ebenso setzen wir voraus, dass andere Menschen so weit ‚gut erzogen‘ sind, dass sie Rücksicht nehmen werden und uns ebenso ‚höflich‘ entgegenkommen, wie sie es von uns erwarten werden.
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5.3 Der Nutzen des Guten und der Geist des Westens Der Utilitarismus und das individuelle Gute Wir haben oben bereits auf die wichtige Grenze hingewiesen, die einer utilitaristischen Konzeption des Guten gesetzt ist. Sie muss sich weitgehend auf einen Begriff von Nutzen beschränken, der nicht nur für einen einzelnen Menschen gilt, ohne dass dabei andere Menschen beteiligt sein müssten. Von Nutzen soll hier die Rede sein, um zwischen verschiedenen Regulierungen des Zusammenlebens zwischen Menschen unter dem Gesichtspunkt des Guten bzw. Besseren zu entscheiden. Deshalb kann eine Ethik, die sich mit dem guten und gelingenden Leben des Einzelnen befasst, unter den Prämissen dieser Konzeption eigentlich nur rudimentär entwickelt werden. Vom Guten im individuellen Leben kann nur die Rede sein, insofern es unter dem Gesichtspunkt seines Nutzens oder Schadens für andere Menschen betrachtet wird. Wirkt sich ein Verhalten des Individuums nicht auf das Zusammenleben von Menschen aus, so ist es nicht unter der Perspektive von Gut und Böse zu beurteilen. Nichtsdestoweniger zeigt sich in der Beschränkung der utilitaristischen Konzeption auf die Sozialethik und in der Ausblendung der Frage nach dem nur individuell bedeutsamen Guten und Bösen doch ein wichtiges Moment, das den Geist des Westens prägen wird. Es wird schließlich bei ganz anderen Positionen wieder und dieses Mal radikaler erscheinen, obwohl dann eine höhere Abstraktionsebene gewählt wird, die eine unmittelbare Anwendbarkeit auf politische und gesellschaftliche Fragen grundsätzlich ausschließt. Es ist für ein Verständnis der Bedeutung des Utilitarismus im Geist des Westens wichtig zu sehen, warum hier das Gute nicht unter der Perspektive des individuellen Lebens erörtert wird. Die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen, wie er es nur für sich und ohne Auswirkungen auf andere lebt, wird hier ja nicht ausgeblendet, weil nur noch der soziale Zusammenhang in den Blick gerät. Diese Ausblendung findet auch nicht deshalb statt, weil der Utilitarismus das Pendant zu der kapitalistischen Warenwirtschaft darstellt, in die jedes Gut nur noch in der Abstraktion seines Tauschwertes eingehen kann, wie von Seiten einer marxistisch inspirierten Ideologiekritik eingewandt wurde. Das tiefste Motiv der utilitaristischen Ethik ist ein Bewusstsein vom Nicht-Wissen über das, was das Leben eines Individuums zu einem guten Leben macht. Der vernünftigen Bestimmung ist hier eine Grenze gezogen, die zu überschreiten hieße, ohne ausreichende Begründung in den genuinen Selbstbestimmungsbereich des Individuums einzugreifen. Zwar geht der 119
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Utilitarismus davon aus, dass jeder sein eigenes Glück anstrebt, aber wie er dies tun soll, dies gerade will ihm diese philosophische Ethik bewusst nicht sagen. Sie beschränkt sich darauf, sein Glücksstreben als solches in seinem grundsätzlichen Recht anzuerkennen, ohne nachzufragen, wie er dieses Streben im Einzelnen verwirklichen will und soll. Sie will nur eine Grenze für dieses Streben nach Glück angeben, die im prinzipiell gleichberechtigten Glücksstreben des anderen Menschen liegt. Solange die verschiedenen Bestrebungen nicht in Konflikt geraten, will die utilitaristische Ethik nach ihrem letzten Grundsatz keine Empfehlungen und Stellungnahmen zum individuellen Glück abgeben. Sie bezieht sich vielmehr auf die Tatsache, dass das Streben nach Glück nur in einem in der Regel und für die meisten Menschen sehr eng begrenzten Bereich ohne einen Bezug auf knappe Mittel in der empirischen Welt erfolgreich sein kann. Sie schließt allerdings auch nicht aus, dass ein Mensch sein Glück in einer solchen Selbstgenügsamkeit finden kann, in der sein nach seinen eigenen Vorstellungen gutes Leben auf keine Weise das nach ihren anderen Vorstellungen auf andere Weise gute Leben der anderen Menschen beeinflusst. In diesem Fall erklärt der Utilitarismus, dazu ließe sich vom Standpunkt einer auf den Grundsätzen der Allgemeinheit der Vernunft argumentierenden Ethik nichts aussagen. Man könnte also auch sagen: letztlich beruht die utilitaristische Ethik auf der Einsicht in eine notwendige Selbstbegrenzung der Vernunft. Zu einem wichtigen Moment im Geist des Westens wird der utilitaristische Grundgedanke durch die Motivation einer solchen Selbstbegrenzung des Anspruchs der Vernunft auf allgemeine Entscheidungen über das gute Leben. Dieses Motiv ist die Einsicht in die individuelle Undurchsichtigkeit des Lebens, das ein einzelner Mensch privat für sich führt und als gut betrachten will. Was für den einzelnen gut oder böse ist, dies entzieht sich nach diesem fundamentalen Gedanken jeder allgemeinen Rechtfertigung in der allgemeinen Vernunft. Damit ist nicht gesagt, hier beginne der Bereich der Unvernunft. In Bezug auf den Begriff der Vernunft könnte man den Beitrag des Utilitarismus zum Geist des Westens auch dadurch beschreiben, dass nun jenseits der Grenze der Vernunft nicht die Unvernunft beginnt. Dies setzt eine neue Bestimmung dessen voraus, was Vernunft heißen kann. Ihr Anspruch wird nun weit geringer bestimmt, als dies zuvor der herrschende Gedanke war. Auch nach dem Utilitarismus werden philosophischen Positionen wieder weit größere Ansprüche mit der Vernunft verbinden. Aber sie werden einen schweren Stand haben. Der Geist des Westens hat nun nicht nur die Notwendigkeit eines Einsatzes der Vernunft für die Gestaltung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und zu seinem Leben in der Ge120
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meinschaft in sich aufgenommen. Er hat sich auch über die Begrenztheit dieser Notwendigkeit verständigt, jenseits derer die Vernunft ihre eigenen Möglichkeiten überzieht und gerade deshalb zur Unvernunft wird. Nun ist die Unvernunft nicht mehr dort zu suchen, wo die vernünftige Grenze der Vernunft zu ziehen ist, also im Bereich der für allgemeine Begriffe unverfügbaren Entscheidung des Individuums über sein nach seinen eigenen Vorstellungen gutes Leben. Die Unvernunft beginnt nun dort, wo der Versuch unternommen wird, die vernünftigen Grenzen der Vernunft zu überschreiten und den Anspruch zu erheben, jenseits dieser Grenzen für das private Leben des Individuums allgemeine Regeln anzugeben. Solche Regeln können nur noch aus den ebenso ‚unvernünftigen‘ Vorstellungen anderer Individuen über das entstammen, was gerade für sie richtig ist. Solange sie diese Vorstellungen nur zu Regeln für sie selbst ausformen, wird auf der Grundlage der utilitaristischen Ethik nicht von Unvernunft gesprochen werden können. Sobald sie diese Vorstellungen jedoch zu allgemeinen Vorschriften für alle Individuen aufwerten wollen, beginnt die individuelle Vernunft zu einer Unvernunft zu werden, die keine Rechtfertigung mehr in der Vernunft finden kann.
Das konkrete Gute in der Gemeinschaft Für das gute Leben und Handeln hat die Vernunft damit nur noch eine beschränkte Zuständigkeit. Die Kompetenz der Vernunft in den Fragen von Gut und Böse beginnt nun dort, wo durch das Handeln oder Unterlassen des einen Menschen das Leben von anderen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Vernunft kann im Grunde nur noch darüber entscheiden, wie die Handlungen verschiedener Menschen so miteinander in eine Harmonie gebracht werden können, dass darin der Gesamtnutzen maximiert wird. Ihre Allgemeinheit besteht also in der Bestimmung des allgemeinen Nutzens im Zusammenleben von Individuen. Die Individuen werden aber so lange nicht von dieser Allgemeinheit erfasst, als ihre Handlungen keine Auswirkungen auf das Leben der anderen Menschen haben. Die Vernunft erklärt die Individuen nun für frei, solange diese Freiheit nur das Individuum angeht und mit dieser Freiheit keine für andere Menschen relevanten Veränderungen in den materiellen Bedingungen des Glücks in der empirischen Welt verbunden sind. Damit hat der Geist des Westens aus sich selbst heraus und radikal den Geist der Inquisition überwunden. Es wäre ein Missverständnis, würden wir 121
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diese Beschränkung der Ethik auf das Zusammenleben der Menschen und ihren Rückzug aus dem privaten Leben von Individuen einer bestimmten quasi-politischen Strömung zuschreiben, die als ‚Aufklärung‘ zu bezeichnen wir uns angewöhnt haben. Deren Stoßrichtung war jenseits der Politik stets das Christentum in seiner gerade geschichtlich institutionalisierten Form. Was sich im Utilitarismus durchsetzt, kommt dagegen von viel weiter her. Wir könnten sogar sagen, es stammt aus den Anfängen des Geistes des Westens selbst. Auf der Oberfläche wendet sich dieses neue Denken gegen die Ansprüche der Religion, das private Leben der Menschen regeln zu dürfen, ohne das individuelle Recht auf die Bestimmung des guten Lebens achten zu müssen. In seiner Tiefenstruktur kommt es dagegen genau aus der ambivalenten, konfligierenden und fruchtbaren Entwicklung von Christentum und Philosophie, die für den Geist des Westens charakteristisch ist. Wir hatten eingangs die Große Erzählung des Christentums angeführt, um die fundamentale Position des einzelnen Menschen zu bezeichnen, die für diesen Geist bestimmend wurde. Der Gedanke, dass sich der Gott den Menschen gleich gemacht hatte, trug in sich bereits den Keim für die kritische Überwindung der tyrannischen Bestimmung des richtigen Lebens der Menschen durch eine institutionalisierte Religion. Damit ist nicht gesagt, dass die utilitaristische Ethik ein Ergebnis der Besinnung auf die religiösen Wurzeln des kirchlichen Glaubens war. Sie war es jedenfalls nicht nur. Aber ihre fundamentale Motivation entsprang aus der Verbindung von ursprünglichem Christentum und philosophischer Vernunftkritik. Aus dieser Verbindung ergab sich in der Frage nach dem Guten die Begrenzung der Vernunft durch das individuelle Recht des einzelnen Menschen aufgrund der eigenen Logik, die im Geist des Westens bereits angelegt war. Man könnte pointiert auch sagen: es handelt sich um eine Begrenzung, die dieser Geist aus sich selbst heraus entwickelt hat. Darüber soll jedoch nicht vergessen werden, was die positive Bestimmung der Vernunft im Bereich der Frage nach dem Guten und Bösen für die Entwicklung des Geistes des Westens bedeutete. Die Vernunft, so weit sie für die Bestimmung des Guten zuständig ist, wird nun in erster Linie für das Zusammenleben der Menschen im Staat aufgewertet. Die bestimmte Form von Vernunft, die der Utilitarismus für die Regeln und die Institutionen des Lebens im Staat empfiehlt, ist nach vielen Hinsichten kritikwürdig. Die kritische Funktion der Vernunft ist eines der wichtigsten Momente im Geist des Westens. Darüber hinaus aber wird die Richtung entscheidend, die die Vernunft in Bezug auf die Institutionen nehmen wird, die nun noch der Dimension von Gut und Böse zugehörig betrachtet werden können. Die Vernunft muss das, was noch Gut und Böse heißen kann, aus der Beziehung auf das 122
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Glück des einzelnen Menschen ausweisen. Es steht keine andere Legitimationsgrundlage mehr zur Verfügung. Auch in der antiken Ethik waren das Glück und das gute Leben die letzte Rechtfertigung des Staates. Aber es hat sich nun eine fundamentale Wandlung im Geist des Westens vollzogen. Es geht nicht mehr um ein überindividuelles Glück, das dem einzelnen Menschen zugemessen werden könnte. Es geht um das tatsächliche Glücksstreben des konkreten Menschen, das seine Grenzen nun nur noch am Glück der anderen ebenso konkreten Menschen finden kann. Genau an dieser Grenzlinie gewinnt der Staat seine Rechtfertigung. Die Ethik wird nun eine starke Tendenz auf eine Sozialethik nehmen, die nach gerechten Institutionen sucht, die das Glück des einen mit dem des anderen vereinigen können. Offenbar konnte sich eine solche Wandlung im Geist des Westens aber nicht vollziehen, ohne dass die Vernunft selbst sich aus sich heraus verwandelt hatte. In der gleichen Bewegung hatte sie auch die Grenzen der Vernunft im Individuum und seinem Glücksstreben aus der Vernunft selbst heraus weiter entwickeln müssen. Der Geist des Westens ist dadurch ausgezeichnet, dass er selbst stets sein schärfster Kritiker war. Dies wird sich in der folgenden Entwicklung sehr deutlich zeigen. Insbesondere bei Kant wird die Grenzziehung der Vernunft eine andere Gestalt annehmen. Sie wird allerdings die grundlegende Einsicht des Utilitarismus von den Grenzen der Vernunft im Glück des anderen Menschen bewahren. Auch hier gibt es jedoch keine neutrale Abfolge von autonomen Gedankenzusammenhängen, sondern eine Abhängigkeit der Kritik vom Kritisierten, wie sie in dem Zusammenhang zum Ausdruck kommt, den wir mit Hegel als das Prinzip der bestimmten Negation bezeichnen können. Die neue Position ist nie vollkommen selbständig, sondern ihre bestimmte Gestalt nimmt sie aus der Entgegensetzung gegen die kritisierte Position. Insofern bleibt sie stets auch von der überwundenen Position abhängig, die auf diese Weise in ihr aufbewahrt ist. Auch deshalb hat der Geist des Westens eine Gestalt und einen inneren Zusammenhang, der ihn zwar nicht scharf bestimmbar macht, der es aber doch erlaubt, Umrisse zu zeichnen, die eine Gestalt zumindest schemenhaft erkennen lassen.
Das Individuelle und das Allgemeine Wir haben vor Kant allerdings noch eine andere Konzeption der Ethik mit ihren Einflüssen auf den Geist des Westens dargestellt, die es an Bekanntheit nicht mit dem Utilitarismus und mit der Kantischen Moralphilosophie aufnehmen kann. Nichtsdestoweniger finden sich gerade in ihr einige wichtige 123
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Elemente, die ebenso in den Geist des Westens gehören wie die Beschränkung der ethischen Vernunft im Utilitarismus und bei Kant. In dieser Konzeption war die Kritik am späteren Utilitarismus bereits ein wichtiger motivierender Gedanke, und diese Kritik wurde im Zeichen einer ganz anders gearteten Begrenzung der Vernunft durchgeführt Auch diese Begrenzung führte im Grunde ebenfalls zu einer Beschränkung auf das Zusammenleben der Menschen, was aber mit einer Konzeption von Vernunft verbunden wurde, die den einzelnen Menschen auf ganz andere Weise mit der Allgemeinheit der vernünftigen Bestimmung des Zusammenlebens versöhnen wollte. Darin sind Gedanken zu finden, die einen Rückschritt hinter den erreichten Stand des Geistes des Westens andeuten könnten. Aber es lassen sich auch Perspektiven finden, aus denen weitere Momente in der sich selbst entwickelnden Gestalt des Geistes des Westens deutlich werden können. Die Gedanken des Earl of Shaftesbury und seiner Geistesverwandten können auf zwei völlig verschiedene Weisen aufgefasst werden. Zum einen enthalten sie Überlegungen, die einer zu der damaligen Zeit eigentlich schon überwundenen Welt zu entstammen scheinen, in der eine kosmische Ordnung für die Begründung der richtigen Auffassung des Guten herangezogen werden konnte. Der Mensch kann in den Kosmos aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen einen Einblick gewinnen, der es ihm erlaubt, zu richtigen Urteilen über das Gute zu kommen. Die Natur selbst kann uns sagen, was wir tun und lassen sollen, und es wird kein Problem darin gesehen, dass das, was ist, uns nicht darüber informieren kann, was sein soll. Der Mensch muss nur seiner natürlichen Neigung zum Guten folgen, um ein Wissen über das richtige Handeln gewinnen zu können. Zum anderen aber finden sich in der Moral-Sense-Ethik wichtige Einsichten, die als Kritik sowohl an früheren als auch an späteren ethischen Entwürfen aufgefasst werden können. Diese Überlegungen weisen auf ein weiteres wichtiges Moment im Geist des Westens. Was Shaftesbury zur Geltung bringt, ist als Korrektur und Kritik sowohl an der am guten Leben des Individuums orientierten philosophischen Ethik als auch an den das Gute im philosophischen Zusammenhang auf das Leben des Menschen in der Gemeinschaft reduzierenden Entwürfen zu verstehen. Genau diese Kritik gehört in die Struktur des Geistes, den wir als westlich bezeichnen können. Ohne Shaftesbury und die Moral-Sense-Ethik würde eine wichtige Facette des Bildes fehlen, das den Geist des Westens darstellt. Der Beitrag zu diesem Bild ergibt sich vor allem aus der Sicht des Menschen in seinem sozialen Zusammenhang, die hier der Auffassung vom Guten und Bösen zugrunde liegt. Mit der Konzeption des moralischen Sinnes distanziert sich diese Ethik zum einen von einer Konzentration auf das Gute, 124
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das sich nur im gelingenden und glücklichen Leben des einzelnen Menschen realisiert. Das Glück im guten Leben ist für diese Gedankengänge durchaus nicht unwichtig. Aber die Moral-Sense-Schule macht darauf aufmerksam, dass bei einer Konzentration auf das individuelle Leben eine Abstraktion von der ganzen Wirklichkeit des Menschen geschieht. Die Begriffe des Guten und des guten Lebens, die von dieser Abstraktion ausgehend entwickelt werden können, müssen deshalb selbst abstrakt bleiben und können für die Begründung einer philosophischen Ethik keineswegs ausreichen. Das Gute im individuellen Leben kann deshalb nur philosophisch bestimmt werden, wenn der Gedanke hinzugenommen wird, dass das Leben nie nur individuell ist. Die hedonistische oder stoische Sorge für sich selbst erscheint von da her als ein Missverständnis der Frage nach dem guten und gelingenden Leben, wenn diese Konzeptionen auf ihrer zu engen Auffassung vom Leben des Menschen beharren. Dagegen setzt die Moral-Sense-Ethik den Gedanken, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse immer daraus entsteht, dass wir in einer Umwelt leben, in der wir unser Glück in Beziehungen mit anderen Menschen und darüber hinaus mit der nichtmenschlichen Welt suchen. Weil unser Glück nur in dieser Welt von Beziehungen zu finden ist, deshalb kann auch das Gute nicht in der Konzentration auf sich selbst liegen. Die Frage der Ethik muss sich deshalb darauf richten, unter welchen Bedingungen das Leben in der Gemeinschaft als gut bezeichnet werden kann, so dass der Mensch darin als Individuum ein glückliches Leben führen kann. Zum anderen aber kann diese Diagnose nicht zu einer Reduzierung der Frage nach dem Guten und Bösen auf die richtige Gestaltung der staatlichen Institutionen und Regulierungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens führen. Hier grenzt sich die Moral-Sense-Ethik scharf vom Utilitarismus ab. Auch diese Unterscheidung hat sehr viel mit dem Bild vom Menschen als einem von Natur aus in Gemeinschaft sein Glück suchendes Wesen zu tun. Anders als in der utilitaristischen Ethik lassen sich die Bestrebungen dieses Menschen nicht auf die Maximierung seines privaten Nutzens reduzieren. Der Utilitarismus befand sich ja insoweit in Übereinstimmung mit den hedonistischen und stoischen Konzeptionen vom Guten, als das private Glück des einzelnen Menschen den letzten Bezugspunkt der Lehre vom richtigen Tun und Lassen darstellen sollte. Man könnte den Unterschied – stark pointiert – so auffassen. Die beiden letzteren Konzeptionen glaubten philosophisch auf eine allgemeine Weise angeben zu können, wie der Mensch am besten sein privates Glück finden kann. Der Utilitarismus dagegen sah, dass genau dies der Individualität des Menschen widerspricht, weshalb er sich auf die Angabe eines Prinzips beschränkte, mit dem die ‚Menge‘ an 125
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Glück durch die Regulierung des gesellschaftlichen Lebens maximiert werden kann. Die Moral-Sense-Philosophen glaubten hingegen nicht, dass der Mensch sein Glück auf eine bloß private Weise finden kann, obwohl sie die Bedeutung der individuellen Glückssuche durchaus nicht herabsetzen wollten. Sie konnten sich jedoch auch nicht damit abfinden, dass die Frage nach dem Guten auf die gesellschaftliche Kalkulation eines zu maximierenden Gesamtnutzens reduziert werden soll. Der Haupteinwand war hier, dass der Mensch kein privater Nutzenmaximierer ist, sondern sein Glück nur in einem solchen Zusammenleben in Gemeinschaft mit anderen Menschen findet, in dem er zum Wohl der gemeinsamen Sache freiwillig bereit ist, auf einen Teil seines privaten Glückes zu verzichten. Was er durch diesen Verzicht verliert, gewinnt er nach dieser Auffassung an Harmonie im gesellschaftlichen Umgang mit anderen Menschen. Die Rücksichtnahme auf die Wünsche anderer Menschen und der Verzicht auf das Durchsetzen der eigenen Wünsche sind deshalb letztlich dem Glück des Einzelnen förderlich, weil sie das Glück des Ganzen vermehren, obwohl darin keine Errechnung des Nutzens stattfindet. Auch der Utilitarismus konnte im Prinzip das Wohlwollen gegen andere und den Verzicht auf die eigenen Interessen zugunsten des allgemeinen Wohles in sein Kalkül der Nutzenmaximierung aufnehmen. Allerdings gelang ihm dies nur so, dass er solche Wünsche in Nutzenbegriffe umformulierte und den Zuwachs an Gesamtnutzen in einer Gesellschaft betrachtete, der durch die Berücksichtigung altruistischer Bestrebungen in der Konstruktion der Regeln und Institutionen erzeugt werden kann. Genau diese Reduktion des gesellschaftlichen Lebens auf eine nutzenmaximierende Bestimmung von staatlichen Regeln und Institutionen war den Moral-SenseEthikern jedoch zutiefst befremdlich. Das Vertrauen auf die Erzeugung des Guten in einer nutzenmaximierenden staatlichen Organisation der menschlichen Beziehungen erschien ihnen als eine Abstraktion von den tatsächlichen Motiven und Wünschen, die den Menschen zum Leben in Gesellschaft bewegen. Man könnte diese Entgegensetzung gegen den Utilitarismus etwas pointiert als ein Unterstreichen der Bedeutung der Zivilgesellschaft gegen das Vertrauen in den Staat als Garant des Guten zum Ausdruck bringen. Die Philosophie der Moral-Sense-Schule war prinzipiell nicht bereit, den Staat als die Institution anzusehen, die allein geeignet erscheint, das Maximum des Nutzens und damit das Gute im Leben der Menschen zu fördern. Er kann dies schon deshalb nicht, weil er sich dazu am abstrakten Menschen ausrichten muss, dessen konkrete und individuelle Wünsche nicht in den 126
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Bereich staatlicher Regelungen eingehen können. Diese Regelungen müssen sich vielmehr an einem Begriff des Nutzens orientieren, der vergleichbare Nutzen in den Kalkül einbezieht. Diese Reduzierung der in Wahrheit individuellen Nutzen auf einen gemeinsamen Nenner war das Prinzip und gleichzeitig das entscheidende Problem in der utilitaristischen Konzeption. Die Fluchtlinie des Denkens der Moral-Sense-Ethik besteht dagegen darin, die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Menschen vor einer solchen Reduzierung zu bewahren. Man sollte jedoch nicht vergessen, was die Motivation des Utilitarismus für eine solche Reduzierung der in den Bereich der Entscheidung über Gut und Böse eingehenden Wünsche des Menschen auf den zwischen verschiedenen Menschen auf einen Nenner zu bringenden Nutzen war. Es handelte sich im Grunde um eine spezielle Bescheidenheit, die es dem Denken verbot, allgemeine Entscheidungen über das private Leben und Glück zu treffen. Wenn die Moral-Sense-Ethik diese Beschränkung um der Freiheit des Individuums willen rückgängig machen will, so muss sie die Freiheit des einzelnen Menschen auf eine andere Weise in den Bereich der staatlichen Regelungen einbringen können. Daran orientierte sich die Konzeption eines Staates, in dem die ‚politeness‘ herrschen sollte, also die ‚Höflichkeit‘ im Sinne eines individuellen und gleichzeitig von Rücksicht und Wohlwollen geleiteten Umgangs untereinander nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in der Sphäre der staatlich geregelten gesellschaftlichen Beziehungen. Man könnte sagen, dass in der Moral-Sense-Ethik eine Seite im Geist des Westens deutlich wird, nach der die Grenzen des Staates und des Individuums bei der Festlegung dessen, was gut und was böse heißen soll, zur Geltung gebracht werden. Es gibt danach keine einfache Lösung für das Problem, welches das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in Bezug auf die Bestimmung des Guten stellt. Wir könnten darüber hinaus sagen, dass sich auch hier zeigt, wie sehr die Einsicht in die Unzulänglichkeit einfacher Lösungen den Geist des Westens prägt. Shaftesburys philosophische Schriften sind zwar sehr einfach zu lesen, aber aus dem Zusammenhang mit konkurrierenden ethischen Entwürfen lässt sich verstehen, wie sehr die Motivation hier darin liegt, solche einfachen Bestimmungen von Gut und Böse zu vermeiden, die der komplizierten Struktur des Menschen und seines individuellen und gemeinschaftlichen Lebens nicht entsprechen können.
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5. Das kalkulierte und das natürliche Gute
Die Grenze der vernünftigen Bestimmung des Guten Darüber hinaus gibt es noch einen zentralen Gedanken in der Moral-SenseEthik, der ein wesentliches Moment des Geistes des Westens repräsentiert, soweit dieser sich auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bezieht. Der Begriff des moralischen ‚Sinnes‘ macht schon als solcher auf die Grenzen einer rationalen Bestimmung des Guten aufmerksam. Dagegen stellt er die ‚Natürlichkeit‘ der Entscheidungen über das, was gut und was böse heißen soll. Es gibt eine Seite bei Shaftesbury, nach der sich dies darauf bezieht, dass die ethischen Urteile durch die Natur im Sinne eines Wesens des Menschen im Zusammenhang seiner Stellung im Kosmos bestimmt sein müssen. Es gibt aber auch eine andere Seite dieses Begriffes der ‚Natürlichkeit‘, und diese Seite ist zu einem wichtigen Moment im Geist des Westens geworden. Damit sind wir im Grunde wieder bei der speziellen Konzeption von Vernunft auf dem Gebiet der Entscheidungen über Gut und Böse, die für den Westen charakteristisch geworden ist. Sie verbindet das prinzipielle Vertrauen auf die Vernunft als der Instanz, die uns über das gute und gelingende Leben aufklären und zu seiner Realisierung beitragen kann, mit einem ebenso prinzipiellen Zweifel an der absoluten Geltung der vernünftigen Bestimmungen. Der Geist des Westens ist Vernunft und Zweifel an der Vernunft. Er ist nicht nur gelegentlich das eine und bisweilen das andere, sondern er ist letztlich stets die Einheit von Vernunft und Zweifel an der Vernunft. Allerdings wurde diese Einheit in manchen Zeiten überdeckt, wenn das eine Element zu stark im Vordergrund stand. Bei genauerer Betrachtung lässt sich aber auch in solchen Fällen stets das andere Element finden. Auch dieses wechselnde Verhältnis der beiden Elemente gehört in die Entwicklungsstruktur, die für den Geist des Westens bestimmend war. Die von Shaftesbury herausgestellte ‚Natürlichkeit‘ der Entscheidungen über Gut und Böse, wie sie im Begriff des moralischen ‚Sinnes‘ deutlich wird, kann auf die Seite der vernünftigen Vernunftkritik gestellt werden. Dazu muss nur der Begriff der Natürlichkeit entsprechend modifiziert werden, was in der Motivation der Moral-Sense-Ethik deutlich angelegt ist. Dann ist mit diesem Begriff gemeint, dass wir über Gut und Böse fast nie auf der Grundlage einer rationalen Abwägung urteilen. In den meisten Fällen wissen wir ‚intuitiv‘, was zu tun und zu lassen richtig in einem moralischen Sinne ist. Dieses Moment ist im Geist des Westens stets präsent geblieben. Allerdings ist hier auch sofort auf den Zusammenhang hinzuweisen, in dem dieses Moment seine nähere Bestimmung erhält. Es dementiert keineswegs die gerade in diesem Geist geforderte Vernünftigkeit der moralischen Urteile und aller Entscheidungen über Gut und Böse. Es ist die ver128
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nünftige Korrektur der Vernunft, nicht die Preisgabe des Anspruchs der Vernunft. Der Begriff des moralischen ‚Sinnes‘ macht darauf aufmerksam, dass unsere Entscheidungen über das, was wir in einem moralischen Sinn tun oder lassen sollen, nicht nur eine rationale Seite haben. Damit enthält er eine Kritik an allen ethischen Konzeptionen, die mit rein vernünftigen Mitteln bestimmen wollen, was gut und was böse heißen soll. Man könnte auch sagen: er enthält eine moralphilosophische Kritik an aller Moralphilosophie. Auf diese Weise realisiert sich in ihm wieder aufs Neue die spezifische Struktur des Geistes des Westens, der das spezifisch Menschliche immer in einem vernünftigen Selbstverhältnis sah. In diesem Selbstverhältnis kann der Mensch Stellung nehmen zu sich und zu seiner menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt, und dies so, dass dieses Stellungnehmen in einem unabschließbaren Sinn vernünftig und zugleich kritisch ist. Es ist nur deshalb vernünftig, weil es zugleich ein vernünftiges Stellungnehmen zur Vernunft enthält. Dieses Stellungnehmen hebt deshalb die Vernunft nicht auf. Aber sie macht die Vernunft selbst zu einem Selbstverhältnis, nicht zu einer unkritischen absoluten Instanz mit Entscheidungsgewalt über alles, was gut und böse heißen soll. Mit dem Begriff des moralischen ‚Sinnes‘ konnte die in der Philosophiegeschichte weitaus wirkungsmächtiger gewordene ethische Konzeption von Kant wenig anfangen. Unmittelbar nach Kant aber wird bei Hegel wiederum eine Begrenzung der Vernunft in der Ethik gefunden werden, die die vernünftige Bestimmung von Gut und Böse unter ganz anderen Vorzeichen kritisieren wird, als dies bei Shaftesbury der Fall war. Auch diese Position wird jedoch darauf hinweisen, dass es nicht ausreicht, mit Hilfe rein vernünftiger Überlegungen das zu ermitteln, was wir als gut und als böse bezeichnen sollen. Wir können schon jetzt darauf hinweisen, dass auch bei Kant im Grunde nicht die Behauptung im Vordergrund steht, wir könnten auf rein vernünftiger Grundlage wissen, was wir tun und lassen sollen. Auch in der Moralphilosophie stellt Kant die Frage nach den Grenzen der Vernunft. Es wird sich zeigen, dass die Antwort weit restriktiver ist, als dies von Vertretern einer rationalistischen Ethik für wünschbar gehalten wird.
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6. Das Gute im Menschen und in der Welt 6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant) Der neue Ausgangspunkt in der Ethik Bei Kant wird nicht nur das Gute neu gedacht, sondern das Nachdenken über das Gute verwandelt sich selbst. Nicht nur die Ergebnisse seiner Ethik, sondern mindestens ebenso sehr ihre neue Fragestellung bestimmten in der Folgezeit die philosophische Erörterung dessen, was wir gut nennen. Schon diese Formulierung schließt im Grunde an Kants Denken an. Es geht nicht mehr um das, was gut ist, d. h. was wir nach seinem eigenen Sein gut nennen müssen. Die Frage steht jetzt nach dem, was wir mit guten Gründen gut nennen können. Unter dieser Perspektive lässt sich durchaus ein Zusammenhang mit der utilitaristischen Position erkennen, und Kants Ethik unterscheidet sich fundamental von der kosmologischen Grundlegung der Moral-Sense-Ethik. Aber wir sollten Kants Denken nicht zu sehr mit anderen Positionen vergleichen. Die Ethik steht nun im Zusammenhang einer Philosophie, die grundsätzlich auf die Möglichkeit unseres Wissens reflektiert und dabei zu Ergebnissen kommt, welche nach Kants eigener Einschätzung eine ‚Revolution der Denkungsart‘ erfordern. Die Kantische Ethik wird deshalb mit dem Ansatz bei einem ‚guten Willen‘ und mit der Durchführung des ethischen Argumentierens mit Hilfe des Prinzips der Verallgemeinerungsfähigkeit von Maximen nicht ausreichend verstanden. Dies hängt mit den Grundlinien von Kants Philosophie zusammen, die zu einer grundsätzlichen Wende in der Auffassung unseres Wissens von der Welt und vom richtigen Handeln führt. Vor Kant galt es seit Platons Grundlegung der Philosophie als selbstverständlich, dass wir von einem Wissen nur dann sprechen können, wenn sich dieses Wissen nach der Welt und den Geschehnissen in ihr richtet. Unsere Erkenntnis richtet sich nach den Dingen, und nur wenn sie sich so ausrichtet, dann kann sie ‚richtig‘ sein. Kant dagegen führt einen vollständig neuen und entgegengesetzten Gedanken in die Philosophie ein. Danach können wir nur dann eine sichere Erkenntnis von den Dingen in der Welt haben, wenn wir annehmen, dass diese Dinge sich nach unserer Erkenntnisfähigkeit richten. Unsere sichere Er130
6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant)
kenntnis reicht genau so weit, wie die Objekte den Bedingungen unseres Erkenntnisapparates entsprechen. Damit wird gleichzeitig behauptet, dass wir keine Erkenntnis über das ‚Sein‘ selbst oder über Dinge an sich haben können. Wir wissen nur so von der Welt, wie sie uns ‚erscheint‘, d. h. wie sie uns über die Sinneswahrnehmungen gegeben ist. Auf deren Grundlage entwerfen wir Hypothesen, die wir dann wiederum mit Hilfe von Sinneswahrnehmungen überprüfen und eventuell korrigieren können. Darüber hinaus können wir nichts wissen. Das bedeutet, dass jede Metaphysik, die uns über das Sein selbst zu unterrichten beansprucht, nur eine scheinbare Erkenntnis ohne ausreichende Begründung darstellen kann. Daran können wir zwar glauben, aber wir dürfen diesen Glauben nicht als Wissen ausgeben. Auf der Grundlage der Kantischen Gedanken über unsere Erkenntnisfähigkeit ist es also nicht möglich, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse aus dem Sein oder der objektiven Welt abzuleiten. Kant muss deshalb in seiner Ethik einen ganz anderen Gedanken einführen, um zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Die Frage steht zunächst nach dem, was wir als gut oder als böse bezeichnen können: über welches Phänomen in der Welt können wir überhaupt ein ethisches Urteil fällen? Kant behauptet nun, dass nur und ausschließlich ein reiner Wille ohne Einschränkung für gut gehalten werden kann. In einem ohne Einschränkungen geltenden Sinn soll demnach vor allem nicht die durch den Willen bewirkte Handlung, sondern nur der Wille selbst und bloß als solcher ‚gut‘ heißen können. Kants Überlegung bezieht sich hier auf die Bedeutung des Prädikats ‚gut‘ und er sucht nach einer Möglichkeit, die Ethik mit dem Gedanken zu begründen, dass dieses Prädikat nur von einem einzigen Phänomen behauptet werden kann, ohne dass Widersprüche auftreten können. Nur im Falle des reinen Willens scheint ihm eine solche Zuschreibung zu gelingen. Deshalb führt Kant seine Moralphilosophie zunächst als Explikation des Wesens eines guten Willens durch und versucht zu erklären, was es heißt, ‚guten Willens‘ zu sein. Er führt hier zur Abgrenzung die ‚Eigenschaften des Temperaments‘ und die ‚Talente des Geistes‘ an. Diese können auch dann, wenn sie ihren Begriff ganz erfüllen und in diesem Sinne ‚gut‘ heißen könnten, unter Berücksichtigung ihrer möglichen Folgen ihre Güte verlieren und in einem moralischen Sinne ‚böse‘ werden. Hohe Intelligenz kann eingesetzt werden, um Verbrechen zu begehen, und die Empfänglichkeit für ästhetische Qualitäten kann zur Gleichgültigkeit für das Schicksal anderer Menschen führen. Einzig im reinen Willen findet Kant keinen Ansatzpunkt für eine solche Ambivalenz. Wenn der Wille ganz Wille ist und seinen Begriff so 131
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
erfüllt, dass er ‚gut‘ heißen kann, so können alle aus ihm resultierenden Veränderungen in der Welt daran nichts ändern. Bloß als Willen können sie ihm nicht zugerechnet werden. Von einem Willen können wir allerdings nur sprechen, wenn wir prinzipiell bereit sind, uns für die Verwirklichung seines Gehalts in der Welt einzusetzen, auch wenn unsere psychischen oder materiellen Mittel vielleicht derzeit nicht ausreichen mögen.
Die ethische Bestimmung des Willens Kant stellt nun die Frage, ob ein allgemeines Kriterium gefunden werden kann, das uns sagt, wie ein reiner Wille bestimmt sein muss, um ihn als gut oder als böse bezeichnen zu können. Diese Unterscheidung kann nicht davon abhängig sein, dass mit ihm bestimmte Wirkungen in der Welt erreicht werden. Wie können wir also feststellen, ob ein reiner Wille gut oder böse ist, wenn wir dabei nicht auf die Wirkungen dieses Willens in der Welt achten dürfen? Kants Antwort lautet, dass wir für eine ethische Beurteilung den Willen in seiner Beschränkung auf sich selbst bloß als Willen und in Absehung von seinem Gehalt betrachten müssen. Ob das, was gewollt wird, gut oder böse ist, kann nicht dadurch herausgefunden werden, dass wir uns ethische Urteile über den Gehalt des Willens vorgeben lassen. Wir sind ja erst auf der Suche nach dem Kriterium für das, was ‚gut‘ heißen kann. Aus einem empirischen Wissen können wir ein solches Kriterium nicht beziehen, und über das ‚Sein‘ oder die Dinge an sich können wir nach den Ergebnissen der Kantischen theoretischen Philosophie nichts wissen. Kant versucht also, ein Kriterium auszuarbeiten, das es erlaubt, im Willen selbst eine ethische Bestimmung von anderen Bestimmungen abzugrenzen, die auf natürliche oder psychische Einflüsse oder auf im sozialen Leben und im Verlaufe der Geschichte entstandene Faktoren zurückgehen. Ein Wille, der nichts will, könnte jedoch nicht sinnvoll als solcher bezeichnet werden. Kant löst dieses Problem so: der Wille kann nur als ‚gut‘ oder ‚böse‘ bezeichnet werden, wenn er sich ohne außer ihm selbst liegende Determinanten selbst bestimmen kann. Von einer ‚Selbstbestimmung‘ des Willens kann nur dann die Rede sein, wenn sich darin nicht die empirische Situation des betreffenden Menschen realisiert. Deshalb kann eine solche ‚Selbstbestimmung‘ des Willens nur dann vorliegen, wenn für die Bestimmung des Willens nur die reine Form der Gesetzlichkeit in Anspruch genommen wird. Die Bestimmung des Willens ist damit nicht mehr von der empirischen Welt abhängig, deren Teil der Mensch mit seinem Wünschen und Möchten ist. Allerdings muss auch ein reiner Wille zunächst schon 132
6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant)
einen gewissen Mindestgehalt aufweisen, um überhaupt prüfen zu können, ob es sich um einen guten oder um einen bösen Willen handelt. Kant spricht hier von Handlungsmaximen. ‚Gut‘ oder ‚böse‘ wird der Wille aber nicht durch den Gehalt dieser Maximen. Dazu müssen die Maximen erst darauf hin geprüft werden, ob sie der Form der Gesetzlichkeit entsprechen oder ihr vielleicht widersprechen. Wir können nun bereits die Grundlinie des Gedankens erkennen, der Kant dazu führte, als Grundgesetz der Moralität den kategorischen Imperativ zu entwickeln, der lautet: „Ich soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könnte, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“. Kant fasst diesen Imperativ deshalb als ‚sittliches Grundgesetz‘ auf, weil er darin eine Möglichkeit sieht, den reinen Willen so zu bestimmen, dass er im vollen und eigentlichen Sinne als gut bezeichnet werden kann. Dieser Imperativ gibt eine Möglichkeit an, wie ein reiner Wille ganz aus sich selbst heraus bestimmt werden kann. Er wird in diesem Fall nicht dadurch bestimmt, dass die wollende Person in ihm ihre Absichten und Bestrebungen in der Welt zum Ausdruck bringt oder ihn durch Zwecke bestimmt, die nach den herrschenden Vorstellungen einer Zeit für gut gehalten werden. Nichtsdestoweniger erhält der reine Wille auf diese Weise eine Bestimmtheit, die es erlaubt, ihn als ‚gut‘ oder ‚böse‘ im ethischen Sinne zu bezeichnen. Die Bestimmung eines reinen Willens muss also ‚gesetzesförmig‘ sein und darf auf keine dem Willen äußeren Bestimmungsgründe zurückgehen. Dann wird der reine Wille nicht durch das bestimmt, was gewollt wird, sondern dadurch, wie gewollt wird. Anders ausgedrückt: in einem reinen Willen wird das ‚was‘ durch das ‚wie‘ des Wollens bestimmt. Zwar hat jeder Wille einen Gehalt, der etwa in einer Maxime für das Handeln ausgedrückt werden kann, aber dass er ‚gut‘ oder ‚böse‘ genannt wird, dies darf gerade nicht auf diesen Gehalt zurückgehen. Die entscheidende Innovation in Kants Ethik ist also der Gedanke, dass ein solcher reiner Wille, von dem allein gesagt werden kann, er sei in einem uneingeschränkten Sinne ‚gut‘, seinen ethischen Gehalt nur aus der Form seiner Bestimmtheit gewinnen kann. Ein solcher Wille, der seine Bestimmtheit ohne äußerliche Determinanten nur aus sich selbst bezieht, muss ausschließlich durch die Form der Gesetzlichkeit bestimmt sein. Der kategorische Imperativ ist bei Kant in erster Linie deshalb das Grundgesetz der Moral, weil er die einzige Möglichkeit zur Bestimmung eines Willens angibt, der radikal ‚durch sich selbst‘ bestimmt ist.
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6. Das Gute im Menschen und in der Welt
Der gute Wille und der Zweck an sich selbst Kant geht in seinem Denken über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse jedoch noch ein Stück weiter. Er führt zunächst den Begriff des Zwecks ein, der in der speziellen Form des ‚Selbstzwecks‘ ebenso wie die reine Form der Gesetzlichkeit geeignet sein soll, eine Selbstbestimmung des Willens zu erreichen. Ein solcher Zweck darf jedoch nicht einfach das empirisch feststellbare Ziel darstellen, das ein Mensch in seinem Willen verfolgt. Ein solches Ziel kann aus seinem Inneren stammen (etwa wenn wir im Handeln unseren Emotionen folgen) oder es kann in der Welt anzutreffen sein (wenn wir handeln, um etwas in der Welt zu erreichen). In beiden Fällen wäre durch einen solchen Zweck keine Bestimmung des reinen Willens möglich. Es muss sich also um einen sehr speziellen Zweck handeln, wenn Kant behauptet, wir könnten den reinen Willen so bestimmen, dass er gut genannt werden muss, wenn wir unseren Willen an einem solchen Zweck ausrichten. Vor allem darf es sich nicht um einen Zweck handeln, durch den der Wille nur in hypothetischer Weise in der Form von Wenn-dann-Anweisungen bestimmt würde. Kant behauptet, einen solchen Zweck zu kennen, der in der Lage ist, den Willen ebenso nur aus sich selbst heraus zu bestimmen, wie dies im Falle der reinen Form der Gesetzlichkeit der Fall ist. Dabei kann es sich nur um einen Zweck handeln, mit dem wir nicht etwas anderes erreichen wollen, so dass er selbst wieder zum Mittel für andere Zwecke wird, sondern um einen Zweck an sich selbst. Einen solchen Zweck verfolgen wir nicht, um andere Güter in der Welt zu erreichen, sondern der Erfolg liegt in ihm selbst. Wenn wir unseren Willen durch einen solchen Zweck bestimmen lassen, so führt uns die Kette der Zwecke nicht mehr weiter. Deshalb kann mit einem solchen Zweck das Gleiche erreicht werden wie mit einer Bestimmung des Willens durch die reine Form der Gesetzlichkeit. Ein Wille, der durch einen Zweck an sich selbst bestimmt ist, kann nicht mehr böse werden, indem er zu Folgen führt, die sich als böse herausstellen können. Kants Gedankengang lässt sich nur verstehen, wenn wir berücksichtigen, worin Kant einen Zweck an sich selbst sieht. Es gibt nämlich nur einen, und mit diesem sind wir sehr gut vertraut. Es handelt sich ganz einfach um den Menschen als Person, der angemessen als Selbstzweck aufgefasst werden muss. Mit einem Zweck an sich selbst und damit mit einer Selbstbestimmung des Willens ohne äußerliche Determinanten sind wir stets schon vertraut, wenn wir Personen von Sachen und Sachverhalten in der Welt zu unterscheiden gelernt haben. Dieses praktische Wissen besitzen wir bereits dann, wenn wir als Menschen unter Menschen leben, denn – so Kant – ‚der 134
6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant)
Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst‘. Deshalb kann die moralische Regel, mit der wir zwischen Gut und Böse unterscheiden können, auch so formuliert werden: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Der Begriff der ‚Menschheit‘ ist in dem Sinn, in dem Kant ihn hier verwendet, kein bestimmter Begriff, mit dessen Hilfe das Menschliche auf Begriffe gebracht werden könnte, die dann als Anweisungen für Handlungen bzw. Willensbestimmungen dienen könnten. Würden wir festlegen, was das Menschliche ist, so wäre nach Kants Verständnis die Menschheit gerade als Mittel gebraucht. Deshalb könnten wir auf dieser Grundlage auch keine Bestimmungen für einen Willen entwickeln, der sich als reiner Wille so bestimmen kann, dass er ohne Einschränkungen gut genannt werden kann. Wenn Kant also von der als Zweck an sich selbst in jeder Person zu beachtenden Menschheit spricht, so ist damit ein Begriff gemeint, der sich auf die reine Selbstbestimmung bezieht. Diese Möglichkeit der Selbstbestimmung macht das Wesen des Menschen aus, der nicht nur von Trieben und Instinkten gesteuert wird, und der auch nicht vollständig von den Gewohnheiten und Bräuchen seiner jeweiligen Zeit und Gesellschaft abhängig ist. Als Zweck an sich selbst wird der Mensch also nur dann aufgefasst, wenn er nicht unter bestimmte Begriffe subsumiert und nach deren Anweisung behandelt wird. Wir könnten statt von Selbstbestimmung auch von Freiheit sprechen. Dann würde Kants moralischer Imperativ in der jetzt behandelten Form etwa lauten: bestimme deinen Willen stets so, dass du andere Menschen dabei stets zugleich als freie Wesen und nicht nur als Mittel behandelst. Auch dieser Respekt vor der Freiheit anderer Menschen bestimmt den Willen so, dass er nicht durch äußere Determinanten zu einem bösen Willen werden kann, d. h. dass er ohne Einschränkungen gut heißen kann. Da in seine Bestimmung keine externen Faktoren eingehen und er nicht von seinen Folgen in der Welt abhängig wird, deshalb bleibt er bewahrt als etwas, das ohne Einschränkungen als gut gelten kann, so dass mit ihm zwischen Gut und Böse unterschieden werden kann.
Gut und Böse und die Perspektive der Freiheit In der theoretischen Philosophie hatte Kant die Freiheit als ein ‚leeres‘ bzw. ‚bloßes Gedankending‘ bezeichnet. Er wollte damit darauf aufmerksam machen, dass die Freiheit eigentlich nicht als etwas Wirkliches aufgefasst wer135
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
den kann, wenn wir nur die Perspektive auf die Erkennbarkeit der Welt einnehmen. Unter dieser Perspektive stellt sich die empirische Welt als ein Zusammenhang dar, der universal nach Naturgesetzen bestimmt wird. In ihr herrscht die Notwendigkeit, die die Freiheit ausschließt. Die objektive Welt ist ein ‚Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander notwendig bestimmender Erscheinungen‘, wie Kant sich ausdrückte. Das Grundgesetz der Natur lautet unter dieser Perspektive, dass ohne eine hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehen kann. Freiheit aber ist die Fähigkeit, Handlungen ohne Notwendigkeit ‚ganz von selbst‘ auszuführen. Sie müsste also die Einheit der Erfahrung sprengen, indem sie die Universalität des Kausalgesetzes durchbricht. Kant hatte damit aber keineswegs die menschliche Freiheit als etwas Unmögliches ausgeschlossen. Die Perspektive der theoretischen Philosophie ist für ihn nur eine unter verschiedenen möglichen Auffassungen. Aus der Perspektive der praktischen Philosophie, in der es um die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen geht, erklärt Kant die Freiheit als einen positiven Begriff, der sich auf eine Wirklichkeit bezieht. Diese Wirklichkeit ist die Welt des moralischen Urteilens, d. h. die Welt, in der wir zwischen Gut und Böse unterscheiden. Kant bringt seinen zentralen Gedanken hier in einer paradoxen Formulierung zum Ausdruck: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei“. Von Handlungen im Unterschied zu Abläufen in der naturgesetzlich determinierten Welt können wir nur dann sprechen, wenn wir dem Handelnden Freiheit zuschreiben. Wir setzen also die Idee der Freiheit als gültig voraus, wenn wir beanspruchen, Akteure zu sein und nicht nur Schachfiguren. Kant weist also darauf hin, dass wir immer schon die Perspektive der Ethik voraussetzen, wenn wir beanspruchen, handeln zu können. Gleichzeitig setzen wir mit diesem Anspruch voraus, dass wir frei sind und nicht nur kausale Zusammenhänge ausführen, wie sie in der Welt der Objekte herrschen. Diese beiden Voraussetzungen bringt die Kantische Moralphilosophie so zusammen, dass sie sich wechselseitig begründen. Freiheit und die moralische Grundunterscheidung zwischen Gut und Böse sind wechselseitig von einander abhängig. Offensichtlich kann Kant auf diese Weise einen Zirkel in seiner Argumentation nicht vermeiden. Sein origineller Gedanke liegt aber in der Behauptung, nur durch die Orientierung an moralischen Entscheidungskriterien können wir uns überhaupt als frei verstehen und uns damit als Wesen auffassen, die handeln können, d. h. als Wesen, die nicht nur die kausalgesetzlichen Zusammenhänge der objektiven Welt ausführen. 136
6.1 Der reine Wille und das Gute (Kant)
Indem der Mensch nach dem Guten und Richtigen fragt, überschreitet er allein durch diese Fragerichtung das Selbstverständnis als Objekt in der Welt. Kant drückt dies so aus: der Mensch versteht sich damit als zur ‚intelligiblen‘ Welt gehörig. Damit ist keine Welt gemeint, in der es streng rational zugeht und alle Menschen nur das tun, was ihnen der Verstand vorschreibt. Der Verstand hat gerade bei Kant nur eine begrenzte Funktion und kann eigentlich nur Begriffe so einsetzen, dass aus den Sinneseindrücken eine Welt von Objekten entsteht, d. h. er ordnet die wahrgenommene Welt nach seinen eigenen Erkenntnisstrukturen. Mit dem Begriff einer ‚intelligiblen‘ Welt weist Kant gerade nicht auf die Welt aus Verstandesbegriffen, sondern auf eine ganz andere Perspektive. Hier fassen wir uns nicht als Objekte in der durch den Verstand geordneten objektiven Welt auf, sondern als davon unabhängige Wesen, die zur Freiheit und zur moralischen Entscheidung befähigt sind. Das Denken, das in der theoretischen Philosophie in Bezug auf die Erkennbarkeit der Welt ausgearbeitet wurde, ist also alleine nicht ausreichend, um den Menschen vollständig zu verstehen. Unsere Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, hängt von der Wirklichkeit der Freiheit ab, die selbst nur durch unser moralisches Selbstverständnis begründet werden kann. Deshalb können wir weder die Freiheit noch unser moralisches Bewusstsein ‚erklären‘. Die Erklärung eines Phänomens besteht grundsätzlich darin, dass wir das zu Erklärende auf Gesetze zurückführen und es als Fall dieser Gesetze ableiten. Solche Gesetze gibt es aber nur in der objektiven Welt, die eine Welt unserer möglichen Erfahrung ist. Sie ist die Welt, die uns durch Sinneswahrnehmungen gegeben und durch den Verstand zu einer objektiven Welt geordnet wird. Die praktische Vernunft würde deshalb ihre Grenzen überschreiten, wollte sie ‚erklären‘, wie Freiheit möglich und die reine Vernunft praktisch sein kann. Mit dem Gedanken einer ‚intelligiblen Welt‘ hat Kant also eine Voraussetzung der Unterscheidbarkeit zwischen Gut und Böse in der praktischen Vernunft formuliert. Die Möglichkeit einer solchen Welt kann aber nicht aus dem Bezug auf die Welt der Objektivität und der Erfahrung erklärt werden. Sie ist eine Idee, die nach Kant ‚ihren guten Grund‘ hat, die aber zu keinen Erkenntnissen mit dem Status von Erklärungen führt, wie sie nur im theoretischen Weltverhältnis möglich sind. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen liegt also nicht nur darin, uns über das gute Wollen zu informieren, sondern auch darin, uns über das Bewusstsein unserer Freiheit als Angehörige einer ‚intelligiblen‘ Welt zu versichern. Kant behauptet auf der Grundlage dieses gedanklichen Zusammenhangs, dass der Mensch gerade dann sein ‚eigentliches‘ Wesen verwirklicht, wenn er sich unter der Perspektive 137
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
der praktischen Intelligibilität versteht. Dieses ‚eigentliche Selbst‘ unterscheidet sich von einem sinnlich und durch Eigeninteressen motivierten Selbst. Das sinnlich motivierbare Selbst und das eigentliche Selbst werden jedoch nicht nur als zwei Aspekte des einen Selbst der Persönlichkeit aufgefasst, sondern Kant sieht auch eine Rangordnung zwischen diesen beiden Perspektiven. Indem das moralische Gesetz ein Gesetz der Freiheit jenseits der von Naturgesetzen geprägten empirischen Welt darstellt, macht es auch das eigentliche Selbst der Person erfahrbar und stellt das Gesetz der ‚höchsten Bestimmung‘ des eigenen Wesens des Menschen dar.
6.2 Der Staat und das Gute (Hegel) Moralität und Sittlichkeit Bei Hegel findet sich eigentlich keine Ethik in dem Sinn, in dem wir diesen Ausdruck zu verwenden gewohnt sind. Man könnte sogar sagen, Hegel wendet sich gerade gegen das ethische Begründen und Argumentieren, in dem wir danach fragen, was wir tun und lassen sollen. Es findet sich bei Hegel sogar eine fundamentale Kritik an der Moralität. Die Moralität bzw. der moralische Standpunkt ist für Hegel grundsätzlich der Standpunkt des Sollens bzw. der Forderung. Dass wir in der Ethik nach dem fragen, was wir vernünftigerweise sollen, scheint uns selbstverständlich. Für Hegel enthält dieser Standpunkt jedoch einen Mangel, der in seiner vernünftigen Kritik über ihn hinausführt. Insofern ist die Ethik selbst mit ihrer Frage nach dem Sollen für Hegel zwar vernünftig, aber doch nicht ausreichend vernünftig, d. h. sie muss als solche ‚aufgehoben‘ werden. Das moralische Bewusstsein, das sich durch ein Sollen versteht, verkennt dabei, dass es immer schon über das bloße Sollen hinaus ist, wenn es vom Sollen spricht. Schließlich soll das Sollen ja nicht einfach bei sich bleiben, sondern es soll verwirklicht werden. Diese Wirklichkeit aber steht ihm nach dem Standpunkt des moralischen Bewusstseins unvermittelt gegenüber. Auf diese Weise könnte das, was sein soll, nie wirklich werden. Aber zum Sollen gehört gerade, dass etwas sein soll. Dies ist nur möglich, wenn in dem Sein auch schon ein Sollen ist, d. h. wenn das Sollen sich selbst im Sein entgegenkommt. Solange das Sollen aber nicht erkennt, dass zu ihm ein entsprechendes Sein gehört, solange bleibt es ein bloßes Sollen, d. h. ein Sollen, das überhaupt nicht auf Verwirklichung aus ist. Es bleibt ein Sollen, das bloß als eine 138
6.2 Der Staat und das Gute (Hegel)
leere Forderung im Inneren des moralischen Bewusstseins existiert. Ein solches Sollen kommt deshalb nicht bloß nicht zur Wirklichkeit, sondern es hat auch selbst keine Wirklichkeit. In der Beschäftigung mit dem Sollen tendieren wir dazu, uns eine Welt nach unseren Vorstellungen zu konstruieren, die subjektiv ist und unserem bloßen Meinen entspricht. Hegel wendet sich deshalb prinzipiell gegen eine philosophische Konzeption, die sich mit einem Sollen jenseits dessen, was ist, beschäftigt. Wenn das Sollen also dennoch ein Gegenstand philosophischen Denkens sein soll, dann muss es dort aufgenommen werden, wo es in der Wirklichkeit anzutreffen ist, nicht im bloßen Meinen und in der Vorstellung von dem, was richtig oder falsch ist. In Hegels Philosophie kann deshalb die Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, und das Problem der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nur so behandelt werden, dass ein Phänomen in der Wirklichkeit untersucht wird, in dem das Sollen nicht mehr ein bloßes Sollen ist. Dies ist dort der Fall, wo das Bewusstsein von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse so eng mit der Wirklichkeit verbunden erscheint, dass die Philosophie ein Wissen erzeugen kann und nicht bei der Beschreibung eines Meinens stehen bleiben muss. Hegel spricht hier vom ‚lebendigen Guten‘, das nicht in der Moralität erreichbar ist, sondern erst in der Sittlichkeit. Damit ist ein Leben gemeint, das durch ein Ethos bestimmt ist, welches unmittelbar gelebt wird. Dieses Ethos verwirklicht sich in der Familie, in der Gesellschaft und im Staat, also in solchen Gemeinschaften, die nicht durch die abstrakten Forderungen des Sollens bestimmt werden, sondern durch konkrete Regeln, die ein Sollen repräsentieren, das zugleich ein Sein ist. ‚Sittlichkeit‘ meint also nicht das, was wir heute in der Einschränkung auf staatliche Regulierungen der Sexualität noch von diesem Ausdruck übrig behalten haben, wie etwa im Ausdruck ‚Sittenpolizei‘. Hegel bezieht sich dabei vielmehr auf die antike Philosophie und deren Gedanken des ‚Ethos‘, den wir heute mit ‚Sitte‘ wiedergeben können, wobei allerdings auch der Gedanke an Brauchtum vermieden werden sollte. In der Sittlichkeit ist die praktische Vernunft in einer Wirklichkeit realisiert, die historisch geworden ist und sich auf der Grundlage ihrer Geschichte legitimiert. Es handelt sich um Sitten und Gewohnheiten, aber auch um Institutionen und Lebensformen, die sich als feste Formen des Zusammenleben von Menschen entwickelt haben und die aufgrund dieser Entwicklung auch Geltung beanspruchen können. Hegel hat das Sittliche an verschiedenen Stellen so umschrieben: ‚die an und für sich seienden Gesetze und Einrichtungen‘, die ‚Sitte‘ und die ‚Gewohnheit‘ im Sinne von ‚allgemeinen Handlungsweisen‘ der Menschen in einer kulturellen Gemeinschaft, das ‚ge139
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
sellig gesittete Leben‘, er sprach aber auch von ‚Stand‘ und ‚Korporation‘, d. h. von ‚Institutionen‘. In diesem Zustand der Sittlichkeit sollen die fundamentalen Defizite der Moralität behoben sein. Zunächst bleibt das Subjekt darin nicht gespalten zwischen seiner individuellen Vernünftigkeit und einer vernunftlosen Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit müsste es sich auf seine reine Innerlichkeit beschränken, um wenigstens rudimentär vernünftig sein zu können. Diesen Gedanken hat Kant ausführlich expliziert. In dieser Moralität erscheint das Subjekt als strikt geschieden von seiner natürlichen und sozialen Umgebung, zu der es sich nur in der Form des Sollens und der Forderung verhalten kann. Die Sittlichkeit soll also den Zustand der ganz abstrakten praktischen Vernunft überwinden. Im Zustand der Sittlichkeit erfährt das Subjekt nicht eine vernunftlose Wirklichkeit, die den Forderungen seiner Vernunft gegenüber prinzipiell gleichgültig ist. Sollen und Sein können dann in eine Einheit treten, die einen vernünftigen Begriff praktischer Vernunft und damit des Guten ermöglicht. Hegels Kritik an der Abstraktheit der Moralität gilt auch in Bezug auf die Freiheit, die nach Kant ja gerade und nur durch die moralische Willensbestimmung demonstriert werden kann. Sie bleibt deshalb ebenfalls ‚innerlich‘ und kann im Grunde in der Wirklichkeit nirgends aufgefunden werden. Wenn Kant später in seiner Rechtsphilosophie von der Freiheit im Verhältnis zwischen Menschen spricht und diese im Recht gewahrt sieht, so wird den meisten Interpreten zufolge ein anderer Begriff von Freiheit eingeführt. Frei kann also nur das Subjekt in seinem Willen sein, so lange es seinen Willen nicht in die Tat umgesetzt hat. Dann aber kann es im Grunde auch für sich selbst nicht mehr sicher sein, dass es frei gehandelt hat, denn es kann letztlich nie zu einer Gewissheit darüber gelangen, ob seine Handlung moralisch motiviert war. Da es von seiner Freiheit aber nur durch seine Moralität weiß, kann es in dieser Lage auch nie sicher sein, dass es sich als frei bewiesen hat. In der Sittlichkeit sieht Hegel also die richtige Seite der Moralität bewahrt, indem sie von ihrer Abstraktheit befreit wird und das Gute und die Freiheit eine Wirklichkeit gewinnen, in der sie konkret und ‚lebendig‘ sein können. In der Sittlichkeit ist es nicht mehr der abstrakte, subjektive Wille, der das Gute nur in der Form des Sollens besitzt und der nur im einzelnen Subjekt bleibt. Jetzt gibt es einen allgemeinen Willen, der sich in den Sitten und Gebräuchen eines Volkes oder einer Kultur, in den kulturell überkommenen Lebensformen und den diesen angemessenen Institutionen niedergeschlagen hat. Die in einer Kultur geltenden Regeln über das Verhalten und die kulturell legitimierten Normen über das richtige Zusammenleben der 140
6.2 Der Staat und das Gute (Hegel)
Menschen ‚verkörpern‘ diesen allgemeinen Willen, d. h. sie geben ihm Leben und Wirklichkeit in der Welt. Der allgemeine Wille besteht auf diese Weise nicht in abstrakten Inhalten. Er lässt sich eigentlich überhaupt nicht beschreiben, indem man erklärt, was dieser Wille anstrebt. Er zeigt sich vielmehr in den Sitten und Gebräuchen, den geschichtlich entstandenen Lebensformen und Institutionen. Über diese Regeln und Normen bestimmt der allgemeine Wille die Absichten und die Gesinnungen der einzelnen Menschen innerhalb der Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame kulturelle Überlieferung bestimmt ist. Das ‚lebendige Gute‘ steht den Menschen hier nicht als etwas gegenüber, das sie sollen. Es gibt auch eigentlich nicht das einzelne und abstrakte Subjekt, das für sich Forderungen aufstellt, denen es genügen oder die es verfehlen kann. Der allgemeine Wille kennt im Status der Sittlichkeit keine Forderung; man könnte auch sagen: er ist eins mit dem, was als gut gelten kann. Das Gute ist immer schon realisiert in dem Ethos, das als selbstverständliche Lebensform praktiziert wird. Der allgemeine Wille steht auch nicht als eine eigene Instanz den einzelnen Willen gegenüber. Hegel würde hier darauf hinweisen, dass es sich in diesem Falle gerade nicht um den allgemeinen Willen handeln könnte, sondern dass es in dieser Situation in Wahrheit ein einzelner Wille wäre, der sich unberechtigt als allgemeiner Wille ausgeben möchte.
Sittlichkeit und konkrete Freiheit Man könnte nun darauf hinweisen, dass die Sitten und Gebräuche, die kulturell vorgegebenen Lebensformen und Institutionen dem einzelnen Menschen gegenüber doch als eine Macht auftreten, die Forderungen erhebt und sich im Individuum als ein Sollen zeigt. Das Sollen wäre in der Sittlichkeit als konkret gewordenem allgemeinen Willen also keineswegs überwunden, sondern es wäre nur ein anderer Inhalt des Sollens entwickelt, der nicht mehr durch das individuelle Bewusstsein bestimmt ist, sondern der nun durch die geschichtliche Entwicklung der Kultur vorgegeben ist. Hegel würde dem vermutlich zustimmen, er würde aber darauf hinweisen, dass diese Kritik nicht das beschreibt, was er unter Sittlichkeit versteht. In einer Lage, in der sich die Sitten und Gebräuche, die überkommenen Lebensformen und Institutionen dem einzelnen Menschen entgegenstellen und von ihm als Sollensforderungen einer fremden Macht erlebt werden, ist die Sittlichkeit als das ‚lebendige Gute‘ verschwunden. Sittlichkeit ist bei Hegel im Grunde vielmehr ein Zustand, in dem die 141
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
einzelnen Menschen in einer kulturellen Gemeinschaft den allgemeinen Willen, der sich in den Sitten und geschichtlich gewordenen Institutionen verkörpert, auf eine unmittelbare Weise kennen. Es gibt für sie also nicht die Sitten und darüber hinaus noch einen allgemeinen Willen, der sich ihnen als eine eigene Instanz in diesen Sitten kundgibt. Der allgemeine Wille ist für die Menschen einer ‚sittlichen Gemeinschaft‘ also nicht über die Vermittlung der Sitten zugänglich und bekannt. Die Sitten haben auch ganz und gar nicht den Status von ‚Vermittlungen‘, d. h. sie sind nicht eine solche Wirklichkeit, durch die als ‚Mitte‘ etwas anderes sich geltend macht, das von ihnen abgelöst werden könnte. Nach Hegels Begriff der Sittlichkeit stellen die Sitten und kulturell überkommenen Lebensformen die Wirklichkeit des allgemeinen Willens dar, nicht dessen Übermittlung oder Vermittlung. Deshalb ist der Zustand der Sittlichkeit bereits verlassen, wenn sich die einzelnen Ausgestaltungen der Sittlichkeit den Menschen mit dem Charakter von Forderungen und dem Status des Sollens entgegensetzen. Zur Sittlichkeit im Hegelschen Sinne gehört also ein Verhältnis der Unmittelbarkeit, das die Menschen in einer kulturellen Gemeinschaft zu ihren Sitten und ihren Institutionen einnehmen. Nur dann kommt ihnen darin der allgemeine Wille entgegen, nicht ein einzelner Wille, der unberechtigt behauptet, der allgemeine zu sein. Die genannte Kritik bezieht sich also auf einen Zustand, in dem nicht die Sittlichkeit herrscht, sondern die Macht eines einzelnen Willens. Ein solcher Wille kann einem einzelnen Menschen zugehören, es kann aber auch der Wille einer Gruppe sein, die die kulturellen Institutionen und Sitten benutzt, um allen anderen Individuen und Gruppen ihren Willen aufzuzwingen und so ihre Interessen durchzusetzen. Dies ist also gerade nicht das, was Hegel unter dem Titel ‚Sittlichkeit‘ meint und der Moralität als deren höhere Wahrheit entgegensetzt. In der Sittlichkeit, so wie Hegel sie versteht, ist der allgemeine Wille dagegen nicht vom einzelnen Willen unterschieden. Es gibt also nicht den Willen einzelner Menschen, der sich den Sitten, Gebräuchen, Lebensformen und Institutionen in einer kulturellen Gemeinschaft entgegensetzen könnte. Unter Umständen können die Sitten zwar als belastend und einschränkend empfunden werden. Aber sie sind auch dann noch in einer Einheit mit dem Leben der einzelnen Menschen, die sich in erster Linie aus der gemeinsamen geschichtlichen und kulturellen Herkunft ergibt. Der einzelne Mensch ist in seinen Wünschen, Vorstellungen und Verhaltensorientierungen in seiner kulturellen Überlieferung groß geworden. Er ist darin zu dem Menschen geworden, der er ist. Würde er sich dem entgegensetzen, was die Sitte von ihm verlangt, so würde er in dieser Lage sich selbst widersprechen. Folgt er 142
6.2 Der Staat und das Gute (Hegel)
jedoch den Ansprüchen der Sitte, so gehorcht er keiner fremden Macht, sondern bis zu einem gewissen Grad sich selbst. Er gehorcht dem in ihm, das nicht individuell und aus ihm selbst heraus geworden ist, sondern das den allgemeinen Willen in der Form von Sitten und anderen kulturell selbstverständlich gewordenen Lebensformen in ihm darstellt. Deshalb ist die abstrakte Freiheit der Moralität nun zu der konkreten und ‚lebendigen‘ Freiheit der Sittlichkeit geworden. Im Sollen musste die Freiheit abstrakt bleiben, weil sie ihren Ort nur in der Innerlichkeit des Subjekts hat und ihr eine Wirklichkeit gegenüber steht, in der die Freiheit unbekannt ist. Für Kant war die Welt außerhalb der moralischen Bestimmung eines guten Willens durch Notwendigkeit bestimmt, nicht durch Freiheit. Die Sittlichkeit dagegen kann in Hegels Gedankenzusammenhang der Ort der konkreten Freiheit sein, weil das Subjekt in diesem Zustand keiner fremden Wirklichkeit gegenüber steht. Die Sitten, Gebräuche und Institutionen der sittlichen Welt sind so sehr identisch mit dem, was der einzelne Mensch ist bzw. in seiner kulturellen Formung geworden ist, dass sie keine fremde Macht darstellen, die ihm gegenüber steht. Er findet sich also in diesen Sitten, Gebräuchen und Institutionen auf eine unmittelbare Weise wieder, man könnte auch sagen: er weiß sich selbst in ihnen. Diese Situation kann Hegel deshalb nicht nur als konkrete, sondern auch als ‚lebendige‘ Freiheit bezeichnen.
Sittlichkeit und Staat Die konkrete Freiheit und das ‚lebendige‘ Gute der sittlichen Welt zeigen sich im Einzelnen in der Familie, in der Gesellschaft und im Staat. Hier sieht Hegel eine Entwicklung, in der die Freiheit zunehmend konkreter wird. In der Familie kann sich das Subjekt noch nicht mit dem Allgemeinen identifizieren, da es sich noch unmittelbar mit dem, was in der Familie gilt, identisch weiß. Es wird als Teil einer Familie angesehen und nicht als Individuum. Wir sollten hier nicht vergessen, dass Hegel nicht von der modernen Familie des 21. Jahrhunderts spricht, sondern von der Hausgemeinschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Das Individuum erkennt sich zwar in der Sitte der Familie wieder, aber dies noch auf eine unvermittelte Weise. Deshalb kann es darin auch seine Freiheit noch nicht wirklich erkennen. Man könnte dies so ausdrücken: die Sitten, die sein Leben prägen, sind so wenig von ihm unterschieden, dass es sich nicht in ihnen erkennen kann. Noch anders gesagt: sie sind ihm so nah, dass es sich nicht in 143
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
ihnen wiederfinden kann, denn dazu müsste es sich erst bis zu einem gewissen Grade verloren haben. Erst in der Gesellschaft wird dem Subjekt bewusst, dass es als Person unter Personen lebt. Personen sind nicht durch die unmittelbare Einheit des engen Zusammenlebens verbunden, in dem die materiellen Mittel des Lebens gemeinsam genutzt werden, wie dies in der Familie der Fall ist. In der Gesellschaft lebt es nun ohne den unmittelbaren Bezug zu anderen Menschen, der die Familie charakterisiert. Man muss hier auch beachten, dass Hegel in dem Begriff der Gesellschaft sehr stark den Aspekt der Ökonomie betont, d. h. den Aspekt der Arbeitsteilung in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Nichtsdestoweniger ist auch die Gesellschaft durch die Sittlichkeit bestimmt und die Beziehungen zwischen den Menschen werden geformt durch Sitten, Gebräuche, kulturelle Lebensformen und gesellschaftliche Institutionen. Die Freiheit ist darin konkreter, weil sie sich in Sitten ausdrückt, die nicht mehr auf gleiche Weise unmittelbar wie in der Familie gelten. Andererseits fällt es dem Individuum nun gerade deshalb auf eine neue Weise schwer, sich in der Sittlichkeit der Gesellschaft wiederzufinden. Man könnte sagen: sie sind ihm zu fern, um sich selbst darin ohne Schwierigkeit erkennen zu können. Die Sittlichkeit der Familie ist zu unmittelbar, als dass das ‚lebendige Gute‘ sich darin vollenden könnte. Diese Vollendung ist auch in der Gesellschaft nicht möglich, weil deren Sittlichkeit zu vermittelt, d. h. zu mittelbar ist. Erst die Sittlichkeit des Staates stellt jene Konkretion dar, in der das ‚lebendige Gute‘ und die ‚lebendige‘ Freiheit vollkommen wirklich werden können. Nur im Staat können die Defizite der Familie und der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Guten behoben werden. Das Defizit der Familie ist das zu unmittelbare Verhältnis der Individuen zum allgemeinen Willen, die deshalb eigentlich nicht im vollen Sinne zu Individuen werden können. Das Defizit der Gesellschaft liegt in dem zu mittelbaren Verhältnis der Individuen zum allgemeinen Willen, die sich deshalb nicht mehr in ihm wiederfinden können. Erst der Staat soll also die Unmittelbarkeit und die Mittelbarkeit zu einem Ausgleich bringen, in dem sie in einem rechten Maß vereinigt werden können. Damit behauptet Hegel, das ‚lebendige Gute‘ der Sittlichkeit verwirklicht sich am konkretesten im Staat. Hegels Staatsbegriff ist uns Menschen des 21. Jahrhunderts sehr fremd geworden. Der Staat wird heute als ein Akteur unter vielen anderen aufgefasst, der vor allem die Aufgabe hat, Rechtssicherheit und soziale Sicherheit zu gewährleisten und die Voraussetzungen für das Bestehen im globalen ökonomischen Wettbewerb zu schaffen. Man könnte auch vom ‚Dienstleis144
6.2 Der Staat und das Gute (Hegel)
tungsstaat‘ sprechen, der nach den Leistungen gemessen wird, die er den Bürgern bietet, und anhand der Effizienz, mit der er diese Leistungen erbringt. Hegel nannte dies den ‚Not- und Verstandesstaat‘ und sah hier im Grunde noch keine wirkliche staatliche Existenz, sondern nur eine Fortsetzung der Gesellschaft als einer Organisation der arbeitsteiligen Ökonomie. Der Staat, der die höchste Gestalt der Sittlichkeit darstellt, beginnt für Hegel also erst in einer Sphäre, die nach diesem Staatsverständnis liegt. Wenn Hegel das ‚lebendige‘ und konkrete Gute der Sittlichkeit im höchsten Maße im Staat verwirklicht sieht, so liegt dem ein grundsätzlich anderes Staatsverständnis zugrunde, als es uns heute selbstverständlich geworden ist. Das Modell ist eine Auffassung des antiken Stadtstaates, mit dem sich die Bürger so sehr identifizieren, dass sie das Wohl des Staates weitgehend mit dem eigenen gleichsetzen und bereit sind, ihre Privatinteressen für den Staat aufzuopfern. Der Staat im Sinne Hegels ist nicht die Gesellschaft, er ist auch nicht ein gesellschaftlicher Akteur, sondern eine Gemeinschaft. An ihr beteiligen sich die Staatsbürger nicht mehr als einzelne Bürger mit speziellen Interessen, sondern ihr gehören sie als Teil einer Ganzheit an. Dieser Staat stellt gewissermaßen eine eigene ‚Gesamtperson‘ dar, in der sich die Bürger nicht als einzelne Bürger zueinander verhalten, sondern in der sie sich selbst als in einer Art ‚höherem Selbst‘ finden. Für Hegel kann deshalb der Staat nicht auf der Grundlage eines Vertrages existieren, den Individuen miteinander abschließen, damit sie wechselseitig vor der Willkür der anderen Menschen geschützt sind. Auf der anderen Seite kann ein solcher Staat aber auch nicht durch den Einsatz von Machtmitteln gegen seine Bürger bestehen. Das Wesen des Staates ist nicht der Zwang nach innen und außen. Der Staat lebt im Grunde vom Vertrauen der Bürger, auf dessen Grundlage sie in ihm ihre Interessen aufgehoben sehen. Er stellt ein ‚erweitertes Ich‘ für die Individuen dar, die sich darin ohne ein bewusstes Abwägen wiedererkennen. Insofern enthält der Staat das Verhältnis der Unmittelbarkeit, das Hegel zuvor für die Familie innerhalb der Entwicklung der Sittlichkeit charakterisiert hatte. Er spricht hier sogar ausdrücklich von der ‚Liebe‘, die in Familie und Staat das Verhältnis zum Ganzen bestimmt. Gemeint ist also ein Staat, in dem sich ein Volk eine staatliche Organisation gegeben hat, das sich unmittelbar zueinander gehörig empfindet, ohne darin Interessen abzuwägen. Im Unterschied zur Familie und den in ihr geltenden ‚unreflektierten‘ Beziehungen enthält der Staat jedoch auch die Seite der mittelbaren Beziehungen zwischen den Menschen, wie sie für die Stufe der Gesellschaft innerhalb der Sittlichkeit kennzeichnend sind. Im Staat sind nicht Menschen vereinigt, die sich durch eine gemeinsame Lebensgeschichte vertraut sind, 145
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
wie dies in der Familie der Fall ist. Die Staatsbürger sind vielmehr Menschen, die sich vielleicht nie begegnen werden und die deshalb auch keine direkten emotionalen Beziehungen zu einander aufnehmen. Aufgrund der Unterschiede in ihrer ökonomischen Situation, ihrer Bildung, ihrer Weltanschauung und Lebensweise haben sie nur wenig miteinander gemein. Insofern stehen sie im Staat in einer Beziehung der Mittelbarkeit zueinander. Trotzdem identifizieren sie sich mit ihrem Staat als einer höheren Gemeinschaft durch emotionale und unreflektierte Bindungen und nicht in erster Linie durch die Abwägung von Interessen. In dieser Auffassung des Staates folgt Hegel im Grunde der aus der Staatsphilosophie bekannten Unterscheidung zwischen ‚volonté de tous‘ und ‚volonté générale‘. Der Staat soll demnach nicht dem Willen der Mehrheit und im Idealfall der Addition der einzelnen Willen folgen, sondern dem ‚wahren‘ Willen der Gesamtheit der in ihm lebenden Menschen. Dieser ‚allgemeine Wille‘ wird dem Staat als einer Art ‚Gesamtperson‘ zugeschrieben, in der sich die einzelnen Bürger so wiederfinden können, dass sie ihnen nicht als eine fremde Macht gegenübertritt und auch nicht als das Instrument der Mehrheit – oder unter Umständen auch einer machthabenden Minderheit – erscheint. Dass dem einzelnen Menschen in der Sittlichkeit allgemein und im Staat im besonderen der allgemeine Wille entgegenkommt, so dass er sich in Identität mit ihm wissen kann und deshalb seine konkrete und lebendige Freiheit in der Sittlichkeit findet, dies kann nur dann gelten, wenn der allgemeine Wille, der sich in der Sittlichkeit darstellt, nicht der Wille der Mehrheit ist, sondern der ‚wirkliche‘ Wille aller.
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens Das Gute und die Kritik an den Werten Kants Philosophie steht an einer zentralen Stelle in der folgenreichen Wandlung im Geist des Westens, die man als den Weg vom Sein zum Subjekt beschreiben könnte. Diese ‚Kopernikanische Revolution‘ erfasste in erster Linie die Auffassung von dem, was wir wissen können, also die Grundlegung unserer gesamten theoretischen Kenntnis von der Welt. Ein sicheres Wissen können wir demnach von den Dingen der Welt nur dann gewinnen, wenn wir die im Subjekt bereit liegenden Formen untersuchen, mit deren Hilfe wir aus der Fülle der Sinneseindrücke bestimmte Dinge strukturieren, die uns dann als bleibende und immer wieder erkennbare Objekte in der äuße146
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
ren Welt gelten. Von einem ‚Sein an sich‘ dagegen können wir überhaupt nichts wissen. Wir können zwar darüber spekulieren und uns Meinungen bilden, aber wir können nicht beanspruchen, etwas so darüber zu wissen, dass wir es allen anderen Menschen unwiderlegbar nachweisen können. Was das theoretische Wissen betrifft, so stehen nun dem Subjekt, das die Formen der Erkenntnis in sich enthält, Objekte gegenüber, die als solche nicht durch sich selbst bestimmt sind, sondern durch die Möglichkeiten dieses Subjekts, einen Zugang zu einer objektiven Welt zu gewinnen. Die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis von Gegenständen sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände dieser Erkenntnis. Gelingt es uns, diese Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis zu erkennen, so gewinnen wir deshalb zugleich Einsicht in die Gegenstände dieser unserer Erkenntnis. Wir müssen also die Erkenntnis selbst erkennen, um ein unwiderlegbares und zweifelsfreies Wissen von den Gegenständen der Erkenntnis finden zu können. Die Erkenntnis kann sich selbst erkennen und weiß dann, wie ihr die Gegenstände zugänglich sind. Über diese Selbsterkenntnis hinaus kann es jedoch keine wirkliche Erkenntnis geben. Damit gewinnt die empirische Erkenntnis von der Welt, wie sie uns in der Erfahrung zugänglich ist, einen neuen Status. Sie kann keinen Zugang zu den ‚Sachen selbst‘ mehr gewinnen, auch nicht zu einer ‚Idee‘, die die Wahrheit der sinnlich wahrnehmbaren Welt darstellen sollte, wie dies Platon gedacht hatte. Deshalb wird die empirische Erkenntnis jedoch nicht nutzlos, sie wird auch nicht weniger wert, nur ihr Status im Zusammenhang unseres Wissens wird ein anderer. Sie ist nun ein stets vorläufig bleibendes Wissen, das in seinen Grundlagen revidierbar ist und sehr viel von unseren Erkenntnisformen enthält, die uns vorschreiben, wie wir die Dinge erkennen können, die aber nichts mit den Dingen selbst zu tun haben. Wir können eine empirische Erkenntnis nur noch erlangen, wenn wir Theorien entwerfen, die es uns erlauben, den Verlauf von Ereignissen vorauszusagen. Diese Voraussagen lassen sich mit Hilfe von Experimenten testen und können dann als vorläufig bestätigt gelten, wenn sie durch die geeigneten Experimente nicht widerlegt wurden. In Analogie zu dieser veränderten Situation des theoretischen Wissens kann sich auch die Ethik nicht mehr auf ‚Werte‘ berufen, die im Sein bereit liegen und nur aufgefunden werden müssen. Allerdings war hier die Ausgangslage für Kant anders als in der theoretischen Philosophie. In der Geschichte der philosophischen Ethik gab es zwar vor Kant immer wieder Versuche, einen Zusammenhang von Werten aus dem, was ist, abzuleiten und für alle Menschen verbindlich zu machen. Wir haben dies oben noch bei Shaftesbury gesehen. Aber der Status dieses Bezugs auf Strukturen der Wirk147
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
lichkeit war doch anders als in der Grundlegung unseres theoretischen Wissens. In diesem Wissen war der unbezweifelbare Maßstab stets die Anpassung unserer Kenntnisse an die Verhältnisse in der wirklichen Welt. Das Wissen um das richtige Tun und Lassen konnte mit einem solch einfachen Maßstab dagegen nie aufwarten. Die Berufung auf die Verhältnisse in der wirklichen Welt hatte immer mehr den Status einer unterstützenden Überlegung für die Vorschläge, wie das gute Leben und das gute Handeln gestaltet werden sollten. Das Bewusstsein, dass aus dem, was ist, nicht einfach Anleitungen für das abgeleitet werden können, was für uns Menschen ‚gut‘ genannt werden soll, begleitete die philosophische Ethik seit ihren Anfängen. Daraus ergab sich jedoch eine verhältnismäßig schwache Begründung für ethische Überlegungen. Zwar sollte die Einsicht in das Gute und Böse vernünftig begründet sein, aber für diese Vernunft fehlte ein eindeutiges Kriterium. Die philosophische Ethik musste deshalb immer mit einer ‚schwachen‘ Vernunft auskommen, die kein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit ihrer Überlegungen anbieten konnte. Entsprechend ist die subjektive Wandlung des Denkens auf dem Gebiet der Ethik auch nicht gleichermaßen revolutionär, wie sie sich auf dem Gebiet des theoretischen Wissens darstellte. Nichtsdestoweniger beansprucht Kant auch hier, die Grenzen der Vernunft angeben zu können. Wir könnten also auch sagen: es soll mit jener Unklarheit über die angemessenen Kriterien des ethischen Begründens ein Ende haben. Wir sollten endlich genau wissen können, was wir mit Hilfe reiner Vernunft auf dem Gebiet der Fragen nach dem Guten und Bösen erreichen können. Wenn wir der Philosophie die Zuständigkeit für die reine Vernunft zuschreiben, so ergibt sich daraus die Frage, wie weit wir nur durch philosophisches Denken etwas über das erkennen können, was gut und böse heißen soll. Wir haben gesehen, dass das Ergebnis eine äußerst eingeschränkte Eignung der reinen Vernunft für die Entscheidung über Gut und Böse ist. Insofern ist das Kantische Ergebnis aber nicht so neu für den Geist des Westens. Auch im Utilitarismus und in der Moral-Sense-Schule war ein deutliches Bewusstsein von den Grenzen der Vernunft auf ethischem Gebiet vorhanden.
Das Gute und die Allgemeinheit der Vernunft In den Geist des Westens ist deshalb nicht so sehr die zentrale Intention der Kantischen Ethik eingegangen, die wir in der Selbstbegrenzung der Vernunft sehen können. Wichtiger ist der Gedanke geworden, dass die Vernunft eine 148
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
spezielle Methode finden muss, um ihren Behauptungen eine sichere Grundlage verschaffen zu können. Bei Kant erscheint hier zum ersten Mal die Forderung, über Gut und Böse müsse durch das Ausarbeiten einer allgemeinen Gesetzlichkeit für die Maximen unserer Handlungen entschieden werden. Diese Allgemeinheit der Vernunft wird von nun an zu einem wichtigen Moment im Geist des Westens werden. Wir könnten pointiert sagen: erst hier entsteht das Bewusstsein in diesem Geist, nicht nur der Geist einer Kultur zu sein, sondern in sich so strukturiert zu sein, dass eine universelle Begründung für alles, was gut oder böse heißen kann, gefunden werden kann. Auch in den zuvor dargestellten ethischen Entwürfen war kein explizites Bewusstsein einer Kulturrelativität des Wissens um Gut und Böse vorhanden. Nun jedoch wird das Bewusstsein von der Allgemeingültigkeit solcher ethischen Regeln explizit, die auf der Grundlage der Verallgemeinerungsprüfung gefunden werden können. Die Vernunft des Westens hat damit ihren eigenen Anspruch verändert. War zuvor noch nach Regeln für das Zusammenleben von Menschen in einer konkreten Gesellschaft gesucht worden, oder waren Einsichten in das gute Leben der Menschen in der näheren Umgebung des Philosophen das Ziel der denkerischen Bemühungen, so soll der Bereich der Vernunft selbst nun durch ein bestimmtes Verfahren angegeben werden können, jenseits dessen keine Vernunft mehr ist. Auch die Kantische Ethik ist sich bewusst, dass das Zusammenleben der Menschen und das gute und gelingende Leben durch weit mehr als durch die vernünftig zu begründenden Regeln geleitet werden. Aber diese Regeln stehen nun explizit außerhalb des Bereiches der Vernunft, wenn sie sich nicht aus dem Verallgemeinerungsprinzip ableiten lassen. Mit diesem Allgemeinheitsanspruch des ethischen Begründens ist jedoch eine starke Einschränkung des Bereichs verbunden, der tatsächlich durch die Vernunft und deren Regeln bestimmt werden kann. Das Ergebnis der Kantischen Bestimmung des Anwendungsbereiches der reinen Vernunft auf dem Gebiet des Wissens von Gut und Böse ist viel negativer, als Kant selbst zugeben wollte. Sehr viel wissen können wir durch reine Vernunft offensichtlich nicht über das, was wir tun und lassen sollen. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Beschränkung des Guten auf die Bestimmung des reinen Willens es verhindert, dass Handlungen in der Welt jemals mit letzter Sicherheit als gut oder böse bezeichnet werden können. Wir wissen nie, ob sie nur äußerlich den Regeln der Pflicht entsprechen, oder ob sie auch durch die Orientierung an diesen Regeln motiviert waren. Nur im letzten Fall kann im Gedankenzusammenhang der Kantischen Ethik von einer guten – bzw. einer bösen – Handlung gesprochen werden. Wir könnten auch sagen: letztlich wissen wir nie, was gut oder böse ist. 149
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
Es ist genau diese merkwürdige Ambivalenz der Kantischen Grenzziehung des Anwendungsbereichs der reinen Vernunft in Bezug auf Gut und Böse, die wiederum zu einem Moment im Geist des Westens wurde. Wir sehen hier einen beeindruckenden Vorgang: im gleichen Augenblick, in dem die Vernunft nicht nur stillschweigend, sondern explizit auf der Grundlage ihrer eigenen ausgearbeiteten Struktur eine Allgemeinheit über alle kulturellen Grenzen hinaus beansprucht, nimmt sie ihre Ansprüche so radikal zurück, dass ihr in Fragen von Gut und Böse praktisch kein wirklicher Anwendungsbereich mehr bleibt. In der Geschichte des Geistes gibt es kaum Beispiele dafür, dass ein Anspruch gleichzeitig so radikal erhoben und so radikal zurückgenommen wurde. Damit wird einerseits dementiert, dass die Ansprüche anderer Kulturen gelten können, andererseits wird jedoch auch behauptet, dass der Anspruch der eigenen Kultur allenfalls in sehr einfachen Fragen auf die reine Vernunft gegründet werden kann. Anspruch und Selbstkritik dieses Anspruchs sind hier kaum von einander zu unterscheiden.
Gut und Böse und das Selbst des Menschen Es gibt jedoch noch einen zweiten Gedankenzusammenhang, der mit Kant zu einem wichtigen Moment im Geist des Westens wurde. In Kants Ethik findet sich auch der Gedanke, dass die Begriffe der menschlichen Freiheit und dessen, was wir als ‚Selbst‘ bezeichnen, unauflöslich mit der Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen verbunden sind. Darin findet sich eine Neubestimmung der Bedeutung des Guten und der Ethik als der Suche nach einem Wissen von dem, was wir gut und böse nennen können. Diese Neubestimmung geht weit über das Maß hinaus, in dem zuvor die Wichtigkeit ethischer Überlegungen bestimmt werden konnte. Es geht in der Ethik nun nicht mehr einfach um Regeln für das, was wir tun und lassen sollen, es geht auch nicht mehr nur um Einsichten in das, was ein gutes und gelingendes Leben ausmacht, und auch die Angabe von Formen des richtigen Zusammenlebens der Menschen in einer Gesellschaft oder im Staat erschöpft die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht. Diese Unterscheidung steht nun im Zentrum dessen, was überhaupt den Menschen ausmacht. Damit ist nicht nur eine allgemeine Bestimmung des Wesens des Menschen gemeint, von der bei Kant nur mit äußerster Vorsicht die Rede sein kann. Es geht vielmehr darum, wie der einzelne Mensch so zu sich kommen kann, dass er sein Selbst gewinnt und in der Gemeinschaft als Individuum leben kann. Der Begriff des Selbst ist bei Kant von 150
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
einer ganz bestimmten Ambivalenz geprägt, und eben diese Ambivalenz repräsentiert ein Moment des Geistes des Westens, das in Kants Ethik besonders deutlich wird. Einerseits gewinnt der Mensch sein Selbst nur durch die ethische Bestimmung seines Willens, also indem er sich an seinen Einsichten in Gut und Böse ausrichtet. Andererseits aber kann er das Menschliche in sich nur dadurch verwirklichen, dass er sich seiner unendlichen Freiheit bewusst wird, und er kann die anderen Menschen nur dann angemessen nach dem Menschlichen in ihnen behandeln, wenn er ihnen ihre Freiheit lässt, ohne sie nach seinen eigenen Vorstellungen näher zu bestimmen. Das spezifisch Menschliche kann nur auf der Grundlage der Bestimmung von Gut und Böse angegeben werden. Das spezifisch Menschliche liegt andererseits jedoch gerade in der Freiheit des jeweils anderen Menschen von jeder Bestimmung. Natürlich müssen wir im Umgang mit einander sagen, was oder wer der andere ist. Aber wir behandeln ihn nur dann als Menschen, wenn wir ihn unter keinen Umständen auf diese Bestimmung einschränken, sondern ihn ebenso als ein freies Wesen auffassen, das allen Bestimmungen entgeht, unter denen wir es in den Handlungszusammenhängen der Gesellschaft und der Ökonomie und unserer Interessenlagen verstehen. Kant brachte dies im Prinzip des kategorischen Imperativs dadurch zum Ausdruck, dass wir über Gut und Böse so entscheiden müssen, dass der andere nie nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich selbst aufgefasst werden kann. Als solcher Zweck an sich selbst entzieht er sich allen Bestimmungen, unter denen wir ihn sonst noch verstehen wollen. Damit ist ein Moment im Geist des Westens bezeichnet, das hier noch im Zusammenhang der Selbstbegrenzung der Vernunft in der Ethik erscheint. Es wird später in der Ethik von Levinas zum zentralen Element des Ethischen überhaupt werden. Diese Ethik konnte überhaupt nur deshalb Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil im Geist des Westens der Grund für diesen Zusammenhang zwischen dem Fragen nach Gut und Böse – also des Ethischen – und der unverfügbaren Freiheit des anderen Menschen bereits gelegt worden war. Es ist deutlich, dass es sich hier um ein sehr ambivalentes Moment im Geist des Westens handelt. Dieser Geist ist jedoch gerade dadurch ausgezeichnet und geprägt, dass er seine Ambivalenzen nicht nur selbst und aus sich heraus entwickelt, sondern sie auch als Ambivalenzen festhalten und aushalten kann, ohne sie nach der einen oder anderen Seite auflösen zu müssen. Wir sollten darin eine der wesentlichen Stärken dieses Geistes sehen. Es ist deutlich geworden, dass die Kantische Ethik dieses Moment im Geist des Westens nur deshalb repräsentieren kann, weil sie dafür einen ho151
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
hen Preis bezahlt. Wenn das Gute nur im reinen Willen sein kann, ohne in die Welt der Handlungen übersetzt werden zu können, so kann von außen – d. h. von anderen Menschen her – nie angegeben werden, ob eine Handlung gut oder böse ist. Wir können dies nach dem fundamentalen Gedanken dieser Ethik nicht einmal in den Fällen, in denen wir ohne jeden Zweifel urteilen, dass eine bestimmte Handlung gut bzw. böse war. Darin wird gerade die Freiheit des einzelnen Menschen bewahrt, in den wir nicht hineinsehen und dessen wahre Motive wir nie kennen können. Wollen wir ihn als Menschen in seiner Freiheit anerkennen können, so müssen wir gleichwohl unterstellen, dass er seine eigene Freiheit durch die Fähigkeit kennt, mit der er zwischen Gut und Böse unterscheidet. Kant hat diesen Gedanken einer zugeschriebenen Freiheit und einer zugeschriebenen Fähigkeit zur moralischen Entscheidung über Gut und Böse vor allem in seiner Rechtsphilosophie durchgeführt. Das Recht gewinnt danach seinen Status als Garant der Freiheit zwischen den Menschen nur dadurch, dass es jeden einzelnen in der Rechtsgemeinschaft als frei auffasst, d. h. ihn als fähig zur moralischen Willensbestimmung versteht und ihm eben dadurch Freiheit zuschreibt. Die Kantische Philosophie des Staates schließt unmittelbar an diesen Gedankengang an. Der Staat ist nach Kant philosophisch nur als Rechtsstaat legitimiert, was hier noch nicht ausschließlich den Sinn hat, den wir heute damit verbinden, d. h. noch nicht eingeschränkt ist auf die Bedeutung, dass das staatliche Handeln durch demokratisch zustande gekommene Gesetze gebunden ist. Der Staat ist vielmehr in erster Linie nur als Rechtsgemeinschaft zu denken, in der der einzelne Mensch in seiner Freiheit und seiner Fähigkeit zur Bestimmung über Gut und Böse aufgefasst wird, indem ihm die Verantwortlichkeit für seine Taten zugeschrieben wird. Eine solche Philosophie des Staates schließt einerseits direkt an die Moralphilosophie an. Andererseits aber gerät sie auch in beträchtliche Schwierigkeiten, wenn sie die ‚Innerlichkeit‘ der Entscheidungen über Gut und Böse in der Beschränkung auf den guten Willen mit dem Recht als der Beurteilung von Handlungen in der Welt verbinden will. Wenn der gute Wille das einzige Phänomen ist, das wirklich und unzweifelhaft als gut bezeichnet werden kann, so wird es schwierig, den Begriff des Guten – und damit den des Bösen – überhaupt noch auf die Welt der äußeren Wirklichkeit anzuwenden. Das Gute scheint sich in der wirklichen Welt ebenso zu verflüchtigen wie das Böse. Es überlebt nur noch im Reservat der inneren Welt des Individuums, das sich durch seine Willensbestimmung frei und zugleich zu einem Selbst macht, das aber darin unabhängig von der wirklichen Welt wird. 152
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
Die Innerlichkeit und die Wirklichkeit des Guten Auch diese Ambivalenz der Innerlichkeit und der notwendigen Wirklichkeit des Guten in der Welt können wir als ein wichtiges Moment im Geist des Westens sehen. Sie wird jedoch erst dann deutlicher, wenn die unmittelbar an Kant anschließende Kritik an dieser Ethik der Innerlichkeit bei Hegel verstanden ist. Hegel entwirft eine Auffassung von Ethik, die die Orientierung am reinen Willen so radikal aufheben will, dass nur schwer zu sehen ist, ob es sich dabei überhaupt noch um eine Ethik im klassischen Sinne handelt. Im Grunde will Hegel kein Verfahren dafür angeben, wie wir wissen können, was wir tun sollen und wie wir ein gutes Leben führen. Er will vielmehr in der Absetzung gegen Kant erklären, wie und wo wir das Ethische finden können, wenn es seinen Begriff überhaupt erfüllen können soll. In der Innerlichkeit der Maximenprüfung auf Verallgemeinerbarkeit ist dies nach Hegel keinesfalls der Fall. Auch im reinen Willen und der Freiheit des Individuums kann das Ethische nicht anzutreffen sein. Damit wird wiederum der Staat zum entscheidenden Phänomen für die Bestimmung dessen, was gut und was böse heißen kann. Dass das Gute in einem inneren Zusammenhang mit dem Leben in der Gemeinschaft der Menschen steht, war schon bei Aristoteles deutlich geworden. Grundsätzlich war diese Erkenntnis auch schon bei Platon vorhanden. Das Leben unter Menschen wird nicht nur dann zu einem wichtigen Thema in der Frage nach dem Guten, wenn nach dem richtigen Tun und Lassen im sozialen Zusammenhang gefragt wird. Auch wenn die Frage nur nach dem guten Leben steht, wie es vom Individuum für sich gelebt werden kann, so dass sein Leben als gelungen bezeichnet werden kann, meldet sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses guten Lebens mit dem Leben in der Gemeinschaft. Niemand würde das verbrecherische Leben eines Menschen, der ausschließlich seine egoistischen Interessen verfolgt und dabei die Schädigung anderer Menschen bewusst in Kauf nimmt, als ein gutes und gelingendes Leben bezeichnen. Aber bei Aristoteles – und auch schon bei Platon – ging es um die Frage, wie der einzelne Mensch ein gutes Leben im Zusammenhang der Gemeinschaft leben kann. Wenn hier vom Staat die Rede ist, so ist der griechische Stadtstaat gemeint. Es handelte sich im Grunde um eine ‚Gemeinde‘, deren Leben noch nicht in dem Sinn in Staat und Gesellschaft unterschieden werden konnte, wie es in späterer Zeit selbstverständlich wurde, als sich Staaten zu Superstrukturen entwickelten, die die Gesellschaft formten und zugleich bestimmte Interessen aus der Gesellschaft aufnehmen und in für alle verbindliche Regeln bringen mussten. Schon deshalb stand die Frage von Aris153
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
toteles nach dem Guten in der Gemeinschaft, nicht im Hegelschen Sinne nach dem Guten im Staat. Außerdem war die Fragerichtung anders: die Perspektive bei Aristoteles war das gute Leben des einzelnen Menschen, und der Staat wurde zum Thema, weil durch die Untersuchung des dem Menschen natürlichen Lebens in der Gemeinschaft bestimmte Bedingungen für das gute Leben gefunden werden konnten. Entsprechend konnten die Ausführungen von Aristoteles nur unter dieser speziellen Perspektive dafür ausgewertet werden, ein bleibendes Moment im Geist des Westens herauszuarbeiten. Hegels Konzentration auf den Staat in seiner Auffassung vom Guten dagegen lässt sich zunächst nur in der Konfrontation mit Kants Ethik des guten Willens verstehen, der gut sein kann, ohne auf die Folgen der daraus entspringenden Handlungen in der Außenwelt achten zu müssen. Jedenfalls gilt dies für die Perspektive von außen. Wir hatten darauf aufmerksam gemacht, dass Kants Begriff des Willens nicht ein von vornherein auf den ‚inneren Bezirk‘ beschränktes Möchten oder Wünschen meint. Ein guter Wille liegt nur vor, wenn damit die Bereitschaft verbunden ist, in der Außenwelt entsprechend zu wirken, und der Wollende bereit ist, sich für die Verwirklichung des Wollens anzustrengen, so weit er über die entsprechenden Mittel verfügen kann. Sollte aus dem guten Willen aber ohne Schuld des Wollenden etwas ganz anderes entstehen als das, was er gewollt hatte, sollten sich also vielleicht Ergebnisse in der Welt zeigen, die geradezu als böse bezeichnet werden müssen, so bleibt der Wille doch gut. Nur weil gut gewollt worden war, ist das Gute in der Welt, und in einer anderen Form kann es nach Kant überhaupt nicht in der Welt erscheinen. Diese bei aller Vorsicht doch als ‚Innerlichkeit‘ zu bezeichnende Gestalt des Guten ist ein wichtiger Teil der Auffassung des Guten geworden, wie es in den Geist des Westens nach der Seite der Praxis, nicht der Theorie eingegangen ist. Aber auch die radikale Wendung gegen diese ‚Innerlichkeit‘ des Guten ist ein wichtiges Moment im Geist des Westens geworden. Dieses Moment wird nirgends deutlicher repräsentiert als in Hegels Kritik der Moralität, die nur mit Vorbehalten als eine ‚Ethik‘ bezeichnet werden kann. Wir könnten diese Kritik auch unter dem Vorzeichen der Frage verstehen, wie wir denn von einem Guten wissen können, das nur im guten Willen des Individuums geschieht und nirgends sonst in seinem innersten Wesen in Erscheinung treten kann. Daran schließt sich die Frage an, wie wir denn sinnvoll von etwas reden sollen, von dem wir aus prinzipiellen Gründen überhaupt nichts wissen können. Aus dieser Sicht gibt uns Kant nur das Wissen, dass sich das Gute in den unerkennbaren Willen des Individuums verflüchtigt, wenn wir überhaupt von einem reinen Guten sprechen wollen, 154
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
das sich nicht durch seine Folgen in der Welt in sein Gegenteil verkehren können soll. Ein erkennbares Gutes gibt es danach grundsätzlich nicht mehr. Das hat auch die Folge, dass über das, was gut heißen soll, eigentlich nicht mehr zwischen Menschen mit Gründen und Gegengründen verhandelt werden kann. Damit bleibt das, was wir tun und lassen sollen, im privaten Reich des einzelnen Menschen und ist dem öffentlichen Diskurs über das gute und richtige Leben entzogen. Wir haben im Zusammenhang mit Kants Moralphilosophie darauf hingewiesen, dass damit ein wichtiges Moment im Geist des Westens zur Darstellung kommt. Aber der Geist des Westens ist ebenso ein Denken, das vernünftige Begründung fordert. Deshalb kann die ‚Innerlichkeit‘ des Guten nicht genügen. Diese andere Seite des Guten im Geist des Westens hat Hegel mit aller Radikalität – und damit auch Einseitigkeit – zum Ausdruck gebracht. Das Gute kann damit überhaupt nicht eine unerkennbare Willensbestimmung im Individuum sein, sondern muss in der Wirklichkeit der Institutionen des Staates zur Darstellung kommen. Genau das ist der Fluchtpunkt von Hegels Ersetzung von Moralität durch Sittlichkeit.
Die Realität und das Gute des Sollens Wir können aber auch schon zuvor in der Kritik am bloßen Sollen überhaupt ein Moment erkennen, das zu einem prägenden Moment im Geist des Westens wurde. Dieses Moment nähert sich einer generellen Kritik am moralischen Standpunkt gegenüber dem Leben und den Handlungen der Menschen an, obwohl hier keine Amoralität gepredigt wird. Aber Hegel besteht darauf, dass bloße Sollensforderungen nicht ausreichen, um in genügender Deutlichkeit von dem zu reden, was wir das Gute nennen können. Wenn etwas nur gefordert wird, so ist es eben nicht wirklich. Was Hegel hier übersieht, ist die Veränderung der Wirklichkeit, die gerade dadurch entsteht, dass neue Forderungen mit moralischem Anspruch aufgestellt werden. Das Bestehende kann sich in einer solchen Situation nicht mehr so sicher wähnen wie zuvor. Damit hat es sich aber selbst verändert und insofern ist die Forderung schon durch sich selbst der Beginn einer Veränderung in der Wirklichkeit. Hegels Kritik wendet sich in erster Linie dagegen, dass das Sollen zwar in sich die Richtung auf ein Wirklichwerden trägt, dass ihm diese Wirklichkeit aber in der Kantischen Ethik des guten Willens im Grunde fremd bleiben muss. Der Wille kann gut genannt werden, auch wenn er nur Wille 155
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
bleibt und keine Veränderung in der Realität bewirkt. Deshalb muss er sich eigentlich nicht um die Wirklichkeit kümmern und kann Forderungen aufstellen, die in einem Reich des abstrakten guten Willens bleiben, ohne irgendeinen Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu haben. Wir alle kennen solche Forderungen, die ‚gut gemeint‘ sind, aber doch bloß deklarativ bleiben, weil die Menschen, die sie aufstellen, sich nicht mit der Wirklichkeit auseinandergesetzt haben. Sie denken bei solchen ‚abstrakten‘ Forderungen nicht darüber nach, wie die Realität aussehen würde, wenn ihre Forderungen umgesetzt würden. Eine andere Form kann ein solcher Wirklichkeitsverlust annehmen, wenn nur die Auswirkungen auf eine kleine Gruppe berücksichtigt werden, nicht aber auf die ganze Gesellschaft, die ganze Volkswirtschaft oder vielleicht sogar auf die ganze Welt. Dass moralische Forderungen der Realität verpflichtet sein sollten, ist ein weiteres wichtiges Moment, das den Geist des Westens charakterisiert. Dem steht jedoch wiederum die Einsicht gegenüber, dass Sollensforderungen außerhalb der Realität eine Macht entwickeln können, die gerade jene Wirklichkeit verändert, die von jenen Forderungen ignoriert wird. Es waren oft gerade die unrealistischen moralischen Vorstellungen, die schließlich dazu führten, dass eine Realität zerbrach, gegen die sie zunächst als utopische und weltfremde Forderungen von Außenseitern auftraten. Hegel könnte dagegen jedoch darauf hinweisen, dass in diesem Fall die Forderungen gerade nicht im bloßen Reich des Sollens verblieben sind und doch eine Wirklichkeit gewonnen haben, die ihnen nachträglich ihre Bedeutung verschaffte. Hegel geht jedoch noch einen Schritt weiter. Wenn er die Sittlichkeit als die ‚Wirklichkeitsform‘ des Guten in der Welt auffasst, so erscheint das, was in einer gegebenen Kultur oder auch nur in einer gegebenen Gesellschaft als gut und richtig gilt, als das wirkliche Gute jenseits eines bloß vorgestellten oder postulierten Guten. Die Suche nach einer Wirklichkeit des Guten und die Ablehnung eines nur gesollten Guten führt Hegel also schließlich dazu, gerade und nur das in einer Gesellschaft gleichsam ‚kristallisierte‘ Gute als das reale Gute zu verstehen. Von diesem allein kann sinnvoll gesprochen werden, so dass es für eine öffentliche Auseinandersetzung über das Gute herangezogen werden kann. Sittlichkeit ist hier kein abstrakter Begriff, sondern beschreibt das, was in einer Gesellschaft bzw. im Staat als moralisch richtig angesehen wird. Dabei kann es sich um eingespielte Handlungsweisen im Sinne von Sitten und Gewohnheiten handeln. Die Sittlichkeit zeigt sich aber auch in den Gesetzen und Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einem Staat regeln. Man könnte dagegen naheliegenderweise darauf hinweisen, dass auf diese Weise das Gute in der Tat wirklich ist, insofern es öffentlich festgelegt 156
6.3 Das innere und das äußere Gute und der Geist des Westens
ist und den einzelnen Menschen verpflichtet. Eine andere Frage ist jedoch, ob dieses Gute noch sinnvoll als gut bezeichnet werden kann. Welche Gründe sollte es dafür geben, gerade das, was in einer gegebenen Gesellschaft gilt, als das Gute zu bezeichnen? Hegel würde darauf antworten, dass das Sittliche gut ist, zeige sich darin, dass es das Zusammenleben der wirklichen Menschen im wirklichen Staat regelt. Damit ist allerdings nicht die Frage beantwortet, ob es sich dabei um ein Zusammenleben handelt, das mit vernünftigen Gründen als gut bezeichnet werden kann. Die Frage, ob diese Regelung selbst gut genannt werden kann, ist für Hegel zweitrangig. Sie gehört schon wieder in den Bereich des bloßen Sollens und der moralischen Forderungen jenseits des Wirklichen. Wir müssen uns für unsere Thematik nicht näher auf die Berechtigung oder gar die latente Gefährlichkeit der Hegelschen Kritik am Guten als Sollensforderung einlassen. Wichtig ist nur, dass Hegel sehr deutlich ein weiteres wichtiges Moment im Geist des Westens repräsentiert. Was das Gute betrifft, so gehört es trotz der grundsätzlich kritischen und vernunftbetonten Einstellung in der westlichen Kultur doch auch in die herrschend gewordene Auffassung, dass uns das, was wir gut nennen sollen, in den geltenden Sitten und Normen und in den Gesetzen und Institutionen vorgegeben ist, zu denen sich die Sitten kristallisiert haben. Dieses Moment können wir in den täglichen Argumentationen über das, was wir gut nennen, wiederfinden. Es gilt sehr oft als ein gültiges Argumentieren in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wenn darauf hingewiesen wird, etwas sei gut, weil es die Sitten oder die Gesetze verlangen. Darin zeigt sich nicht einfach eine Verwechslung zwischen Moral und Recht. Es kommt darin vielmehr eine ganz bestimmte Auffassung von Moral zum Ausdruck, die ein wichtiges Moment im Geist des Westens darstellt. Man könnte von einem höherstufigen Sollen sprechen. Wir sollen etwas als gut ansehen, weil es durch die Sitten oder die Gesetze gefordert wird, und es ist gut, weil es auf eine bestimmte Weise als das Gute bestimmt wurde. Wir sollen uns also an einem bestimmten Guten orientieren, weil dessen ‚Güte‘ durch seine Kristallisation in Sitten und Gesetzen verbürgt ist. Es geht dabei nicht darum, dass wir etwas sollen, weil wir es müssen. Das Recht kann uns etwa zwingen, etwas zu tun, was wir allein aus moralischen Gründen nicht als gut bezeichnen würden. Aber diese ‚normative Kraft des Faktischen‘ ist hier nicht gemeint. Vielmehr soll sich das Gute allein deshalb in den Sitten und Gesetzen zeigen, weil es sich dabei um Sitten und Gesetze handelt. Die Konfrontation zweier so extrem verschiedener Positionen wie derjenigen von Kant und Hegel kann einigen Zweifel daran wachrufen, ob sich in den Begründungsgängen philosophischer Ethik tatsächlich die eine Ver157
6. Das Gute im Menschen und in der Welt
nunft mit dem einen Begriff des Guten beschäftigt. Wir sollten jedoch nicht außer Acht lassen, dass der Geist des Westens auch gerade dadurch charakterisiert ist, dass er fähig ist, sehr unterschiedliche und sogar konträre Positionen in sich aufzunehmen und gleichzeitig als wichtige Elemente festzuhalten. Der Geist des Westens war nie eindimensional und einfarbig. Gerade seine Fähigkeit, Kritik und Gegenkritik aus sich selbst heraus zu entwickeln und beide zu bewahren, hat ihm seine Stärke und Lebendigkeit verschafft. Diese fundamentale Ambivalenz ist seine Kraft und das vorwärtsdrängende Element in einem Geist, der nie zum Stillstand kommt. Es ist jedoch nicht verwunderlich, dass auf solch konträre Positionen zur Frage des Guten, wie sie bei Kant und Hegel repräsentiert sind, eine radikale Kritik an der philosophischen – und darüber hinaus auch christlichen – Position gegenüber dem, was wir gut und was wir böse nennen, folgte. Im Grunde wurde nun die Philosophie für grundsätzlich unfähig erklärt, mit der Frage nach dem Guten umgehen zu können, indem dieses Thema auf ganz andere Weise zum Gegenstand von philosophischen Erörterungen gemacht wurde. Wir werden in den beiden folgenden Kapiteln solche Fundamentalzweifel am Guten selbst darstellen. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten und aus einer verschiedenen geistigen Herkunft. Dennoch scheinen sie in oberflächlicher Betrachtung das gleiche Ergebnis zu haben: die philosophische Vernunft – ebenso wie die christlich-theologische – befindet sich in einem grundlegenden Irrtum mit der ihr eigenen Weise, über das Gute nachzudenken. Diese Ähnlichkeit der beiden Positionen besteht jedoch nur auf den ersten Blick. Bei näherer Betrachtung zeigen sich im Ansatz des Denkens fundamentale Unterschiede, in denen sich eine neue Ambivalenz in der Stellung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse im Geist des Westens repräsentiert. Damit wird auch die innere Ambivalenz dieses Geistes durch ein wichtiges neues Moment weiter differenziert.
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7. Das Gute und der Schein 7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche) Nietzsches Grundgedanke In allen bisher erörterten Konzeptionen stand das Thema der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen in einem engen Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie. Die Antwort auf die Frage, was wir wissen können, stellte stets die Leitlinien für die Lösung des Problems bereit, was wir tun sollen. Jene Frage stand grundsätzlich im Vordergrund des Philosophierens, und das Problem mit dem guten Handeln und Leben wurde in Abhängigkeit von der Frage nach der Erkenntnis der Welt untersucht. Dies galt auch für solche Positionen, die keine explizite und umfassende theoretische Philosophie ausgearbeitet hatten, wie dies etwa in der Moral-SenseSchule und zum Teil auch im Utilitarismus der Fall war. Im äußersten Fall zeigte sich das Denken über die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen als ein eigenständiger Bereich des Denkens neben der Konzeption, die das uns Menschen mögliche Wissen zu bestimmen suchte. Erst bei Nietzsche finden wir eine Umkehrung dieses Verhältnisses. In Nietzsches Philosophie erscheint die Frage nach dem Guten und Bösen im Handeln und in der Lebensführung so, dass sie nicht nur ein bestimmtes und abgrenzbares Gebiet des Lebens betrifft. Die Frage nach der Moral steht vielmehr im Mittelpunkt seiner Philosophie, weil er mit diesem Begriff die fundamentale Struktur eines Denkens charakterisiert, das weit über den Bereich der Ethik und der Frage nach dem guten Leben hinaus Geltung besitzt. Dieses Denken versucht nicht nur, Antworten auf die Frage ‚Was sollen wir tun?‘ zu finden, sondern es regelt auch den Zugang zum theoretischen Wissen. Nietzsche findet darin eine ‚moralische Weltanschauung‘, die die Grundstruktur der metaphysischen Weltdeutung darstellt. ‚Metaphysik‘ heißt in diesem Zusammenhang alles Denken seit Platon, das den Anspruch erhebt, ein sicheres und endgültiges Wissen von der Welt gewinnen zu können, so dass sich die Welt selbst in ihm darstellt. Nietzsches Auffassung zufolge ist damit die ganze Geschichte des abendländischen Denkens sowohl im praktischen als auch im theoretischen Erkennen als Geschichte der ‚moralischen Weltanschauung‘ zu verstehen. Alle 159
7. Das Gute und der Schein
Philosophie von Platon an war nach Nietzsche nicht nur dort, wo sie explizit Moralphilosophie war, nach den sie leitenden Gedankengängen stets ‚moralisch‘. Eine Philosophie der Moral im Sinne Nietzsches kann sich deshalb nicht auf die Begründung eines Wissens über das Gute beschränken, sondern wird zu einer Kritik der ganzen abendländischen Konzeption des Wissens im praktischen und theoretischen Bereich. Bei Nietzsche findet sich auch keine neue Begründung unseres Wissens über das, was gut und was böse ist. Er bietet uns vielmehr eine Philosophie an, die nach dem Ursprung dieser Unterscheidung überhaupt fragt. Sein Denken beginnt mit dem Problem, warum wir überhaupt solche Anstrengungen unternehmen, um Grundsätze und Regeln zu finden, die es uns erlauben, das richtige vom falschen Handeln und das gute vom schlechten Leben zu unterscheiden. Nietzsche sucht also nach den Motivationen und ursprünglicheren Bestrebungen, die hinter dem moralischen Urteilen als solchem stehen. Es geht um den Ursprung nicht der besonderen moralischen Urteilsweisen, wie sie von den verschiedenen Moralphilosophen begründet wurden, sondern des Prinzips, überhaupt moralisch urteilen zu wollen. Seine Antwort ist nicht ganz einfach, denn sie erscheint widersprüchlich. Auf der einen Seite wird das moralische Urteilen zwar kritisiert, auf der anderen Seite aber doch auf eine ursprüngliche Kraft zurückgeführt, die in einem solchen Urteilen gleich welcher Begründungsform ihren Ausdruck findet. Hier kommt Nietzsches Begriff des ‚Willens zur Macht‘ ins Spiel, der sowohl für seine Kritik und Ableitung des Prinzips der Moral grundlegend ist als auch seine Kritik und Ableitung der Grundlagen des abendländischen Wissens in der Philosophie und in den Wissenschaften leitet. Grundsätzlich behauptet Nietzsches Kritik an jedem moralischen Wissen, es handle sich um eine gegen die ‚Natur‘ gerichtete Auffassung und Beschränkung, die das Prinzip des Lebens, das Nietzsche im ‚Willen zur Macht‘ sieht, verneint. Die moralische Auffassung will nicht zulassen, dass sich dieses Prinzip mit seiner vollen Kraft durchsetzen kann. Andererseits aber sieht Nietzsche auch in der Moral selbst den ‚Willen zur Macht‘ am Werk. Der Anspruch, ein Wissen über das richtige Handeln und das gute Leben zu besitzen, stellt sich also nicht nur dem ‚Willen zur Macht‘ in den Weg, sondern ist auch ein Mittel zur Durchsetzung dieses Willens. Wenn das Prinzip des Lebens aber für Nietzsche gleichbedeutend ist mit dem ‚Willen zur Macht‘, so ist das moralische Wissen einerseits ‚Lebensverneinung‘, weil es sich gegen diesen Willen richtet, andererseits aber gehört es doch auch in das Prinzip des Lebens, wenn es ‚letztlich‘ seine Begründung und seine Motivation doch nur in eben diesem ‚Willen zur Macht‘ finden kann. 160
7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche)
Diese Ambivalenz gilt entsprechend für die ‚moralische Weltanschauung‘, welche die gesamte abendländische Philosophie und Wissenschaft entscheidend geprägt hat. Auch hier findet sich einerseits das kritische Motiv von Nietzsches Denken in der Auffassung, dieses Wissen habe sich ganz grundsätzlich gegen den ‚Willen zur Macht‘ gewandt und gehöre damit in den Bereich der ‚Lebensverneinung‘ wie alles moralische Wissen, das auf der Grundlage eines ‚moralischen Denkens‘ entsteht und seine Ansprüche erhebt. Auf der anderen Seite wird das gleiche praktische und theoretische Wissen aber auch so auf den ‚Willen zur Macht‘ bezogen, dass alles Wissen – also auch das, welches auf der Grundlage der abendländischen ‚moralischen Weltanschauung‘ entwickelt wurde – als Ausdruck des ‚Willens zur Macht‘ aufgefasst wird. Auch die abendländische Philosophie und Wissenschaft erscheint also, weil sie nach ihrem Prinzip auf der Grundlage eines ‚moralischen‘ Denkens entwickelt wurde, sowohl als ‚Lebensverneinung‘ als auch als Ausdruck des Prinzips des Lebens selbst.
Moralphilosophie als ‚Genealogie‘ der Moral Nietzsche bezeichnete sich selbst als einen ‚Immoralisten‘. Damit wollte er nicht zum Ausdruck bringen, er lebe ‚unmoralisch‘ oder fordere ein solches Verhalten von anderen Menschen. Sein Ziel war es vielmehr, den gesamten Denkzusammenhang, den eine Moralphilosophie voraussetzt, zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung zu machen. Eine solche Kritik sollte die Herkunft des moralischen Denkens selbst untersuchen, seine ‚Genesis‘. Deshalb stellt sich Nietzsches Moralkritik als eine Philosophie dar, die den fundamentalen Unterschied am Ursprung der Moral analysiert, nämlich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, also zwischen dem, was wir in einem moralischen Sinne im Verhalten, in den Neigungen und im Leben ‚richtig‘ und was wir im gleichen Sinne ‚falsch‘ nennen. Es sind nicht einzelne moralische Urteile, die Nietzsche ins Zentrum seiner Kritik stellt, sondern es geht um die Herkunft dieser Unterscheidung selbst, wie sie jede Moralphilosophie und Moralbegründung als zumindest sinnvoll unterstellen muss, bevor sie ihre eigenen Kriterien dafür ausarbeiten kann, wie diese Unterscheidung näher bestimmt werden kann. Wenn Nietzsche schließlich von der Philosophie verlangen wird, sie möge sich ‚jenseits von Gut und Böse‘ stellen, so fordert er damit nicht, sie möge unmoralische Forderungen aufstellen. Er behauptet auch nicht, der einzelne Mensch sei dann ‚besser‘, wenn er nicht mehr fragt, was im Handeln und im Leben gut und was böse ist. Die Position ‚jenseits von Gut und Böse‘ 161
7. Das Gute und der Schein
soll vielmehr eingenommen werden, um eine solche Distanz zu dieser Unterscheidung einnehmen zu können, aus der sie als solche untersucht und analysiert werden kann. Damit wird behauptet, am Anfang der Moralphilosophie könne nicht einfach die Voraussetzung gemacht werden, diese Unterscheidung sei so ‚natürlich‘, dass sie überhaupt nicht in Frage gestellt werden kann. ‚Jenseits von Gut und Böse‘ heißt bei Nietzsche zunächst nur, dass ein philosophischer Zugang zur Frage der Moral gesucht werden soll, der die fundamentale Unterscheidung in Gut und Böse nicht schon voraussetzt, sondern selbst und ausdrücklich zum Thema macht. Nietzsches Vorgehen besteht dabei grundsätzlich darin, vor allem eine bestimmte Moral auf ihre ‚psychologischen‘ Ursprünge hin zu analysieren, nämlich die christliche Auffassung von Gut und Böse. Deren Begriffe stellen nach Nietzsche eine ‚Umdeutung‘ der zuvor vorhandenen Kriterien für diese Unterscheidung dar, und aus dieser ‚Umdeutung‘ lässt sich die ursprüngliche Funktion der moralischen Fundamentalunterscheidung in Gut und Böse selbst herausfinden. Ein solcher Zugang zum Problem der Moral setzt voraus, dass der Moralphilosoph das moralische Urteil – unabhängig davon, nach welchen Kriterien es gefällt wird – zumindest versuchsweise ‚suspendiert‘ und es als eine ‚Illusion‘ auffasst, so dass es nicht von vornherein mit dem Anspruch auf Gültigkeit auftreten kann. Er kann also nicht davon ausgehen, dass es moralische Tatsachen gibt, die unbezweifelbar als Ausgangspunkte seiner Untersuchung gelten, sondern er muss zumindest für analytische Zwecke unterstellen, dass es sich dabei möglicherweise um einen Irrtum handelt. Nietzsches Strategie ist es grundsätzlich, die fundamentale Unterscheidung zwischen Gut und Böse als Reaktion auf eine frühere Unterscheidung zwischen anderen Begriffen zurückzuführen. Historisch ist die erstere Unterscheidung mit dem Christentum in die Welt gekommen. Nietzsche will damit nicht behaupten, dass erst mit dem Christentum die Fundamentalunterscheidung zwischen Gut und Böse eingeführt wurde. Wir haben gesehen, dass der Begriff des ‚Guten‘ bei Platon entstanden ist, bei dem ‚gut‘ etwas nur genannt werden kann, weil es an der Idee ‚des Guten‘ teilhat. Aber für Nietzsche hat das Christentum zu einer grundsätzlichen Umwertung im Begriff des Guten geführt, mit dem er erst seine volle moralphilosophische Bedeutung gewinnen konnte. Die Reaktion, die im Begriff des Guten im Sinne einer Antwort auf eine ursprünglichere Unterscheidung enthalten ist, kam im Christentum zu ihrer vollen Entfaltung. Diese Reaktion beruhte auf einer bestimmten Motivation, die Nietzsche grundsätzlich darin sah, dass die moralische Wertung, die von ‚gut‘ und ‚böse‘ spricht, auf die Auflehnung gegen bestimmte Lebensbedingungen zu162
7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche)
rückgeht. Diese Lebensbedingungen verschafften einem großen Teil der Menschen einen niedrigen sozialen und ökonomischen Status. Aus diesen Schichten stammt deshalb die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, weil sie zwei Funktionen erfüllen konnte. Zum einen konnten die sozial und ökonomisch schlechter gestellten Schichten damit ihren Status erhöhen, indem sie sich zumindest eine moralische Überlegenheit gegenüber den Stärkeren und Mächtigeren zuschreiben konnten. Damit war es leichter zu ertragen, im sozialen Leben weniger zu gelten und in der materiellen Welt schwächer zu sein. Zum anderen konnten die moralischen Urteile auch dazu beitragen, den sozialen und ökonomischen Status in der Wirklichkeit zu verbessern. Man konnte den Stärkeren nun entgegenhalten, dass sie unrecht tun, wenn sie ihre Stärke in ökonomische Vorteile umsetzen und die Schwächeren in ihrer benachteiligten Lage lassen. Gleichzeitig konnte das Bewusstsein einer moralischen Überlegenheit den Schwächeren die Kraft geben, ihr Los zu ändern und selbst nach Stärke zu streben. Die frühere Unterscheidung, gegen die sich die moralische Grundunterscheidung zwischen Gut und Böse stellt, war demnach die Unterscheidung zwischen ‚stark‘ und ‚schwach‘, zwischen ‚vornehm‘ im Sinne der sozial und ökonomisch Höhergestellten und ‚schlecht‘ im Sinne einer Bezeichnung für die sozial und ökonomisch Schlechtergestellten. Die Lebensbedingungen, unter denen sich die moralische Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ an die Stelle der älteren Unterscheidung zwischen ‚stark‘ und ‚schwach‘ setzen konnte, waren aber die Lebensbedingungen einer bestimmten Zeit und einer bestimmten historischen Situation. Daraus folgert Nietzsche, dass auch die auf dieser Grundlage entstandene moralische Unterscheidung nicht absolut gelten kann, sondern nur relativ zu eben dieser historischen Situation. Wird sie absolut gesetzt, so findet eine Missdeutung statt, die eine aus einer bestimmten historischen Situation entstandene Unterscheidung als eine in allen Situationen gültige Rangfolge erscheinen lässt, die sie in Wahrheit keineswegs ist. Die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist also gleichzeitig mit einer bestimmten Moral in die Welt gekommen, die Nietzsche als ‚platonisch-christlich‘ bezeichnet. Sie ist ‚christlich‘, weil sie als Rechtfertigung der Schwächeren gegen die Stärkeren entstanden ist und der Schwäche eine moralische Würde verleiht, die gegen die Stärke gekehrt werden kann. Sie ist aber auch platonisch, weil sie vom Wechsel der historischen und sozialen Verhältnisse absieht und eine übergeschichtliche Wahrheit jenseits aller sozialen Verschiedenheiten beansprucht. Sie wendet sich gegen das Werden, dem Platon aus erkenntniskritischen Gründen einen niedrigeren Rang als dem dauerhaft Bleibenden und Unveränderlichen zugesprochen 163
7. Das Gute und der Schein
hatte. Die platonisch-christliche Moral beansprucht also, allen Menschen ungeachtet der besonderen geschichtlichen Verhältnisse allgemein und verbindlich vorschreiben zu können, was als ‚gut‘ und was als ‚böse‘ bezeichnet werden soll. Nietzsches ‚Genealogie‘ der Moral als Aufklärung ihrer Genesis ist deshalb ebenso anti-platonisch, wie sie anti-christlich ist.
Die moralische Unterscheidung als Umwertung und Entwertung Die platonisch-christliche Moral mit ihrem Anspruch auf feste und historisch unwandelbare Unterscheidungen zwischen Gut und Böse stellt eine Moral dar, die sich gegen eine Wertung von Handlungen und Lebensformen wandte, die Nietzsche als ‚vornehm‘ bezeichnet. Nietzsche nennt diese Wertungsweise ‚Herren-Moral‘ und setzt ihr die platonisch-christliche Umwertung als ‚Sklaven-Moral‘ entgegen. Dabei soll es sich allerdings nicht um eine bestimmte historische Konstellation handeln. Dieser Unterschied ist vielmehr der zwischen einer Bejahung der Wirklichkeit des eigenen Lebens, das als grundsätzlich wertvoll angesehen wird, und einer Verneinung dieser Wirklichkeit, die so als negativ und wertlos erscheint. Auf dieser Grundlage entsteht der Unterschied zwischen einer Moral der Bejahung und einer Moral der Verneinung des Lebens. Die erstere, ‚vornehme‘ Moral will Werte setzen aus dem Willen zur Rangordnung auf der Grundlage von Kraft und Stärke. Eine solche Wertsetzung tendiert zu einer schöpferischen und aneignenden Sprache, die den Dingen und Geschehnissen solche wertenden Begriffe aufprägt, die ihrer eigenen lebensbejahenden Stärke entsprechen. Sie geht also letztlich auf den Willen zur Macht zurück, der bejaht, was er will, und dem, was er will, die entsprechenden Werte zuschreibt. In der platonisch-christlichen Moral dagegen findet eine Umwertung statt, in der ‚böse‘ zum Grundbegriff wird. Nietzsche nennt diese Moral deshalb eine ‚Moral des Ressentiments‘. Der Ausgangspunkt dieser Moral ist also nicht eine Bejahung, sondern eine Verneinung. Dies bezieht sich nicht nur auf die zugrunde liegende Lebenshaltung, sondern dies drückt sich auch in der fundamentalen Relation zwischen den Begriffen aus. Den Grundbegriff des Systems der platonisch-christlichen Moral stellt der Ausdruck ‚böse‘ dar, so wie der Grundbegriff in der ‚vornehmen‘ Moral der Ausdruck ‚gut‘ ist. Erst mit der platonisch-christlichen Moral kommt deshalb eigentlich die uns heute selbstverständliche Fundamentalunterscheidung zwischen Gut und Böse auf, und dies geschieht nicht vom Guten her, sondern der Ausgangspunkt ist hier das Böse. Diese Moral entsteht unter der Perspektive der Verneinung, also einem ‚Nein-sagen‘ zu einem Anderen und 164
7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche)
einem Außerhalb. Die Perspektive der Verneinung richtet sich gegen das ‚Gute‘ der ‚vornehmen Moral‘. Die Moral von Gut und Böse ist wegen dieser verneinenden Perspektive in erster Linie eine Moral des ‚Bösen‘. Diese Moral erscheint Nietzsche als etwas grundsätzlich ‚Widernatürliches‘ und als ein Niedergang. Der Grund dafür ist, dass es sich nicht um eine ursprünglich schöpferische und spontane Wertsetzung handelt, sondern nur um eine Moral des ‚Widerstandes‘ und der ‚Reaktion‘. Es wird nicht eine neue Perspektive geschaffen, sondern die herrschende Perspektive wird nur ‚umgekehrt‘. Darin zeigt sich die Unselbständigkeit und Passivität dieser neuen Perspektive, die zum ersten Mal in der Geschichte die Unterscheidung von Gut und Böse einführt und an die Stelle der älteren Unterscheidung von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ setzt. Diese Einführung geschieht nicht unter dem Zeichen des Guten, sondern aus der Perspektive der Verurteilung des Stärkeren und Mächtigen als des ‚Bösen‘. Die neue Moral entsteht aus einer ‚Hemmung‘ bzw. einem ‚Gehemmtsein‘, das die schöpferische und eigenständige Wertsetzung ausschließt und nur die Reaktion auf die zuvor schon gesetzten Werte zulässt. Sie ist also auch das Ergebnis einer Umkehrung des Tätigseins, das aus der selbstgewissen Kraft entspringt und aus eigener Macht und Stärke Werte setzt. In der bloßen Verneinung bleibt sie abhängig und damit ohnmächtig. Dieser Status als Verneinung und bloße Reaktion ohne eigenständige schöpferische Kraft realisiert sich dann auch in den moralischen Regeln. In ihnen drückt sich die Verurteilung der Fülle der Kraft und der starken Naturen aus. Am Anfang der platonisch-christlichen Moral und damit am Anfang der Unterscheidung zwischen Gut und Böse setzt sich damit eine ‚Moral des Ressentiments‘ durch. Darin wird das Ressentiment selbst schöpferisch und schafft Werte. Diese Werte sind jedoch aus der Verneinung entstanden und tragen ihre Herkunft aus dem Gehemmtsein und der bloßen Reaktion in sich. Nietzsche spricht deshalb vom ‚Sklavenaufstand in der Moral‘, in dem die ‚Sklaven‘ sich zwar vordergründig zu ‚Herren‘ machen, aber doch von ihren früheren Herren insofern abhängig bleiben, als sie nicht über die bloße Verneinung hinaus kommen. Um einen ‚Sklavenaufstand‘ handelt es sich also deshalb, weil die Sklaven darin im Grunde Sklaven bleiben, d. h. abhängig von den Wertungen, die zuvor von ihren einstigen Herren vorgenommen worden waren und die sie nur verneinen, nicht aber eigenständig durch neue und selbst geschaffene Werte ersetzen können. Weil am Anfang der Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Verneinung und ein Gehemmtsein stehen, deshalb bleibt diese moralische Fundamentalunterscheidung an ihre Herkunft aus einer ‚Unterwerfung‘ unter ursprünglichere Wertsetzungen gebunden. Sie bleibt auch geprägt durch 165
7. Das Gute und der Schein
eine Unfreiheit, in der sich die Unfähigkeit zum Schaffen und starken Tätigsein darstellt. Vor allem aber erhält sich in dieser Unterscheidung aufgrund ihres Ursprungs der Mangel an Spontaneität und Kreativität. Auf dieser Grundlage ergibt sich eine starke Tendenz zum Stillstand und zur bloßen Erhaltung des Bestehenden. Dies zeigt sich zunächst darin, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr in Frage gestellt werden kann und als Grundlage der künftigen Moral und Moralphilosophie festgesetzt wird. Es zeigt sich aber vor allem in einer grundsätzlichen Ablehnung des Prinzips des Schaffens und Werdens. Am Anfang der Unterscheidung zwischen Gut und Böse steht Nietzsche zufolge also eine Hochschätzung des Stillstands. Damit sind Entwicklungen innerhalb der Moralphilosophie nicht ausgeschlossen, aber es handelt sich stets um Verwandlungen des Gleichen, nicht um ein wirklich schöpferisches und kreatives Neuschaffen von Werten. Der passive und konservierende Charakter der platonisch-christlichen Moral drückt letztlich eine ‚Ohnmacht des Willens zum Schaffen‘ aus. Damit wendet sich Nietzsches Moralkritik gerade von ihrer Auffassung über den Ursprung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse her gegen die platonische Lehre von den Ideen. Die Bedeutung der moralischen Fundamentalunterscheidung zwischen Gut und Böse beschränkt sich jedoch nicht auf die Idee des Guten, sondern sie betrifft auch die Vorstellung von der ‚Idee‘ überhaupt. Hier weitet sich Nietzsches Moralkritik zu einer Kritik der Erkenntnis, weil die Vorstellung von Erkenntnis, wie sie im Anschluss an Platon im Abendland verstanden wurde, fundamental moralisch geprägt ist. Die Erkenntnis, die auf der Grundlage der ‚Moral des Ressentiments‘ entstehen konnte, ist vor allem durch ihre Wendung gegen das Werden charakterisiert. Platon hatte alles, zu dem Werden und Vergehen gehört, als nicht erkenntnisfähig aus dem Bereich des wirklichen Wissens ausgeschlossen. Erkennbar waren danach nur die Ideen als die unwandelbaren Urbilder der Wirklichkeit. Alles das, was wir in der wirklichen Welt vorfinden, schien ihm deshalb nur so weit erkennbar, als es an den Ideen teilhaben konnte. Nietzsche sieht darin ein fundamental moralisches Vorurteil. Es ist ein Vorurteil, das sich die Schwachen bilden, die das Wachsen und die Veränderung nicht ertragen können. Es ist auch ein Vorurteil der passiven Menschen, die keinen Willen zum Schaffen besitzen und sich deshalb auf das Nachahmen beschränken wollen. Platons ‚Erfindung‘ eines ‚Guten an sich‘ kann Nietzsche also zusammendenken mit Platons ‚Erfindung‘ des ‚reinen Geistes‘, der in der Lage ist, Ideen zu schauen und vom Werden und Vergehen des Lebens abzusehen. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche von Schwachen, ihre Schwäche 166
7.1 Die menschliche Erfindung des Guten (Nietzsche)
durch ‚Erfindungen‘ zu kompensieren, die sich gegen die Starken wenden. Im Falle der Moral sind es die ökonomisch und sozial Schwachen, die in moralischen Regeln ein neues Selbstwertgefühl finden und sich mit Hilfe des moralischen Bewusstseins kritisch gegen die Starken wenden können. Im Falle der Erkenntnis sind es die Menschen, die nicht stark genug sind, um das Werden und Vergehen der Welt und des Lebens zu ertragen, und die deshalb unveränderliche Wahrheiten erfinden, in denen sie Trost gegen den Fluss des Lebens finden.
Die Moral und der Wille zur Macht Wir haben bisher Nietzsches Moralphilosophie in erster Linie aus der Perspektive der Kritik an der platonisch-christlichen Umwertung dargestellt, die Nietzsche zufolge am Ursprung der Unterscheidung von Gut und Böse stand. Es gibt jedoch noch eine andere Perspektive, die Nietzsche auch vertritt und die der ersteren nicht widerspricht, obwohl es zunächst so aussehen könnte. Die Erfindung der Unterscheidung von Gut und Böse und damit die Erfindung der Moral zusammen mit der Erfindung der Konzeption einer unvergänglichen Erkenntnis, die nicht dem Werden und Vergehen unterworfen ist, ist nicht nur das Ergebnis von Schwäche und des Ressentiments gegen die Stärkeren. Diese Erfindungen sind selbst auch aus Stärke und einem Willen zur Herrschaft entstanden. Man könnte den scheinbaren Widerspruch schon an dieser Stelle so auflösen. Eine Erfindung, die das gesamte Denken in Bezug auf das Gute und in Bezug auf das Wahre revolutionieren sollte, und die sich gegen alles wandte, das bis dahin selbstverständlich in Geltung war, kann nicht nur aus Schwäche entstanden sein. Sie konnte nur ein neues Denken in Gang setzen, weil sich darin eine epochale Stärke zeigte und ein Wille, der in der Lage war, gegen alle Traditionen neu anzufangen. Die Schwäche dieses Denkens dagegen lag in der verneinenden Fixierung auf das Herkömmliche, d. h. in seiner Unfreiheit, sich vom ‚Ressentiment‘ zu befreien und damit den eigenen Willen und die eigene Stärke ohne Hemmung durch das schon Bestehende durchzusetzen. Die platonisch-christliche Moral ebenso wie die platonische Vorstellung von einer aller Veränderung entzogenen Wahrheit waren zu ihrer Zeit schöpferische Leistungen eines starken Geistes, der in der Lage war, sich gegen das Bestehende zu wenden und neue Grundbegriffe für die Moral und die Erkenntnis zu erfinden. Er war nur zu schwach, sich von dem ‚gegen‘ zu lösen, d. h. er blieb in der Verneinung stehen und konnte sich deshalb nicht in seiner Freiheit verwirklichen. 167
7. Das Gute und der Schein
Trotz der kritischen Wendung gegen die platonisch-christliche Moral und ihre Erfindung der moralischen Grundunterscheidung zwischen Gut und Böse kann Nietzsche also auch dieser Moral ihre Herkunft aus einem ‚Willen zur Macht‘ nicht absprechen. Damit zeigt sich eine zweite wichtige gedankliche Linie in Nietzsches Kritik der Moral und der Moralphilosophie und zuvor schon der moralischen Fundamentalunterscheidung in Gut und Böse. Die platonisch-christliche Moral ist nicht nur eine Moral des ‚Ressentiments‘, sondern sie ist auch ein Denken, das sich selbst nicht versteht, das sich selbst missdeutet und sich selbst als etwas anderes ausgibt als das, was es in seinem Wesen ist. Am Anfang der Unterscheidung in Gut und Böse steht damit ein Denken, das sich selbst nicht erkennen will. Nietzsche sieht darin den ‚Willen zur Macht‘, der sich als solcher nicht zu erkennen geben will. Die zweite Linie in Nietzsches Kritik der Moral bezieht sich also darauf, dass sie in Wahrheit ein verkleideter Wille zur Macht ist. Nietzsches Untersuchung über die Genesis der Moral in einer ‚Genealogie‘ erkundet also nicht nur ihre Herkunft und damit die der Unterscheidung in Gut und Böse. Sie will auch eine entlarvende Aufdeckung des eigentlichen Geschehens in der Entwicklung der Moral sein, nämlich des Machtwillens, über den sich die Moral selbst täuscht und über den die ‚Moralisten‘ – also auch die Moralphilosophen – alle täuschen wollen. Nach Nietzsche geht es in der Moral letztlich stets darum, dass ein weniger mächtiger Willen zur Macht durch einen stärkeren Willen zur Macht überwältigt wird. Hat sich eine Moral durchgesetzt und folgen in einer Epoche die meisten Menschen ihren Regeln, so ist damit nicht erwiesen, dass sie die ‚bessere‘ und vernünftiger begründete Moral darstellt. Erwiesen ist nur, dass sie einen stärkeren Willen zur Macht repräsentiert, der sich gegen einen anderen Willen durchsetzen konnte, unabhängig davon, wie gut begründet die Moral dieses Willens gewesen sein mag. Mit dem Begriff des ‚Willens zur Macht‘ wird einer der bekanntesten Gedanken Nietzsches zum Zentrum der Moralkritik. Nietzsche fand zu diesem Gedanken über das Prinzip der Selbsterhaltung des Lebens, das er zunächst als eine Grundkraft des Denkens, der Moral und aller Geschichte aufgefasst hatte. Der ‚Wille zum Dasein‘ bzw. zum Leben – also das Streben nach Selbsterhaltung – erschien ihm dann jedoch als ein zu statisches Prinzip, das nicht zur Entwicklung und zur Um- und Neuwertung führt. Es ist nur ein Prinzip der Erhaltung und enthält nicht das Streben, über sich selbst hinaus zu gelangen. Vor allem aber setzt der Gedanke eines ‚Willens zum Leben‘ oder zum Dasein ein bestimmtes Ziel für den Willen voraus. Dieses Ziel ist das Dasein des Individuums bzw. der Gattung. Der Wille zum Leben bzw. zum Dasein weiß also schon immer ganz genau, was er will. Man 168
7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik)
könnte deshalb auch sagen: er führt nur ein vorgegebenes Schema aus, das wir uns z. B. als genetisch angelegt bzw. als in der Evolution entstanden vorstellen können. Ein solcher Wille würde sich also stets in den Grenzen dessen bewegen, was wir als Wirklichkeit definieren. Am Ursprung der moralischen Fundamentalunterscheidung von Gut und Böse und aller daraus entwickelten Moral steht nach Nietzsche jedoch nicht eine solche Orientierung an dem, was gerade als Wirklichkeit gilt. Wäre es anders, so könnten solche grundlegenden Wandlungen in der Auffassung der Wirklichkeit nicht geschehen, wie sie bei Platon in der Erfindung des Guten als einer an sich geltenden Idee und in der Erfindung der Erkenntnis von unveränderlich geltenden Wahrheiten gelangen. Solche Erfindungen setzen einen Willen voraus, der sich nicht an feststehenden Begriffen von Wirklichkeit hält, sondern der über die Wirklichkeit hinaus auf Möglichkeiten abzielt, die noch nicht zur Wirklichkeit geworden sind. Dieser Wille hält sich nicht an die Wirklichkeit, sondern will über die Wirklichkeit hinaus, man könnte auch sagen: er will neue Wirklichkeiten schaffen, die bisher noch unbekannt waren und die deshalb nicht als Leitlinien eines solchen Wollens dienen können. Ein solcher Wille strebt also nicht nach der Verwirklichung dessen, was es schon gibt, sondern nach der Erschaffung dessen, was es noch nicht gibt.
7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik) Ethik und ‚evolutionäre Ethik‘ Wie Nietzsches Kritik der Moral, so unterscheiden sich auch die vor allem aus der Soziobiologie stammenden Ansätze zu einer ‚evolutionären Ethik‘ von den zuvor dargestellten Gedankengängen in einem wesentlichen Punkt. So verschieden sich diese Positionen auch darstellten, sie waren sich doch darin einig, dass ein Philosophieren über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nur in einem einheitlichen Gedankengang mit der Ausarbeitung von allgemein gültigen Vorschriften über das richtige Handeln und das gute Leben Sinn haben kann. Solche Vorschriften mochten sehr allgemein bleiben, so dass sie für die Bestimmung dessen, was wir als ‚gut‘ bezeichnen, im Einzelfall nur schwer verwendet werden können. Der Anspruch war jedoch stets, Normen anzugeben, die zu Kriterien für das richtige Handeln und das gute Leben werden können. In den meisten Fällen wurde vom Guten und Bösen überhaupt nur deshalb gehandelt, weil nach solchen Normen gesucht 169
7. Das Gute und der Schein
wurde, die uns im täglichen Leben und insbesondere bei Entscheidungen mit schwerwiegenden Folgen für uns selbst und für andere Menschen eine Anleitung geben, wie Entscheidungen so getroffen werden, dass wir sie als ‚gut‘ bezeichnen können. Mit ihrem ganz anderen Anspruch scheint sich die evolutionäre Ethik zunächst an Nietzsche anschließen zu lassen. Dies wäre jedoch nur dann möglich, wenn wir darauf verzichten, Nietzsches Position in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Wir haben oben versucht, den Zusammenhang seiner Deutung des Ursprungs der Unterscheidung zwischen Gut und Böse mit seiner Auffassung des Status des abendländischen Erkennens als ‚Metaphysik‘ zu verdeutlichen. Der Begriff der ‚Metaphysik‘ schließt in diesem Sinn alle Wissenschaften ein. Gemeint ist grundsätzlich der Anspruch, ein mit der Welt, wie sie an sich ist, übereinstimmendes Wissen finden zu können, ein Wissen also, das sich an seine Gegenstände ‚anpasst‘ und die Welt wie in einem Spiegel wiedergibt. Die evolutionäre Ethik beruft sich genau auf ein solches Wissen aus speziellen Gebieten der Naturwissenschaften, wenn sie uns ein neues Verständnis der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen anbietet. Eine solche Grundlage kam für Nietzsche dagegen gerade deshalb nicht in Frage, weil er sie selbst als in einem fundamentalen Sinne ‚moralisch‘ geprägt ansah. Wir sollten deshalb scharf zwischen diesen beiden Positionen unterscheiden, auch wenn der Anspruch bis zu einem gewissen Grad verwandt erscheint. Auch die ‚evolutionäre Ethik‘ will uns zunächst nur erklären, wie und warum in der Entwicklung der Gattung Mensch eine Orientierung des Handelns und Lebens an moralischen Normen und damit an der Unterscheidung zwischen Gut und Böse entstehen konnte. Sie will uns also nicht sagen, was wir tun und lassen sollen und wie wir ein gutes Leben führen können. Sie will vielmehr die Funktion angeben, die der Frage nach dem, was wir sollen, in der Entwicklung der Gattung zukam und zukommt. Diese Funktionsbestimmung soll als Erklärung für das Vorkommen der ethischen Grundunterscheidung zwischen Gut und Böse und als Erklärung für das Vorkommen von moralischen Regeln und Grundsätzen dienen können. Die Erkenntnisabsicht der ‚evolutionären Ethik‘ ist also primär nicht ‚normativ‘, sondern ‚erklärend‘, d. h. sie will uns sagen, was ‚ist‘, nicht was sein soll. Von dem, was ist, kann man aber nicht auf das schließen, was sein soll, will man nicht einen sog. ‚naturalistischen Fehlschluss‘ begehen, d. h. vom Sosein darauf schließen, dass etwas auch so sein soll. Man könnte darauf hinweisen, dass die evolutionäre Ethik es mit einem ganz anderen Thema zu tun hat als die Ethik, die normativ den Unterschied zwischen Gut und Böse zu bestimmen sucht. Es ist nicht der gleiche Gegen170
7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik)
stand, der von diesen Gedankenzusammenhängen untersucht wird. Zwar geht es in beiden Fällen um den Unterschied zwischen Gut und Böse. Aber durch die verschiedenen Perspektiven werden zwei verschiedene Gegenstände daraus. Die evolutionäre Ethik fasst jenen Unterschied als gegeben auf und will ihn erklären, indem sie ihn aus dem zentralen Gedanken der Evolutionstheorie ableitet. Ihre Erkenntnis ist dann von der Struktur aller wissenschaftlichen Erklärungen, die etwas Gegebenes erklären, indem sie es als Fall eines allgemeinen Gesetzes verstehen. Damit wird deutlich, auf welche Frage diese ‚Ethik‘ antwortet. Sie beantwortet nicht die Frage ‚Was sollen wir tun und lassen?‘ bzw. die Frage ‚Wie sollen wir leben, damit wir ein gutes Leben führen?‘. Sie beantwortet vielmehr die Frage ‚Warum stellen wir solche Fragen?‘ bzw. ‚Warum orientieren wir unser Tun und Lassen und unser Leben an ethischen Forderungen?‘. Wenn es in der Ethik und in der ‚evolutionären Ethik‘ um zwei ganz verschiedene Fragen geht, so könnte man die These bestätigt sehen, dass hier zwei ganz verschiedene Themen und Gegenstände verhandelt werden, so dass die Bezeichnung ‚Ethik‘ für die ‚evolutionäre Ethik‘ eigentlich irreführend ist. Aber in diesem Buch werden die verschiedenen Auskünfte über das, was wir tun und lassen sollen, unter der Perspektive ihres Beitrags zum Geist des Westens untersucht. Deshalb kann die ‚evolutionäre Ethik‘ ebenso wenig unberücksichtigt bleiben, wie dies bei Nietzsches Fundamentalkritik an der Moral der Fall war. Auch hier wird die ethische Fundamentalunterscheidung zwischen Gut und Böse, die allen Entwürfen der Moralphilosophie zugrunde liegt, zum Thema gemacht, und dies so, dass sie als solche fraglich wird. Die Fraglichkeit dieser Unterscheidung selbst gehört in den westlichen Geist, der in der Auseinandersetzung mit dieser Unterscheidung in einer langen Geschichte so geworden ist, wie er heute die abendländische Welt prägt. Deshalb kann eine Position, die eben diese Unterscheidung erklären und uns eine Antwort auf die Frage ‚Warum?‘ geben will, nicht übergangen werden. Es handelt sich um das Modell einer wichtigen Art und Weise, wie wir mit dieser Unterscheidung umgehen und sie uns verständlich machen können. Die normativen Positionen erklären diese Unterscheidung nicht, indem sie sie auf allgemeine Gesetze zurückführen, so dass sie als Fall dieser Gesetze verständlich werden kann. Ihr Umgang mit dieser Unterscheidung besteht darin, dass sie ihre Struktur angeben, man könnte auch sagen: sie beschreiben sie ‚von innen heraus‘, während die ‚evolutionäre Ethik‘ sie ‚von außen‘ zu erklären versucht. ‚Von innen heraus‘ heißt hier, dass die normativen Positionen uns darüber aufklären wollen, wie wir wissen können, worin das richtige Tun und Lassen und das gute Leben besteht. Wenn wir darüber 171
7. Das Gute und der Schein
Bescheid wissen, so haben wir auch den Unterschied zwischen Gut und Böse verstanden. Es geht also letztlich um zwei verschiedene Formen des Wissens, die uns beide darüber aufklären wollen, was es mit Gut und Böse auf sich hat. Man könnte die Herausforderung der normativen durch die ‚evolutionäre Ethik‘ also auch so beschreiben: die letztere versucht nicht nur den Unterschied zwischen Gut und Böse funktional zu erklären, sondern auch die Bemühungen um ein Wissen um das, was gut und was böse ist, aus ihrer Funktion für etwas anderes abzuleiten und von dieser Funktion her zu verstehen. Die Herausforderung der ‚evolutionären Ethik‘ liegt also letztlich darin, dass sie die normativen Positionen selbst erklären zu können beansprucht. Sie versucht nicht, die einzelnen Begründungen für Normen des Handelns und des Lebens zu erklären, aber sie behauptet, das ganze Unternehmen der Suche nach und der Ausarbeitung von solchen Normen durch die Funktion von Normen als solcher verstanden zu haben.
Die Bedeutung von Vernunft und Freiheit Nach den zentralen Behauptungen der ‚evolutionären Ethik‘ beruht die menschliche Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Handlungen auf solchen Verhaltensdispositionen, die im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte – der Phylogenese – erworben und in einem Prozess von Variation (Mutation) und Selektion genetisch verankert wurden. Alles, was wir unter dem Titel Moral kennen, stellt demnach eine Anpassungsleistung dar, die funktional erklärbar ist und im Verlaufe der Evolution erworben wurde, weil sie erfolgreicher war als andere Verhaltensdispositionen. Überlebt haben im Prozess der Evolution diejenigen Populationen, deren Mitglieder dazu neigten, sich moralisch zu verhalten, d. h. die ihr Verhalten unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse steuerten. Dieser Selektionsvorteil hat zu moralischen Dispositionen in uns geführt, die mittlerweile genetisch verankert und damit angeboren sind. Es gibt also ein sog. ‚ontogenetisches Moral-Apriori‘, das eigentlich ein ‚phylogenetisches Aposteriori‘ ist. Die im Individuum der menschlichen Gattung vor aller Erfahrung und Erziehung vorhandenen moralischen Vorstellungen sind dann, wenn wir den Blick auf die Stammesgeschichte richten, eigentlich ein Erfahrungsprodukt. Sie sind das Ergebnis eines langen Prozesses der Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der diejenigen Populationen einen Selektionsvorteil hatten, deren Individuen sich moralisch verhielten. Genau diese Populationen konnten sich deshalb fortpflanzen 172
7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik)
und das Erbgut weitergeben, das eine Disposition zu moralischem Verhalten enthielt. Die angeborenen moralischen Dispositionen verdanken sich also dem Erfolg eines moralischen Verhaltens im Überlebenskampf der Gattung. Sie sind aber nicht durch vernünftige Überlegung zu begründen, sondern stellen eine empirisch ausweisbare biologische Tatsache dar. Ein bedeutender Theoriestrang innerhalb der ‚evolutionären Ethik‘ fasst die Unterscheidung zwischen Gut und Böse etwa als eine wichtige Möglichkeit auf, zu evolutionär erfolgreichen Entscheidungen zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu kommen. Der Selektionsvorteil moralischer Urteile liegt danach vor allem darin, dass Lebewesen, die zu solchen Urteilen fähig sind, sich effektiver und erfolgreicher entscheiden können. Man kann hier etwa daran denken, dass mit Hilfe moralischer Urteile dem Handelnden die Verantwortung für die Folgen seines Tuns zugeschrieben wird. Die anderen Mitglieder der sozialen Gruppe können deshalb von ihm verlangen, die zukünftigen Folgen seines Handelns zu berücksichtigen, und sie können negative Sanktionen verhängen, wenn er die Zukunft nicht berücksichtigt hat. Dies kann in der Evolution zu einer höher entwickelten Fähigkeit sozialer Gruppen führen, sich in einer Umwelt zu behaupten, die Planung und damit ein auf die Zukunft gerichtetes Verhalten verlangt. Eine solche Notwendigkeit begann im Grunde schon in der neolithischen Revolution, d. h. im Übergang von den Jäger- und Sammlerkulturen zu landwirtschaftlichen Kulturen. Solche Entscheidungsleistungen verlangen in bestimmten Situationen eine Flexibilität der Moral, die von Theorien nicht geleistet werden kann, die von unveränderlichen moralischen Prinzipien ausgehen. Hier wendet sich die ‚evolutionäre Ethik‘ unter dem Vorzeichen einer flexiblen Entscheidungsorientierung direkt gegen bestimmte ethische Konzeptionen und beansprucht die Fähigkeit zur Auswahl unter verschiedenen Ethiken. Das Kriterium ist dabei die Eignung einer moralischen Konzeption für Entscheidungsleistungen, die für den Menschen nicht mehr durch seine Instinktausstattung möglich sind, sondern eine kompliziertere Strategie erfordern, die gerade von einer moralischen Handlungsorientierung zur Verfügung gestellt werden kann. Der Unterscheidung zwischen einem richtigen und einem falschen Handeln und zwischen einem guten und einem schlechten Leben wird damit die Funktion zugeschrieben, zu einer besonders effektiven Entscheidungsleistung in Konfliktsituationen zwischen verschiedenen Möglichkeiten beitragen zu können. Damit ist nicht gesagt, dass der vernünftigen Überlegung überhaupt keine Funktion mehr zukommen muss oder gar darf. In ihrer Bestimmung gibt es jedoch auch bei den Vertretern der ‚evolutionären Ethik‘ sehr ver173
7. Das Gute und der Schein
schiedene Auffassungen. Die wichtigste Unterscheidung ergibt sich daraus, ob die ‚evolutionäre Ethik‘ als eine ausschließlich biologische Theorie angesehen wird. In diesem Fall wird zwar eine biologische Basis moralischer Vorstellungen angenommen, aber es wird darin nicht eine Ethik mit Sollensforderungen gesehen. Im anderen Fall werden aus den biologischen Theorien selbst ethische Forderungen abgeleitet. Hier werden die in der Evolution ausgebildeten Determinanten des menschlichen Verhaltens gleichzeitig als Sollenswerte aufgefasst. Sie müssen deshalb von jeder vernünftigen Erwägung über das richtige Handeln und das gute Leben als Grundlagen für die eigenen Überlegungen herangezogen werden. Die genetischen Dispositionen stellen nach dieser Auffassung die durch die Natur selbst vorgegebene apriorische Moral dar, so dass die praktische Philosophie nur noch innerhalb dieser Grenzen nach vernünftigen Begründungen für das Gute und das Böse suchen darf. Wird die ‚evolutionäre Ethik‘ jedoch als eine ausschließlich biologische Theorie aufgefasst, so lässt sie Raum für eine Ethik auf der Grundlage vernünftiger Erwägungen und praktischen Denkens. Nach dieser Position gibt es zwar eine ‚Moral der Gene‘ als in der Evolution ausgebildeter moralischer Verhaltensdispositionen. Nichts zwingt uns jedoch dazu, sie als die Maßstäbe anzuerkennen, denen unsere vernünftigen Überlegungen über das, was wir tun und lassen sollen, folgen müssen. Es kann auf dieser Grundlage also durchaus auch eine ‚Ethik gegen die Gene‘ geben, also eine Ethik, die sich aus Gründen der Vernunft gegen die moralischen Dispositionen wendet, die als ‚phylogenetisches Aposteriori‘ angeboren sind. Aus der Sicht der Vernunft kann es sich dabei gerade um nicht begründbare Verhaltensweisen handeln, die deshalb durch solche moralischen Forderungen und Normen korrigiert werden müssen, die sich nur unserer Fähigkeit zur vernünftigen Überlegung verdanken und sich nicht als Erfolgsfaktor in der Evolution ausweisen können. Diese grundlegenden Positionen in der Einschätzung des ethischen Status einer ‚evolutionären Ethik‘ unterscheiden sich offenbar beträchtlich hinsichtlich der Bedeutung der menschlichen Vernunft und des Spielraums der Freiheit. Dies betrifft insbesondere die Bedeutung von Vernunft und Freiheit für die Erhaltung der menschlichen Gattung. Es geht dabei jedoch auch um die Möglichkeit einer Selbstbestimmung, die das Schicksal der menschlichen Gattung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung selbst in die Hand nehmen will. Auf der einen Seite wird behauptet, dass dem Menschen aufgrund seiner Vernunft ein Möglichkeitsspielraum in seinen Verhaltensregeln zur Verfügung steht, so dass er nicht gezwungen ist, sich mit den evolutionär erworbenen Verhaltensdispositionen zu identifizieren. Es steht ihm frei, wie 174
7.2 Das Gute als Erfindung der Natur (Evolutionäre Ethik)
er mit den angeborenen moralischen Dispositionen umgeht, die im Verlaufe der Evolution entstanden sind. Es verhält sich hier also im Prinzip genau so wie mit allen Neigungen, die wir mit unseren tierischen Verwandten teilen. Wir können ihnen folgen oder wir können sie aufgrund moralischer Erwägungen lenken und die einen ausleben und die anderen einschränken, weil wir andere Werte höher schätzen. Dagegen wendet die Position, die die ‚evolutionäre Ethik‘ nicht als eine rein biologische Theorie auffasst, vor allem ein, dass es in einer ‚realistischen‘ Ethik darum gehen müsse, die natürlichen Gesetze der Evolution zu befolgen, die sich durch ihren Erfolg bewährt haben. Hier nehmen Vernunft und Freiheit also einen ganz anderen Stellenwert ein. Die Vernunft kann nur dort wirken, wo es keine biologisch determinierten Verhaltensimperative gibt. Die Evolution ist nach dieser Auffassung also immer schon klüger, als es der Mensch mit all seiner Vernunft sein kann. Sie ermöglicht ihm gerade jenen Rest an Freiheit, den er möglicherweise noch gegen die Macht der aus der Selektion entstandenen ‚natürlichen‘ Moral behaupten kann. Man könnte auch sagen: nach dieser Auffassung ist es die Evolution selbst, die allein für diesen Rest an Freiheit sorgen kann, d. h. die menschliche Freiheit steht nicht in der Disposition des Menschen. Die beiden wichtigsten Positionen lassen sich also grundsätzlich auch durch ihre unterschiedliche Haltung zum ‚naturalistischen Fehlschluss‘ unterscheiden. Wird die ‚evolutionäre Ethik‘ nur als eine biologische Theorie aufgefasst, so kann der Schluss vom Sein zum Sollen vermieden bzw. sogar explizit ausgeschlossen werden. Dass etwa eine genetische Disposition zur Abgrenzung und sogar zur Aggressivität gegenüber Fremden besteht, kann dann nichts darüber aussagen, ob wir eine solche Haltung billigen oder verwerfen sollen. Auf der anderen Seite steht die Position, welche die in der Evolution erworbenen und in den Genen verankerten moralischen Dispositionen als die für alles ethische Denken der Vernunft nicht übersteigbaren Grenzen und Bestimmungsgrößen auffasst. Hier bestimmen im Extremfall die genetischen Dispositionen gleichzeitig die moralisch geforderten Verhaltensweisen.
Einige Probleme einer ‚evolutionären Ethik‘ Das zentrale Problem, das eine aus der empirischen Wissenschaft der Biologie stammende ‚evolutionäre Ethik‘ aufwirft, wurde bereits angesprochen. Es entsteht allerdings nur dann, wenn sie eine Ethik im gleichen Sinne sein will wie die ‚klassischen‘ moralphilosophischen Gedankengänge oder auch 175
7. Das Gute und der Schein
die aus den Religionen zu entnehmenden Gedanken über verpflichtende Normen. Solange sie eine empirische Theorie über genetische Dispositionen sein will, die uns über die Herkunft von natürlichen Neigungen aufklärt, kann darin kein grundsätzliches Problem für die Ethik liegen. Neigungen wurden in der Ethik seit ihrem Anfang zum Thema, wenn es um die Grenzen ging, die ihrem Ausleben im Zusammenleben der Menschen und in Bezug auf das gute Leben des einzelnen gesetzt werden sollen. In diesem Falle sollte allerdings besser nicht von einer evolutionären ‚Ethik‘ die Rede sein. In der Tat hätte eine solche Theorie mit Ethik ebenso wenig zu tun wie die Auskunft, dass der Sexualtrieb eines der wichtigsten Motive für menschliches Handeln ist. Ethisch relevant wird der Sexualtrieb erst dann, wenn es um die Frage geht, wie er so ausgelebt wird, dass wir dabei richtig handeln und ein gutes Leben führen. Will die ‚evolutionäre Ethik‘ uns jedoch sagen, was wir tun und lassen sollen, so konkurriert sie mit anderen ethischen Gedankengängen und Begründungen. Die Grundlage ihrer Behauptungen über das menschliche Sollen kann sie aber nur aus einer empirischen Theorie entnehmen, die uns eine Erklärung darüber anbietet, wie die menschliche Gattung sich entwickelt hat, wie sie Kenntnisse über die Welt gewonnen hat und woher schließlich ihre vorhandenen moralischen Normen stammen. Es widerspricht der gesamten Tradition des Denkens über Gut und Böse, wenn wir aus der Tatsache, dass etwas so ist, wie es ist, schließen, es solle auch so sein. Dies gilt auch für die in einer Gesellschaft oder auch in einer ganzen Gattung von Lebewesen geltenden moralischen Normen. Dass sie dort gelten und das menschliche Tun und Lassen bestimmen, kann nur empirisch festgestellt werden. Eine Ethik hätte dann die Aufgabe, zu untersuchen, ob diese feststellbaren und beschreibbaren Normen auch tatsächlich gerechtfertigt sind, d. h. ob sie zu einem richtigen Handeln und einem guten Leben führen. Diese Untersuchung kann nicht auf der Grundlage des bloßen Vorkommens von Normen durchgeführt werden, wenn sie vernünftig begründet sein soll. Die ‚evolutionäre Ethik‘ versucht dieses Problem auszuschalten, indem sie solche Normen durch die Rückführung auf ihre Funktion für die Entwicklung der menschlichen Gattung begründet. Der Ursprung alles Guten ist dann die erfolgreiche Entwicklung der Gattung, und daraus kann abgeleitet werden, dass ‚gut‘ auch alles heißen kann, was zur Erhaltung und Entwicklung der Gattung beiträgt. ‚Gut‘ heißt dann also in einem abgeleiteten Sinne alles, was diesem einen Ziel dient, das allein auf eine ursprüngliche Weise ‚gut‘ genannt werden kann. Dagegen lässt sich zunächst einwenden, dass es nicht möglich ist, aus dem ursprünglichen Guten – der Erhaltung und Entwicklung der Gattung – abzuleiten, welche bestimmten Normen 176
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens
dafür gelten müssen. Es könnte sein, dass sehr viele verschiedenen Normen mit diesem Ziel vereinbar sind, das ursprüngliche Gute zu befördern. In der Geschichte der Unterscheidung zwischen Gut und Böse gab es sehr viele bestimmte Normen, die diese Unterscheidung ausformten, die heute nicht mehr gelten. Die ‚evolutionäre Ethik‘ wendet sich aufgrund ihres spezifischen Gedanken- und Begründungsganges auch nicht an die gleichen Adressaten wie die traditionelle Ethik. Wenn das ursprüngliche Gute das Überleben der Gattung ist, dann kann sich eine ‚evolutionäre Ethik‘ an den einzelnen Menschen nur als Teil der Gattung wenden. Anders gesagt: sie wendet sich an ihn und fordert von ihm ein Verhalten, das sich aus ihrem ursprünglichen Guten ableitet, insofern er nur und ausschließlich als Mitglied der Gattung erscheint. Sie wendet sich an den Menschen als bloßes Gattungswesen, nicht an ihn als Individuum und Person. Im Grunde ist es für sie bedeutungslos, ob der Einzelne richtig oder falsch handelt und ein gutes oder ein schlechtes Leben führt. Die ‚evolutionäre Ethik‘ kennt eigentlich überhaupt kein Individuum und keine Person. Sie kennt nur das Kollektiv bzw. die Gattung. Die Gattung kann so handeln, dass ihr Überleben gesichert wird, auch wenn sich der Einzelne ‚dysfunktional‘ verhält. Die ‚evolutionäre Ethik‘ kann also das Individuum nicht mit dem Gebot konfrontieren ‚Du sollst nicht töten‘ ; sie kann nur fordern, die Gattung möge Regeln einführen, die ausschließen, dass ihre Exemplare sich wechselseitig ausrotten und damit das Überleben der Gattung gefährden.
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens Das falsche Bewusstsein vom Guten In Nietzsches Philosophie findet sich eine der beiden Fundamentalkritiken an der Geltung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die für den Geist des Westens ebenso bestimmend geworden sind, wie dies für die Versuche gilt, das Gute im Zusammenleben unter den Menschen oder in seiner Bedeutung für das gelingende Leben zu erörtern. Die beiden Richtungen jener Kritik sind nach den sie leitenden gedanklichen Prinzipien weit unterschiedlicher, als dies bei einer oberflächlichen Betrachtung angenommen werden könnte. Dies wurde erst richtig deutlich, als im letzten Abschnitt die Auffassung der – zeitlich viel später einsetzenden – evolutionären Erkenntnistheorie über den Status moralischer Urteile über Gut und Böse un177
7. Das Gute und der Schein
tersucht wurde. Sie sind sich aber darin einig, dass es in der Moralphilosophie eigentlich nicht ganz um das geht, was von ihr selbst behauptet wird. Man könnte auch sagen: beide werfen den Untersuchungen über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Art falsches Bewusstsein über sich selbst vor. Bei Nietzsche wird im Grunde nicht diese oder jene Weise des Urteilens über Gut und Böse zum Problem, sondern das Prinzip dieses Urteilens selbst. Die Frage steht hier danach, warum wir denn überhaupt unter den Vorzeichen von Gut und Böse – d. h. moralisch – urteilen wollen und müssen. Damit wird auch die Möglichkeit gedacht, dass wir dies vielleicht überhaupt nicht unbedingt müssen. Vielleicht gehört es nur zu einer bestimmten Kultur, die über viele Jahrhunderte zu einer Selbstverständlichkeit für das Denken der Menschen geworden ist, dass wir dazu neigen, dies als gut und jenes als böse anzusehen. Vielleicht könnten wir auch leben, ohne so zu urteilen, also ‚jenseits von Gut und Böse‘. Nietzsche ging sogar noch einen Schritt weiter mit der Überlegung, ob es nicht vielleicht überhaupt ‚besser‘ wäre, wenn wir nicht moralisch urteilen würden. Vielleicht könnten sich die Forderungen des Lebens dann unverstellter durchsetzen und das Prinzip des Lebens könnte sich freier entwickeln, wenn wir die Gewohnheit aufgeben würden, nach gut und böse zu urteilen. Wenn Nietzsche das Urteilen unter dem Vorzeichen von Gut und Böse als eine ‚moralische Weltanschauung‘ auffasst, so will er damit nicht nur sagen, bestimmte Urteile über das, was wir tun und lassen sollen, gehörten einer speziellen Kultur an. Seine Behauptung lautet vielmehr: das gesamte Stellungnehmen zu Handlungen, zu Verhalten und zum Leben überhaupt in der Form des Sollens ist eine spezielle Gestalt, die Welt anzuschauen, und durchaus nicht notwendig. Wir könnten die Welt auch aus einer anderen Perspektive auffassen, zu der das Sollen und das gesamte moralische Urteilen nicht gehören, und diese Perspektive wäre nicht schlechter, sondern nur eben anders. Die moralische Perspektive ist nach Nietzsche gerade gegen die ‚Natur‘ des Lebens gerichtet, das ‚Willen zur Macht‘ ist, der sich in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nur unvollkommen durchsetzen kann. Auch Nietzsches Stellung zum Prinzip des Sollens und des Urteilens unter den Vorzeichen von Gut und Böse ist ambivalent. Einerseits wendet er sich gegen das moralische Urteilen und beruft sich dabei auf das Prinzip des Lebens. Andererseits aber sieht er gerade im moralischen Urteilen und sogar in dessen spezieller Form im Christentum den ‚Willen zur Macht‘ am Werk, der das Prinzip des Lebens darstellt. Diese Ambivalenz hat Nietzsche nie endgültig auflösen können. Gelingen könnte dies am besten dadurch, 178
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens
dass das Prinzip der Moral aus dem ‚Willen zur Macht‘ erklärt wird, dass darüber hinaus aber auch behauptet wird, dieses Prinzip könne in seiner geschichtlichen Verwirklichung doch eine Form annehmen, in der es sich gegen die eigentlich angestrebte ‚Erhöhung‘ des Lebens wendet und gerade lebensfeindlich werden kann. Die gleiche moralische Welt, die zu einer bestimmten Zeit dem ‚Willen zur Macht‘ zu seiner Verwirklichung dienen konnte, kann unter veränderten Umständen diesen Willen daran hindern, sich entwickeln und ausleben zu können. Uns muss es hier nicht darum gehen, Nietzsches Philosophie innere Widersprüche nachzuweisen, wir müssen auch nicht das Urteilen unter den Vorzeichen von Gut und Böse gegen seine Kritik verteidigen. Nietzsches Fundamentalkritik am moralischen Urteilen repräsentiert jedoch ein entscheidendes Moment im Geist des Westens, wie er sich nicht unter der Perspektive der theoretischen Erkenntnis darstellt, sondern unter der Perspektive der Frage, wie wir leben und handeln sollen, wenn wir uns darin am Guten orientieren wollen. Was Nietzsche in Bezug auf den Geist des Westens verdeutlicht, ist in erster Linie das Wissen, dass nicht nur die einzelnen Bestimmungen, was gut und was böse genannt werden soll, auf reflektierte und vernünftig argumentierende Weise angegeben werden müssen. Auch die allen speziellen Urteilen über Gut und Böse zugrunde liegende Unterscheidung selbst zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir lassen sollen, ist in der westlichen Kultur keine Selbstverständlichkeit, die sich der Vernunft und ihrer Forderung nach argumentativer Ausweisung entziehen kann.
Die Selbstkritik des moralischen Urteilens Diese Seite im Geist des Westens, die wir bei Nietzsche repräsentiert sehen können, stellt eine einzigartige Erhöhung des Reflexionsniveaus der Vernunft dar, die sich mit der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen beschäftigt. Der Geist des Westens ist nicht nur durch die stets aufs neue gestellte und nur vorläufig beantwortete Frage nach dem bestimmt, was wir tun und lassen sollen. Er macht darüber hinaus diese Frage selbst zu einem Problem, das mit den eigenen Mitteln der Vernunft gelöst werden muss. Diese Struktur der Untersuchung über Gut und Böse macht es im Grunde unmöglich, jene Frage auf einfache Weise und im Ausgang von einem Dogma zu beantworten. Jede Antwort auf die Frage, was wir tun und lassen sollen, muss grundsätzlich im gleichen Gedankenzusammenhang Rechenschaft darüber ablegen, was die Unterscheidung selbst eigentlich be179
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deutet und wie sie zu begründen ist, die mit den Urteilen über Gut und Böse näher bestimmt wird. Damit ist keineswegs gesagt, dass alle philosophischen Entwürfe, die sich mit der Frage nach dem Guten und Bösen beschäftigt haben, auch eine Lösung für das Problem dieser Unterscheidung selbst angeboten haben. In manchen Fällen bestand überhaupt kein Bewusstsein für diese Problematik. In den meisten Positionen gibt es jedoch Antworten auch auf die Frage, was das moralische Urteilen denn bedeute und in welchem Zusammenhang es als solches vernünftig sei. Solche Antworten können aus einem kosmologischen Zusammenhang entnommen werden, der uns heute als dogmatisch und nicht mehr vernünftig ausweisbar erscheint. Beispiele dafür sind von Platon bis Shaftesbury zu finden. Solche Antworten können jedoch auch aus einem differenzierten und hoch reflektierten Gedankenzusammenhang heraus gegeben werden, der die Bestimmung dessen, was gut heißen kann, in einem einheitlichen Begründungsgang zusammen mit der Untersuchung des Sinnes der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ausarbeitet Das beste Beispiel dafür ist Kants praktische Philosophie. In ihr wird das Verfahren zur Bestimmung dessen, was wir gut nennen können, in einem einheitlichen Gedanken mit der Begründung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse überhaupt entwickelt. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wird hier als der Ursprung der Freiheit und der Eigentlichkeit des Menschen gedacht und begründet. Damit wird der Sinn dieser Unterscheidung zusammen mit dem Gedanken ausgearbeitet, der die nähere Bestimmung dessen, was wir gut nennen können, entwickelt. Wir könnten Kants Moralphilosophie durchaus als eine Antikritik an Nietzsches Kritik der ‚moralischen Weltanschauung‘ verstehen, so weit sich diese gegen die Unterscheidung zwischen Gut und Böse als solche richtet und nicht nur gegen bestimmte Gestalten dieser Unterscheidung. Aber Nietzsches radikale Reflexion auf die Grundlagen der moralischen Unterscheidung überhaupt repräsentiert nicht nur ein Moment im Geist des Westens auf der Seite der philosophischen Erörterung dessen, was wir tun und lassen sollen. Auch die philosophische Auseinandersetzung mit dem Christentum und seiner Moral stellt sich durch Nietzsche auf eine bestimmte Weise als eine Seite in dem Geist dar, der für den Westen charakteristisch ist. Auch diese ist Teil der ambivalenten Beziehung zwischen den beiden fundamentalen Gedankenzusammenhängen, die den Geist des Westens ausmachen, also zwischen dem Geist des Christentums und dem Geist der Philosophie. Es wurde schon eingangs darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Verhältnis nicht einfach additiv zu verstehen ist. Der Geist des Westens ist keineswegs Christentum plus Philosophie oder Philosophie plus Christen180
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tum. Das Christentum, das in diesen Geist eingegangen ist, ist durch die Philosophie so geprägt, dass die Anteile beider Gedankenzusammenhänge nicht wirklich isoliert von einander dargestellt werden können. Die Philosophie, die diesen Geist bestimmt hat, ist so durch den Glauben des Christentums gelenkt, dass nicht mehr gesagt werden kann, was in ihr reine Philosophie und was durch den christlichen Glauben hindurch gegangene Philosophie ist. In Nietzsches Reflexion auf den Sinn der Unterscheidung zwischen Gut und Böse stellt sich dieses schwierige und komplexe Verhältnis nach der Seite dar, auf der die Philosophie ihr kritisches Potential gegen das Christentum und seine Moral zur Geltung gebracht hat. Dies hat den Geist des Christentums und damit den des Westens nicht unverändert gelassen. Hier zeigt sich die Herausforderung der christlichen Moral durch die philosophische Kritik als die Pflicht zu einer verstärkten Rechtfertigung des Glaubens in seinem Verhältnis zur Vernunft. Nietzsche hat damit nicht so sehr etwas völlig Neues in den Geist des Westens eingebracht. Er hat vielmehr etwas deutlich gemacht, was stets mit mehr oder weniger Kraft das Verhältnis von Glauben und Vernunft geprägt hat. Der christliche Glaube war nie nur Glaube, er beanspruchte stets, ein Glaube in Übereinstimmung mit der Vernunft zu sein. Er war deshalb stets verpflichtet, seine moralischen Forderungen nicht nur dogmatisch aufzustellen, sondern deren Grundlagen auch auf die Vernunft zu beziehen. Allerdings bleibt festzuhalten, dass der Zweifel an der Selbstverständlichkeit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse in erster Linie ein philosophisches Erbteil im Geist des Westens ist. Dies hängt aber nicht so sehr damit zusammen, dass im Christentum diese Frage ihrem Sinn nach geleugnet werden konnte. Vielmehr konnte sie auf der Grundlage der fundamentalen Überzeugungen stets schon als beantwortet gelten. Diese subtile Unterscheidung ist nicht ganz unwichtig. Es ist eine Sache, eine Frage in einem bestimmten Gedankenzusammenhang überhaupt nicht zulassen zu können, und es ist eine andere Sache, diese Frage als durch die fundamentalen Dogmen stets schon als beantwortet aufzufassen. Das Christentum konnte auch deshalb stets beanspruchen, ein Glaube auf der Grundlage der Vernunft zu sein, weil die Frage nach dem Grund der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht prinzipiell ausgeschlossen werden konnte, obwohl sie als stets schon beantwortet gelten konnte.
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7. Das Gute und der Schein
Philosophische und wissenschaftliche Selbstkritik Nietzsches Kritik der ‚moralischen Weltanschauung‘ könnte an vielen Stellen den Eindruck hervorrufen, sie beanspruche eine ‚wissenschaftliche Geltung‘ und geschehe auf ‚psychologischer‘ Grundlage. Vor allem der Hinweis auf die Motivationen für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse allgemein und für die christliche Bestimmung dieser Unterscheidung im Besonderen legt eine solche Interpretation nahe. Damit könnte vermutet werden, Nietzsches Reflexion auf diese Unterscheidung als solche beruhe auf einer ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘, die der ‚moralischen Weltanschauung‘ entgegengesetzt werde. Von hier aus würde sich der Gedanke anbieten, Nietzsches Kritik sei eine Vorwegnahme derjenigen Kritik der Moralphilosophie, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und die Bestimmungen ihrer Ausgestaltung durch wissenschaftliche Erkenntnisse erklären zu können beansprucht. Dies ist in der ‚evolutionären Ethik‘ der Fall, die ja in erster Linie nicht eine Ethik im Sinne einer Bestimmung dessen sein will, was wir unter dem Vorzeichen von Gut und Böse tun und lassen sollen. Es handelt sich vielmehr um den Versuch einer Erklärung dieser Unterscheidung auf der Grundlage einer bestimmten naturwissenschaftlichen Theorie. Nichts hätte Nietzsche jedoch ferner liegen können als eine solche Erklärung der moralischen Fundamentalunterscheidung mit Begriffen und Theorien aus der Naturwissenschaft. Dies ist nur deshalb etwas schwierig zu sehen, weil Nietzsche sich an vielen Stellen sehr missverständlich ausdrückt. Es gibt jedoch einen Gedankenzusammenhang, der für Nietzsches Auffassung der ‚moralischen Weltanschauung‘ zentral ist und der eine Erklärung der Moral auf naturwissenschaftlicher Grundlage grundsätzlich ausschließt. Nietzsches Begriff einer ‚moralischen Weltanschauung‘ umfasst nicht nur die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, sondern auch die Grundlagen der Wissenschaften einschließlich der Naturwissenschaften. Er sieht grundsätzlich in jedem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit eine moralische Grundlage. Dies beginnt schon mit dem Willen, einen Zusammenhang bzw. einen Sachverhalt in der empirischen Welt ‚festzustellen‘, d. h. ihn zu kennen, indem er als – zumindest vorübergehend – unveränderlich und in diesem Sinne ‚festgestellt‘ aufgefasst wird. Schon Platons Ideenlehre, der zufolge nur das Unveränderliche im eigentlichen Sinne erkennbar ist, hat nach Nietzsches Auffassung einen moralischen Hintergrund. Es wird ein Sollen zugrunde gelegt, als dessen Forderung das Werden ausgeschlossen wird und das unveränderliche Sein einen Vorrang erhält. Dieser Vorrang ist letztlich nur moralisch und d. h. aufgrund 182
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens
von Wertungen begründet. Dieser Gedanke gilt aber auch für alle Wissenschaften, die sich später von der Philosophie emanzipieren konnten und eigene Erkenntnisansprüche stellten. Überall findet Nietzsche einen moralischen Anspruch im theoretischen Wissen, der nicht nur die Motivation zum Forschen bereit stellt, sondern der auch die Prinzipien der Wissenschaften leitet. Nietzsches Moralitätskritik ist ebenso eine Kritik des Anspruchs der Wissenschaften einschließlich der Naturwissenschaften. Wissenschaft und Moral unterscheiden sich in Nietzsches Philosophie nicht so grundsätzlich, dass eine Kritik der letzteren durch die erstere möglich wäre. Nietzsches Moralitätskritik lässt sich nur abstraktiv von der Metaphysikkritik unterscheiden. ‚Metaphysik‘ ist letztlich ein bestimmter Zugang zur Wirklichkeit. Darin wird moralisch eine Erkenntnis gefordert, die die Wirklichkeit auf eine solche Weise ‚fest stellt‘, dass eine Übereinstimmung von Aussagen mit ihr möglich ist, die wir dann als ‚Wahrheit‘ bezeichnen. Was Nietzsche als ‚Metaphysik‘ bezeichnet, ist im Grunde der zentrale Anspruch aller Wissenschaften. Alle Wissenschaften entstehen danach auf einer moralischen Entscheidung, in der die Wirklichkeit so ‚zurechtgemacht‘ wird, dass sie für die Wissensansprüche passend wird. Sie sind in diesem Sinne niemals ‚objektiv‘ und letztgültig. Sie erheben einen Anspruch, der nur moralisch berechtigt ist und der deshalb ebenso der Moralitätskritik unterworfen ist wie die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und die Ausgestaltung dieser Unterscheidung in bestimmten moralphilosophischen Entwürfen. Nietzsche kann für seine Moralitätskritik also keine Argumente heranziehen, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten. Solche Argumente wären Teil der kritisierten ‚moralischen Weltanschauung‘ und deshalb für deren Kritik nicht gültig. Es wird deutlich, welch fundamentaler Unterschied zwischen Nietzsches philosophischer Kritik an der Moral und am Geltungsanspruch der Wissenschaften und einer Erklärung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Theorie besteht, wie dies etwa die sog. ‚evolutionäre Ethik‘ leisten zu können beansprucht. Nichtsdestoweniger repräsentiert auch der Versuch einer Erklärung des Ethischen auf der Grundlage der Evolutionstheorie ein wichtiges Moment im Geist des Westens, wie er sich in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse darstellt. Aber es ist ein fundamental anderes Moment als das, das sich in Nietzsches Moralitätskritik darstellt. Hier wird nun tatsächlich eine bestimmte Seite der theoretischen Erkenntnis herangezogen, um die Ansprüche der moralphilosophischen Vernunft zu kritisieren.
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Erklärung statt Erörterung des Guten Es ist deutlich geworden, dass der Gedankenzusammenhang der ‚evolutionären Ethik‘ sich nur schwer in die anderen Gedanken über das Gute und Böse und über das richtige Handeln und das gute Leben einfügen lässt, die bisher unter der Perspektive der Darstellung des Geistes des Westens in ihnen untersucht wurden. Der ‚evolutionären Ethik‘ stehen im Grunde nur zwei Alternativen zur Verfügung. Entweder kann sie den Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, einfach vergessen und damit einen Reflexionsverzicht in Kauf nehmen, der das Entwicklungsniveau der Ethik weit unterbietet. Oder sie kann darauf verzichten, uns sagen zu wollen, was wir tun sollen und wie wir ein gutes Leben führen, und stattdessen nur eine Erklärung für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse anbieten. Im letzteren Fall muss sie im Grunde den Anspruch erheben, eine ‚Metatheorie‘ des Ethischen darzustellen, mit deren Hilfe alle Erörterungen über Gut und Böse als abhängige Nebenfolgen einer eigentlich naturwissenschaftlich zu erklärenden Vorteilhaftigkeit jener Unterscheidung verstanden werden können. Wir haben oben schon auf problematische Punkte einer solchen Konzeption aufmerksam gemacht. Würden wir uns nur fragen, wie die am besten zu begründende Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse gefunden werden kann, mit der wir wissen können, was wir tun sollen und wie wir ein gutes Leben führen, so hätten wir auf die Darstellung der ‚evolutionären Ethik‘ im Grunde verzichten können. Genau dies kann sie uns nicht sagen, außer wir sind bereit, den ‚naturalistischen Fehlschluss‘ zu akzeptieren und von einer Theorie über das, was ist und wie es sich entwickelt hat, auf die Normen zu schließen, denen wir folgen sollen, wenn wir gut leben und handeln wollen. Dann müssen wir aber auch bereit sein, das Problem von Gut und Böse auf die Erkenntnis der effektiven Überlebensstrategien der Gattung Mensch zu reduzieren, die wir doch immer nur nachträglich wissen können. Was sich unter dieser Perspektive bewährt hat, kann aber schon deshalb nicht zur Sollensverpflichtung gemacht werden, weil die Entwicklung der Gattung weiter fortschreitet und die früheren Überlebensstrategien nicht unbedingt auch in der Zukunft erfolgreich sein müssen. Unsere zentrale Frage steht jedoch nicht nach der vorzuziehenden Bestimmung von Gut und Böse, sondern nach Strukturen des Geistes, der den Westen charakterisiert, und zwar solcher Strukturen, die nicht die Seite des theoretischen Wissens, sondern des Wissens vom richtigen Handeln und guten Leben betreffen. Unter dieser Perspektive repräsentiert der Grund184
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens
gedanke der ‚evolutionären Ethik‘ ein weiteres wichtiges Moment dieses Geistes. Wir haben bisher schon gesehen, dass der Geist des Westens sich keineswegs additiv aus verschiedenen Bestimmungen der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ergibt. Die dargestellten Positionen der philosophischen Erörterung des Ethischen repräsentieren vielmehr in sich sehr ambivalente Facetten eines komplexen und differenzierten Geistes, der sich nie auf einfache Antworten auf einfache Fragen reduzieren ließ. War dies doch einmal der Fall, so war stets eine Macht am Werk, die die innere Selbstentwicklung und Entfaltung dieses Geistes vorübergehend zum Stillstand gebracht hatte. Die Konzeption der ‚evolutionären Ethik‘ repräsentiert grundsätzlich das Übergreifen des Geistes der Theorie auf das Gebiet des Ethischen. Mit Hilfe der Frage nach dem, was ist, soll nun auch die Frage nach dem, was sein soll, beantwortet werden können. Dieser Zweifel an der Selbständigkeit der ethischen Problematik ist ein so wichtiges Moment im Geist des Westens, wie er sich nach der Seite der Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, darstellt, dass die ethische Seite dieses Geistes ohne ihn nur abstraktiv verstanden werden könnte. Im Grunde bewegt sich die westliche Suche nach einem Wissen um Gut und Böse damit stets in einem fundamentalen Selbstzweifel. Es ist ein Zweifel, der den eigenen Status des Wissens um das richtige Tun und Lassen betrifft. Es geht dabei also nicht nur um Zweifel an der Gültigkeit einer bestimmten ethischen Konzeption. Es geht auch nicht nur um die Unsicherheit, ob ein gegebenes Orientierungswissen vom Guten und Bösen tragfähig genug ist, um das richtige Handeln und das gute Leben leiten zu können.
Das theoretische Wissen als Kritik am Guten Zum Wissen um das Gute und Böse gehört im Geist des Westens vielmehr stets auch der Fundamentalzweifel, ob und mit welcher Gewissheit wir überhaupt etwas über den Bereich des Guten im Handeln und Leben wissen können. Ein solches Wissen entsteht im Westen immer vor dem Hintergrund der Möglichkeit, dass wir uns hier in einem Bereich bewegen, in dem ein Wissen prinzipiell ausgeschlossen ist, jedenfalls ein solches Wissen, wie es auf dem Gebiet der Theorie die Wissenschaften – also in erster Linie die Naturwissenschaften – mit Hilfe einer bestimmten Methode aus theoretischem Entwurf und empirischer Überprüfung auf einen sicheren Weg bringen konnten. Deshalb unterscheiden sich ethische Entwürfe auch in diesem wichtigen Punkt von wissenschaftlichen Theorien. Während die letz185
7. Das Gute und der Schein
teren darauf vertrauen können, dass sie zu einem gesicherten Wissen gelangen, wenn sie nur die anerkannten Methoden richtig anwenden, so müssen ethische Konzeptionen stets beides leisten: angeben, wie wir gut handeln und leben können, und die Methode begründen, mit deren Hilfe ein solches Wissen erreicht wurde. Wissenschaftliche Theorien müssen nicht die Wissenschaft selbst begründen. Ethische Konzeptionen aber müssen stets in der Lage sein, den Wissenscharakter des Ethischen überhaupt einleuchten zu lassen. Diese Unsicherheit über die Verlässlichkeit des Wissens vom Guten und Bösen ist so wesentlich in das Fundament des westlichen Geistes eingelassen, dass jeder Versuch, das Denken über die Grundlagen des Wissens vom Ethischen ein für allemal zu Ende zu bringen, aus Gründen der internen Logik dieses Geistes scheitern muss. Ein solches Scheitern kann nur zeitweise aufgehalten werden, wenn eine Position sich durch eine Macht von außerhalb der Vernunft und der Entwicklung des Denkens so verfestigt, dass sie auf ihre eigene Selbstbegründung verzichten kann und die Frage nach dem Status ihres eigenen Wissens nicht mehr beantworten muss. Mit der Konzeption einer ‚evolutionären Ethik‘ wird dieser fundamentale Selbstzweifel, wie er in den Geist des Westens unter der Perspektive der Frage nach dem Guten und Bösen eingelassen ist, nun von der Seite des theoretischen Wissens her zur Geltung gebracht. Der Fluchtpunkt dieser Konzeption ist nicht ein Wissen von dem, was wir tun und lassen sollen, wenn wir gut leben und handeln wollen, sondern eine Erkenntnis über eben dieses Wissen. Es wird auf der Grundlage einer naturwissenschaftlichen Theorie ‚erklärt‘ als prinzipiell ableitbar aus dem Bereich des Wissens, das sich nicht mit dem Sollen und dem richtigen Tun und Lassen beschäftigt. Man könnte dieses paradoxe Ergebnis pointiert auch so ausdrücken: wenn wir dieser Konzeption Glauben schenken, dann wissen wir, was das Sollen ist, zugleich aber wissen wir, dass es ein Sollen nicht gibt. Der Gegenstand dieses Anspruchs aus dem theoretischen Wissen, das praktische Wissen über Gut und Böse nach seinem Prinzip erkennen zu können, geht selbst in der Übernahme in den Bereich des theoretischen Wissens verloren. Diese Gefahr des Verlustes des Ethischen in der Reduzierung des Wissens auf das theoretische Wissen und speziell auf die Erkenntnis nach dem naturwissenschaftlichen Methodenideal begleitet die Frage nach dem Guten und Bösen im Geist des Westens wie ein Schatten. Ein Moment dieses Geistes unter der Perspektive auf die Frage, wie wir leben und handeln sollen, besteht in der mit der Erörterung ethischer Probleme stets gegebenen Herausforderung durch den aus dem Bereich der Theorie stammenden Reduktionismus auf eine einzige Form des Wissens, aus der alles andere Wissen 186
7.3 Die Erfindung des Guten und der Geist des Westens
verstanden werden können soll. Diese ‚reduktionistische‘ Tendenz macht sich auch innerhalb der Perspektive auf das theoretische Wissen im Geist des Westens bemerkbar. Es zeigte sich immer wieder die Tendenz, einer bestimmten Wissensform das ausschließliche Recht auf die Bestimmung dessen, was ist, zuschreiben zu wollen. Ein Beispiel wäre die Herabsetzung der phänomenalen Wirklichkeit zu Epiphänomenen physikalischer Strukturen in dem Sinn, dass die ‚wirkliche‘ Welt nur durch die letzteren angemessen beschreibbar ist, so dass die phänomenale Welt zu einem Scheinbild herabgesetzt wird. Eine solche Auffassung ist heute in den forschenden Naturwissenschaften weit weniger verbreitet als in der Popularisierung wissenschaftlicher Theorien durch die visuellen Medien und durch die populärwissenschaftliche Sachbuchliteratur. Aber diese populäre Reduzierung der Wissensformen ist nichtsdestoweniger Teil des Geistes des Westens unter der Perspektive auf das theoretische Wissen. Mit der ‚evolutionären Ethik‘ haben wir ein Beispiel dafür, dass der ‚Reduktionismus‘ im westlichen Geist nicht auf das Gebiet der Theorie beschränkt ist, sondern auch auf jenes Wissen überzugreifen versucht, das sich mit dem guten Leben und Handeln beschäftigt. Dieses Übergreifen ist kein Zufall und kein Unfall. Es gehört vielmehr gerade in die spezifische Struktur, die die Erörterungen über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse im Geist des Westens prägt. Die Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, kann sich von diesem Schatten nie restlos befreien. Auch und gerade durch diese Offenheit des ethischen Denkens gegenüber dem Bereich der Theorie und den Ansprüchen des theoretischen Wissens fordert der Geist des Westens von der Beschäftigung mit der Frage nach dem Guten und Bösen ein besonderes Reflexionsniveau. Der Zwang zur Auseinandersetzung mit den Wissensansprüchen aus dem theoretischen Bereich führt in allen Erörterungen über das Ethische zu einem höheren Begründungsniveau und einer fortschreitenden Reflexionsleistung. Jedes Denken bestimmt sich auch daraus, in welche Richtung es sich rechtfertigen muss. Das ethische Denken des Westens ist dadurch charakterisiert, dass es sich nicht nur gegen die Ansprüche aus dem christlichen Glauben begründen können muss. Es muss vom Guten und Bösen auch so denken, dass dieses Denken sich gegen die Reduzierung des Wissens auf die theoretische Erkenntnis behaupten kann. Deshalb wird es selbst durch beide Richtungen seiner Selbstvergewisserung bestimmt. Eine der wichtigsten Strategien einer solchen Selbstvergewisserung war seit der Begründung des ethischen Denkens in den griechischen Stadtstaaten die Frage nach der Bedeutung des anderen Menschen für das gute Leben. Für Platon und Aristoteles gab es keine Zweifel daran, dass die Probleme mit 187
7. Das Gute und der Schein
dem guten Leben und Handeln nur dann angemessen untersucht werden können, wenn die Frage nach dem guten Leben und Handeln in der Gemeinschaft gestellt wird. In den späteren Konzeptionen trennte sich die Thematik des guten Lebens des einzelnen Menschen in manchen Fällen von der Frage nach dem guten Leben in der Gemeinschaft der Menschen. Individualethik und Interpersonalethik wurden bisweilen isoliert voneinander erörtert. Diese Tendenz sollte aber nicht überschätzt werden. Auch in solchen Positionen, bei denen das gute und gelingende Leben des einzelnen Menschen im Vordergrund stand, fehlte der Bezug auf das gute Leben in der Gemeinschaft nie. Dies gilt sowohl für Epikur als auch für die Stoa. Auf der anderen Seite enthalten solche Konzeptionen, die das Gute in erster Linie in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Menschen philosophisch erörtern wollten, in der Regel auch Seiten, die sich auf die Bedeutung dieses Guten für das gute Leben des Individuums beziehen. Dies gilt selbst für den Utilitarismus, und in der Moral-Sense-Philosophie ist dieser Zug sehr deutlich. Aber es ist eine Sache, die Bestimmungen der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht nur auf das Individuum und sein richtiges Handeln mit dem Ziel eines guten und gelingenden Lebens zu gründen, sondern auch auf die ‚Güte‘ seines Leben in der Gemeinschaft. Es ist eine andere Sache, die Beziehung zum anderen Menschen von vornherein in die Argumentationsform aufzunehmen, die zu solchen Bestimmungen über Gut und Böse führen soll. Wir werden uns abschließend mit zwei Konzeptionen beschäftigen, die genau dies fordern. Im einen Fall wird die Notwendigkeit einer solchen Berücksichtigung des anderen Menschen bei allen Bestimmungen über das gute Leben und Handeln aus fundamentalen Bedingungen des menschlichen Weltverhältnisses begründet, und es wird ein Verfahren vorgeschlagen, das diese Bedingungen in konkreten Fragen zur Geltung bringen soll. Die Habermas’sche ‚Diskursethik‘ bringt damit ein weiteres wichtiges Moment im Geist des Westens zum Ausdruck und zur Darstellung. Im anderen Fall wird das Verhältnis zum anderen Menschen selbst zum Ursprung und zum Muster alles Ethischen, das sich letztlich nur durch diese Beziehung begründen lässt. Levinas versteht seine Konzeption zwar in erster Linie als kritisch gegen das ganze westliche Denken gerichtet. Gegen dieses Selbstverständnis kann man seine Position jedoch gerade als ein weiteres wichtiges Moment im Geist des Westens auffassen. Nichtsdestoweniger zeigt sich darin auch eine radikale Kritik an der Integration des Anderen in die Ethik, wie sie Habermas vorzunehmen versucht.
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8. Der andere Mensch und das Gute 8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas) Wahrheit als Konsens im Diskurs Auch in Habermas’ Ethik kommt der Zweifel an der Möglichkeit der Ethik zum Ausdruck, ein gesichertes Wissen vom Guten und Bösen erreichen zu können. Aber Habermas reagiert auf diesen Zweifel mit einer Ethik, die in einem einheitlichen Gedankengang die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen und ein Verfahren zur Bestimmung dieser Unterscheidung begründet. Nichtsdestoweniger kann der Philosoph nach dieser Konzeption grundsätzlich nicht behaupten, er kenne das Gute und könne es anderen Menschen zeigen, wenn sie seinen Argumentationen folgen. Dies hatte allerdings auch schon Kant nicht mehr so behauptet. Deshalb wurde dessen Moralphilosophie als ‚deontisch‘ bezeichnet, d. h. es gab auch schon bei Kant keinen Bestand von Wissen über das Gute, den man aus dem, was ist, ableiten und damit anderen Menschen als gültig nachweisen könnte. Kant hatte nur eine Methode angeboten, mit deren Hilfe wir zumindest erkennen können, was wir nicht tun sollen, so dass wir im Umkehrschluss dann auch wissen können, was wir tun sollen. Aber Kant hatte behauptet, dass jeder einzelne vernünftige Mensch auf diese Weise zu einem sicheren Wissen über das Gute gelangen kann. Es sollte also zumindest ein solches Verfahren geben, mit dem jeder einzelne für sich und für jede Maxime seiner Handlungen ein ethisches Urteil fällen kann. Auch Habermas’ Konzeption ist ‚deontisch‘, und auch hier wird ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe wir prinzipiell bei jeder Frage nach der moralischen Qualität einer Handlung oder eines Verhaltens entscheiden können, ob darin das Gute verwirklicht wird oder ob wir die Handlung oder das Verhalten als ‚böse‘ bezeichnen sollen. Aber dieses Verfahren steht dem nach der moralischen Richtigkeit fragenden Menschen grundsätzlich nicht alleine und innerhalb seiner eigenen Vernünftigkeit zur Verfügung. Der einzelne Mensch kann nach dieser Konzeption überhaupt nicht über den Unterschied zwischen Gut und Böse entscheiden. Habermas weist gerade darauf hin, dass eine solche Entscheidung über das Gute durch den einzelnen Menschen den Voraussetzungen, unter denen wir überhaupt die Unterschei189
8. Der andere Mensch und das Gute
dung zwischen dem Guten und dem Bösen vornehmen können, fundamental widersprechen würde. Natürlich ist es in der Praxis nicht möglich, für jedes Problem, bei dem wir die Frage nach Gut und Böse stellen, eine Versammlung aller der Menschen einzuberufen, die in irgendeiner Form durch die problematische Handlung beeinflusst werden könnten. Nichtsdestoweniger muss ihre Ansicht berücksichtigt werden. Habermas’ Gedankengang ist jedoch wesentlich radikaler, als dass er sich auf eine Abstimmung über das, was wir gut und was wir böse nennen wollen, beschränken ließe. Sein Gedanke beginnt mit einer grundsätzlichen Überlegung über den Begriff der Wahrheit bzw. der praktischen Richtigkeit. Dieser Begriff wird so bestimmt, dass eine Abstimmung über die Wahrheit oder das, was in einem moralischen Sinne richtig ist, gerade den eigenen Sinn dieses Begriffes verfehlen müsste. Der Sinn des Gedankens einer praktischen Wahrheit enthält einen Absolutheitsanspruch, der jede individuelle Gewissheit übersteigt. Deshalb darf er nicht auf die mehr oder minder zufällige Zustimmung durch die Meinungen der betroffenen Personen reduziert werden. Über Gut und Böse soll deshalb nur ein ganz bestimmter Konsens entscheiden, der alle die Zufälligkeiten ausschaltet, aufgrund derer faktische Übereinstimmungen zwischen Menschen nur relativ und vorübergehend gültig sein können. Habermas’ zentraler Gedanke betrifft die Struktur einer Gesprächssituation, in der solche Bedingungen erfüllt sind, die einen faktischen Konsens zu einem wahren Konsens werden lassen. Habermas’ Anspruch an die Bedingungen einer solchen Gesprächsform ist sehr hoch gesteckt. Er will die Anforderungen an eine praktische Wahrheit, die uns Auskunft über Gut und Böse gibt, nicht auf die Meinungen der Gesprächspartner reduzieren und sie von ihren zufälligen Vorurteilen und Interessen abhängig machen. Er beansprucht vielmehr, dass von einer praktischen Wahrheit nur dann die Rede sein kann, wenn jeder Mensch, der sich an einem Diskurs über diese Wahrheit beteiligen könnte, dieser Wahrheit zustimmen würde. Damit ist die Entscheidung über Gut und Böse durch ein zentrales Kriterium von der faktischen Gesprächssituation unabhängig gemacht. Es genügt nicht, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen erklärt, eine Handlung oder ein Verhalten sei böse und eine andere gut. Von einer solchen Wahrheit soll vielmehr nur dann die Rede sein, wenn ihr alle Menschen zustimmen. Nun kann man aber nicht alle Menschen befragen. Außerdem gibt es Menschen, deren Meinungen beim besten Willen nicht in ethischen Fragen berücksichtigt werden können, etwa schwer geistig Behinderte oder Menschen, die aufgrund extremer Intelligenzdefizite nicht fähig sind, Begrün190
8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas)
dungen zu geben und Argumenten zu folgen. Habermas muss jedoch nicht nur solchen Einschränkungen des Universalitätsanspruchs praktischer Wahrheiten Rechnung tragen können. Es gibt noch ein anderes Problem, das er selbst mit seinem radikalen Kriterium für die Entscheidung über praktische Wahrheiten erzeugt hat. Eine solche Wahrheit erfordert nämlich nicht nur die Zustimmung aller Menschen, die jetzt gerade leben, sondern aller Menschen, die je gelebt haben oder jemals leben werden. Es handelt sich hier um eine Forderung, die natürlich nicht erfüllt werden kann. Wir werden noch sehen, dass Habermas die Kriterien relativieren wird müssen, wenn es um die praktische Anwendbarkeit seiner Konzeption über die Begründung praktischer Wahrheiten geht. Zunächst aber lässt Habermas das Problem der Anwendbarkeit bewusst außer Acht. Es geht nur um die Frage, wie ein Verfahren aussehen müsste, in dem wir eine gesicherte praktische Wahrheit finden können. Im Grunde kennt Habermas hier nur eine einzige Einschränkung für die Forderung, alle Menschen aller Zeiten müssten einer solchen Wahrheit zustimmen können. Es muss sich um Menschen handeln, die in ein Gespräch mit mir eintreten könnten. Sie müssen gesprächsfähig sein, auch wenn sie in Wirklichkeit nicht mitdiskutieren können, weil sie in einer fernen Vergangenheit lebten oder in einer fernen Zukunft leben werden. Hier zeigen sich die Auswirkungen der Begründung dieser Konzeption von praktischer Wahrheit als universellem Konsens aus prinzipiellen sprach- und vernunfttheoretischen Überlegungen. Wir müssen diese Gedanken deshalb wenigstens nach ihrem Ansatz berücksichtigen, um zu verstehen, wie die Struktur der Aufklärung über die Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen aussieht, die Habermas anbietet. Habermas leitet seine Wahrheitstheorie letztlich aus einer Theorie des kommunikativen Handelns ab, zu dessen Voraussetzungen es gehört, dass wir bestimmte Geltungsansprüche erheben, zu denen auch der auf die Richtigkeit von Handlungsorientierungen gehört. Diese Voraussetzungen erfordern auch, dass wir solche Geltungsansprüche auf eine bestimmte Weise einlösen. Unter ‚kommunikativem Handeln‘ können wir ganz allgemein ein solches Handeln verstehen, über das wir uns mit anderen verständigen und von dem wir deshalb beanspruchen, es – zwar nicht immer und überall, aber doch wenigstens prinzipiell – anderen gegenüber rechtfertigen zu können. Zu diesem Zweck müssen wir auf eine Weise mit anderen sprechen können, die wir als ‚vernünftig‘ bezeichnen. Eines der Kriterien für eine solche Vernünftigkeit besteht darin, dass wir beanspruchen, ‚richtig‘ zu handeln. In diesem Fall erheben wir anderen Menschen gegenüber einen Anspruch auf Geltung für unsere Handlungsorientierungen. 191
8. Der andere Mensch und das Gute
Einen solchen Anspruch können wir aber nur dann erheben, wenn wir auch die Bedingungen akzeptieren, unter denen er sich einlösen lässt. Zu den Bedingungen des ‚kommunikativen Handelns‘ gehören Geltungsansprüche, die so eingelöst werden können, dass wir dieses Handeln auf Vernunft ausgerichtet verstehen können. Diese Bedingungen formen die bestimmte Gesprächsform, die Habermas als ‚Diskurs‘ bezeichnet. Es ist diejenige Gesprächsform, in der Behauptungen über Tatsachen nicht mehr einfach hingenommen werden, sondern auf ihre theoretische Wahrheit überprüft werden. Ebenso werden in ihr Geltungsansprüche auf praktische Wahrheit nicht einfach akzeptiert, sondern darauf hin geprüft, ob sie tatsächlich vernünftig begründet sind. Die Existenz solcher Gesprächsformen – d. h. von Diskursen – ist eine Bedingung dafür, dass wir überhaupt kommunikativ handeln können. Der Diskurs als Übergang in eine Situation der Reflexion auf das Wahre und Gute ist demnach eine Struktur, die alles kommunikative Handeln wesentlich auszeichnet. Ohne in Diskursen Geltungsansprüche auf Wahrheit und Richtigkeit überprüfen zu können, würden wir in einem ganz grundsätzlichen Sinn nicht so als Menschen innerhalb menschlicher Gemeinschaften leben, wie wir das faktisch tun. Habermas geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, ohne jene Geltungsansprüche, zu denen auch der auf ethische Richtigkeit gehört, und ohne die dazugehörige Form der Einlösung dieser Ansprüche im Diskurs könnten wir uns überhaupt nicht auf menschliche Weise verständigen. Um uns miteinander verständigen zu können, muss also ein beständiger ‚Hintergrundkonsens‘ vorhanden sein. Zu diesem Hintergrundkonsens gehört vor allem, dass wir wechselseitig unterstellen, der Gesprächspartner stelle nicht einfach Behauptungen auf, sondern er sei auch in der Lage, sie zu begründen. Eine solche Begründung kann nur durch den Übergang in eine andere Gesprächsform geleistet werden, in der wir nicht mehr über die Themen des Gesprächs diskutieren, sondern über die Begründungen für solche Behauptungen, die in themenorientierten Gesprächen aufgestellt werden. Deshalb stellt die Möglichkeit, in die Situation des Diskurses überzugehen, als Teil jenes Hintergrundkonsenses die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass wir uns überhaupt miteinander verständigen können.
Die Evolution unseres ethischen Begründungsverfahrens Ein solcher Zusammenhang von Voraussetzungen für eine vernünftige Verständigung, die in die Struktur des kommunikativen Handelns gehört, ist nicht Teil der Natur und er ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist vielmehr 192
8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas)
im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte entstanden und hat diese Geschichte geprägt. Ohne diese Geschichte gäbe es also auch keine Notwendigkeit, Fragen nach dem, was gut ist, in einer speziellen Gesprächsform zu beantworten, in der prinzipiell alle möglichen Gesprächspartner berücksichtigt werden müssen. Bei Habermas findet sich also ein Gedankengang, der bis zu einem gewissen Grade eine Verwandtschaft mit der Konzeption eines evolutionären Verständnisses der Ethik aufweist. Aber er kommt dadurch nicht zu dem Schluss, die Grundlagen vernünftiger Argumentationen über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ließen sich als Anpassung an die Überlebensbedingungen der Gattung Mensch auffassen. Dies geht darauf zurück, dass sich die evolutionstheoretische Komponente in Habermas’ Ethik grundlegend von derjenigen unterscheidet, auf der die sog. evolutionäre Ethik zurückgreift. Die Entwicklung des Menschen unterscheidet sich vor allem deshalb von der Evolution der nicht-menschlichen Natur, weil beim Menschen die Auseinandersetzung mit der Umwelt über Wahrheits- bzw. Geltungsansprüche abläuft. Der Mensch entwickelt sich in der Geschichte durch Arbeit, in der er seine Welt durch Produktion und Technik so umwandelt, dass sie seinen Bedürfnissen immer mehr angepasst wird. Diese Tätigkeit wird gesellschaftlich durchgeführt, indem die Arbeit mehr und mehr aufgeteilt wird, so dass effektiver produziert wird. Die Anfänge einer solchen Arbeitsteilung finden sich schon sehr früh in der menschlichen Geschichte. Dadurch entsteht das Problem der Koordinierung zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft. Auch dieses Problem wird in der menschlichen Gattung auf der Grundlage von Wahrheits- bzw. Geltungsansprüchen gelöst. Damit will Habermas nicht leugnen, dass dieser Entwicklungsprozess in großem Ausmaß durch Gewalt und durch Unterdrückung bestimmt war. Aber in der Evolution der menschlichen Gattung und damit der menschlichen Gesellschaft gibt es eine ‚Tiefenstruktur‘, die sowohl die Auseinandersetzung mit der Umwelt in der Arbeit für das Überleben als auch die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen unter einander bestimmt. Sie zeigt sich darin, dass beide Seiten der Evolution – Arbeit und Vergesellschaftung – auf der Grundlage von Wahrheits- bzw. Geltungsansprüchen ablaufen. In das wissenschaftliche und technische Wissen, das wir in der Auseinandersetzung mit der Umwelt einsetzen, ist deshalb der Übergang in Diskurse immer schon ‚eingebaut‘. Das Wissen über Tatsachen ist von Begründungen abhängig, die in einer Gesprächsform geschehen müssen, in der eine Reflexion auf das Tatsachenwissen vorgenommen wird. Das Gleiche gilt für das Wissen über Normen; auch hier muss bei Zweifeln ein Übergang in die Gesprächsform des Diskurses stattfinden können. 193
8. Der andere Mensch und das Gute
Weil die menschliche Gesellschaft auf sprachlich vermittelter Grundlage besteht und alle Handlungen auf Verständigung angewiesen sind, deshalb sind die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Verständigung immer in die Grundlagen der Vergesellschaftung der Menschen eingelassen. Dies gilt auch dann, wenn zunächst nur Gewalt und Zwang in einer Gesellschaft zu erkennen sind. Zu den Bedingungen von Verständigung gehört es, das wir Geltungsansprüche auf Wahrheit und moralische Richtigkeit erheben. Diese Geltungsansprüche verlangen nach ihren eigenen Funktionsbedingungen bei Zweifeln den Übergang in Diskurse. Deshalb ist die Entwicklung menschlicher Gesellschaften grundsätzlich auch auf diese Funktionsbedingung angewiesen. Zum Wesen der menschlichen Gesellschaft gehört es, dass in Diskursen über Wahrheitsansprüche und über ethische Geltungsansprüche entschieden werden kann. Dieses Verfahren bleibt in der Geschichte nicht konstant. Es entwickelt sich jedoch nicht nur in Abhängigkeit von den gerade herrschenden Machtverhältnissen, sondern folgt einer ‚inneren Logik‘, die im Prinzip nicht umkehrbar ist. Diese Entwicklungsgesetzlichkeit lässt sich rational nachkonstruieren, d. h. sie lässt sich als ein Fortschreiten zu einer zunehmenden Vernünftigkeit verstehen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass ein Fortschritt in der Entwicklung zu einem vernünftigeren Umgang mit den theoretischen und praktischen Geltungsansprüchen nicht mehr zurückgenommen werden kann, solange das Gedächtnis der Menschheit intakt bleibt. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften ist also insofern unumkehrbar, als ein einmal erreichter vernünftigerer Zustand eine Norm setzt, hinter die Gesellschaften zwar zeitweise wieder zurückfallen können, die sich aber auf längere Frist doch durchsetzt. Zusammen mit dieser unumkehrbaren Logik der gesellschaftlichen Entwicklung muss auch das Verfahren der Begründung des Unterschiedes zwischen Gut und Böse in einer Entwicklung begriffen verstanden werden. In dieser Entwicklung wird die Klärung und Begründung von praktischen Wahrheitsansprüchen mehr und mehr der Gesprächsform des Diskurses anvertraut. Nach Habermas müssen wir über das, was gut heißen kann, in der Form eines Verständigungsverfahrens entscheiden, in dem wir unsere Normen prinzipiell vor dem Forum aller Menschen rechtfertigen. Es zeigt sich nun, dass dies für Habermas keine Erfindung darstellt, die zu verwenden ratsam sein könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Notwendigkeit, die sich aus der Vernunft in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften legitimiert. Die Vernunft der Geschichte selbst führt dazu, dass wir über das, was gut heißen soll, nicht als einzelne Menschen entscheiden können. Wir müssen dazu ein universelles Verständigungsverfahren einsetzen, in dem 194
8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas)
prinzipiell alle Menschen die gleiche Stimme haben und entsprechend gehört werden müssen.
Die ideale Gesprächssituation Wie eine solche vernünftige Begründung unserer Urteile über Gut und Böse stattfinden kann, ist nach Habermas aus der Struktur abzuleiten, die durch die Funktionsbedingungen menschlicher Sprache und Verständigung und damit menschlicher Vergesellschaftung vorgegeben ist. Diese Struktur lässt sich von einem Idealbild her verstehen, das Habermas als die ‚ideale Gesprächssituation‘ bezeichnet. Er verdeutlicht diese besondere Gesprächssituation, indem er einige wesentliche Strukturen beschreibt, die erfüllt sein müssen, damit sie ihre Funktion als Bedingung der Möglichkeit von Verständigung und von kommunikativem Handeln erfüllen kann. Diese Strukturen erscheinen sehr fern von jeder Realität und es fällt schwer, darin eine Bedingung für die tatsächlich geschehende Verständigung zwischen Menschen zu sehen. Wir können aber versuchen, in den Eigenschaften einer solchen Gesprächssituation die in der Realität nie erreichte Fluchtlinie zu erkennen, von deren Endpunkt her die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Verständigung und Vergesellschaftung deutlich werden können. Dann können wir darin eine Aufklärung über die in jeder Verständigung und in jedem kommunikativen Handeln gemachte Unterstellung bzw. Annahme sehen, die wir stets machen müssen, obwohl wir doch wissen, dass sie nicht realistisch ist. Verständigung und Vergesellschaftung beruhen demnach darauf, dass wir etwas als möglich unterstellen, dessen Verwirklichung in der Welt vollkommen unrealistisch ist. Sie beruhen auf der ‚kontrafaktischen‘ Annahme, die Strukturen einer idealen Gesprächssituation könnten jemals realisiert werden. Diese Unterstellung ist jedoch nicht nichts. Sie ermöglicht Verständigung und kommunikative Vergesellschaftung und hat auf diese Weise eine fundamentale Bedeutung für das menschliche Leben. Die wichtigste Leistung der idealen Gesprächssituation ist die Unterscheidung zwischen einem wahren und einem falschen Konsens. Ein falscher Konsens wäre ein solcher, der nicht auf der reinen Motivation zur Vernunft beruht. Er könnte etwa auf der Grundlage von Macht, Manipulation, Überredung, aber auch von subtileren Mechanismen wie Einschüchterung oder ganz einfach aufgrund des fehlenden Selbstbewusstseins von Diskursteilnehmern zustande kommen. Der Konsens kann also nur dann als wahr bezeichnet werden, wenn er allein auf der Grundlage von Argumenten entsteht. 195
8. Der andere Mensch und das Gute
Habermas spricht hier vom ‚zwanglosen Zwang des besseren Argumentes‘. Demnach kann von einer idealen Gesprächssituation dann gesprochen werden, wenn solche Bedingungen gegeben sind, die einen Konsens nur auf der Grundlage der Vernunft von Argumenten erlauben. Diese Bedingungen erklärt Habermas durch bestimmte formale Eigenschaften einer Gesprächssituation. Die wichtigste Eigenschaft einer solchen Gesprächssituation kann als eine ‚allgemeine Symmetrieforderung‘ bezeichnet werden. Grundsätzlich ist damit gemeint, dass alle Teilnehmer die gleiche Chance haben, ihre Begründungen vorzubringen. Keiner darf aufgrund von Eigenschaften seiner Person, seines Standes, seiner Vorbildung oder seiner Herkunft geringere Chancen haben, seine Gründe zu nennen. Man könnte auch sagen: alle Rollen in einem solchen Gespräch sind austauschbar, d. h. keiner ist privilegiert im Hinblick auf seine Argumente. Ein Argument soll also ohne Ansehen der Person, die es vorbringt, geprüft werden können. Um dies zu erreichen, müssen alle Teilnehmer die gleiche Chance haben, einen Diskurs zu eröffnen, zu reden und zu widersprechen, zu fragen und zu antworten. Ebenso müssen sie alle die gleiche Chance besitzen, den Diskurs fortzusetzen oder zu beenden. Sie müssen darüber hinaus gleiche Rechte haben, was die Aufstellung von Behauptungen, Erklärungen und Rechtfertigungen angeht. Sie müssen in gleicher Weise die Äußerungen anderer Teilnehmer deuten können und sie müssen die gleiche Chance haben, die vorgebrachten Geltungsansprüche in Frage zu stellen oder zu widerlegen. Ziel dieser Gleichverteilung von Teilnahmechancen ist es letztlich, dass keine Vormeinungen mehr bleiben, die nicht thematisiert und kritisiert werden. Solange noch jemand einen Vorbehalt hat, kann nicht von einem wahren Konsens gesprochen werden, sondern es liegt ein falscher Konsens vor, der in irgendeiner Form durch Machtverhältnisse zustande gekommen ist. Solche Vorbehalte können auch durch subtile Mechanismen erhalten bleiben, etwa wenn Teilnehmer sich nicht trauen, ihre Meinungen zur Diskussion zu stellen, weil sie um ihr Ansehen fürchten. Deshalb erfordert die ideale Gesprächssituation die Wahrhaftigkeit der Teilnehmer. Damit ist nicht nur eine persönliche Eigenschaft gemeint, sondern auch eine Struktur der Gesprächssituation, die es erlauben muss, dass alle Teilnehmer sich selbst darstellen können, ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Alle müssen die gleichen Chancen haben, ihre Einstellungen, Gefühle und Intentionen zum Ausdruck zu bringen. Die Situation darf die Möglichkeit einer solchen Selbstdarstellung nicht beschränken, d. h. sie darf nicht von vornherein nur bestimmte Äußerungen zulassen. Da ein wahrer Konsens nicht durch Machtverhältnisse bestimmt werden 196
8.1 Der ideale Konsens über das Gute (Habermas)
darf, dürfen sich die Teilnehmer nicht durch asymmetrische Erwartungen über das Verhalten der anderen unterscheiden. Das bedeutet, dass alle Gesprächsteilnehmer die gleiche Chance haben müssen, zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, aber auch Versprechen abzunehmen oder Rechenschaft zu verlangen oder zu geben. Auf diese Weise soll es gelingen, die Zwänge der Realität aus der idealen Gesprächssituation fernzuhalten, so dass die Handlungssituationen des Alltagslebens nicht in diese Situation hineinwirken können. Die Erfahrungen, die wir über das soziale Leben und seine offenen und subtilen Ungleichheiten erworben haben, müssen vor Beginn einer solchen Gesprächssituation abgelegt werden können und sie dürfen das Gespräch selbst nicht beeinflussen. Alle diese Bedingungen sollen letztlich eine Struktur erzeugen, in er eine ständige Selbstreflexion jedes Sprechers möglich ist, der über den Unterschied zwischen Gut und Böse mitbestimmen können soll. Dies ist dann der Fall, wenn auch die von den Sprechern gewählten Sprach- und Begriffsebenen selbst nicht dem Diskurs entzogen werden. Habermas spricht hier davon, dass wir in einer idealen Gesprächssituation so oft zwischen den verschiedenen Ebenen des Diskurses hin und her gehen können, bis ein Konsens entsteht. Dies berücksichtigt die einfache Tatsache, dass bereits durch die Wahl eines Begriffssystems oder einer bestimmten theoretischen Sprache der Konsens vorbestimmt werden könnte. In diesem Fall würde es sich nicht um einen wahren Konsens handeln, denn er wäre durch die Macht eines bestimmten Begriffssystems zustande gekommen. Es kommt also ganz entscheidend darauf an, dass auch die Begründungssprache selbst kritisch befragt werden kann. Der Diskurs kann in der idealen Gesprächssituation also nicht darin bestehen, dass von vornherein darüber entschieden ist, welche Argumente gelten sollen und welche nicht. Es kann auch nicht festgelegt sein, wie Erfahrungen interpretiert werden müssen. Gerade diese Bestimmungen müssen im Diskurs selbst reflektiert werden und sich durch einen wahren Konsens begründen. Der Konsens kann nur wahr sein, wenn er keine Interpretationsmuster und Begründungsformen von außen aufnimmt, sondern solche Muster und Formen aus sich heraus begründet. Die Radikalität der idealen Sprechsituation liegt gerade darin, dass sie nicht durch Sprachsysteme geleitet werden darf, die außerhalb des Diskurses gewählt wurden und dann das Gespräch vorherbestimmen, indem sie über die erlaubten Äußerungen und Argumente entscheiden. Allerdings hat Habermas auch darauf hingewiesen, dass ein wahrer Konsens aus grundsätzlichen Gründen nie in den Grenzen einer gegebenen Gesprächssituation gefunden werden kann. Von einem solchen soll vielmehr 197
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nur gesprochen werden können, wenn wir die Zustimmung aller Gesprächsteilnehmer erhalten, die wir finden könnten, wenn unsere eigene Lebenszeit mit der Geschichte der Menschheit zusammenfallen würde. Letztlich ist ein Konsens also nur dann wahr, wenn uns alle Menschen zustimmen würden, die jemals gelebt haben oder jemals leben werden. Ein wahrer Konsens liegt erst dann vor, wenn es keine Einwände mehr geben kann, nicht schon dann, wenn es faktisch keine mehr gibt. Solange wir aber nur mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmern sprechen können, müssen wir damit rechnen, dass andere Menschen gegen den gefundenen Konsens noch Einwände erheben könnten. Der Anspruch von Habermas’ Konzeption von einem Verfahren, in dem wir über Gut und Böse entscheiden können, bezieht sich in der Tat auf eine universale Vernunft, die nicht von einem einzelnen Menschen in Besitz genommen werden kann. Sie realisiert sich nur in der Zustimmung aller Menschen, die überhaupt Gründe und Gegengründe vorbringen könnten.
8.2 Das Gute im Angesicht des Anderen (Levinas) Ethik als Kritik an der Philosophie Nach Habermas können einzelne Menschen die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen nicht sinnvoll bestimmen. Wir benötigen grundsätzlich die Zustimmung aller anderen Menschen. Diese Zustimmung muss in einer bestimmten Form gegeben werden, damit wir sicher sein können, dass sie frei und vernünftig gegeben wird. Die Bedingungen dieser Form sind nur in der idealen Gesprächssituation gewahrt. Deshalb kann die philosophische Ethik bei Habermas nur darin bestehen, die Bedingungen und Strukturen dieser Gesprächssituation auszuarbeiten. Es sind gleichzeitig die Bedingungen dafür, dass andere Menschen in ihrem Recht zur Beteiligung an der Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen erscheinen können. Ein Recht zur Mitwirkung an der Bestimmung ethischer Grundsätze und Regeln kommt dem anderen Menschen also nur dann zu, wenn diese Bedingungen erfüllt sind. Aus der Perspektive von Levinas’ Konzeption kann der andere Mensch in diesem Fall überhaupt nicht in seinem ursprünglichen Recht auftreten. Als wirklich ‚Anderer‘ kann der andere Mensch vielmehr nur in einer ursprünglich ethischen Forderung erscheinen, in der alle Ethik ihren Anfang nimmt. Bei Levinas ist die Ethik nicht ein Spezialgebiet der Philosophie, das uns über das richtige Tun und Lassen und das gute Leben aufklärt. Sein 198
8.2 Das Gute im Angesicht des Anderen (Levinas)
ganzes Denken verlässt sich vielmehr auf eine ursprüngliche Ethik, die nicht erst durch philosophische oder vernünftig begründete Reflexionen entwickelt werden muss, sondern die immer schon ‚da‘ ist. Sie ‚geschieht‘ stets dort, wo wir einem anderen Menschen unvoreingenommen begegnen. Die Beziehung zum anderen Menschen ist an ihrem Ursprung eine ethische Beziehung. Wenn wir den anderen wirklich als Anderen auffassen, so erfahren wir einen ‚Anspruch‘, auf den wir eine ‚Antwort‘ geben müssen. Dieses Verhältnis von Anspruch und Antwort entsteht bereits dadurch, dass wir das ‚Angesicht‘ des anderen Menschen in seiner ganzen Bedeutung auf uns wirken lassen. Darin kommt eine ursprüngliche Ethik auf uns zu, ohne dass wir erst eine philosophische Ethik auf rationaler Grundlage entwickeln müssten. Der Begriff ‚Ethik‘ bezieht sich bei Levinas also nicht auf die Ausarbeitung von Regeln, durch die wir bestimmen können, was gut und was böse ist. ‚Ethik‘ heißt zunächst ganz einfach die Begegnung des anderen Menschen, in der wir in eine Beziehung zu ihm eintreten, die ursprünglich ethisch ist. Wenn er aber doch den Begriff der ‚Ethik‘ verwendet, so will er mit Hilfe der Beschreibung dieser Begegnung das Wesen des ethischen Verhältnisses selbst aufklären. Er hat später diesen Begriff in Frage gestellt, weil er darin noch eine Erbschaft der Tradition der Philosophie am Werke sah, die er gerade überwinden wollte. Deshalb verwendete er dann den Ausdruck ‚Heiligkeit‘ in Bezug auf die Erfahrung des ‚Angesichts‘ des Anderen und auf die Verpflichtung, die aus dieser Begegnung entsteht. Aber er hat das Entstehen einer solchen Verpflichtung und eines Sollens aus der Begegnung des fremden ‚Angesichts‘ immer an zentraler Stelle seiner Philosophie beibehalten. Mit seinem Denken über den Ursprung des Ethischen will Levinas die Philosophie selbst kritisieren und überwinden. Er muss in der Philosophie also ein Defizit sehen, das gerade durch das Übersehen eines wichtigen Gedankens bestimmt wird, der sich nur im Ursprung des Ethischen findet. Der Generalvorwurf gegen alle herkömmliche Philosophie und damit auch gegen jede Ethik, die Regeln für das richtige Handeln und das gute Leben ausarbeiten wollte, lautet generell, sie sei stets nur an der ‚Enthüllung des Anderen‘ interessiert gewesen. Die ganze abendländische Philosophie sei geprägt durch ein ‚Entsetzen vor dem Anderen‘, und zwar dann, wenn es Anderes bleibt und nicht durch das philosophische Erkennen in das Reich des ‚Selben‘ einbezogen werden kann. Das ‚Selbe‘ ist das, was wir durch Begriffe und Urteile bestimmen können, so dass wir sagen können, es sei das oder jenes und es bleibe stets dasselbe. Damit sind Veränderungen nicht ausgeschlossen, so lange sie verstanden werden und insofern auch durch 199
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Begriffe und Urteile bestimmt werden können, so dass auch Veränderungen dem Reich dessen zugerechnet werden können, was ‚das Selbe‘ bleibt. Man könnte auch sagen: die Philosophie strebte stets danach, das Reich des Unendlichen – des Unbestimmten und Unerkennbaren, das sich nicht auf Begriffe bringen lässt – zu verkleinern, um das Reich des Endlichen – des Bestimmten und Erkennbaren, d. h. der Begriffe und Urteile, die uns erlauben, zu sagen, was etwas ist – zu vergrößern. Das letzte Ziel der Philosophie, so Levinas, war es also stets, das Unendliche abzuschaffen, um an seine Stelle das Endliche und Verstandene zu setzen. Levinas spricht deshalb auch von dem Streben nach ‚Totalität‘, das alle Philosophie auszeichnet. Alles Vorkommende soll eingeordnet werden in ein Ganzes und nur als Teil dieses Ganzen verstanden und begriffen werden. Der Anklang an den Begriff ‚totalitär‘ ist dabei gewollt. Das Streben danach, alles in der Welt in eine Totalität einordnen zu können, hat auch eine ‚totalitäre‘ Seite, d. h. es geht um Herrschaft und Unterwerfung alles dessen, das sich nicht ohne weiteres in das Reich des ‚Selben‘ einfügen lässt. ‚Totalitär‘ ist die Philosophie nach Levinas also deshalb, weil sie alles in das Reich der ‚Interiorität‘ eingliedern will, d. h. sie will sich alles Fremde aneignen, indem sie es gedanklich in eine Ordnung oder in ein System integriert. Die bunte Vielheit des Lebens und der Phänomene der Welt sollen auf irgendeine Weise in eine Einheit zurückgeführt werden. Wir hatten schon ganz am Anfang gesehen, wie in Platons Philosophie die Erfindung der Ideen dazu diente, eine Erkenntnis zu begründen, die aus dem Veränderlichen und Vielen nicht zu gewinnen war. Dieses Streben nach Einheit und gedanklicher Ordnung in einheitlichen Systemen ist nach Levinas der Grundzug der ganzen abendländischen Philosophie nach Platon geworden. Sie strebt nach Totalität und wird ‚totalitär‘, weil sie alles Vorkommende in die Einheit des ‚Selben‘ zurückführen will. Dagegen setzt Levinas die Forderung nach einem Denken der ‚Exteriorität‘, d. h. er sucht nach einem Denken, das auch das gelten lassen kann, was sich nicht in die Einheit des ‚Selben‘ fügt und nicht aus dem Zusammenhang von Systemen und gedanklichen Ordnungen verstanden werden kann.
Der Ursprung der Ethik im ‚Angesicht‘ des Anderen Der ‚ethische Widerstand‘ gegen die Totalität der ‚Interiorität‘ geschieht in der Erfahrung der Andersheit des anderen Menschen, die uns primär in der Auffassung des fremden Gesichts begegnet. Die ursprüngliche Ethik erscheint also schon mit dem ‚Angesicht‘ des anderen Menschen, aus dem ein 200
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Anspruch entsteht, der seinem Wesen nach ethisch ist. Was im Deutschen meistens mit ‚Angesicht‘ wiedergegeben wird, heißt bei Levinas ganz einfach ‚le face‘, also das ‚Gesicht‘. Der ethische Anspruch entsteht zunächst also ganz einfach dann, wenn wir uns ‚im Angesicht‘ des anderen Menschen erfahren, wenn wir ihn sehen und von ihm gesehen werden. Damit ist aber nicht die Wahrnehmung des Gesichts als Summe einzelner Körperteile wie Stirne, Wangen, Nase, Lippen und Kinn gemeint. Es ist auch nicht der Blick des anderen Menschen, der einen ethischen Anspruch geltend macht. Das Gesicht des anderen ist vielmehr doppeldeutig. Es ist zum einen eine Struktur aus Körperteilen und gehört damit zur Wahrnehmung des anderen Menschen in seiner Körperlichkeit. Zum anderen aber ‚bekundet‘ sich in dieser sinnlichen Erscheinung eine ‚Transzendenz‘. Damit ist nicht eine ‚wahrere‘ Welt hinter der sichtbaren Welt gemeint, sondern eine neue Dimension, von der sich nur eine ‚Spur‘ im Gesicht des anderen Menschen findet. Diese Dimension nennt Levinas das ‚Unendliche‘ oder die ‚Alterität‘, d. h. die Andersheit, oder auch das Absolute. ‚Transzendent‘ bleibt die Andersheit, weil sie nur in der Weise der ‚Spur‘ begegnet. Man könnte auch sagen: das Antlitz oder einfach das Gesicht des anderen Menschen zeigt sich wie eine ‚Spur‘. Damit ist nicht gemeint, dass sich im Gesicht Spuren des gelebten Lebens zeigen. Eine ‚Spur‘ zeigt sich vielmehr, indem sie sich entzieht. Sie ist selbst nicht das, worum es geht, sie zeigt es nur an, aber nicht als etwas Gegenwärtiges, sondern als ein Vergangenes, als etwas, das schon vorübergegangen ist. Genau so können wir das menschliche Gesicht nie bestimmen, wenn wir es nicht in seine physischen Teile zerlegen oder es nur als Zeichen – also nicht als ‚Spur‘ – für psychische Zustände verstehen wollen. Als ‚Spur‘ löst das Angesicht das Bild, das sich der eine vom anderen macht, auf, ohne einen nahtlosen Anschluss eines neuen Bildes zu erlauben. Das sind im Grunde große Worte für etwas sehr Einfaches. Wenn wir einem anderen Menschen ‚ins Gesicht sehen‘ oder die Erfahrung machen, etwas ‚im Angesicht‘ eines anderen Menschen zu tun, so beschreiben wir damit nicht eine Wahrnehmung einzelner Teile des Gesichts im Sinne von Objekten der physikalischen Welt. Dem Gesicht des Anderen begegnen wir gerade nicht, wenn wir auf seine Augenfarbe, die Größe seiner Nase oder die Form seiner Wangen achten. In diesem Falle nehmen wir Objekte wahr. Die ‚Transzendenz‘, die Levinas im Anspruch des Angesichts des anderen Menschen findet, beruht jedoch gerade darauf, dass das Gesicht nicht wahrgenommen wird, wie wir Objekte wahrnehmen. In einer solchen Wahrnehmung gibt es keine ‚Transzendenz‘, d. h. wir ‚überschreiten‘ die gegenständliche Welt an keiner Stelle. Objekte können wir vollkommen angemessen 201
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wahrnehmen, wenn wir sie nur wahrnehmen, d. h. sie in ihrer sinnlichen Erscheinung auf uns wirken lassen. Genau dies aber ist nach Levinas in der Begegnung des menschlichen Gesichts nicht der Fall. Nehmen wir das Gesicht als sinnlich erscheinendes Objekt wahr, so fassen wir es überhaupt nicht als menschliches Gesicht auf. Man könnte auch sagen: wir fassen es nicht so auf, wenn wir uns auf die sinnliche Wahrnehmung beschränken. Das soll jedoch nicht heißen, dass es dazu einer übersinnlichen Wahrnehmung bedürfte. Es muss jedoch über die Wahrnehmung hinaus noch etwas hinzukommen, damit wir überhaupt das Gesicht eines anderen Menschen auffassen können, und nicht nur eine Ansammlung physikalischer Objekte bestimmter Form und Farbe und in bestimmter Anordnung. Dieses ‚Mehr‘ ist die Auffassung des Gesichts als Ausdruck des Anderen. Auch hier muss wieder betont werden, was damit nicht gemeint ist. Es geht nicht darum, dass wir im Gesicht des anderen Menschen lesen, um seine psychische, geistige oder emotionale Verfassung zu erkennen. Dies würde Levinas gerade als eine ‚objektivierende‘ Wahrnehmung sehen, die das ausschließt, was die Auffassung des menschlichen Gesichts gerade zum Ausdruck des Anderen macht. Wenn die Begegnung des Gesichts über die sinnliche Wahrnehmung hinaus also noch die Auffassung von Ausdruck erfordert, so handelt es sich nicht um den bestimmten Ausdruck, sondern um Ausdruck als solchen, also ohne einen bestimmten Inhalt. Man könnte auch sagen: mit der Begegnung des Gesichts stellt sich der Andere dar, ohne seine Andersheit durch eine Erkenntnis über seine psychische, geistige oder emotionale Verfassung wieder aufzugeben. Es geht auch nicht um die triviale Erkenntnis, dass der andere Mensch ‚anders‘ ist als ich, der ihn wahrnimmt oder auffasst. Die Bedeutung des Gesichts als Ausdruck des Anderen liegt für Levinas vielmehr darin, dass wir das Gesicht des anderen Menschen nur dann als Gesicht – und nicht wie ein anderes Objekt in der Welt – auffassen, wenn wir uns darin etwas begegnen lassen, das anders als alles ist. Deshalb spricht Levinas in Zusammenhang mit der besonderen Erfahrungsweise des menschlichen Gesichts von ‚Transzendenz‘, von ‚Unendlichkeit‘ und von einem ‚Absoluten‘. Es übersteigt – ‚transzendiert‘ – das, was wir in bestimmte Begriffe fassen können, es lässt sich also nicht auf Begriffe bringen, so dass wir damit ‚zu einem Ende kommen‘ könnten. Wenn Levinas diese Begegnung nun als Ethik und sogar als den Ursprung des Ethischen auffasst, so muss darin wenigstens ein Ansatz für das zu finden sein, das wir mit dem Begriff der ‚Ethik‘ zu verbinden gewohnt sind. Dies ist in der Tat der Fall. Das Ethische beginnt damit, dass das Gesicht und damit der Andere nur dann als solches bzw. als solcher begegnet, 202
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wenn der darin liegende Anspruch erkannt wird. Dieser Anspruch enthält an seinem Ursprung noch keine Trennung zwischen der Form, in der er geäußert wird, und dem Inhalt, der den Anspruch ausmacht. Die ethische Begegnung des Anderen beginnt jedoch damit, dass das Gesicht selbst als ‚Sprache‘ auftritt, d. h. das Gesicht ‚spricht‘ von Anfang an. Das heißt nicht, dass ein Gesicht nur dann ein Gesicht ist, wenn der Mund verständliche Worte formt, in denen ein Anspruch erhoben wird, den wir als ethisch auffassen können. Das Gesicht ist vielmehr selbst ein ‚An-Spruch‘, d. h. es ‚spricht uns an‘, indem es als Gesicht aufgefasst wird.
Der Beginn der Sprache in der ethischen Beziehung Die Sprache, in der wir über etwas kommunizieren, wird erst möglich, wenn wir uns zuvor einem Anspruch und Anruf geöffnet haben, mit dem das Sprechen über beliebige Gegenstände beginnt, weil darin die Bereitschaft entspringt, der Rede des anderen Menschen Sinn zuzuschreiben. Man könnte auch sagen: der ursprüngliche Anruf und Anspruch bringt uns zu der Überzeugung, dass es Sinn macht, dem anderen wenigstens zuzuhören. Die ‚Sprache vor der Sprache‘ ist also nicht eine Sprache, in der ‚etwas‘ gesagt wird in dem Sinn, in dem wir über Gegenstände kommunizieren. Es handelt sich vielmehr um eine Kommunikation, die alles Sprechen zwischen Menschen ermöglicht, weil sie den Sinn in die Welt bringt, den wir voraussetzen, wenn wir mit einander sprechen. Dieser ursprüngliche Sinn des Sprechens geschieht im ethischen Anspruch und Anruf des Angesichts des anderen Menschen. Man könnte auch sagen: darin öffnet sich der Raum der Sprache und wir können anfangen, in diesem Raum zu sprechen. In diesem Raum der Sprache ist es dem Anderen möglich, sich ‚selbst‘ zum Ausdruck zu bringen. Damit ist jedoch nicht ein festes und begrifflich genau abgrenzbares Etwas namens ‚Selbst‘ gemeint, das irgendwo im Menschen liegt und dann dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass es beschrieben wird. Sich ‚selbst‘ bringt der Andere deshalb zum Ausdruck, weil das, was er mit seinem Worten meint, sein eigenes Geheimnis bleibt, das wir nie endgültig lüften können. Wir glauben zwar in der Regel zu verstehen, was unser Gesprächspartner meint, und im Verlauf normaler Gespräche können wir diesen Glauben so gut beibehalten, dass keine Probleme mit der Fortsetzung der Verständigung entstehen. In Wahrheit können wir aber nie genau sagen, was der Andere gemeint hat, denn das könnte er nur wiederum sprachlich zum Ausdruck bringen, was erneut das Problem aufwirft, was er denn nun gemeint hat. Es gibt einfach keine gemeinsamen Be203
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ziehungspunkte, die wir beide sehen können, wenn wir mit jemandem sprechen. In Beispielsätzen wie ‚Das Gras ist grün‘ wird das in der Regel übersehen, weil es hier keine Probleme mit der fehlenden Identität bei den Bedeutungen gibt. Aber schon bei einem einfachen Satz wie ‚Ich liebe Dich‘ kann es zum Problem werden, was jemand mit dem Verb ‚lieben‘ meint. Wenn wir dies auf das ‚Sich-ausdrücken‘ des Anderen anwenden, so bleibt dem Anderen stets ein eigener Raum von Bedeutungen, mit denen er ‚sich‘ ausdrückt, ohne dass der Gesprächspartner genau wissen könnte, ‚was‘ er denn ausdrückt. Der Gesprächspartner weiß nur, was er versteht, und im Spiel des Sprechens genügt das auch vollkommen. Wenn wir etwas nicht verstanden haben, dann fragen wir nach, und wenn genügend Zeit und Geduld vorhanden ist, so können wir so lange fragen, bis wir ganz verstanden haben. Dass wir ‚ganz verstanden haben‘ heißt aber nicht, dass wir nun genau dasselbe verstehen, was der Gesprächspartner gemeint hat. Es heißt nur, dass wir jetzt keine Probleme mehr mit dem Verstehen haben, weil uns die Begriffe nun ausreichend deutlich sind. Darin liegt für Levinas die Unverfügbarkeit des Anderen, wie sie bereits im Ursprung der Sprache in der Begegnung des Angesichts des anderen Menschen geschieht. Ohne diesen Raum der Unverfügbarkeit könnten wir im Grunde überhaupt nicht sprechen. Wir bräuchten es im Übrigen auch nicht, weil wir dann sowieso schon immer wüssten, was Sache ist, und überhaupt nicht mit anderen Menschen sprechen müssten.
Ethik als Verantwortung Levinas könnte seinen Anspruch, die Ethik als Grundlage einer Kritik des ganzen Ansatzes der abendländischen Philosophie einsetzen und den Ursprung der Ethik bereits in der Begegnung des anderen Menschen in der Wahrnehmung seines Gesichts finden zu können, nicht einlösen, wären mit der ursprünglichen Ethik nicht auch Inhalte eines Sollens gegeben. Allerdings wird Levinas’ Ethik auch hier nicht zu einer Lehre, wie wir im Einzelnen wissen können, was wir tun und lassen sollen oder wie wir ein gutes Leben führen können. Die Begegnung des Anderen erschöpft sich jedoch nicht in der bloßen Erfahrung des ‚Unendlichen‘, d. h. dessen, das wir nicht bestimmen und damit begrenzen können, ohne es in seinem Wesen zu verfehlen. Der Andere erscheint nicht in einer Unverbindlichkeit, sondern in einer Forderung, die die Übernahme einer Verantwortung verlangt. Im Unterschied zu anderen Konzeptionen einer Verantwortungsethik entsteht die Verantwortung jedoch bei Levinas nicht aus einer vernünftigen Überlegung, 204
8.2 Das Gute im Angesicht des Anderen (Levinas)
und aus ihr lassen sich auch im Einzelnen keine konkreten Regeln für das Tun und Lassen ableiten. Ein solcher Verzicht auf genau angebbare Regeln für das ethisch Richtige ergibt sich notwendig aus dem Ansatz von Levinas’ Denken, das von vornherein als Ethik auftritt. Der andere Mensch erscheint in der Begegnung des Gesichts nur dann als Anderer, wenn er in seiner ‚Unendlichkeit‘ auftritt, in der er nicht zu einem begrifflich bestimmbaren Objekt in der Welt wird. Es ist jederzeit möglich, andere Menschen zu Gegenständen zu machen, die wir beschreiben und erklären können wie das Vorkommen von physischen Objekten in der Welt. Wir können den Anderen jederzeit ‚verdinglichen‘ und ihn damit so behandeln wie andere Dinge, mit denen wir ‚fertig werden‘ können, indem wir sie bestimmen und dann wissen, was sie sind und was es mit ihnen auf sich hat. Dann aber verschwindet der Andere als solcher und wir bleiben im Reich dessen, was Levinas als ‚Interiorität‘ oder auch als ‚Totalität‘ bezeichnet. Wir bleiben in der Dimension der unserer subjektiven Bestimmungsmacht unterworfenen Welt der endlichen Dinge, die sich bestimmen und begreifen lassen, so dass wir mit ihnen ‚fertig werden‘ können. Die ursprüngliche Ethik des Erscheinens des Anderen und damit der ‚Exteriorität‘ besteht gerade darin, dass wir mit dem anderen Menschen nicht ‚fertig werden‘ können, solange wir ihn wirklich als Anderen auffassen. Deshalb können wir aber auch keine festen Regeln angeben, wie mit ihm umzugehen sei. Wir können hier Levinas’ grundlegenden Einwand gegen eine jede Ethik sehen, die ein Regelwerk aufzustellen versucht, auf dessen Grundlage wir in jedem einzelnen Fall wissen können, was wir tun sollen. Allerdings könnte man dagegen darauf hinweisen, dass die bedeutenden ethischen Entwürfe in der Geschichte der Philosophie einen solchen Anspruch kaum je erhoben haben. Levinas jedoch würde einen solchen Versuch gerade in seine Kritik der Philosophie einschließen, die er als ein Unternehmen auffasst, alle Vielfalt in die Einheit, alles Fremde in das Bekannte und alles Andere in die Systeme und Ordnungen einer Totalität einzuschließen. Der gleiche Einwand würde gegen den Anspruch gelten, uns allgemein verbindlich sagen zu können, wie wir ein gutes und gelingendes Leben führen können. Auch dieser Anspruch muss in Levinas’ Denken als Weg in die ‚Totalität‘ und damit als ‚totalitär‘ zurückgewiesen werden. In die ursprüngliche Ethik der Begegnung des Anderen gehört jedoch die Übernahme einer Verantwortung, die Levinas schließlich als eine ‚Substitution‘ und Stellvertretung beschreibt. Diese Verantwortung kommt nicht aus uns, denen der Andere in der Auffassung seines Gesichtes als einer nichtobjektiven und nicht nur sinnlichen Erscheinung begegnet. Wir konstruieren diese Verantwortung nicht aus rationalen Erwägungen, sie wurde auch 205
8. Der andere Mensch und das Gute
nicht im Prozess des Hineinwachsens in das soziale Leben gelernt und sie ist nicht aus genetischen Anlagen zu erklären. Sie ist im Grunde identisch mit der Begegnung des Anderen, d. h. das Gesicht des anderen Menschen erscheint uns überhaupt nicht ohne diese Übernahme von Verantwortung. Wir ‚übernehmen‘ sie, d. h. sie kommt uns vom Anderen her entgegen, aber es handelt sich nicht um eine Gewalttat, die uns übermächtigt, sondern wir können dem, was uns entgegen kommt, ausweichen, oder wir können es annehmen und für uns gelten lassen. Darin entscheidet es sich, ob wir überhaupt den anderen Menschen in der Begegnung des Gesichts als Anderen gelten lassen, oder ob wir uns in die ‚Interiorität‘ zurückziehen und den anderen Menschen ‚feststellen‘ und bestimmen, indem wir wie mit einem Gegenstand in der Welt mit ihm ‚fertig geworden‘ sind. Aber auch wenn wir den Anspruch in der Begegnung des Anderen verfehlen können, so sind wir selbst nach Levinas doch nie der Ursprung der Verantwortung. Hier gibt es eine grundlegende Asymmetrie. Der Anspruch der Verantwortung kommt immer vom Anderen her, und wir können darauf nur antworten und dem Anspruch genügen oder ihn verfehlen. Wir sind im Angesicht des Anderen keine autonomen Subjekte, die sich selbst ihre Gesetze geben und aus sich selbst heraus bestimmen, wo sie Verantwortung haben und wo nicht. Die Verantwortung für den anderen Menschen wird uns entgegen gebracht, sie ‚überkommt‘ uns, und sie untersteht nicht unserer Macht. Unserer Verfügung untersteht nur, ihr zu entsprechen oder sie zu verfehlen. Es gibt also keine Entscheidung zur Verantwortung, es gibt nur eine Entscheidung zur Übernahme oder zur Ablehnung. In diesem Sinne ist die Verantwortung, von der Levinas’ Ethik spricht, keine Aktivität, sondern eine Passivität. Erst auf dem Grunde dieser Passivität kann es zu einer aktiven Übernahme oder Verweigerung kommen. Wir sind deshalb auch nicht frei in der ursprünglichen Situation der Verantwortung. Lediglich die Annahme oder Ablehnung steht uns frei. In der ursprünglichen Ethik sind wir gänzlich unfrei, insofern die Verantwortung in der Begegnung des anderen Menschen an uns herangetragen wird und uns überkommt als wesentlicher Bestandteil des Geschehens, in dem uns das Gesicht des Anderen erscheint. Levinas’ Begriff der Verantwortung unterscheidet sich sehr stark von dem uns geläufigen, und er unterscheidet sich auch von der Verwendung dieses Begriffes in ethischen Konzeptionen, die auf dieser Grundlage konkrete Handlungsanweisungen ableiten zu können beanspruchen. Letztlich steht auch dieser Begriff im Zusammenhang einer Konzeption, die mit dem ursprünglich ethischen Verhältnis zum Anderen ein Denken beginnen will, das der Philosophie insgesamt – also auch der Ethik – eine neue Rich206
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
tung weisen soll. Die von Levinas gemeinte Verantwortung, die am Anfang der ethischen Beziehung steht, ist eine Seite des Aufbrechens der ‚Totalität‘ eines ordnenden und systematisierenden Denkens, das die Vielheit auf die Einheit reduziert und alles Andere aus seiner ‚Exteriorität‘ zurück in die ‚Interiorität‘ holen will. Der Andere verweigert sich dem System, und die geschlossenen Systeme des Denkens können nur gelingen, wenn sie den Anderen ausschließen. Die Verantwortung hingegen befreit durch die in ihr geschehende ethische Beziehung zur Transzendenz, d. h. in ihr ist eine Transzendenz am Werk, die nicht durch eine Bestimmung dessen, wie und wofür wir verantwortlich sind, zurückgenommen werden darf. Es wäre auch falsch, von einer Verantwortung für die Andersheit und ‚Exteriorität‘ des anderen Menschen zu sprechen. Damit wäre diese Andersheit wiederum in die Macht der Menschen gegeben, die eine solche Verantwortung aus sich heraus erzeugen. Levinas geht es aber gerade um ein Denken, das den ‚Einbruch‘ des Anderen in das Welt des ‚Selben‘ zur Geltung bringt, also in den Bereich, in dem wir stets von einem zum anderen kommen können, so dass sich alles zu einer Einheit schließt. Es kann also keine Verantwortung für die Andersheit geben. Levinas’ Ethik ruft uns auch nicht dazu auf, den Anderen in seiner Andersheit sein zu lassen, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass wir diese Andersheit aus uns selbst erzeugen und sie ihm dann aufzwingen sollten. Die Andersheit des anderen Menschen ‚überkommt‘ uns und dies geschieht in der Form einer Verantwortung, die uns selbst ‚gefangen nimmt‘, der wir ‚unterworfen‘ sind und die uns ‚in Anspruch nimmt‘.
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens Der universelle Diskurs über das Gute Die Konzeption der Diskursethik reduziert auf der einen Seite den Anspruch der philosophischen Ethik, indem sie der Philosophie nicht die Fähigkeit zuschreibt, etwas über das Gute und das Böse wissen zu können. Ihre eigenen gedanklichen Grundlagen verbieten es ihr, uns eine Auskunft über das gute Leben und das richtige Handeln zu versprechen. Das Ethische in dieser Konzeption besteht grundsätzlich nur in der Angabe eines Verfahrens, mit dem wir herausfinden können, wie wir die Unterscheidung zwischen Gut und Böse näher bestimmen können. Was richtig und falsch ist, dies müssen 207
8. Der andere Mensch und das Gute
die betroffenen Menschen von selbst herausfinden. In diesem Prozess kommt dem Diskursethiker auf keine Weise eine herausgehobene Stellung zu. Seine Stimme gilt genau so viel wie die der anderen Menschen, und er ist den gleichen Bedingungen und Strukturen unterworfen wie sie. Auf der anderen Seite beansprucht die Diskursethik jedoch, das Verfahren, das sie für die Bestimmung von Gut und Böse angibt, aus dem fundamentalen Verhältnis des Menschen zu seiner Welt und zu seinen Mitmenschen ableiten zu können. Hier findet Habermas einen gemeinsamen Grund für die Geltungsansprüche des theoretischen und des praktischen Wissens. Unser Weltverhältnis ist so sehr sprachlich strukturiert, dass wir weder wissen noch handeln können, ohne in eine sprachlich vermittelte Kommunikation mit anderen Menschen einzutreten. Zu den Bedingungen sprachlicher Verständigung gehört jedoch, dass wir grundsätzlich bereit und fähig sind, die Ansprüche, die wir auf theoretische Wahrheit und praktische Geltung erheben, mit vernünftigen Mitteln zu rechtfertigen. Der Geist des vernünftigen Begründens, der seit dem Beginn des westlichen Denkens im Zentrum des Geistes steht, den wir als westlich verstehen können, ist danach eine universale Struktur, die in die Bedingungen jeder sprachlichen Verständigung gehört. Die Diskursethik erhebt explizit den Anspruch, das Verfahren, in dem wir über Gut und Böse entscheiden können, gelte universal für alle Menschen, die sich sprachlich verständigen und auf dieser Grundlage handeln. Sie will sich also nicht auf eine bestimmte Kultur festlegen lassen, obwohl sie doch großen Raum für kulturelle Besonderheiten lässt, die sich in den konkreten Diskursen durchsetzen können. Sie behauptet aber auch, prinzipiell sei eine an Wahrheit orientierte Auseinandersetzung über Gut und Böse über alle kulturellen Grenzen hin möglich. Wir könnten dies in Bezug auf den darin zum Ausdruck kommenden Geist des Westens so verstehen: der universalistische Zug in diesem Geist stellt sich darin auf der Grundlage einer eigenen Begründung in einem Gedanken dar, der diesen Anspruch zugleich bescheiden und entschieden zu vertreten sucht. Aber es ist nicht in erster Linie diese Begründung des universalistischen Anspruchs des westlichen Denkens, die die Diskursethik zu einer aufschlussreichen Darstellung eines bestimmten und bedeutenden Momentes im Geist des Westens macht. Das Verfahren selbst, das hier geeignet sein soll, in verbindlicher Weise über Gut und Böse zu entscheiden, repräsentiert eine Seite dieses Geistes, die bisher noch zu wenig deutlich geworden ist. Sie war allerdings in den meisten Positionen implizit wirksam und wurde so zur Geltung gebracht. Es handelt sich grundsätzlich um eine Ergänzung zu der schon in der antiken Grundlegung der Ethik entstandenen Einsicht, dass die Ent208
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
scheidungen über Gut und Böse nicht das Individuum allein betreffen, sondern stets auch die Gemeinschaft, in der es lebt. Dieser ‚interpersonale‘ Grundzug der Perspektive auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse im Geist des Westens kam zunächst dadurch zum Ausdruck, dass das gute Leben stets als ein Leben in der Gemeinschaft gedacht wurde. Von Gut und Böse kann nur die Rede sein unter Berücksichtigung der Bezüge des Menschen zu anderen Menschen, mit denen er Verhältnisse persönlicher, gesellschaftlicher oder staatlich verfasster Art unterhält. Dieser Grundzug wurde darüber hinaus deutlich durch die Konzentration ethischer Positionen auf das richtige Tun und Lassen in Bezug auf das Leben in der Gemeinschaft, d. h. auf das, was im Zusammenleben der Menschen als gut gelten soll. In solchen Positionen geriet die Frage nach dem guten Leben des Individuums zwar kaum je völlig aus dem Blick, aber sie trat doch in den Hintergrund und wurde in erster Linie als dem Bereich der privaten Entscheidungen zugehörig aufgefasst. In der Diskursethik von Habermas kommt der ‚interpersonale‘ Grundzug in der Bestimmung von Gut und Böse nun auf eine dritte Weise zum Ausdruck, die ein weiteres Moment im Geist des Westens bezeichnet. Dieses Moment war im Vertrauen auf die diskursive Vernunft im Grunde stets präsent. Aber bei Habermas kommt es in einer einzigartigen Weise explizit zur Geltung. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nimmt nun nicht mehr nur Bezug auf die Tatsache, dass das Leben und Handeln des Menschen in der Gemeinschaft stattfindet. Diese Unterscheidung kommt auch nicht nur durch die Konzentration auf das richtige Handeln und Leben in der Gesellschaft und im Staat zum Ausdruck. Nunmehr soll die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse selbst grundsätzlich nur in der unverstellten, grenzenlosen und ohne Voraussetzungen stattfindenden kommunikativen Auseinandersetzung mit allen anderen Menschen gelingen können.
Die wahre Stimme des Sprechenden Ein Mensch allein kann Gut und Böse danach nicht kennen. Dies gilt für das gute und gelingende Leben des Individuums ebenso wie für das richtige Leben und Handeln im Zusammenleben der Menschen. Entscheidungen über das, was wir unter dem Vorzeichen von Gut und Böse tun und lassen sollen, können auf vernünftige Weise nur getroffen werden, wenn prinzipiell jedem Menschen dabei eine Stimme zukommt. Diese ‚Stimme‘ aber kann in diesem Fall nicht so zur Geltung gebracht werden, wie dies in Wahlen und 209
8. Der andere Mensch und das Gute
Abstimmungen stattfindet, wo nach heutigem Demokratieverständnis jedem Menschen eine Stimme zukommt, die genau so viel wert ist wie die eines jeden anderen. Um die Entscheidung über Gut und Böse durch Abstimmungen und Mehrheitsentscheidungen geht es in der Diskursethik gerade nicht. Die gültige Stimme im Diskurs über das Gute und Böse ist vielmehr gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht ‚überstimmt‘ werden kann. Wenn wir uns auf den grundsätzlichen Gedankenzusammenhang dieser Konzeption konzentrieren, so ist eine Entscheidung über das richtige Tun und Lassen so lange nicht getroffen, als auch nur eine Stimme nicht zustimmt. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen: eine solche Entscheidung ist so lange nicht gültig, als auch nur eine Stimme nicht in absolut freier Weise zustimmt. Das Gute und das Böse kennen wir erst dann, wenn alle Menschen darin so übereinstimmen, dass kein Rest an Verdacht mehr zurück bleibt, einer könne überredet worden sein oder er habe nur zugestimmt, weil er nicht ausreichend zu Wort kam oder sich nicht genügend mit der Materie habe befassen können. Man muss diese radikale Struktur der Diskurstheorie in Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen beachten, um sie von einer demokratischen Konzeption abgrenzen zu können. Nur dann wird deutlich, auf welche Weise sie ein wichtiges Moment im Geist des Westens repräsentiert. Zur Demokratie gehört die Entscheidung durch Mehrheitsbeschluss unter Berücksichtigung des Minderheitenschutzes und der fundamentalen Menschenrechte, die nicht zur Disposition stehen dürfen. Dieses Prinzip ist jedoch eingeschränkt durch die Notwendigkeit, zu handlungsfähigen Mehrheiten und effektiven Entscheidungen zu gelangen. Deshalb können Abstimmungsergebnisse nicht ständig neu zur Disposition stehen. Die Wahl eines neuen Parlamentes und einer neuen Regierung etwa findet im Normalfall nur in mehrjährigen Abständen statt. Innerhalb dieser Periode gilt die getroffene Entscheidung für eine bestimmte Regierung, auch wenn die Wähler kurz nach der Wahl entdecken, dass die gewählte Partei eine ganz andere Politik verwirklicht, als im Wahlkampf versprochen wurde. Nach dem demokratischen Prinzip kommt der einzelnen Stimme also nur eine begrenzte Reichweite zu. Darüber hinaus fragt dieses Prinzip nicht danach, wie der einzelne Stimmberechtigte zu seiner Entscheidung gekommen ist, solange der Grundsatz einer freien, gleichen und allgemeinen Wahl verwirklicht war. Ob der einzelne Wähler auf der Grundlage einer umfassenden Kenntnis aller Fakten und einer reiflichen Überlegung über seine Interessen und die seines Landes zu seiner Entscheidung gekommen war, ist für das Gewicht seiner Stimme nicht von Bedeutung. Hier unterscheidet 210
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
sich das Prinzip der Diskurstheorie fundamental vom Prinzip der Demokratie. Im Grunde gilt eine Stimme hier nur dann, wenn sie in einem radikalen Sinne frei abgegeben wurde. Habermas hat in seinen Ausführungen über die ‚ideale Sprechsituation‘ die Bedingungen für eine solche freie Stimme näher erörtert. Er beansprucht, diese Bedingungen letztlich wiederum aus den fundamentalen Strukturen der sprachlichen Verständigung über das menschliche Weltverhältnis ableiten zu können. In unserem Zusammenhang der Erörterung solcher Facetten des Geistes des Westens, wie sie aus der Perspektive auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bestimmt werden können, können wir diese Einzelheiten vernachlässigen. Entscheidend ist, welche Seite im Geist des Westens damit dargestellt wird. Es handelt sich im Grunde um die radikale Geltung der Stimme des anderen Menschen – nicht des durch viele Motive bestimmten Votums des Wählers, sondern um die ‚wahre‘ und ‚eigentliche‘ Stimme des anderen Menschen. Sie soll so zu Gehör und zur Geltung kommen, wie sie ‚wirklich‘ ist, nicht wie sie aufgrund von Zeitmangel oder durch Überredung oder durch den Einfluss der verschiedensten ‚Meinungsmacher‘ verzerrt wurde. Letztlich sollen sogar die Einflüsse der Sozialisation und des Hineinwachsens in kulturelle Bindungen zwar nicht rückgängig gemacht, aber doch ‚suspendiert‘ werden, um die ‚wahre Stimme‘ des anderen Menschen an der Wahrheitsfindung im Bereich von Gut und Böse beteiligen zu können. ‚Suspendieren‘ heißt hier, dass er seine Vormeinungen, soweit sie die zur Verhandlung stehende Norm betreffen, selbst zum Thema machen können muss, wenn seine Stimme im wahrheitsorientierten Diskurs angemessen zur Geltung kommen soll. Auf diese Weise sollen auch die Meinungen in den Diskurs einbezogen werden können, die er auf der Grundlage seiner Lebensgeschichte von anderen Menschen übernommen hat oder die ihm vielleicht sogar aufgezwungen wurden. Nur wenn in der idealen Sprechsituation des Diskurses alle Vormeinungen selbst auf ihre Richtigkeit unter der Perspektive der Bestimmung von Gut und Böse überprüft werden können, kann das Ergebnis Geltung für alle Menschen beanspruchen. Was gut und böse heißen soll, darüber kann nach dieser Konzeption nur dann entschieden werden, wenn alle Menschen mit ihrer ‚wahren Stimme‘ Gehör finden. Damit ist ein charakteristischer Zug in der diskursiven Vernunft pointiert, wie sie ein zentrales Moment im Geist des Westens darstellt. Die Wahrheit über das Gute und Böse kann keiner alleine finden, dies ist einer der wesentlichen Gedankenbestände, die den Geist des Westens prägen. Auch dieses Moment ist immer wieder durch Macht und Interessen von einzelnen oder von Gruppen unterdrückt worden. Es kam aber ebenso 211
8. Der andere Mensch und das Gute
immer wieder neu zur Geltung. Dass diese Wahrheit nicht durch Abstimmung und durch die abstrakte Gleichheit der Stimmen gefunden werden kann, dies gehört ebenso in den Geist, den wir als spezifisch westlich bezeichnen können. Das demokratische Prinzip findet seine Schranken dort, wo es um die Bestimmung von Gut und Böse geht. Diese Freiheit des Raumes der Entscheidung über das gute und gelingende Leben und das richtige Handeln war darüber hinaus eine der zentralen Konfliktlinien zwischen der philosophisch argumentierenden Vernunft und der Orientierung am Glauben des Christentums. Wenn wir heute dem Staat grundsätzlich das Recht absprechen, über das Gute und das Böse entscheiden zu dürfen, so hat dies auch mit dem Ergebnis dieser Auseinandersetzung zu tun.
Der Andere und seine eigene Stimme Wir haben den Geist des Westens durch verschiedene Momente charakterisiert, die jeweils ambivalent strukturiert waren. Ambivalenz stellt gerade einen der wesentlichen Charakterzüge dieses Geistes dar, und diese stete Ambivalenz hat ihm eine unvergleichliche Freiheit und Beweglichkeit integriert. Auch in Bezug auf die Bedeutung des anderen Menschen in der Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse verhält es sich nicht anders. Dies wird sehr deutlich aus der radikalen Betonung der Andersheit des anderen Menschen bei Levinas. Auch hier geht es nicht um die Darstellung einer beliebigen Position. Levinas hat sich nicht als Kritiker von Habermas und dessen Diskursethik profiliert. Aber in seiner Ethik aus der ursprünglichen Erfahrung des anderen Menschen kommt die Ambivalenz zur Geltung, die die Konzeption der Diskursethik und deren Darstellung eines Momentes im Geist des Westens in jenen Zweifel bringt, der so sehr in diesen Geist gehört. Bei der Erörterung der Habermasschen Diskurstheorie war deutlich geworden, dass hier die Stimme des anderen Menschen explizit in die Bestimmung von Gut und Böse eingeht. Jedem Menschen sollte dabei eine Stimme zukommen, die prinzipiell nicht überstimmt werden kann. Mit der ‚idealen Gesprächssituation‘ beschrieb Habermas ein Verfahren, in dem die ‚wahre‘ und ‚eigentliche‘ Stimme des anderen Menschen sich zur Geltung bringen kann. In dieser Situation kann der andere alle seine Vormeinungen selbst zur Diskussion stellen, so dass dann, wenn eine Entscheidung getroffen wurde, nicht mehr eingewandt werden kann, ‚eigentlich‘ habe der eine oder der andere doch etwas anderes gewollt und gemeint. Diese ideale Gesprächssituation ist fiktiv, aber sie ist in gewisser Weise doch wirklich, weil wir sie 212
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
– so die Behauptung der Diskursethik – in jeder sprachlichen Verständigung stets schon voraussetzen. Sie ist also trotz ihres unrealistischen Charakters eine Unterstellung, die wir stets machen, wenn wir uns mit anderen Menschen verständigen. Wenn wir Levinas’ Position dagegen stellen, so wird auch in Bezug auf die Bedeutung des anderen Menschen in der Bestimmung von Gut und Böse erneut die fundamentale Ambivalenz deutlich, die den Geist des Westens unter der Perspektive der Frage nach dem, was wir tun und lassen sollen, prägt. Nach Levinas wäre es gerade nicht die ‚wahre‘ Stimme des anderen Menschen, die in einem Diskurs zur Bestimmung des richtigen Handelns und des guten Lebens Gehör finden würde. Daran ändert aus dieser Sicht auch die Möglichkeit nichts, alle Vormeinungen zur Diskussion stellen zu können und so deren Anerkennung als zu berücksichtigende Gedankengänge zu erreichen. Levinas würde einwenden, dass auf diese Weise die Bedeutung des anderen Menschen für die Bestimmung von Gut und Böse radikal zu kurz greift. Man könnte in seinem Sinn sogar sagen: auf diese Weise käme gerade nicht der Andere zur Geltung, sondern nur seine für bestimmte Zwecke zurechtgemachte Karikatur. In der Bedeutung für die Bestimmung von Gut und Böse zeigt sich der andere Mensch erst dann, wenn er von jeder Bestimmtheit und jeder Forderung frei gelassen wird. Ihn in eine Diskussionssituation zu bringen, in der er seine privaten Vormeinungen zur Debatte stellen kann, würde ihn gerade in seiner Andersheit verschwinden lassen. Levinas spricht im Übrigen auch deshalb in der Regel nicht vom ‚anderen Menschen‘, sondern vom ‚Anderen‘, worunter ‚das Andere‘ oder auch ‚der/die Andere‘ verstanden werden kann. Die politisch korrekte Unterscheidung in ‚der/die Andere‘ würde Levinas jedoch aus einem guten Grund nicht mitmachen wollen: sie setzt voraus, dass man Menschen in weiblich und männlich einteilen kann, d. h. sie unter bestimmte Begriffe bringen kann. Das kann man natürlich, und in vielen Zusammenhängen ist es sehr sinnvoll. Aber damit wird dem anderen Menschen doch auch schon ein Stück seiner Freiheit als ‚Anderer‘ genommen. Er wird nun unter einem bestimmten Begriff verstanden, mit dem vieles assoziiert wird. In seiner Andersheit erscheint er aber gerade vor jeder begrifflichen Bestimmtheit. Deshalb kann er aber in einem Diskurs überhaupt nicht als Anderer zur Erscheinung kommen. In jeder Gesprächssituation wird der Gesprächspartner als jemand bestimmt und unter bestimmten Begriffen verstanden. Dies ist gerade eine der Bedingungen der gelingenden Verständigung. In jedem Gespräch verständigen wir uns gleichzeitig über die kommunikative Situation. In der ‚Tiefenstruktur‘ des Gesprächs sprechen wir über den Inhalt der 213
8. Der andere Mensch und das Gute
Botschaften hinaus auch darüber, wie das betreffende Gespräch zu verstehen sein soll und darin über die Beziehungen zwischen den beteiligten Menschen. Der gleiche Inhalt kann auf diese Weise als beiläufiger Small Talk und als Anweisung eines Vorgesetzten an einen Mitarbeiter auftreten. Darin wird der andere Mensch aber als jemand bestimmt, damit er überhaupt in einer bestimmten Form angesprochen werden kann. Er wird auf diese Weise unter Begriffe gebracht und der Sprecher glaubt den Adressaten immer schon zumindest so weit ‚verstanden‘ zu haben, dass er auf eine bestimmte Weise mit ihm sprechen kann. Nach Levinas kann der andere Mensch deshalb in der Sprache zunächst überhaupt nicht als Anderer zur Geltung kommen. Dies ist nur möglich in einer weit ursprünglicheren Erfahrungsform. Wir haben oben schon gesehen, dass es nach Levinas die bloße Erscheinung des Gesichts des anderen Menschen ist, in der er in seiner Andersheit erfahren werden kann, ohne dass er darin auf irgend eine Weise bestimmt werden muss. Diese Erfahrbarkeit des Anderen vor jeder Bestimmtheit lässt ihn gerade als ‚das Andere‘ oder ‚den Anderen‘ – wenn wir den bestimmten Artikel hier nicht als Zeichen für die Geschlechtsbestimmung verstehen – zur Geltung kommen. Levinas geht sogar so weit zu behaupten, dass in dieser ursprünglichen unmittelbaren Erfahrung des Anderen erst die Möglichkeit der Sprache und der Subjektivität begründet wird.
Die Andersheit des anderen Menschen Nach Levinas’ Selbstverständnis kritisiert er damit die gesamte abendländische Philosophie und – so könnte man ergänzen – den Geist des Westens insgesamt. Man kann jedoch gegen dieses Selbstverständnis mit guten Gründen behaupten, dass sich in seinem Denken auf pointierte Weise ein wichtiges Moment im Geist des Westens darstellt, das er keineswegs erfunden hat, auch wenn es bei Levinas radikal und entsprechend einseitig zum Ausdruck kommt. Wir haben zu Beginn unserer Erörterungen die Bedeutung der Zweiten Großen Erzählung vom Guten und Bösen am geschichtlichen Ursprung des Christentums für die Bestimmung von Gut und Böse dargestellt. Was Levinas mit dem Bewusstsein philosophischer Kritik vorbringt, war darin schon im Prinzip enthalten. Nach jener Erzählung hat sich der Gott den Menschen gleich gemacht und diese Identität bis in das Leiden und Sterben durchgehalten. Schon damit hatte die Quasi-Göttlichkeit des anderen Menschen ein Fundament im Geist des Westens erhalten. Diese Stellung war in allen Zeiten bedroht. 214
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
Der Geist des Westens ist keine statische Welt, sondern ein Geist, der in sich und im Verlauf der Zeit in einer steten Bewegung lebt. Die Andersheit des anderen Menschen war der Macht unterworfen und die Macht hat sie immer wieder durch die Tat für ungültig erklärt. Auch im theoretischen Geist war die Achtung vor dem Angesicht des Anderen in seiner Unbestimmtheit kein zentraler Gedanke. Man könnte sogar sagen, dass das Vergessen dieser Achtung gerade in den zentralen Gedankenzusammenhang des theoretischen Geistes gehört. Dessen Prinzip ist die begriffliche Bestimmung von regelmäßigen Abläufen in der Form von Gesetzen auch auf dem Gebiet des menschlichen Lebens. Darin muss dieses Leben gleichnamig gemacht werden und es darf kein Anderes mehr geben. Das nicht gleichnamig zu machende und nicht unter Gesetze zu bringende Andere ist gerade das Ende des theoretischen Denkens. Aber wir sollten die Taten der Macht und das Prinzip des theoretischen Denkens nicht mit dem Geist des Westens gleichsetzen. Das Eigenste dieses Geistes zeigt sich erst in den Gedankenzusammenhängen, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu bestimmen suchen und die danach fragen, was wir tun und lassen sollen, wenn wir richtig handeln und gut leben wollen. In diesem Geist war die Andersheit des Anderen ein durchgängig bedeutsames Moment in nahezu allen Konzeptionen, in denen sich dieser Geist philosophisch darstellte und sich über sich verständigte. Dies gilt auch dort, wo diese Andersheit nicht in den Gedankenzusammenhang der Ethik einging. Bisweilen zeigt sich die Bedeutung eines Gedankens gerade in seiner expliziten Abwesenheit. In anderen Konzeptionen erschien die Andersheit des anderen Menschen in der Gestalt des Verzichts auf die Bestimmung des richtigen Lebens, so weit nur die private Sphäre betroffen ist. Die Bedeutung der Andersheit des anderen Menschen für den Geist des Westens unter der Perspektive der Frage nach Gut und Böse zeigt sich etwa in so unterschiedlichen Positionen wie dem Utilitarismus und der MoralSense-Philosophie. Die utilitaristische Ethik kann nach zwei Seiten betrachtet werden. Nach der einen Seite behauptet sie die Möglichkeit, Nutzen gleichnamig machen zu können und gegeneinander zu verrechnen. Damit wird der eine wie der andere aufgefasst und die Individualität des einen und des anderen gerät in Vergessenheit. Nach der anderen Seite liegt im Verzicht, dem einen und dem anderen Regeln dafür vorzuschreiben, wie sie ihr Leben führen sollen, auch eine Anerkennung der individuellen und deshalb undurchdringlichen Andersheit des anderen Menschen. Ähnlich ist in der Moral-Sense-Philosophie die Achtung vor dem anderen Menschen das Prinzip des gesellschaftlichen und staatlichen Umgangs zwischen den Menschen. Noch deutlicher wird dies in der Kantischen Ethik. Auch hier könnte 215
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man auf der einen Seite die Gesetzesförmigkeit von moralisch zu billigenden Maximen als ein Indiz für die geringe Stellung des Individuellen und Unvergleichlichen und damit der begrifflosen Andersheit des anderen Menschen in dieser Konzeption der Bestimmung von Gut und Böse auffassen. Auf der anderen Seite fordert der Kategorische Imperativ doch gerade, den anderen Menschen als Zweck an sich selbst aufzufassen und nie bloß als Mittel. Nur auf diese Weise wird er so betrachtet, dass er das ‚Menschliche‘ repräsentiert. Das ‚Menschliche‘ ist bei Kant aber in diesem Gedankenzusammenhang keine begriffliche Bestimmtheit, unter die einzelne Menschen eingeordnet werden könnten. Es ist letztlich die ‚Selbstbestimmung‘. Kant spricht hier aber nicht von einem psychologisch zu verstehenden inneren ‚Selbst‘, das seine eigenen und immer schon bestimmten Forderungen in die Welt tragen und dort verwirklichen möchte. Letztlich ist es die unbestimmte Andersheit des Anderen, die hier zu achten gefordert wird. Die Achtung vor dem moralischen Gesetz ist bei Kant stets zugleich die Achtung vor der Selbstzweckhaftigkeit des anderen Menschen. Dieses Moment der Achtung vor der begrifflosen Andersheit erscheint erst deutlicher und expliziter, nachdem das Christentum das Verhältnis zwischen den Menschen neu erklärt hatte. Aber der Geist des Christentums ist nicht auf einer Insel entstanden, sondern innerhalb des Geistes, den die Philosophen der griechischen Stadtstaaten Jahrhunderte zuvor begründet hatten. Das legt die Frage nahe, ob die Grundlegung des Wissens von Gut und Böse in der Andersheit des anderen Menschen, die Levinas zweieinhalb Jahrtausende später so pointiert zur Geltung brachte, ihr Fundament nicht vielleicht schon am Anfang des abendländischen Denkens gefunden hatte. Levinas würde diese Frage radikal negativ beantworten. Ihm zufolge kannte gerade die Orientierung an der Vernunft und an der Wahrheitsfähigkeit des Allgemeinen, wie sie bei Platon den Anfang des philosophischen Denkens bildet, nur das Gleiche und Identische, nicht aber das Nicht-Identische und Andere. Dies ist sicher richtig, insoweit Platons Ideenlehre gemeint ist. Aber Platons Philosophie kennt auch das Prinzip der dialogischen Wahrheitsfindung, in der die Meinung des einen sich der Auffassung des anderen aussetzen und sich an ihr bewähren muss. In manchen platonischen Dialogen ist dies ein reines Stilmittel und bisweilen wird der Gesprächspartner nur vorgeführt, um die Konzeption des Sokrates besser darstellen zu können. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Platons Philosophie kennt auch den Gedanken, dass die philosophische Wahrheit sich in der Schriftform nicht angemessen darstellen kann, weil hier der Denker seinen Gedanken nicht mehr ausreichend zur Hilfe kommen kann, wenn sie von anderen Menschen 216
8.3 Die Ethik des anderen Menschen und der Geist des Westens
verstanden werden. Im Gespräch dagegen kann er sich gegen Missverständnisse verteidigen. Dies bedeutet aber auch, dass die philosophischen Wahrheiten prinzipiell davon abhängig bleiben, dass sie richtig verstanden werden. ‚Richtig verstehen‘ ist dann offenbar ein stets offener Prozess, in dem ein Verstehen korrigiert wird und das korrigierte Verstehen den Gedanken wieder neu darstellt. Darin gewinnt der andere Mensch im Dialog doch eine Funktion in der Entwicklung der Gedanken, die nicht nur ein Stilmittel ist. Man könnte pointiert sagen: die Vernunft Platons ist keine Vernunft im Selbstgespräch, sondern eine Vernunft im Dialog. Daran ist der Andere zwar nicht so beteiligt, wie Levinas dies pointiert, aber am Anfang der philosophischen Vernunft und damit des Prinzips des vernünftigen Denkens findet sich doch jener Geist der prinzipiellen Pflicht zur Berücksichtigung des anderen Menschen, der auf dieser Grundlage zu einem Moment im Geist des Westens wurde. In den folgenden Konzeptionen über die Bestimmung des richtigen Handelns und des guten Lebens wird dieser Gedanke insofern aufgenommen, als das gelingende Leben des einzelnen Menschen so gedacht wird, dass es nur im Zusammenhang der Gemeinschaft möglich ist. Diese Bedeutung des Zusammenlebens der Menschen in ihrer wechselseitig anzuerkennenden Andersheit hat auch theoretische Gründe. Dies zeigte sich sehr gut bei Aristoteles – also auch hier schon vor der Großen Erzählung des Christentums. Was wir tun sollen, wenn wir gut leben wollen, können wir nicht alleine wissen. Ein solches Wissen kann nur auf der Grundlage der Kenntnis der schon gültigen Regeln des Zusammenlebens im Staat gewonnen werden. Diese Regeln können vom einzelnen Denker nicht vor jeder Erfahrung aus seiner eigenen Vernunft erschlossen werden. Hier erscheint die Andersheit des anderen Menschen in ihrer Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in der Form einer Abhängigkeit der Gestalt dieser Unterscheidung von dem, was die anderen Menschen gedacht haben und wie sie aktuell denken. Levinas’ Konzeption einer Ethik aus der begrifflosen und unmittelbaren Erfahrung des anderen Menschen nicht im Beitrag seiner Stimme zur Bestimmung von Gut und Böse, sondern in der Erscheinung seines Angesichts ist zwar die stärkste Pointierung der Bedeutung des Anderen in der Ethik. Aber sie pointiert ein Moment im Geist des Westens, der sich nach einer wichtigen Seite in dieser Konzeption darstellt. Insofern kann Levinas’ Ethik nicht nur als eine Kritik an der philosophischen Ethik verstanden werden, sondern auch als ein Teil des Prozesses der Selbstverständigung des Geistes des Westens. In dieser Selbstverständigung erneuert sich dieser Geist. Levi217
8. Der andere Mensch und das Gute
nas’ Denken stellt nicht einfach etwas dar, was schon vorhanden war. Aber auch dieses Denken expliziert ein Moment im Geist des Westens, und es könnte nicht zu den originellen Ansätzen in der Philosophie über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse gehören, würde es sich nicht an diesen Geist anschließen.
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9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit Im Zentrum der Identität des westlichen Geistes steht nicht das, was in ihm als gut und als böse angesehen wird. Das Zentrum dieser Identität findet sich vielmehr in der Art und Weise, mit der über Gut und Böse gedacht wird. Deshalb unterbieten wir die Ansprüche, die dieser Geist stellt, solange wir ihn mit Hilfe von ‚Werten‘ bestimmen wollen. Eine solche Vereinfachung entspricht nicht ihrem besonderen Gegenstand. Eine Selbstverständigung über den Westen und seine Bestimmung des Guten und Bösen verfehlt ihr Ziel, wenn sie sich auf den Begriff der ‚Werte‘ stützen will. Mit ‚Werten‘ können wir nur eine Selbstbestätigung erreichen, keine Selbstverständigung und Selbstvergewisserung. Aber der Geist des Westen ist eine gedankliche Bewegung, kein Stillstand. Er findet sich nur darin, dass er nie unverändert auf sich zurückkommt, sondern stets wieder über sich selbst hinaus geht und sich in dieser Entwicklung erkennt. Die Identität der westlichen Kultur ist kein feststellbarer Sachverhalt, sondern ein dynamisches Geschehen. Der Geist des Westens ‚geschieht‘ in einem unabgeschlossenen Prozess der Selbstvergewisserung. Er kann deshalb nur durch ein darstellendes Denken beschrieben werden, in dessen Zentrum die Entwicklungsgeschichte und die Geltungsgeschichte des Denkens über Gut und Böse stehen. Die Identität der westlichen Kultur kann nur durch ihre eigene Fähigkeit zur Selbstvergewisserung durch Selbstverständigung zum Ausdruck gebracht werden. Nur dann schließt die Darstellung an die Gestalt der Identitätsbildung an, die den Westen auszeichnet. Wenn hier von Identität die Rede sein soll, so kann sich dies nur auf die Struktur der steten Auseinandersetzung dieses Denkens mit sich selbst beziehen. Diese Selbstverständigung geschieht im Bereich des Denkens über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in einem gedanklichen Raum, der durch mehrere Themenkreise strukturiert wird. Sie bieten einen Zugang zur Untersuchung der ‚Tiefenstruktur‘ des Geistes, der den Westen ausmacht. Wir haben sechs dieser Themenkreise dargestellt. Allerdings sollte dies nicht zu dem Missverständnis führen, dass sich daraus doch wieder ‚Werte‘ destillieren ließen. Deshalb haben wir diese Themen mit Hilfe einer genaueren Analyse zentraler philosophischer Konzeptionen untersucht. Auf diese Wei219
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
se stellt sich der Geist des Westens in der denkerischen Entwicklung von zwölf philosophischen Konzeptionen über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen dar. Die Angabe von Themen, durch die sich der Geist des Westens in seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse mit sich selbst verständigte, soll keine Liste der Begriffe geben, mit denen sich dieser Geist beschreiben ließe. ‚Themen‘ ist ein hinreichend vager Begriff, der ein solches Missverständnis ausschließen sollte. Es geht vielmehr um das Denken, das diese Themen ausarbeitete und sie untersuchte. Die doppelte Behandlung eines jeden Themenbereichs sollte vor allem dazu dienen, die innere Bewegung der verschiedenen Themen zur Darstellung zu bringen. Deshalb wurden sehr unterschiedliche Gestalten des Denkens gewählt, die es nicht erlauben, die Themen auf einfache Begriffe zu reduzieren. Eine angemessene Skizze des westlichen Geistes kann nur gelingen, wenn die verschiedenen Formen, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu bestimmen, in ihrer gedanklichen Dynamik sichtbar bleiben. Bereits im philosophischen Anfang des Denkens über diese Unterscheidung bewegt sich das Gute zwischen einer Auffassung als letztlich theoretischer Idee und einer Konzeption, die von ihm nur reden will, wenn es im Handeln der Praxis wirksam wird. Sodann wird der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Glück des Menschen schon in der Antike in einem komplexen gedanklichen Raum untersucht, der durch Freiheit, Lust und Selbstverhältnis geprägt ist. Wenn viel später die Frage nach dem Guten auf die gesellschaftliche Kalkulation des Nutzens konzentriert wird, so sollte deutlich werden, dass dieser Gedanke dem Geist des Westens nur dann zugerechnet werden kann, wenn gleichzeitig der ganz andere Gedanke von einem natürlichen Guten festgehalten wird. Ebenso ist der Gedanke von der ‚Innerlichkeit‘ des Guten im guten Willen nur dann als Bestandteil des westlichen Geistes zu verstehen, wenn das Bewusstsein der Problematik eines solchen Gedankens hinzugenommen wird. Es wäre nicht richtig, die Grundlinien von Kants Moralphilosophie als ein Moment im Geist des Westens zu verstehen. Aber zusammen mit dem ganz anderen Gedanken von der Notwendigkeit, dem Guten in der Welt Wirklichkeit zu verschaffen, wird daraus ein Thema, das in diesem Geist lebendig war und ist. Auch die Selbstkritik dieses Geistes unter dem Aspekt der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist nur dann richtig zu verstehen, wenn ihre beiden Linien zusammengenommen werden. Die kritischen und produktiven Selbstzweifel innerhalb der philosophischen Frage nach der Praxis stehen in einem inneren Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Zugang zum Pro220
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
blem des Guten. Die unsere Untersuchung abschließende Frage nach der Bedeutung des anderen Menschen für die Bestimmung von Gut und Böse gehört in das Zentrum des westlichen Geistes. Aber dieser Zusammenhang ist nur dann zu verstehen, wenn beachtet wird, in welch kritischem Verhältnis die Gestalten eines solchen Denkens sich zu einander verhalten. Es kann deshalb kein Fazit geben, das den Geist des Westens zusammenfasst. Der Geist des Westens ist kein zusammenzufassender Geist. Er ist ein Prozess der Selbstverständigung. In diesem Prozess stellt er ein durch die Orientierung an einer vernünftigen Allgemeinheit vermitteltes Verhältnis zu sich selbst her. Als Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen geschieht darin ein ‚Stellungnehmen‘ zu sich und in diesem Selbstverhältnis zu anderen und zur Ordnung der sozialen Welt. Dieses vernünftige Selbstverhältnis ist letztlich das Paradigma, das auf der Seite des ‚Praktischen‘ und seiner Frage nach dem Guten den Geist des Westens ausmacht. Aber es ist keine Form ohne Inhalt. Der Inhalt besteht jedoch nicht aus Begriffen, sondern aus einer dynamischen gedanklichen Bewegung und Entwicklung. Auch deshalb lässt sich dieser Geist nicht auf ein Fazit bringen. Eine Selbstverständigung geschieht, sie ist kein abschließbarer Prozess und kein Zustand. Ein Selbstverhältnis, das statisch geworden ist, enthält kein Verhältnis zu sich selbst. Es wäre ein Verhältnis zwischen zwei Gegenständen in der Welt. Der Geist des Westens lässt sich jedoch nicht allein als Selbstverständigung durch jene Konzeptionen auffassen, in denen denkerisch bestimmt wurde, wie zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden ist und wie ein gutes und gelingendes Leben geführt werden kann. Auch diese Seite wäre eine Abstraktion, würde sie nicht vor dem Hintergrund vorgängiger und nicht im Denken entwickelter Festlegungen über das Gute und Böse verstanden. Wir haben deshalb die beiden Großen Erzählungen des Alten und des Neuen Testaments herangezogen, um die christliche ‚Grundierung‘ des westlichen Geistes zu beschreiben. Auch dieses Verhältnis ist jedoch nicht wie eine Beziehung zwischen zwei in der objektiven Welt vorhandenen Gegenständen zu verstehen. Das Christliche im Geist des Westens ist das Christliche der Philosophie, und das Philosophische in diesem Geist ist das Philosophische des Christentums. Die Grundierung des westlichen Geistes durch eine grundsätzlich nicht denkerische, sondern religiöse Gedankenwelt beginnt jedoch schon lange vor dem Anfang des Christentums. Sie beginnt bereits mit dem Anfang des Alten Testaments. Dem Grundtext der abendländischen Religion zufolge steht am Beginn der Geschichte der Menschen ein paradoxer Wunsch: das Paradies zu verlassen und in der Unvollkommenheit zu leben, in der wir 221
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zwischen Gut und Böse unterscheiden. Dieser Großen Erzählung zufolge steht an diesem Anfang noch ein zweiter paradoxer Wunsch: sein zu wollen wie ein Gott, der sich zu einer unvollkommenen Welt verhält und deshalb zwischen Gut und Böse unterscheidet. Der Grundtext der abendländischen Religion erzählt davon, dass am Beginn der Geschichte der Menschen der seltsame Wunsch stand, ein Wissen über das Gute und das Böse erwerben zu wollen, obwohl die Bedingungen der Möglichkeit dieser Unterscheidung überhaupt noch nicht gegeben waren. Dieser Grundtext bringt ein wichtiges Stück des Selbstverständnisses zum Ausdruck, das die westliche Kultur geformt hat. Demnach beginnt die Geschichte der Menschen mit dem Wunsch, eine Welt zu verlassen, in der ‚alles gut‘ war, und eine Welt zu erobern, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wird. Die Geschichte der Menschen beginnt demnach mit der Ausbildung einer besonderen Perspektive. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Welt des Paradieses nicht genug. Ihr vorzuziehen ist eine Welt, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wird. Mit dem Wunsch, nicht einfach das Gute zu wissen, sondern das Gute und das Böse, beginnt die Welt der Menschen als eine Geschichte. Erst der Übergang vom reinen Guten zum Guten in seinem Verhältnis zum Bösen setzt die Entwicklung der Menschheit in Gang. Die Geschichte der Menschen ist von nun an die Geschichte von Gut und Böse. Sie beginnt mit einer Freiheit, die nur durch das Verlassen des Paradieses erlangt werden konnte. Der Auszug aus dem Land des reinen Guten war die Entscheidung zur Geschichte. Die Geschichte der Philosophie beginnt nach dem Auszug aus dem Paradies. Sie beginnt dort, wo die Menschen durch ihre Entscheidung zur Freiheit gegenüber einer unvollkommenen Welt zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse gefunden haben. Erst auf dieser Grundlage konnten philosophisches und christliches Denken in der westlichen Welt eine Verbindung eingehen, deren Kernbestände mit dem Geist des Westens eins geworden sind. Dazu gehören die zentralen Gedanken über Gut und Böse. Die Große Erzählung des Christentums beschreibt eine weitere Revolution im menschlichen Selbstverständnis. Von nun an können Menschen das Gute und Böse kennen, weil ihr Geist von einem Geist ist, dem sich der Gott gleich gemacht hat. Die neue Große Erzählung des Christentums gründet auf jener Entwicklung, mit der die Geschichte der Menschen als Ungenügen am reinen Guten und als Streben nach der Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen begonnen hatte. In ihr setzt sich die menschliche ‚Freiheit zur Unvollkommenheit‘ fort. Die Große Erzählung des Christentums gibt der unvollkommenen Welt der Menschen mit ihrer 222
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Unterscheidung des Guten gegen das Böse eine neue Vollkommenheit. Sie ist nun nicht mehr die mindere Welt. Auch das Wissen des Menschen gewinnt nun einen neuen Status. Es ist kein minderes Wissen mehr, das sich zum göttlichen Wissen nur negativ verhält. Es ist immer noch ein unvollkommenes Wissen, aber ebenso das Wissen des Menschen, mit dem sich der Gott gleich gemacht hat. Nach der Großen Erzählung des Christentums kann der Mensch die Zuversicht besitzen, dass sein denkerisches Bemühen um Gut und Böse nicht vergeblich ist. Diese Zuversicht findet ihre Grenzen im Liebesprinzip, das als Prinzip der Verzeihung den Anspruch auf ein solches Wissen korrigiert. Das Selbstverständnis des Westens wurde über den Bericht vom Opfertod des Mensch gewordenen Gottes fundamental durch die Lehre bestimmt, dass der Gott der Gott der Menschen ist. Alle Erörterungen über Gut und Böse wurden von nun an dadurch geprägt. Mit dem Christentum fand das Wissen vom Guten und Bösen deshalb im anderen Menschen eine Grenze. Die Andersheit des anderen ist damit die Korrekturinstanz für die Vernunft geworden. Diese Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen des Guten und des Bösen ist die Grundlage der Stärke des Geistes des Westens. Die westliche Kultur endet dort, wo diese Ambivalenz nach der einen oder der anderen Seite vergessen wird. In der dialektischen Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Christentum setzte sich diese Ambivalenz ebenso fort wie in den fundamentalen Konzeptionen des philosophischen Denkens über die Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass das Liebesprinzip und die Ambivalenz, die es in das Wissen vom Guten und Bösen einführt, als die Grundlage verstanden werden kann, auf der die philosophische Erörterung dieser Unterscheidung und ihrer Bestimmung innerhalb der westlichen Kultur beginnt. Die westliche Philosophie erbaut ihre Gedankengebäude auf diesem Fundament. Sie suchte nach einer Wahrheit, die ihr nie zur Gewissheit werden konnte. Sie konnte sich aber auch nicht mit Gewissheiten zufrieden geben, die keine Wahrheit enthalten. So konnte sie zum Teil der ‚un-endlichen‘ Selbstverständigung werden, in der sich der Geist des Westens entwickelte. In dieser Entwicklung wurde die Ambivalenz des westlichen Wissens von Gut und Böse zu einer Kritik der Philosophie am Christentum, das sich durch das Denken des Guten korrigieren lassen musste. Diese Korrekturmöglichkeit war jedoch im Geist des Christentums immer schon angelegt. Die Kombination von Philosophie und Religion im Geist des Westens ist eine sehr spezifische. Im Grunde ist jedoch schon die Entgegenstellung von ‚der Philosophie‘ und ‚der Religion‘ eine Abstraktion. Unter dem Titel ‚Phi223
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
losophie‘ haben wir in sechs Themenbereichen zwölf philosophische Puzzleteile zusammengetragen, die durch ihre anfängliche und bleibende Bedeutung eine prominente Stelle im Geist des Westens einnehmen. Es sind weder alle philosophischen Puzzleteile, noch sind die philosophischen Teile alle Teile, aber sie ergeben eine Skizze, wie eine Zeichnung, bei der vieles weggelassen wurde, um den Gegenstand erkennen zu können. Auch aus einem unvollständigen Puzzle lässt sich schon aus wenigen Elementen an ihrem richtigen Platz ein Eindruck vom ganzen Bild gewinnen. Solange das Puzzle nicht vollständig ist, ist das Bild nicht deutlich. Aber man gewinnt einen Eindruck von der Struktur, und die weiteren Puzzleteile können leichter untergebracht werden. Diese Metapher hat jedoch einen Nachteil. Sie gibt die dynamische Struktur des westlichen Geistes nicht an. Der Geist des Westens bestimmt sich nicht durch eine Zusammensetzung von einzelnen Gedanken, die sich analytisch zergliedern ließen. Würde man dies tun, so hätte man gerade nicht das Zentrum dieses Geistes erfasst. Insofern ist aber jedes Bild, das wir uns von ihm machen möchten, ungenügend. Der Geist des Westens ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Wir haben versucht, diesen Charakter dadurch anzugeben, dass jedes Themengebiet, aus dem sich ein Puzzleteil ergeben kann, durch zwei sehr unterschiedliche philosophische Konzeptionen erörtert wurde. Dadurch sollte die Bedeutung der jeweiligen Position nicht relativiert werden. Es sollte aber deutlich werden, dass in der Bestimmung der Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen im Geist des Westens keine Position einfach ‚eine Position‘ bleiben kann. Sie wird nicht einfach ‚gesetzt‘ (was der Ausdruck ‚Position‘ sagen würde), sondern sie entwickelt sich in einer dynamischen gedanklichen Auseinandersetzung, in der der Geist des Westens sich mit sich selbst ‚auseinandersetzt‘. Dass sich das Denken über das Gute und Böse stets auf Platon und Aristoteles bezogen hat, heißt nur in einem besonderen Sinn, dass es davon bestimmt wurde. Alle Kritik wird von dem Kritisierten bestimmt. Wird ein Gedanke verworfen, so bleibt er im Ergebnis, das nach seiner Verwerfung entstanden sein wird, doch erhalten. Aber er ist nicht mehr der gleiche, sondern das Denken ist weitergeschritten zu einem neuen Entwicklungsstand. Platon und Aristoteles sind in den späteren Positionen also ‚aufgehoben‘ in dem besonderen Sinn, den Hegel mit diesem Ausdruck verband. Ihre Gedanken sind aufgehoben in der Bedeutung von ‚aufgegeben‘, aber sie sind auch aufgehoben im Sinne von ‚bewahrt‘, und schließlich sind sie gerade dadurch aufgehoben in der Bedeutung von ‚auf eine höhere Ebene gehoben‘ oder ‚fortentwickelt‘. Wir könnten diesen Zusammenhang auch rückwärts lesen: Platons und Aristoteles’ Gedanken heben in diesem dreifachen Sinn 224
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
auch die Konzeptionen der späteren Denker auf. Der Sinn, den solche Gedanken für uns besitzen, bleibt nicht gleich, wenn sich andere Gedanken mit ihnen auseinandersetzen. Wir lesen sie danach anders. In dieser anderen Lektüre sind die Gedanken der späteren im Verständnis der früheren ebenso in dem dreifachen Sinn ‚aufgehoben‘. Wenn wir also versucht haben, das Bild des westlichen Geistes durch die Umrisse von sechs Themengebieten zu zeichnen, so sollte die innere Bewegung dieser Themen nie vergessen werden. Keines der Themengebiete ist darüber hinaus auf gerade die Autoren eingeschränkt, die wir zur Darstellung herangezogen haben. Alle Themen kommen im Grunde bei allen behandelten Konzeptionen vor. Das Licht, das auf diese Themen fällt, kann jedoch heller oder dunkler sein. Aber dies soll wiederum nicht bedeuten, dass der Geist des Westens die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf der Grundlage einer einheitlichen Struktur von Themen unternommen habe, die über alle Zeiten gleich geblieben wären. Auch dies sollte in dem genannten Sinn von ‚aufgehoben‘ verstanden werden, und auch hier ist die gegenläufige Zeitstruktur des Denkens zu berücksichtigen. Jede neue Erörterung eines Themas verändert es, gerade indem sie an die schon vorliegenden anschließt. Die früheren Positionen bestimmen die späteren, aber die späteren ebenso die früheren, indem sie neu bestimmen, wie diese zu verstehen sind. Dies gilt nicht nur für die Orientierung des Denkens über Gut und Böse am philosophischen Anfang bei Platon und Aristoteles. Es gilt ebenso für die Bedeutung des anderen Menschen für die Bestimmung der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Dieser Gedanke war bei Platon schon anzutreffen, obwohl er dort nicht im Vordergrund stand. Er wird jedoch in den erörterten beiden Positionen besonders deutlich, und zwar gerade in der durchaus ambivalenten Gestalt, in der er in den Geist des Westens eingegangen ist. Deshalb können diese beiden Positionen nicht für sich genommen eine der Perspektiven angeben, aus denen sich dieser Geist in seiner gedanklichen Bewegung zeigt. Werden sie jedoch zusammengenommen, so zeigt sich eine fruchtbare Spannung, die für den westlichen Geist charakteristisch ist. Dieser Geist lebt aus solchen Spannungssituationen, mit denen er seine Entwicklung fortsetzen kann. Er besteht eben nicht aus aufgeräumten Bausteinen, aus denen genormte Gebäude errichtet werden könnten. Das Gesagte gilt für die anderen Themen im gleichen Maße. Auch über den Zusammenhang zwischen dem gelingenden bzw. glücklichen Leben und der Unterscheidung zwischen Gut und Böse wurde in der ganzen Geschichte des westlichen Denkens verhandelt. Obwohl dieses Thema in der Philosophie stärker in ihrer frühen Zeit bestimmend war, so blieb es im Geist 225
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des Westens doch stets präsent. Die beiden dargestellten Positionen geben zwei charakteristische Formen an, in denen der zentrale Gedanke erörtert wurde, demzufolge das menschliche Glück fundamental mit einer freien Stellungnahme zu der natürlichen Seite des Menschen verbunden ist. Aber keine dieser Positionen kann alleine beanspruchen, das Thema des menschlichen Glücks im Geist des Westens zu bezeichnen. In der Spannung beider Positionen kann es jedoch gelingen, jene Entwicklungskonstellation zu verstehen, die diesem Geist eigen ist. Sie korrigieren sich nicht einfach, sie dementieren sich auch nicht, sondern in ihrer Auseinandersetzung zeigt sich ein Moment jener Auseinandersetzung, die der Geist des Westens in sich selbst enthält. Wenn wir von hier aus zu dem Themenbereich gehen, in dem sich die Auffassung über das kalkulierbare Gute als Nutzen auf der einen und die Lehre von der Natürlichkeit des Guten als ‚Sinn‘ mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse auseinandersetzen, so können wir die ambivalente Entwicklungsdynamik im Geist des Westens nicht nur innerhalb dieses Themenbereichs verorten, sondern auch zwischen diesem und dem zuvor behandelten Thema des guten Lebens in seinem Bezug auf das Glück des Menschen. Die gedankliche Bewegung, die so fundamental in den Geist des Westens gehört, spielt sich ebenso zwischen der Thematisierung dieses Zusammenhangs und der bewussten Ausschließung der Frage nach dem individuellen Glück in der Beschränkung auf den in der Gesellschaft kalkulierbaren Nutzen des Guten ab. Nichtsdestoweniger hatten wir eine andere Kontrastierung herangezogen, die das kalkulierbare mit einem natürlichen Guten zusammennimmt und darin eine Auseinandersetzung am Werke sieht, in der wiederum der Geist des Westens sich mit sich selbst auseinandersetzt. Nur in der Bewegung solcher Auseinandersetzungsprozesse gewinnt er seine Identität. Ganz ähnlich könnte das Thema, in dem das Gute im Menschen dem Guten in der Welt entgegen gestellt wird, auch selbst mit den Themen Nutzen/Sinn des Guten und Glück und gutes Leben in eine jener Auseinandersetzungen gebracht werden, in denen sich der Geist des Westens verwirklicht. Wir haben dennoch eine andere Kontrastierung gewählt, in der sich die innere Spannung dieses Thema stärker zur Darstellung bringen lässt. Daraus wird deutlich, dass keine der erörterten Positionen für sich ein Moment im westlichen Geist repräsentieren kann. In ihrem Zusammenspiel und in ihrer Auseinandersetzung wird jedoch ein solches Moment deutlich. Es ist kein weiterer Baustein für ein genormtes Gebäude, das ‚Geist des Westens‘ heißen könnte. Auch hier wird der Anstoßcharakter deutlich, den der gewählte Begriff ‚Moment‘ in seiner Beziehung auf ‚Momentum‘ zum Aus226
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
druck bringt. In diesem ‚Anstoß‘ geschieht die Auseinandersetzung mit sich selbst, in der der Geist des Westens sich über sich verständigt. Als Teil dieser Auseinandersetzung und Selbstverständigung sollten auch die Positionen des Themenbereichs verstanden werden, in dem es um die für den westlichen Geist so charakteristischen Selbstzweifel an der gedanklichen Bestimmbarkeit der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen geht. Auch dieser Themenbereich ist jedoch nicht als Solitär zu verstehen, sondern steht im Geist des Westens in einer dynamischen Beziehung zu allen anderen Themenbereichen, in denen über jene Unterscheidung verhandelt wurde. Die Erörterung über das, was gut und was böse genannt werden soll, und über das gelingende und gute Leben war im Grunde stets mit einer Selbstbegründung dieses Denkens verbunden. In den beiden behandelten Positionen wird jener Selbstzweifel für sich zu einem Thema, das wiederum nur in der Spannung zwischen einer philosophischen und einer von jenseits der Philosophie herkommenden Denkweise als Moment im westlichen Geist deutlich wird. Dieser Geist hat das Fragen nach der Unterscheidung zwischen Gut und Böse stets innerhalb der Spannung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Denken im Sinne der Erörterung der Grundlagen des guten Lebens und Handelns gehalten. Es mag Leser geben, denen der Geist des Westens immer noch zu wenig deutlich geworden ist. Vielleicht sind wir in den letzten Absätzen aber schon zu weit gegangen. Es könnte die Vermutung nahe liegen, dass sich eine Systematik oder sogar ein Schema aufstellen ließe, das die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Themenbereichen angeben könnte, mit denen wir die zentralen Momente des westlichen Geistes verdeutlicht haben, soweit er sich unter dem Vorzeichen der Frage nach der Unterscheidung zwischen Gut und Böse erörtern lässt. Eine solche Schematisierung wäre vielleicht übersichtlich und handlich, aber sie würde sich nicht mehr auf den Geist des Westens beziehen. Es würde genau das verloren gehen, was in den Erörterungen der einzelnen Positionen und Themenbereiche zu erreichen versucht wurde. Es wäre alles das zurückgenommen, worum es in diesem Buch ging. Es wären genau die säuberlich abgegrenzten Bausteine erreicht, aus denen sich der Geist des Westens gerade nicht zusammensetzen lässt. Jede Einteilung in Themenbereiche und Spannungsfelder ist schon eine Bestimmung und ein ‚Feststellen‘ der Dynamik eines Denkens, das in seiner ständigen Entwicklung alles Feste flüssig und beweglich macht. Auch wir haben Festlegungen vorgenommen, indem bestimmte Themen und darin bestimmte Positionen erörtert wurden. Allerdings wurde sorgfältig darauf geachtet, dadurch nicht eine Festlegung des westlichen Denkens selbst auf 227
9. Der Geist des Westens: eine Identität ohne Fazit
Positionen nahezulegen, sondern die Ambivalenz und die Beweglichkeit in diesem Denken zu betonen. So weit lässt sich die ambivalente Bewegung des Denkens, die den Geist des Westens auf der Seite der Frage nach der Unterscheidung zwischen Gut und Böse ausmacht, gerade noch bestimmen. Den Geist des Westens auf einfache Begriffe zu bringen würde diesen Geist jedoch so weit unterbieten, dass seine Identität nicht mehr erkennbar wäre. Eine Identität in festen Begriffen und klar definierbaren Positionen kann der westliche Geist nicht bieten. Wir sollten darin nicht eine Schwäche, sondern seine fundamentale Kraft und Lebensfähigkeit erkennen. Die Identität des Geistes des Westens hat kein Fazit.
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