Vom Geist antiker Geschichtsschreibung: Sieben Monographien [Reprint 2019 ed.] 9783486774306, 9783486774290

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German Pages 233 [236] Year 1964

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Inhalt
Einleitung
Herodot
Thukydides
Polybios
Cäsar
Sallust
Livius
Tacitus
Literatur
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Vom Geist antiker Geschichtsschreibung: Sieben Monographien [Reprint 2019 ed.]
 9783486774306, 9783486774290

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ERNST HOWALD VOM GEIST ANTIKER GESCHICHTSSCHREIBUNG

ERNST HOWALD

VOM GEIST ANTIKER GESCHICHTSSCHREIBUNG SIEBEN MONOGRAPHIEN

1964

WISSENSCHAFTLICHE

BUCHGESELLSCHAFT

DARMSTADT

Mit Genehmigung des Verlages von R. Oldenbourg, München, herausgegebene Sonderausgabe Unveränderter reprografisdier Nadidruck der Ausgabe München und Berlin 1944

Alle Redite dieser Ausgabe beim Verlag von R. Oldenbourg, München Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany

INHALT

Seite

Einleitung

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Herodot

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Thukydides

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Polybios

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Cäsar

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Sallust

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Tacitus

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A mon avis l'histoire est née depuis cinquante ans. H. TAINE 1858

EINLEITUNG Die Frage nach der Rolle des Künstlers im Historiker hat sich nie lösen lassen und wird immer unlösbar bleiben; die letzten hundert Jahre, in denen die Geschichte zu einer strengen Wissenschaft mit eigener Methode und anerkannten Gesetzen wurde, haben uns vollends für dieses Problem blind gemacht, ist es doch in höchstem Maß unbequem; man zog darum vor, es zu ignorieren. Es ließe sich ja denken, daß es überhaupt mit der modernen Geschichtswissenschaft verschwunden wäre, da nicht geleugnet werden kann, daß seit längerer Zeit kaum mehr historische Werke hervorgebracht werden, die sich im Gefühl eines Volkes gleichberechtigt neben die höchsten Schöpfungen der Kunst und Literatur stellen, wie dies früher, besonders aber im Altertum, der Fall war. Herodot und Thukydides gehören in den Rang der Tragiker, Livius gehört zu Vergü und Horaz. Natürlich handelt es sich dabei um mehr oder um ganz anderes als um bloße Geschicklichkeit und Lebendigkeit der Darstellung und Fähigkeit zu packender Komposition, auch um mehr und anderes als leidenschaftliches Mitschwingen und innere Beteiligung am Schicksal von Einzelnen und Gemeinschaften. Das Erlebnis der Geschichte oder eines Teils der Geschichte ist in jenen großen Meistern der Historiographie zu formschaffen-

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Einleitung

dem innerm Schicksal geworden. DieGeschichte ist ihnen nicht bloßer Stoff, an dem sie mehr oder weniger interessiert und beteiligt sind; sie haben sie zu einem Teil ihrer Seele gemacht und sind willens, dies ihr Erlebnis dem Leser zu vermitteln. Sie wollen nicht oder nicht in erster Linie belehren — denn solche Vorgänge sind nie absolut rein und eindeutig — , sondern die Geschichte so formen, daß der Leser die Erschütterung, die ihnen zuteil geworden, auch seinerseits erlebt. Das will keineswegs heißen, daß sie erfinden, fälschen, einen Roman schreiben wollen; andererseits kann aber für sie die einmalige Wirklichkeit nicht die gleiche alles beherrschende Bedeutung haben wie für den modernen Historiker. Sie stehen dem geschichtlichen Stoff unvoreingenommener gegenüber, denn sie wissen nichts von jenen Hemmungen, die uns die wissenschaftliche Schulung auferlegt: ihr eigentliches Ringen geht um die Form, in die sie ihre Geschichte gießen wollen, damit sie von ihrem Erleben Zeugnis ablege. Der Formmöglichkeiten sind viele. Wir müssen nicht meinen, wenn wir uns eine, z. B. die herodoteische klar gemacht haben, damit den Zugang zu allen, gleichsam den Schlüssel zur antiken Geschichtsschreibung gefunden zu haben. Gewiß ist die einmal geschaffene Form in hohem Maße für die Nachfolger verpflichtend; sie geht nie mehr ganz verloren; die Spuren Herodots sind noch bei Tacitus vorhanden. Die Nachfolge ist ein sehr wichtiger Faktor; mit ihm haben wir immer zu rechnen, ganz besonders natürlich bei den Römern, wo er zu ihrer humanistischen Einstellung gehört, die die Übernahme der höchsten griechischen literarischen Vorbilder als wichtigsten Programmpunkt hat. Wir dürfen

Einleitung

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aber anderseits auch diese Nachahmung nicht überschätzen, denn meistens wird nur das nachgeahmt, was äußerlich sichtbar und darum nachahmlich ist. Das Entscheidende, das, womit jene großen Historiker ihre einzigartige Wirkung erzielt haben, liegt nicht an der Oberfläche ; es liegt in der Tiefe verborgen und seine Erhebung in die Bewußtseinssphäre ist oft nicht sehr einfach, wiewohl die Wirkung auch auf uns nur darauf beruht. Unbemerkt sind diese Dinge freilich nicht geblieben: die moderne Forschung, speziell die der letzten fünfundzwanzig Jahre, hat sich sogar intensiv damit beschäftigt, ist aber in der Deutung vielfach in die Irre gegangen. Das Verhängnisvolle war, daß die Fachleute, in deren Betreuung die antike Literatur heutzutage in der Hauptsache liegt, die griechischen und lateinischen Geschichtswerke vorzugsweise als Quellen ansahen und sie als solche benutzen wollten. Damit konnte leicht der Gedanke Fuß fassen, daß alles, was diesen Quellencharakter beeinträchtigt, Unvollkommenheit bedeute und darum in irgendeiner Weise beseitigt werden müsse. Die beste Art der Beseitigung ist diejenige durch den Autor selbst. So ging in paralleler Weise gegenüber den verschiedensten Historikern die Tendenz dahin, alles, was nicht moderner historischer Arbeitsweise entspricht, als Vorstufe, erste Fassung, Entwurf, stehengebliebene Spur anfänglicher Unsicherheit anzukreiden. Allzusehr war man bestrebt, den antiken Geschichtsschreibern moderne Vorstellungen von Historiographie auf zuzwängen, um sie zu rechtfertigen, da ein Abweichen davon einer Einbuße an Größe gleichgesetzt wurde. Demgegenüber wollen wir den Versuch machen, ohne Voreingenommenheit, mit einer gewissen Harmlosig-

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Einleitung

keit an die antiken Geschichtsschreiber heranzutreten und sie nach ihrem Wollen und Wesen zu befragen, und zwar jeden einzelnen mit der Fragestellung, die er uns in die Hand gibt, indem wir gerade jenen Unstimmigkeiten mit Nachsicht begegnen und uns fragen, ob nicht gerade in ihnen die Entscheidung oder wenigstens ein Beitrag zur Entscheidung über das geschichtliche Kunstwerk liege und den Zauber, der von ihm ausgeht. Vor allem aber wollen wir uns hüten, den Begriff Kunstwerk schulmeisterlich einzuengen, vielmehr ihm Möglichkeiten einräumen, die über das rational Faßbare hinausgehen. Jede Methode soll uns recht sein, wenn sie zu Arbeitshypothesen führt, die alte Rätsel zu lösen imstande ist und Widersprüche in geheimen Harmonien zum Verschwinden bringt. Da die Methode je nach dem Schriftsteller gewechselt werden muß, müssen die einzelnen Kapitel eine große Selbständigkeit erhalten. Es ist naheliegend, daß wir mit solchem Vorhaben nur an die Schriftsteller herantreten können, die uns ganz oder zum wenigsten in großen Teilen erhalten sind. Eine Geschichte der antiken Historiographie kann dieses Buch demnach nicht werden; diese hat mit vielen Figuren zu rechnen, die wir nur dem Namen nach kennen oder mühsam aus Fragmenten rekonstruieren. Nur nebenbei tauchen solche Unbekannten manchmal bei uns auf, falls ohne sie Erscheinungen nicht zu deuten sind. Was von ihnen erhalten ist, findet man in dem großartigen Werk „Fragmente der griechischen Historiker" von Felix Jakoby, dem die Ungunst der Zeit die Weiterführung und Vollendung leider so sehr erschwert.

HERODOT Herodot von Halikarnaß (dorische Kolonie in Karien) ca. 500 bis ca. 424. Forschungsreisen führen ihn in weite Gebiete der damals zugänglichen Welt. Enge Beziehungen zum perikleischen Athen; Teilnahme an der athenischen Kolonisation von Thurioi (früher Sybaris) in Unteritalien (444). In Athen soll er auch Abschnitte aus seinem Geschichtswerk vorgelesen haben. E r erlebte noch die ersten Jahre des Peloponnesischen Krieges, wovon Spuren in seinem Werk enthalten sind. Diese seine loioQirjS dnödei-ig, Darstellung der Forschung (später erst in 9 Bücher untergeteilt), in jonischem Dialekt, der vor dem Siege des Attischen die herrschende Literatursprache war, ist uns als ältestes griechisches Geschichtswerk vollständig erhalten. Herodot und sein Werk sind nicht zu fassen, wenn man zu nahe an sie herantritt. Gerade das aber tut man und hat man tun müssen, wenn man ihn in erster Linie als Quelle nutzen wollte und sich darum für die von ihm berichteten einzelnen Tatsachen interessierte.

Es

entstand deshalb lange kein psychologisch verständliches Herodotbild; erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist es damit etwas anders geworden. Wahrt man nämlich keine Distanz zu ihm, so wird fast unbegreiflich, wie disparate Elemente in dem

einen

Buch vereinigt sind. Selbstverständlich wollte man dies nicht wahrhaben —

die Folge war, daß man einzelne

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Züge in den Vordergrund schob, sie als allein bestimmend erklärte, und alles, was dazu im Widerspruch stand, übersah oder als Nebenwerk behandelte. Schon allein der Rhythmus der ersten Hälfte des Werkes scheint ein anderer zu sein als der der zweiten. Während dort ein Episodenreichtum sondergleichen herrscht, das Ethnographisch-Geographische neben das Historische hintritt, ja oft auf lange Strecken überwiegt, ferner das Märchenhafte und Volkstümliche eine große Rolle spielt, außerdem das Ausländische den größten Platz einnimmt, enthalten die späteren Bücher im ganzen eine geschlossene Erzählung der Ereignisse der Jahre 480/79, d. h. jener Großtaten der griechischen Geschichte in der Abwehr der Perser, mit starkem nationalen Einschlag und betonter Hervorhebung der Bedeutung Athens für diesen Kampf. Es ist ohne weiteres verständlich, weil die Unterschiede räumlich auf die extremen Abschnitte des Werkes verteilt sind, daß man eine biographische Erklärung finden zu können und zu müssen glaubte. Der ursprünglich in der jonischen Mentalität beheimatete Ethnograph, so wollte man es sehen, wird durch einen Aufenthalt in Athen, durch persönliche Berührung mit dem Kreis des Perikles, zum nationalen Historiker, zum „Vater der Geschichte", wie ihn Cicero heißt. Gewiß ist es durchaus möglich, daß sich etwas Derartiges im Leben des Herodot abgespielt hat, aber ob man es aus dem Werk herauslesen darf, ist eine ganz andere Frage. Dieses enthält nämlich nichts, was dafür zu sprechen scheinen könnte, als die genannte Verschiedenheit in der Haltung in seinen beiden Hälften. Wenn man glaubte, sie nur dadurch in e i n e m Menschen unterbringen zu können, indem man sie in der Biographie des Verfassers

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zeitlich auseinander legte, so übersah man ganz, daß neben diesen Gegensätzlichkeiten eine Fülle anderer nicht minder einschneidender vorhanden ist, deren Deutung sich aber darum nicht so leicht ergeben konnte, weil sie über das ganze Werk zerstreut sind. Wollte man diesen mit der gleichen Methode beikommen, so verstieg man sich rasch zur Annahme komplizierter Über- und Umarbeitungen, die man nicht leicht einem anderen glaubwürdig und überzeugend machen konnte. Unüberbrückbar sind nämlich die Widersprüche in der Beurteilung des menschlichen Lebens und des menschlichen Glücks, in der Wertung von Gerechtigkeit und Unrecht; unerkennbar Herodots moralische Maßstäbe. Glaubt man in der Kroisosgeschichte erfaßt zu haben, daß jede Unersättlichkeit (nleoveSla), ja überhaupt schon jede Ausnahmestellung verhängnisvoll sei, „da die Götter das Hohe zu erniedrigen lieben" ( V I I , i o e ) , und wahres Glück nur in Bescheidung und einfachsten Verhältnissen denkbar sei, so beschäftigt er sich doch ausschließlich mit jenen Menschen, die Ungewöhnliches getan und geleistet haben (/ivrj/iöavva anotU^aa^at). Wohl weiß er in allen Teilen seines Werkes um die Notwendigkeit gerechten Handelns; er läßt die Gerechten belohnt und die Bösen bestraft werden. Ungerechtigkeit bringt keinen Gewinn. Aber dem gleichen Mann macht es eine diebische Freude, große oder kleine Erfolge zu verzeichnen, die mit den schlimmsten Mitteln errungen wurden. Von überragenden historischen Gestalten wie Themistokles, der sich in raffender Gier nicht genug tun kann, bis zu reinen Märchenschelmen wie Alkmeon, der seine Taschen im Schatzhaus des Kroisos füllen darf, und Rhampsinit, der die seinen ohne Erlaubnis in dem des

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Pharao füllt — welcher Reichtum liebevoll gezeichneter Glücksritter. Neben zartester Gewissensreaktion, die den Spartaner Glaukos aufs schwerste vom Schicksal bestraft werden läßt, weil er an den delphischen Gott die Anfrage stellen läßt, ob er eventuell anvertrautes Gut unterschlagen dürfe, der es aber nicht unterschlägt, sondern zurückerstattet, treffen wir eine Reihe erlesener Schwindeleien, die zu dauerndem Erfolg führen. Von göttlicher Strafe ist durch das ganze Werk hindurch die Rede; ja manchmal könnte man sogar meinen, daß der Sinn weltgeschichtlichen Geschehens in der Bestrafving begangener Schuld bestünde, macht sich Herodot doch darüber Gedanken, welches Verbrechen im speziellen bei größerer Auswahl die Ursache einer bestimmten Katastrophe sei (VII, 133). Die Strafe kann möglicherweise lange auf sich warten lassen, wie im Falle der ermordeten persischen Gesandten (VII, 137), trifft aber in geheimnisvoller Weise die irgendwie „Gezeichneten"; es müssen gar nicht die direkt Schuldigen sein. Besteht die Möglichkeit verschiedener Motivierung eines Schicksalsschlages, so entscheidet er sich nach Überlegung für die Annahme einer göttlichen Strafe (VI, 84), und ebenso Stimmt er ausdrücklich andern zu, die zu solcher Erklärung neigen (VIII, 129). Ja, gerade am Anfang seines Werkes wirft er das Problem auf, wer mit Unrecht tun, die Griechen oder die Barbaren, angefangen habe. Leicht könnte man dazu verführt werden, diesem Problem geschichtsphilosophische Bedeutung beizumessen. Aber an anderen Stellen sind die Götter alles andere als Vertreter des Rechts; sie sind neidisch und suchen den Unschuldigen heim, wie denn Solon zu Kroisos sagt: Alles Göttliche ist neidisch und schafft

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gerne Verwirrung. Nicht anders verhält es sich mit Herodots politischer Orientierung. Kein Zweifel, daß er in der Hauptsache ein Anhänger der Demokratie ist. „Freiheit", Isonomie, Isegorie, wie seine Bezeichnungen für demokratische Institutionen lauten, haben es ihm sichtlich angetan. So führt er den Aufschwung Athens auf die Einsetzung der Demokratie nach dem Sturz der Tyrannis zurück (V, 78) fj iorjyoQir] y.Qfjfia anovdalov „Demokratie ist eine vortreffliche Sache". Aber anderseits hat er gehörigen Respekt vor Tyrannen und Gewaltherrschern; besonders für Polykrates von Samos findet er ausnehmend warme Worte; aber auch für einen Zeitgenossen wie den König Alexander von Mazedonien oder für die Tyrannin seiner Heimat Halikarnaß, die Artemisia, die er als einen Götterliebling bezeichnet (VIII, 88). Nicht minder unhomogen steht eine wiederholt betonte fromme Scheu vor allem Göttlichen und Sakralen neben einem plumpen Rationalismus. Es läßt sich bei Wundern, Prophezeiungen, göttlichen Eingriffen usw. nie voraussagen, ob er sie gläubig hinzunehmen bereit ist, oder ob er urplötzlich von Zweifeln heimgesucht wird. So hält er es durchaus für möglich, daß der Boreas als Schwiegersohn des Erechtheus den Athenern half und die persischen Schiffe zerstreute (VII, 189), während er anderswo sich gegen dieAnnahme göttlicher Hilfe mehr als reserviert verhält. Sollte man dazu neigen, auch wo kein deutliches Wort des Mißtrauens dasteht, doch geheime Nebentöne von Ironie und verborgener Skepsis zu vernehmen, ist man vielleicht schon ein Opfer ausgleichender Tendenzen. Weitere Widersprüche treten in Herodots Verhaltungsweise zum Problem Griechen und Barbaren zutage:

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Neben wiederholten Äußerungen eines stolzen hellenischen Selbstbewußtseins (z. B. I, 60) beginnt doch schon bei ihm jene für das spätere Griechentum so bezeichnende und verhängnisvolle Überschätzung und Überwertung ausländischer Kulturen, in aller erster Linie der ägyptischen; sie wird als Ursprung und Quelle allen religiösen Lebens angesehen und die Ägypter selber die Gebildetsten aller Menschen, die Herodot kennengelernt hat, genannt. Die Gegensätze und Widersprüche erstrecken sich aber auch auf das rein formale Gebiet: Im großen und ganzen dominiert primitiv-archaische Logik und eine ihr entsprechende Ausdrucksform; aber dazwischen stoßen wir auf Formulierungen, die zum mindesten große Ähnlichkeit mit damals modern werdenden Errungenschaften der Sophistik und jugendlichen Rhetorik aufweisen. Wie soll man sich zu diesem verwirrenden Befund stellen ? Verschiedenheit der Quellen ? Parteilichkeit für bestimmte Personen, bestimmte Orte (Athen) ? Entstehung in verschiedenen Entwicklungsstufen des Autors ? Alle diese Lösungen sind versucht worden, durchgeführt und bestritten. Sicher ist das Bild vom frommen Herodot ebenso einseitig und falsch wie das vom frivolen, das des Patrioten wie das des vaterlandslosen Gesellen, des primitiven Herodot ebenso unrichtig wie dasjenige des Sophistenschülers. Sicher ist nur das eine, daß die Maßstäbe, mit denen er mißt, ständig wechseln, daß sie aufs stärkste vom Stoff abhängig sind. Anders ausgedrückt, daß sie an der Oberfläche liegen und Gemeinplätze sind, die wir nicht ernst nehmen dürfen. Es sind volkstümliche ethische Wertungen, die trotz ihrer Widersprüche neben-

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einander bestehen können, ohne sich auszuschließen. Sie sind Reaktionen auf bestimmte Situationen, sie gehören zu diesen und folgen automatisch auf sie. Nehmen wir als Beispiel den Tod der Pheretima, die eine gräßliche Rache an ihren Feinden vollzieht, am Ende aber bei lebendigem Leib von den Würmern gefressen wird, was die abschließende Sentenz auslöst: „Es nehmen eben die Götter dem Menschen allzu heftige Rachehandlungen übel." Es steht damit nicht anders als mit den moralischen Rekapitulationen in der Tragödie, die ebenfalls in der Hauptsache der augenblicklichen Situation entsprungen sind, und die man zu Unrecht auf das Konto der Weltanschauung des Dichters buchen wollte. So sind Herodot wie die Tragödien Fundgruben populärer Weisheit. Beiden fehlt in gleichem Maße jede Neigung zu systematischem Denken und jede Fähigkeit dazu. Sie stellen ihr Werk nicht auf einen gedanklichen Nenner. Bei den Tragikern ist dies begreiflich; ihnen muß jedes Ding Mittel zu ihrem künstlerischen Zweck werden. Wie steht es aber mit Herodot? Wenn wir auch vom Historiker keine Systematik erwarten, so ist doch für Forschung und Darstellung ein gewisses geschlossenes Weltbild Voraussetzung, mag dieses noch so primitiv, noch so unoriginell sein. Er wird gezwungen sein, sich eine geschichtsphilosophische Grundlage zu schaffen, um überhaupt den Weg zur Welt geschichtlichen Geschehens zu finden. Wahrheitskritik und Auswahl kann nur auf einer solchen Basis stattfinden. Herodot hat aber diese Nötigung offenbar nicht empfunden. Ist er etwa gar kein Historiker, d. h. hat er gar nicht die Absicht, festzustellen, was Wahrheit ist, was tatsächlich geschehen ist?

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Sicherlich ist eine solche Alternative übertrieben. Die Frage kann nur lauten: Ist Herodot nicht in erster Linie Historiker? Was ist es aber sonst, was ihn dazu gebracht hat, ein Werk zu schreiben, das alle damals existierenden Prosaschriften bei weitem an Umfang übertraf ? Ist eine andere Leidenschaft, etwa die künstlerische, überwiegend? Aber in diesen vagen Formulierungen will eine solche Behauptung nichts bedeuten. Es müßte ihm ein besonderes künstlerisches Ziel gesteckt sein, das so sehr Selbstzweck ist, daß darüber der Inhalt zu kurz käme. Das Werk wird, genau besehen, uns darüber Auskunft geben; wir müssen uns aber darüber klar sein, daß die gesuchte künstlerische Einheit eine verborgene Einheit sein wird, die wahrscheinlich vom Autor selber versteckt wird. Der Inhalt des Herodoteischen Buches ist aber auf jeden Fall die gesamte Weltgeschichte inklusiv die Geographie und Ethnographie der damals bekannten Oikumene, Weltgeschichte von den Anfängen an, soweit das Gedächtnis zurückreicht, bis zum Ende des Jahres 479. Mit letzterer Feststellung rühren wir bereits an ein sehr schwieriges Problem, das von uns nicht übergangen werden darf, obgleich eine Stellungnahme dazu erst später möglich ist. Es herrscht nämlich Uneinigkeit darüber, ob Herodot sein Werk zu dem von ihm vorgenommenen Ende bringen konnte, oder ob ihn der Tod mitten in der Arbeit überraschte. Diese Vermutung ist gerade aus dem Abschluß des Werkes erschlossen, der tatsächlich sehr seltsam ist: Der detaillierten Schilderung der großen Schlachten der Perserkriege, Salamis, Plataiai und Mykale schließt sich eine gräßliche Harems-

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geschichte an, die am persischen Hof spielt; darauf wendet sich der Autor wieder zu den siegreichen Griechen, schildert ihre Beratungen über ihr weiteres Vorgehen, die Einnahme von Sestos im Herbst 479, den Tod resp. die Bestrafung der persischen Beamten in den eroberten Gebieten. An den Namen des einen dieser Perser, Artayktes, knüpft er eine Anekdote von einem Vorfahren dieses Mannes an, der dem König Kyros (also 50 Jahre früher) nach dessen Machtergreifimg die Auswanderung empfiehlt in ein besseres Land, als es das rauhe Persien ist, was von Kyros aber energisch abgelehnt wird, indem dieser warnend auf die damit den Persern drohende Verweichlichung hinweist. Damit schließt Herodot — sicherlich ein für unser Gefühl unverständlicher Schluß, denn in diese letzten Worte etwas Bedeutungsvolles hineinzugeheimnissen wie eine Warnung an das imperialistische Athen ist nicht statthaft. So müssen wir es verstehen, wenn eine Mehrheit von Forschern in diesem Ende ein Zufallsprodukt sieht, eine Meinung, die dadurch unterstützt zu werden scheint, daß sich einige Unebenheiten im Innern des Werkes wie das Nichtvorhandensein eines angekündigten Kapitels über Assyrien, das Vorhandensein von Doubletten und ähnliches mehr am einfachsten durch das Fehlen einer letzten Bearbeitimg erklärt zu werden scheinen. Aber im Gegensatz zu Thukydides, wo die gleiche Tatsache sich einwandfrei beweisen läßt, ist bei Herodot die Unabgeschlossenheit nur Hypothese. Aber auch diejenigen, die an diese Hypothese glauben, sind nicht der Meinung, daß das Werk wesentlich umfangreicher geplant war, so daß wir ruhig das wirkliche Ende der von ihm zu schildernden Weltgeschichte in die zeit-

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liehe Nähe des jetzigen Schlusses legen dürfen, also in die Zeit kurz nach den großen Schlachten gegen die Perser. Um diesen Stoff darzustellen, wäre der natürliche Weg gewesen (und war es auch bei allen späteren Welthistorikern), mit den ältesten Völkern zu beginnen, d. h. natürlich mit den Ägyptern, an die sich die mesopotamischen Reiche anschließen, um zuletzt zu den Griechen zu kommen. Herodot scheint an dessen Stelle eine sehr komplizierte Organisation seines überreichen Stoffes zu wählen. Wenigstens verspricht dies der Anfang des Werkes, beginnend mit dem Schlußabsatz des Titelsatzes. Dieser kündigt zuerst eine allgemeine Geschichte der Griechen und Barbaren an (von diesem Teil wollen wir später reden) und speziell, warum diese miteinander in kriegerische Konflikte gerieten. Die Antwort darauf geben die ersten Kapitel für die mythische Zeit: es sind rätselhafte rationalistische Umdeutungen der Sagen von der Io, Europa, Medea, Helena usw., von denen ebenfalls später die Rede sein soll. Herodot fährt dann fort, nachdem er verschiedene Versionen jener Geschichten erzählt hat: „Ich kann nicht sagen, ob sich diese Dinge so oder so abgespielt haben; den Mann werde ich jetzt aber nennen, der zuerst mit Angriffen gegen die Griechen begann; von da aus werde ich weitergehen in meiner Erzählung usw." Dieser Mann ist Kroisos, König von Lydien. „Dieser war der Früheste der Barbaren, von denen wir Kunde haben, der die Griechen teils tributpflichtig machte, teils als Bundesgenossen gewann." Was nun folgt, ist der lydische „Logos" (mit diesem Ausdruck bezeichnet Herodot seine Kapitel), in dem die Unterwerfung der Griechen vorkommt, aber durchaus eine bescheidene Rolle

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spielt. Überhaupt geht das Thema für die erste Hälfte des Werkes fast ganz verloren; in der zweiten Hälfte tritt ja dann der Kampf der Barbaren und Griechen in den Vordergrund in der Darstellung des Perserkrieges; aber weder sind das die Ursachen des Konfliktes, die er programmatisch angekündigt hat, noch bestimmen sie irgendwie die Einteilung des Werkes. Es geht also nicht an, in diesem Thema eine geschichtsphilosophische Idee zu sehen, die das Werk des Herodot beherrschte. Vielmehr ist ein anderes ordnendes Prinzip bald sichtbar: die Reihenfolge der Perserkönige. Die großen Namen des Kyros, Kambyses, Dareios, Xerxes sind ebenso viele Abschnitte des Werkes; die einzige Störung ist die schon genannte Vorausnahme des Lyders Kroisos, der eigentlich unter das Kapitel des Perserkönigs Kyros, dem er ja zuletzt erliegt, eingefügt sein sollte, ein Zeichen, daß das Programm des Einleitungssatzes nur gerade den Anfang beeinflußt und dann aufgegeben wird zugunsten der Teilung nach persischen Königen. In die Abschnitte dieser Monarchen ist, abgesehen von den Ereignissen, die unter ihnen sich abspielen, mehr oder weniger gewaltsam die ganze Weltgeschichte eingeschachtelt, jeweils in ihren Teilen anknüpfend an die Eroberungszüge dieser Weltbeherrscher. So wird in die Regierungszeit des Kyros, der der Mederherrschaft und dem babylonischen Reich ein Ende gemacht hat, der Logos von Medien, von Persien und von Babylonien eingefügt, in die des Kambyses, des Unterwerfers von Ägypten, der Logos von Ägypten, in die des Dareios das Skythenland, Libyen, Thrakien und Griechenland (das Wichtigste von Sparta und Athen bei Anlaß des jonischen Aufstandes), um nur die großen Blöcke zu nennen.

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Viele Kleinigkeiten daneben; solche dann auch noch im Leben des Xerxes, der im übrigen das Reich nicht mehr erweitert hat. Auch dieses Ordnungsprinzip hat man dadurch entwerten wollen, daß man die übrigens unbewiesene Behauptung aufstellte, daß eine Einteilung nach persischen Königen schon bei Herodots Vorgängern üblich gewesen sei; ja wiederum wollte man biographisch deuten, indem man Herodot zu einem anfänglichen Verfasser von nsQutxä (persische Geschichte) stempelte, bis er dann durch höhere Einsicht zu jenem vollkommeneren Programm der Konflikte zwischen Barbaren und Griechen vorgedrungen wäre, das dann auch richtig die ursprüngliche Ordnung zu Beginn veränderte und verwirrte. Daß der zweite Teil dieses Gedankens falsch ist, weil dieses vollkommenere Programm tatsächlich nur die ersten Kapitel beeinflußt, haben wir schon gesehen. Aber auch der andere Teil, die Zwangsabhängigkeit Herodots von einer Tradition, das Weltgeschehen nach persischen Königen zu datieren, kann nicht richtig sein, denn dann müßte die komplizierte Einschachtelungstechnik unbequemer Nötigung entspringen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß der Autor nicht nur gute Miene dazu macht, sondern mit größtem Behagen darin lebt und webt, daß die ganz einzigartige Exkurstechnik nicht äußerem Zwang, sondern bewußt geübtem Stilwillen entspricht. Diese Exkurse sind ja, namentlich in der ersten Hälfte, das Auffallende und Bezaubernde am Werk. Nicht inhaltlich ist das gemeint, sondern formell, sind sie doch von einer unvergleichlichen Vielgestaltigkeit. Schon rein ihrer Größe nach sind alle Stufen vertreten vom Umfang eines ganzen Buches, wie der

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ägyptische Logos, der den Rahmen zu sprengen, ihn völlig in Vergessenheit geraten zu lassen scheint, so daß man auch darin wiederum Vorstufen des Werkes, ältere Fassungen wittern zu müssen meinte, isolierte Logoi entweder für Sonderpublikationen oder für Vorträge -— daß er solche gehalten hat, ist für Athen bezeugt — bis hinunter zu kleinen und kleinsten. Viel wichtiger aber ist die Art ihrer Entstehung, die bunte Technik der Anknüpfung, der Einschachtelung, der Einfügung von Exkursen in Exkurse. Wer diesem neckischen Spiel nachgeht, muß sich bald davon überzeugen, daß hier nicht Unfreiheit vorliegt, sondern im Gegenteil die letzte Freiwilligkeit einer Kunstübung. Herodot liebt seine Exkurse, das fühlt man an der Begeisterung, der Unermüdlichkeit, mit der er sie handhabt. So wundern wir uns nicht, wenn er selber einmal sagt: „Exkurse hat nämlich mein Buch von Anfang an gesucht" (IV, 30). Es ist durchaus notwendig, sich an einem Beispiel einen Einblick in die Technik dieser Exkurse oder Einschiebsel, wie Herodot sie selber nennt, zu verschaffen, damit man sich davon überzeugt, daß es sich nicht um leere Materialablagerung handelt, sondern um lebendiges Schaffen. Verfolgen wir einmal die Ereignisse aus der Mitte des V. Buches: wir stehen in der Regierungszeit des Dareios. Es handelt sich um die Vorgeschichte des jonischen Aufstandes. Aristagoras von Milet befindet sich auf seiner Reise ins griechische Mutterland, um Bundesgenossen zu werben. In Sparta hat er keinen Erfolg gehabt; jetzt kommt er nach Athen (§ 55), das auf folgende Weise von seinen Tyrannen befreit worden war. So stehen wir schon mit dem ersten Satz in einem

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Einschiebsel drin, der Geschichte der Befreiung Athens von der Tyrannis, die ein Dezennium zurückliegt gegenüber der Haupthandlung. E s werden die berühmten Tyrannenmörder, Aristogeiton und Harmodios, genannt, „die ihrer Herkunft nach Gephyräer waren", und ihre T a t kurz geschildert, vor allem aber ein Traum, den ihr Opfer, der Tyrann Hipparch, vor seiner Ermordung hatte. § 5 7 : „Die Gephyräer aber, zu denen die Mörder des Hipparch gehören, stammen usw.", also bereits ein Exkurs im Exkurs. Nach Herodots Ansicht gehören die Gephyräer zu den unter Kadmos nach Böotien gekommenen Phöniziern, deren Geschichte erzählt wird. § 5 8 : „ D i e unter Kadmos gekommenen Phönizier, zu denen die Gephyräer gehörten, brachten vieles nach Griechenland, in erster Linie aber die Schrift" — also ein Exkurs in einem Exkurs, der seinerseits in einem Exkurs steht. E s folgt weiteres über Schrift und Schriftmaterial jener Vorzeit. § 5 9 : „ I c h selber sah kadmeische Zeichen im Tempel des ismenischen Apollo im böotischen Theben", worauf diese von ihm dort gefundenen nach Herodots Meinung hochaltertümlichen Inschriften im Wortlaut mitgeteilt werden nebst einer Deutung der in ihnen vorkommenden mythischen Personen; auf der zuletzt angeführten ist ein Laodamas erwähnt. „Unter der Herrschaft des Laodamas, des Sohnes des Eteokles, werden die Kadmeer von den Argivern vertrieben (es ist dies der sog. Epigonenzug), und wenden sich zu den Encheleern in Illyrien; die Gephyräer aber, die zurückblieben, weichen später vor den Böotern nach Athen; dort haben sie . . . " So werden also geschickt beide Einschiebsel kurz nacheinander aufgelöst. § 62 beginnt sodann: „Der Traum des Hipparch und die Herkunft

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der Gephyräer, zu denen die Mörder des Hipparch gehörten, sind von mir erzählt worden; jetzt muß ich aber die Geschichte, die ich oben zu erzählen begonnen habe, wieder aufnehmen, nämlich wie Athen von den Tyrannen befreit wurde." Ausführliche Darstellung dieser Ereignisse bis § 65. A m Schluß heißt es: „ S o wurde Athen von den Tyrannen befreit; was die Athener aber nach der Befreiung Erzählenswertes taten oder erlitten, bevor die Ionier von Dareios abfielen und der Milesier Aristagoras nach Athen kam, um von den Athenern Hilfe zu erbitten, das werde ich zuerst erzählen." E s wird also der frühere Exkurs gleichsam verlängert, aber deutlich in Erinnerung gerufen, daß es sich um einen solchen handelt. Von Athen, dem befreiten und aufblühenden, wird dann erzählt, daß zwei Männer um die Führerstellung kämpften, der Alkmeonide Kleisthenes und Isagoras. In Kürze — und, nebenbei bemerkt, ohne rechtes Verständnis — werden die großen Veränderungen der athenischen Verfassung angeführt, die dem genannten Kleisthenes verdankt werden. Mit diesen Änderungen, so heißt es weiter, ahmte er seinen mütterlichen Großvater, den Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, nach. E s folgen sehr drastische Erzählungen von diesem Sikyonier Kleisthenes. Sie schließen (Anfang § 69): „Das hatte Kleisthenes von Sikyon getan; der Athener Kleisthenes aber, der Tochtersohn dieses Sikyoniers, nach dem er den Namen hatte, ahmte seinen Namensvetter Kleisthenes nach . . . " Mit diesen Mitteln, erzählt Herodot weiter, schwingt er sich weit über seinen Rivalen Isagoras empor. Da unternimmt dieser folgendes: er stiftet den spartanischen König Kleomenes an, von den Athenern die Vertreibung des Kleisthenes zu ver-

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langen, da dessen Familie, die Alkmeoniden, in eine Blutschuld verstrickt sei. E s folgt die Erzählung dieser Schuld, des sog. kylonischen Frevels, der zeitlich sehr weit zurückliegt. Kleisthenes muß weichen, kehrt aber bald wieder zurück, was zu Konflikten mit Sparta führt. In ihrer Angst vor Sparta schicken die Athener sogar Gesandte zu Dareios, die, wie Herodot versichert, auf eigene Verantwortung dem Großkönig Erde und Wasser anbieten, d. h. ihre Unterwerfung! Der Spartaner Kleomenes beginnt dann auch richtig den Krieg gegen Athen. Kurzer Exkurs über die spartanischen Einfälle ins attische Gebiet. Kämpfe der Athener gegen die Chalkidier und die Böoter. In diesem Krieg greifen auch die Aigineten ein „in Erinnerung an eine alte Feindschaft gegen die Athener" (§ 81). Natürlich wird jetzt die Ursache dieser alten Feindschaft berichtet, eine breite Geschichte, in der zuletzt die Greueltat erzählt wird, wie die attischen Frauen mit ihren Kleiderspangen den einzigen Überlebenden aus einer furchtbaren Niederlage erstachen, was einen Trachtenwechsel an beiden Orten, hier zum Zeichen des Triumphes, dort als Zeichen der Schmach zur Folge hat. § 92: „Das war die Ursache des Streites zwischen Athen und Aigina." Damit erfolgt wiederum die Rückkehr zum Hauptexkurs, der den Ereignissen in Athen nach dem Sturz der Tyrannis gewidmet ist. Die Spartaner rufen eine Versammlung von Delegierten ihrer Bundesgenossen ein in Anwesenheit des aus Athen vertriebenen Hippias. Nach kurzer Rede des Spartaners folgt eine ausführliche des Korinthers Sosikles, der in breiter Schilderung die Vorgeschichte Korinths, speziell die Zeit der Tyrannen Kypselos und Periander bringt — also Exkurs in der Form einer Rede

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— und den Krieg gegen Athen ablehnt. Es folgen die letzten Versuche der Peisistratiden, sich wieder der Herrschaft in Athen zu bemächtigen; jetzt weilen sie am Perserhof und verketzern dort die Athener. Zu der Zeit, wo diese sich klar darüber waren, daß die Perser ihnen feind seien, kommt der Milesier Aristagoras nach Athen (§ 97). Damit sind wir wieder in die Haupthandlung zurückgekehrt. In diesem einen Stück haben wir den ganzen Reichtum der Exkurs- und Anknüpfungstechnik Herodots kennenlernen können. Mögen hier auf kleinem Raum besonders viele kuriose Hilfsmittel der Einfügung gehäuft sein, so wiederholen sie sich doch durch das ganze Werk hindurch. So hat schon im 1. Buch eine Gesandtschaft des Kroisos nach Sparta und Athen ähnlich derjenigen des Aristagoras Anlaß zu einem Einschiebsel athenischer und spartanischer Geschichte in den lydischen Logos gegeben. In gleichem Sinn braucht Herodot die Herolde, die Dareios (VI, 48 f.) an die griechischen Staaten schickt, um ihre Unterwerfung zu fordern, zur Erzählung eines Stückes spartanischer Geschichte, eine Gesandtschaft der Griechen an Gelon von Agrigent, um einen sizilischen Logos einzuschieben (VII, 157). Ein Sprung vom Enkel zum Großvater, wie wir ihm oben bei Kleisthenes begegnet sind, wiederholt sich seltsamerweise noch einmal ganz am Ende des Werkes (IX, 122). Auch ist die oben angeführte nicht die einzige Stelle, wo eine Rede als Exkurs zu dienen hat. VI, 86 legt Herodot dem Leutychides die Geschichte von Glaukos und dem ihm anvertrauten Unterpfand als Rede in den Mund, und IV, 102 wird eine Versammlung der von den Skythen um Hilfe angerufenen Völker dazu verwendet,

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die Ethnographie dieser Völker zu bringen, oder, so werden wir ohne Bedenken sagen, Herodot konstruiert an dieser Stelle eine V e r s a m m l u n g , um diese E t h n o g r a p h i e bringen zu können. Solchen kleinen Geschichtsklitterungen, die nur da sind, um E x kurse zu ermöglichen, begegnen wir nicht selten. So knüpft sich die Schilderung Afrikas an die Expedition unter Dareios gegen Kyrene dadurch an, daß Herodot die unglaubwürdige Behauptung aufstellt, diese Expedition hätte die Unterwerfung ganz Afrikas zum Ziele gehabt. Noch durchsichtiger sind Anknüpfungen folgender Art: Herodot läßt auf dem Skythenzug Dareios das Schwarze Meer betrachten, was ihm das Recht zu einem Exkurs über dieses Meer gibt (IV, 85); den Xerxes befällt die Sehnsucht, zu Schiff vor die Mündung des Peneios zu fahren, damit Herodot vom Tempetal und von Thessalien sprechen kann (VII, 128). „In Halos in der Phthiotis fühlen die Führer das Bedürfnis, dem Xerxes alles zu erzählen." Das führt zur Geschichte von Phrixos (VII, 197). Noch seltsamer ist die Schilderung des Königsweges von Kleinasien nach Susa an eine Frage des spartanischen Königs an den hilfeheischenden Aristagoras angeknüpft, die Frage nach der Distanz vom Ägäischen Meer bis zum Zentrum des persischen Reiches (V, 52). So gut verankert die Frage in einer anekdotischen Handlung ist, so müssen wir doch den Verdacht haben, sie sei nur um des Exkurses willen gestellt, da der Gedanke eines Marsches der Spartaner gegen die Perserhauptstadt absurd ist. Das Raffinement Herodots erweist sich aber nicht nur in der Technik der Anknüpfung, sondern auch in der Vielfalt der Formen der Exkurse, ganz abgesehen von

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der Verschiedenheit ihres Umfanges. Neben kompakten Massen wie dem ägyptischen Logos sind andere Logoi aufgespalten. Von der Verteilung der griechischen Vorgeschichte auf verschiedene Exkurse haben wir schon gesprochen; die Geschichte von Samos und seinem großen Tyrannen Polykrates ist in zwei Stücke aufgelöst. Dabei wollen wir roch auf den kuriosen Schlußabschnitt des ersten dieser beiden samischen Kapitel hinweisen, der mit unabsichtlicher oder absichtlicher Ungeschicklichkeit mit den Worten anhebt: „Ich verlängere die Geschichte von den Samiern, weil sie drei Bauwerke besitzen, wie sie an keinem anderen griechischen Ort vorkommen." Es folgt die kurze Schilderung dieser Bauten, worauf Herodot schließt: „Um dieser willen habe ich die Erzählung von den Samiern verlängert." Eine Teilung vollzieht Herodot auch im skythischen Logos: der Hauptteil desselben kommt v o r den Kriegszug des Dareios zu liegen; ein Kapitel über die Topographie wird erst eingeschoben im Moment, wo Dareios das Skythenland betritt. Meistens vollziehen sich diese Praktiken, ohne daß der Leser sie bemerkt, wenn er nicht besonders aufpaßt. In fast listig versteckter Weise führt Herodot in die Exkurse hinein. Anderswo aber betont er auffällig den Exkurscharakter und weist auf den abgebrochenen Faden hin. Neben der obenerwähnten Stelle des samischen Logos weise ich auf I, 140 und VII, 137 hin, wo er gleichlautend mitteilt: „Ich werde zum früheren Logos zurückkehren" oder VII, 239: „Ich werde jetzt an jene Stelle des Logos zurückkehren, wo er mir oben aufhörte" oder VII, 1 7 1 : „Die Erzählung von den Reginern und Tarentinern ist ein Einschiebsel in meinen Logos."

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Die Beispiele, die wir zur Illustration der herodoteischen Exkurstechnik bringen können, stammen aus allen Teilen des Werkes, aus der zweiten Hälfte so gut wie aus der ersten. Bei näherem Zusehen erweist sich als ein Irrtum, wenn man meint, der erste Teil sei exkursreicher als der zweite. Es ist nur insofern richtig, als sich dort größere und auffallendere, den Rahmen sprengende Exkurse, eben jene ethnographischen Logoi finden. Besonders der Xerxeszug in der zweiten Hälfte hat eine Unmenge von Einschiebseln, ja bei genauerer Beobachtung stellt man fest, daß eine ganze Anzahl von Stationen dieses Zuges keinen anderen Sinn haben, als die Möglichkeit zur Einflechtung von Exkursen zu geben, die lokalen oder regionalen Eigentümlichkeiten ethnographischer oder historischer Natur gewidmet sind. Mit anderen Worten: Herodot hat keine wirkliche Kenntnis solcher Aufenthalte; höchstens konnte er sich errechnen, daß sie stattgefunden haben mußten. Er registriert sie aber um der Einlagen willen. Daß die berühmten Schilderungen der Kämpfe bei den Thermopylen, bei Salamis, bei Plataiai, bei Mykale ganz exkursfrei sind, das ist richtig; darüber soll noch gesprochen werden. Aber kaum sind sie abgeschlossen, so kehrt Herodot mit besonderer Auffälligkeit zu seiner gewohnten Technik zurück; das gleiche können wir schon bei der Schlacht bei Marathon konstatieren. Dort stürzt er sich, kaum mit der Schlachtschilderung fertig, in jenes Anekdotenmaterial, das mit dem behaupteten Verrat durch die Alkmeoniden und überhaupt mit dieser Familie zusammenhängt. Darunter sind Juwelen wie die Anekdote von Alkmeon im Schatzhaus des Kroisos und die Geschichte, wie der Tyrann Kleisthenes von Sikyon sich

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einen Schwiegersohn sucht. Wie verwachsen Herodot mit der Exkurstechnik ist, zeigt instruktiv im kleinen der ägyptische Logos, der auf einen geographisch-ethnographischen Teil einen gleich großen historischen folgen läßt, der aber immer wieder Anlaß zu geographischen Exkursen bietet, in denen ausgedehnte Schilderungen gewisser Orte an passender Stelle eingeführt werden, der gleiche Vorgang also, den wir schon beim Xerxeszug beobachtet haben. Ohne daß wir es suchten, ist uns bei der Schilderung der Exkurstechnik des Herodot an einzelnen Beispielen deutlich geworden, daß um der Form willen der Inhalt konstruiert wird, d. h. von unserem modernen empfindlichen historischen Wahrheitsbegriff aus beurteilt, gefälscht wird. Nie dürfte es sich ein moderner Historiker erlauben, eine Ratsversammlung, eine Spazierfahrt des Xerxes, Reden zu erfinden, auch wenn diese Abweichung von dem, was überliefert ist, noch so gleichgültig ist; ja, wenn es sogar durchaus möglich ist, daß ein derartiges Geschehnis wirklich stattgefunden hat. Natürlich will Herodot auch die Wahrheit und haßt er die Lüge. Aber er versteht etwas ganz anderes darunter, als wir es tun; vor allem ist in sehr auffälliger Weise sein Wahrheitsbegriff auf verschiedenen Wissensgebieten sehr verschieden. In geographisch-ethnographischen Fragen legt er höchstes Gewicht auf ötpig, eigenen Augenschein; er teilt im allgemeinen sorgfältig mit, wie weit dieser reicht und wo er aufhört und wo er somit auf fremde Berichte angewiesen ist. Wir können dank der Sorgfalt seiner Angaben genau verfolgen, wo und wie weit er reiste, welche Orte in Ägypten und im vorderen Orient er auf seinen Forschungsreisen besuchte; denn

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um solche handelt es sich und nicht um Nebenergebnisse von Geschäftsreisen, wie er an einer Stelle sagt: „ D a ich darüber mir Gewißheit verschaffen wollte, fuhr ich sogar nach Tyrus." Besonders interessant ist seine wissenschaftliche Exaktheit in den Problemen des Schwarzen Meeres und der Nordteile von Europa. Ebenso gewissenhaft ist sein Verhalten naturwissenschaftlichen Problemen gegenüber. Hier übt er auf Grund seiner Erfahrungen Kritik; er läßt seinen kritischen Verstand entscheiden. Hübsch ist der Stolz auf diesen seinen kritischen Verstand: II, 18, wo er befriedigt erzählt, wie er sich eine bestimmte Ansicht über die Entstehung Ägyptens gebildet, die dann durch ein Orakel des Ammon bestätigt wurde, das er aber erst nachträglich (itja ¿fifwmov yväfiT]*; VOTSQOV) erfuhr. Seine Kritik ist qualitativ nicht sehr von der heutigen verschieden, nur ihr Maß, ihre Strenge ist natürlich noch gering; die Schlüsse, die er zieht, oft voreilig. Diese Erscheinung teilt er aber mit den Vorsokratikem, die doch schließlich der Welt die Wissenschaft geschenkt und erschlossen haben. Auf Grund solcher Kritik verweist er Wunder aller Art in das Reich der Phantasie, Menschen, die sich in Wölfe verwandeln, Bienen, die das Vordringen nach dem Norden verhindern, Ziegenfüßler und Winterschläfer, Einäugige, die Behauptung, daß einer 80 Stadien weit unter Wasser schwimmen konnte usw. Oder dann sucht er Unbegreifliches in einer Weise zu erklären, daß es nicht mehr aus der vertrauten naturwissenschaftlichen Erfahrung herausfällt; so deutet er eine an und für sich unverständliche naturwissenschaftliche Angabe aus Afrika durch Beobachtungen, die er selber in Zakynthos gemacht hatte (IV, 195); er nennt das: durch Bekanntes Unver-

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standenes deuten (11,33). Auf historischem Gebiet aber beschränkt sich seine IOTOQIT}, sein Forschen, auf Sammlung alles dessen, was erzählt wird; die taxoQirjs äniöebs Darlegung seiner Forschung, wie er im Titelsatz sein Werk nennt, ist eine Darstellung aller Berichte, die er gesammelt hat. Für sein ganzes Buch, so erklärt er einmal deutlich (II, 123), betrachte er als seine Aufgabe, „das, was jeder berichtet, so wie ich es hörte, aufzuzeichnen"; an einer anderen Stelle (VII, 152) sagt er: „Ich habe die Pflicht zu erzählen, was berichtet wird, dieses aber zu glauben, ist ganz und gar nicht meine Pflicht." So teilt er bei verschiedenen Versionen nicht nur die mit, die er glaubt, sondern auch die weniger glaubwürdige (III, 9); er erklärt, daß gewisse Gewährsmänner ihn mit ihren Berichten zwar nicht überzeugen, „sie erzählen es aber und legen sogar einen Eid dabei ab" (IV, 105). Manchmal schiebt er, ohne viele Worte zu machen, durch Nennung seiner Quellen die Verantwortung ab (z. B. IV, 173); andere Male erklärt er sich für neutral („Weder versage ich meinen Glauben noch bin ich wirklich überzeugt; es ist ja gleichgültig", IV, 96), oder er überläßt, indem er die auseinandergehenden Nachrichten vorlegt, die Entscheidung dem Leser: „Jeder mag der Meinung beitreten, die er für die richtige ansieht" (V, 45); andere Male wiederum entschließt er sich, seine eigene Entscheidung bekanntzugeben (so IV, 11). Trifft er aber Entscheidungen oder stößt er zu Zweifeln vor, so geschieht dies nicht auf Grund quellenkritischer Überlegungen, sondern einzig und allein durch psychologische Erwägungen: z. B. erstaunt er (VII, 154) über eine bedeutende Tat, die ein gewisser Telines aus

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Gela getan haben soll. „Denn solche Taten kann nicht jeder Beliebige, sondern nur ein beherzter und mutiger Mann vollbringen, Telines aber soll ein weichlicher und feiger Mensch gewesen sein." Also auch hier wieder eine Art naturwissenschaftlicher Kritik, denn verglichen mit historischer Kritik dürfen wir psychologische Erwägungen unter sie einreihen. Bezeichnend sind seine Einwände gegen die Legende von Herakles in Ägypten, den nach der Sage die Ägypter den Göttern opfern wollten. Wie sollen die Ägypter, die keine Tiere töten, ein Menschenopfer vollziehen (II, 45) ? Daß jegliche Quellenkritik ihm fern liegt, geht schon aus der sicheren Tatsache hervor, daß er geflissentlich alle geschriebenen Quellen verschweigt, außer in den wenigen Fällen, wo er polemisiert. Ohne allen Zweifel verdankt er Vorgängern wie Hekataios von Milet sehr viel; dank seiner Verschleierungstechnik ist es uns freilich unmöglich, zu sagen, wieviel. An ihre Stelle rückt er offenbar gerne Angaben wie: „Die Griechen erzählen, die Spartaner, die Jonier usw.", so daß solche Notizen aussehen wie die durch mündliche Erkundimg erlangten Angaben der Eingeborenen in Ägypten oder Babylonien. E s besteht bei ihm die Neigung, das schriftliche Verfahren in ein mündliches zu verwandeln, wovon wir noch zu sprechen haben. Von dem Gesagten aus ist freilich kein großer Schritt mehr zum Verdacht, daß Herodot Quellen oder Gewährsmänner einfach erfindet. Der Kenner der Wissenschaftsgeschichte weiß, daß die Zeiten gar nicht so weit zurückliegen, wo solcher Brauch von Gelehrten geübt wurde, die sich im übrigen Verdienste um geschichtliche Forschung erworben haben. Natürlich wird es unmög-

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lieh sein, Herodot im einzelnen Fall zu überführen, müssen wir doch zugeben, daß speziell in Ägypten offenbar für griechische Reisende Dolmetscher, letzten Endes wahrscheinlich griechischer Herkunft (II, 154), dawaren, die bereit waren, das Blaue vom Himmel herunterzuschwindeln, namentlich wenn ihre Klienten ihnen durch Suggestivfragen verrieten, was sie gerne hören wollten. Aber diese entgegenkommende Deutung hat ihre Grenzen. Als Beispiel will ich einen ganz exponierten Abschnitt vorlegen, jenes mythologische Kapitel unmittelbar nach dem Titelsatz, der die Absicht ankündigt, speziell die Ursache des Krieges zwischen Griechen und Barbaren darzulegen. Herodot fährt dann fort: Die Schriftgelehrten der Perser erzählen, die Phönizier seien die Ursache des Konfliktes. Sie seien als Kaufleute unter anderen Orten auch nach Argos gekommen. Von dort hätten sie die Königstochter Io entführt und nach Ägypten gebracht. Auf diese Weise sei Io nach Ägypten gekommen, nicht so wie die Griechen erzählen. Griechisch ist, nebenbei bemerkt, der Mythos von Io als der Geliebten des Zeus, welche die eifersüchtige Hera von einer Bremse durch die ganze Welt treiben läßt, bis sie in Ägypten den Epaphos gebiert. Das sei, so berichtet Herodot als Aussage der Perser, der Beginn der Ungerechtigkeiten gewesen. Nachher hätten sich die Griechen einer anderen Ungerechtigkeit schuldig gemacht. Einige von ihnen rauben die Europa aus Tyrus in Phönizien. Wahrscheinlich sind dies Kreter gewesen. Also eine rationalistische Umdeutung des bekannten Europamythus. Damit seien die beiden Parteien quitt gewesen; jetzt hätten die Griechen wieder angefangen: Der Argonautenzug nach Kolchis mit der Entführung

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der Medea. Antwort darauf: Der Raub der Helena durch Paris. Auf die Reklamationen von seiten der Griechen hätten die Barbaren sich damit entschuldigt, daß jene die Medea auch nicht zurückgegeben hätten. Bis dahin seien es nur Entführungen gewesen; jetzt aber hätten die Griechen eine große Schuld auf sich geladen. Sie hätten nämlich den Anfang mit einem richtigen Heereszug gemacht. „Frauen zu rauben, hielten sie (die persischen Schriftgelehrten) zwar für die Tat ungerechter Menschen, aber einen Frauenraub ernstlich zu rächen, das sei die Tat von dummen; sich aber nicht darum zu kümmern, von vernünftigen Menschen, denn es sei ohne weiteres klar, daß die Mädchen, wenn sie nicht selber es wollten, nicht geraubt würden." Sie in Asien, so sagen die Perser, hätten sich um Frauenraub nicht gekümmert, die Griechen aber hätten um der Helena willen Troja zerstört. Seither bestehe der Kampf zwischen Europa und Asien. Es braucht viel dazu, um diese Behauptungen ernst zu nehmen. Der Inhalt wie die zitierten Gewährsmänner verblüffen in gleichem Maße. Was nun aber folgt, übertrifft, wenn möglich, noch das Bisherige. Was die Io angehe, erzählt Herodot weiter, so stimmen die Phönizier nicht mit den Persern überein. Sie hätten nämlich jene nicht entführt, vielmehr hätte Io sich mit dem Kapitän des Schiffes eingelassen, wäre schwanger geworden und sei aus Angst vor der Schande freiwillig mit den Phöniziern gegangen. So erzählen, schließt er provozierend, die Perser und die Phönizier. So viele Erklärungen es geben mag, um die Herkunft unhistorischer, ganz griechisch orientierter Geschichten verstehen zu lehren, die Vertretern fremder Völker in den Mund gelegt werden — hier versagen alle solche

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Versuche. Was wir hörten, kann nur freie Erfindung sein. Ist Herodot also ein Lügner? Nein, vielmehr muß es sich um eine Stileigenart handeln, die eventuell auch den Zwang oder mindestens das Bedürfnis zur Bestätigung durch Zeugen in sich schließt. Sicherlich wird man auch an eine gewisse Schalkhaftigkeit denken, die natürlich in engem Zusammenhang mit den vermuteten Stileigentümlichkeiten stehen könnte. Nur so wäre der betonte Ernst, mit dem diese Zeugenaussagen in auffälliger Wiederholung angeführt werden, zu erklären: es ist ein gespielter Ernst. Doch davon später. Mit den Zeugen und Zeugnissen werden natürlich hier und damit an anderen Stellen, ja überall auch die erzählten Dinge verdächtigt. Es will uns ein großes Mißtrauen befallen. Wo sind die Grenzen ? Aber bereits wird e? uns deutlich, daß wir offenbar mit falschen Gesichtspunkten und Voraussetzungen an das Werk des Herodot herantreten, wenn wir pedantisch eine Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung ziehen würden. Wir wollen die größere Blickfreiheit, die wir gewonnen haben, dazu benützen, um in gewissen sich wiederholenden Figuren freie Erfindungen der herodoteischen Erzählungskunst zu erkennen und sie nicht der gewiß auch typisierenden, orientalischen Geschichtsfabulistik zuweisen. Ich meine z. B. die Rolle des Warners, der immer und immer wieder neben den meist vermessenen Despoten gestellt wird, so der gefangene und durch sein Unglück verklärte Kroisos neben Kyros und Kambyses, der Bruder resp. Oheim Artabanos neben Dareios und Xerxes, der spartanische König Demarat neben Xerxes (eine besonders gefärbte Variante des Motivs), Sandanis neben Kroisos: alle Ausdruck einer und derselben Erzähler-

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mentalität. Ja, auch Solon gehört dahin: Das Gespräch Kroisos-Solon muß ein Grieche erfunden haben. Warum weiter zurücksuchen, und nicht in Herodot den Erfinder dieser Geschichte sehen, die so gut zu den eben genannten paßt, wenn sie an Intensität auch alle übertrifft? Man kann es sogar fast beweisen: Die Rolle, die Kroisos nachher spielt, hängt ja direkt mit dem Gespräch mit Solon zusammen. Ohne die Erinnerung des Kroisos an Solon wäre Kyros nicht in der bekannten Weise milde gegen ihn geworden, und ohne diese Milde hätte er nicht später eine warnende Rolle auf den Zügen des Kyros und sogar noch bei dem wahnsinnigen Kambyses spielen können. Das kann nur in einer ausgedehnten Geschichtserzählung vorkommen, die weite Teile der persischen Geschichte behandelt, eben bei Herodot. Ähnlich dem Warner ist auch der Vater, der einen seiner Söhne vom Kriegsdienst befreien will, dem Dareioszug gegen die Skythen und dem Xerxeszug gegen die Griechen angeschlossen (IV, 84 und VII, 38), auch er zum mindesten in der Wiederholung eine Erfindung Herodots. E s kann uns nicht daran liegen, in dieser Richtung fortzufahren. Abgesehen davon, daß im einzelnen der Beweis fast nicht zu führen ist, verzichten wir darauf, bei weiteren Einzelheiten die Frage nach ihrer historischen Richtigkeit aufzuwerfen. Offenbar beruht das eigentliche Wesen des Buches, sein Ziel, nicht auf der „Wahrheit", sondern in etwas anderem. Wir wollen nur noch zusammenfassend feststellen, daß es durchaus möglich, ja wahrscheinlich ist, daß eine Fülle von Anekdoten, Volkserzählungen und pointierten Geschichten erst von Herodot in ihren Zusammenhang eingefügt und an bestimmte historische Persönlichkeiten geheftet wor-

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den sind. Nennen wir als berühmte Beispiele die nach Ägypten verpflanzte und einem Rhampsinit zugeschriebene ewig junge Geschichte vom skrupellosen Dieb, oder die an die Frau des Persers Intaphernes geknüpfte, die, als es ihr erlaubt wurde, einen ihrer wegen Hochverrats dem Tode verfallenen Angehörigen zu retten, den Bruder wählte mit einer Motivierung, die in der Antigone des Sophokles in einer viel berufenen Stelle nachklingt. Ja, wir müssen sogar weitergehen und, uns an oben Beobachtetes anschließend, erklären, daß Herodot manchmal in herausfordernder Weise seine Erfindung als Wahrheit deklariert. An seinen spielerischen Quellenangaben haben wir davon schon etwas gespürt. Aber ein noch viel krasseres Beispiel soll uns das bestätigen, eine Stelle, die von jeher Aufsehen erregt hat und meistens mit nicht geringer Verlegenheit behandelt wird. Es ist jene berühmte Diskussion über die beste Staatsform, die zwischen den gegen den Pseudo-Smerdis verschworenen vornehmen Persern nach der Beseitigung des Usurpators geführt wird. Herodot erzählt sie in extenso. Es ist das ein Abschnitt seines Werkes, der nicht nur um seines Inhaltes willen berühmt ist, sondern auch um seiner Form willen, handelt es sich doch um eine Gruppe von Reden, eine wirkliche Diskussion, wie sie bei Thukydides und den lateinischen Historikern vorkommen. Otanes tritt für die Demokratie ein, Megabyzos für die Oligarchie, Dareios für die Monarchie. Der Antrag des Letztgenannten erringt den Sieg. Wenn nun auch Kronräte und ähnliche Verhandlungen zu orientalischer Erzählungskunst gehören mögen, so ist doch der Inhalt dieser Reden rein griechisch. Ich glaube, selbst der herodotgläubigste Leser hätte diese Diskus-

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sion als herodoteische Erfindung angesprochen; liegt ja die gleiche Erfindungsfreiheit in Hinsicht auf Reden auch bei den Späteren vor. Nun aber fügt Herodot hinzu, bevor er beginnt: „ E s wurden Reden gehalten, die zwar von manchen Griechen nicht geglaubt werden — sie wurden aber gehalten (III, 80)." Damit aber nicht genug. In einer späteren Stelle weist er ausdrücklich auf diese Reden, speziell auf die historisch unmöglichste derselben, die des Otanes zugunsten der Demokratie, zurück (VI, 43). E s ist von einer Expedition des Mardonios durch Ionien die Rede und von der erstaunlichen Tatsache, daß er überall die Tyrannen absetzte und die demokratische Staatsform einführte. Herodot selber findet das nicht so erstaunlich, wohl aber müsse das aufe höchste Verwunderung herbeirufen bei den Griechen, die es nicht für wahr halten wollen, daß unter den sieben Verschworenen Otanes seine Meinung in dem Sinne abgegeben habe, daß die Perser eine demokratische Verfassung erhalten sollen. Das alles muß als eine Herausforderung des seines Stiles sicheren Schriftstellers empfunden werden, der vielleicht einen Angriff erlebt hatte, vielleicht, so dürfen wir hinzufügen, bei Gelegenheit der Vorlesung jenes früheren Abschnittes. So ist das Buch des Herodot ein einzig- und eigenartiges Gebilde, wunderlich gemischt aus Wissenschaftlichkeit und hemmungsloser Fabulierlust. Ein solches Werk hat es vor ihm nicht gegeben. E s gab zwar ethnographisch-geographische Bücher in der Art etwa der größeren Exkurse des Herodot; er zitiert selber einen Verfasser solcher Logoi, den Logographen Hekataios von Milet, dem er sicherlich vieles zu verdanken hat, nicht zuletzt den naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriff.

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E s gab auch einzelne Prosawerke mit frischen Erzählungen; ihr Stoff aber ist entweder Mythologie, oder dann sind es Lokalchroniken. In der unverfrorenen Erfindungslust mögen sie der zweiten Seite Herodots nahe gekommen sein; die engen Beziehungen zu Volksmärchen und Sagen teilen sie mit ihm. Was ihn aber von allen Vorgängern unterscheidet und ihm seinen einzigartigen Rang zuweist, das ist die Komposition seines Werkes. Nicht große Gesichtspunkte geschichtsphilosophischer Natur, wie das Problem des Kampfes von Griechen und Barbaren, bestimmen diese, auch nicht die Abfolge der persischen Könige, sondern das eine wie das andere sind für ihn nur Rahmen, nur ein Faden, auf den Logoi aufgereiht werden können. So kostbar die einzelnen Geschichten sein mögen, auch sie sind nicht die Hauptsache, sondern die Technik, mit immer neuen Kniffen, Anknüpfungen, Überraschungen eine bunte Folge von Anekdoten, von geschichtlichen Ereignissen, von wissenschaftlich sorgfältig gearbeiteten Ethnographien, kurz, von Erforschtem und Erfundenem aneinanderzureihen, so daß die Abwechslung einen nie aus der frohen Spannung entläßt. Es ist eine ganz bestimmte Art von literarischer Technik, ein ganz bestimmter Stil. Das Wesentliche daran ist das Unsystematische, Ungradlinige, Unorganische. E r sucht dauernd die Überraschung, die Unterhaltung und Verblüffung, das, was die Griechen Poikilia, Buntheit = Abwechslung nannten. Woher stammt dieser Stil? Ist er die Erfindung Herodots ? Man könnte es meinen, denn auf jeden Fall ist keine Spur davon irgendwo, sei es bei den Vorgängern Herodots, sei es bei seinen Zeitgenossen, vorhanden. Merkwürdig aber ist, daß wir genau den

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gleichen Stilbestrebungen später wieder begegnen, und zwar durchaus unabhängig von Herodot. Herodot übte deshalb keinen oder wenigstens keinen nennenswerten Einfluß auf diese Späteren, weil er damals bereits ganz als Historiker empfunden wurde, und diese Späteren waren reine Erzähler, Erzähler in gebundener Form. Es handelt sich um die Blütezeit der alexandrinischen Dichtung; aber nicht um diese allein, denn interessanterweise taucht das gleiche Kompositionsprinzip auch in späteren Literaturen wieder auf, vor allem in vorderasiatischen und unter deren Einfluß in europäischen. Diese Feststellungen genügen wohl, um zu erkennen, worum es sich allein handeln kann. Es muß eine volkstümliche Technik sein, die immer wieder in die hohe Literatur hinaufsteigt und in sie eindringt. Und zwar ist es die Technik des öffentlichen Erzählers. Wir können seine Existenz und Art in so alter Zeit nicht mit Belegen erweisen, höchstens sagen, daß Logoimacher, logopoioi, wie Äsop, schon SpezialVertreter der Gattung sind. Aber sie treten später auf, so als ob sie immer dagewesen wären, und haben sich in den gleichen Gegenden mit jener Zähigkeit erhalten, mit der die tieferen Schichten der Antike im vorderen Orient konserviert zu werden pflegen. Historisch lassen sie sich nur dann nachweisen, wenn sich die hohe Literatur wieder einmal dafür interessiert. Das kommt immer wieder vor, weil diese diskursive Manier ihre großen Reize hat. Gerade solche Zeiten, die des Pathos müde sind, ausgesprochene Reaktionszeiten holen aus den Schichten, die nicht schreiben, sondern nur sprechen, erlösende Anregungen herauf. Das Wesentliche daran ist, daß die Fülle der Einzelerzählungen das Wichtige ist; nicht eigentlich die Einzel-

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erzählung selber, sondern ihre Menge, ihre Abwechslung, ihre bunte, undisziplinierte Folge. E s darf kein Bau im Ganzen sein, keine Zielbewußtheit. Das Gegenteil wird gesucht, die Linien werden verwischt. Es wird keine Steigerung erstrebt. Die Stimmung soll am Ende nicht anders sein als am Anfang. Man soll nicht ergriffen sein, sondern unterhalten. Darum wird die Konstruktion versteckt, preisgegeben, bevor sie auffallen kann, immer gewechselt. Besonders typisch ist die Endlosigkeit. Der Erzähler kann jederzeit aufhören, er kann aber auch ewig weiter erzählen. Damit hat wohl auch das Problem des Abschlusses des herodoteischen Werkes seine natürliche Erklärung gefunden. Er hat die Weltgeschichte fertig erzählt. Sie hat ihn in ihren letzten Kapiteln stärker gepackt, als er es haben wollte, und als es mit seiner Technik vereinbar ist, so daß er diese auf längere Partien preisgab. Sein geschichtlicher Stoff bot in den nächsten Zeiten nichts, was an Interesse mit den Ereignissen von Salamis und Plataiai konkurrieren könnte. So exzelliert er noch mit ein paar Geschichten, springt noch einmal mit einem Salto mortale vom Enkel zum Großvater hinauf, um einen Exkurs anbringen zu können, und tritt dann, ohne Schlußwort und ohne Abschied, zurück ins Dunkel. Nicht der Tod ist es, der den Erzählungsfaden abschneidet, sondern des Erzählers eigener Stilwille. Herodot hat genug, sein Sack ist leer, er findet, daß er jetzt aufhören will. Die eigentliche herodoteische Tat ist also die Übertragung des Erzählerstiles auf Geschichte und Geographie der Welt. Die Organisation des Ganzen steht den erfundenen oder wenigstens frei behandelten Erzählungen näher als jenen wissenschaftlich orientierten

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Ethnographien. Ihre Aufnahmefähigkeit ist aber gewaltig; so schluckt sie auch diese Fremdkörper, die manchmal doch noch als solche wirken. Sie sind nicht völlig zu verdauen gewesen, gerade schon wegen ihrer abweichenden Haltung in Hinsicht auf den Wahrheitsbegriff. Der Rahmen paßt ganz nur zu den Anekdoten und Geschichten; hier ist die Technik dem Inhalt kongenial; von gleicher leichter Art und Haltung. Es wäre ein falscher Schluß, darum zu meinen, daß Herodot selber ein leichtsinniger und frivoler Mensch gewesen sei; die amoralische Haltung gehört zum Stil der gesprochenen Erzählung. Zu diesem Stil gehört aber auch die Berufung auf Zeugen zwecks Erweckung größerer Glaubwürdigkeit und Eindrücklichkeit, ja auch die Erfindung solcher Zeugen, wobei man eventuell durchblicken läßt, daß sie erfunden sind, oder es zum mindesten offen läßt, ob die Erfindung durchschaut werden soll oder nicht. Alles das haben auch spätere Generationen aus der gleichen Stilquelle geschöpft. Das M I J A E V dfiÜQxvQOv „Nichts ohne Zeugen" der Alexandriner in seiner Mischung von Ernsthaftigkeit und Schalkhaftigkeit, in seiner Zwischenlage zwischen wirklicher Dokumentation und Vorspiegelung einer solchen, wie wir es bei ihrem höchsten Meister, Kallimachos von Kyrene, beobachten, ist gleichen Geistes. Das Werk des Herodot ist aus einem Guß. Wir haben keine Anzeichen dafür, daß er je etwas anderes, z. B. Einfacheres hat wollen, als was er uns mit dem abgeschlossenen Buch schenkt. Er erhebt auch keine falschen Prätentionen, denn im Titelsatz gibt er als Zweck der Darstellung seiner Forschung, „damit, was die Menschen getan, nicht durch die Zeit verwischt werde, und

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nicht die großen und erstaunlichen Leistungen, die sowohl Griechen als Barbaren an den Tag gelegt, des Ruhmes entbehren müssen." Aber wir können doch erkennen, daß er als schaffender Künstler ein Erlebnis hatte: an gewissen Stellen hat ihn sein Stoff überwältigt, hat die Sache, von der er spricht, seinen Stil modifiziert, triumphiert über die Stilmanier, der er sich verschworen hatte. Das gilt für die großen Schilderungen der Perserschlachten. Der Stolz auf die griechische Leistung ist mit ihm durchgegangen und hat sein Stilwerkzeug zerbrochen: er aber hat es sich zerbrechen lassen. Er war groß genug, um zu fühlen, daß der Reichtum seines Werkes auch solche Logoi erträgt. Den Späteren und auch uns sind sie vielfach zur Hauptsache geworden, weil sie und wir diese Ereignisse als entscheidend für die Geschichte des Abendlandes und der Welt empfinden, vielleicht in höherem Maße, als dies Herodot und seine Zeitgenossen selber taten. Das Bild Herodots ist dadurch schon für die ihm nachfolgende Generation verändert worden. Dadurch wurde er zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Entwicklung von höchstem Interesse. Thukydides reagiert auf einen Herodot, der nicht der wirkliche ist. Das hängt auch damit zusammen, daß Athen und seine Mentalität an die Spitze der griechischen Welt treten. Aber Herodot hat daneben das Anrecht, so erlebt zu werden, wie er verstanden sein wollte. Der Leser soll sich dem Zauber seiner Kunst hingeben und sich nicht dagegen wehren, weil wir Geschichte ernster und wahrhafter nehmen. Er soll wissen, daß es sich um einen Stil handelt, der aber von einem sensiblen Individuum sublimiert und einer gewaltigen Aufgabe dienstbar gemacht worden ist.

THUKYDIDES Geboren ca. 460 als Sproß einer vornehmen attischen Familie; muß infolge eines militärischen Mißerfolges bei einer Expedition in Thrazien gegen Amphipolis 424 in die Verbannung gehen. Lebt bis zum Kriegsende (404) teilweise im Peloponnes und hat damit die Möglichkeit zu objektiver Information. Nach 404 wieder in Athen, wo er nach wenigen Jahren stirbt. Sein Werk über den Peloponnesischen Krieg, das jetzt in acht Bücher eingeteilt ist, begann er gleich beim Ausbruch des Krieges (431); es sollte den ganzen Krieg umfassen; bricht aber im Jahre 411 ab, offenbar infolge des Todes des Verfassers. So fehlt ihm die letzte Hand, so daß sich verschiedene Entstehungszeit einzelner Partien nachweisen läßt. Die wichtigsten Abschnitte scheinen aber erst nach dem Kriegsende konzipiert zu sein. Unglücklicherweise hat Thukydides sein Werk über den Peloponnesischen Krieg nicht vollenden können: er war in seiner Darstellung erst zum Jahre 4 1 1 gekommen, als ihn der Tod ereilte. Das ist verhängnisvoll, nicht so sehr darum, weil wir ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung nur als Torso besitzen, sondern weil durch diese nicht wegzuleugnende Tatsache das Verständnis für die schöpferische Eigenart des Thukydides aufs stärkste verbaut wurde, indem seit einem Jahrhundert alles Ungewöhnliche, alle Unstimmigkeiten und Eigentümlichkeiten des Werkes auf das Fehlen einer

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endgültigen Redaktion durch den Verfasser zurückgeführt werden. Kein Zweifel, daß die Aufdeckung seiner Entstehungsgeschichte eine Aufgabe der Forschung ist; nur muß man sich hüten, gleichsam einen normalisierten Thukydides zu konstruieren, von dem das erhaltene Buch ununterbrochen in geradezu boshafter Manier abweicht, einen Normalthukydides, der das Gesetz seiner Schriftstellerei teils aus späteren antiken Stilanschauungen, teils aus den strengen Voraussetzungen moderner Geschichtsschreibung empfängt. Wenn wir auch dem unabgeschlossenen Werk eines Toten gegenüber nicht ohne die Annahme eines Nachlaßverwalters auskommen können, so darf uns das doch nicht dazu verführen, diesem Unseligen alles in die Schuhe zu schieben, was unseren Erwartungen nicht entspricht. Das umgekehrte Vorgehen scheint mir viel weniger gefährlich zu sein, nämlich so zu tun, als ob das Werk aus einem Gusse sei, ohne prinzipiell zu leugnen, daß möglicher- oder sogar wahrscheinlicherweise manche Seltsamkeiten desselben auf das Konto seiner Entstehung zu buchen sind. Nicht klassizistische Hemmungen veranlassen uns, diesen Weg als den zuverlässigeren zu beschreiten, der Grund ist vielmehr der, daß wir uns niemals dazu verstehen können, zu glauben, daß die Stilform des Thukydides, in der letzten Endes das Geheimnis seiner Faszination enthalten ist, einem bloßen Zufall seine Entstehung verdanke. Sogar bei der Annahme, daß er selber im Verlauf von Jahrzehnten durch immer neue Überarbeitungen den ursprünglichen Rahmen seiner ersten Fassung gesprengt habe, selbst bei dieser Annahme müssen diese Sprengungen und Er-

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Weiterungen doch irgendwie seinem Formwillen Ausdruck gegeben haben, denn den jetzigen Zustand nur für ein Provisorium anzusehen, das einmal einer bereinigten Fassung hätte Platz machen sollen, das zu tun, verbietet die raffinierte stilistische Ausprägung. Gewiß gibt es bei Thukydides größere Abschnitte, die dem Ideal einer glatt fortlaufenden Erzählung entsprechen, wie sie für die Wiedergabe eines geschichtlichen Ablaufs die gegebene Form zu sein scheint, z. B. die Schilderung der Ereignisse vor Pylos und die thrakischen Kämpfe des Brasidas und seiner Gegenspieler im IV. Buch, die größten Teile der sizilischen Expedition im VI. und VII., auch umfangreiche Stücke von Buch VIII. Anderenorts sind solche Handlungsabläufe an passenden Stellen durch Reden unterbrochen, die nach Stil und Inhalt ausnahmslos als nicht authentisch, also unhistorisch erkannt werden können. Reden, die wirklich so, wie Thukydides sie formuliert, hätten gehalten werden können, gibt es, wenigstens in direkter Darstellung, überhaupt keine. Alle sind Erfindungen des Thukydides. Die ganze antike Geschichtsschreibung ahmt diese Sitte bekanntlich nach; sie in einen größeren literarhistorischen Zusammenhang einzuordnen, fällt uns nicht schwer. Wir können sie den Überrest einer ursprünglich viel ausgedehnteren Erfindungsfreiheit, wie sie uns bei Herodot begegnet ist, nennen. Thukydides spricht sich in seiner Einleitung selber darüber aus und bezeichnet als Grund zu dieser Abweichung vom Prinzip absolutester Wahrheit die Unmöglichkeit, das gesprochene Wort zuverlässig im Gedächtnis zu bewahren, selbst in den Fällen, wo er selber Gelegenheit gehabt habe, die betreffende Rede anzuhören. Er bringe sie so, ,,wie die jewei-

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ligen Redner über die gerade vorliegende Angelegenheit am wahrscheinlichsten das Nötige gesagt haben mögen, indem ich mich möglichst eng an die Grundgedanken des in Wirklichkeit Gesagten hielt". Keine dieser Reden enthält aber, wie wir mit Sicherheit sagen können, irgendeinen wirklich gesagten Satz oder Abschnitt, was die eben zitierte Stelle doch erwarten lassen sollte. So müssen wir schon jetzt feststellen, daß Thukydides mit diesem seine Methode erläuternden Satz nicht die volle Wahrheit sagen will; er deutet bloß an, er gibt eine Warnung, aber er verhüllt seinen eigentlichen Stilwillen, nicht, weil er täuschen will, sondern weil er vorsichtig und diskret zu verstehen geben möchte, daß er nicht ganz auf die bisher gewährte Fabulierfreiheit verzichte. So werden wir uns gar nicht wundern, daß zum Teil die redenden Personen, nicht nur ihre Reden, frei erfunden sind, denn niemand wird zweifeln, daß unmöglich kurz nach einer spartanischen Volksversammlung, die zur Entgegennahme der Klagen der peloponnesischen Bündner gegen Athen zusammengetreten war, plötzlich athenische Gesandte, die „zufälligerweise schon vorher wegen anderer Angelegenheiten in Sparta waren", das Verlangen an die lazedämonischen Behörden stellen könnten, auch ihrerseits zum Volk in Sparta zu sprechen, und daß ihnen dies auch tatsächlich bewilligt wurde. Das ist keine Wirklichkeit. Die Reden, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, sind Reden von Feldherren vor einer Schlacht, in denen das Ziel des Kampfes und die Gefahr des Augenblickes deutlich gemacht wird, wenn möglich in Gegenüberstellung der feindlichen Standpunkte durch ein Rednerpaar, oder es sind solche von Staatsmännern oder Ge-

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sandten vor wichtigen Entscheidungen einer Rats- oder Volksversammlung u. ä. m. Sie beleben die fortschreitende Handlung, schaffen eventuell eine Retardierung zum Zwecke der Besinnung, aber fallen keineswegs aus dem Rahmen der Erzählung heraus. Sie entsprechen durchaus der Situation, in die sie hineingesetzt sind; sie können nur deshalb nicht wirklich gehalten worden sein, weil sie in dem einmaligen Stil der thukydideischen Diktion aufs raffinierteste ausgearbeitet sind. Als Beispiele wollen wir Rede und Gegenrede der Kerkyräer und Korinther nennen, beide inhaltlich gleich langweilig und formell gleich zugespitzt (I, 32 ff.). Daß aber auch bei solchen rednerischen Produkten eine wohlüberlegte Absicht der Auswahl vorliegt, entzieht sich meistens der Beobachtung. Klar wird sie einem aber z. B. I, 67, wo mit einem einzigen Sätzchen die Beschwerde der Megarer wegen des Marktverbotes, der entscheidenden Ursache des Krieges in den Augen der Miterlebenden, erledigt, dann aber alles Gewicht auf die im Wortlaut wiedergegebene Rede der Korinther gelegt wird, entsprechend der vereinfachenden und natürlich auch zugleich vertiefenden Tendenz des Thukydides, den Peloponnesischen Krieg aus einem Konflikt zwischen Athen und Korinth zu einem gemeingriechischen heranwachsen zu lassen. In schroffem Gegensatz zu dieser von uns festgestellten konzentrierenden und durch eingeschobene Reden das geschichtliche Bild vertiefenden Darstellungsweise steht nun aber eine Eigentümlichkeit des Historikers, über die man oft den Kopf geschüttelt hat: Thukydides ist Annahst, er gibt seinem Werk den Charakter von Jahrbüchern, d. h. er hält sich in seiner Erzählung an

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den Jahresablauf, ja noch spezieller teilt er ein in Sommer und Winter eines Jahres. So sagt er am Anfang des zweiten Buches, nachdem er sein Thema genannt: erzählt wird der Reihe nach, wie ein Ereignis auf das andere folgte, nach Sommer und Winter. Mit ähnlichen Floskeln leitet er meistens von einem J a h r ins folgende hinüber; ja, er erzählt sogar ganz nach Annalistenweise manchmal am Jahresende von Naturkatastrophen, wie Finsternissen (II, 28), Erdbeben (III, 87), Ätnaausbrüchen ( V I I , 1 1 6 ) . W i r wissen, daß er damit in eine ältere Tradition hineingehört, nicht die des Herodot, der kein Annalist ist, aber vieler anderen, eine Tradition, die j a auch weiterlebt, man denke nur an Livius und Tacitus. E s ist klar, daß mit diesem Verfahren nicht selten Zusammengehöriges auseinandergerissen wird, wie denn die Belagerung und Eroberung von Plataiai an drei verschiedenen Orten erzählt wird, weil sie durch drei Jahre hindurchgeht. Selbst in die sizilische Expedition, deren Ablauf in atemberaubender Spannung sich vollzieht, werden jeweils beim Jahreswechsel Notizen über E r eignisse auf anderen Kriegsgebieten eingeschoben, freilich meistens sehr kurz, fast nur angedeutet. W i r täten sicher Unrecht, darin eine Unfreiheit des Geschichtsschreibers zu sehen, ein Nichtbesserkönnen. Aber auffallend ist es jedenfalls: wir dürfen ruhig sagen, daß wir eine starke Disproportioniertheit empfinden, vielleicht sogar schmerzlich empfinden, zwischen dieser annalistischen Pedanterie und dem großen Wurf der Reden. Wir müssen die Leichenrede des Perikles als fremdartigen Koloß in seiner annalistischen Umgebung bestaunen. Das sind aber nicht die einzigen Unstimmigkeiten, die unsere Verwunderung hervorrufen. Betrachten wir ge-

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rade einmal die sizilianischen Bücher daraufhin sorgfältiger. Da wollen wir zuerst unser Augenmerk auf eine Störung des Erzählungsflusses lenken, die uns sehr interessieren wird, für die wir aber leicht eine plausible Erklärung finden können. Thukydides schiebt nämlich im Momente allerhöchster Spannung, unmittelbar vor der Katastrophe, einen Katalog der Heereskontingente ein, die auf athenischer und syrakusanischer Seite an dem gigantischen Ringen beteiligt sind. Ohne Schwierigkeit werden wir darin ein nicht weiter auffallendes, aber doch rein dynamisch-künstlerisches und nicht wissenschaftliches Phänomen erkennen, das wir natürlich berechtigtermaßen auf alte epische Tradition zurückführen können. Auch den am Anfang der sizilischen Bücher stehenden Exkurs über die ältere Geschichte Siziliens werden wir für verständlich, ja sogar für notwendig ansehen können. Hingegen geraten wir in das größte Mißbehagen mit einem zweiten Exkurs, der auf geradezu unbegreifliche Weise die Einheit dieser Bücher schädigt, dem sog. Peisistratidenexkurs. Trotz des Hermokopidenfrevels ist das athenische Expeditionskorps ausgefahren. Die Stimmung in Athen bleibt aber unheimlich und mit Mißtrauen geladen, es herrscht Angst vor einem Staatsstreich, vor der Wiederkehr einer Tyrannis. Es finden zahlreiche Verhaftungen statt auf Grund von Denuntiationen durch ganz unzuverlässige Elemente. Die Athener wollen lieber die Sache gründlich untersuchen, als etwa wegen der notorischen Gemeinheit eines Angebers einen rechtschaffen scheinenden Bürger ohne gerichtliche Prüfung laufen lassen. Nun folgt der Satz: ,,Denn das Volk wußte durch mündliche Tradition, daß die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne

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in ihrem letzten Stadium sehr drückend gewesen sei und daß diese außerdem gar nicht durch sie selber und Harmodios gestürzt werden konnte, sondern durch die Spartaner. Deshalb lebte es in ständiger Angst und sah alles mit argwöhnischen Augen an" (VI, 53). Daran schließt sich ein Exkurs, der in unseren Ausgaben fünf volle Seiten in Anspruch nimmt, in dem die gewöhnlichen Anschauungen über das Ende der Tyrannis im Jahre 510, also fast hundert Jahre vor der sizilianischen Expedition, korrigiert werden, eben mit der Absicht, zu zeigen, daß nicht durch Harmodios und Aristogeiton, sondern durch die Spartaner dieses Ende herbeigeführt worden sei. Nach dem Exkurs wird der Zusammenhang wieder aufgenommen mit den Worten: „Dieser Dinge war sich das athenische Volk bewußt und es erinnerte sich alles dessen, was es vom Hörensagen darüber wußte. Darum war es jetzt schwierig und mißtrauisch . . ." (VI, 60). Kein Zweifel, daß dieser Exkurs an den Haaren herbeigezogen ist und den Zusammenhang aufs empfindlichste stört; kein Zweifel auch, daß seine Einführung rein logisch betrachtet darum töricht ist, weil ja das Volk gerade die in dem Exkurs bekämpfte falsche Ansicht über den Sturz der alten Tyrannis hat und darum nicht daraus die Befürchtung schöpfen kann, nicht mit eigener Kraft eine eventuell neu erscheinende Tyrannis erledigen zu können. Erstaunlich ist außerdem, daß die gleiche Sache in Kürze schon früher berichtet worden war (I, 20), in einem Kapitel, wo über die Unzulänglichkeit lokaler Geschichtskenntnis Klage geführt wird. Es ist also durchaus verständlich, wenn man in diesem Exkurs einen nicht von Thukydides, sondern vom Redaktor vollzogenen Einschub sehen

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wollte, einen Einschub natürlich aus der Manuskriptenmappe des verstorbenen Verfassers. Vielleicht, so schloß man, war dieses Kapitel einmal für die genannte Stelle im ersten Buch bestimmt, vom Verfasser aber verworfen worden. Nun nahm sie der Herausgeber irgendwo auf und überbrückte Anfang und Ende mit einem hilflosen Formelsatz. Auf jeden Fall müßten wir das als einen Husarenstreich des Herausgebers bezeichnen. Dieser Exkurs ist nun aber durchaus nicht der einzige. E s hat noch mehrere andere, von denen ein paar ebenso oder fast ebenso lose eingefügt sind wie er; andere hinwiederum zeigen gerade die entgegengesetzte Eigentümlichkeit, die aber nicht minder erstaunlich ist, nämlich daß sie mit dem Kontext derartig verwachsen sind, daß sie nicht herausgebrochen werden können. Sehen wir uns einmal den berühmten Exkurs des ersten Buches an, der sich mit Pausanias, dem Sieger in der Schlacht bei Plataiai über die Perser, beschäftigt und mit Themistokles. I, 126 wird berichtet, daß die Spartaner, um einen Vorwand zum Kriege zu finden, durch Gesandte in Athen die Vertreibung der Alkmeoniden, zu denen Perikles gehört, verlangen, weil diese 150 Jahre vorher sich einen ungesühnten Frevel, die schon im Herodotkapitel erwähnte kylonische Blutschuld, zuschulden kommen ließen. Dieses längst verjährte Verbrechen geht die Spartaner so sehr nichts an, daß man gerne geneigt wäre, überhaupt alles für eine Fiktion des Schriftstellers anzusehen, die eben den Zweck hätte, den Exkurs zu ermöglichen. Zur Begründung dieses Standpunktes könnte man auf I, 139 hinweisen, wo in wirklich verdächtiger Weise die genannte Forderung als Gegenstand einer ersten Gesandtschaft nach Athen be-

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zeichnet wird, der dann eine zweite Gesandtschaft gefolgt sei, die nun ganz konkrete und wahrscheinliche Forderungen vorbringt. So weit wollen wir vorsichtshalber schon deshalb nicht gehen, weil die genannte Sühneforderung II, 13 bestätigt wird. Nachdem nun in den Kapiteln 126 und 127 die Geschichte dieses Frevels erzählt worden ist, fährt Thukydides in 128 weiter: die Athener hießen nunmehr ihrerseits die Spartaner den Frevel auf dem Tainarongebirge sühnen; es folgt in Kürze die Erzählung desselben. „Sie hießen sie aber auch den Frevel gegen die Athena Chalkioikos sühnen. Dieser war folgendermaßen geschehen usw." Es ist die Geschichte vom Ende des Pausanias, der zum Hochverräter geworden war und mit den Persern gegen sein Vaterland konspirierte. Als er nach der Entdeckung seines Verrates in den Tempel der Chalkioikos flüchtete, wurde er darin sozusagen ausgehungert. Es wird dies mit großer Ausführlichkeit erzählt; den Abschluß bildet wieder ein Formelsatz: „Die Athener stellten aber an die Spartaner die Gegenforderung, diesen Frevel zu sühnen. Was aber den Verrat des Pausanias angeht, so schickten die Spartaner Gesandte nach Athen und beschuldigten den Themistokles, daran beteiligt zu sein, und forderten, daß auch er mit dem Tode bestraft werde." Natürlich nicht jetzt, zu Beginn des Peloponnesischen Krieges, sondern damals in den siebziger Jahren des Jahrhunderts. Es schließt sich eine eingehende Schilderung des Endes des Themistokles an. Jetzt erst endigen die Exkurse mit dem Satz: „So endeten der Spartaner Pausanias und der Athener Themistokles, zwei Männer, die alle Zeitgenossen an Ruhm übertrafen." Die innere Verknüpfung der drei Exkurse ist so stark, daß sie nicht

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auseinandergelöst werden können. Der erste gehört in den historischen Zusammenhang hinein, der zweite tut so, als ob er hineingehörte, der dritte macht aber nicht einmal mehr diese Fiktion mit. Kein Redaktor kann dies getan haben, nur Thukydides allein, und zwar endgültig, nicht provisorisch, nicht aus Verlegenheit. Es ist dies sein freier Wille, seine kompositionelle Absicht. Es ist das Stichwort Frevel, das als Bindemittel verwendet wird, für Erzählungen, die mit dem geschichtlichen Zusammenhang wenig oder gar nichts zu tun haben. Sie sind um ihrer selbst willen da, sie sind aber, so glauben wir erkennen zu können, auch raffinierte dynamische Erscheinungen im Spannungserlebnis des Lesers. In geballter Entwicklung wird mit Reduktion auf eine große Linie die Vorgeschichte des Krieges gegeben; aus zwei Wurzeln wächst er, den kerkyräischen Wirren und dem Abfall von Potidaia. Vereinigt werden diese in den Versammlungen in Sparta; deren Resultat ist die Gesandtschaft nach Athen, die über Krieg und Frieden entscheiden muß. Die Entscheidung zugunsten des Krieges fällt sodann in der Periklesrede am Ende des ersten Buches. Zweimal aber wird dieser Auftrieb unterbrochen: Die spartanischen Verhandlungen nehmen in sich den langen Exkurs der sog. Archäologie auf, von der gleich die Rede sein soll, nach der Gesandtschaft nach Athen folgt gar jene Serie von Exkursen, von denen wir ausgegangen sind. Sie bedeuten nicht nur inhaltliche, sondern auch stilistische Ruhepausen; sie sind gleichsam entspannt, einfach in der Form, novellistisch und anekdotisch, auch lockerer im Wahrheitsbegriff. Sie sind natürlich in ihrem Grundwesen herodoteische Erbschaften; sie stehen ihm auch stilistisch näher

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als die übrigen Teile des thukydideischen Werkes. Aber sie sind zu ganz anderen Zwecken verwendet; eine völlig abweichende künstlerische Gesinnung handhabt sie. Diese seltsame Arbeits- und Stilweise, die nicht logischen oder geschichtswissenschaftlichen Gesetzen folgt, sondern Forderungen der ästhetischen Dynamik, erklärt, wenn sie einmal erkannt ist, sehr viele Erscheinungen des Geschichtswerkes. Nehmen wir gerade einmal die oft behandelten Probleme des ersten Buches vor: sein eigentlicher Inhalt ist die Vorgeschichte des Krieges, wie der Schlußabschnitt sagt: „Das waren die gegenseitigen Beschwerden und Mißverständnisse vor dem Kriegsbeginn" (146). Diese Vorgeschichte beginnt mit dem Ende des Kapitels 23. Die vorausgehenden Kapitel scheinen dazu ein Proömium zu bilden, das der Verfasser unter das Schlagwort stellt: der Krieg ist größer als irgendeiner der vorhergehenden. Dieses Schlagwort taucht innerhalb des Proömiums noch ein paarmal auf als Faden, der es zusammenhält; erst am Schluß, bevor das Hauptthema des ganzen Buches ertönt (direkte Vorgeschichte), beherrscht es wieder die Situation: „Dieser Krieg aber (im Gegensatz zu den früheren) hat unendlich lange gedauert und hat Griechenland mehr Unheil zugezogen, als sonst je in einem gleichen Zeitraum vorgekommen ist. Nie wurden so viele Städte erobert und zerstört . . . nie sind so viele Menschen verbannt, so viele getötet worden usw." In Wirklichkeit ist aber der Inhalt dieses Proömiums eine Geschichte Griechenlands bis zum neuen Krieg mit vielen kleinen Ausweitungen, die an irgendein im Zusammenhang auftretendes Wort angeknüpft werden, so ein

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Exkurs über die Wandlungen der Kleidung, einer über die sportliche Nacktheit usw. Die wichtigste Einschachtelung ist aber diejenige der Kapitel 20—22. An den immer wieder erscheinenden Gedanken von der Schwierigkeit, sich Gewißheit über die früheren Perioden der Geschichte zu verschaffen, schließt sich ein Ausfall gegen mangelnden historischen Sinn an, zuerst gegen die falschen Vorstellungen der Athener über das Ende ihrer Tyrannis, dann eine etwas nörgelnde Polemik gegen Herodot, ohne daß dessen Name genannt wird, dann ein weiterer Abschnitt über die eigenen Grundsätze bei der Abfassung dieses Werkes. Den Gedankengängen zu folgen ist sehr schwer: die Abfolge derselben widerspricht aufs tiefste einem geordneten logischen Prozeß. Aber auseinanderreißen läßt sich die Sache auch nicht: immer deutlicher hat sich im Laufe der Zeit die Einheit dieser Kapitel erwiesen. Nur ist es eine kuriose Einheit, eine abstruse und künstliche Art des Vorwärtsschreitens. Dieses ist sicher nicht gedanklich logisch, aber auch nicht beredend und beschwörend, an die Instinkte appelierend. Vielmehr macht es den Eindruck, als ob der Verfasser willentlich und spielerisch jede Konzentration zerstören wollte. So ist noch festzustellen, daß der Teil der Vorgeschichte, der die Zeit zwischen Perserkrieg und Peloponnesischem Krieg behandelt, an eigener Stelle nachgeholt wird: dies ist die sog. Archäologie. Auch darin kann man nur ein gewolltes Zerreißen sehen; der Schriftsteller vermeidet es auf künstlichste Weise, die ganze Vorgeschichte unter einen Hut zu bringen, obgleich er dies durchaus tun könnte. Er macht sich die Sache absichtlich schwer, indem er diesen Abschluß der Vorgeschichte wider alle logische Verknüpfung vom

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Hauptteil löst. In einem Moment höchster Spannung, auf den er zugesteuert hat, im Moment, wo man mit unausweichlicher Gewißheit die Kriegserklärung erwartet, schließt er in reinem Widerspruch zu dem, was er den Leser hat miterleben lassen (I, 88): „Die Spartaner beschlossen, daß der Friedensvertrag gebrochen sei und der Krieg erklärt werden müsse, nicht so sehr, weil sie sich durch die Reden der Bundesgenossen überzeugt fühlten, als aus Angst vor der wachsenden Macht Athens." Dann fährt er fort: Diese Macht war aber auf folgende Weise zustande gekommen. E s folgt die „Archäologie", die ihrerseits wiederum mit den Worten schließt: Die Spartaner selbst (im Gegensatz zum ganzen Bund, dessen Kriegsbeschluß nachher kommt) hatten also den Beschluß gefaßt, daß der Friedensvertrag gebrochen sei, und die Athener im Unrecht seien. Noch deutlicher als durch diese Anknüpfungstechnik wird aber der Exkurscharakter durch einen Abschnitt mitten in diesem Exkurs drin (I, 97): Nach der Schilderung der Entstehung des Seebundes verspricht Thukydides, die Taten der Athener gegen Persien und gegen ihre eigenen Bundesgenossen erzählen zu wollen, die nach dem Perserkrieg erfolgt seien. „ I c h beschreibe sie und mache diesen Exkurs (¿xßolrj zov Xöyov), weil meine Vorgänger dieses Gebiet vernachlässigten und nur die Zeit vor den Perserkriegen behandelten oder dann diese selber. Hellanikos aber, der sie in sein Werk aufgenommen hat, ist kurz und in chronologischer Hinsicht unzuverlässig. Gleichzeitig wird dadurch aber auch klargel e g t , w i e die a t h e n i s c h e M a c h t e n t s t a n d e n ist." Diese künstliche und gesuchte Anomalie zeigt sich noch in vielen Phänomenen des thukydideischen Werkes.

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Nicht alle mögen gleich überzeugend sein; aber dem Eindruck ihrer Gesamtheit wird man sich nicht entziehen können. Nebensachen werden zu Hauptsachen gemacht, Hauptsachen nur kurz berührt oder fast übergangen. Vor allem wird durch das Stilmittel der Reden eine Nebensituation unverhältnismäßig aufgewertet. So läßt sich doch wohl nicht leugnen, daß die berühmteste aller Reden, die Leichenrede des Perikles, einen mehr als bescheidenen Anlaß hat, nämlich die erste staatliche Bestattungsfeier seit Kriegsanfang, wobei feststeht, daß das erste Kriegsjahr fast keine Opfer forderte. Dabei überschreitet die Rede weit den Rahmen, ja die Möglichkeiten des Themas: nur geringe Abschnitte am Anfang und am Ende könnten so gehalten worden sein. Alle andern enthalten Dinge, wie sie erst nach dem Abschluß des ganzen Krieges von einem auf die perikleischen Zeiten zurückblickenden Beurteiler gedacht und formuliert werden konnten. Aus psychologischen Gründen unmöglich ist die wundervolle Rede der Korinther in Sparta. Diese meisterliche Charakteristik der Athener, ihren ärgsten Feinden in den Mund gelegt (I, 70), entspricht nicht einmal einer idealisierten Wirklichkeit, wohl aber dem künstlerischen Bedürfnis, den Gegenspieler ohne störende Ortsverschiebung in Erscheinung treten zu lassen, welches Bedürfnis nachher sogar zu dem schon besprochenen, nicht minder unwirklichen Auftreten attischer Gesandter in Sparta führt, die zur Charakterisierung des athenischen Volkes diejenige des athenischen Imperiums hinzufügen müssen. Ähnlich steht es mit dem vielbehandelten Melierdialog: die brutale Vergewaltigung der kleinen Insel Melos durch die Athener, ein Ereignis, wie es zu Dutzenden von Malen

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während des Krieges vorkam, gibt dem Schriftsteller Anlaß zu einem ganz einzigartig dastehenden, direkt wiedergegebenen, also dramatisch gehaltenen Dialog voller hochgeschraubter sophistischer Gedanken. Nie und nimmer hat ein solches Gespräch stattgefunden, obgleich oder vielleicht gerade weil so sorgfältig motiviert wird, warum einmal keine Reden gehalten werden, "sondern die Gesprächsform gewählt wird. Die Athener behaupten gemerkt zu haben, daß die Melier sie nicht vor die Volksversammlung ließen aus Angst, das Volk könnte durch eine zusammenhängende Rede sich bereden lassen. Sie wollen ihnen darum noch mehr entgegenkommen, in dem sie sogar in diesem kleinen Komitee die Unterhandlung in der Form von Rede und Antwort führen. Dabei kann man sich aber des Verdachts nicht erwehren, daß es dem Verfasser vor allem um diese einzigartige und unerwartete Schmuckform eines Dialoges zu tun war. Solche Großanomalien schärfen nun aber das Auge auch für kleinere Ungleichheiten. Wie verschieden ist die Präzision in der Ausmalung gleicher oder ähnlicher historischer Gegebenheiten. Das eine Mal liegt eine detaillierte Schilderung vor, das andere Mal nur eine flüchtige Skizze. Natürlich kann immer entgegengehalten werden, daß es sich um Ereignisse von verschiedener Wichtigkeit handle, aber diese Wichtigkeit empfangen sie eben gerade durch die Begünstigung von seiten des Thukydides. Natürlich muß man zugeben, daß ihm vielleicht für das eine mehr und besseres Material zur Verfügung stand als für das andere. Aber diese Erklärung versagt gegenüber der Gesamtheit und der großen Zahl der Phänomene. Welche Vorzugsbehandlung erfährt das belagerte Pia-

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taiai (II, 7 1 — 7 8 ; III, 20 ff.), verglichen etwa mit der Belagerung und Eroberung von Skione, die mit einem Satz abgetan werden (V, 32). Welche Teilnahme die Wirren in Kerkyra, die sogar Anlaß zu jenem prinzipiellen Kapitel über den Niedergang der politischen Moral in Griechenland geben (III, 70). Mit welcher Detailschilderung wird die Schlacht zwischen den Argivern und Spartanern erzählt (V, 66 ff.): nicht nur der Verlauf derselben wird mit allen Einzelheiten ausgemalt, sondern die Vorbereitung, die Aufstellung, die Art des Kommandos, die genaue Zahl der Kämpfenden, die Ansprachen, die den einzelnen Truppenteilen gehalten werden usw. Freilich ist sie nach 74 die „größte der in Griechenland geschlagenen"; aber könnte man nicht umgekehrt in dieser Bemerkung die Rechtfertigimg zur besonders ausführlichen Behandlung sehen? Nicht anders steht es mit der Seeschlacht bei Sybota, die ebenfalls als größte bezeichnet wird (I, 50). Die Verhandlungen über die Bestrafung der Mytilenäer im III. Buch, die in ihrer ungeheuren Peripetie so tiefen Eindruck machen, sind doch sicherlich nicht so singulär gewesen, wie es jetzt erscheinen möchte. Gar wie ein Exkurs mutet die berühmte Schilderung der Pest in Athen an; wiederum fühlt sich der Autor verpflichtet, die Ausführlichkeit seiner Darstellung zu motivieren: „ich werde erzählen, wie diese Krankheit verlief, und worauf einer zu schauen hat, und was er wissen muß im Falle, daß sie wiederkäme. Das will ich darlegen, nachdem ich selber daran krank war und andere beobachtete, die daran erkrankten." Sehr unterschiedlich ist auch des Thukydides Verhalten Prophezeiungen und Vorzeichen gegenüber: bald läßt er sich herbei, von ihnen zu sprechen, freilich mit

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Reserve (II, 8) oder mit rationalistischer Umdeutung (II, 17) oder gar mit scharfem Hohn (II, 54). Aber immerhin, sie stehen doch da; am eindrücklichsten im sog. zweiten Proömium, wo er sogar die Zusammengehörigkeit der beiden Kriegsteile unter anderen mit Orakeln begründet, freilich wiederum sich mit der Bemerkung salvierend: für solche, die sich auf Orakel stützen. Anderswo aber zeigt er sich ganz skeptisch, etwa in der schweigenden Verachtung gegenüber dem Verhalten des Nikias, der den Moment der Rettung seines Heeres verpaßt wegen einer Mondfinsternis (VII, 50). Auch dem Mythus räumt er, wenn es ihm einmal gut scheint, einen Platz ein, wie die ganze unnötige Geschichte von Alkmaion bei Anlaß der Erwähnung der Echinaden-Inseln zeigt. Ganz verschieden ist auch seine Haltung den handelnden Personen gegenüber: während er den Perikles mit ausgesuchter Distanz behandelt, nur einmal, dann freilich um so eindrucksvoller von seiner Persönlichkeit spricht, ihn also fast wie ein Symbol anzusehen scheint, so kann er sich andererseits nicht genug tun, den Alkibiades auf Schritt und Tritt zu verfolgen und ihn so sehr zum Mittelpunkt des politischen Geschehens zu machen, daß er den Untergang Athens als unmittelbare Folge seines Sturzes hinstellt (VI, 15). Die gleiche gewollte Verschiedenheit der Haltung liegt wahrscheinlich auch der Tatsache zugrunde, daß die Verwendung von Aktenstücken, Verträgen und ähnlichen Dingen in den verschiedenen Teilen des Werkes sehr verschieden ist. Darin wollte man begreiflicherweise besonders gern ein Zeichen der mangelnden Vollendung sehen: diese Dokumente sollten nur als vorläufige Not-

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behelfe, als Gedächtnisstützen vom Verfasser seinem Entwurf beigelegt worden sein, während der Stil des vollendeten Buches die Aufnahme solcher stilfremder Elemente ablehne. Der Herausgeber hätte sie dann mit allen übrigen Materialien publiziert. Dabei sind sie aber überall völlig einwandfrei in den Text eingebettet, und alle Versuche, sie zu eliminieren oder sonstwie zu desavouieren, haben zuletzt Schiffbruch gelitten. Es ist auch nicht nötig zu behaupten, Thukydides habe diejenigen Partien, die solche Dokumente enthalten, im Stile tiefer halten wollen oder er habe sie weniger sorgfältig ausgearbeitet. Sie sind nur anders, nicht tiefer als die dokumentenlosen Abschnitte. Die Stilmittel, über die er verfügt, sind von größerem Reichtum, als man das gemeinhin wahrhaben will. Alles zieht er herbei neben der einfachen historischen Erzählung mit all ihren Möglichkeiten: wirklich gehaltene Reden, wiedergegeben in verkürzter, indirekter Form, Reden in direkter Form, und zwar mögliche und solche, die niemals so hätten gehalten werden können, Dialoge, Briefe, Verträge usw., aber auch Exkurse, theoretische Abhandlungen, geschichtsphilosophische Rückblicke; ein Reichtum der Mittel, wie er keinem anderen Historiker je zur Verfügung stehen wird. Diskontinuität als Darstellungsprinzip ist uns nicht neu, mögen uns auch die speziellen Stilmittel und ihr spezieller Reichtum noch nicht vorgekommen sein. Das erstgenannte kennen wir aber bereits aus Herodot. Schon im Erzählerstil des Ioniers stellten wir das bewußte Vermeiden von Geschlossenheit und Kontinuität fest. Auch jetzt können wir, so sehr auch eine solche Parallelsetzung erstaunen wird, vom Peloponnesischen

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Krieg als dem Rahmen sprechen, in den einzelne Logoi eingefügt sind. Gewiß ist oft oder sogar meistens der Rahmen wichtiger als die Logoi, wie wir dies schon in der zweiten Hälfte des herodoteischen Geschichtswerkes festgestellt haben. Bedeutungsvoller ist aber, daß die Logoi anders sind als bei Herodot, nicht immer, aber in der Hauptsache: es sind nur noch ausnahmsweise Exkurse, meistens sind es Reden und Verwandtes, wie Briefe, Dialoge, Spezialabhandlungen wie die Schilderung der Pest u. ä. m. Aber ohne allen Zweifel ist der Stil des Herodot Ausgangspunkt auch für den Stil des Thukydides. Oder sagen wir besser für das Gehäuse seines Stils, in das er einen ganz anderen Inhalt gießt, deshalb, weil sein Trachten, seine Haltung, seine Gebärden in vollem Widerspruch zu denen seines Vorgängers stehen. Er übernimmt dessen Form, die ihn fachlich verpflichtet, aber er steht in ständiger Auflehnung gegen sie, er sprengt sie und vergewaltigt sie. Es ist eine Stilform, die für leichte Hände bestimmt ist und Ausdruck einer oberflächlichen Lebenshaltung sein will. Er aber durchsetzt sie mit Leidenschaft, mit Pathos und dem Glanz der frisch entdeckten rhetorischen Schmuckformen. So ist der Gegensatz von Form und Haltung oft so groß, daß er Schmerzen erregt, ja Abneigung und Zorn im Leser hervorruft. Aber immer werden wir doch wieder bezwungen und in den Bann des Werkes gezogen. Freilich dürfen wir der Verantwortung nicht dadurch aus dem Wege gehen, daß wir alles, was uns unbequem ist, derUnvollendungindie Schuhe schieben oder dem Redaktor; wir müssen um das Verständnis dieses Stiles ringen. Das ist allerdings nur möglich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit der inneren Stimme desselben zuwenden.

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Diese ist vielleicht im Bau der einzelnen Sätze leichter zugänglich als in der Organisation und Komposition des Ganzen. Der einzelne thukydideische Satz ist absolut ein Abbild des eben vom Gesamtstil Gesagten. Auch der einzelne Satz lebt in einem Widerspruch, in einem Protest. Wie die Gesamtkomposition sich ständig gegen den ererbten Stil eines jonischen Geschichtswerkes auflehnt, so der einzelne Satz gegen die normale griechische Syntax, gegen die Vokabeln und Bindungen der griechischen Sprache, wie sie von der Allgemeinheit gehandhabt werden. Man kann den Sprachstil des Thukydides ablehnen, ihn als Manier und Unnatur bezeichnen, was immer wieder geschieht, aber auch der abgeneigteste und feindlichste Leser wird sich darüber klar sein, daß es sich nicht um Spiel und Lässigkeit handelt, sondern um einen leidenschaftlichen Haß gegen alles Triviale, auf alle Fälle um etwas sehr Ernstes. Es lohnt sich der Mühe, die Parallele zwischen dem Stil im engeren Sinn und der Gesamtkonstruktion des Werkes noch etwas zu vertiefen. In beiden Fällen sieht es so aus, als ob sich der Schriftsteller seine Aufgabe besonders erschweren wolle, indem er die ungünstigsten und seinem Stilwillen widerstrebendsten Voraussetzungen schaffe. So wählte er für die Komposition des Gesamtwerkes die platteste und eintönigste historische Erzählungsform, die annaüstische, um sie durch sein ungefüges Arbeiten immer wieder aufzuheben und zu zerstören. Und nicht anders steht es mit seiner Sprache. Nicht die alltägliche ist sein Instrument, sondern eine durch alle Raffinements der in ihrer Maienblüte stehenden Rhetorik mißbrauchte. Deren ganze gleisnerische Pracht, ihre Anaphern, Parallelen, Häufungen, Gleich-

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klänge sind ihm vertraut und selbstverständlich. Er kümmert sich nicht darum, daß diese Dinge nicht nur den lebendigen Zauber der Sprache zerstören, sondern auch die darin ausgedrückten Gedanken anstecken und angreifen, indem sie sie bagatellisieren und ins Konventionelle verrücken. Aber mitten im scheinbar hemmungslosen Gebrauch dieser Mittel hebt er ihre Wirkung ununterbrochen auf, bricht er ihnen die Spitze ab und setzt an die Stelle des allzu leicht Verständlichen das Schwere, Unerwartete, Unverständliche. Das hat zur Folge, daß man bei ihm nie ganz sicher ist, ob ein unerhörter Tiefblick in letzte Abgründe menschlichen, sozialen oder politischen Geschehens vorliegt oder nur eine unwillige, aus der Empörung über drohende Trivialität blitzartig erraffte Stilüberraschung. Nehmen wir als Beispiel einen kleinen Abschnitt aus jenem Logos des III. Buches, der, anschließend an die gräßlichen Bürgerwirren von Kerkyra, die zunehmende Zersetzung der politischen Moral in ganz Griechenland schildert. Es wird dies in höchst interessanter Weise an der Veränderung der moralischen Terminologie beobachtet. Natürlich kann eine Übersetzung nur notdürftige Andeutungen geben. Eine weitere Erschwerung bedeutet es auch, daß der Text unseres Schriftstellers im allgemeinen, speziell aber an so komplizierten Stellen, großen Verderbnissen ausgesetzt war, begreiflicherweise, da die Abschreiber nicht weniger als wir mit dem Verständnis desselben zu ringen hatten. „Schon ersetzte man die gewohnte, den Dingen zukommende Bedeutung der Wörter durch Willkür. Unsinnige Tollkühnheit galt als opferbereite Tapferkeit, vorsichtige Zurückhaltung aber als heuchlerische Feig-

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heit; die Besonnenheit als Beschönigung der Unmännlichkeit und allseitige Umsicht als Scheu vor aller Arbeit. Das rücksichtslos Draufgängerische wurde den Mannestugenden eingeordnet; Zurückhaltung im Angriff galt als phrasenhafter Vorwand zum Verzicht. Der Schimpfer wurde als stets Zuverlässiger angesehen; der, der ihm zu widersprechen wagte, erschien verdächtig. Ein Intrigant galt, falls er Erfolg hatte, als kluger Mensch; noch fähiger aber, wenn einer die Intrigen voraussah. Sorgte einer jedoch rechtzeitig dafür, daß er solche Mittel gar nicht nötig habe, war er ein Spielverderber und Angstmeier. Nur der fand Lob, der dem zuvorkam, der ihm Böses antun wollte, und auch der, welcher einen anderen, der gar nichts Derartiges tun wollte, dazu bringen konnte, es zu tun. Verwandtschaft galt weniger als Koterie, weil sie (die letztere) eher bereit war, hemmungslos etwas zu wagen. Denn solche Verbindungen waren nicht auf gesetzlichem Boden zum Wohle der Allgemeinheit gegründet worden, sondern wider die Gesetze zur Befriedigung der Selbstsucht. Und so basierte das gegenseitige Vertrauen nicht so sehr auf sittlichen Prinzipien als auf gemeinsamem Schuldbewußtsein." Selbst dieser geringe Auszug aus einem im gleichen Sinn noch lange weitergeführten Zusammenhang wird das oben Festgestellte bestätigen. Zu Anfang überwiegt das rein Rhetorische: der gleiche Gedanke wird in parallelen Sätzchen wiederholt; gleichzeitig wird aber die Parallelität gestört und unterbrochen; doch hat man den Eindruck, es handle sich nur um Willkürlichkeiten des sprachlichen Ausdrucks. Auf einmal aber fühlt man, daß auch Wesentliches dadurch angerührt

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wird, ohne daß man genau angeben könnte, wo dies einsetzt. So aber geht es durch diese ganze psychologische Abhandlung hindurch. Diese Tatsache schafft höchste Beunruhigung: man wird zwischen Unwillen und Bewunderung hin und her gerissen; nirgends und nie ist man seiner Gefühle ganz sicher. Das aber ist der Eindruck, den man fast immer von Thukydides davonträgt. Kein Zweifel, daß das Bild des Stilisten Thukydides — Stilist in weiterem und engerem Sinn genommen — nur schwer in Einklang zu bringen ist mit der normalen Vorstellung von dem Wahrheitsfanatiker, dem Historiker Thukydides. Wir dürfen ruhig sagen, daß das Mißbehagen über solche inneren Widersprüche wesentlich der Theorie von dem provisorischen Zustand des Werkes Kredit verschafft hat. Der Gedanke gab nicht geringe Befriedigung, daß diese Diskrepanzen verschwunden wären, falls der Autor an sein Buch die letzte Hand hätte anlegen können. So ist jetzt für uns der Moment gekommen, uns mit dem Historiker Thukydides zu beschäftigen, wobei wir freilich weder die Absicht noch die Möglichkeit haben zu prüfen, wo und wann er sich in seiner Darstellung irrte. Unsere erste Frage soll sein, was ihm geschichtlicher Stoff war, was er sich überhaupt unter Geschichte vorstellte. Ist er politischer Historiker oder ist er Kulturhistoriker oder Geschichtsphilosoph ? Die Antwort muß lauten, daß er alles dies ist, aber nicht in dem Sinn, daß diese Elemente sich durchdrängen, so etwa, daß gleichzeitig das Bemühen kenntlich wäre, mit letzter Treue das äußere Geschehen festzulegen, es in den Rahmen der Entwicklung der griechischen Kultur einzuordnen und es schließlich als Erscheinungsform

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eines ewig wirksamen historischen Gesetzes aufzuzeigen. Vielmehr stehen diese verschiedenen geschichtlichen Betrachtungsweisen exkursiv nebeneinander. Das eine Ereignis wird nach dieser Methode, das andere nach jener angepackt, ohne daß immer ein Grund sichtbar wäre. Oft kann er sich z. B. bei Schlachtenschilderungen, Belagerungen usw. nicht genug tun, die Details eines historischen Vorgangs zu erforschen und vor uns auszubreiten, gleich daneben benutzt er einen Anlaß oder schafft er sich einen solchen, um in die Tiefe zu bohren und die kulturelle Lage der griechischen Welt zu schildern, wie in dem oben behandelten Kapitel über die Wandlungen der politisch-moralischen Terminologie oder in der Darstellung der verheerenden Folgen der Pest auf die sittliche Haltung des athenischen Volkes (II, 53) oder bei der Charakterisierung der Volksführer nach dem Ausscheiden des Perikles (II, 65), von der Leichenrede des Perikles ganz zu schweigen. Daneben gibt es wieder Abschnitte, die den Eindruck erwecken, als ob ihm das Geschehen seines Krieges nur Material wäre für die Erfassung des Problems der Macht. Automatisch muß die Bildung des attischen Seebundes in den letzten Konsequenzen zum Peloponnesischen Krieg führen. Nicht die kerkyräischen und nicht die potidäischen Angelegenheiten sind seine Ursache, obgleich das erste Buch ganz auf dieser Geschichtskonzeption aufgebaut ist, sondern der unvermeidliche Machtkonflikt zwischen Sparta und dem immer weiter um sich greifenden Athen. Dasselbe Schwanken stellen wir fest, wenn wir uns fragen, welches für Thukydides die bestimmenden Faktoren historischen Geschehens seien, das Individuum

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oder die Masse. Zeitweise möchte man meinen, daß er überhaupt nur den politischen Gruppen geschichtliche Bedeutung zuweise, so zurückhaltend und sparsam ist er mit der Nennung führender Einzelpersönlichkeiten; fast nur als Sprecher von Reden läßt er sie in Erscheinung treten. Andererseits kann er sich aber, wie wir schon festgestellt haben, nicht genug tun, jeden einzelnen Schritt des Alkibiades aufzuzeichnen und zu kommentieren; ja, er geht dabei sogar so weit, daß er in einer viel behandelten Stelle (VI, 15) das Schicksal und den Untergang Athens auf den luxuriösen und die Öffentlichkeit brüskierenden Lebenswandel dieses Mannes zurückführt. Und zwar ist der Zusammenhang zwischen den beiden Dingen der, daß ein luxuriöses Leben die neidische Menge gegen ihn einnahm und sie zu seinem Sturz veranlaßte, der sie des einzigen Mannes beraubte, der imstande gewesen wäre, Athen zu retten, und der auf alle Fälle durch seinen Übertritt auf die gegnerische Seite und den den Spartanern gegebenen Rat. Dekeleia zu besetzen, das Entscheidendste zum spartanischen Endsieg beitrug. Bei diesem Anlaß müssen wir auch die von Thukydides selber mit so faszinierenden Sätzen verkündete historische Gewissenhaftigkeit einmal etwas näher betrachten. Nachdem er von der besonderen Situation der Reden gehandelt, versichert er, daß er hingegen den E r eignissen gegenüber alle Subjektivität ausgeschaltet und sie nach bestem Können erforscht habe. Vielleicht werde darum sein Werk infolge des fehlenden poetischen Reizes weniger angenehm zum Anhören sein; es werde aber genügen, wenn diejenigen Menschen, die den Wunsch haben, von dem Geschehenen wie von dem, was

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nach menschlicher Gesetzmäßigkeit so und ähnlich wieder geschehen muß, die Wahrheit zu erkennen, es für brauchbar erachten. Ein Besitz für immer, kein Prunkstück für den Augenblick soll es sein (I, 22). Wir gehen nicht irre, wenn wir darin einen starken polemischen Gehalt feststellen, Polemik nämlich gegen seinen gefährlichsten Konkurrenten, gegen Herodot. Denn nur wenige Sätze weiter zurück hat er sich mit diesem in wenig freundlicher Weise auseinandergesetzt, ohne Namensnennung, aber darum nur um so bösartiger. Was er ihm vorzuwerfen hat, sind solche Lappalien (kleine Versehen in staatsrechtlichen Angaben über Sparta), daß man sich wegen des polemischen Aufwandes für Thukydides schämt. Gewiß ist ein großer Unterschied gegenüber Herodot vorhanden: von der unbeschwerten Freiheit, amüsante und belehrende Geschichten irgendwo in der Weltgeschichte unterzubringen, macht er keinen Gebrauch mehr. E r hat sie auf Rudimente reduziert, von welchen Ausnahmen (eben den Reden) er ausdrücklich als solchen spricht. Aber dabei darf man nicht vergessen, daß die Aufgabe, die Herodot sich stellte, außerordentlich viel schwerer war als die des Thukydides: dieser schreibt die Geschichte seiner eigenen Zeit, nicht die einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Auch bei Herodot schwindet die Fabulierfreiheit, je näher er an die Gegenwart herankommt. Mag auch, dies alles zugegeben, der Unterschied in der historischen Zuverlässigkeit noch immer groß sein, so rührt dies sicherlich zum Teil auch von einem viel beschränkteren Interessenkreis des Thukydides her: während Herodot die menschliche Reaktion in ihrer ganzen psychologischen Breite interessiert, so beschränkt sich Thukydides auf

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das Problem der Macht. F ü r alles andere fehlt ihm das Organ, wie schon sein Mangel an Humor deutlich macht. Bezeichnend ist es, daß die antiken Erklärer zu der Kylongeschichte, die ihnen direkt herodoteisch einfach und harmlos vorkam, die Bemerkung machen: hier hat der Löwe einmal gelacht! Thukydides sieht sehr viele Dinge, die ebenso geschichtsbildend sein können wie das Machtstreben, einfach nicht. Zieht man solche Überlegungen in Berücksichtigung, wo wird der Schritt von den Vorgängern zu ihm doch nicht so gewaltig erscheinen, mit ihm nicht etwas völlig Neues beginnen, wie man dies meistens behauptet. Diese Negationen wollten nur Anforderungen beiseite schieben, die an Thukydides gestellt wurden, indem man ihn zum ersten modernen Historiker machen wollte. Daß er dies sein könnte, dazu fehlt von vornherein das Wichtigste, die Dokumentation, außer an den wenigen Stellen, an denen es dem Schriftsteller einfiel, Akten zu bringen, wobei es keineswegs auszumachen ist, daß dies aus wissenschaftlichen Gründen und solchen der Kritik geschieht. Wo wir einmal eine Nachticht kritisch behandelt finden, geht die Kritik nicht über das hinaus, was auch schon Herodot konnte, z. B . I I I , 1 1 3 , wo an einer Zahlenangabe gezweifelt wird, weil die Größe der Stadt damit nicht in Einklang stehe. Die Nörgelei gegen Hellanikos (V, 20), dem mangelnde Exaktheit in bezug auf die Verteilung der Ereignisse auf Sommer und Winter eines Jahres vorgeworfen wird, berührt eigenartig im Munde eines Mannes, dessen vage zeitliche Distanzangaben so viele Schwierigkeiten für die chronologische Fixierung hervorgerufen haben. So ist es durchaus am Platz, sich nicht übertriebenen Vorstellungen über die

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historische Akribie des Thukydides hinzugeben. Hingegen ist etwas anderes über alle Zweifel erhaben, das ist seineUnparteilichkeit. Thukydides ist so unparteiisch, daß es schon sehr geschärfte Ohren braucht, um eventuell an Untertönen zu erkennen, wohin sein Herz tendiert. Und das nicht mit absoluter Sicherheit. Man darf höchstens das Gefühl haben, daß seine Liebe doch seiner Heimat gilt, oder sagen wir wenigstens der perikleischen Periode Athens; aber auch nachher noch entlockt ihm die unvorstellbare Widerstandskraft seiner Stadt Worte der Bewunderung (II, 65 und V I I , 28); sie ist ihm aber auch ein Beweis, daß Perikles in Kenntnis seiner Machtmittel das volle Recht zu seiner Politik hatte. Auch sonst ist sein Verhältnis zu Perikles einzigartig, es ist eine Art scheuer Zärtlichkeit sichtbar. E s ist ihm eine wahre Befriedigung, daß die Athener, als es ihnen besonders wegen der Pest schlimm geht, genau so reagieren, wie es Perikles vorausgesehen hat, wiewohl sich diese Reaktion gegen ihn selber richtet (II, 59); in all den törichten Handlungen der unfähigen Nachfolger des Perikles aber sieht er den Triumph seines Helden (II, 65): „Als er starb, da wurde erst recht die Richtigkeit seiner Kriegspolitik deutlich. Sein Plan war . . .; seine Nachfolger machten aber von dem allem das Gegenteil." Wir können diese nur für kurze Momente sichtbar werdende innerste Sympathie um so besser verstehen, weil Thukydides wenige Jahre nach dem Tod des Perikles selber in die Verbannung gehen mußte und bis zum Ende des Krieges fern von seiner Vaterstadt lebte. So könnte man denken, daß das liberale Kulturprogramm, wie es in den Mittelpartien der Periklesrede ausgedrückt ist, am ehesten seinem Fühlen entsprechen

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könnte. Ob das aber richtig ist? Zwar wollen wir uns nicht durch die wannen Töne beeindrucken lassen, die er (V, 75) für die Spartaner und die Rehabilitierung ihrer Tapferkeit findet nach der großen Schlacht gegen die Argiver, aber sicher kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, daß er ausnehmende Sympathien für die Männer des Staatsstreiches von 4 1 1 hat, besonders für Antiphon. Freilich scheint die Bewunderung zuerst mehr der Größe und Schwierigkeit des Unternehmens als diesen selber zu gelten: „denn es war ein schweres Unternehmen, dem athenischen Volk die demokratische Verfassung zu nehmen, die es hundert Jahre lang, seit dem Sturz der Tyrannis, gehabt hatte, wobei es nicht nur niemandem Untertan war, sondern während der Hälfte dieser Zeit selber über andere zu herrschen gewohnt war". Eine besonders gute Zensur bekommt dann aber die zweite, gemäßigter konservative Verfassung von 4 1 1 , die er einen maßvollen Ausgleich zugunsten der Vornehmen und des Volkes nennt (VIII, 97). E r sagt sogar, daß damit zum erstenmal zu seinen Lebzeiten die Athener eine gute Verfassung bekommen hätten. Bei näherer Prüfimg muß man aber feststellen, daß er damit einen sicher für die Betroffenen außerordentlich angenehmen und vorteilhaften Zustand bezeichnet, aber ein politisch oder historisch gesehen uninteressantes und nicht zentrales Faktum. E s bedeutet das Fehlen von inneren E r schütterungen, die Konstanz des Bestehenden. Sparta hatte eine gute Verfassung (Eunomia) und war immer tyrannenfrei (I, 18). Auch andere Staaten haben Zeiten solcher Eunomie, aber immer stehen sie darin hinter Sparta zurück; Sparta ist darin unerreicht. Von Chios sagt er, daß diese Insel mehr als alle anderen, abgesehen

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von Sparta, eine glückliche und kluge Politik trieb, und je mehr sich der Staat vergrößerte, um so gefestigter wurde die innere Ordnung (VIII, 24). E s ist ein wohlgeordnetes und von Erschütterungen freies Land. E s sind innenpolitische Begriffe; die Staaten stehen aber im außenpolitischen Raum. Letzterer ist das Objekt der Geschichte. So will das Lob doch nicht soviel sagen, vor allem gibt es keine zuverlässige Auskunft über die persönliche Stellungnahme des Verfassers. E s ist also nicht leicht, darüber sich Gewißheit zu verschaffen. So bleibt das Wort von der Unparteilichkeit des Thukydides unangefochten. Ist diese fast erschütternde Unparteilichkeit nun aber die Frucht intensiver Anstrengung, geboren teils aus wissenschaftlichem Verantwortungsgefühl, teils aber auch aus dem qualvollen Wissen um die Niederlage derjenigen Partei, zu der man von Herkunft und ursprünglicher Neigung gehörte, oder aber liegt sie tief im Wesen dieses seltsamen Mannes begründet ? Zu oberflächlich wäre es, sie einfach aus der Gelegenheit zu erklären, die er infolge seiner Verbannung hatte, beide Parteien kennenzulernen. Wahrscheinlich ist ein solches Entweder-Oder zu radikal, aber die zweite Alternative muß doch als entscheidend bezeichnet werden, denn die Unparteilichkeit ordnet sich in eine größere Zahl anderer Eigentümlichkeiten des Thukydides ein und geht darin auf. Vor allem ist eine absolute Indifferenz gegenüber den moralischen Anschauungen, wie sie jede Gemeinschaft von alters her für die menschliche Verhaltungsweise in ihrem Inneren ausbildet, wo Recht und Tradition über ihre Beobachtung wachen, stets aber auch zum mindesten als Forderung auf das zwischenstaatliche Leben ausdehnt.

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wo freilich kein Garant ihrer Anerkennung vorhanden ist. Natürlich entfallen auch Thukydides ausnahmsweise einmal ethische Wertungen oder Worte der Empörung über menschliche Scheußlichkeiten, so bei der grauenhaften Überrumpelung von Mykalessos durch entlassene thrakische Söldner (VII, 29 und 30), meistens aber legt er solche geschickt der öffentlichen Meinung in den Mund, z. B. gibt er als Meinung der Spartaner, was er über die Verschiedenheit der moralischen Situation zu Beginn des Archidamischen und des Dekeleischen Krieges auf dem Herzen hat (VII, 18): jetzt hätten die Athener als erste den Frieden gebrochen, während im früheren Krieg der Friedensbruch von ihrer Seite ausgegangen sei usw. Die Moral ist ihm einfach ein Teil des kulturellen Lebens, dessen geschichtliche Wandlungen zu schildern mit zu seinen Aufgaben gehört. Die geschichtlichen Vorgänge aber sind Machtfragen, im Inneren so gut wie im Verhältnis der Staaten zueinander; sie treten automatisch ein entsprechend den jeweiligen Machtverhältnissen als reine Reaktionen. Am deutlichsten wird das in der letzten Periklesrede, mit der dieser die durch die Pest Deprimierten aufrichtet: gerade im Munde des Perikles wirkt die Kühle und Brutalität der Betrachtungsweise um so eindrücklicher: er spricht vom Attischen Seebund als einer Tvrannis (II, 63), was das Schlimmste ist, was gesagt werden kann. Bezeichnend ist, daß später Kleon (III, 73) das gleiche Wort von der gleichen Sache gebrauchen darf, in einem Zusammenhang, der zeigt, daß nicht nur die Sache, sondern auch der Sprecher charakterisiert werden soll. Die Periklesrede aber will deutlich machen, daß moralische Wertungen in der Politik völlig fehl am Platze

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wären. Mitleid und Rücksicht haben mit dem Völkergeschehen sowenig etwas zu tun wie mit Naturkatastrophen. Das Unheimlichste aber ist, daß solche Erkenntnis nicht als neue geistige Errungenschaft provozierend vorgetragen wird, sondern daß sie selbstverständlich erscheint. Sie gehört zu Thukydides. Darin gibt es keinen Unterschied in seinem Werk; es gibt also, da dieses in verschiedenen Zeiten seines Lebens verfaßt ist, auch darin keinen Unterschied während seines Lebens. Diese Feststellung zeigt offenbar klar, daß er zwar in dieser Hinsicht an einer Zeitströmung teilnimmt, was z. B. auch Gemeinsamkeit der Terminologie mit der hippokratischen Sammlung bezeugt, sich aber gleichzeitig von ihr unterscheidet. Gewiß ist diese Betrachtung des menschlichen Geschehens als eines naturwissenschaftlichen Objektes ein Charakteristikum der sophistischen Bewegung, von der Thukydides in formaler Hinsicht so stark beeinflußt ist — in Tat und Wahrheit aber sehen die sophistischen Produkte, ja sogar die Weiterführungen derselben bei Piaton in den Gedankengängen des Kallikles und Thrasymachos harmlos und kindlich aus neben der Selbstverständlichkeit des Thukydides. Bei ihnen allen ist die Absicht zu provozieren, die kindliche Lust, durch freidenkerisches Gebaren zu schrecken, mit Händen zu greifen. Nichts davon bei Thukydides: es gibt für ihn überhaupt nicht die Möglichkeit, so scheint es, die Dinge anders anzusehen. Interessant sind die wenigen Fälle, wo diese gleiche Betrachtungsweise auch dem Individualleben gegenüber angewendet wird; es sind darum nur wenige Fälle, weil Thukydides bekanntlich nur selten dem Individuum die Initiative des Handelns zuweist. Natürlich ist dafür

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Alkibiades der interessanteste Exponent. Gleich beim frühesten Auftreten, als sein Name zum erstenmal fällt (V, 43), wird sein Verhalten durch gekränkten Ehrgeiz erklärt. E r ist darüber empört, daß die Lazedämonier nach Sphakteria die Friedensfühlung bei Nikias und Laches aufgenommen haben und nicht bei ihm, der sich doch um die spartanische Freundschaft durch freundliche Behandlung der Kriegsgefangenen bemüht hatte. Das ist der Grund seiner heftigen antispartanischen Politik. Ein psychologisches Kabinettstück ist vollends die Schilderung der Verhandlung zwischen den Athenern und Tissaphernes, die Alkibiades im eigenen Interesse zum Scheitern bringen muß, weil ihm die Umstände keine andere Politik erlauben. Aber eindrücklicher ist es wohl, wenn wir die gleiche kühle Betrachtungsweise an das Verhalten von Persönlichkeiten angelegt sehen, die sonst in moralischer Hinsicht makellos dastehen. So berührt es sicherlich als befremdend, daß die von Nikias eingeleitete Friedensaktion, die dann auch zu dem nach ihm benannten Frieden führt nur oder fast nur aus selbstsüchtigen Motiven erklärt wird: er will sein bisher ungestörtes Glück und den Ruhm, der ihm daraus erwuchs, sichern, endlich befreit sein von den ständigen Strapazen und dies auch seinen Mitbürgern zuteil werden lassen, der Nachwelt den Ruhm hinterlassen, nie die Stadt geschädigt zu haben, was aber nur geschehen könne in gefahrlosen Zeiten, wenn einer möglichst wenig sein Glück aufs Spiel setze, wozu der Frieden das beste Mittel sei. Solche Feststellungen könnten an eine ähnliche moralische Indifferenz des Herodot erinnern. Aber gerade diese Parallelstellung ist imstande, uns die Eigentümlich-

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keit der Denkweise beider deutlich zu machen. Bei Herodot ist es die Freude an der Vielfalt menschlichen Wesens, Interessiertheit an der Unbegrenztheit seiner Spielformen, spöttische Schadenfreude, daß der Mensch unter dem Einfluß der ganzen Skala der Leidenschaften vor nichts zurückschreckt, vor keiner Grausamkeit, keiner Gemeinheit, keiner Perfidie und keiner Lächerlichkeit. Viele seiner Historien erzählt er zu dem einzigen Zweck, dies zu illustrieren. E r lacht über die Menschheit, nicht ganz unbeschwert und frei, aber er lacht doch über sie. Thukydides aber fehlt, wie wir gesehen haben, jeglicher Humor; er würde gar nicht verstehen, worüber man angesichts solcher Dinge lachen kann. E r macht in seinem ganzen Werk nie den geringsten Versuch zum Scherzen: nicht einmal als Stilmittel hat er den Scherz auf seiner sonst so reich ausgestatteten Palette. Wo gleichsam die Ereignisse einen Witz machen, indem sie die normalen Verhältnisse auf den Kopf stellen wie bei den Kämpfen des Demosthenes vor Pylos, bei denen die Spartaner als Seehelden, die Athener als Landhelden kämpfen müssen, da verwirrt ihn diese komische Situation dermaßen, daß er voller Erstaunen diese Beobachtung wiederholt (IV, 12 und 14). Was aber den Menschen angeht, so ist es nun einmal so: Macht im zwischenstaatlichen Verkehr, Ehrgeiz im politischen Treiben innerhalb der Polis sind die einzigen Realitäten, die für den Historiker zählen. Nur davon und von nichts anderem hat er zu erzählen; alles andere sind „Prunkstücke für den Augenblick". So ist, was uns im Werk des Thukydides vor Augen tritt, mehr oder etwas anderes als die Objektivität und Wahrheitsliebe des Historikers. E s ist etwas, was den

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Menschen Thukydides ganz durchdringt, aufs untrennbarste zu seinem Charakter gehört. Es ist eine eigenartige, ja in diesem Ausmaß überhaupt einzigartige Einstellung zu allem menschlichen Geschehen, die in ganz bestimmten psychischen Voraussetzungen ihren Nährboden haben muß. Man kann sich auch den Menschen Thukydides nicht lachend vorstellen. Er ist gehetzt vom Erkenntnisdrang. Dieser konzentriert sich auf das Problem der Macht. Dafür ist ihm die Geschichte eine Art Experiment, und zwar lebendige Geschichte. Er kann nur Gegenwartsgeschichte schreiben, nicht die der Vergangenheit. Er ist ein Naturforscher: mit jenem Forscherfanatismus, wie ihn die Naturforschung hervorbringt. Mit der gleichen Inbrunst, mit der ein Naturwissenschaftler den Verlauf eines Experimentes in allen seinen Phasen verfolgt, stürzt sich Thukydides auf den Peloponnesischen Krieg. Erst jetzt wird uns das Proömium verständlich: gleich zu Beginn des Krieges ist er entschlossen, diesen zu schildern, weil er voraussieht, aus mehreren Anzeichen, daß er größer und bedeutender als alle früheren Kriege sein werde. Ganze zwanzig Kapitel sind sodann der näheren Begründung dieser Behauptimg über Größe und Bedeutung des Krieges gewidmet, wobei freilich, wie wir oben sahen, die genannte Idee teilweise nur Rahmen ist. Aber mit Zähigkeit wird sie immer wieder aufgenommen. Sie ist eben nicht nur rhetorische Einkleidung, sondern sie teilt uns doch etwas Wesentliches mit, nämlich, warum der Verfasser sich gerade dieses Experiment und kein anderes ausgewählt hat. Diese Geschichte wird eine größere Fülle von Material, von Beobachtungen und von Resultaten liefern, als irgendeine andere dazu imstande wäre, irgendein

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früherer Krieg der griechischen Vorzeit. „Denn weder wurden je so viele Städte erobert und dem Erdboden gleichgemacht teils von Seiten der Barbaren, teils von den streitenden Parteien selber (manche bekamen sogar nach der Einnahme andere Bewohner), noch gab es je so viele Verbannungen, noch so vielen gewaltsamen Tod teils im Kriege selber, teils in den bürgerlichen Wirren." J a , sogar auf Erdbeben, Sonnenfinsternisse, Mißwachs und Hungersnöte, endlich auch auf die große Seuche wird der gleiche Gedanke ausgedehnt. So wenig aber als man einem biologischen Experiment gegenüber parteiisch sein kann, so wenig als man solche mit Humor oder mit Zynismus behandeln kann, ebensowenig wäre eine solche Verhaltungsweise, so scheint es Thukydides, den von ihm untersuchten Fragestellungen gegenüber denkbar. Voraussetzung ist natürlich der absolute Wille zur Wahrheit, sonst wäre das Experiment wertlos, darum betont er seinen Willen, die genauen Tatsachen zu erkennen (V, 26). Damit reiht sich Thukydides einfach in die Reihe der jonischen Naturforscher ein, seit Thaies, bei denen dieser Wahrheitsbegriff von jeher vorhanden war. E s ist nicht so, wie man dies Verhältnis gerne darstellt, daß Thukydides diesen Wahrheitswillen von den Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften übertragen hätte, vielmehr hat er als einziger die Geschichtsforschung zu einem Teil der Naturwissenschaften gemacht. Ihm selber wird nur der geschärftere Wahrheitssinn und der größere Ernst seiner Erforschung bewußt. Aber Tieferes ist dahinter verborgen. Nun werden wohl auch die Schlußsätze des 22. K a pitels im ersten Buch, im sog. Methodenkapitel, an

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deren Banalität man sich schon gestoßen hat, tiefgründiger erscheinen. E s wird darin nicht einfach das Lernen aus der Geschichte postuliert, sondern festgestellt, daß ein späterer Forscher für seine Experimente über das menschliche Geschehen dankbar die Experimente und Resultate des Vorgängers, eben die seinigen, brauchen werde, da ja das Künftige nach dem Gesetz des menschlichen Lebens gleich oder ähnlich sein wird wie das Vergangene. Ein eindrucksvolles Paradigma ist in dieser Hinsicht die Darstellung der Seuche, die Athen im Jahre 430 heimsuchte. Ihr ist ein Exkurs gewidmet, der eine detaillierte Krankheitsschilderung enthält, eingeleitet mit folgenden Worten: „Ich werde erzählen, wie die Krankheit verlief, und Angaben machen, auf deren Grundlage einer später, falls die Seuche wieder einmal auftreten sollte, seine Beobachtungen machen könnte, so daß er infolge seiner Kenntnisse nicht in Verlegenheit käme. Ich kann das tun, da ich selber an ihr erkrankt war und andere beobachtet habe, die erkrankt waren." Aus einzelnen Beobachtungen und besonders aus Vergleichen haben wir die Eigentümlichkeit der thukydideischen Denkweise erschlossen. Das ist aber im Grunde genommen nicht nötig: das ganze Werk strahlt sie aus; wir fühlen uns von ihm in diesem Geist beeinflußt. Nach einer unvoreingenommenen Lektüre seines Werkes sind wir davon infiltriert. E s ist wie ein Gift, das uns so verwandelt, daß wir nachher die geschichtliche Welt nur noch in dieser gleichen unerbittlichen, konzessionslosen, ja grausamen Weise anschauen können. Thukydides' Denken ist in seinem Werke Form geworden. Wie leicht sind wir geneigt, Gedankliches als selbstverständlich hinzunehmen, wenn uns die Form

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nicht alarmiert. Deutlicher und früher als der Inhalt machten uns auf die Eigenart dieser Geschichtsbetrachtung die formellen Anstöße aufmerksam. Gerade die fehlende Glätte des Erzählungsablaufes, die teilweise kaum verbundenen Blöcke mit eigenem gedanklichem Zentrum, die wie Serien von Einzelexperimenten anmuten, vermitteln uns das thukydideische Erlebnis intensiver, unmittelbarer, unausweichlicher als das, was er erzählt. Eigentlich würde die annalistische Art absolute Gleichförmigkeit erfordern, ist sie doch ein Abbild des unentwegten Fortschreitens der Zeit, die sich um Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der in sie eingebetteten Ereignisse nicht kümmert. Thukydides denkt aber nicht in der fortschreitenden Zeit, er denkt in einzelnen Erlebnissen. Es sind nicht immer die wichtigsten Dinge, die er erlebt, aber es sind charakteristische Dinge. Ein Musterbeispiel ist die mytileneische Angelegenheit, historisch gesehen von sekundärer Bedeutung. Thukydides macht aber daraus ein Einzeldrama, das die automatischen Wirkungen eines Machtverhältnisses, wie es der Attische Seebund darstellt, in typischen Repräsentanten der verschiedenen möglichen Verhaltungsweisen widerspiegelt. Es ist, als ob er in einer Reihe von Einzelversuchen den geschichtlichen Prozeß einfangen und darstellen wollte. Was aber die Folge seines Denkens auf sein Werk ist, das ist gleichzeitig wieder das Mittel, womit er uns sein Denken nahebringt, womit er es uns aufzwingt. Die Diskrepanz der Teile zur Form des Ganzen ist seine Kunstform, nur ihm eigentümlich, aber ihm ursächlich eigentümlich, weil sie seinem Wesen entspringt. Er hat sie vielleicht nicht gesucht, aber, weil sie sich ihm von

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selber ergab, so handhabt er sie willentlich, er unterstreicht sie und vergrößert ihre Wirkungen. E r weiß darum, daß auf dem Goldhintergrund der Annalistik seine Figuren stärker wirken, als wenn er die Kenntnisse der historischen Perspektive allerorten zeigte. Ja, es mag sogar sein, daß er mit diesem Hintergrund manchmal etwas kokettiert, wobei wir besonders an das zweite Proömium denken, das gar zu deutlich den Anschein erwecken will, als hätte der Verfasser fortlaufend an seinem Werk, den Ereignissen folgend, fortgeschrieben. Ja, auch Wiederholungen nach epischer Manier mögen dahin gehören, so, wenn er Kleon bei seinem Auftreten in der Mytileneer Affäre im dritten Buch fast wörtlich gleich einführt wie dann im vierten Buch bei der Übernahme seiner Funktionen vor Pylos (IV, 21). Aber Maßhalten ist überhaupt nicht seine Sache. Er ist ein Fanatiker. Er operiert nur mit den stärksten Mitteln. Es kommt ihm nicht darauf an zu übertreiben, es macht ihm nichts aus zu verstimmen. Das trifft für die Gesamtkomposition so gut wie für die Stilform des einzelnen Satzes zu. Das intensive Bemühen, das schon Gesagte und Konventionelle zu meiden, treibt ihn zu Exzessen der Ausdrucksweise an, die Angst, daß sein Gedanke zu leicht genommen würde, quält ihn in jeder Zeile: jede legt Zeugnis ab von seinem verzweifelten Ringen um die Formulierung, die vom Leser nicht als Erinnerungsbild an schon Gedachtes aufgenommen, sondern in jedem Teil nachgedacht und erlebt werden soll. Dieses Bestreben wird ohne allen Zweifel oft forciert, es wird zur Marotte und zur Manier, es tritt auch dort m Erscheinung, wo es unnötig ist. Er hat es aber erreicht, daß der kleinste Satz unverkennbar seinen Stempel trägt. So,

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wie er die Gemeinplätze meidet, so erreicht er, daß er selber nicht mit dem kleinsten Teil seines Werkes je Gemeinplatz geworden ist. So sehr man in seiner Schilderung der liberalen Kulturhaltung Athens in der Leichenrede des Perikles Wort für Wort, Satz für Satz als erstmalige Erfassung eines bisher noch nie beobachteten Tatbestandes erklären muß, so sehr man den einen Satz darin, (filoxakovfiEV te yaQ /ist' edreksias xal m).o60ffovfisv ävev fiakaxiag „wir lieben das Schöne verbunden mit Sparsamkeit und die Wissenschaft ohne Verweichlichung", als unerreichbaren Ausdruck konzentriertester Kulturanschauung anerkennen muß — niemals ist dieser Satz und ebensowenig die anderen um ihn herum Programm oder Schlagwort geworden. Es liegt im Wesen der modernen Wissenschaft, daß man Thukydides in erster Linie als Quelle benutzt hat, als Quelle für den Peloponnesischen Krieg. Das ist er natürlich in hervorragendem Maße. Er ist aber für den unvoreingenommenen Leser noch mehr, er ist Quelle für Geschichte an und für sich, oder besser gesagt, für jedes politische Geschehen. So hat er sein Wort vom Besitztum für immer gemeint und so haben es alle Geschlechter nach ihm auch empfunden, wenn sie ihre Sinne nicht gegen ihn verschlossen. Das hat keiner nach ihm auch nur entfernt im gleichen Maße erreicht. Gerade weil er seine Absicht nicht offen verkündet, ja, sich ihrer nicht einmal ganz bewußt ist, aber um so leidenschaftlicher um die Erreichung seines geheimen Zieles ringt und eifert, hat er eine Form geschaffen, der man sich nicht entziehen kann.

POLYBIOS Geboren ca. 200 in Megalopolis in Arkadien. Dank seiner Herkunft und seiner Begabung spielt er früh eine führende Rolle im Achäischen Bund; 167—151 mit vielen anderen als Geisel in Rom, wo er in freundschaftliche Beziehung zum jüngeren Scipio und zu anderen humanistisch gerichteten Römern trat und die römische Weltherrschaft verstehen lernte. Auch nach der Freigabe der Geiseln kam er wiederholt nach Rom und begleitete Scipio auf seinen Feldzügen. Von seinem Hauptwerk, den Historien in 40 Büchern, sind die ersten fünf Bücher vollständig, von den übrigen mehr oder weniger große Teile erhalten. Die Abfassung des Werkes nahm begreiflicherweise viele Jahre in Anspruch, so daß hie und da Spuren von verschiedenen Redaktionen sichtbar sind, ohne daß aber eine Änderung in der geistigen Haltung des Verfassers festgestellt werden könnte. Der ursprüngliche Plan umfaßte die 53 Jahre vom Zug des Hannibal bis zur Schlacht bei Pydna (168); die Fortsetzung bis 144 bedeutet eine Erweiterung. Das Werk des Polybios unterscheidet sich von allen anderen geschichtlichen Werken des griechischen und lateinischen Altertums: es fehlt ihm völlig das Geheimnis, das jenen allen eignet. Es gibt keine Polybiosfrage, wie es eineHerodot- und eine Thukydidesfrage, aber auch eine Sallust- und eine Tacitusfrage gibt. Um ihn muß man nicht kämpfen wie um die anderen. Was er will

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und was er ist, sagt er uns selber, und zwar sagt er die volle Wahrheit. Er sagt es uns sogar so oft, daß wir darüber eher verstimmt werden, und doch ist dies keine Geschwätzigkeit und kein Vordrängen menschlicher Eitelkeit, sondern es ist ein Ausfluß seines dauernden Ringens um die Grundlagen der Geschichte im allgemeinen und seiner Geschichte im speziellen. Er ist der einzige uns erhaltene große antike Historiker, der nicht in erster Linie Künstler, sondern Gelehrter ist, der allein durch den Inhalt seines Werkes und nicht durch seine Form wirken will und tatsächlich auch so wirkt. Er ist darum gewissermaßen der einzig Moderne unter ihnen, Das mag der Grund dafür sein, daß er sich einer gewissen Geringschätzung erfreut; doch völlig zu Unrecht, denn sein Werk ist auf jeden Fall eine respektable Leistung, und zwar nicht etwa nur als Quellenwerk betrachtet, sondern als geistige Tat. Mag auch seine philosophische Basis, an den Anforderungen moderner Geschichtsphilosophie gemessen, eine bescheidene sein, so ist in ihm doch lebendig und wirksam jener unbefangene kritische Geist, der in den Generationen nach Aristoteles und nach dem Sieg der Philosophie über die Rhetorik jedes geistige Phänomen Griechenlands bestimmt, bis die letztere sich wieder emporarbeitet und alles und damit auch die Geschichte und die Theorie der Geschichte in ihren Bann zieht. In diesem Geist will Polybios aus der Geschichte eine Wissenschaft (Episteme) machen, in Opposition zu den anderen, die nur eine Ennoia, eine Ahnung von ihr hatten (1,4.9). Nichts ist ihm a priori gegeben, vor allem nicht der Stoff der Geschichte. Im Gegenteil — dieser liegt ihm so wenig an der Oberfläche, seine Anschauungen darüber

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weichen so sehr von denjenigen seiner Vorgänger ab, daß er immer wieder darauf zurückkommt und daß er, um seine Absichten deutlich von denen der anderen zu scheiden, sogar einen eigenen Namen für seine Art der Geschichtsschreibung aufstellen muß. E s ist dies das Schlagwort der p r a g m a t i s c h e n G e s c h i c h t e . E s ist leichter festzustellen, was er damit bezeichnet, als wie er zu diesem Namen kommt. Der Stamm, der in dem Adjektiv pragmatisch steckt, bedeutet „handeln"; er meint mit diesen Handlungen aber spezifisch die politischen Handlungen von Völkern, Städten und Fürsten, so daß er als Synonym von pragmatisch seine Geschichtsschreibung auch gelegentlich als politisch bezeichnen kann und sie in Gegensatz stellt einerseits zu einer genealogischen und andererseits zu einer solchen, die sich mit Kolonie- und Städtegründungen und Verwandtschaften (natürlich fürstlicher Geschlechter) beschäftigt (IX, i , 4—6). E s wäre darum auch sein Wunsch, daß, wie er in Variierung eines berühmten platonischen Ausspruches von der Wünschbarkeit der Identität von Staatsmann und Philosoph sagt, die Pragmatischen (d. h. die politisch Tätigen) unter den Menschen Geschichte zu schreiben begönnen, und zwar nicht wie jetzt nur nebenbei, sondern aus der Überzeugung heraus, daß das für sie etwas vom Wertvollsten und Schönsten sei, oder daß diejenigen, die sich mit der Geschichtsschreibung zu beschäftigen beginnen, die politische Erfahrung als notwendige Voraussetzung für diese anerkennen (XII, 28, 4—5), denn den Buchmenschen fehlt die richtige Anschauung der Dinge, die nur durch eigenes Erleben einem Schriftsteller zuteil werden kann (XII, 25 h, 3). Aber daneben oder sogar in erster Linie ist ihm beim

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Gebrauch des Wortes pragmatisch die gewöhnliche Bedeutung dieses Adjektivs in der Umgangssprache lebendig, wo es soviel wie energisch heißt. So ist pragmatische Geschichte die Geschichte der im Weltgeschehen waltenden Energien, der treibenden Kräfte. Daß diese nicht an der Oberfläche, sondern hinter den Geschehnissen liegen, ist selbstverständlich; es ist deshalb Pflichtvergessenheit, wenn man sich aus Bequemlichkeit mit der Oberfläche begnügt. Vielmehr muß man das Risiko auf sich nehmen und zu dem durchdringen, was das Pragmatischste ist, was aber nur erschlossen werden kann ( X X I X , 5). In diesem Sinn versucht er, zu den wirklichen aQ'/ai, den Anfängen, zu gelangen, dies Wort in einer von der Naturphilosophie inaugurierten tieferen Bedeutung fassend: die dg/ui müssen nicht bloße Ausgangspunkte, sondern ahicu, Ursachen, sein. E s müssen solche Anfänge sein, die nicht nur, wie das Sprichwort sagt, die Hälfte des Ganzen sind. Obgleich das Sprichwort zu übertreiben scheint, sagt es vielmehr zu wenig. Tatsächlich ist ein solcher Anfang nicht nur die Hälfte des Ganzen, sondern er reicht bis zum Ende (V, 32, 1—2). Also nicht einfach das Geschehene, sondern wie es kam, daß es geschah, gilt es festzustellen (V, 21, 6). Was sind z. B. die „Anfänge" des Alexanderzuges? Im banalen Sinn der Ubergang Alexanders nach Kleinasien; im Sinne des Polybios aber reichen die Anfänge desselben, insofern sie gleichzeitig Ursachen sind, bis zum Zuge der Zehntausend, den Xenophon mitmacht und beschreibt, und bis zum König Agesilaos und seinen kleinasiatischen Feldzügen (396 bis 394) zurück. Gleich steht es mit dem zweiten Punischen Krieg. 'AQW) im gemeinen Sinn ist dafür die

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Eroberung Sagunts durch Hannibal, aber die wahren Ursachen sind ganz andere und reichen viel weiter zurück (II, 6 ff.). Darum schiebt er seinem Geschichtswerk, das mit dem zweiten Punischen Krieg einsetzen soll, zwei Bücher vor, die die Geschichte der Jahre 260—220, d. h. die Zeit vom Übergang der Römer nach Sizilien bis zum Anfang des genannten Krieges umfassen. Dieser dg/tf-Gedanke beherrscht Polybios immer, und er wird nie darin müde, ihn zu verfolgen — im ganzen und im einzelnen. Auch ruft er ihn stetsfort wieder in Erinnerung. Nicht immer hat er natürlich nach unserer heutigen kritischen Auffassung Erfolg in der Feststellung der wirklichen Anfänge. Aber die Aufgabe gestellt zu haben, ist schon wichtig genug, und immer wieder sind seine Ausführungen reizvoll, die unter dem Zwang dieser Idee erfolgen. Nehmen wir als Beispiel das interessante Kapitel, in dem er die Frage aufwirft, wie es kam, daß die Landschaft Achaia am Nordrand des Peloponnes, eine der unbedeutendsten in der klassischen Zeit, ihren Namen einem der großen Bünde geben konnte, die im 3. und 2. Jahrhundert die griechische Geschichte bestimmen (II, 38). Dem Zufall darf man das nicht zuschreiben; eine solche Betrachtungsweise wäre minderwertig. Vielmehr muß man nach dem Grund suchen. Diesen findet er dann in der alten demokratischen Tradition und der daraus resultierenden politischen Schulung dieses griechischen Kantons. Es liegt nahe, daß sich unserem Historiker für seine Geschichtskonzeption das Gleichnis eines natürlichen Organismus aufdrängt, wie ja seine Methode Verwandtschaft mit naturwissenschaftlicher Denkweise hat, ent-

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sprechend der allgemeinen wissenschaftlichen Lage seiner Zeit; er nennt die naturwissenschaftliche Betrachtung die exakteste, die es gibt (IV, 39, 9). So ist ihm sein geschichtlicher Stoff '-MfiaioEiöi^ (I, 3, 4), was wir am besten mit organisch wiedergeben; das Ziel seiner Betrachtung ist eine geschichtliche Ganzheit. So wenig man aus der Beobachtung der auseinandergerissenen Teile eines beseelten schönen Lebewesens die Kraft und Schönheit des ganzen Tieres erkennen kann, so wenig einer durch den Besuch der einzelnen bedeutenden Städte oder gar durch Anschauen von Abbildungen derselben sich über Form und Ordnung der Oikumene ein Bild machen kann, ebensowenig kann man aus Teilgeschichten Gesamtgeschichte zusammensetzen (I, 4). Die Teile müssen vielmehr organisch miteinander verknüpft werden; nur dann ergibt sich, was für Polybios allein in Frage kommt: Weltgeschichte. Dieses sein Streben hebt er immer wieder hervor. Immer wieder grenzt er mit solchen Aussagen sein wissenschaftliches Wollen gegen das der anderen ab, die nur Teilgeschichte treiben. Eigentlich anerkennt er nur einen Mann, der schon vor ihm auf das Ganze ausging, Ephoros (V, 33); alle anderen haben das Ziel verfehlt. Sie haben kein Verständnis für das schönste und zugleich nützlichste Walten des Schicksals, das jeweils ein Ziel im Auge hat (I, 4). In dieser und ähnlicher Formulierung kommt der Schicksalsbegriff nicht selten bei ihm vor; aber man hüte sich, ihn allzu fest anzupacken und eine zu Ende gedachte metaphysische Idee darin zu sehen. Die Tyche ist mehr Gleichnis, mehr Hilfskonstruktion, um die weltgeschichtlich-organische Geschichtsauffassung deutlich und begreiflich zu machen, die natürlich rasch zu nicht gringer

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Problematik führen würde. E s ist Polybios weniger um eine allgemeine Geschichtstheorie zu tun als um die Fundamentierung der weltgeschichtlichen Situation, die er in seinem Werk beschreiben will, muß er doch zugeben, daß nicht alle Zeiten gleiche Aspekte haben und daß seine Gegenwart einen ganz besonderen Beitrag zur Weltgeschichte geleistet hat (II, 37); er meint damit, daß sie wie wenige andere einen einheitlichen geschlossenen Charakter trage. Das Phänomen, das sie beherrscht, ist der beispiellose Aufstieg Roms, das in 5 3 Jahren sich die Weltherrschaft erkämpfte, womit er die Periode vom Aufbruch Hannibals aus Spanien bis zur endgültigen Vernichtung der mazedonischen Monarchie in der Schlacht von Pydna umfaßt. Für diesen gewaltigen Vorgang können Teilhistoriker kein Verständnis haben (Einl. Buch VIII). E s ist notwendig, die Geschichte des Ostens und des Westens als eine und dieselbe zu sehen; die Geschichte der Punischen Kriege darf nicht getrennt werden von derjenigen der Kriege gegen Philipp V. und Perseus von Makedonien und gegen Antiochos den Großen von Syrien, die römische Geschichte nicht von der griechischen. Diejenigen, die diese Dinge auseinanderreißen, können unmöglich verstehen, daß Rom „wohlbegründete Ausgangspunkte" für seine Weltherrschaft hat (I, 3, 10). Worin liegt nun aber diese schicksalsbestimmende Voraussetzung Roms? Wie für den einzelnen Menschen sein Charakter diese Bedeutung hat — darum schiebt auch Polybios, um nur ein Beispiel zu nennen, an einer bestimmten Stelle eine Charakteristik des jüngeren Scipio in sein Werk ein, damit man seine in den folgenden Büchern zu erzählenden Taten verstehen kann und für sie nicht die Tyche

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und den Zufall bemühe ( X X X I , 30, 3) — so für ein Staatswesen seine Verfassung. Darum spielen die Verfassungen der in seiner Geschichte auftretenden Staaten, vor allem aber diejenige Roms eine so ausschlaggebende Rolle bei ihm; darum verdanken wir dieser seiner Geschichtsauffassung wertvollste Aufklärung über viele Seiten des römischen Staatsrechts, mögen auch sejne philosophischen Grundlagen — in der Hauptsache die platonischen Lehren über den Kreislauf der Verfassungen — noch so theoretisch sein. E s steht für Polybios fest, daß ein Vergleich der Verfassungen des römischen und des punischen Staates genüge, um die Unausweichlichkeit des Sieges Roms über seine Rivalin zu verstehen. Freilich sind nicht nur Anlagen zur Weltherrschaft im Wesen des römischen Staates zu erkennen; auch die Keime des kommenden Untergangs sind bereits sichtbar. Jeder Organismus hat seine Blütezeit und sein Alter; darum auch die organische geschichtliche Einheit. Das ist z. T. Theorie, es ist aber auch Erlebnis. A m mazedonischen Staat hat sich diese Tatsache zu Polybios' Lebzeiten bewahrheitet: mit Bewunderung gedenkt er eines Wortes des Demetrios von Phaleron, der im Augenblick des höchsten Triumphes Mazedoniens seinen künftigen Untergang voraussagte ( X X I X , 2 1 ; , der jetzt in der Schlacht bei Pydna erfolgt. Zu gleicher erschütternder Erkenntnis zwingt ihn, was er in Rom nach der Besiegung Hannibals beobachtet und erlebt. Schon etwas weiter zurück liegen die ersten Anfänge des Niederganges. E r läßt diesen, „die Wandlung des römischen Volkes zum Schlechteren", mit Flaminius beginnen, jenem Mann, der zuletzt als Consul die furchtbare Niederlage am Trasumenischen See verschuldete (II, 27, 8). Die

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Symptome der Dekadenz sind nach seiner Meinung unverkennbar (VI, 9, 13); als griechischer Patriot hatte er nur zu oft Gelegenheit, am Unglück seiner Heimat diese verhängnisvolle Wandlung des römischen Wesens zu spüren. In diesen Zusammenhang ist natürlich auch jenes berühmte Homerwort zu rücken, das er Scipio den Jüngeren nach der Eroberung Karthagos ausrufen läßt: „Einst wird kommen der Tag, wo die heilige Ilios dahinsinkt, Priamos auch und das Volk des lanzenkundigen Königs." Der allgemeinen und der speziellen Konzeption der Geschichte entspricht nun auch die Anschauung, die Polybios von ihrem Nutzen für die Menschen hat. Die wichtigste Stelle über diese Frage (III, 31) läßt das uns wohlvertraute Wort des Thukydides aufklingen und variiert es, indem er an die Stelle des „ewigen Besitzes" des Thukydides eine Wissenserweiterung setzt, wie es sich für den Wissenschaftler geziemt: Wer Geschichte treibt, ohne zu fragen nach dem Warum und Wie und zu welchem Ende das Geschehene geschah, der schafft nur ein Agonisma, aber kein Mathema; der erfreut für den Augenblick, bringt aber keinen Nutzen für die Zukunft. Gewiß, wenn einer den Anspruch erheben könnte, jeder Schicksalswendung gegenüber gewachsen zu sein, dann müßte man zugeben, daß die Wissenschaft vom Vergangenen für ihn höchstens etwas Schönes, doch nichts Notwendiges sei. Da aber kein Mensch dies von sich behaupten darf, so ist die Geschichte etwas Notwendiges. Aber nur Geschichte im Sinne des Polybios; die Art und Weise, wie sie bisher behandelt worden ist, ist wertlos (I, 64). Speziell ist der Erfolg der pragmatischen

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Geschichte natürlich die Schulung des politischen Menschen; ihn lehrt sie das wahre Leben (I, 35, 9). Sie stellt gleichsam Musterbeispiele hin, aus denen die späteren Geschlechter lernen, in ähnlichen Situationen das Positive nachzuahmen und das Negative zu meiden (XXX,6). Auf diese Weise soll erreicht werden, daß nicht wiederholt der gleiche Fehler gemacht wird ( X X X V I I I , 4). Im speziellen aber lehrt des Polybios Geschichte das Wesen der römischen Herrschaft kennen; darin sieht er den ausschlaggebendsten Erfolg seines Buches (III, 4, 8). Darum können es nur Toren wegen seines großen Umfanges für schwer erwerbbar und schwer lesbar ausgeben; die Kosten lohnen sich trotz der vielen Bände (III, 32). Vor allem denkt er dabei natürlich an seine griechischen Landsleute; es spricht der praktische griechische Politiker aus ihm, der sich wohl bewußt ist, dank seiner außergewöhnlichen, freilich in vielen Jahren unfreiwilligen Aufenthaltes, in Rom erworbenen Kenntnisse seiner Heimat oft erfolgreich gedient zu haben, der aber auch weiß, wie viele Fehler die Griechen aus Unkenntnis der römischen Verhältnisse sich zuschulden kommen ließen. Neben diesem Hauptzweck kann aber eine pragmatische Geschichte auch noch eine Menge von Spezialkenntnissen technischer Natur vermitteln, vor allem auf militärischem Gebiet, haben doch, wie er betont, die Wissenschaften und die Technik zu seinen Lebzeiten gewaltige Fortschritte gemacht. Darum kann man aus der Geschichte „in geradezu fachwissenschaftlicher Weise" Nutzen ziehen, wenn man lernbegierig ist (IX, 2, 5; X , 47, 12). Eine Folge der wissenschaftlichen Haltung des Polybios und gleichzeitig eine seiner auffallendsten und oft

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eher peinlich berührenden Eigenschaften ist seine ständige Wachheit und Bewußtheit: er macht keinen wesentlichen, oft auch keinen unwesentlichen Schritt, ohne über die Berechtigung und die Art seines Tuns nachzudenken und darüber Rechenschaft abzulegen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß hier zum erstenmal und darum in etwas ungeschlachter Form in Erscheinung tritt, was Charakteristikum jeder gelehrten Tätigkeit von nun an bis zum heutigen Tag werden soll; man hat seither gelernt, die unangenehmen Nebenwirkungen, vor allem die ständige Störung im Ablauf der Gesamtdarstellung, die aus dem immer neuen Hervortreten des Autors resultieren muß, soweit dies möglich ist, durch allerlei technische Hilfsmittel zu mildern, die dem Polybios noch nicht zur Verfügung standen, wie Anmerkungen, Anhänge, Register oder wie die Behandlung von Spezialfragen in gelehrten Zeitschriften u. ä. m. Polybios muß alle Dinge, die wir mit den genannten Hilfsmitteln zu diskreter Wirkung bringen können, in sein Werk aufnehmen, sie auf die Ebenen seiner Geschichtserzählung bringen und ihnen darum eine übermäßige Bedeutung verschaffen. Kein irrationales Ziel, kein Instinkt bestimmt die Organisation seines Werkes; jeder Schritt, positiver oder negativer Art, wird von Überlegungen geleitet, über die er auch den Leser zu orientieren wünscht. Bewußt behandelt er im III. und IV. Buch, d. h. den ersten seiner eigentlichen Darstellung, die römisch-karthagischen und die griechischen Dinge getrennt, während er sie nachher, der weltpolitischen Tendenz seines Werkes entsprechend, vereinigt (IV, 28); bewußt behandelt er in einzelnen Fällen größere Komplexe zusammen, in der Hauptsache jedoch ist er

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Annalist, aber selbstverständlich nicht, weil die Annalenform Tradition ist oder weil sich damit eine bestimmte künstlerische Wirkung, wäre es auch nur eine Kontrastwirkung, erzielen ließe, sondern weil nur bei jahreweiser Behandlung der Ereignisse die Gleichzeitigkeit des Geschehens auf den verschiedenen Schauplätzen politischer Aktionen deutlich gemacht werden kann. Es ist darum in seinen Augen das zusammenhängend Behandeln ein Trennen im Sinne der weltpolitischen Tendenzen seines Werkes (V, 31, 4), wenn auch andererseits bei jener Manier das Organische besser in Erscheinung tritt (XIV, 12). Er ist sich darüber klar und teilt es auch dem Leser mit, warum er die Vorgeschichte des einen Staates erzählt, die des anderen nicht. Bei Rom und bei Karthago ist es nötig, weil über diese Dinge große Unwissenheit herrscht, bei Griechenland und Mazedonien ist es nötig, weil die letzte Zeit starke Veränderungen gebracht hat, bei Ägypten und Asien ist es nicht nötig, weil dort solche nicht eingetreten sind (II. 37). Er behandelt in aller Öffentlichkeit, wo er mit der Vorgeschichte beginnen soll, d. h. wo das organische Wachstum einsetzt, dessen Reifezeit Polybios nachher zu schildern beabsichtigt; er tut das in den Anfangskapiteln des Werkes für das zentrale römisch-karthagische Gebiet, er tut es aber auch bei Problemen zweiten Ranges wie Griechenland eines ist (II, 40, 5). Er rechtfertigt sich über die Stelle, wo er in einem gewaltigen Exkurs, der den größten Teil des VI. Buches ausmacht, die Verfassungen Roms und Karthagos darstellt: es ist die gleiche Stelle, wo auch in einer Einzelbiographie die Charakteristik des Helden zu stehen pflegt, nämlich unmittelbar vor der entscheidenden Wendung zum Guten

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oder zum Bösen (VI, 2). Aber auch über viele Einzelheiten und Kleinigkeiten legt er Rechenschaft ab, z. B. über die Art und Weise, wie er die Geographie unbekannter Landschaften vorlegt: er verzichte auf viele neue Namen, bei denen das Gedächtnis an nichts Bekanntes anknüpfen könne (III, 36); anderswo entschuldigt er sich, daß er, wenn er von sich selber spricht, nämlich in den Partien des Werkes, wo er nicht nur als Autor, sondern als handelnde politische Figur auftritt, bald von „Polybios" spreche, bald aber „ich", bald „wir" sage ( X X X V I , 12). Er ist darum auch ständig bemüht (z. B. I, 63; II, 140 usw.), den Bau und die Tendenz seines Buches dem Leser immer wieder ins Gedächtnis zu rufen; darum gibt er kurze Inhaltsangaben, die der eigentlichen breiten Darstellung vorangehen oder nachgestellt sind (so I, 13 und III, 1); vom VII. Buch an leitet jede neue Olympiade eine Proekthesis (Vorinhaltsangabe) ein, die die wichtigsten Ereignisse dieser zu schildernden vier Jahre vorläufig rekapituliert und damit das Interesse und die Aufmerksamkeit des Lesers wecken soll (Vorwort X I V . Buch); er erklärt, diese, als besser mit den Ereignissen verknüpft, den normalen Einleitungen vorzuziehen, die auch ihre Berechtigung haben (Vorrede, Buch XI). Das ganze Werk wird durch ein X L . Buch abgeschlossen, das nichts anderes als eine gewaltige Inhaltsangabe aller Bücher dargestellt haben muß. Dem gleichen systematischen Streben verdanken auch die unzähligen Verweise ihre Entstehung. Der Leser wird auf eine ausführliche Behandlung an einer anderen Stelle vertröstet (Beispiel: II, 13, 2) oder wird auf eine früher erfolgte rückverwiesen (so VII, 13). Das sind wie zahlreiche

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Haften, die dazu angebracht sind, um das umfängliche Werk zusammenzuhalten und zu verhindern, daß es auseinanderfalle und daß der dominierende Gedanke vergessen werde. Aus dem eben Gesagten kann man ohne weiteres herleiten, daß das polybianische Werk eine Überfülle von Exkursen haben muß, denn alle diese Selbstbesinnungen des Autors werden als solche erscheinen. Und in der Tat ist dies der Fall, ja, es braucht Polybios für sie dieselben oder ähnliche Termini wie Herodot oder Thukydides und leitet sie in gleicher Weise ein und schließt sie wie jene. Und doch sind seine Exkurse etwas vollständig anderes als die herodoteischen und thukydideischen: während sie bei diesen Autoren technische Spielereien und ästhetische Schmuckformen sind, erwachsen sie bei Polybios im allgemeinen aus der Notwendigkeit des Werkes; sie sind entweder Ausdruck jener Selbstbeobachtung, von der gerade die Rede war, oder kommentieren die Darstellung. Was andere Schriftsteller in den Vorreden bringen, das läßt er einer Darstellung unmittelbar nachfolgen und ist dann überzeugt, daß diese Art unmittelbarer Stellungnahme für den Schriftsteller und den Leser angemessener sei (X, 26, 9 f.). Diese Exkurse sind an Umfang und Gehalt sehr verschieden; einzelne umfassen sogar ganze Bücher oder wenigstens deren größten Teil wie derjenige über die römische und die karthagische Staatsverfassung (Buch VI) oder der über die Topographie der Welt, der das ganze X X X I V . Buch einnahm. Unterhalb dieser obersten Grenze gibt es alle Spielformen. Besonders häufig sind die geographischen Exkurse, die die Aufgabe haben, die geschichtliche Erzählung verständlich zu machen (1,41,77; V, 21, 4):

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z. B. Exkurse über Sizilien (I, 42), über das cisalpine Gallien (II, 14, 4 ff.), über Byzanz mit besonders interessanten Ausführungen darüber, warum Byzanz zu einer so bedeutenden Stellung gelangte, das gegenüberliegende Chalkedon aber unbedeutend blieb (IV, 3 8 — 4 4 ) ; ein ähnlicher über Tarent (X, 1); einer über die Einteilung der Erde in Erdteile (III, 36) usw. Eine zweite Kategorie sind technische Exkurse, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Erfindungen propagieren sollen, so über die mazedonische Phalanx (XVIII, 31), über Signale (X, 47), über das Verhältnis von Stadtumfang und Einwohnerzahl, ein geometrisches Problem, das man in den Schulen nicht zu lernen pflege (IX, 26 a, 4), nach dessen Behandlung er ausdrücklich hinzufügt: Das sei gesagt im Interesse derer, die eine politische Führerstellung einnehmen wollen, aber von solchen Dingen nichts wissen und darüber befremdet sind (26 a, 11). Wiederum andere sind mehr geschichtsphilosophischer Natur; über das Wesen der Feldherrnkunst (III, 80), über die Theorie des kriegerischen Erfolges (IX, I 2 f f . ) , die Lehre von den Staatsumwälzungen (VI, 5), über das Wesen des Verräters (XVIII, 13). Ihnen nahe verwandt sind die moralischen, die oft nur die Form kleiner Anmerkungen annehmen. Daß vor entscheidenden Ereignissen eine Zusammenfassung der militärischen Machtmittel die Exkursform bekommt, ist uralte epische Tradition (II, 24; III, 80); mehr formale Willkür aber bedeutet es, daß auch die Charakteristiken führender Persönlichkeiten in die Form einer Parekbasis gekleidet sind, so z. B. die berühmte des jüngern Scipio ( X X X I , 30, 4). Neben allen diesen wichtigen, ja unentbehrlichen Exkursen spielen solche, die wie Fremdkörper aussehen

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und damit dem Typus der Einschiebsel der älteren Schriftsteller nahe kommen, fast keine Rolle; als Beispiel sei etwa erwähnt ein Exkurs über den Lotos im X I I . Buch. Den allergrößten Raum nehmen aber diejenigen ein, die den Auseinandersetzungen mit Vorgängern und mit Kollegen gewidmet sind, also der Polemik. Diese häßliche und doch unvermeidliche Begleiterin aller gelehrten Tätigkeit feiert bei Polybios wahre Orgien. E r ist sich selber der Unschicklichkeit dieser ewigen Nörgeleien bewußt, aber sie sind ihm aufgezwungen; um den Leser nicht immer wieder damit behelligen zu müssen, vereinigt er wenigstens die ihm wichtigsten derselben, diejenigen gegen seinen Vorgänger T i m a i o s von Tauromenion, an einer Stelle ( X I I , n , 6—7). Hier nahmen sie, wie es scheint, den größten Teil des Buches in Anspruch. E s ist weniger einfache Unwissenheit und Unkenntnis (besonders in geographischen Fragen), die seinen Zorn hervorgerufen; er ist sich auch durchaus bewußt, wieviel leichter es ein Forscher seit dem Alexanderzug (für den Osten) und der Römerherrschaft (für den Westen) hat, sich Gewißheit über ferne Gegenden zu verschaffen (III, 59, 3), und daß man die älteren Autoren, die sich dieser Vorteile nicht erfreuten, nicht tadeln darf, obgleich er sich nicht immer an diese E r kenntnis hält. E r erzählt auch, wie er einen rhodischen Kollegen, der sich in seinem Geschichtswerk grobe topographische Irrtümer, und zwar über Gegenden Griechenlands, zuschulden kommen ließ, brieflich auf seine Versehen aufmerksam machte, weil er sich nicht aus den Fahlem anderer einen billigen Triumph verschaffen wolle; leider muß der Adressat zu seinem großen Bedauern feststellen, daß er nichts mehr ändern kann, da

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das Buch bereits erschienen ist (XII, 20, 6). Die bloße Unfähigkeit, richtig zu beobachten, ist ebenfalls nicht so schlimm; selbst bei Timaios, der an diesem Übel krankt und mehr Ohr als Auge ist (XII, 27, 1), wäre das zu ertragen, falls es der Hauptfehler wäre. J a selbst Voreingenommenheit durch Parteiverflochtenheit geißelt Polybios zwar, aber er geht rasch darüber hinweg; es steht damit wie mit der Befangenheit der Verliebten. Darum ist sein Ton gegen den Römer Fabius Pictor oder den Griechen Philinos, der blind dem karthagischen Interesse verfallen ist, relativ ruhig: er warnt höchstens davor, sich durch die großen Verfassernamen täuschen zu lassen; es genügt nicht Zeitgenosse zu sein, ja, nicht einmal Senator gewesen zu sein wie Fabius Pictor, um die Wahrheit zu erzählen (XII, 27, 1). Freilich liegt schon in diesem Mangel an Horizont eine große Gefahr; er verführt von sich aus die Schriftsteller dazu zu erfinden und zu schwindeln; es liegt im Wesen der „Teilhistoriker", daß sie aufbauschen müssen, um ihrem Kleinkram Gewicht zu verleihen (VII, 7). So erfindet Philinos aus Sympathie für die Karthager Verträge zwischen Karthago und Rom, die nie existiert haben (III, 26). Das aber ist es, was eines Historikers gänzlich unwürdig ist, wenn er die Grenzen der Wahrheit überschreitet und in die Domäne des Dichters übergreift. Dagegen bäumt sich alles in Polybios auf; immer wieder wirft er den anderen vor, dies zu tun, um Wirkungen zu erzielen, die nicht zu ihren Aufgaben gehören. Die Folgen sind mannigfaltig, z. B. lächerliche Widersprüche innerhalb ihrer Werke: so soll Hannibal zwar einerseits ein begnadeter Feldherr sein, gleichzeitig glauben aber die Schilderer seines Alpenüberganges aller jener Theater-

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requisiten nicht entraten zu können wie Träume, Vorzeichen, Eingreifen göttlicher Retter, durch die seine Leistung recht eigentlich entwertet wird (III, 47, 6). Ähnlich steht es bei Theopomp. Zwar versichert er in der Vorrede seines der Geschichte Philipps von Mazedonien, des Vaters Alexanders des Großen, gewidmeten Werkes, daß dieser einer der größten Männer aller Zeiten gewesen sei, entwirft dann aber ein Bild von ihm, das aus ihm einen gewöhnlichen Räuberhauptmann macht. Das ist freilich weniger Hingabe an das Dichterische als Voreingenommenheit gegen einen Fürsten: das Resultat aber ist das gleiche: man greift zu Erfindungen und verläßt den Boden der Wirklichkeit, der Wahrheit. Die Wahrheit ist aber der eigentliche Kanon aller Geschichtsschreibung: in allen anderen Hinsichten darf der Historiker Schwächen zeigen; verstößt er aber gegen die Wahrheit, so ist er kein Historiker mehr. Zweimal verwendet er das Bild, daß ein Geschichtswerk, das der Wahrheit entbehrt, auf gleicher Stufe stehe wie ein Lebewesen, dem die Augen ausgestochen seien (I, 14; XII, 12, 3). Jeder aber, der seiner Phantasie nachgibt, der, wie ein Dichter, das Mögliche (anstatt des Wirklichen) sucht, der vergeht sich gegen die Wahrheit und hört damit auf ein Historiker zu sein. Dieser darf nur die wirklichen Taten erzählen und die wirklichen Reden wiedergeben, auch wenn sie gar nichts Besonderes sind. Das Wesen einer Tragödie ist eben ganz verschieden von dem eines geschichtlichen Werkes: eine Tragödie will erschüttern und rühren durch möglichst wahrscheinliche Darstellung, die Geschichte aber belehren und die Wißbegierigen überzeugen durch die wirklichen Tatsachen und Reden (II, 56, 10—11).

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Nun gibt es freilich keinen antiken Historiker, der nicht versichert, die Wahrheit zu erzählen. Trotzdem wird jeder Leser des Polybios, der, von irgendeinem anderen antiken Geschichtsschreiber herkommend, sich ihm zuwendet, es fühlen, daß sein Ringen um die Wahrheit etwas prinzipiell anderes ist, viel tiefer geht als bei den übrigen. Er ist prinzipiell für gar keine Konzessionen an die Kunst zu haben. Er weiß auch und ist bereit das Opfer zu bringen, daß seine Darstellung unter dieser Prinzipienstrenge leidet; daß sie etwas Herbes an sich hat und sich infolge der Einseitigkeit ihres Aufbaues nur an eine Sorte von Lesern wendet, eben diejenigen, die etwas lernen wollen, d. h. wissenschaftlich gerichtet sind. Die anderen Historiker oder wenigstens die meisten von ihnen verwenden nebeneinander alle Kategorien von Geschichtsschreibung und locken damit eine große Schar von Lesem an: der Neugierige wird durch die Genealogie amüsiert, der, der sich mit allem und nichts beschäftigt, durch die Erzählung von Kolonieaussendungen und Städtegründungen und die Verwandtschaften, die speziell bei Ephoros eine große Rolle spielen; der politische Mensch aber fühlt sich zur Geschichte der Völker, Städte und Fürsten hingezogen (Einl.Buch IX). Das aber ist allein seine Art, Geschichte zu sehen und zu schreiben; darum bereitet jedoch die Lektüre seines Werkes den meisten Lesern kein Vergnügen. Dabei ist es ein willentlicher Verzicht, hätte er doch auch anders schreiben können; so erwähnt er ein Enkomion, eine Lobschrift auf den romantischen, ihm persönlich sehr nahe stehenden Feldherrn des achäischen Bundes, Philopoimen. In dieser Schrift hat er nur das Lobende hervorheben dürfen, weil der En-

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komionstil das so haben wollte; die Geschichte aber ist neutral, gemischt aus Lob und Tadel; sie sucht die Wahrheit und braucht die Form der Darstellung und der logischen Schlüsse, die jeweils aus den Handlungen resultieren (X, 2). Hat Polybios tatsächlich auch die Kraft, sich von der Versuchung fernzuhalten und keine Konzessionen an die übliche Form der Geschichtsschreibung zu machen ? Im negativen Sinn müssen wir das ohne weiteres bejahen; darum ist seine Lektüre tatsächlich mühsam; er hat wirklich etwas Herbes an sich; er ermüdet den Leser, weil er ihn nicht packt, nicht packen will, weil er sich nur an seinen Intellekt wendet. E r ist kein Künstler und verzichtet im großen und ganzen auf jeden Versuch, künstlerische Mittel zu verwenden. Nur in den Reden ist er nicht konsequent; das scheint demnach über die Kraft selbst des entschlossensten Gegners der Tradition hinauszugehen. Zwar versichert er wiederholt, daß er sich auch in den Reden möglichst an die wirklich gesprochenen halten werde, aber das Gegenteil lehnt er weder in der Theorie noch in der Praxis gänzlich ab ( X X X V I , 1). Damit haben wir uns abzufinden; es fällt dies schon darum nicht leicht, weil seine erfundenen Reden der Formvollendung eines Thukydides wie der paradigmatischen Haltung der Römer gänzlich bar sind. Auch sonst scheint Polybios nicht immer völlig Herr seiner kritischen Haltung gewesen zu sein; besonders auffallend ist, daß er im X X X V I I I . Buch (Kap. 5) das Durcheinander der Schauplätze und Ereignisse, das die annalistische Arbeitsweise im Gefolge hat, mit dem Bedürfnisse nach Abwechslung motiviert, während er doch so gut wie wir es wissen sollte, mit welchen rein wissen-

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schaftlichen Überlegungen er in besseren Stunden dieses die Hauptteile seines Werkes bestimmende Prinzip begründet hat. Welche Folgen hat nun der wirklich ins Zentrum gerückte Wahrheitsbegriff für die Erfassung der geschichtlichen Tatsachen durch Polybios ? Steht er durch diese eine Tatsache allein moderner Geschichtsbetrachtung nahe? So gewiß prinzipiell diese Frage bejaht werden muß, so sehr bedarf doch eine genaue Antwort einer sorgfältigen Differenzierung; sie muß für die einzelnen Untergruppen der Kritik verschieden lauten, und zwar könnten diese Teilantworten beinahe erraten werden, wenn man sich darüber klar wird, in welcher Reihenfolge in der Neuzeit die Vertiefung der historischen Kritik erfolgte. Eine gewaltige Überlegenheit über alle anderen hat Polybios in Hinsicht auf die Chronologie. Nicht nur, daß er allen vagen Angaben über Zeitrelationen, wie sie der gewöhnliche historische Stil aus Angst vor Pedanterie hat, tunlichst aus dem Wege geht, und daß er möglichst exakte Daten über Jahre und Jahresteile zu bieten sich anstrengt, wofür er schon im Altertum berühmt war (Cicero, De re publica II, 14, 27), nicht nur daß er um der zeitlichen Exaktheit willen in den Hauptteilen seines Werkes annalistisch vorgeht, es liegt ihm auch außerordentlich viel daran, dem Leser völlige Klarheit über den Synchronismus der Ereignisse auf den verschiedenen politischen Theatern der Welt zu verschaffen, was ihm natürlich schon um seiner weltpolitischen Tendenzen willen unentbehrlich ist. Gleich am Anfang seines Werkes (I, 6) errichtet er mit bekannten Daten der Weltgeschichte wie den Schlachten von Aigospotamoi aus

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dem Peloponnesischen und Leuktra aus dem ThebanischSpartanischen Krieg, dem Antalkidasfrieden von 387, der Belagerung von Rhegium in Unteritalien durch Dionysios I. von Syrakus und der Eroberung Roms durch die Gallier eine Art Triangulationssystem, das er dann später feiner ausbaut (II, 41; II, 71; IV, 61, 8), um dann endgültig in den Annalenstil und damit in die einjährigen synchronen Perioden überzugehen. Die zweite greifbare Exaktheit liegt in den Zahlenangaben vor. Wir können hier die gleiche Feststellung machen wie bei der Chronologie, nämlich daß Polybios nicht nur absolut zuverlässigere Zahlenangaben aufweist und kritischer gegen die Phantasiezahlen der Überlieferung eingestellt ist und in seinen Polemiken ganz besonders in dieser Hinsicht seine kritische Überlegenheit über seine Vorgänger zur Schau stellt, sondern daß er bestrebt ist, in den Zahlen keine Schmuckformen seines Werkes zu sehen, sondern sie zu verstehen, ihren Wirklichkeitswert zu erfassen und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Interessant ist z. B. I, 63 sein Bestreben, die Größenordnung der Seeschlachten im ersten Punischen Krieg zu verdeutlichen, wobei er zum Resultat kommt, daß diese Kämpfe zahlenmäßig sogar denen der Perserkriege und des Peloponnesischen Krieges überlegen seien, wenn man nämlich nicht einfach die Zahl der Schiffe betrachtet, sondern sich überlegt, daß es sich bei den genannten griechischen Ereignissen um Schiffe mit bloß drei Ruderreihen (Trieren) handelte, während im 3. Jahrhundert in der Hauptsache solche mit fünf Ruderreihen, also viel größere Schiffe, zur Verwendung kommen. Am wenigsten entwickelt zeigt sich aber der poly-

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bianische historische Wahrheitsbegriff auf dem Gebiet, das für uns das A und O der historischen Kritik ist, der Stellung zu den Quellen. Weder hat er das Bedürfnis nach einer genauen Bezeichnung derselben noch nimmt er irgendwie zu ihnen eine prinzipielle kritische Haltung ein; wenn er in Einzelheiten Kritik übt, so ist diese in der Hauptsache psychologisch fundiert, wie wir dies auch schon bei seinen Vorgängern kennengelernt haben. Nur ausnahmsweise verwendet er Akten, obgleich ihn keine stilistischen Bedenken daran hinderten. Und doch wären ihm solche dank seiner Beziehungen sicherlich in reichem Maße zur Verfügung gestanden. Dort, wo er gelegentlich einmal solche bringt, sind sie dann freilich von allerhöchstem Interesse für uns, weil uns im Gegensatz zu den Urkunden bei Thukydides mit ihren vielen inschriftlichen Parallelen für jene Zeiten der römischen Geschichte alle Vergleichsmaterialien fehlen; ich erwähne beispielsweise jene berühmten und immer wieder diskutierten Verträge zwischen Karthago und Rom vor dem ersten Punischen Krieg (I, 62), die Inschrift des Hannibal, die Polybios in Lacinium bei Kroton gefunden hat und geschickt und einleuchtend für sein Werk zu Rate zieht (III, 33, 1 7 und 56, 4), und den Pakt zwischen Philipp V. von Mazedonien und Karthago. Wir können ruhig sagen, daß für Polybios das Arbeiten mit Quellen unsympathisch ist: für ihn ist Geschichte in erster Linie Geschichte der selbsterlebten Gegenwart und nächsten Vergangenheit, die höchstens bis zur Generation der Väter zurück ausgedehnt werden darf. Wenn möglich, soll man das, worüber man schreibt, als Zeitgenosse miterlebt haben oder es doch mindestens von solchen erzählt erhalten haben, die es ihrerseits direkt miterlebten. Denn zeitlich weiter

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hinaufzugehen, so daß man Gehörtes, das seinerseits wieder auf Gehörtem beruht, weiterzugeben hat, das scheint ihm außerordentlich gefährlich zu sein sowohl in Hinsicht auf die eigene Erfassung wie auch in Hinsicht auf die Übermittlung an andere (IV, 2, 2—3). So geht ihm nichts über Autopsie in geschichtlichen und geographischen Fragen; um letzterer willen macht er weite Reisen ,,zum Zwecke der Erkenntnis und Beobachtung" (III, 48, 12), die ihn nach Afrika, Spanien, Gallien und in diesem bis zum Atlantischen Ozean führen (III, 59,7), von seiner Vertrautheit mit dem Osten der Oikumene ganz abgesehen. So sind ihm die wichtigsten Quellen mündliche Gewährsleute, die er gelegentlich auch zitiert, innerhalb und außerhalb Roms: römische Politiker wie der ältere Lälius (X, 2), der ihm vom älteren Scipio Africanus erzählt, Eingeborene in Karthago, auf die er sich bei Angaben über Hannibal darum verläßt, weil sie als seine Landsleute diesen besser verstehen müssen, als Fremde dies könnten (IX, 22, 7). Besonders aber glaubt er zu seinem Geschichtswerk vorbereitet zu sein, weil er nicht nur Autoptes ist, sondern auch avvsQyog (Mithandelnder), j a sogar xsiQiaT^g (entscheidend Mithandelnder) (III, 4, 13), was eben gerade für eine pragmatische Geschichte notwendige Voraussetzung ist. Da man aber nicht an allen Orten selber dabei ein kann, so muß man suchen, sich möglichst zahlreiche Nachrichten zu verschaffen und von möglichst zuverlässigen Leuten, und sich demgegenüber, was einem zu Ohren kommt, möglichst kritisch zu verhalten (XII, 4 c, 5). Auf diese Weise formuliert er seine kritischen Grundsätze. Besser, ja, fast vollkommen, ist es Polybios gelungen, die Forderung zu erfüllen, die ihm dem Historiker gegen-

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über in erster Linie am Herzen liegt, die der Objektivität und Unparteilichkeit. Obgleich er unter dem griechischen Schicksal schwer leidet und leidenschaftliche Töne für diese Katastrophe findet, ja, sogar infolge seiner Erregung, wie er auf diese Ereignisse zu sprechen kommt, nach seinen eigenen Worten „die historische Darstellungsform verläßt und eine wirkungs- und anspruchsvollere wählt" (XXXVIII, 4), obgleich er die Ungerechtigkeit und wachsende Verrohung der römischen Politik bis zur bitteren Neige im eigenen Leben kennenlernen mußte, so ist doch keine Bitterkeit in ihm. Die Überlegenheit Roms und seine dadurch begründete Weltherrschaft betrachtet er mit wissenschaftlicher Objektivität als das, was jetzt der Welt unabwendbares Schicksal ist. So weiß er Roms Aufstieg nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu bewundern, ohne damit aber ungerecht und voreingenommen zu werden gegen Roms Feinde, vor allem gegen Karthago. Seine Haltung ist dabei völlig frei und krampflos; wie auch sein psychologisches Verhalten, seine Menschenbeurteilung von jener toleranten Urbanität und jener Aufgeschlossenheit allem Menschlichen gegenüber beherrscht ist, die zu den charakteristischen Zügen des Hellenismus gehört. Seine Charakterisierungskunst ist ohne jede Einseitigkeit und fern von jener Bosheit und Menschenverachtung, die dann später den römischen Historikern ihr Gepräge gibt. Sie weiß zu differenzieren; sie sieht Gutes und Schlechtes, verschweigt nichts, schwelgt aber auch nicht in perverser Lust am Degenerierten und Verfaulten. Die Porträts, die er entwirft — nennen wir als Beispiele Arat (IV, 8); Hannibal (IX, 22, 7); den älteren Scipio (X, 2); Philopoimen (X, 21) — sind keine Kunstwerke; sie zaubern

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die geschilderten Menschen nicht vor unser Auge hin; aber sie sind hervorragende wissenschaftliche Leistungen : ein feinfühlender Mensch reiht sorgfältig gemachte und überlegte Beobachtungen aneinander, die nicht im künstlerischen Sinn ein Ganzes ergeben, aber die Aufgabe erfüllen, die Polybios ihnen stellt, nämlich Stützen zu sein zum Verständnis der politischen Erfolge und Wirkungen der Dargestellten, auf die es dem Verfasser allein ankommt. Jede Äußerung zeugt von hoher geistiger Kultur. Wir verstehen es, daß der jugendliche Sohn des Aemilius Paulus, der später als Scipio Aemilianus der erste Mann Roms werden sollte, seinen Umgang suchte und ihn zu seinem Mentor machte. Alle diese Eigenschaften aber und dazu die singuläre und moderner Anschauung nahekommende wissenschaftliche Haltung vermögen doch nicht den ausharrenden Leser vor plötzlich ihn befallendem Überdruß und wachsender Langeweile zu bewahren, gegen die allein die künstlerische Psychagogie aufkommen kann, nicht jene lehrbare, die Polybios bewußt meidet, sondern jene verborgene, die ihm, ohne daß er darum weiß, unzugänglich war.

CÄSAR G a i u s J u l i u s Cäsar, geb. 100 v. Chr., wächst in den Wirren der bürgerlichen Kämpfe zu einer führenden Persönlichkeit heran, was seinen Ausdruck in der Bildung des Triumvirates mit Pompeius und Crassus findet (60 v. Chr.). Consul 59; als Proconsul erhält er die beiden Gallien. Eroberung des jenseitigen Galliens 58—52. Bürgerkrieg mit Pompeius und der Senatspartei 48—46. Ermordet an den Iden des März 44. Die Eroberung Galliens schildert er in den 7 Büchern des Bellum Gallicum, entweder Jahr für Jahr oder am Ende des Krieges, worüber die Meinungen auseinandergehen. Das Bellum civile mit 3 Büchern ist unvollendet; es reicht bis zu den ersten Verwicklungen in Alexandria nach der Ermordung des Pompeius. Vielleicht geht der Anfang des Bellum Alexandrinum auf Cäsar zurück; die Fortsetzungen, wie das Bellum Hispaniense und das Bellum Africum, rühren wahrscheinlich von mehreren Verfassern her. Von Cäsars Freund Hirtius stammt das VIII. Buch des Bellum Gallicum. Aulus Hirtius, einer der nächsten Freunde Cäsars, der Verfasser des VIII. Buches über den Gallischen Krieg, das die Ergänzung und den Abschluß des cäsarischen Werkes bildet, schreibt von diesen commentarii belli Gallici — nur von diesen kann die Rede sein, denn diejenigen über den Bürgerkrieg waren damals wahrscheinlich noch nicht veröffentlicht —, sie seien von Cäsar ge-

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schrieben worden, damit den H i s t o r i k e r n die Kenntnis so gewaltiger Ereignisse nicht fehle, hätten aber in so hohem Maße den Beifall aller gefunden, daß den Historikern die Möglichkeit zu schreiben viel eher entrissen als gegebenzu sein scheine (B. G. V I I I , Präf. 5). Dieses Urteil eines Mannes, der in engster Beziehung mit Cäsar stand, könnte uns die Meinung aufzwingen, daß Cäsar entweder davon überzeugt war oder sich wenigstens so auszudrücken beliebte, sein Buch über den Gallischen Krieg sei nur eine V o r l a g e für die Geschichtsschreiber und erhebe nicht den Anspruch auf Anerkennung als schriftstellerische Leistung. Freilich wird die Durchschlagskraft der zitierten Stelle dadurch abgeschwächt, daß sie eine Anspielung auf ein Wort des Cicero ist, der in seinem Dialog „Brutus" (veröffentlicht im Jahr 46) sich folgendermaßen äußert (75, 26): „Während Cäsars Absicht war, daß andere, die ein Geschichtswerk schreiben wollen, Materialien zur Verfügung hätten, aus denen sie schöpfen könnten, hat er vielleicht nur Menschen ohne Geschmack gedient, die es wagen werden, mit dem Brenneisen sich aufzuputzen — die, die bei Verstand sind, hat er dagegen vom Schreiben abgeschreckt." Cicero spricht so — und zwar, wie wir wissen, durchaus im Sinne der herrschenden Anschauung und ästhetischen Theorie — , weil in seinen Augen ein historisches Werk der Tummelplatz aller schmückenden Künste sein müßte, wie er denn auch für sich selber hoffte, daß ein zünftiger Historiker möglichst bald alle Salbentöpfe der Rhetorik über die von ihm nach seiner Meinung vollzogene Rettung Roms (durch Unterdrückung der Catilinarischen Verschwörung) ausgieße; ja, wie er geradeheraus an einen solchen schreibt, plusculum etiam,

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quam concedet veritas, largiatur, „sogar ein bißchen mehr gewähre, als die Wahrheit erlauben wird" (Brief an Lucceius; ad fam. V, 12, 3). Cäsars Kommentarien gehören aber sicherlich nicht in diese Kategorie, „sie sind nämlich schmucklos, unverbogen und voller natürlicher Anmut; aller Redeschmuck ist von ihnen wie ein Kleid abgezogen", wie Cicero im Brutus fortfährt. So ist er auch selbstverständlicherweise von der Zunft anfänglich gar nicht anerkannt worden; d. h. es gibt für sie die commentarii gar nicht, wie denn Cornelius Nepos in den dreißiger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in der Biographie Ciceros schreiben kann (Frgm. 17 Peter; S. 408 Funaioli): „Diese literarische Gattung (nämlich die Geschichtsschreibung) war zur Zeit von Ciceros Tod noch ganz unbearbeitet und unausgebildet." Eines ist sicher: Cäsar schrieb nicht aus Unvermögen in dieser Art; er wollte seine Bücher so und nicht anders. Darum nannte er sie commentarii, welches Wort die Wiedergabe des griechischen Hypomnema ist, das Dokument, Entwurf und ähnliches bezeichnet. Damit gibt er deutlich zu verstehen, daß er nicht für ein nur ästhetisch wertendes Publikum schreibe. Was aber will Cäsar damit ? Das ist die erste, und zwar sehr wichtige Frage, die uns zu beschäftigen hat. Dabei müssen wir uns freilich darüber klar sein, daß er nicht ganz frei und unabhängig handelt; auch er ist in griechischer Theorie verhaftet. Auf keinen Fall ist sein Stil seine Urschöpfung; eine solche schöpferische Freiheit kennt das römische Altertum nicht. Aber die Wahl unter schon Vorhandenem ist sein freier Entschluß, und zwar alles eher als ein selbstverständlicher, ja auch nur naheliegender. Hatte er wirklich die Absicht, die ihm

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Cicero und Hirtius zuschreiben ? Wollte er nur eine Vorlage für zünftige Schriftsteller liefern ? Mancherlei spricht von vornherein gegen diese These; schon allein die Tatsache, daß die anspruchslose Schlichtheit einer Materialsammlung doch nicht ganz durchgeführt ist. Eingeschobene Reden, meistens indirekte, ausnahmsweise aber auch direkte, zeigen an, daß er, falls er die genannte Absicht hatte, ihr zum mindesten von Zeit zu Zeit untreu wird und sich wie ein richtiger Historiker aufführt; in dieses Kapitel gehören auch die Exkurse, die in reichem Maße vorhanden sind, vor allem solche geographischen Charakters. Diese fußen sogar zu einem großen Teil auf literarischen Quellen und scheinen manchmal wirklich den Rahmen des Werkes zu sprengen, so daß bis in die Gegenwart hinein immer wieder namhafte Forscher sie als spätere fremde Einschiebsel erklären wollen. Auf jeden Fall wirkten die Bücher Cäsars auf ein unvoreingenommenes Publikum anders. Schon Hirtius weist auf die Bewunderung hin, die die commentarii in den wenigen Jahren seit ihrem Erscheinen fanden. Ist dieser Stil darum etwa als eine leise Koketterie von seiten Cäsars zu deuten ? Er wäre in diesem Fall im Zusammenhang zu bringen mit einer Hinneigung zur sprachlichen Schlichtheit und Anspruchslosigkeit, die uns als Cäsars Stilprinzip in einem Zitat aus einem verlorenen Buch Cäsars über stilistische Probleme (de analogia) entgegentritt, das lautet: „Wie eine Klippe, so meide ein seltenes und ungebräuchliches Wort". Außerdem wissen wir, daß, auch von Cäsar abgesehen, in jener Zeit solche Tendenzen in der Rhetorik aufkamen und dem großen Cicero, der sein ganz anders geartetes Stilideal gefährdet sah, schwere Sorgen bereiteten; Anhänger

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dieser Richtung fanden sich auf alle Fälle in Cäsars nächster Umgebung. Doch sind wir mit solchen Deutungen der Sache noch nicht wesentlich näher gekommen. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, daß sich Cäsar selber vor ein sehr eigenartiges Problem gestellt sah, als er sich entschloß, die durch ihn vollzogene Eroberung des jenseitigen Gallien seinen Mitbürgern zu schildern. Denn vom Bellum Gallicum müssen wir ausgehen; das Bellum civile ist nur eine vom Erfinder selber hergestellte Kopie des anderen Buches, seine Fortsetzung. Der Stil und die Form sind für die Darstellung des Gallischen Krieges geschaffen worden. Darum ist es von vornherein falsch, wenn man allzusehr Zweck- und Propagandaschrift, politische Kampfschrift und Parteischrift darin sieht. Gewiß steht auch die Eroberung Galliens im Zusammenhang mit den stadtrömischen Wirren, gewiß hatten sich auch die römischen Politiker mit den Erfolgen des Proconsuls Cäsar zu beschäftigen, indem sie für ihn Dankfeste beschlossen oder darüber berieten, ob sie ihn nach dem Antrag Catos wegen Verstoßes gegen die Regeln des Völkerrechts den Germanen ausliefern wollten. Aber alles das ist doch für die römischen Staatsmänner durchaus Nebenwerk gewesen. Vor allem aber sind der Stellen im Bellum Gallicum nur sehr wenige, die man im Notfall als apologetisch oder propagandistisch bezeichnen könnte. Das Werk ist vielmehr geschrieben, weil der, der Gallien eroberte, selber voll Erstaunens war über den unsagbaren Erfolg, den er in nur sieben Jahren erreichte: eine gewaltige Provinz dem Imperium Romanum einzugliedern und ein Land, das noch zehn Jahre vorher eine ständige Drohung für Rom bedeutet hatte, end-

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gültig unschädlich zu machen. Das politische Resultat bedeutete aber gleichzeitig auch eine wissenschaftliche Entdeckertat; große Völker wurden auf einmal dem römischen Bewußtsein nahegerückt, die bisher nur Forschungsreisende besucht und beschrieben hatten, aus denen Cäsar darum auch Auszüge zur Ergänzung seiner eigenen Beobachtungen in sein Buch einfügt. Erst durch Cäsar, so müssen wir feststellen, sind die gallischen und germanischen Kulturen Gemeingut des römischen Wissens geworden, denn vorher war der normal gebildete Römer wie etwa Cicero über diese Völker ungefähr so weit orientiert wie nach Cäsars Erzählung (IV, 20) die Gallier über die ihnen doch nahe verwandten Britannier — d. h. gar nicht. Von diesen seinen politischen und Entdeckertaten wollte er berichten; das allein hörte im Bellum Gallicum der antike und hört der unvoreingenommene heutige Leser. Um dieser Dinge willen ist das Büchlein ein Juwel der historischen Literatur. Dabei wollen wir uns gar nicht mit der unlösbaren Frage der Entstehung des Bellum Gallicum befassen, nämlich ob das Buch aus einem Guß nach der Beendigung des Krieges, also nach 52, geschrieben sei oder Jahr für Jahr; im letzteren Falle könnte man es als eine Art Volksausgabe der Rechenschaftsberichte an den Senat betrachten. Für beide Behauptungen scheinen gewisse Hinweise zu sprechen; so ist die gegenwärtige Forschung in ihrer Stellungnahme zu dieser Frage durchaus gespalten. Von unserer Betrachtung aus erscheint es freilich als wahrscheinlicher, das Werk als eine Einheit zu sehen, wobei mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß der Plan zum Schreiben oder sogar einTeil der Ausführung schon da war, bevor der große Rückschlag von 53/2 kam; also vor dem siebenten Buch.

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Doch kehren wir zur Hauptsache zurück: Cäsar will von einem weltwichtigen historischen Geschehen Zeugnis ablegen, in dessen Mittelpunkt er selber steht, das durch ihn ganz allein getätigt worden war. Etwas Derartiges gab es in der bisherigen griechischen und lateinischen Literatur noch nie; wohl haben Griechen und Römer Zeitgeschichte geschrieben, an der sie eventuell auch in bescheidenem Maße selber beteiligt waren, aber mit Cäsars Vorhaben war dies nicht zu vergleichen. Benutzte er die obligatorische Form der historischen Darstellung, so wurde daraus eine literarische Leistung, die um ihres Stiles, ihrer Stoffwahl, ihres Selektionsprinzipes und anderer formalen Dinge willen anerkannt zu werden Anspruch machte, aber nicht geglaubt wurde, die unterhalten, hinweisen, rühren, vielleicht auch patriotisch bewegen oder sittlich fördern, aber nicht der Wahrheit entsprechend schildern wollte. Ja, wollte Cäsar wirklich die Wahrheit erzählen? Mit dieser Frage wollen wir nicht etwa wieder den Vorwurf der Tendenz aufnehmen — aber sind nicht in beiden Kommentarien eine Fülle von Verstößen gegen die historische Richtigkeit nachgewiesen ? Ja und nein. Die Hauptantwort muß doch ein kategorisches Nein sein; es handelt sich bei diesen Unrichtigkeiten um Bagatellen, Erinnerungsfehler, Nebensachen, die von den modernen Kritikern aufgebauscht werden. Ein paarmal können wir Irrtümer feststellen, aber mit dem besten Willen nicht erkennen, warum Cäsar gegen besseres Wissen gefälscht haben sollte; in vielen anderen Fällen ist unsere Kritik ihrer Sache doch nicht so ganz sicher, und hämische Schadenfreude lenkt nicht selten ihre Schritte. Nur in einer Hinsicht ist Cäsar sicher im Fehler; das ist der Fall, und

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zwar in wichtigen Punkten, hinsichtlich der Zahlen. Hier sind wir nicht auf andere Überlieferung angewiesen, die ja nicht zuverlässiger sein muß als die Cäsarische, sondern es sind bevölkerungsstatistische und kriegstechnische Überlegungen, die die Unmöglichkeit gewisser Zahlen absolut klar machen. Die Zahlen der auswandernden Helvetier (368 000) und ihrer Verluste auf dem Zug nach Gallien (258 000) sind ebenso falsch wie andere solche Verlustzahlen, die sich durch unmögliche Kleinheit auf römischer Seite und ebenso unmögliche Größe auf feindlicher auszuzeichnen pflegen. So z. B. VI, 35 beim Kampf gegen die Usipeter und Tenkterer, bei dem auf römischer Seite keiner den Tod findet und nur einige wenige verwundet werden, während von den 430 000 Feinden fast alle umkommen. Wollen wir in diesem Falle zur Entschuldigung anführen, daß man die Zahlen primitiver Völker immer übertreibt, ob es sich um Kelten, Hunnen oder Indianer handle, so mißlingt eine solche Erklärung gegenüber dem gleichen Versagen Casars in der Schilderung der Schlacht von Pharsalus im Bürgerkrieg (Bell. civ. III, 99), in der 15 000 Toten auf der Seite des Pompeius nur 200 gefallene Cäsarianer gegenüberstehen sollen. Doch haben wir offenbar in diesem Phänomen weniger eine gewollte Fälschung als das automatische Eintreten eines psychologischen Gesetzes zu erkennen, das auch für uns gilt und nur unter innerem Widerstand von unserem historischen Bewußtsein überwunden wird. Cäsar will in den genannten Grenzen die Wahrheit erzählen. Er will um der Sache willen gelesen werden, nicht um der Form. Darum verzichtet er auf den übliche Historikerstil; er greift dafür nach demjenigen, der für

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Berichte an vorgesetzte Behörden, für Tagebücher u. ä. m. gewählt wird. Aber er nimmt diesen Stil nur als Gehäuse. Es scheint mir nach dem oben Gesagten kein Zweifel darüber bestehen zu können, daß er den Gedanken ablehnte, es könnten sich die dilettantischen Finger eines Literaten mit seinem „Entwurf" beschäftigen und ihn literaturfähig machen. Er sollte so, wie er ihn verfaßte, gelesen werden und Kunde geben von den einzigartigen Taten seines Verfassers. Darum sprengte er in mancher Hinsicht die ihm vorschwebende Form; aber in vielen Dingen fügt er sich ihrem Zwang. Von diesen Dingen müssen wir vor allem sprechen, weil sie aufs stärkste das Wesen der cäsarischen Schriftstellerei bestimmen; auch sind sie derart, daß sie, falls sie nicht als Ausfluß des gesuchten Stiles erkannt werden, leicht unser Befremden hervorrufen können. Die erste Stileigentümlichkeit ist das Fehlen aller großen historischen Zusammenhänge. Weder werden uns mit einem Wort Cäsars Absichten bei der Übernahme des Proconsulates und der Provinzen auf 5 Jahre und bei der Verlängerung dieser Aufgaben mitgeteilt — wie wir überhaupt nur ganz nebenbei von den Wirren hören, die gleichzeitig Rom erschüttern und in die wir Heutigen das gallische Abenteuer einzureihen pflegen; so etwa aus dem Munde des Ariovist, der versichert (B. G. I, 44, 12), er würde, falls er Cäsar erledige, damit vielen mächtigen Leuten in Rom einen Gefallen erweisen — noch wird uns je ein Gesamtkriegsplan deutlich. Es sieht so aus, als ob der Eroberer Galliens von Aufgabe zu Aufgabe taumle; eine neue biete sich immer dann, nicht früher, aber auch nicht später, wenn die vorausgehende erledigt sei. Es sieht so aus, als ob ein unbegreifliches Glück diesen Im-

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provisator und militärischen Dilettanten behüte und leite, so daß er immer noch im letzten Augenblick durch ein Wunder aus verhängnisvollen Situationen gerettet werde. Die Feinde von Cäsars Ruhm sehen in solcher Behauptung die Wahrheit: so und nicht anders, meinen sie, stand es in Wirklichkeit mit ihm. Aber es gibt mancherlei Anzeichen, die uns warnen, und die diese Deutung nicht zu empfehlen scheinen; so z. B. die Geschichte mit Ariovist. Nach Cäsars Bericht müßte man den Eindruck haben, daß Cäsar überhaupt erst nach der Besiegung der Helvetier Nachricht von der Existenz eines Ariovist und der mit ihm drohenden germanischen Invasion erhalten habe. Doch erfahren wir etwas später (I, 35), daß Ariovist schon im Jahr vorher, unter Cäsars Consulat, vom Senat den Ehrentitel „Befreundeter König" bekommen habe. Also hatte sich Cäsar schon, bevor er beide Gallien als Proconsul erhalten hatte, mit Ariovist beschäftigt und war er genau über dessen drohende Gegenwart aufgeklärt. Solche Beispiele ließen sich noch eine ganze Anzahl anführen; noch auffallender sind sie vielleicht im Bellum civile. Außer der ständigen Versicherung der Friedensbereitschaft findet sich darin kein einziges programmatisches Wort; selbst an den wenigen Stellen, wo Cäsar von Ordnung und Organisation der stadtrömischen Verhältnisse spricht, redet er so, als ob er improvisierte und höchst nebensächliche Dinge berühre. Das alles ist Stil; ein Tagebuch hat nicht von allgemeinen Dingen zu sprechen, die der Schreibende lebendig in seinem Innern trägt; es zeichnet auf, was vergänglich ist und leicht der Vergessenheit anheimfällt; auch ein Bericht an eine Behörde hat nur von dem zu schreiben, was die Regierung nicht schon

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selber weiß, d. h. von dem, was der Beamte in seiner Amtszeit und im Rahmen seines Amtsbezirkes erlebt, getan und erlitten hat. Diesem Stil paßt sich Cäsar an. Nicht von Programmen spricht er und nicht von Kriegsplänen; was er schildert, sind Einzeloperationen; er lebt im Augenblick. Es mag ihn freuen, wenn der Einzelfall Bestätigung allgemeiner Gesetze ist, wie etwa Bell. civ. III, 28, 4: „Da konnte man wieder einmal sehen, wieviel Hilfe dem Menschen eine feste Haltung bringt; die Rekruten, die den Kopf verlieren, kommen um, die Veteranen werden gerettet". Aber viel mehr interessiert sich Cäsar für das Unerwartete, Einmalige, Überraschende. Darin erweist sich die Größe des geborenen Feldherrn, daß er diesen Überraschungen gewachsen ist. Sie fordern seine stets wache Aufmerksamkeit und verbieten Schablone und Routine. Darum verweilt er gerne und ausführlich bei besonders durchdachten technischen Leistungen, dem Brückenbau über den Rhein, dem Schiffsbau für die Expedition gegen England, den komplizierten Defensivstellungen bei Alesia. Nicht nur zum eigenen Ruhm bringt er solche Details; auch Leistungen der Feinde werden angeführt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang ein Passus aus dem Bellum civile (III, 50): „Angesichts der ungewohnten militärischen Situation wurden von beiden Heeren ungewohnte taktische Mittel (novae bellandi rationes) angewendet." Die Feinde taten das und das. „Dadurch gezwungen erfanden die Unsrigen dagegen folgende Abwehrmittel usw." Damit hängt zusammen die Breite der Schilderung besonderer geographischer Verhältnisse, die die militärischen Operationen beeinflussen, wovon alle Bücher

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beider Kommentarien Zeugnisse ablegen; nennen wir beispielshalber die Lage der Städte bei den Venetern oder die großen, das Land durchziehenden Hecken bei den Nerviern, die die militärischen Operationen so sehr erschweren. Aber neben diesen Dingen, die zu originellen taktischen Lösungen zwingen, unterläßt es Cäsar nicht, immer wieder auf die Rolle hinzuweisen, die Glück und Zufall im Kriege spielen, und zwar völlig objektiv, unbekümmert, ob sie ihm selber oder dem Feinde zu Hilfe kommen. Der Zufall hat V, 35 und 42 beinahe zur Vernichtung eines römischen Lagers geführt, das unter dem Kommando von Ciceros Bruder Quintus steht; der gleiche Zufall hat es im letzten Augenblick wieder gerettet. In seiner Kritik an Quintus rügt er einzig den Mangel an Vorsicht — „man hätte dem Zufall nicht die kleinste Chance einräumen sollen" — die Hauptrolle aber schiebt er der Fortuna zu. So ist sie auch entscheidend in dem sorgfältig und umsichtig vorbereiteten Handstreich gegen den gefährlichen Ambiorix: alles klappt vortrefflich bis zum letzten Moment; Ambiorix wird völlig überrascht. Aber im allerletzten Augenblick gelingt es ihm zu entkommen, weil das Haus, in dem er überfallen wird, allzu dicht an den Wald angrenzt. Sic et ad subeundum et ad vitandum multum fortuna valuit (VI, 30). Im Bellum civile retten sich Cäsars Schiffe vor der überlegenen pompeianischen Flotte in einen dem eben wehenden Südwind völlig ausgesetzten Hafen; ihr Schicksal scheint zu sein, dort am Ufer zerschmettert zu werden. Im Augenblick, wo sie in diesen eingefahren sind, kehrt der Wind. Sie sind gerettet. „ D a konnte man einen plötzlichen Glückswechsel miterleben. Diejenigen, die gerade noch für sich die größten Befürch-

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tungen gehegt hatten, die nahm ein absolut schützender Hafen auf; die aber, die unseren Schiffen gefährlich gewesen waren, sahen sich gezwungen, sich um ihre eigene Gefahr zu sorgen." Die bedeutendste Situation dieser Art ist die unglückliche Episode im Bürgerkrieg, Wo Cäsar sich genötigt sieht, seine bei Dyrrhachium besetzten Positionen preiszugeben und einen Rückzug anzutreten. Cäsar steht im Begriff, das Lager des Pompeius zu stürmen. „Aber der Zufall, der besonders im Krieg so viel vermag, führt in wenigen Augenblicken eine totale Änderung der Situation herbei." Die draufgängerischen Soldaten Cäsars kommen an eine Mauer, die sie für die Lagermauer halten; tatsächlich ist es eine, die vom Lager weg zum Fluß führt. Sie eilen ihr entlang und suchen ein Tor; damit entfernen sie sich immer mehr vom Lager und verlieren kostbare Zeit. Infolge dieses Versehens kommt es beinahe zur völligen Katastrophe für Cäsar; da hilft ihm der Zufall: Pompejus glaubt nicht an seinen Erfolg, fürchtet eine List und zögert. Das bewahrt Cäsar vor der Vernichtung. ,,So hatten Nebendinge einen großen Einfluß für beide Parteien" (Bell. civ. I I I , 68—70). Hier ist sogar eine der ganz seltenen Stellen, wo man eine gewisse Empfindlichkeit bei Cäsar spüren zu können glaubt. E r erträgt es einfach nicht, daß die Pompejaner über diese Schlappe triumphieren, als ob sie durch ihre Tüchtigkeit gesiegt hätten, in völliger Verkennung der communes belli casus (72). Darum liebt es Cäsar auch, kleine charakteristische Szenen zu bringen, die ohne alle Bedeutung für den Kriegsverlauf sind, besonders auch solche, die menschliche Dummheit und Schwäche illustrieren; z. B. das völlige Versagen des Legaten P. Considius im Helve-

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tischen Krieg, der als ein sehr erfahrener Offizier galt — Cäsar muß in diesem seinem ersten Proconsulatsjahr seine Leute erst kennenlernen — , nun aber aus Angst römische Trappen für Feinde ansieht und dadurch ein wohlvorbereitetes Manöver zum Scheitern bringt (B. G. I, 21). Hierhin gehört auch die lächerliche Haltung der jungen Offiziere im Gefolge Cäsars vor dem Zusammenstoß mit Ariovist. Die einen verschaffen sich Urlaub unter allen möglichen Vorwänden; die anderen, die sich genieren, dies zu tun, können ihre Angst nicht verbergen; sie sitzen in ihren Zelten und jammern; überall werden Testamente gemacht. Zuletzt werden sogar die alten Troupiers von der allgemeinen Angst angesteckt, und bereits spricht man davon, dem Feldherrn den Gehorsam zu verweigern (B. G. I, 39). Ähnlich ironisches Behagen liegt auf folgender Episode des Bürgekrieges: keiner der römischen Politiker hat den Mut, als Cäsars Unterhändler zu Pompeius zu gehen, weil dieser vor seinem Weggange aus Rom im Senat erklärt hatte, er werde diejenigen, die in Rom geblieben seien (d. h. sich nicht direkt ihm angeschlossen haben), gleich behandeln wie die, die sich offen für Cäsar entschieden hätten (B. c. I, 33). Kurz nachher belustigt er sich über die Massenabwanderung zu Pompejus, als übertriebene, ja falsche Nachrichten über Cäsars schwierige Lage in Spanien nach Rom gelangen (I, 53), oder die Haltung des Bibulus, der den Zorn über seine eigene Unachtsamkeit an den leeren Schiffen Cäsars ausläßt (in eas indiligentiae suae dolorem atque iracundiam effudit; B . c. III, 8). Aber auch Taten exzeptioneller Tapferkeit übergeht er nicht, von einzelnen Soldaten wie von ganzen Truppenteilen, so die zwei stets rivalisierenden Centu-

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rionen Pullo und Vorenus, die sich gezwungenermaßen gegenseitig das Leben retten müssen (B. G. V, 44), oder den Centurio Crastinus, der sich in der Schlacht bei Pharsalus in die Reihen der Feinde stürzt mit dem Ruf: „Ich werde heute dafür sorgen, Feldherr, daß ich von dir Dank erhalte, entweder lebend oder tot (III, 91)." Nur noch der Tote erreicht dieses Ziel. Nach der Schlacht kommt Cäsar auf ihn zurück und spricht ihm seinen Dank in der einfachen und doch so ergreifenden Form aus: „Cäsar war der Meinung, daß Crastinus an Tapferkeit in dieser Schlacht alle übertroffen habe und daß er sich um ihn aufs höchste verdient gemacht habe" (99). Als Beispiel für ein Kollektivlob wähle ich jene Legionen unter dem jungen Crassus (B. G. III, 21), „die zu zeigen wünschen, was sie leisten können, ohne den Feldherm, unter einem jungen Mann als Führer". Auch dem Feinde versagt Cäsar solche Anerkennung nicht: vor Avaricum fällt den Römern auf, wie von einer bestimmten, sehr exponierten Stelle des Verteidigungswerkes Pechkugeln geworfen werden; immer treten neue Krieger, um diese Funktion zu erfüllen, an Stelle anderer, die alle unfehlbar den Tod finden. „Ich glaubte, diese Sache als erinnerungswürdig nicht übergehen zu dürfen" (B. G. VII, 25). Diese Detailfreude führt dazu, daß ein paarmal sogar reine Anekdoten berichtet werden, z. B. ein Soldatenwitz, der sich an die Verwendung von Legionssoldaten als Reiter knüpft, oder die zweimalige ungewollte Rettimg des Schatzes der Diana von Ephesus vor der Plünderung durch Anhänger des Pompeius (B. c. III, 33 und III, 105). Diesen Beobachtungen entspricht durchaus die weitere Tatsache, daß der Schriftsteller Cäsar bewußt auf

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jede Steigerung des Handlungsablaufes verzichtet. Vor allem fällt auf, mit welcher Sachlichkeit, ja geradezu mit welcher flüchtigen Eile er die Schlußresultate gewichtiger Ereignisse zieht. Über den Sieg bei Bibrakte fällt kein lautes Wort: das Ergebnis, Untergang von etwa zwei Dritteilen der Helvetier, wird mit einem „ u n d " an das Folgende angeschlossen: „ J e n e Schlacht überlebten ungefähr 130 000 Helvetier und diese marschierten die ganze Nacht hindurch ohne Aufhören" (I, 26). Noch eindrucksvoller freilich ist es, wenn der Tod des Pompeius, des Freundes langer Jahre und erbitterten Feindes des Bellum civile, nicht anders behandelt wird. Zu welchen Worten des Triumphes, der Klage, der Besinnung und der Erleichterung könnte er Anlaß geben. Die ägyptische Regentschaft lädt den Pompeius freundlich ein, zum König zu kommen; heimlich aber schickt sie den Ägypter Achillas und den römischen Offizier L . Septimius aus, um Pompeius zu töten. D a dieser Septimius im Seeräuberkrieg des Pompeius Untergebener gewesen war, läßt sich dieser dazu verleiten, mit geringem Gefolge ein Ruderschiff zu besteigen. „Darin wird er von Achillas und Septimius getötet. Ebenso wird L . Lentulus (Consul des Entscheidungsjahres 49) vom König gefangengesetzt und im Kerker getötet" (B. c. I I I , 104). Das ist alles. Nicht anders schließt das an innerer, d. h. ungesuchter Spannung so reiche V I I . Buch des Bellum Gallicum. In lauter kurzen Sätzen werden die den furchtbaren Aufstand des Jahres 5 2 abschließenden Ereignisse skizziert: „ e r befiehlt die Waffen abzugeben, die Häuptlinge auszuliefern; er selber nimmt Platz auf dem Wall vor dem Lager; dorthin werden die Führer gebracht. Vercingetorix wird den Römern über-

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geben; die Waffen auf Haufen geworfen." Ein weiterer Satz ist der Verteilung der Beute gewidmet, und schon beschäftigt sich Cäsar mit weiteren Verwaltungsmaßnahmen (VII, 89). Ähnlich ist des Schriftstellers Cäsars Haltung Ereignissen gegenüber, die den Politiker Cäsar sicherlich sehr beschäftigt haben. Mit welcher Objektivität und scheinbaren Unbeteiligtheit schildert er die Vernichtung von fünf Cohorten durch Ambiorix. Ohne jegliches Pathos wird am Schluß erzählt, wie die letzten, als sie sich jegliche Rettung verschlossen sahen, sich das Leben nehmen; nur einzelnen wenigen gelingt es, sich zu Labienus in dessen Winterlager durchzuschlagen (V, 37). Und doch wissen wir, daß diese Katastrophe Cäsar innerlich und äußerlich schwer traf und ihn sogar nötigte, Truppenanleihen bei Pompeius zu machen. Ganz ähnlich verhält er sich gegenüber der Katastrophe des Curio in Afrika (B. c. II, 30). Es ist darum durchaus falsch, wenn die mißtrauischen Kritiker Cäsar eine Vertuschung seiner Niederlagen ankreiden wollen: der Mann, der so über seine Siege hinweggeht, hat das Recht, auch seine Niederlagen nur zu erzählen, nicht zu kommentieren; er braucht sie nicht noch zu unterstreichen. Alles Unsachliche ist auf ein Minimum reduziert: Patriotische Begeisterung, Jubel über Sieg wie Trauer über Mißerfolge, Selbstlob so gut wie Tadel der Feinde. Der letztere findet sich bezeichnenderweise bloß in Anekdotenform, sogar im Bellum civile; z. B. in der Wiedergabe der törichten Aspirationen der Pompeianer, die lange vor der Entscheidung das Bärenfell verteilen: Domitius Ahenobarbus, Scipio (Pompeius' Schwiegervater) und Lentulus Spinther machen unter üblem Gezänk auf das Amt des Pontifex maximus Anspruch;

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andere organisieren bereits die gesetzgeberischen Maßnahmen, mit denen sie ihre Feinde nach dem Siege treffen wollen usw. (III, 82/3). Noch einmal, nach der Niederlage, wirft er ein solches Schlaglicht auf die andere Partei; die Einrichtungen des eben eroberten Lagers verraten unpassenden Luxus und allzu große Siegesgewißheit (III, 98). Am deutlichsten wird diese Verwandlung des Affektes in die Anekdote im Verhalten gegenüber Labienus, seinem treuen Helfer während des siebenjährigen Gallischen Krieges. Jetzt, zu Beginn des Bürgerkrieges, geht er zu Pompeius über. Kein Wort fällt über diese Tatsache; geschweige denn ein Wort des Zornes. Um so vernichtender ist die Charakteristik des Labienus, wenn er ihn auftreten läßt. E r ist der Inaugurator einer theatralischen Schwurszene vor Pompeius im Lager bei Dyrrhachium (III, 1 3 ) ; er verhindert in brutaler Weise eine von soldatischer Seite eingeleitete Friedensaktion (III, ig), wobei seiner Weisheit letzter Schluß das Wort ist: „hört auf, vom Frieden zu reden; für uns kann es nur dann Frieden geben, wenn man uns den Kopf Cäsars bringt!"; er verhöhnt alte Kriegsgefährten aus den gallischen Kriegen, die als Gefangene in die Hand des Pompeius gefallen sind und bringt sie dann ohne jeglichen Grund in bestialischer Manier um. Unmittelbar vor der Schlacht bei Pharsalus äußert er sich in geringschätzigster Weise über Cäsars Heer: es sei nicht mehr dasselbe, das Gallien unterworfen habe; jenes sei aus allen möglichen Ursachen verschwunden. An diese Verleumdungen schließt er das prahlerische Gelübde an, er werde nur als Sieger ins Lager zurückkehren. Dabei flieht er nach der Schlacht mit den anderen. Alle diese Dinge sind in weitem Umfang Stil, sind

Cäsar

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Werkzeug des Schriftstellers. Aber auch dieses Werkzeug ist schon eine Tat, nicht nur die Wahl desselben, sondern auch die Bestimmung seiner Form. Gewiß imitiert er im Prinzip den Stil von Journalen oder von Rechenschaftsberichten ; aber was sich in diesen von selber ergibt, die Weglassung aller selbstverständlichen Dinge, das mußte Cäsar künstlich einführen. Sein Stilwille stellte eine Norm auf, an die er sich im großen und ganzen hielt, die er aber auch nach freien Stücken einmal durchbrechen konnte, wenn es ihm paßte. Die Hauptsache war, daß der Stil des commentarius dominant ist, daß er den Eindruck seines Werkes bestimmt. Die Freiheiten erlaubt er sich eher in den späteren Büchern, insbesondere im VII. Es ist, als ob er sein Instrument immer souveräner beherrsche. Was er wollte, hat er sicherlich erreicht. Kein antikes Buch wirkt so selbstverständlich und überzeugend, so männlich und echt. Es lebt Eroberergeist in ihm, militärische Tüchtigkeit ohne fachliche Verengung, die ganze Genialität einer großen Persönlichkeit, die eine große Aufgabe mit Freude und innerer Anteilnahme siegreich zu Ende führt. Aber mit solcher Feststellung haben wir noch nicht erklärt, was das Eigentliche und Eigenartige dieser Kommentarien ist, worin ihr Zauber liegt, warum sie so wahrhaft und überzeugend wirken, warum sie zu den belehrendsten Büchern der Kriegsliteratur gehören, ja, ihre eigentliche Krönung darstellen. Daß es die Wahl des Stiles allein sein könnte, was zu diesem Resultat führt — das wird doch kaum jemand für wahrscheinlich ansehen. Es muß darüber hinaus noch etwas spezifisch Cäsarisches geben, das uns in seinen Bann zieht. Versuchen wir ihm nachzugehen,

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Cftsar

indem wir einmal die Erzählung des Krieges mit den Helvetiern untersuchen. Nach der Schilderung der Vorgeschichte ihres Auszuges erzählt er in wenigen Zeilen seine schnelle Reise nach Gallien und die ersten Befehle, die er dort gibt. Schon ist eine helvetische Gesandtschaft da, die freien Durchzug für das auswandernde Volk fordert. „Cäsar glaubte, das nicht erlauben zu dürfen, weil er sich sehr wohl daran erinnerte, daß der Consul Lucius Cassius von den Helvetiern getötet und sein Heer unter das Joch geschickt worden war; er war überzeugt, daß sich Menschen voll feindseliger Absichten, wenn ihnen die Erlaubnis zum Zug durch die Provinz gegeben würde, auf keinen Fall von Unrecht und Verbrechen fernhalten ließen." Durch zögernde Haltung gelingt es ihm, die nötigen Verteidigungswerke an der Rhone zu errichten, „um sie leichter, falls sie gegen seinen Willen die Rhone zu überschreiten versuchten, daran hindern zu können". Die Helvetier wählen daraufhin eine andere Route, quer durch den Jura; als Ziel wollen sie das Land an der Garonne erreichen. „Wenn dies zustande käme, so überlegte Cäsar, würde die gallische Provinz der Gefahr ausgesetzt sein, ein sehr kriegerisches Volk, das mit dem römischen Volk verfeindet ist, als Nachbar zu erhalten, und zwar als Nachbar seiner fruchtbarsten Gebiete bei völlig ungeschützten Grenzen." Deshalb holt er in der Poebene weitere Verstärkungen, mit denen er in das Gebiet der Allobroger marschiert. Unterdessen sind die Helvetier bis in das Land der Häduer gelangt. Flüchtlinge aus diesen Gegenden kommen zu Cäsar. „Dadurch veranlaßt, beschließt Cäsar, nicht abzuwarten bis die Helvetier nach Verzehrung von Hab und Gut der römischen Bundes-

Cäsar

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genossen ins Gebiet der Santonen kämen." Es folgt der Überfall der Römer auf die Tiguriner; eine resultatlose Gesandtschaft des Divico an Cäsar, ein unglückliches Reitergefecht. Das römische Heer leidet infolge der Unzuverlässigkeit der Häduer in der Verproviantierung. „Als es Cäsar klar wurde, daß er (von den Häduern) immer weiter hingehalten werde und daß bald der Tag kommen werde, wo man den Soldaten die Getreideration genau zumessen müsse", stellt er die in seinem Gefolge sich aufhaltenden Häduer zur Rede. Von diesen erfährt er, daß eine bestimmte Persönlichkeit bei ihnen eine verhängnisvolle antirömische Politik betreibe. „Cäsar merkte, daß damit Dumnorix gemeint sei", aber will das nicht öffentlich diskutieren. Die ihm darauf vom obersten Beamten der Häduer privat gegebenen Auskünfte finden ihre Bestätigung durch eine Anzahl ganz eindeutiger Beobachtungen, die einzeln aufgezählt werden. „Jetzt glaubte er, genügend Grund zu haben, um entweder selber gegen Dumnorix vorzugehen, oder den Häduern zu befehlen, dies zu tun." Die Folgen dieser Maßregel werden geschildert; dann ein Versuch, die Helvetier zum Kampf zu stellen, der infolge der Ungeschicklichkeit des Publius Considius mißlingt. „Am folgenden Tag glaubte er in erster Linie für die Verproviantierung sorgen zu müssen", deshalb marschiert er in der Richtung gegen die mit Vorräten wohl versehene Stadt Bibrakte. Die Helvetier folgen ihm. Bai Bibrakte kommt es zur Schlacht und zum Sieg der Römar, womit der Plan der Helvetier erledigt ist. Sie müssen in die Schweiz zurückkehren. „Das verlangte er hauptsächlich darum, weil er nicht wollte, daß das Land, aus dem die Helvetier weggezogen waren, unbewohnt

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Cäsar

bleibe, damit nicht die Germanen jenseits des Rheins wegen der Vortrefflichkeit des Bodens aus ihrem Lande in das der Helvetier auswanderten und damit Nachbarn der Provinz und der Allobroger würden." D a s Auffallende an diesem Stück geschichtlicher Darstellung ist, daß sich der Verfasser ununterbrochen bemüht, nicht nur Ereignisse, auch nicht nur seine H a n d lungen zu berichten, sondern sie stets auf ihren letzten Ursprung, nämlich auf seine Überlegungen,

zurückzu-

führen. E i n Kapitel kurz nach Abschluß des Helvetischen Feldzuges, in der Vorgeschichte des Krieges gegen Ariovist, wird uns ein besonders charakteristisches Beispiel für diese Technik bieten, die nicht nur eine E r zählertechnik, sondern eine eigenartige historische A n schauungsform

ist

(I, 33): „Viele

Überlegungen

ver-

anlassen Cäsar, diese Angelegenheit zu bedenken und an

Hand zu nehmen, erstens, weil er s a h , daß die

Häduer,

die wiederholt

vom

Senat

als Brüder

und

Blutsfreunde des römischen Volkes bezeichnet worden waren,

in völliger Abhängigkeit

von den

Germanen

stünden, und weil er w u ß t e , daß von ihnen Geiseln bei Ariovist u n d den glaubte,

in

Sequanern

Anbetracht

der

seien, was, wie

Macht

des

er

römischen

Staates für ihn und den Staat eine Schande bedeute. D a ß sich aber die Germanen allmählich daran gewöhnten, den Rhein zu überschreiten, und eine große Menge v o n ihnen nach Gallien kam, das sei, so s a h er, eine Gefahr für das römische Volk. E r g l a u b t e , daß diese wilden und barbarischen Menschen nicht davor zurückschrecken würden, nachdem sie ganz Gallien

besetzt

hätten, in die Provinz einzubrechen, wie es früher die Cimbern und Teutonen gemacht hätten, und von dort

Cäsar

135

nach Italien zu dringen . . . Allen diesen Dingen g l a u b t e er möglichst energisch entgegentreten zu müssen." Man hat schon in der Ausführlichkeit dieser Begründung propagandistische Absichten wittern wollen; dem Leser soll Sand in die Augen gestreut werden, da doch der Krieg gegen Ariovist ein völlig unprovozierter imperialistischer Angriffskrieg gewesen sei. Gewiß ist es gar nicht anders möglich, als daß der Schriftsteller Cäsar, der bereits die Resultate der einzelnen Unternehmungen des Feldherrn Cäsar kannte, hie und da Überlegungen vordatiert, eventuell ex eventu konstruiert, ja sogar fälscht. Dahin gehören etwa die Gedanken, die IV, 19 zum raschen Rückzug auf das linke Rheinufer führen. Aber es ist falsch, nur dieses und ein paar wenige andere Beispiele ins Auge zu fassen und dabei zu übersehen die große Fülle von Gegenbeispielen, jene fortlaufende, so aufschlußreiche gedankliche Kommentierung der Taten Cäsars durch ihren eigenen Urheber. Das Bellum civile steht darin nicht hinter dem Bellum Gallicum zurück. Mit welcher Sorgfalt bespricht er — um nur ein Beispiel zu nennen — die Überlegungen, die ihn veranlaßten, Pompeius nicht nach Griechenland zu folgen, sondern vorerst die spanischen Dinge zu ordnen (B. c. I, 29). Für die vorwiegende Echtheit, also Geschichtlichkeit der von ihm gebrachten Gedankengänge spricht vor allem auch der Umstand, daß er nicht nur richtige, sondern auch ialsche Überlegungen bringt, die sein Handeln in falscher Weise beeinflußten — in großen und in kleinen Dingen. Fälschlich glaubt er B. G. III, 7 — welch bedenklicher Irrtum im Jahre 56 —, daß Gallien befriedet sei; grundlos fürchtet Cäsar B. G. II, 1 1 eine List der Feinde usw. Es ist für Cäsar so selbstverständ-

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Cäsar

lieh, die Handlungen durch die dazu führenden Überlegungen zu motivieren, daß er auch bei seinen Unterführern das gleiche Verfahren anwendet. Sehr charakteristisch ist dafür der Fall des Legaten Sabinus, der j a später ein so unglückliches Ende finden sollte. Im Jahre 56 bekommt er für seine Überlegungen die ausdrückliche Billigung Cäsars. Sabinus hält sich still in seinem Lager und läßt sich von den Venellern nicht zum Kampf verlocken. Das führt dazu, daß er zum Gespött der Feinde, ja der eigenen Soldaten wird; zuletzt wagen es die Veneller sogar, bis an den römischen Lagerwall heranzugehen. „Das tat er aus dem Grunde, weil er der Meinung war, daß er als Legat gegen eine solche Überzahl von Feinden, zumal wenn der verantwortliche Führer fern sei, nur an besonders günstigem Orte, oder wenn sich eine besonders günstige Gelegenheit biete, kämpfen dürfe." E s muß eingeräumt werden, daß Cäsar den Niederschlag solcher Erwägungen in deren amtlichen Berichten gefunden haben kann — eine solche Erklärung fällt aber dahin, wenn es sich um die Feinde handelt; so legt er B. G. III, 7 die Gedankengänge der Veneter, I I I , 18, der Veneller ausführlich vor: „Vieles brachte die Gallier zu diesem Entschluß (nämlich das römische Lager anzugreifen), die zögernde Haltung des Sabinus während der letzten Tage, die ermutigenden Mitteilungen eines — übrigens von Labienus angestifteten — Überläufers, der Mangel an Lebensmitteln, wofür gar nicht gut gesorgt worden war, die Hoffnung auf den günstigen Ausgang des Venetischen Krieges und zuletzt, weil fast alle Menschen gerne glauben, was sie wünschen." Zu diesen Menschen, die gerne glauben, was sie wünschen, gehört Cäsar selber gerade nicht; sein großer

Cäsar

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Sinn, wovon seine jeweiligen Überlegungen Zeugnis ablegen, steht auf dem Boden der Realität; er s i e h t , während andere w ü n s c h e n , wie Hirtius sehr bezeichnend von ihm sagt (VIII, 4 1 ) : cum optarent reliqui, Caesar unus videret. Den Wiklichkeitssinn dieses Denkens betont er selber manchmal leise, so, wenn er B . c. II, 7 2 dem Drängen seiner Offiziere seine eigenen kühlen Überlegungen gegenüberstellt. „Cäsar war zur Überzeugung gelangt, er könne ohne Kampf und ohne daß seine Soldaten ihr Blut vergießen müßten, die Sache zu einem guten Ende bringen, weil er den Feinden den Proviant abgeschnitten habe. Warum solle er den Verlust eigener Soldaten, selbst bei günstigem Ausgang der Schlacht, auf sich nehmen ? Warum solle er es dazu kommen lassen, daß erprobte Soldaten verwundet würden ? Warum solle er ein Risiko auf sich nehmen ? zumal da es nicht weniger Aufgabe eines Feldherren sei, mit Klugheit als mit dem Schwerte zu siegen. E r wurde auch durch das Mitleiden mit den Mitbürgern (den Soldaten auf der Gegenseite) bewegt, die, wie er wußte, getötet werden müßten. E r wollte lieber die Sache unter Wahrung ihres Lebens erledigen." Die Soldaten sind damit freilich gar nicht einverstanden; sie erklären offen, daß sie, nachdem er diese Chance aus der Hand gegeben habe, ihrerseits später nicht kämpfen würden, wenn Cäsar es dann wolle. Doch gibt der weitere Fortgang Cäsar völlig recht. Nicht minder charakteristisch ist eine andere Episode aus dem Bellum Gallicum (VI, 34). E s handelt sich um die Verfolgung des Eburonenhäuptlings A m biorix, der einen sehr gefährlichen Guerillakrieg gegen Cäsar führt: geschlossenen römischen Formationen gegenüber kann der Feind nichts machen, aber um so

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Cäsar

gefährdeter sind kleine Detachemente. „Entsprechend diesen Umständen", fährt Cäsar fort, „wurde vorgekehrt, was mit Sorgfalt vorgekehrt werden konnte. Lieber sollte in der Schädigung der Feinde etwas unterlassen werden, obschon alle von Rachgier brannten, als daß die Schädigung verbunden wäre mit irgendwelchen Einbußen an Soldaten." Darum ruft er andere gallische Stämme auf, das Eburonenland zu plündern, „damit eher in den Wäldern das Leben von Galliern in Gefahr komme als ein Legionssoldat." Auf diese Art weiß uns der Geschichtsschreiber Cäsar direkt hineinzuführen in den schaffenden Geist des geschichtemachenden Staatsmannes und Feldherrn Cäsar; wie kein anderer besitzt er die verissima scientia suorum consiliorumexplicandorum, „die wahrheitsgetreue Fähigkeit, seine Absichten auseinanderzusetzen", wie Hirtius so treffend von ihm sagt (VIII, Praef. 8). Er erreicht damit das ihm vorschwebende Ziel, nicht um seiner Form, sondern um seines Inhaltes willen gelesen zu werden. Jetzt macht es auch nichts mehr, wenn diese scientia manchmal ihrerseits wieder Stil, d. h. Form wird, wofür wir oben Beispiele hatten, da dieser Stil den Zwang bedeutet, überall, auch wo Cäsar nicht selber handelnde Person ist, das Handeln auf Motive zurückzuführen, d. h. es seiner Zufälligkeit zu entkleiden und ihm eine Idee zu unterlegen. Da er aber fast immer im Mittelpunkt steht, so ist diese Idee meistens nicht eine nachträglich hineininterpretierte, sondern es ist eine von jenen, die schöpferisch Geschichte gemacht haben. Darum fiel ihm das Schreiben auch nicht schwer, weil er beim Tun die Gestaltung bereits vorweggenommen hatte; so kann es des Hirtius Bewunderung hervorrufen, wie

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leicht und rasch er geschrieben habe (VIII, Praef. 6). Der Politiker und der Schriftsteller sind nicht zu trennen; sie bilden eine Einheit; sie sind aus einem Guß. Darum haben wir das Recht, den politischen Menschen Cäsar, der um der verzerrten Überlieferung willen so schwer zu erfassen ist, aus seinen Schriften zu verstehen, d. h. nicht nur aus dem, was er über sich schreibt, sondern aus der Form, aus der ruhigen Selbstverständlichkeit seines schriftstellerischen Duktus, aus der Sicherheit des Mannes, der an seinen Stern, seine pristina fortuna (B. G. IV, 26) glaubt, der suarum rerum fiduciam habet (B. c. II, 37), ohne doch darum vermessen und überheblich zu sein. E r nimmt seine eigene Art wie eine Gegebenheit, nicht wie ein eigenes Verdienst. Besonders tritt das gegenüber seiner „Milde" (dementia) zutage, über die er manchmal zu lächeln, manchmal zu seufzen scheint, wenn sie ihm durch charaktervolle Undankbarkeit erwidert wird von den zahlreichen Pompeianern, die kaum begnadigt, wieder zu Pompeius laufen, eventuell sogar mehr als einmal (B. c. III, 10). Nur dank seinem geschriebenen Werk ist es uns vergönnt, die nie zu erschöpfende Grazie dieser Persönlichkeit wahrhaft zu spüren; das ist noch wichtiger als die Kriege, die in ihm geschildert werden und als die Völker und sogar als die Menschen, die darin eine Rolle spielen.

SALLUST Gaius Sallustius Crispus, geb. ca. 86 v. Chr., Parteimann auf Casars Seite. Militärische Kommandos unter diesem während des Bürgerkrieges mit Pompeius. Proconsul in Afrika nach der Unterwerfung dieser Provinz durch Cäsar. Nach Casars Tod (44) lebt Sallust zurückgezogen und beschäftigt sich mit geschichtlichen Arbeiten. Tod ca. 35. S c h r i f t e n (vor 44): Veröffentlichte Senatsrede gegen Cicero (sog. Invectiva in Ciceronem) vom Jahre 54; die erhaltene Antwort Ciceros ist eine spätere Erfindung. Zwei politische Sendschreiben an Cäsar; das ältere (zweite in der handschriftlichen Reihenfolge) aus dem Jahre 50, das jüngere (erste) aus dem Jahr 46. (Nach 44): Monographie über die catilinarische Verschwörung vom Jahre 63. Monographie über den Jugurthinischen Krieg (111 bis 105). Die Historien in fünf Büchern, beschreibend die J?hre 78—67, d. h. beginnend mit dem Tode Sullas. Das merkwürdige Ende ist wahrscheinlich durch den Tod des Verfassers bedingt. Nur f r a g m e n t a r i s c h erhalten. Das Werk Sallusts, das uns erhalten ist, ist klein an Umfang. Außer den beiden Monographien besteht es in ein paar Tagespublikationen, von denen nur der kurz vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen

Sallust

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Cäsar und Pompeius geschriebene sog. zweite Brief an Cäsar einiges Gewicht besitzt. Das letzte und umfangreichste Buch, die Historien, ist verloren und mit seinen zahlreichen Fragmenten und dank seiner Nachwirkung wohl als historische Quelle weitgehend zu rekonstruieren, aber als Gesamtwerk nur sehr im groben, als Kunstwerk überhaupt nicht zu erfassen. So ist es begreiflich, daß in diesem Fall Widersprüche innerhalb der schriftstellerischen Leistung nicht oder nur in geringem Maße auftauchen: die weltanschauliche, politische, stilistische Haltung ist im Jugurtha gleich wie im Catilina. Trotzdem entwickelte sich ein Sallustproblem, und begann sein Bild zu schwanken, diesmal aber, weil sich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Sallusts Leben und Sallusts Schreiben aufzutun schien. So ist es in diesem einen Fall einmal am Platz, einen Blick auf die Biographie des Mannes zu werfen. Sie zeigt ihn uns als ein typisches Zeitprodukt, auch wenn wir die übelriechenden Nachrichten, die ein offenbar lange nach seinem Tode verfaßtes Pamphlet, eine Antwort auf die wahrscheinlich echte Rede Sallusts gegen Cicero, vor uns ausbreitet, mit größter Vorsicht anfassen. Auf jeden Fall steht ein leidenschaftlicher Parteimann vor uns, der die regierende Clique mit bitteren Anklagen verfolgt, sich aber in nichts von ihr unterscheidet, so daß sein skandalöser Lebenswandel zur Ausstoßung aus dem Senat durch die Censoren Anlaß gab. Sollte man geneigt sein, ihn in dieser Hinsicht als ein Opfer gegnerischer Intrigen zu betrachten, so lassen sich doch die ungeheuren Reichtümer, die er sich während des Bürgerkrieges zu erraffen verstand, und die ihm erlaubten, die nach ihm benannten märchenhaften Gärten auf dem Monte Pincio

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SaUust

anzulegen, nicht aus der Welt schaffen. Aus dem Munde eines solchen Römers tönen — das läßt sich kaum leugnen — die unerschöpflichen Ausfälle seiner historischen Schriften gegen den Sittenzerfall der Nobilität sehr seltsam, die notiones censoriae, wie sein Zeitgenosse Varro sie nennt (Gellius X V I I , 18), dem der Widerspruch von Wort und Leben des Sallust auch zu denken gab, das lärmende Eifern besonders gegen das Laster der avaritia, der Habsucht, die er als das Krebsübel seiner Zeit, als verheerendstes Ungeheuer: belua fera immanis intoleranda (Ad Caes. II, 8) bezeichnet. Der leidenschaftliche Verzweiflungsschrei über den Niedergang des römischen Staates, der „aus dem schönsten und besten zum schlechtesten und erbärmlichsten geworden ist" (Cat. 5, 9), paßt schlecht in den Mund eines skrupellosen Nutznießers dieses gleichen Regierungssystems, das er in solcher Weise angreift. Gibt er auch in der Einleitung seines Catilina zu, daß in früheren Jahren sein Ruf nicht besser war als der der anderen Politiker, so will er in sich doch nur ein Opfer jugendlichen Ehrgeizes sehen, eines Ehrgeizes, der eine Zeitlang stärker war als die abstoßenden Eindrücke, die er vom politischen Leben empfing (3, 3). Ohne Zweifelist dieses Selbstporträt stark retouchiert, und entspricht das Bild von dem nach jenen jugendlichen Verirrungen zur inneren Ruhe gelangten, nur noch mit geistigen Dingen beschäftigten Weisen kaum der Wirklichkeit. Man glaubte, diesen Widerspruch erklären und damit aus der Welt schaffen zu können, indem man die historischen Schriften als Partei-, Propaganda- und Rechtfertigungsschriften deutete. Aus dieser Absicht heraus deckte man zahlreiche historische Fehler und Unrichtigkeiten auf, besonders im Catilina;

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im Jugurtha deshalb weniger, weil hier eine so genaue Kontrolle, wie sie im Catilina die Reden Ciceros erlauben, nicht möglich ist. Diese Verstöße gegen die historische Wahrheit wurden als bewußte Fälschungen erklärt zum Zwecke der Verschleierung dessen, was wirklich vorgefallen war, und zwar im Interesse der cäsarischen Partei. Im Grunde genommen sind aber diese Versehen relativ harmlos und sind vor allem nicht in der Lage, irgend etwas wirklich zu verbergen; es handelt sich meistens um chronologische Verschiebungen, die am Wesen der erzählten Ereignisse nichts ändern. Es war jene Generation am Ende des letzten und zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts, die solcher nach jetzigem Empfinden allzu deutüchen Tendenz zu benötigen glaubte, um vergangener Literatur Leben einzuflößen. Der Widerspruch gegen diese Hineindeutung verstummte freilich nie ganz; jetzt ist sie endgültig überwunden. An ihre Stelle traten in den beiden letzten Dezennien neue Sallustbilder. Zuerst wollte man an Stelle des Pamphletärs Sallust wiederum den großen Historiker Sallust propagieren und in ihm den Schöpfer einer großartigen Geschichtskonzeption sehen. Doch ist es nicht leicht, diese deutlich zu machen und allgemeines Verständnis für ihre behauptete Bedeutung zu gewinnen, ganz abgesehen davon, daß ihre Grundlage bald in griechischem Denken, bald in urrömischem Geiste gesucht wurde und wird. Außerdem verstimmten immer wieder die nicht wegzuleugnende Unsorgfältigkeit des Details und die Ungenauigkeit der zeithchen Angaben. So kam als erlösender Ausweg das Schlagwort vom Künstler Sallust auf, dem man manche Verdrehung des Tatsächlichen zugunsten dramatischer Steigerung, schärferer

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Profilierung und überhaupt deutlicherer Gruppierung nachzusehen bereit war. Ohne allen Zweifel ließ sich mit dieser Arbeitshypothese vieles deutlich machen, und wurde mancherlei Erkenntnis zum Verständnis des sallustischen Werkes gewonnen. Notwendig ist aber, daß man den Begriff Kunstwerk nicht zu eng fasse und nicht nur kompositioneile Gesichtspunkte daraus herleite, sondern sich bewußt sei, daß der künstlerischen Mittel gar viele sein können. Versuchen wir einmal, uns darüber klar zu werden, worin die gemeinsame Wirkung der beiden Monographien liegt, und zwar wollen und müssen wir die Frage darnach als Laien stellen, als historisch gebildete und historisch interessierte Laien, aber nicht als Historiker, für die Sallust gar leicht einfach Quelle wird. Bei solcher Voraussetzung lesen wir ihn wie das Publikum, für das er schrieb; das dürfen wir so sagen, weil sich ja die Vorstellung, als ob er direkte propagandistische Ziele verfolge, als unwahrscheinlich und unfruchtbar erwies. Noch jetzt wird der Leser einer der beiden sallustischen Schriften durch diese Lektüre in seiner seelischen Struktur für eine gewisse Zeit verwandelt; er wird nicht nur erschüttert, das ist zu wenig gesagt, er wird durch und durch beeinflußt; er kann die Welt und die Menschen nicht mehr gleich ansehen wie vorher; er ist wie eine Art vergiftet oder verzaubert. Nominell gilt diese Erschütterung der Erkenntnis über den Zustand des römischen Staates, für den keine Rettung mehr möglich ist, da seine Zersetzung bereits auf die lebenswichtigen Organe übergegriffen hat, und über die Verruchtheit derer, in deren Hand die Leitung dieses Staates liegt, der römischen Nobilität. Tatsächlich aber ist uns dies alles nur Symbol;

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unsere Verzweiflung geht tiefer; es ist eine Verzweiflung an jeder sozialen Gemeinschaft, ja an der Menschheit selber. Kein Zweifel, daß Sallust diese furchtbare seelische Wirkung hat erzielen wollen; die Wahl seiner Stoffe kann nur in diesem Sinne gedeutet werden. Beide behandeln Episoden der römischen Geschichte, die an und für sich jeglicher Größe entbehren, die aber symptomatisch sind für den Zustand Roms, das der Herr der Welt ist. Durch nichts kann es eindrücklicher gemacht werden als durch die catilinarische Verschwörung, in der es einer kleinen Schar von Verbrechern und Abenteurern beinahe gelingt, dieses Imperium in Frage zu stellen, da seine Existenz das Maximum von Hilflosigkeit erreicht hat (Cat. 36, 4). Das Thema des Jugurthinischen Krieges aber erklärt Sallust selber (Jug. 5) darum gewählt zu haben (abgesehen von der Vielseitigkeit der in ihm enthaltenen Ereignisse), weil damals zum erstenmal dem Übermut der Nobilität entgegengetreten wurde, d. h. anders ausgedrückt, weil dieser Krieg blitzartig die schon lange vorhandene, aber verborgene Krankheit des römischen Reiches enthüllte. Sallust schreibt also ganz von seinem politischen, von seinem Parteistandpunkt aus; deshalb ist aber, was er schreibt, noch lange keine Parteischrift. Die Dinge, von denen er schreibt, liegen weit zurück; die Zeit geht damals schnell, so daß auch die catijinarische Verschwörung, wiewohl erst fünfundzwanzig Jahre seither vergangen sind, jeden Aktualitätsreiz verloren hat, ist doch unterdessen Cäsars Alleinherrschaft gekommen und sein Tod — die Welt sieht zwar nicht besser, aber doch ganz anders aus. Sallust sieht aber das politische Geschehen der Vergangenheit durch die Brille, durch die er, solange er aktive Politik

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trieb, die Gegenwart ansah; er will nichts behaupten oder vertuschen, beschönigen oder verteidigen; er will Geschichte schreiben und mit dieser seiner Geschichte uns packen und erschüttern, wie er selber erschüttert ist. Das schließt nicht aus, daß er den Willen zur Objektivität hat: sein Standort im Bürgerkrieg, so verspricht er in den Historien (I, 6), soll ihn nicht von der Wahrheit ablenken. Seine Befangenheit hegt viel tiefer. Sie liegt in einem inneren Erlebnis, das von seinem äußeren Leben gänzlich unabhängig ist, auf alle Fälle nicht zu ihm parallel gehen muß. Dieses Erlebnis weiß er uns zu vermitteln ; durch die Lektüre seiner beiden Monographien wird es unser eigenes Erlebnis. Darum muß es unsere Aufgabe sein, herauszubringen, mit welchen Mitteln dies erreicht wird. E s ist zuerst einmal einfacher mit dem Ausschließungsverfahren zu arbeiten, d. h. zu sagen, worum es sich dabei nicht handeln kann. Sicherlich liegt keine faszinierende gedankliche Leistung vor. Wir empfangen von Sallust keine bedeutenden geschichtsphilosophischen Gesichtspunkte und erleben bei seiner Lektüre keinen denkerischen Prozeß mit, der uns wesentlich fördern könnte. Was Sallust an Ideen zu.bieten hat, ist an deT Grenze der Primitivität und Banalität. Das zeigt sich vor allem in den Einleitungen, die mit geschichtsphilosophischen Ansprüchen auftreten. Man tut ihnen aber zu viel Ehre an, wenn man in ihnen eine Weiterführung von Gedanken des Polybios oder Auseinandersetzung mit der Ideenwelt des Poseidonios sieht; andere wiederum wollten platonische Gedankengänge darin erkennen. Das ist insofern richtig, als die sallustischen Vorstellungen aus jenem großen Mischmasch stammen, das in der Nach-

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folge des platonischen Denkens im hellenistischen Griechenland jedem großen oder kleinen Schriftsteller zur freien Verfügung stand. Es ist auf jeden Fall griechisches Geistesgut; durch die pointierte Zuspitzung und durch die Verkleidung mit altlateinischen Sprachformen darf man sich daran nicht irre machen lassen. Es hat eigentlich nur eine gedanklich interessante Partie; das ist ein Exkurs über die verhängnisvolle Rolle des Volkstribunates: da die Übernahme dieses mit so gewaltigen Machtmitteln ausgestatteten Amtes an kein Alter gebunden ist (im Gegensatz zu den anderen wichtigen Magistraturen), so gibt es unreifen Elementen die Möglichkeit zu hemmungs- und bedenkenloser Politik in die Hand. Aber auch diese aufschlußreichen Ausführungen sind in ein moraltheoretisches Kapitel über den Übermut der Plebs eingebettet, das durchaus unrealen, schematischen Charakter hat. Das Wort schematisch charakterisiert überhaupt nicht nur die Ideenwelt Sallusts, sondern seine gesamte Darstellung. Und zwar durchaus in negativem, ungünstigem Sinn. Er arbeitet mit Schemen; kriegerische Ereignisse, Volksszenen, Versammlungen und Zusammenkünfte, menschliche Charaktere, alles wird in seiner Behandlung unreal; es hat weder den Reiz des Einmaligen, noch die Überlegenheit einer typischen, paradigmatischen Schilderung, wie wir sie bei Livius kennenlernen werden. Es ist Literatur, es steht auf dem Papier. Trotz aller letzten sprachlichen Vollkommenheit ist seine Darstellung nicht imstande, uns Bilder vor die Augen zu zaubern. Wir sehen die Dinge und die Menschen nicht, die Sallust beschreibt. Das will nicht heißen, daß er banal sei: er ist durchaus kein Rhetor; es will auch nicht heißen, daß

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er nicht eindrücklich sei; das Gegenteil ist, wie wir wissen, der Fall. Aber er formt nicht, er gestaltet nicht ; schon weil er kein Maß kennt und hemmungslos übertreibt. Und doch zwingt er den Leser zu leidenschaftlicher Reaktion. Das geschieht nicht sofort, sondern tritt erst im Laufe der Lektüre ein. Das Detail, aus dem Zusammenhang gerissen, wird man fast immer ablehnen; man wird es als blaß und unwirklich taxieren. Wie schematisch erscheinen doch in der Isolierung die geschichtlichen Überblicke, wie z. B. seine Vorgeschichte Roms (Cat. 5, 9 ff.): die Römer, die mehr durch Geben als durch Empfangen von Wohltaten sich Freundschaften verschaffen; der Senat Männer, deren Körper infolge des Alters schwach, deren Geist aber infolge ihrer Weisheit stark war; die Jungmannschaft, die ihre Lust mehr in schmucken Waffen und Pferden fand als bei Dirnen und in Gelagen. Es war darum solchen Männern keine Strapaze ungewohnt, kein Gelände zu unwegsam oder zu steil, kein Feind erregte ihre Furcht, die Tapferkeit war Herr über alles. Aber die entscheidendsten Kämpfe, die nämlich um den Ruhm, fanden zwischen ihnen selber statt; jeder drängte sich dazu, auf den Feind loszuschlagen, die Mauern zu ersteigen, gesehen zu werden bei einer solchen Tat; das hielten sie für Reichtum, das für Ruhm und Adel usw. Nicht minder naiv erscheinen uns, losgelöst aus ihrer Umgebung, Sallusts Anschauungen über politische Entwicklungsprozesse, etwa der Exkurs über das Parteiunwesen in Rom (Cat. 41). Das gleiche gilt für seine geschichtlichen Einzelschilderungen, auch sie sind unwirklich. Niemand wird ernsthaft glauben, daß sich in der Realität ein Vorgang tatsächlich so abspielen kann oder konnte wie Sallust es dar-

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stellt. Es sind Aneinanderreihungen von abgegriffenen Bestandteilen; die lehrhafte Eindeutigkeit scheint jede psychologische Vertiefung auszuschließen. Die reichen römischen Kameraden, die dem Jugurtha im Feldlager vor Numantia den Kopf verdrehen (Jug. 8), sind ebenso unwirklich wie die Beratung der feindlichen Brüder nach dem Tode des Micipsa (Jug. I i ) ; die Bestechungen des Jugurtha in Rom wirken mit einer so lächerlichen Promptheit und Sichtbarkeit, daß man an ein Märchenbuch erinnert wird: „Plötzlich wendete sich die Sache, und Jugurtha erfreute sich auf einmal, anstatt wie bisher allgemein verhaßt zu sein, der größten Sympathie der Nobilität: ex maxima invidia in gratiam et favorem nobilitatis venit" (Jug. 13). Wie schablonenhaft ist die Schilderung der Stimmung in Rom, nachdem die Gefahr, die von Seiten der Catilinarier drohte, ins allgemeine Bewußtsein getreten war (Cat. 31): „Dadurch war die Stadt endlich aufgeschreckt und ihr Antlitz geändert ; an Stelle der ausgelassenen Heiterkeit, die durch die lange Friedenszeit hervorgerufen worden war, hatte plötzlich allgemeine Trauer Platz gefaßt. Alles war in Bewegung und Aufregung; keinem Menschen und keinem Orte traute man. Es war weder Krieg noch Frieden; jeder maß die Gefahr an seiner Angst. Besonders zeichneten sich die Frauen aus, für die infolge der Größe des Reichs die Kriegssorge ungewohnt war: sie schlugen sich an die Brüste, hoben flehend die Hände zum Himmel, beklagten ihre unmündigen Kinder, stellten ununterbrochen Fragen, zitterten vor Furcht, vergaßen all ihren Hochmut und ihr luxuriöses Leben und verzweifelten an des Staates und ihrer eigenen Rettung." Nicht anders steht es mit der Charakteristik der ein-

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zelnen handelnden Personen. Keine von ihnen steht lebendig vor einem, wie dies bei den taciteischen Figuren der Fall sein wird, ja sogar bei Livius, weder Catilina, noch Jugurtha, noch Marius oder Sulla, Cäsar oder Cato, trotz allem Aufwand an charakterisierenden Worten. Sie bleiben Zusammensetzungen aus einzelnen Zügen und Merkmalen; sie werden kein Ganzes, nehmen nicht Fleisch und Blut an. Auch sie sind Schemen. Nahmen wir als Beispiel eine Nebenfigur, die Sempronia aus der catilinarischen Verschwörung (25), „die so oft viele Taten männlicher Kühnheit getan hatte. Diese Frau hatte das Glück, aus guter Familie zu stammen, schön zu sein, außerdem einen Mann und Kinder zu haben; sie war in griechischer und lateinischer Literatur wohl bewandert, musizierte, tanzte — besser als es für eine anständige Frau nötig ist, trieb noch vieles andere, was zu einem luxuriösen Leben gehört. Aber immer war ihr alles andere mehr wert als Zucht und Sitte; es wäre schwer zu sagen gewesen, ob sie leichtfertiger mit Geld oder mit ihrem Ruf umging. Sie war so mannstoll, daß sie häufiger Männer verführte als daß sie von ihnen verführt wurde. Schon oft hatte sie ihr Wort gebrochen, anvertrautes Gut abgeleugnet, war sie Mitwisserin bei Morden gewesen. Verschwendung und Geldmangel hatten sie in den Abgrund getrieben. Dabei war sie aber außergewöhnlich begabt, sie konnte hübsche Verse machen, scherzen, anständig oder verführerisch oder schamlos plaudern; mit einem Wort: sie war voller Schelmerei und voll Humor." Man fühlt die große Anstrengung; sie führt aber eigentlich nur zu Wiederholungen. Der Begriff der eleganten Verbrecherin wird abgewandelt ohne irgendeinen individuellen Beisatz. Man merkt es,

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daß dem Sallust komplizierte Charaktere nicht liegen. Er hat sie gern eindeutig, da er sie nur als Farbtöne im Gesamtbild seines Buches sieht und gestaltet. Daß er ein paarmal in überraschender Wendung die Gradlinigkeit eines solchen Porträts bricht, ist eine Sache für sich, von der wir noch zu sprechen haben werden. Aber im großen und ganzen kennt er nur affektbetonte, von Sympathie oder in der überwiegenden Zahl der Fälle von Antipathie geleitete und gleiche Stimmung auslösende Charakteristiken. Die letzteren überwiegen durchaus. Ihr Meistervertreter ist Catilina. Mutet es nicht leicht kindlich an, daß diesem großen Revolutionär das böse Gewissen über die Ermordung seines Stiefsohnes den Geist zerrüttet haben soll, so daß er nicht schlafen kann und darum auf so üble Gedanken wie eine Verschwörung kommt (15, 4) ? Komplizierten Erscheinungen, wie etwa dem großen Vertreter der Nobilität, dem princeps senatus Aemilius Scaurus, ist Sallust vollends nicht gewachsen : daß der sittenstrenge Mann sich doch der Bestechung zugänglich erwiesen haben soll, bleibt völlig unverständlich. Die Vereinigung zweier Charaktere in einem Menschen, die Sallust gerne glaubwürdig machen würde, kann er nicht anders darstellen als daß er ihn aus Schlauheit sein wahres Wesen verbergen und aus Schlauheit sich von Begierden fernhalten läßt (Jug. 15 und 29). Es ist fast selbstverständlich, daß solcher Schematismus und solch mangelndes Realitätsgefühl auch geneigt sind, die historische Wahrheit zu vergewaltigen. Und in der Tat hat Sallust kein Organ für die Exaktheit, die einmaliges historisches Geschehen erfordert. Darum fehlt auch jede kritische Einstellung zur Tradition und zu den

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Quellen. Einmal polemisiert er gegen das Sullabild eines anderen Historikers (Sisenna), das er als politisch befangen ablehnt (Jug. 95, 2), einmal zitiert er das Werk eines Numidiers über Afrika. Sonst weist er auf die Überlieferung nur hin, wenn sie psychologisch Unwahrscheinliches berichtet, um der Verantwortung für die Nachricht enthoben zu sein. Wie früher bei Herodot und später bei Tacitus hat man bei ihm den Eindruck, daß es ihm wichtiger ist, die Sache gesagt als ihre Unsicherheit festgestellt zu haben. So, wenn er über Crassus' Beteiligung an der Verschwörung spricht (17, 7) oder von einer Intrige Ciceros gegen Crassus, die er auf eigene Aussagen des Crassus in seiner, Sallusts, Gegenwart basiert (48). Differenzen der Tradition werden sonst kaum erwähnt. Nur einmal wird von verschiedenen Deutungen gesprochen, die das Verhalten des Metellus gefunden habe als er die Nachricht empfängt, daß sein Untergebener Marius, den er als politischen Gegner nicht ernst nehmen wollte, Consul und sein Nachfolger im Oberkommando gegen Jugurtha geworden sei (82). Diese Feststellungen reihen Sallust mit seiner geschichtlichen Darstellungsform in die Linie der griechischen Historiker ein. Er ist nur insoweit Historiker als sie es sind — natürlich immer von Polybios abgesehen. Das ist nun aber von höchster Wichtigkeit; es ist entscheidender als alle gedankliche Abhängigkeit von Griechen oder Römern. Sein Wille und sein Ziel lassen sich nur innerhalb der Traditionen der griechischen Historiographie verstehen; darin liegt seine Gebundenheit, aber auch innerhalb der Gebundenheit wiederum seine individuelle Leistung. In dieser Richtung liegt auch seine

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ausschlaggebende, führende Rolle für die römische Geschichtsschreibung. Aber es ist kein geschichtsphilosophisches Programm, überhaupt nichts rational von ihm Erfaßtes und für uns deshalb rational Erfaßbares, das er übernahm, verarbeitete und wirkend weiterleitete; es ist ein künstlerischer Wille, gebannt in die Dynamik eines Geschichtswerkes. Wir werden uns darum nicht wundern, wenn wir die äußerlichen Eigentümlichkeiten der griechischen Historiographie, die wir in den Zufälligkeiten ihrer Genesis beobachtet haben, bei ihm vollzählig wiederfinden. Sallust ist, um das Wichtigste zu nennen, obgleich es begreiflicherweise nicht in den Monographien, sondern nur in den Historien in Erscheinung tritt, Annalist wieThukydides, Livius, Tacitus. E r fügt seinem Werk erfundene Reden und Briefe ein; sogar aus den Historien sind davon eine Anzahl losgelöst aus dem Zusammenhang und als selbständige literarische Schöpfungen empfunden, uns erhalten geblieben. Als Erbe der herodoteischen Tradition fehlen auch die Exkurse nicht; Exkurse geographischer Natur über Sizilien, über Sardinien, über den Pontus besitzen wir in Spuren aus den Historien; ähnlich sind die über Afrika im Jugurtha (17) und über den Grenzstreit zwischen Karthago und Kyrene (79), mit der Einleitung: „Aber weil wir um der Angelegenheit der Stadt Leptis willen in diese Gegenden gekommen sind, scheint es uns nicht unangebracht, die bedeutende und erstaunliche Tat zweier Karthager zu erzählen" und mit dem Schluß: „ J e t z t kehre ich zu meinem Thema zurück." Andere Exkurse gelten historischen und geschichtsphilosophischen Fragen, z. B. der schon genannte über die Parteien (Jug. 41/42), der folgendermaßen

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schließt: „Aber wenn ich über das Parteiwesen und die politischen Sitten detailliert oder der Größe des Problems entsprechend handeln wollte, würde die Zeit eher ausgehen als der Stoff. Darum kehre ich zu meinem Hauptthema zurück1" oder derjenige über Sulla, mit dem Anfang: „Aber weil der Zusammenhang uns auf diesen bedeutenden Mann brachte, scheint es mir passend zu sein, über sein Wesen und seine Haltung einiges zusagen" (Jug. 95, 2). Bezeichnend für die Selbstverständlichkeit der Exkursform ist, daß sogar Reden als Exkurse aufgezogen werden wie diejenige des Memmius im Jugurtha (30, 4): „Aber weil zu jener Zeit die Beredsamkeit des Memmius in Rom berühmt und erfolgreich war, glaube ich, daß es am Platz ist, eine aus der großen Zahl seiner Reden wiederzugeben" und daß sich im gleichen Werk sogar die Einleitung in die Form eines Exkurses hüllt, wie der Schlußsatz derselben verrät: „Ich habe mich allzuweit hinreißen lassen, da ich den politischen Zustand unseres Staates bedaure und mich dessen schäme. Jetzt kehre ich zu meinem Vorhaben zurück." Das spezielle griechische Vorbild des Sallust ist aber ohne allen Zweifel Thukydides. Man kann diese Nachfolge, wie wir gleich sehen werden, nicht ernst genug nehmen; sie drängt sich aber auch schon bei oberflächlicher Betrachtung auf. Abgesehen davon, daß alle oben angeführten historiographischen Eigentümlichkeiten mit der thukydideischen Art ihrer Handhabung identisch sind, so ist auch Sallusts Stil im engeren Sinn eine Imitation des thukydideischen. Seine pointierte, mit allen rhetorischen Klang- und Spielmitteln arbeitende und dabei sie doch immer wieder aufhebende und preisgebende Manier erhebt den Anspruch, dem Stil des

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Thukydides zu entsprechen; und in der Tat ist auch, soweit dies mit ganz anderen sprachlichen Voraussetzungen möglich ist, dessen gequälte Künstlichkeit getroffen, und damit eine Ausdrucksform für die lateinische Geschichtsschreibung inauguriert, die in Tacitus weitergeführt wird und sich in ihm vollendet. Sallust hat sich freilich nach römischen Stilvorbildern umgesehen, die ihm die Mittel zu diesem stilistischen Unternehmen liefern sollen; er findet sie in der Sprache des älteren Cato, den er den beredtesten aller Römer nennt (Hist. I, 4) und wegen seiner Prägnanz bewundert, wenn er auch gegen seine Glaubwürdigkeit mißtrauisch ist (Hist. I, 5). Auf den ersten Blick mag dies erstaunen, daß man Thukydides mit der sprachlichen Hilfe des Cato nachahmen kann, aber es läßt sich nicht leugnen, daß die lateinische Diktion des zweiten Jahrhunderts v. Chr. der Stilrichtung der griechischen Sophisten und speziell des Thukydides näher steht als das klassische Latein: Sallust verläßt also bewußt, um sein Nachahmungsziel zu erreichen, die Stiltendenzen seiner Zeit, z. B. des Cicero, aber auch der jüngeren Generation, seiner eigentlichen Altersgenossen. Darum der leichte archaische Schimmer, der stärker auffällt als er es zu tun verdient, da er im Dienste einer höheren Absicht steht. Die Hauptsache ist eben die Thukydidesnachahmung und diese wiederum beschränkt sich nicht auf den Stil im engeren Sinn; für Sallust ist dieser nur Mittel und Ausdruck eines viel tiefergehenden Vorganges. Eines der Mittel neben anderen. Ein anderes ist die ohne Unterlaß zur Schau getragene Neutralität des historischen Standpunktes. Wir haben im Thukydideskapitel gesehen, wie

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zentral diese Objektivität für Thukydides ist, aber auch mit welchen inneren Schmerzen sie erkämpft sein muß, und wie die Schmerzhaftigkeit dieses Vorganges sich in jeder Faser seines Werkes ausdrückt; wie sie von innen her seine Form, seinen Stil, seine Unruhe bestimmt, und wie seine Wirkung und seine Größe auf diesem Kampfe beruhen. Dieses Erlebnis ahmt nun Sallust nach, ohne es selber erlebt und durchgemacht zu haben. Ihm ist es nur Stilmittel, nur Werkzeug künstlerischer Wirkung. Er ist nichts weniger als frei von politischer Leidenschaft und von der Einseitigkeit und der Borniertheit des Parteimannes; im Gegenteil: er ist in gewisser Hinsicht so vollständig von ihr ausgebrannt, daß es, wie wir noch erkennen werden, an die Grenze eines pathologischen Zustandes geht. Aber er verbirgt diese seine leidenschaftliche Voreingenommenheit. Er tut das aber nicht um der wissenschaftlichen Objektivität willen, noch weniger freilich, weil er verborgene Propaganda machen will und weil er sich gleichsam unter falscher Fahne in das Vertrauen seines Lesers einschleichen möchte. Er tut es ausschließlich um der künstlerischen Wirkung willen: die politische Neutralität ist ihm Stil. Die Verzweiflung des Thukydides wird von Sallust zu ästhetischen Zwecken mißbraucht und verliert auch jetzt ihre Ansteckungskraft nicht. Oder gewinnt gerade durch den immanenten Widerspruch zwischen psychischer Grundlage und stilistischem Mittel eine neue Wirkung. Gerade weil das Wesen des Schreibers und die Ansprüche seines Stils — das Wort nun im weitesten Sinn genommen — auseinanderklaffen und doch gewaltsam zusammengeschweißt sind, entsteht ein unheimliches Ganzes; es wird aus dem geschichtlichen Stoff ein Erlebnis geschaf-

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fen, dem sich kein Leser entziehen kann, ohne es in irgendeiner Weise nachzuerleben. Dieses Erlebnis ist pathologisch, und damit ist die Lektüre des Sallust sicherlich immer qualvoll; viel qualvoller als diejenige des Thukydides, hinter der auch ein großes Leiden steht, aber eines, mit dem der Schriftsteller fertig wurde. Bei ihm erfüllt uns letzte Bewunderung für die Größe und Reinheit seines inneren Kampfes; bei Sallust werden wir zwischen Bewunderung und Grauen hin- und hergerissen, weil wir den Riß, der durch das Erlebnis des Schriftstellers geht, nie auch nur einen Augenblick vergessen können. Wir haben nie den rechten Glauben an ihn; aber er läßt uns doch nicht los; immer interessiert er uns wieder, fasziniert er uns von neuem. Trotz allem unserem Widerstand verfallen wir ihm und werden wir gezwungen, die Geschichte und die Welt mit seinen kranken Augen anzusehen, weil das künstlerische Erlebnis, das er uns vermittelt, stärker ist als alles, was uns abstoßen könnte. Psychologisch betrachtet sieht das Erlebnis des Sallustlesers folgendermaßen aus: er wird durch die intensive Darstellung in einer ganz bestimmten Richtung mit aller seiner Sympathie und Antipathie gedrängt; er schwingt mit einer Partei oder einer Figur in steigender Neigung mit; dann aber, in einem bestimmten Augenblick, wird er durch plötzlich gewechselte Stellungnahme oder unerwartete Kälte, Unfreundlichkeit, Kritik vollständig überrascht, in der Gradlinigkeit seiner Gefühle verstört und unsicher gemacht; gleichsam als einfältig Gläubiger bloßgestellt und ausgelacht. Diese Technik beherrscht manchmal größere Einheiten, manchmal auch schon den Klein-

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raum eines Kapitels: die Technik des Ganzen wiederholt sich in seinen Teilen. Namentlich im Jugurtha werden wir durch den ersten Teil, die Charakterisierung des Jugurtha, seiner Energie und Genügsamkeit, durch das Unrecht, das ihm unverkennbar von seinen Brüdern angetan wird, auf ihn als Helden eingestellt; wir fühlen aus der Darstellung heraus — und fühlen es mit Grund — , daß sein Kampf gegen die römische Nobilität, in dem diese so jämmerlich versagt, die ganze Sympathie des Schriftstellers für sich hat, daß dieser Kampf ein Symbol für den gerechten und siegessicheren Kampf der Opposition in Rom, zu der auch Sallust gehört, gegen die regierende Kaste ist. Auf einmal aber, nachdem man gefühlsmäßig weit in dieser Richtung vorgestoßen ist, ändert sich das Bild des Jugurtha; er erscheint als skrupelloser, verlogener, schamloser Schurke. Nicht anders, nur mit umgekehrter Tendenz, geht es mit den inneren Angelegenheiten Roms. Unsere Empörung über die Korruption der führenden Kreise wird systematisch bis zur Siedehitze gesteigert; als dann durch das Vorgehen des Volkstribunen Mamilius Limetanus eine StrafUntersuchung gegen diese niederträchtigen Verräter eingeleitet wird, und wir darüber aufatmen zu dürfen glauben, daß endlich etwas geschieht, wie dann auch die Plebs diese Strafverfolgung mit höchster Freude begrüßt, fährt der Schriftsteller fort: „Das geschah mehr aus Haß gegen die Nobilität als aus Fürsorge für den Staat: solche Leidenschaft herrschte bei den Parteien!" (40, 4) und etwas später äußert er sich weiter in diesem Sinne: „wie häufig die Nobilität, so hatte jetzt die Plebs infolge der für sie vorteilhaften Umstände hemmungsloser Übermut erfaßt" (40, 5). Als weiteres

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Beispiel für diese Verblüffungstechnik sei der Abschluß des Kampfes gegen Jugurtha, das zweitletzte Kapitel der Monographie, angeführt: als die doch mit größter Spannung seit langem erwartete Gefangennahme des Jugurtha endlich gelingt, wird, was nun folgt, in einem einzigen kurzen Sätzchen erzählt, als ob es sich um die letzte Bagatelle handelte: „Die übrigen werden getötet, Jugurtha wird in Ketten gelegt dem Sulla ausgeliefert und von ihm zu Marius geführt" ( 1 1 3 , 7). Im Catilina ist die Bewegung umgekehrt: der absolute Verbrecher, als welcher Catilina nebst der Schar seiner Strauchritter und Helfershelfer im ersten Teil des Werkes erscheint, nimmt mit diesen zusammen in der zweiten Hälfte heldische Züge an; die Treue des Zusammenhaltens, die Tapferkeit und Unerschrockenheit des Widerstandes, der keine Kapitulation kennt, finden warme Anerkennung. E s wäre falsch, darin soziales Verständnis oder wirkliche Sympathie für unglückliche Opfer gesellschaftlicher Zustände zu sehen; es ist ausschließlich ein dynamisches Mittel, um unsere Spannung zu leiten, und zwar so zu leiten, daß wir zu unserer Beschämung und peinlichen Überraschung auf eine kühle, unbeteiligte Neutralität stoßen, nachdem vorher alles getan worden war, uns aufzupeitschen und zu leidenschaftlicher Stellungnahme zu nötigen. Der Wendepunkt sind die Reden Cäsars und Catos, denen gegenüber uns Sallust bewußt ohne Führung und Beeinflussung läßt, auf die wir nach dem Vorausgehenden das Recht zu haben glauben. Dieses Spiel mit unserem Gefühl wiederholt sich häufig auch im kleinen, wie denn die Unstimmigkeit des Satzbaues ihr extremer Reflex im allerkleinsten Räume

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ist. Es ist jenes Stilmittel historischer Darstellung, das dann Tacitus von Sallust übernimmt und mit größerer Konsequenz und Ausdauer ausbaut. Erst Tacitus erreicht darin die volle Meisterschaft, namentlich in den Charakteristiken einzelner Persönlichkeiten; er erst bringt jenes irritierende Zurückhalten des Lobes oder jene plötzliche Umbrechung der Gefühlsrichtung zur Vollendung; Sallust ist darin noch ein Anfänger. Aber an einzelnen Stellen wie etwa dem Bild des Pompeius in den Historien oder dem Metellus des Jugurtha hat er damit bereits beträchtlichen Erfolg. Wenn man das bedenkt, so weiß man, daß er das Bild Ciceros im Catilina ganz positiv wertet, von dem viele den Verdacht hatten, es spreche sich darin eine verhaltene Abneigung aus. Das ist das Thukydideische in Sallust. Aber, wie gesagt, es ist nicht echt; es ist nur aufgesetzt. Es wird von der eigentlichen sallustischen Leidenschaft durchkreuzt; diese Leidenschaft ist nicht überwunden, sondern nur leicht überdeckt. Überall tritt sie durch die Decke heraus; überall spürt man die Erregung des Parteimannes. Immer von neuem werden wir gegen die regierende Klasse aufgehetzt; aber eigentlich in erster und fast ausschließlicher Weise gegen eine Eigenschaft derselben. Diese wird völlig ins Zentrum gerückt und verdrängt alle anderen Verbrechen und Laster der Nobilität: es ist die av a ri t i a, die Habsucht, in ihren vielen Erscheinungsformen der Ausbeutung der Untertanen und der schamlosen Bereicherung, oft, aber nicht notwendigerweise verbunden, namentlich im Bild der jüngeren Glieder der herrschenden Klasse, mit l u x u r i a , Ausschweifung und sinnlosem Aufwand; luxuria und avaritia nennt er die schlimmsten Laster (Cat. 5, 8); die

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von der avaritia Befallenen kommen dazu, mit allen ehrenhaften und unehrenhaften Dingen ein Geschäft zu machen: omnia honesta atque inhonesta vendere wie er sich mit der gleichen Formulierung im Catilina (30, 4) und im Jugurtha (80, 5) ausdrückt. Daneben spielt die Ambitio, der Ehrgeiz, der dann bei Tacitus das alles beherrschende Element ist, das seinem Werk eigentlich den Stempel gibt, eine sehr sekundäre Rolle; sie kann schon deshalb die Konkurrenz mit der Habsucht nicht aufnehmen, „weil dieses Laster doch noch einer Tugend näher steht" (Cat. xo, 6). Durch beide Monographien und offenbar auch die Historien zieht sich das Entsetzen über dieses Laster, das „Treue, Rechtschaffenheit und alle übrigen guten Eigenschaften über den Haufen wirft und an deren Stelle Hochmut, Grausamkeit, Götterverachtung lehrt und die Bereitschaft, alles zu verkaufen" (Cat. 10, 4). Die römische jeunesse dorée bringt dem Jugurtha bei, daß in Rom alles zu kaufen sei ( Jug. 8) ; die avaritia ist die Ursache aller inneren Wirren Roms (Jug. 41,10) ; sie verdirbt zuletzt auch an und für sich rechte Männer wie Aemilius Scaurus oder wie jenen Calpurnius, „der viele gute körperliche und geistige Eigenschaften hat, die aber alle die Habsucht zunichte machte" (Jug. 28, 5); sie verdirbt auch die Parteien, deren Ehre um des Gewinnes willen preisgegeben ist (Hist. I, 13); der Historiker deckt sich in diesen Gedanken mit dem Politiker Sallust. Auch dem Verfasser des zweiten Sendschreibens an Cäsar ist der Reichtum schuld an allen Übeln; darum empfiehlt die Schrift die Beseitigung der Wucherer, die erreichen soll, daß die Beamten ihre Ämter für das Volk, nicht für ihre Gläubiger führen (1, 5).

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Wie eine Besessenheit geht dieser Verzweiflungsschrei durch das ganze Werk des Sallust; niemand kann deshalb daran gehindert werden, darin einen psychischen Komplex zu sehen, ihn in Zusammenhang zu bringen mit dem, was wir über Sallusts Leben wissen. Die Sünde, die er anklagt, liegt nicht außerhalb, sondern in ihm selber. Er glaubt oder hofft sie zu verdecken mit der von uns geschilderten Objektivität, die ihn zu brutalen Maßregelungen des Lesers führt; das gibt die unheimliche, beunruhigende Wirkung seines Werkes. Sein Stempel, sein Unverkennbares und Individuelles, sein Kunstcharakter liegt in dieser Vereinigung der unvereinbaren Elemente.

LIVIUS Titus Livius, geboren in Padua 59 v. Chr., gestorben ebendort 17 n. Chr. Hauptwerk: „ A b urbe condita" in 142 Büchern. E s reicht zeitlich von der Gründung Roms bis zum Tode des Drusus (9 v. Chr.). Livius schrieb über 40 Jahre daran; Teile wurden bekannt durch Vorlesungen und Sonderpublikationen. Einteilung in Dekaden (10 Bücher) teilweise spürbar. Erhalten sind die Bücher I — X (voi\ Anfang bis 293); X X I — X L V (vom Hannibalischen Krieg bis zur Schlacht bei Pydna 168). Über den Inhalt der verlorenen Bücher sind wir durch erhaltene Inhaltsangaben (Periochae) unterrichtet. Man hat sich lange in der Beurteilung des Livius bei den Dingen aufgehalten und an ihnen Anstoß genommen, sie als für ihn charakteristisch angesehen, die er mit der ganzen antiken Geschichtsschreibung teilt; man interessierte sich nur für ihn als Quelle, nicht für ihn selber. Wären die Anschauungen über die kritischen A n forderungen an den Geschichtsschreiber entscheidend, seine Stellung zu den von ihm ausgeschriebenen Vorgängern, zum Begriff der Wahrheit, so müßte das Werk des Livius ähnlich aussehen wie das des Herodot. Auch Livius will scheinbar nichts anderes als wiedergeben, was seine Quellen berichten. Es wäre ihm peinlich, den Eindruck zu erwecken, als versage er einer derselben den Glauben — darum berichtet er, was sie erzählen, auch wenn es ihm gegen den Strich geht, und wenn außerdem

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nur ein Teil seiner Gewährsmänner davon weiß, „um keinem derselben den Glauben zu versagen" (VIII, 18). Normalerweise nimmt er, wie man erkannt hat, e i n e n Darsteller als Grundlage; wird an wichtigen Stellen der Gegensatz zu anderen, die die gleiche Zeit schildern, zu gravierend, stellt er, entweder aufgebracht oder auch belustigt, diesen Widerspruch fest. So hat er kurz nach der angeführten Stelle eine Geschichte zu berichten, die ihm sehr am Herzen liegt, handelt es sich doch um die Handhabung absoluter Disziplin im alten Rom. Der magister equitum Q. Fabius hat sich gegen den strikten Befehl seines Diktators im Jahr 325 in eine Schlacht eingelassen und — einen glänzenden Sieg erfochten. Betrübt stellt nun Livius fest, bevor er mit der Erzählung weiterfährt, daß die einen seiner Quellen von zwei solch erfolgreichen Schlachten in des Diktators Abwesenheit wüßten; bei den ältesten Gewährsmännern werde nur ein Kampf erwähnt; ,,in gewissen Annalen ist die ganze Sache überhaupt übergangen" (VIII, 30, 7). Eine ehrliche Empörung flammt nicht selten in ihm auf über die ungeheuerlichen Differenzen in Zahlenangaben. 300 oder 3724 spanische Geiseln werden von Scipio im eroberten Neukarthago gefunden; die punische Garnison der Stadt bestand aus 10 000 oder 7000 oder nicht mehr als 2000 Mann; gefangen genommen wurden 10 000 oder über 25 000; erbeutet an großen und kleinen Schleudermaschinen 60, nach einem anderen Gewährsmann 6000 größere und 13 000 kleinere; nach dem einen war Kommandant der römischen Flotte Scipios Freund Lälius, nach anderen Marcus Junius Silanus; Kommandant der punischen Besatzung Arines, nach anderen Mago. Ebensowenig stimmen die Angaben über die erbeuteten

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Schiffe, über das erbeutete Gold, Silber und gemünzte Geld überein. „Wenn man sich für etwas entscheiden muß, so kommen die Mittelwerte der Wahrheit am nächsten" ( X X V I , 49). Anderswo gibt er seinem Erstaunen Ausdruck, daß weder über Art noch Ort des Todes des römischen Feldherrn Tiberius Gracchus eine Übereinstimmung der Angaben besteht, wo doch der Mann so berühmt und hervorragend war ( X X V , 17, 3). Wozu seine Kritik sich aufschwingt, ist „sich zu wundern, daß so große Differenzen zwischen den Historikern bestehen", nicht aber „zu entscheiden, was Wahrheit ist" ( X X I I , 61, 10). Natürlich liegt auch ihm in primitiver Weise daran zu erzählen, was wirklich geschehen ist, und hie und da lehnt er Überlieferungen ab, weil sie ihm als erlogen vorkommen. E r will nicht, daß etwas „ex vano auctum", aufgebauscht, werde, „wozu die Schriftsteller nur allzusehr neigen" ( X X I I , 7, 4). So sehr er sonst aiuf Prodigien und Wunder erpicht ist (vgl. etwa X L I , 14, 1 5 und 18), so wehrt er sich doch gegen Übertreibungen, die eher für ein wundersüchtiges Theaterpublikum passen und unwahrscheinlich sind (V, 2 1 , 9). In einzelnen Fällen durchschaut er auch die psychologischen Hintergründe von Geschichtsfälschungen; vor allem ist es Familienehrgeiz, der z. B. den Annalisten Licinius Macer veranlaßt, einem Angehörigen seines Geschlechtes besondere Leistungen zuzuschreiben (VII, 9, 4), oder der eine der wichtigsten Quellen seiner Gewährsmänner, die laudationes funebres zu so dubiösen Produkten macht (VIII, 40, 4). Einmal glaubt er auch aus der großen Ähnlichkeit einer ihm überlieferten Erzählung mit einer früher gebrachten diese als Dublette erkennen zu dürfen und scheut sich

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deshalb, sie als wahr zu anerkennen ( X X I I I , 6, 8). Meistens ist aber seine Kritik mehr ästhetischer oder moralischer Natur: eine bestimmte Version gefällt ihm ihrem Gehalt nach besser als eine andere; z. B. erzählt er uns, daß der Consul Publius Scipio in der Schlacht am Tessin gegen Hannibal von seinem jugendlichen Sohn, dem späteren großen Scipio Africanus („dem der Ruhm der Beendigung dieses Krieges zukommt"), aus Todesgefahr gerettet wurde. In reizender Harmlosigkeit fährt er fort: Der Annalist Cölius Antipater schreibt die Rettung einem ligurischen Sklaven zu; „mir wäre es sehr lieb, wenn die Geschichte mit dem Sohne wahr wäre" ( X X I , 46, 10). In solchen Äußerungen enthüllt sich das naive Wirkungsbedürfnis dieser Geschichtsschreibung, der ganzen römischen historiographischen Tradition der republikanischen Zeit, in der Livius drinsteckt und deren Endpunkt, ja Sammellinse er bedeutet, nur dem Grade nach von seinen Vorgängern verschieden, die ihrerseits in griechischer und speziell hellenistischer Tradition verankert sind, welch letztere die Geschichtsschreibung handhabt ähnlich der Kunst, eine Tragödie zu schreiben. Selbstverständlich malt er mit uneingeschränkter Phantasie die ihm überlieferten Situationen aus, mit Effekten und Glanzlichtern, mit Reden und seelischen Konflikten, besonders aber auch mit Herausarbeitung der inneren und äußeren Haltung, die Römern nach seiner Meinung ansteht. Aber im Vergleich mit seinen Vorgängern hält er sich von völlig freier Erfindung ganzer Episoden römischer Geschichte fern, in der jene schwelgten, als sie die Gerippe der Ämterlisten und anderer trockener Überlieferungen mit Fleisch und Blut füllten. Selbst

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unserem Livius wird die Tatsache dieser schöpferischen Abundanz in seinen Quellen nicht ganz entgangen sein. So, wenn er die Überfahrt des älteren Scipio nach Afrika „entsprechend den Berichten sehr vieler griechischen und lateinischen Schriftsteller" schildert, die ihn unter den vorteilhaftesten Umständen, gleichsam von den Göttern begünstigt, diese vollziehen lassen, dann aber hinzufügen muß, daß der Historiker Cölius Antipater die Flotte des Scipio in einen furchtbaren Sturm geraten läßt, so daß zuletzt seine Soldaten nicht anders als Schiffbrüchige, aller Waffen beraubt, in größter Verwirrung, mittels der Rettungsboote an der karthagischen Küste landen (XXIX, 27, 13). Beide Situationen sind dramatisch verwendbare und mögliche Vorstufen eines die Weltgeschichte entscheidenden Ereignisses. Ein nicht minder deutliches Beispiel, das freilich kein wichtiges historisches Geschehnis betrifft, liegt XXXIII, 19, 17 vor: die Besatzung von Casilinum hat sich an Hannibal ergeben auf Grund einer Abmachung, nach der die freien Bürger der Stadt für eine bestimmte Summe losgekauft werden konnten; Hannibal versteht sich zu diesem bei ihm ungewohnten Entgegenkommen, weil es ihm um rasches Vorwärtskommen zu tun ist. Er hält sich völlig korrekt an den Vertrag und läßt die Gefangenen nach Eingang des Lösegeldes frei. Dazu fügt Livius hinzu: „Das entspricht eher der Wahrheit, als daß er Reiter auf die Abziehenden habe einhauen und sie töten lassen." Offenbar konnte es sich eine seiner Quellen nicht versagen, die sprichwörtliche Perfidie der Punier und speziell Hannibals auch hier in Erscheinung treten zu lassen. Das historische Arbeiten dieser Leute vollzieht sich

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mit festem, in seiner Wirkung genau abgestimmtem Szenenmaterial; im Vergleich dazu ist Livius zurückhaltend zu nennen; er benutzt im großen lediglich — freilich kritiklos, oder zum mindesten kritikarm — die Erfindungen seiner Vorgänger. Aber dieser Unterschied ist ihm nicht wesentlich, denn es ist Nebenwerk seiner Aufgabe, denn, so erklärt er: „Solche Behauptungen (es ist die Rede von Roms Gründungsgeschichte) und weitere ihnen ähnliche, wie immer man es mit ihnen halten und wie weit man ihnen Glauben schenken will, werde ich nicht für wichtig ansehen" (Vorwort 6). E r weiß ja, daß dem Historiker nachsichtig zugestanden wird, durch Mischung von Geschichte und Mythus die Urgeschichte der Städte erhabener zu machen. Das Entscheidende ist die Wirkung auf die Gegenwart. „Man kann daraus für sich und für sein Land Vorbilder beziehen, nicht minder aber auch lernen, welche im Werden oder im Erfolg unschönen Dinge man meiden muß" (ebenda 10). Das alles könnte bei jedem antiken Historiker stehen; herodoteisch ist aber auch das Gefühl des Livius für die Pflicht des Geschichtsschreibers, edle Taten nicht untergehen zu lassen. So nennt er pietätvoll die Namen der einzelnen Bundesgenossen, die in schwerster Zeit dem römischen Volk die Treue hielten, „damit sie selbst nach so langer Zeit nicht verschwiegen und um die ihnen gebührende Ehre betrogen werden" ( X X V I I , 10, 7). Auch in formaler Hinsicht bestätigt sich die Zugehörigkeit zur allgemeinen Gesetzmäßigkeit antiker Geschichtsschreibung. E s sind sogar Rudimente von E x kursen vorhanden; sie bestätigen die Konstanz der Tradition, in ihrem Ausnahmecharakter deuten sie gleich-

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zeitig aber auch wieder an, daß das künstlerische Prinzip und die Methode des livianischen Werkes eigengesetzlich ist. Aber immerhin: sie sind da: „ E s lohnt sich, so kommt es mir vor, eine kleine Abschweifung, um die Vorgeschichte des Massinissa zu erzählen" ( X X I X , 29, 5). Ein Exkurs ist dem Problem gewidmet, wie es Rom ergangen wäre, wenn es sich mit Alexander dem Großen hätte messen müssen; ein Einschiebsel völlig herodoteischer Natur ist jene breite Schilderung der Intrigen am mazedonischen Hof, die zur Ermordung des Prinzen Demetrius durch seinen Bruder, den späteren König Perseus, führen (im X V . Buch). Antiquarische, ja sogar geographische Exkurse sind nicht selten; die letzteren werden in den uns verlorenen späteren Büchern, die Epochen gewidmet sind, in denen Rom in unbekannte Welten vorstieß, noch viel häufiger vorgekommen sein; die Existenz eines Germanenexkurses können wir den Periochae entnehmen. Die bisherigen Feststellungen haben uns lediglich erwiesen, daß sich Livius in seinem Verhältnis zum geschichtlichen Objekt in nichts von den griechischen Historikern unterscheidet. Dafür aber ist die Gegenwart, aus der heraus er schreibt, eine ganz andere als sie es für irgendeinen Griechen wäre, selbst wenn er des Livius Zeitgenosse sein sollte. Ich spiele damit weniger auf die bekannte und für denjenigen wichtige Tatsache an, der Livius als Quelle benutzen will, daß er (und übrigens schon seine Gewährsmänner, die Annalisten) die staatsrechtlichen und politischen Gegebenheiten seiner Zeit auf die Vergangenheit überträgt, daß er die Schlagwörter der politischen Diskussion des ersten Jahrhunderts in das fünfte und vierte zurückprojiziert, den

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Ständekampf nach dem Bild der gracchischen und nachgracchischen Wirren gestaltet, im Jahre 403 von der concordia ordinum, einem Modewort der ciceronianischen Epoche, sprechen läßt (V, 3, 5) u. ä. m. Für uns wichtiger ist der unverkennbare Pessimismus und die Verzweiflung an der Gegenwart, die aus zahlreichen Stellen spricht. Reichtum und Luxus sind das Charakteristikum der Jetztzeit (IV, 25, 9), dem Reichtum gegenüber wird die Tugend gering geachtet (III, 26, 7), modestia, aequitas und altitudo animi, die in der Vorzeit das ganze Volk ausgezeichnet haben — wo könnte man sie jetzt auch nur in einem Einzelnen finden? (IV, 6, 12). Damals genügte es, wenn ein Gesetz eine Handlung mit dem Wort „improbe factum" ohne weitere Sanktionen verurteilte; jetzt könnte niemand ernsthaft auf solche Weise von einem Verbrechen abschrecken (X, 9, 5 f.). Selbst der Philosophenstaat, wie ihn sich die Gelehrten ausmalen, könnte keine Führer haben, die verantwortungsbewußter und weniger ehrgeizig, und Untertanen, die besser geartet gewesen wären als Altrom ( X X V I , 22, ix). Damals hatte die Jugend noch Respekt vor den Älteren (ebenda 22, 15). Vor allem aber war die Religion noch nicht erschüttert und hatte noch nicht einer allgemeinen Neglegentia Platz gemacht: die alten vaterländischen Kulte sind jetzt verdrängt durch neumodische, aus dem Ausland bezogene (VIII, 1 1 , 1). Die Stellen könnten gehäuft werden, die solcher Mißstimmung gegen die Gegenwart Luft machen. Sie ist uns aus der römischen Welt wohlbekannt. Sie gibt jenem tiefsitzenden Katzenjammer Ausdruck der Generationen am Ausgang des ein Jahrhundert fast ohne Lücke füllenden Bürgerkrieges. Es ist die gleiche Ver-

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zweiflung an der menschlichen und staatlichen Existenz, die wir auch aus Sallust kennen. Das sagen genügt aber, um uns deutlich zu machen, daß doch ein großer Unterschied in der Einstellung der beiden vorhanden sein muß. Offenbar liegt er darin, daß Livius an die Möglichkeit einer Rettung und Heilung glaubt; ja, gerade durch sein Buch will er einen Beitrag dazu leisten. Darin ist er Augusteer, obgleich in den uns erhaltenen Büchern nirgends ein Bekenntnis zu Augustus vorkommt. Sicher war dies auch in den verlorenen Büchern nicht anders gehalten, in denen große Teile der augusteischen Zeit dargestellt waren; die Anekdote kann wahr sein, daß Augustus den ihm befreundeten Livius im Scherz einen Pompeianer nannte, weil Pompeius bei ihm Cäsar gegenüber so gut weg kam. Er eröffnet damit die Linie der kaiserzeitlichen Schriftsteller, die sich alle in ihren Schriften als radikale Republikaner gebärden, in der Wirklichkeit aber Diener des Kaisers sind, zum Teil sogar treue Diener vortrefflicher Fürsten. Mit Livius fängt dieses Auseinandergehen der geistigen und realen Welt an, das dem folgenden Jahrhundert und seinen Repräsentanten, Seneca, beiden Plinms, Tacitus ein so unheimliches Aussehen gibt. Vielmehr sind es gerade Livius und ein paar seiner Zeitgenossen gewesen, die bewußt diese Verhaltungsweise inauguriert haben. Es ist augusteische Mentalität; sie will durch die republikanische Fiktion die Wiedererstehung altrömischen Geistes erzwingen. Nicht anders ist auch das Verhalten des Augustus selber zu werten, der den Versuch macht, durch Wiedererweckung der alten Sitte, der Religion, der republikanischen Ämter und Traditionen vergessen zu machen, was die hundertjährige Revolution angestellt

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hat, nicht zum mindesten seine eigene unbequeme Existenz. Weil das Kulturwollen dieser Zeit aber durchaus positiv ist, so fehlt ihren Ausdrucksformen bei allem Fiktionalismus doch gänzlich jene zersetzende Bitterkeit der folgenden Generationen. So auch dem Werk des Livius, verglichen etwa mit Tacitus. Der Widerspruch äußerer und innerer Haltung ist nur scheinbar. In Tat und Wahrheit steht Livius der Welt, und zwar der ganz gegenwärtigen bejahend gegenüber; er will mithelfen sie zu heilen. Er will sich nicht nur flüchten „von dem Anblick der Greuel, die unsere Zeit während so vieler Jahre erlebte", sondern er will, daß „man für sich und seinen Staat aufnehme, was man nachahmen soll". So liegt in seinem Werk eine ständige unsichtbare Tendenz vor; es ist anzunehmen, daß diese auch zugleich seine verborgene Schönheit sein wird. Dafür ist freilich unumgänglich notwendig, daß man das ganze Werk betrachte, d. h. soweit das überhaupt möglich ist, weil ja nur ein Viertel desselben erhalten ist. Aber auch dieses Erhaltene wird kaum mehr von jemandem im Zusammenhang gelesen: alle greifen nur Abschnitte heraus und lesen auch diese mit Mißtrauen, weil es ihnen allein um ein Stück römischer Geschichte zu tun ist. Mit dem Augenblick, wo man aufhörte, Livius als Ganzes zu lesen, bekam er den Ruf der Langeweile, der Philistrosität, der Breite, von dem der historischen Unzuverlässigkeit ganz zu schweigen. Voraussetzung zum Verständnis ist aber die Bereitschaft seinem Ruf zu folgen, auf das zu hören, was er mit uns anfangen will, nämlich seine Leser zu Römern im Sinne augusteischer Erneuerung zu machen. Ist man dazu imstande, kann man auf die Vorurteile des modernen Historikers

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verzichten, die für das Verständnis des Werks wirklich Vorurteile sind, so wird sich die Meinung über ihn rasch ändern. Man wird sich nach wenigen Sätzen aufs stärkste gepackt fühlen, und diese Spannung wird nicht erlahmen, ja, von Zeit zu Zeit sich so sehr steigern, daß man Ereignisse, die man seit seiner Schulzeit zu kennen glaubt, mit leidenschaftlicher Anteilnahme in völliger Selbstvergessenheit bis zu ihrem Ende verfolgt. Dabei wird man nicht eigentlich glauben, von den einmaligen Schicksalen Roms zu hören, sondern das Buch des Livius wird einem wie ein ewiges Bilderbuch politischmenschlichen Geschehens vorkommen. Dabei wird einem die Einseitigkeit, die Tatsache, daß große Bezirke dieses Geschehens, die sich uns Modernen erschlossen haben, völlig fehlen, gar nicht zum Bewußtsein kommen, weil das, was er schildert, in die Sphäre reinster Paradigmatik erhoben ist. Was sein gestaltender Geist anpackt, wird zu einem Exemplum psychologischer, politischer oder sozialer Vorgänge; er arbeitet mit den einfachen Begriffen, wie es zum Wesen augusteischer Mentalität gehörjt; er reduziert die Geschichte oder besser jede Geschichte auf ihre Grundformen. Es muß unsere erste Aufgabe sein, ein paar solche Schilderungen kennenzulernen, aus verschiedenen Teilen des Werkes ausgewählt. Kein Wort der Einführung in die spezielle Situation ist nötig; dafür können ganz prinzipielle Überschriften gegeben werden. i. W i r k u n g einer N i e d e r l a g e . Die Nachricht von der Schlacht am Trasumenischen See ist nach Rom gekommen. Der Prätor Pomponius hat bekanntgegeben: Pugna magna victi sumus ( X X I I , 7, 8 ff.). „Und, obschon nichts Genaueres von ihm zu vernehmen war, so

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stopfen sie sich doch gegenseitig mit Gerüchten voll und berichten zu Hause, der Consul sei mit einem großen Teil des Heeres gefallen; nur wenige seien noch am Leben, entweder auf der Flucht verstreut in Etrurien oder in Kriegsgefangenschaft. So viele Schicksale je ein geschlagenes Heer erlitten hatte, so viele Sorgen machten sich alle die, deren Angehörige im Heere des Gaius Flaminius dienten, konnten sie doch nicht wissen, was jedem zugestoßen sei; keiner hatte Gewißheit, was er hoffen oder fürchten soll. Am nächsten und den darauffolgenden Tagen stand an den Toren eine beinahe größere Menge von Frauen als von Männern und wartete auf einen der Ihrigen oder wenigstens auf Nachricht über sie, und die Ankommenden wurden von Anfragenden umdrängt und konnten sich fast nicht losreißen, besonders wenn es Bekannte waren, bevor man der Reihe nach alles erfragt hatte. Dann konnte man die verschiedenen Mienen sehen, wie sie von den Boten weggingen, je nachdem sie gute oder schlechte Nachricht erhalten und wie je nach den Umständen die Leute, wenn sie heimkamen, ihnen gratulierten oder sie zu trösten versuchten. Vor allem war bei den Frauen Freude und Trauer überschwänglich. Eine soll unterm Tor, als sie plötzlich dem geretteten Sohn gegenüber stand, in seinen Armen gestorben sein; eine andere, der fälschlicherweise der Tod ihres Sohne gemeldet worden war, soll, als sie traurig zu Hause saß, beim Anblick des Zurückkehrenden vor übergroßer Freude den Geist aufgegeben haben." Mitten hinein kommt eine zweit? Hiobsbotschaft über eine weitere Niederlage, diesmal von 4000 Reitern. „Diese Nachricht hatte die verschiedenste Wirkung auf die Menschen; die einen, die ganz von dem großen

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Unglück erfüllt waren, nahmen den neuen Verlust dieser Reiter für nebensächlich im Vergleich mit dem früheren; andere waren nicht imstande, was geschehen war, für sich zu betrachten, sondern wie in einem kranken Körper eine noch so leichte Attacke härter empfunden werde als in einem gesunden, so müsse man nicht nach der Wichtigkeit des Ereignisses, sondern nach dem Schwächezustand, der keine Steigerung ertragen könne, die Sache einschätzen." 2. A u s b r u c h e i n e r V e r s c h w ö r u n g . 460 v. Chr. III, 15, 6 ff. „Gleich werden auf dem Kapitol die umgebracht, die sich geweigert hatten an dem Komplott teilzunehmen und sich zu bewaffnen; andere kommen mitten in die aufgeregte Menge atemlos aufs Forum hinuntergestürzt; bald hört man rufen: ,Zu den Waffen', bald: .Feinde in der Stadt'. Die Konsuln scheuen sich gleichermaßen die Menge zu bewaffnen wie sie entwaffnet zu lassen, da sie nicht wissen, was für eine Art von plötzlicher Gefahr über die Stadt hereingebrochen sei, ob eine von außen oder von innen, ob sie herrühre von der Unzufriedenheit des Volkes oder aus einem Anschlag von Sklavenseite. Sie suchten die Aufgeregten zu beschwichtigen; dadurch machten sie die Sache meist nur schlimmer; denn die verängstigte und verstörte Menge ließ sich nicht durch Befehle dirigieren." 3. U n e i n i g k e i t d e r F ü h r e r . V, 8, 9 ff. „Lagerkommandant war Verginius, der mit Sergius aufs schwerste verfeindet war. Als diesem gemeldet wurde, es sei eine ganze Anzahl Forts erobert und Teile der Schanzen besetzt, von beiden Seiten stürme der Feind in die Linien, da stellte er seine Soldaten auf Piket, indem er dauernd wiederholte, sein Kollege werde schon

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zu ihm schicken, falls er Hilfe brauche. Diese Unverschämtheit wurde womöglich noch durch die Starrköpfigkeit des anderen übertroffen, der, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, Hilfe von seinem Rivalen verlangt zu haben, sich lieber vom Feinde besiegen ließ als mit Unterstützung seines Kollegen zu siegen." 4. M i ß b r a u c h p o l i t i s c h e r E i n r i c h t u n g e n . Nach dem Sturz des Appius Claudius und der Decemvirn, die die ihnen eingeräumte unbeschränkte Herrschergewalt mißbraucht hatten. III, 56, 5 ff. „Weder auf Hilfe von Seiten der Volkstribunen noch auf den Entscheid des Volkes durfte Appius irgendwelche Hoffnungen setzen; dennoch wandte er sich an die Tribunen und rief, als er vom Weibel festgenommen wurde, ohne daß sich eine Hand für ihn regte: ,Ich appelliere'. Dieses eine Wort, Garant der Freiheit, ertönend aus einem Munde, durch den neulich die gesetzlich garantierte Freiheit aufgehoben worden war, genügte, um eine allgemeine Stille eintreten zu lassen. Und während jeder vor sich hinmurrt, endlich würden die Götter wieder sichtbar und kümmerten sich um die menschlichen Dinge, und für Hochmut und Grausamkeit trete eine zwar späte, aber gerechte Strafe ein: es müsse appellieren der Mann, der die Appellation aufgehoben habe, und um den Schutz des Volkes betteln der, der einen freien Menschen zum Sklaven gemacht habe — während diesem Murren des versammelten Volkes hört man die Stimme des Appius, der die Hilfe des römischen Volkes anruft usw." 5. T o d des a l t e n T y r a n n e n . X L , 54. „Imgleichen Jahr starb Philipp, König von Mazedonien, an Alter und an Kummer über den Tod seines Sohnes (an dem

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er selber schuld war). Den Winter brachte er in Demetrias zu, gequält von ständiger Sehnsucht nach seinem Sohn, noch mehr aber von Reue über seine unmenschliche Grausamkeit. Aber auch der Gedanke an seinen anderen Sohn machte ihm zu schaffen, der ohne allen Zweifel nach eigener Meinung und der Meinung vieler anderen bereits König war. Auf ihn waren schon aller Augen gerichtet. Der alte König aber war verlassen, indem die einen sein Ableben erwarteten, die anderen es nicht einmal mehr erwarteten." 6. E i n e M i l i t ä r r e v o l t e . Im Lager der römischen Okkupationstruppen im diesseitigen Spanien im Jahr 206. Gerüchte von schwerer Erkrankung, ja vom Tode des Oberkommandierenden, des großen Scipio, haben, verbunden mit langer Untätigkeit, zu böser Mißstimmung geführt. X X V I I I , 24, 7 ff. „Zuerst wurde nur heimlich geflüstert : wenn in der Provinz Kriegszustand sei, was hätten sie dann unter Völkerschaften zu tun, die offenbar Frieden hielten; wenn aber der Krieg zu Ende und die Provinz endgültig unterworfen sei, warum kehrten sie dann nicht nach Italien zurück? Auch wurde dreister als sich dies mit militärischer Disziplin vereinigen ließ, der Sold gefordert, und von den Wachen wurden den die Posten inspizierenden Offizieren Schimpfworte nachgerufen, und nächtlicherweise waren sogar einige in das durchaus friedliche Land auf Plünderung ausgegangen. Zuletzt verließ man am hellichten Tag in aller Öffentlichkeit ohne Erlaubnis das Lager. Alles geschah rein nach dem Willen der Soldaten, nichts nach militärischer Tradition und militärischer Disziplin oder nach den Befehlen der Vorgesetzten. Doch blieb der Schein eines

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römischen Lagers in einer Hinsicht noch bestehen, indem die Soldaten in der Hoffnung, die Offiziere würden, angesteckt von ihrer Tollheit, sich am Aufstand und der Rebellion beteiligen, diese weiter auf dem Hauptplatz Recht sprechen ließen und die Parole von ihnen verlangten und ordnungsgemäß die Posten bezogen." Es kommt dann zum tatsächlichen Aufstand. Die Offiziere werden verjagt. „Der fälschlicherweise geglaubte Tod des Scipio nahm den Soldaten alle Besinnung: sie zweifelten nicht daran, daß, sobald die Nachricht davon allgemein bekannt würde, ganz Spanien sich erheben werde. In solcher Situation könnten den Bundesgenossen Kontributionen auferlegt, und die benachbarten Städte geplündert werden, und wenn alles durcheinander ginge, indem alle alles wagten, würde, was sie getan hätten, nicht weiter Aufsehen erregen." Als die Nachricht sich nicht bewahrheitet, schlägt die Stimmung rasch um. Die von Scipio beauftragten Offiziere wissen durch geschicktes Fragen die Gründe der Unzufriedenheit festzustellen. „Scipio, der zwar an Kriege gewöhnt war, sich aber den Unbilden einer Rebellion gegenüber recht hilflos fühlte, bedrückte die Sorge, es könnte entweder das Heer in seinen Verfehlungen oder er im Strafen die Grenze überschreiten." Das Heer wird dann unter dem Vorwand der Soldauszahlung nach Neukarthago zitiert. „Jetzt sehen die Soldaten keine andere Rückzugsmöglichkeit von ihren verbrecherischen Plänen als sich dem gerechten Zorn oder der zu erhoffenden Milde des Feldherrn anzuvertrauen. Auch den Feinden habe er

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verziehen, mit denen er doch habe kämpfen müssen; ihre Rebellion sei ohne Blutvergießen verlaufen, und sei weder selber grausam, noch verdiene sie eine grausame Strafe — wie denn der Mensch nur allzubereit ist, seine eigene Schuld zu verkleinern." Sie beschließen alle miteinander nach Neukarthago zu gehen. Dort werden die Rädelsführer in aller Stille verhaftet, das Heer wird zu einer Versammlung zusammenberufen, in der sie sich plötzlich von schwerbewaffneten Truppen umgeben sehen. „Da bricht ihre ganze Vermessenheit zusammen, aber nichts erschreckte sie so, wie sie später zugaben, als das unerwartet gute Aussehen des Feldherrn, den sie sich durch die Krankheit arg mitgenommen gedacht hatten, und seine Miene, wie sie sie nicht einmal in einer Schlacht je an ihm erblickt zu haben sich erinnerten." Scipio hält eine glänzende Rede, die sie vollständig mürbe macht. „Kaum hatte er geendet, so stürzte nach sorgfältiger Vorbereitung alles Grauen auf ihre Augen und Ohren: die Truppen, die die Versammlung rings umgaben, schlugen mit ihren Schwertern an die Schilde; laut tönte die Stimme des Herolds, der die Namen der vom Kriegsgericht Verurteilten verliest; nackt werden diese herbeigeschleppt, und gleichzeitig der ganze Strafapparat entfaltet. Sie werden an Pfähle gebunden, gepeitscht und enthauptet, wobei alle Zuschauer so von Furcht erstarrt waren, daß nicht nur kein Protest gegen die grausame Strafe, sondern nicht einmal ein Seufzer gehört wurde. Darauf wurden die Leichen entfernt, der Platz gereinigt; dann wurde jeder einzelne Soldat namentlich aufgerufen, seinen Eid auf Scipio vor den Militärtribunen abzulegen, und erhielt dann seinen Sold

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ausbezahlt. Solch einen Ausgang hatte die Militärrevolte von Sucro." Dieser paradigmatische Charakter des livianischen Werkes nimmt höchste Form an in der Charakterisierung der großen Persönlichkeiten der römischen Geschichte. Schade, daß wir die Darstellung der Revolutionsgeschichte, speziell der augusteischen Epoche nicht besitzen; aber auch die erhaltenen Teile beurteilen die historischen Figuren nach den Wertmaßstäben augusteischer politischer Sittlichkeit. Sie nehmen mit allen denkbaren Mitteln Stellung gegen das Selbstische und triebhaft Leidenschaftliche, vor allem aber wenden sie sich gegen jegliche Form von Disziplinlosigkeit und Überheblichkeit, gegen Leichtsinn und fehlende Haltung. Mögen auch die negativen Beispiele über die positiven überwiegen, so sind doch auch letztere in allen Büchern zu finden. Es mag unserem Autor oft schwer fallen, diese seine zähe Tendenz mit dem ihm zwar nicht tendenziös, aber mit ganz anderen Tendenzen (zum Beispiel Familienbegünstigung, rhetorische oder dramatische Steigerung) überlieferten Material in Einklang zu bringen. Manchmal glauben wir etwas von diesen Schwierigkeiten zu merken, z. B. an dem eigenartig schwankenden Charakterbild des Marcellus, des Eroberers von Syrakus. Dieser große Feldherr entspricht in seiner rücksichtslosen Grausamkeit und seiner raffenden Raubgier durchaus nicht dem Charakterideal des Livius; wohl aber wird die Ausgestaltung seines Charakters den Vorstellungen entsprungen sein, die des Livius Vorgänger, Zeitgenossen der Revolution, von einem römischen Heerführer hatten. So tritt er bei Livius in einer seltsamen Mischung vor uns von wahrer Größe

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und brutaler Mißgestalt, von Zustimmung und Ablehnung. Ihm gegenüber aber stellt Livius als den Mann seines Herzens den Fabius Cunctator, dessen augusteische Größe während seines ganzen Auftrittes mit liebevoller Feder gezeichnet wird; sogar gegen den Besieger Hannibals, den älteren Scipio, spielt er ihn mit dem berühmten Wort aus: „Damals (nach Cannä) war von Hannibal nicht besiegt zu werden schwerer als später ihn besiegen" ( X X I I I , 16, 16). Die Gegensätzlichkeit zwischen Marcellus und Fabius aber soll mit einem charakteristischen Beispiel illustriert werden. Schon im Jahre 2 1 7 , also vor der Schlacht bei Cannä, läßt Livius in Hannibal, als er zum erstenmal die Zaudertaktik des Fabius kennenlernt, die Sorge aufsteigen, „daß er in Zukunft mit einem Feldherrn zu tun haben werde, der ganz anderen Schlages sei als Flaminius (der Besiegte am Trasumenischen See) und als Sempronius •(der Besiegte an der Trebia), und daß jetzt endlich die Römer durch das Unglück belehrt nach einem dem Hannibal ebenbürtigen Führer gesucht hätten; und vor der Klugheit des Diktators hatte er sofort Angst" ( X X I I , 1 1 , 5). Während er also den Hannibal gleich bei der ersten Begegnung den Fabius fürchten läßt, ist eine solche Furcht Hannibals bei Marcellus bloße Einbildung und Überheblichkeit; er läßt sich in gefährliche Unternehmungen ein, „weil er sich eingeredet hatte, kein römischer Feldherr sei in gleicher Weise dam Hannibal ebenbürtig wie er" ( X X V I I , 12, 7). Die Katastrophe, die den Tod des Marcellus herbeiführt, läßt denn auch nicht auf sich warten. Folgende Geschichte aber enthält in den Augen des Livius den höchsten Ruhmestitel des Fabius. E r hat als

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Consul des Jahres 215 die Volksversammlung für die Wahl der Consuln von 214 zu leiten; schon scheint es als ob irgendwelche braven, aber ganz unbedeutenden Männer gewählt werden sollten, trotz des furchtbaren Ernstes der Zeit. Schon hat die Praerogativa, d. h. die Tribus, die als erste die Stimme abzugeben hat, in diesem Sinne gestimmt. Da unterbricht Fabius den Wahlakt und erinnert das Volk an die Verantwortung dieser Wahl. Einer der beiden in dieser Weise von ihm verworfenen Männer protestiert und ruft höhnisch, Fabius wolle selber sein Consulat fortsetzen — in der Tat wird nun Fabius (neben Marcellus) als Consul (und zwar zum viertenmal) gewählt. Aber jedermann weiß, daß dies nicht aus Ehrgeiz geschehen, „vielmehr priesen sie seine seelische Größe, daß er im Bewußtsein, der Staat brauche einen guten Feldherrn, und er selber sei dies ohne Zweifel, eine mißgünstige Auslegung, falls eine solche daraus hervorgehen sollte, geringer achtete als das Interesse des Staates" (XXIV, 9,11). Ein solcher Mann ist Fabius in allem, selbstbeherrscht, aufrecht und fromm, von jener Art Frömmigkeit, wie sie der Augusteer pflegt. In diesem Sinn erklärt er bei seinem Amtsantritt als Diktator nach der Katastrophe am Trasumenischen See, die eigentliche Schuld des besiegten Konsuls Flaminius habe in Vernachlässigung der religiösen Obliegenheiten und der Auspizien bestanden, nicht so sehr in Unbesonnenheit und Unkenntnis (XXII, 9, 7). Diesem einen Mann gegenüber steht nun eine ganze Reihe von moralischen Gegenspielern: unruhige Heißsporne wie sein magister equitum Marcus Minucius, leichtsinnige und eingebildete Neidlinge wie der Consul Scmpronius, der seinem verwundeten Kollegen Scipio

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zu Trotz den Kampf an der Trebia aufnimmt, gottlose Frevler wie Quintus Flaminius, politische Streber und Hetzer wie Terentius Varro, der die furchtbarste aller Niederlagen, die von Cannä, verschuldete. Nicht weiter verwunderlich, daß dieser, wie er uns zum erstenmal begegnet, mit einer Rogatio auftritt, die gegen Fabius gerichtet ist (XXII, 25, 8), während sonst freilich die ihm gegenübergestellte Folienfigur sein Kollege im Consulat Lucius Aemilius Paulus ist, der bei Cannä seinen Tod findet. Livius läßt die beiden, Fabius und Aemilius Paulus, alles tun, um das Unglück zu verhindern, in das der verblendete Varro unaufhaltsam getrieben wird. Wie gesagt — auch Marcellus ist zum Teil Gegenspieler des Fabius, aber hier liegt zuviel Leistung und Erfolg vor, als daß sein Bild eine einheitliche dunkle Färbung hätte empfangen können. Aber wo es möglich ist, gibt Livius seiner Abneigung gegen ihn Ausdruck; seine Brutalität tritt im eigenen Verhalten wie in demjenigen seiner Schützlinge oft genug zutage; das Verhalten seines Untergebenen, des Kommandanten von Henna in Sizilien, wird ein entweder gemeines oder notwendiges Verbrechen genannt ( X X I V , 39, 7); es wird von Marcellus gebilligt, der damit Sizilien vom Abfall abschrecken zu können meint; die Antwort Siziliens ist die allgemeine Erhebung gegen Rom. Was aber das Wichtigste ist: der Raub der Kunstwerke im wiedereroberten Syrakus wird von Livius als der Anfang einer Hemmungslosigkeit angesehen, die zuletzt auch vor den römischen Göttern nicht halt machte ( X X V , 40, 2); sie wird auch der Zurückhaltung des Fabius nach der Eroberung von Tarent gegenübergestellt ( X X V I I , 16, 8). Selbst des Marcellus Tod — er gerät in einen punischen

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Hinterhalt — wird als die Folge eines seinem Alter und seinen Erfahrungen unangemessenen Leichtsinns hingestellt, der seinem leidenschaftlichen Verlangen entspringt, sich mit Hannibal im Kampf zu messen (XXVII, 27). Die Geschichte ist für Livius durchdrungen von einer unbegrenzten sittlichen Gesetzlichkeit. Darum vor allem schreibt er römische Geschichte, weil „kein anderer Staat größer oder sittlicher (sanctior) oder reicher an guten Beispielen war, und in keinem Habgier und Luxus später eingedrungen sind, und nirgends Armut und Sparsamkeit in so hohen Ehren standen" (Vorwort 11). Gewiß ist die virtus populi Romani nicht mehr intakt, vor allem ist das religiöse Leben unheilvoll verderbt, aber der römische Volkscharakter ist berufen, aller Dekadenz Herr zu werden. In ihm verwirklicht sich gleichsam das summum bonum der Philosophie. „ E t facere et pati fortia Romanum est" (II, 12, 9). Darum schrieb Livius; in diesem Sinne ist er auch sofort verstanden worden. Schon zu Lebzeiten genoß er beispiellose Verehrung. Diese ist ihm gebüeben durch das ganze Altertum hindurch; sein Wesen wird als eandor empfunden. Er ist candidissimus omnium magnorum ingeniorum aestimator (Seneca, Suas. 6, 22). Damit ist seine sittliche Behandlung der Geschichte einfach und vortrefflich ausgedrückt. So ist er mit Vergil zusammen der eigentliche Vertreter augusteischer Geisteshaltung. Er behauptete sich in der Neuzeit sogar ein paar Dezennien länger als Vergil, der zusammen mit den ästhetischen Prinzipien der Augusteer in der Mitte des 18. Jahrhunderts verworfen wurde. Erst der völlige Triumph der modernen Anschauungen vom Wesen der Geschichts-

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Wissenschaft entthronte auch ihn, und zwar so radikal, daß seither seine Lektüre als Qual und Schulmeistertücke gilt. Erst die allerletzte Zeit hat darin eine Änderung gebracht. Wir möchten nun aber gerne wissen, auf welche Weise Livius seiner römischen Geschichte diese augusteische Färbung gegeben hat. Wie wir schon oben gesehen haben, arbeitet er nicht als Großerfinder geschichtlichen Stoffes. Das stoffliche Substrat bezieht er bis weit ins Detail hinein aus seinen Quellen, wie ein Vergleich mit Polybios beweist, der auf gewisse Strecken hin seine Quelle ist, oder mit Dionysius von Halikarnaß, der z. T. die gleichen Gewährsmänner wie Livius benutzt. Die Zeit jener Fabulisten, die die öden Jahrhunderte römischer Geschichte mit Geschichten ausfüllen, ja selbst eine Figur wie Cölius Antipater, der ein hemmungsloser exornator rerum war, sind ferne. In dieser Hinsicht, in der bescheidenen Zurückhaltung im Erfinden, sind sich die Zeitgenossen Livius und Dionysius von Halikarnaß sehr ähnlich. Und dabei doch welch ein Unterschied! Wie kommt es, daß diese Graeculi, Dionysius und etwa noch Diodor, sich wie geschwätzige unverantwortliche Literaten ausnehmen, Livius aber — zwar nicht wie ein Staatsmann, aber sicher wie ein Mann. Eine Ursache liegt auf jeden Fall schon darin, daß seine psychologischen und moralischen Maßstäbe stets die gleichen bleiben, während seine Konkurrenten so gut wie seine Quellen — und beide entsprechend griechischer historiographischer Tradition — jede Geschichte mit ihrer eigenen Moral ausstatten, kommt es ihnen doch ausschließlich auf Spannung und Erregung an. Nicht selten fühlt man das Unbehagen, das Livius über-

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fällt, wenn er mit seiner gradlinigen Psychologie die psychologischen Unbedenklichkeiten seiner Quellen umsonst zu bessern versucht. Die Überlieferung läßt z. B. den Decemvir Appius Claudius sein erstes Amtsjahr hindurch ein volksfreundlicher Mann sein, im zweiten aber ein hemmungsloser Tyrann; es kann das nicht geändert werden, weil die Pointe der ganzen Geschichte darauf beruht. Für Livius ist es aber eine Unmöglichkeit, dies einfach so zu erzählen; nur der zweite Appius ist ihm echt. Das erste Jahr spielt er Theater; so betont er (III, 37, 7) bei Beginn des ersten Jahres: „er hatte einen neuen Charakter angezogen" und am Ende desselben (36, 1): „damit hörte Appius auf, eine fremde Rolle zu spielen." Und gleich geht es ihm mit dem Kollegen des Appius, einem Quintus Fabius, den er in sympathischer Haltung schon früher vorgeführt hatte. Um ihm zu ermöglichen, Kumpane des Appius zu werden, motiviert er so: die Zugehörigkeit zu dem Decemvirnkollegium und die Kollegen hatten ihn so verwandelt, daß er lieber dem Appis als sich selber gleich sein wollte (41, 9). Das ist aber nur spezieller Ausdruck einer allgemeinen Verlagerung der zu erzählenden Ereignisse ins Innere der daran beteiligten Menschen. Volk und Individuen werden weit ausgesprochener als bei irgendeinem anderen — und dementsprechend auch ausgesprochener als in irgendeiner seiner Quellen — in ihrer psychischen Verhaltungsweise gekennzeichnet; die äußeren Geschehnisse werden weniger um ihrer selbst willen dargestellt, als im Reflex, den sie in der Seele der Menschen hervorrufen. Darum sehen bei ihm die Reden nicht wie Fremdkörper, nicht wie aufgenähte Flicken aus, wie dies etwa bei Dionysios von Halikarnaß der Fall ist, sondern, da

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sie ihren Ausgangspunkt in einer bestimmten Lage bestimmt organisierter Psychen haben, gehören sie untrennbar und unentbehrbar zu ihrer Umgebung. Weil aber der direkten Rede doch immer ein gewisser rhetorischer Beigeschmack eignet, verwendet Livius als besondere Köstlichkeit die oratio obliqua. Sie tönt echter, sie ist intimer, scheint mehr aus dem Inneren der Sprechenden zu kommen, ihre wahren und fast unaussprechbaren Gedanken wiederzugeben. Oft stellt er sie unmittelbar als Folie der direkten Rede gegenüber, wie z. B. IV, 2 und IV, 3 ; in diesem Falle soll die indirekte Rede stärker wirken als die direkte. Der zu Recht besorgte Consul spricht indirekt, der demagogische Volkstribun direkt. Nicht anders wirkt die lapidare indirekte Wiedergabe des Senatsbeschlusses gegen die cannensischen Legionen viel eindrucksvoller und soll so wirken als die wörtlich angeführten Worte, die deren Vertreter vor dem Senat sprechen ( X X V , 5, 10 und 6, 23). Bei solcher Arbeitsweise ist es nun natürlich auch möglich, daß in allen wichtigen Perioden der römischen Geschichte gewisse Typen zu Repräsentanten altrömischer Gesinnung gestaltet werden, da ja diese in ihrer augusteischen Renaissance eine Seelenhaltung und Lebensverhaltungsweise ist. Fabius Cunctator haben wir oben als Beispiel gebracht; also ist eine solche Herausarbeitung einer augusteischen Wunschpersönlichkeit selbst in den historisch hellen Zeiten des zweiten Punischen Krieges möglich. Freier aber kann er natürlich in der ersten Dekade schalten, die die römische Geschichte bis zu den Samniterkriegen umschließt. So bietet diese besondere Gelegenheit, des Livius Arbeitsweise kennenzulernen. Eine Musterfigur ist Camillus, der Eroberer

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Veiis und Besieger der Gallier, der sowohl in der Disziplin, mit der er die Undankbarkeit seiner Mitbürger erträgt, als auch in seinem ganzen auf peinliche Erfüllung der religiösen Pflichten basierten Wirken ein wahrer Exponent augusteischer Haltung ist. Als diligentissimus religionum cultor (V, 50, 1), hält er am Ende des V . Buches, also der ersten Pentade, jene großartige Rede, die die Römer verhindert auszuführen, was die turbulenten Volkstribunen wollen, nämlich trotz der Vertreibung der Gallier, aus Angst vor den Mühen des Wiederaufbaues der zerstörten Vaterstadt, Rom zu verlassen und in das kürzlich eroberte Veii überzusiedeln. Diese Rede könnte eine Kundgebung des Augustus sein. Alles Schlimme, was je über Rom hereinbrach, w a r stets eine Folge der Unaufmerksamkeit gegen die religiösen Pflichten; im Unglück lernten die Römer dann wieder beten; die Götter dankten es ihnen durch ihren Beistand. Kaum aus dem Schiffbruch befreit, wollen wir neuen Frevel auf uns laden. W i r wollen die S t a d t verlassen, in der keine Stelle nicht voll der religiösen Bindungen und der Götter ist (religionum deorumque plenus). Kann man diese Dinge nach Veii transportieren? Kann der Jupiterdienst anderswo stattfinden als auf dem Kapitol, der Vestadienst als in ihrem T e m pel, wo die Vestalinnen das ewige Feuer bewachen usw. ? In diesem Geist ist die ganze Rede gehalten, die ihre Wirkung auch nicht verfehlt. Sie ist, wie man beobachtet hat, an die Stelle eines Omens getreten, das in der dem Livius vorhegenden Darstellung den Auszug der Römer in letzter Stunde verunmöglichte. Dieses Zeichen fehlt zwar auch bei Livius nicht; es heißt sogar von ihm: rem dubiam decrevit, es entschied die (auch nach des

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Camillus Rede) noch zweifelhafte Lage; aber tatsächlich tritt es neben der Wirkung der Rede ganz ins Dunkel zurück. Der Leser vollends wird so sehr im Banne der großen Rede sein, daß er im Omen höchstens eine göttliche Unterstützung des Camillus sehen kann. Dessen repräsentative Haltung wird übrigens durch sein früheres Verhalten vorbereitet; besonders eindrücklich ist die Anekdote von Camillus und dem verräterischen Schulmeister von Falerii; an diesem Beispiel haben kundige Interpreten besonders gut aufzeigen können, indem sie des Livius Darstellung mit derjenigen des Dionysius von Halikarnaß konfrontierten, wie er es versteht, aus einer einmaligen und zufälligen Anekdote eine Geschichte zu machen, die gleichsam ein Symbol römischer fides und iustitia ist. Camillus ist der großartigste Repräsentant des augusteischen Geistes in der ersten Dekade, schon darum, weil er dessen Totalität in sich vereinigt, nicht nur einzelne Seiten. Vertreter solcher Einzelzüge finden sich daneben in reichem Maße, nennen wir beispielshalber Coriolan mit seiner freilich späten, aber gerade darum um so eindrücklicheren Disziplin, Cincinnatus mit seiner über allen Parteigegensatz emporragenden unparteilichen Haltung, die seine Entscheidungen von beiden Ständen Anerkennung finden läßt, jenen T. Quinctius Capitolinus im zweiten Buch, der trotz höherer dignitas in harmonischer Gemeinschaft mit seinem Kollegen Agrippa Furius das Consulat verwaltet — erinnernd an die ungleiche Gleichheit in der Ämterverwaltung zwischen Augustus und einem anderen Agrippa. Daß auch die Gegenbeispiele nicht fehlen, ist selbstverständlich, interessiert uns aber weniger.

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Die Parallele zu Vergil drängt sich einem immer stärker auf, je tiefer man in das Problem Livius eindringt. In allen Perioden der römischen Geschichte, soweit sie uns erhalten ist, werden von ihm Männer zu Vorläufern und gleichzeitig zu Abbildern des Augustus ausgestaltet, greifbar und eindeutig; nie aber fällt das direkte Wort eines Vergleiches; diese Gestalten handeln und denken, wie Augustus handelt und denkt; und aller Glanz, den der Dichter zu vergeben hat, fällt auf sie. Vergil aber wollte ursprünglich ein Augustusepos schreiben; an seine Stelle tritt das Gedicht von den ältesten Zeiten der Stadt und vom pius Aeneas; und nur nebenbei (und doch gerade darum um so eindrücklicher) leuchtet die Erscheinung des Augustus einmal im Werke auf. Auch Livius nennt einmal den Namen des Kaisers ganz nebenbei; nur als Gewährsmann für ein antiquarisches Detail wird er angeführt. Das ist augusteischer Stil, das Zurücktreten der Einzelpersönlichkeit hinter dem Werk und hinter der Haltung. Der Name des Augustus fällt nie, oder doch nur nebenbei; er ist aber immer und in jedem Augenblick gegenwärtig. Gar zu gerne wüßten wir, wie sich Livius in den letzten Büchern, die weit in die augusteische Zeit hineinreichen, mit Augustus auseinandergesetzt hat — es gibt keine Möglichkeit, dies zu erahnen. So wird die Gesinnung Herr über das Erbe der hellenistischen Stilmanier. Er handhabt diese zwar, aber mit augusteischer Mäßigung. „Nichts habe ich, wie man sehen kann, vom Anfang dieses Werkes an weniger gesucht als in übertriebener Weise (plus iusto) den geschichtlichen Faden preiszugeben und durch Ausschmückung mit effektvollen Exkursen dem Leser eine

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angenehme Abwechslung und mir selber eine Atempause zu gewinnen" (IX, 1 7 , 1 ) . Livius gehört in vielem zu den hellenistischen Autoren; aber er übertrifft sie alle durch dieses Maß, das sein ganzes Werk durchdringt. Ist das Ohr einmal für seinen eigenen Ton geschärft, so wird man ihn in allen Teilen des Werkes heraushören. So gut wie man durch Vergleich mit der einzigen uns erhaltenen Quelle, mit Polybios, verfolgen kann, wie er die unverbindlichen Sätze des Griechen in die unerbittliche Sprache des römischen Imperalismus wandelt, so gut wie man bewundernd beobachten kann, mit welcher raffinierten Technik er römische Niederlagen dem römischen Ohr erträglich macht, so verwandelt er — und dies ist unendlich viel wichtiger — durch kaum sichtbare Retouchen Geschichtsgestaltungen, die aus dem Geiste der cäsarischen oder vorcäsarischen Zeit entsprungen sind, in augusteische. Nicht nur Schlagworte, wie moderatio und pudor auf seiten der Regenten, und modestas auf Seiten der Untertanen geben dem Ausdruck, vielmehr weiß Livius in vollendeter Manier die Gesamtheit des Volkes, das sein eigentlicher Held ist, zu entlasten, das Volk integer dastehen zu lassen, Schuld und böse Gesinnung, Übermut und Leichtsinn auf einzelne oder höchstens auf verdorbene Teile des an und für sich vortrefflichen Volkes zu schieben. An Niederlagen sind schlechte Feldherren schuld, an den inneren Wirren die bornierten Ultras und die ungezügelten Tribunen. Vom Idealvolk aber kann er ausrufen: „hanc modestiam aequitatemque et altitudinem animi ubi nunc in uno inveneris, quae tum populi universi fuit ? "

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Wer könnte sich der ständigen Überwachung der Geschichte in diesem Geiste entziehen ? Mag sich auch unser ganzes überlegenes Wissen um soziale Dinge und politische Vorgänge gegen diese Bezauberung wehren, wir werden ihr, wenn wir die Liviuslektüre ernstlich betreiben, immer von neuem verfallen. Daran haben die zweitausend Jahre nichts geändert.

TACITUS Geboren ca. 55 n. Chr. Ämterlaufbahn begonnen unter Vespasian; 78 Heirat mit der Tochter des Gnaeus Cornelius Agricola; Consul 97 unter Nerva. Gestorben wahrscheinlich im Beginn der Regierung des Kaisers Hadrian. Die schriftstellerische Tätigkeit beginnt erst nach 96 (Sturz Domitians). Zuerst drei kleinere Schriften: Dialogus de oratoribus (über den Zerfall der Beredsamkeit). Agricola (Biographie seines Schwiegervaters, der im Jahre 93 gestorben war). Germania. Nach 104: Historien, umfassend die Geschichte der Jahre 69—96 in 14 Büchern. Erhalten sind die ersten 4 Bücher und der Anfang des V. Buches (Jahre 69/70). Letztes Werk: Annalen (eigentlicher Titel: ab excessu divi Augusti), umfassend die Jahre 14—68 in 16 Büchern. Erhalten Buch I—IV und Anfang des V. (Jahre 14—29 Anfang), Buch VI ohne Anfang (Jahre 32—37); X I ohne Anfang — XVI ohne Schluß (Jahre 47—66). Wie in einem Brennspiegel sammelt sich in diesem letzten großen antiken Historiker Wesen und Eigentümlichkeit der alten Geschichtschreibung in besonderer Klarheit. Wer ihn isoliert betrachtet, kann ihn nicht verstehen; auch wer ihn nur einordnet in die römische Historiographie, oder gar nur eine rhetorische Theorie über die Art und Weise, wie man Geschichte

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schreiben muß, in ihm verwirklicht finden will, der kann ihm nicht gerecht werden. Er ist der Erbe aller Historiker seit Herodot. Natürlich verdankt er nicht allen gleich viel, auf alle Fälle keinem mehr als Sallust. Aber in ihrer Gesamtheit haben sie für ihn den Begriff der Geschichte geformt; er ist so sehr traditionsgebunden, daß er nur innerhalb der Grenzen dieser Tradition Spielraum für sein individuelles Wirken hat. Das bedeutet keineswegs eine Beeinträchtigung seines Ruhmes oder gar eine Entlarvung oder Entthronung, denn außerhalb jeder Diskussion steht und durch keine Vernunfthandlung zu beseitigen ist die bei jeder Lektüre neu sich einstellende Bezauberung, die von seinem Werk und jedem Teil desselben ausgeht. Nicht die Tatsache dieser Faszination, sondern ihre Eigentümlichkeit soll uns beschäftigen. Darum mag es erlaubt sein, noch einmal die Voraussetzungen dieser Geschichtsschreibung mit einer gewissen Breite vorzuführen; sie haben gleichsam in diesem letzten Kapitel ihre Bewährungsprobe zu bestehen. Wie bei seinen großen griechischen Vorgängern will auch bei ihm die Diskussion über die weltanschauliche Grundlage seines Werkes, ohne die wir uns ein Geschichtswerk nicht vorstellen können, nicht verstummen. Ihr sind freilich engere Grenzen gesetzt, da wir über die Erscheinungszeit der einzelnen Werke im großen und ganzen orientiert sind; nur mit dem Dialog über die Redner wollte man aus dem geschlossenen Kreis ausbrechen und ihn in die Frühzeit des Verfassers legen — um stilistischer und inhaltlicher Differenzen willen. Freilich ohne Erfolg und dauernde Anerkennung. Aber auch der kurze Lebensraum, der dann für die verschie-

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denen Werke blieb — indem der Verfasser sicher erst nach dem 45. Lebensjahr zu schreiben begann — wurde mit Entwicklungen und Enttäuschungen ausgestattet. Freilich ließ sich diese psychologisch fast unbegreifliche Entwicklungslinie nur behaupten, wenn man gewisse widersprechende Stellen bagatellisierte, als Ausnahmen, die die Regel bestätigen, erklärte, willentlich übersah. So bedeutete es eine Tat, als ein entschlossener Mann eines Tages die These aufstellte, diese Widersprüche seien nebeneinander und gleichzeitig in Tacitus vorhanden; unrichtig war nur, daß er damit eine Enthüllung gemacht zu haben meinte und seine Entdekkung dem Tacitus gleichsam übelnahm. So ist auch der Widerspruch begreiflich, der damals und seither diesem Befund zuteil wurde. Ist Tacitus' Größe damit in Frage gestellt, so kann er nicht richtig sein, das war die meist unbewußte Grundlage der Opposition. Und da man einen großen Historiker nicht bei solcher weltanschaulicher Unklarheit für möglich hielt, gab es keinen anderen Ausweg als immer neue Versuche zu machen, die Richtigkeit der Feststellung auf irgendeine Weise zu verdächtigen. Was nicht gelingen kann. Vielmehr ist es so, daß Tacitus kein Bedürfnis nach einer festen Grundlage hat. Er ist sich nicht klar darüber, ob die Welt von einer starren Vorsehung bestimmt werde oder dem Zufall preisgegeben sei, und ob die Götter sich um die Menschen kümmern oder nicht. Das Problem des Fatums behandelt er einmal in einem Exkurs, der an die Anekdote von Thrasyllos, dem Hofastrologen des Tiberius anknüpft, der in äußerst heikler Situation sich und seine Kunst bewährt. Tacitus glaubt an diese Geschichte, weil seine Gewährsmänner sie ihm erzählen.

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Sie veranlaßt ihn aber zu folgender Bemerkung (Annalen V I , 22): „Wenn ich solches höre, so überfällt mich der Zweifel darüber, ob die menschlichen Geschicke durch das Fatum und eine unabänderliche Notwendigkeit oder durch den Zufall regiert werden." Die Philosophen, so berichtet er weiter, sind darüber verschiedener Meinung, was er mit wenigen, sehr oberflächlichen Ausführungen belegt. Dann schließt er: Die Mehrzahl der Menschen läßt sich den Glauben nicht nehmen, daß bei der Geburt eines jeden seine Zukunft festgelegt werde usw. Offenbar gehört Tacitus normalerweise zu dieser Mehrheit und glaubt daher im allgemeinen an Prophezeiungen, bei denen freilich leicht „die Wahrheit durch Falsches zugedeckt wird" (Ann. I V , 58), denn „die Grenze der Kunst und des Falschen ist nahe". Aber sicher ist er seiner Sache nicht: An einer anderen Stelle (Ann. I V , 20) weiß er sich nicht zu entscheiden, ob, wie die übrigen Dinge, so auch die Verhaltungsweise der Machthaber gegen uns und unsere Haltung ihnen gegenüber einzig vom Fatum bestimmt werden, oder ob doch unser eigener Wille etwas dazutun könne. In Einzelschicksalen, wie etwa demjenigen seines Schwiegervaters Agricola, zeigt der Respekt, den er aufrechter Haltung entgegenbringt, daß er diese als persönliche Leistung empfindet und wertet. Natürlich muß dementsprechend auch seine Stellung zu den Göttern zweideutig sein. Bald ist es ihr Walten, das er im politischen Geschehen verwirklicht sieht, bald verzweifelt er an ihnen, weil sie das Ungeheuer Nero so lange ungestraft lassen (Ann. X I V , 12), bald sind ihm die Götter nur Straforgane (Hist. I, 3). Manchmal ist er Rationalist und schaut geringschätzig auf die große

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Menge hinab, deren Gewohnheit es ist, Dinge, die dem Zufall verdankt werden, als persönliche Schuld zu deuten (Ann. IV, 64), andernorts aber erzählt er gläubig Wunder und Vorzeichen, auch solche, die derartige Ladenhüter der Legendentechnik sind, daß sie den Stempel der Erfindung an sich tragen, wie die Erzählung von den Vögeln, die während einer Rede des Vitellius den Himmel buchstäblich verdunkeln (Hist. III, 56), oder diejenige von einem Vogel von noch nie gesehener Art, der bei Regium Lepidum in einem Wald erblickt wurde, bis zum Tode Othos (Hist. II, 50). Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß Tacitus der Erwähnung für würdig erachtet — also der Sache seinen Glauben nicht ganz versagt -— eine Zahlenspielerei, die ausrechnet, daß die Zahl 454, d. h. die Zahl der Jahre zwischen dem gallischen Brand Roms von 390 v. Chr. und dem neronischen von 64 n. Chr. sich auch aus einer gleichen Zahl von Jahren, Monaten und Tagen zusammensetzen lasse, nämlich 418. Wir werden uns darum nicht wundern, wenn wir bei Tacitus keine Spur einer philosophischen Schulung und Bildung antreffen, wie er denn auch seinen Schwiegervater Agrippa in dessen Biographie von sich sagen läßt, er habe in seiner Jugend die Beschäftigung mit der Philosophie leidenschaftlicher betrieben als es einem Römer und gar einem Senator erlaubt sei (Agr. 4). Erstaunlich ist es und doch nicht zu leugnen, daß auch die politische Haltung des Tacitus gleichen Schwankungen unterworfen ist. Normalerweise ist er Republikaner, lebt er in den Gedankengängen und Ideologien des vorkaiserlichen Rom, und zwar aus Prinzip, nicht etwa nur aus Protest gegen Erscheinungen wie Nero und Domitian. Infolgedessen ist sein Bück getrübt für die

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Realität seiner Zeit, wie wir das bei allen Zeitgenossen beobachten können; prinzipiell ist er unfähig, selbst bedeutende Kaiser wie Augustus zu verstehen. Daneben leuchten ein paar Stellen auf, die eine andere, wir können sagen, realpolitische Anschauung ausdrücken: er spricht Nerva seine Anerkennung aus, „die früher unvereinbaren Dinge: Kaisertum und Freiheit" vereinigt zu haben (Agr. 3) und die Regierung des Traian nennt er eine Zeit von seltener Glückseligkeit; ja, er versteht sich sogar zu dem prinzipiellen Zugeständnis, daß das Prinzipat „um des Friedens willen" notwendig geworden sei (Hist. I, 1). Nicht immer glaubt er an eine ununterbrochen zunehmende Verschlechterung der Menschheit, sondern einmal äußert er den Gedanken an einen Kulturkreislauf; nicht alles sei früher besser gewesen, sondern einiges, wie z. B. der Luxus, speziell der Tafelluxus habe jetzt dank dem Emporkommen einer neuen Schicht von Menschen eine bedeutende Besserung erfahren. Auch unsere Zeit hat vieles hervorgebracht, was den Nachkommen ein Gegenstand der Nachahmung sein kann (III, 55). Entspricht seiner normalen Einstellung die verzweifelte Feststellung, daß seine Zeit zu verderbt wäre, um die Republik noch zu ertragen (Hist. II, 37), so muß er andererseits (im Dialogus) den Anfang der Verderbnis so weit in die republikanische Zeit zurückdatieren (bis zu den Decemviri!), daß eigentlich nur die ersten 50 Jahre derselben unangetastet bleiben. Keine dieser Einzelstellen darf man freilich zu fest anpacken oder gar zum Fundament einer historischen Weltsicht des Tacitus machen; sie sind gewissen Situationen und ihren Interpretationsnötigungen, vielleicht auch Stimmungen entsprungen. Doch ist auch die

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Gesamthaltung, wenn man so will, Stimmung, Haltung, gesellschaftlicher Stil, wie wir gleich noch deutlicher sehen werden. Daß etwas allerdings unveränderlich ist, nämlich der römische Patriotismus, ja sogar römischer Imperialismus, wird niemand verwundem, nachdem uns das gleiche bei Livius deutlich geworden ist. Wiewohl er Gegenwartsgeschichte schreibt und Lust zu dunkeln Farben hat, so verbrämt doch auch er römische Niederlagen oder römische Erfolgslosigkeit, wie das vor allem bei den Feldzügen des Germanicus deutlich wird. Auch nimmt er es einem Kaiser übel, daß er sich nicht für die Ausdehnung des Reiches interessiert (proferendi imperii incuriosus) (Ann. IV, 34), denn zu einem guten Fürsten gehört das Feldherrntalent (Agr. 39). Aus dem Geist der römischen Weltherrschaft, d. h. mit Haß und Furcht sind die Kapitel der Germanen- und der Partherkriege geschrieben; im gleichen Geist auch die Germania; darum triumphiert er darüber, daß die gefährlichsten Feinde Roms, die Germanen, sich selber zerfleischen und daß damit das Schicksal Rom drohendes Verderben fernhält. Wie schlecht auf solchem Boden eine wirkliche historische Kritik gedeihen kann, haben wir schon bei den griechischen Vorgängern des Tacitus gesehen. E s ist eine Folge der vagen weltanschaulichen Abgeklärtheit, daß auch der eigentliche Wille zur Wahrheit fehlt. Darüber mag man erstaunt sein, weil des Tacitus' Wort zu Beginn der Annalen, das vielzitierte sine ira et studio, schlechthin zum Leitmotiv historischer Arbeit geworden ist. Zum vornherein gibt er ihm freilich eine viel eingeschränktere Bedeutung als die es ist, die wir hineinzulegen pflegen; er will sich allein frei von Partei-

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leidenschaft bekennen, wie er sich im Beginn der Historien im gleichen Sinn als Freund der incorrupta fides bezeichnet, die einerseits die Schmeichelei und andererseits die Gehässigkeit flieht, welch letztere gerne das Mäntelchen der Freimütigkeit anzieht. Diese Versicherung kennen wir auch schon von Sallust her und wissen, wie es tatsächlich damit steht. Bei der gleich noch festzustellenden starken Berührung zwischen beiden könnte auch bei Tacitus diese Unparteilichkeit vielleicht nur stilistisches Werkzeug sein. Doch lassen wir dies einstweilen beiseite gestellt sein und fragen wir nach Tacitus' Stellung zur historischen Kritik. Gewiß hat er an und für sich nicht die Absicht, Geschichte zu fälschen, „nichts ist von mir erfunden worden, um zu verblüffen, vielmehr werde ich erzählen, wie es von älteren Leuten vernommen und aufgeschrieben wurde" (Ann. X I , 27) und „wie ich es für unvereinbar mit dem Ernst des von mir begonnenen Werkes halte, Märchen zu sammeln und mit erfundenen Erzählungen meine Leser zu amüsieren, so wage ich es auch nicht, öffentlich Bekanntgegebenem und Überliefertem meinen Glauben zu versagen" (Hist. II, 50). E r glaubt also, dem Wahrheitsstreben genug zu tun, wenn er die verschiedenen Zeugnisse nebeneinanderstellt und die Entscheidung dem Leser überläßt: „ nach seinem eigenen Empfinden soll ein jeder den Glauben verweigern oder gewähren" (Germ. 3), oder sich für eine der Versionen ausspricht. Wenn er das tut, was ist dann das Kriterium seiner historischen Kritik? Sozusagen immer ausschließlich psychologische Tatsachen. E s ist unwahrscheinlich, daß Nero seine Gattin Poppaea mit Gift aus dem Wege geräumt habe, denn „an einen Giftmord kann ich nicht

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glauben, obgleich dies einige Autoren behaupten, mehr aus Haß als weil sie davon überzeugt wären; wollte Nero doch Kinder haben und war er doch in seine Frau verliebt" (Ann. X V I , 6). Die auf dunkle Weise überlieferte Nachricht, daß Piso die Antonia, die unglückliche Tochter des Kaisers Claudius und Schwester des Britannicus durch Aussicht auf Heirat zur Teilnahme an der berühmten nach ihm geheißenen Verschwörung gegen Nero verleitet habe, lehnt Tacitus als absurd ab, da Pisos treue Liebe zu seiner Gattin, von der er sich also hätte scheiden lassen müssen, bekannt war; „es müßte denn etwa der Machttrieb stärker als alle anderen Leidenschaften sein" (Ann. X V , 53). Als Grund des dauernden Fernbleibens des alten Tiberius von Rom führt er, „der Mehrzahl der Quellen folgend", die Machenschaften des Seian an, der damit freie Bahn für sein Schalten bekommen will; dann aber kommen dem Tacitus Bedenken psychologischer Natur, weil nämlich Tiberius auch später, nach dem Sturz des Seian, die Abneigung gegen die Hauptstadt beibehält, ob nicht der Grund dieser Verhaltungsweise bei ihm selber zu suchen sei (Ann. IV, 57). Bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen zwei seiner Quellen, Messalla und Plinius, darüber, wer von den Offizieren der Partei des Vespasian schuld an der Zerstörung von Cremona sei, kann er keine Entscheidung treffen, weil beide in Frage kommenden damit in gleichem Maße ihrem Vorleben treu geblieben wären (Hist. III, 28). Beispiele solcher psychologischer Quellenkritik finden sich noch viele, hingegen kaum je ein Beleg für ein wirkliches Werten seiner Quellen im Sinne heutiger historischer Kritik. Ein einziges Mal erklärt er einen von ihm benutzten Historiker als verdächtig,

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„weil er für Seneca (von dessen Schicksal berichtet wird) voreingenommen ist, dessen Freundschaft er genoß" (Ann. X I I I , 20). Weiter als bis zur Erkenntnis der Parteilichkeit reicht seine Kritik nicht; ein anderes Kriterium hinsichtlich seiner Quellen kennt er nicht. Er betrachtet sich seiner Pflicht ledig, wenn er der übereinstimmenden Überlieferung seiner Gewährsleute folgt und im Falle des Auseinandergehens derselben durch namentliche Erwähnung der einzelnen diesen die Verantwortung zuschiebt (ebenda). Das letztere tut er auch tatsächlich von Zeit zu Zeit; ein Beispiel mag verdeutlichen, wie wenig diese Tatsache in kritischer Hinsicht bedeutet. So berichtet er, daß die Verlockung zum Inzest zwischen Agrippina und ihrem Sohn Nero nach Cluvius Rufus von der Mutter, nach Fabius Rusticus vom Sohn ausgegangen sei. Auf Seiten des Cluvius stehen auch die übrigen Quellen, und auch die öffentliche Meinung geht in dieser Richtung, und zwar veranlaßt durch diese und diese psychologischen Überlegungen. Tacitus zieht sich also angesichts der Ungeheuerlichkeit des Tatbestandes zurück und überläßt es seinen Gewährsmännern, sich zu rechtfertigen (Ann. X I V , 2). Ganz entsprechend sagt er auch bei Wiedergabe der pathologischen Szene, wo Nero die Schönheit der von ihm ermordeten Mutter bewundert, daß nicht alle Quellen diese Geschichte überliefern (Ann. XIV, 9). Ein anderer psychologischer Greuel veranlaßt ihn andererseits zu versichern, daß er tatsächlich in den Quellen zu lesen ist. Namhafte Autoren stehen zur Verfügung, die berichten, daß die Sieger — nämlich die Armee des Vespasian nach der zweiten Schlacht bei Bedriacum — sich so sehr über alle moralischen Bedenken hinweg-

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setzten, daß ein Kavallerist mit der Behauptung, er habe in der Schlacht seinen eigenen Bruder getötet, eine Belohnung von den Feldherren forderte (Hist. III, 51). Diese Geschichte empört Tacitus so sehr, daß er zur Illustration der fortgeschrittenen Verrohung der Sitten einen Parallelfall aus dem Historiker Sisenna (erste Hälfte des 1. vorchr. Jahrhunderts) anführt, wo ein Soldat des Pompeius, dem in bürgerlichen Wirren dasselbe passierte, daraufhin Selbstmord beging. Dazu fügt er die Anmerkung: „solche Parallelen aus der frühem Geschichte anzuführen, wird am Platze sein, so oft die Situation Beispiele für die Güte oder Trost im Schlechten verlangen wird". In gleicher Weise führt er kurz vorher für den Vatermord eines Soldaten die Quelle namentlich an (Hist. III, 25). So werden wir uns nicht wundern, wenn auch bei Tacitus in erster Linie die moralische B e d e u t u n g der Geschichtsschreibung betont wird, ohne freilich solchen Aussprüchen allzuviel Gewicht beizulegen. So, wenn er die Hauptaufgabe der Geschichte nennt, dafür zu sorgen, daß die Tugenden nicht verschwiegen werden, und gegenüber bösen Taten und Worten die Angst bestehe vor der Nachwelt und üblem Nachruhm (Ann. III, 65). Freilich, so erklärt er (Ann. IV, 32), kann er nicht den gleichen Schwung mitbringen, wie die Historiker der Republik; unser Bemühen ist auf kleinem Raum und mit geringem Ruhm verbunden (Ann. IV, 32). Die Gleichförmigkeit seines Stoffes: blutige Befehle, ununterbrochene Anklagen, trügerische Freundschaften, Untergang Unschuldiger und immer dieselben Ursachen der Katastrophe, kann leicht zum Überdruß führen, abgesehen von der-

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letzten Empfindlichkeiten der Nachkommen der von ihm behandelten Personen und anderer Unzufriedener. E s ist aber Verpflichtung den Toten der römischen Nobilität gegenüber, die, wie sie ein Recht auf eine sie von allen unterscheidende Leichenfeier haben, so auch auf spezielle Erwähnung in einem Geschichtswerk (Ann. X V I , 16). Dabei läßt sich aber deutlich erkennen, was wir schon hier feststellen wollen, daß im Grunde genommen Tacitus nicht genug von solchen furchtbaren Geschichten haben kann. Wo seine Quellen versagen, greift er auf Gerüchte; so muß er die an und für sich schon genügend grausame Geschichte der Vergiftung des jüngeren Drusus durch seine Gattin Livia und ihren Buhlen Seian, wie sie bei den meisten und zuverlässigsten Autoren überliefert ist, noch auf Grund zeitgenössischer Quellen mit Pfeffer würzen, um dann mittels psychologischer Erwägungen das Erzählte als unwahrscheinlich hinzustellen und zum Schluß zu bemerken: „meine Absicht bei der Erwähnung dieses Gerüchtes ist, durch ein klassisches Beispiel erlogene Schwätzereien unmöglich zu machen und diejenigen, in deren Hände unser Werk kommt, zu ersuchen, nicht unglaubwürdige Gerüchte gierig aufzunehmen und sie der nicht zum Zweck der Verblüffung verfälschten Wahrheit vorzuziehen" (Ann. IV, n ) . Beinahe die einzige Originalquelle, die er neben seinen Autoren benutzt, sind die Senatsakten, aber eigentlich in erster Linie um die Greuelnachrichten, die ihm doch schon seine Vorgänger in genügender Weise liefern und über deren Eintönigkeit er sich beklagt, noch aus diesem Quellenwerk zu ergänzen. Die Schriftsteller haben, wie er beim Lesen der Akten feststellt, manche Prozesse und Todesurteile weggelassen

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aus Rücksicht auf den Überdruß der Leser. „Uns hat sich sehr vieles als der Kenntnisnahme würdig erwiesen, obgleich es von den anderen unerwähnt geblieben w a r " (Ann. VI, 7). Der Kenntnisnahme würdig sind ihm aber diese Dinge allein um des psychologischen und moralischen Gehaltes willen. Dieser ist im Grunde das einzige Kriterium der Stoffauswahl. Das sind die tieferen Gründe (ratio et causae), die er zu Beginn der Historien (I, 4) aufzuspüren verspricht und in Gegensatz zum Zufallsgeschehen setzt. Und in der Tat bringt er anschließend an dieses Versprechen als erstes Beispiel eine Schilderung der psychologischen Haltung der verschiedenen Klassen und Stände Roms. Das macht uns auch die Polemik verständlich, die er einmal gegen eine seiner Quellen (wahrscheinlich ist sie ein uns verlorenes Geschichtswerk des älteren Plinius) führt, der er vorwirft, Dinge zu erzählen, wie den Umbau eines Amphitheaters, die eines Historikers unwürdig seien und nur in die Acta diurna Roms, d. h. in die Zeitung gehören; er erhebt also gegen sie den Vorwurf des Journalismus (Ann. X I I I , 31). Unsere eigene Stellung zu Tacitus ist mit diesen Feststellungen gegeben. Natürlich kann man es einem modernen Historiker nicht verwehren, sich darüber zu beklagen, daß Tacitus als Quelle höchst einseitig ist, daß wir bei ihm nichts von der Verwaltung des Reiches und von den Wandlungen und Verbesserungen desselben vernehmen, nichts von den Provinzen und ihrem Leben und ihren Nöten, daß er von den Fortschritten der Administration unter Tiberius und besonders unter Claudius schweigt, von dem offenbar musterhaften Zustand des Reiches in den ersten Jahren des Nero, die Traian als den Höhepunkt der römischen

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Geschichte unter den Kaisern ansah, nichts zu berichten weiß — Tacitus selber würde diese Vorwürfe nicht verstehen : er hat anderes gewollt als diese Kritiker von ihm verlangen. Die historiographische Tradition, in die er sich einreiht, gibt ihm das Recht, seine Pflicht als Historiker in einer leidenschaftlich vertieften Verwertung dessen zu sehen, was seine Vorgänger zusammentrugen. Das Einmalige ist dann stets nur Glied eines Gesamtzweckes; Kritik ist Auswahl in bezug auf diesen, aber nicht Untersuchung, ob dieses Einzelne sich wirklich genau so abgespielt habe wie die Überlieferung berichtet. Eine kritische Haltung im Sinne heutiger Forschung muß deshalb auch Tacitus fehlen. Die moderne Quellenkritik hat dies auch in einem Maße bestätigt, wie man es doch selbst auf dem Boden dieser Einsicht kaum erwartet hätte. Zwar ist es nicht gelungen, sicher die Namen der Quellenschriftsteller für die einzelnen Bücher und Kapitel festzustellen (womit ja auch nicht viel gewonnen wäre), auch hat es sich als falsch erwiesen, was man eine Zeitlang versuchte, jeweils eine Hauptquelle anzunehmen, in die Einzelheiten von anderswoher eingetragen worden wären (sog. Nissensches Gesetz); vielmehr hat Tacitus frei schaltend und waltend aus den Autoren, die ihm vorlagen, ausgewählt, was seinen Zwecken entsprach. Die Art und Weise, wie dies im einzelnen geschieht, läßt sich am besten in den ersten Teilen der Historien festlegen, zu denen wir einen Parallelbericht in den Biographien der Kaiser Galba und Otho von dem Griechen Plutarch besitzen, der eine oder mehrere gleiche Quellen wie Tacitus benutzt hat, nicht aber Tacitus selber, was zeitlich möglich wäre.

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Aus der Biographie des Galba: Plutarch.Galba 1 2 A l s e r n c h sehr jung war und seinen ersten Kriegsdienst unter Calvisius Sabinus tat, brachte er die Frau seines Kommandanten, die ein liederliches Weib war, nächtlicherweile in einer Uniform ins Lager und vergnügte sich mit ihr im Feldherrenzelt, das die Römer Principia nennen. Zur Strafe Heß ihn der Kaiser Gaius in Fesseln legen; nach dessen Tod hatte er Glück und wurde freigelassen. Bei einem Essen bei Kaiser Claudius stahl er darauf einen silbernen Becher. Als der Kaiser das erfuhr, lud er ihn wiederum zum Essen ein und als jener kam, befahl er den Diener, jenem kein silbernes, sondern lauter irdene Gefäße zu bringen und vor ihn hinzusetzen.

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inius, eines Vertrauten des Tacitus, Hist. 48 Schon der Beginn seiner Dienstzeit war schmählich; als Legaten hatte er den Calvisius Sabinus gehebt; dessen Frau ging aus verwerflicher Begierde, die Lage des Lagers kennenzulernen, nächtlicherweile in einer Uniform ins Lager und ließ sich, nachdem sie mit den Wachen und übrigen militärischen Organisationen Unfug getrieben hatte, im Feldherrenzelt (Principia) mißbrauchen. Für dieses Vergehen kam Vinius in den Anklagezustand. Darum wurde er auf Befehl des Kaisers Gaius in Fesseln gelegt; dann kam er infolge der Änderung der Verhältnisse wieder in Freiheit . . . dann wurde er eines niedrigen Verbrechens beschuldigt, er habe bei einem Gastmahl des Claudius einen goldenen Becher gestohlen, und Clau-

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dius gab den Befehl, daß ihm allein von allen am folgenden Tag auf irdenem Geschirr serviert werde. Aus der Anfangszeit der Regierung des Othor Tacitus, Hist. I, 74 Plutarch, Otho 4 Unterdessen anerboten Otho schrieb dem Vitelhäufige, mit unmännlichen lius, er werde ihm viel Schmeicheleien ausgestatGeld geben und eine Stadt, tete Briefe des Otho an in der er ein leichtes und Vitellius diesem Geld und angenehmes Leben in aller Gunst und die Wahl eines Ruhe führen könne. Aber auch jener schrieb an ihn, ruhigen Ortes für sein Leund zwar zuerst in leicht ben im Luxus. Vitellius ironischem Ton. Infolge- trumpfte mit gleichem auf; dessen fingen sie an, mit- zuerst noch ziemlich sanft, einander zu streiten und indem beide sich in dumschleuderten sich in ihren mer und widerlicher Weise Briefen wüste und gemeine verstellten, dann warfen Spöttereien zu, wobei ein sie sich wie Streithähne jeder zwar ganz der Wahr- Unzucht und Schandtaten heit gemäß, aber doch vor, beide ganz der Wahrhöchst töricht und lächer- heit entsprechend. lich den anderen mit völlig richtigen Enthüllungen heimsuchte. In beiden Beispielen ist deutlich, daß zu einem Teil sogar das stilistische Detail dem Original entnommen ist. Im Laufe vieler Untersuchungen hat sich erwiesen, daß dies durchaus kein einzelner Fall ist, sondern daß

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wir mit solchen Entlehnungen im weitesten Umfang zu rechnen haben, d. h. daß Tacitus sich in fast unvorstellbarem Maße seiner Quelle oder seinen Quellen anschließt — wie wir das übrigens bereits bei Livius kennen gelernt haben; man könnte sagen, daß er oft nur stilistische Variationen über ein vorgebildetes Thema mache. Aber noch erstaunlicher war die Erkenntnis, daß auch die großen Linien nicht oder wenigstens in der Hauptsache nicht von ihm selber stammen. Das pathologisch verzeichnete, aber so ungeheuer eindrucksvolle Porträt des Tiberius — an dem die historische Kritik am meisten und am frühesten Anstoß nahm — muß weitgehend schon in seinen Quellen vorgezeichnet gewesen sein. Es ist nicht die „geniale Künstlerschaft" des Tacitus, die das unheimliche Leben dieses Kaisers in jene drei eindrucksvollen Perioden aufgeteilt hat, in eine erste Zeit noch unfreiwilliger Zurückhaltung, solange seine Mutter Livia lebte, in eine zweite, von grausamer, aus tiefster Menschenverachtung geborener Großartigkeit, in der er unter dem Einfluß Seians steht, und in eine gemeine und ekelhaft perverse der allerletzten Jahre — auch diese Organisation scheint nach den Parallelberichten älter als Tacitus zu sein. Das Bild des Historikers, das damit entstanden ist, ist uns ja nicht fremd; es ist das uns längst bekannte aus griechischer und lateinischer Tradition. So werden wir uns nicht wundern, daß auch die übrigen, mehr äußerlichen Eigentümlichkeiten antiker Historiographie nicht fehlen. Das erste, woran wir dabei denken, sind die Reden; sie sind zum Teil ganz erfunden, teils — in den seltenen Fällen, wo eine Originalrede veröffentlicht war — sind sie Umsetzungen in Stil und Sprache des Tacitus,

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so daß sie mit der echten Rede fast nichts mehr zu tun haben, wie wir das im Falle der Rede des Kaisers Claudius für das passive Wahlrecht der Gallier feststellen können, die uns inschriftlich erhalten ist (Ann. XI, 24). In einem besonderen Fall hat er eine solche Ubersetzung in die eigene Diktion nicht gewagt; darum verzichtet er überhaupt auf die Wiedergabe. Es handelt sich um die letzten Äußerungen Senecas, die dieser unmittelbar vor seinem erzwungenen Freitod seinem Sekretär diktiert. Er motiviert den Verzicht damit, daß sie ja bereits publiziert seien (Ann. X V , 63). Des weiteren ist Tacitus Annalist und ordnet sich damit in die historiographische Linie ein, die von Thukydides ausgeht. Wenn er — selten genug — die annalistische Ordnung verläßt, stellt er dies ausdrücklich fest und entschuldigt sich dafür, etwa mit Ausdrücken wie: „Diese Ereignisse, die in andere Consuln, d. h. in das folgende Jahr hineinreichen, habe ich mit den vorausgehenden verbunden" (Ann. X I I I , 9); „diese Dinge, die in zwei aufeinanderfolgenden Sommern passiert sind, habe ich verbunden — es handelt sich um Angelegenheiten des Orients — , damit der Leser sich etwas von den gräßlichen Zuständen in Rom erholen könne" (Ann. VI» 38). Ein andermal aber wehrt er sich gegen das Verlangen, gleich noch die Bestrafung einer eben erzählten, besonders schurkischen Handlung anzuschließen, mit den Worten: ich würde es tun, „wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, alle Ereignisse in dem Jahr, in dem sie geschehen sind, zu berichten" (Ann. VI, 71). Tacitus hat auch Exkurse, verkümmerte Erben einer ehemals ausgedehnten Technik; es sind vor allem antiquarische und staatsrechtliche Fragen, z. T. also die Dinge, die ein heutiger Historiker

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ins Zentrum seines Geschichtswerkes stellen würde, die er in Exkurse verweist, z. B. über die militärische Organisation des römischen Reiches, anknüpfend an den Plan einer ausgedehnten Inspektionsreise des Kaisers Tiberius (Ann. IV, 4 ff.), über die Unübersichtlichkeit der Gesetzgebung mit der Pointe: „wie früher an Verbrechen, so krankte man jetzt an Gesetzen" (Ann. III, 25); über die Entwicklung der Quästur (Ann. X I , 22), über die Entwicklung der römischen Gerichtsbarkeit (Ann. X I I , 60), des Ärars (Ann. X I I I , 29), über die Stadtgrenze Roms (das Pomerium) (Ann. X I I , 24), den mons Caelius (Ann. IV, 65); die Entwicklung des Alphabetes (Ann. X I , 22). Dann natürlich auch geographisch-ethnographische, z. B. über Ägypten bei Anlaß des Besuches des Germanicus in diesem Land (Ann. II, 69); über das Aphroditeheiligtum in Paphos bei Gelegenheit des Besuches des Kronprinzen Titus (Hist. II, 3), oder über den Vogel Phönix (Ann. VI, 28), dann allgemein geschichtsphilosophische, wie eine Geschichte der Revolutionen (Hist. II, 38) und über Staatsverfassungen und ihre Dauer (Ann. IV, 33) oder moralische, wie wir sie schon oben kennengelernt haben. Sie werden eingeleitet mit Ausdrücken wie: ,,es wird nicht unangemessen sein" oder „es liegt nicht zu weit ab" und geschlossen mit solchen wie: „jetzt kehre ich zum Hauptthema zurück" usw. Damit ist die Zeit gekommen, wo wir uns dem wichtigen Problem des taciteischen Stiles zuwenden können. Man hat in ihm schon überhaupt die Lösung der Tacitusfrage sehen wollen, was sicher zu weit geht. Aber auf alle Fälle sind mit solcher Problemstellung Erkenntnisse erkämpft worden, die von bleibendem Werte sind.

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Tacitus gehört mit Zeitgenossen wie dem jüngeren Plinius zu den Klassizisten; sein Stilideal ist nicht aus erster Hand, sondern es ist eine Wiederaufnahme eines „klassischen" Stiles.. Das will aber durchaus nicht heißen, daß ein solcher Schriftsteller sich für seine ganze schriftstellerische Tätigkeit einem einzigen Vorbild verschreibt; das Vorbild wechselt mit dem Stoff und der Gattung des Werkes. So imitiert Tacitus innerhalb des Agricola in den allgemeinen Abschnitten Cicero, in den historischen, d. h. die Feldzüge des Agricola in Britannien schildernden aber Sallust, in der Germania hauptsächlich Cäsar, wie schon der erste Satz verrät, der an den ersten Satz des Bellum Gallicum antönt, d. h. mit ihm spielt, ihn pointiert und übertrumpft. Als reiner Historiker, d. h. in Historien und Annalen, hatte Tacitus die Wahl zwischen zwei Stilidealen, dem livianischen und dem sallustischen. Er wählte das letztere; die Beantwortung der Frage, warum er sich so entschied, wollen wir noch etwas verschieben. Diese Stilimitation ist von großer Bedeutung, aber, wie jede Erkenntnis, ist auch diese übertrieben worden. Gewiß soll der Leser die Nachahmung fühlen und sie goutieren; aber es geht zu weit, wenn man glauben machen will, als ob bei jeder Vokabel, jedem Satz und in jeder Periode dergebildete antike Leser eine bestimmte Stelle des das Vorbild darstellenden Schriftstellers in sich aufleuchten ließ, so daß z. B., wenn Tacitus in der Charakteristik einer seiner Figuren Sätze aus dem Catilinabild des Sallust verwendet, dem Leser hinter dem Porträtierten als Hintergrund Catilina erschiene, und erst aus diesem Doppelsehen das volle Bild entstünde. Was bei einem Dichter als Vorbild denkbar ist,

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etwa bei Vergil, daß der leiseste Anklang an ihre Verse gewürdigt werde, das ist einem Cicero, Livius oder Sallust gegenüber unvorstellbar. Komplizierter wird die Sache aber noch dadurch, daß diese Stilübernahme bereits aus zweiter Hand geschieht, denn schon die lateinischen Klassiker sind Klassiker insofern, als sie sich an die höchsten griechischen Vertreter der von ihnen gewählten literarischen Gattungen anlehnen: das ist das Wesen ihres Humanismus. So steht hinter Tacitus' Stilvorbild Sallust ein Grieche: wie wir bereits wissen, Thukydides; Tacitus kennt auch ihn nicht nur durch den Mittler Sallust; neben der häufigeren indirekten Imitation steht damit auch die direkte. Beide weisen aber in die gleiche Richtung; sie verlangen eine raffinierte und bewußte Vergewaltigung der Sprache, ein unermüdliches Suchen von Antithesen und Wortspielen, die aber ebenso raffiniert im letzten Moment abgebogen und damit von ihrem Automatismus und ihrer befremdenden Banalität erlöst werden. Jeder Satz könnte als Beispiel genommen werden; aber nur in der Originalsprache läßt es sich zeigen. Keine moderne Sprache ist auch nur im entferntesten imstande, diese Verbiegungen und Verzerrungen des Normalen wiederzugeben. Höchstens die gedanklichen Pointierungen lassen sich übersetzen, die aber nur eine Seite repräsentieren. Nehmen wir als Beispiel das Opfer des Eintagkaisers Galba, der nicht weiß, daß vor einigen Minuten Otho die Gardesoldaten zum Abfall verleitet hat, und daß seine Tage gezählt sind: „Galba blieb unterdessen völlig ahnungslos und beschäftigte sich mit Opfern und belästigte die Götter eines Reiches, das bereits nicht mehr das seine war" (Hist. I, 29), oder den

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Schluß der Charakteristik des Galba: „nach allgemeiner Ansicht fähig, Kaiser zu sein, wenn er nicht Kaiser geworden wäre" (Hist. I, 49), oder den Satz über den Kaiser Vitellius, der in seiner dumpfen Teilnahmslosigkeit so weit kam, daß er, „wenn die anderen ihn nicht daran erinnert hätten, daß er Kaiser gewesen sei, es selbst vergessen hätte" (Hist. III, 63). E s ist eine Sprache voller unsäglicher Qual; sie ist qualvoller als die thukydideische, weil die lateinische Kunstsprache sich zu allen Kaprizen und allen Perversitäten hingab. Sie ist aber auch noch viel raffinierter als die des Sallust. So ist man bei der Lektüre in steter Spannung und Aufregung; nicht ein Augenblick der Besinnung und des Ausruhens wird einem gegönnt. Darum wird der Genuß auf die Dauer schmerzhaft. Es geht etwas von der Gereiztheit, die man schon an Tacitus selber festgestellt hat, auf den Leser über. Man möchte manchmal protestieren und den Schriftsteller bitten, es nicht zu weit zu treiben. Das alles hat Tacitus gewollt. Trotzdem ist ihm der Stil nicht die Hauptsache, ist ihm nur Instrument, um dem Ausdruck zu geben, was er vermitteln will. Damit ist auch schon gesagt, daß es nicht ein Willkürakt war, wenn er Sallust bzw. Thukydides als Stilvorbild wählte und nicht Livius. Nur dieser Stil bietet die von ihm gesuchten Möglichkeiten; er allein ist von vornherein mit Wirkungen geladen, die er für seine Zwecke nicht entbehren konnte. In ihm liegt schon Unerbittlichkeit und Unmenschlichkeit enthalten, Verzweiflung und Geringschätzung alles dessen, woran gewöhnliche Menschen ihr Herz und ihre Sympathie hängen. Aber diese Stile sind nicht identisch mit dem, wofür er sie braucht,

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was schon daraus hervorgeht, daß Thukydides von ganz anderen Dingen handelt als Tacitus. Aber auch Sallust deckt sich weder im Vorhaben noch in der Erfüllung mit ihm, bei aller Gleichartigkeit der Wirkung. Alle drei ersparen uns nichts, alle drei sind imstande, uns an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Aber wir verzweifeln bei ihnen an ganz verschiedenen Dingen. Und auch das Entzücken, das gleichzeitig mit diesen Verzweiflungen da ist, weil sie von Kunstwerken ausgestrahlt werden, auch dies Entzücken ist nicht gleich, nicht einmal bei Sallust und bei Tacitus. Es ist schon fast eine Banalität geworden, vom Künstler Tacitus zu sprechen und ihn an die Stelle des Historikers zu setzen. Welcher Art ist aber diese Künstlerschaft ? Auf keinen Fall darf man sie zu eng, zu klassizistisch fassen. Mit Begeisterung hat man den vollendeten Bau der Erzählung, ihre dramatische Steigerung, ihre geschickte Stuiung herausgearbeitet. Dies alles sind Hilfen der künstlerischen Wirkung, so gut wie die sprachliche Formung; aber zum guten Teil sind auch sie vortaciteisches Erbgut, im einzelnen und im Prinzip. Vieles, vielleicht das meiste von diesen gepriesenen Dingen haben wahrscheinlich schon seine Quellen gehabt, denn dramatische Technik in der Historiographie ist ja hellenistische und römische rhetorische Schullehre. Auf alle Fälle fällt Tacitus damit nicht aus dem normalen Rahmen. Zu dieser Technik gehört, wie beim Drama, Eindeutigkeit der Sympathie und Antipathie; der Leser muß seine Neigung einer Sache oder Person zuwenden; diesen gegenüber stehen in düsteren Farben gemalt die bösen Gegenspieler. In der Grundierung ist dies auch bei Tacitus so, aber nur im Materiellen, gerade

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wie bei Sallust; nur daß wir bei Tacitus nicht vom Parteimann sprechen können, sondern mehr vom Ideologen. Nun gehört es aber gerade zum Wesen der taciteischen Kunst, diese einfache, gradlinige Sympathieleitung zu stören, sie ständig zu unterbrechen, an ihre Stelle Unsicherheit, Unruhe und Inkonsequenz zu setzen. Auch darin ist Sallust vorausgegangen. Was aber bei ihm anfängerhaft unentwickelt ist und psychologisch unfrei und widerspruchsvoll, darum auch oft peinlich und widerwärtig, wird in der Hand des Tacitus zum genial gemeisterten Werkzeug, das ihm sein Material für seine Gestaltung bereit macht. Er stellt sich dadurch in Gegensatz zu seinen Quellen, die offenbar jene dramatische Gradlinigkeit aufwiesen; er hat ein anderes Prinzip künstlerischer Vereinheitlichung; er untermalt mit ihren Farben, aber das Wesentliche seines Werkes basiert nicht auf diesem linearen Prinzip. Seine Schaffensart ist die Reduktion auf ganz wenige Farben; er setzt an Stelle der Vielfalt historischen und psychologischen Geschehens einige ganz wenige Faktoren rein psychologischer Natur. Er legt gleichsam einen Raster über das bunte Bild, das ihm die Wirklichkeit oder vielmehr seine Quellen bieten; nur wenige menschliche Eigenschaften bleiben zurück, eigentlich nur Laster. Wer keine Laster hat, wird infolge dieses Rasters zu einem farblosen Schemen; wir denken etwa an den jugendlichen Britannicus oder die unglückliche Octavia, die Gattin des Nero. In dieser Richtung gibt es nur eine Ausnahme: Germanicus. In dieser Hinsicht ist auch Sallust wieder ähnlich; aber ein Vergleich zeigt sofort die Unterschiede. Was bei Sallust mangelnder Realitätssinn und fast pathologische Verbildung ist,

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das entspricht bei Tacitus bewußtem künstlerischem Willen. Er macht dadurch sein Werk zu einem -Ganzen und Geschlossenen. Es ist ein subjektives Verfahren wie bei Sallust; aber es ist ein Mißverständnis, wenn man bei Tacitus an einen pathologischen Zustand denkt und ihn mit einem Farbenblinden oder Astigmatischen als Deuter moralischer Phänomene vergleicht. Gewiß liegt Gewaltsamkeit und Verzerrung nicht selten deutlich zutage. Wer aber daran Anstoß nehmen zu müssen glaubt, der ignoriert die Not jeglichen Gestalters, der, namentlich in späteren Kulturperioden, immer größere Mühe hat, Wege einzuschlagen, die nicht schon ausgetreten und damit schöpferisch erledigt sind. Wenn man darauf aufmerkt, so wird man sich zu seinem Erstaunen bewußt, wie gering die Skala der Laster ist, für die sich Tacitus wirklich interessiert und die er in ihrer ganzen Verästelung seziert. Wir dürfen dabei nicht an Sallust mit seiner einzigen Habsucht denken, denn was bei Sallust nur leere Worte, höchstens diktiert von einer pathologischen Manie sind, ist bei Tacitus wirkliches Leben, mit einer großen Fülle von Unter- und Nebentönen. Um so auffallender ist die Reduktion der Haupttöne auf ganz wenige. Was uns bei für politische Taten verantwortlichen Persönlichkeiten vor allem als Fehler interessieren würde, Dummheit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, Faulheit, Ungerechtigkeit, Parteilichkeit kommen zwar natürlich auch vor, aber durchaus nur nebenbei und in ganz konventioneller Weise. Darum ist auch eine Figur wie der Kaiser Claudius nicht eigentlich herausgearbeitet; man erblickt ihn zwar in der sturen Unselbständigkeit von Kopf und Herz, „da in ihm weder Urteil nach Abneigung war, außer

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wenn ihm diese von außen beigebracht und geheißen worden waren". E s fehlen aber die aufpeitschenden Akzente, die Tacitus für die ihn interessierenden Charaktermängel hat, und die Nuancen. Nebenbei wird auch von Tiberius ein paarmal seine Unentschlossenheit (anxium iudicium) angeführt; aber diese Seite ist ganz verkümmert neben seinen für Tacitus zentralen Eigenschaften. Auch die sexuellen Ausschweifungen spielen in Tacitus, Werk eine nebensächliche Rolle; sie sind da, wo sie nicht zu umgehen sind, und gehören mehr in die Klasse der konventionellen Vorwürfe, die man einer Welt macht, in der „Verführen und Verführtwerden Ausdruck des Zeitgeistes genannt wird" (Germania 19). Beim greisen Tiberius hilft seine hemmungslose Erotik dazu mit, dieses Bild letzten Grauens zu gestalten, aber eine Figur wie Messalina wird nicht ausgeschöpft, eigentlich nur in -den Folgen und Begleitumständen ihrer sexuellen Unersättlichkeit gezeichnet. Mehr Witterung hat Tacitus für die Avaritia und Verwandtes; aber auch dies geht nicht tief; z. T. mag es sallustisches Erbe sein, gar nicht eigenes Erlebnis. E r nimmt sie im Grunde nicht voll, behandelt sie leicht ironisch, was bei ihm sehr selten ist und auffällt, so in der wunderlichen Geschichte vom Schatz der Dido, den ein Gauner dem Nero in Aussicht stellt, worauf der Hof den letzten Rest von Zurückhaltung in der Verschwendung aufgibt, der baldigen Bereicherung sicher (Ann. X V I , 13), oder in dem freilich die Ironie bis zur Grenze der Erträglichkeit pointierendem Wort über Neros Mutter Agrippina: sie ist durch ein nicht völlig gelungenes Attentat von Seiten ihres Sohnes verwundet und weiß, daß die Fortsetzung nicht lange auf sich warten lassen wird, interessiert sich aber

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doch lebhaft für das Erbe ihrer, bei dem Attentat umgekommenen Freundin Acerronia: ,,id tan tum non per simulationem, nur in diesem Punkte heuchelte sie nicht." Das Laster der Laster, das einzige, was zu studieren wahrhaft lohnt, sind aber alle diejenigen, die mit dem Geltungsbedürfnis zusammenhängen: Ehrgeiz, Eifersucht auf fremden Ruhm und Erfolg, Neid, Wichtigtuerei und Einbildung und wie sie alle heißen mögen, die Spielformen des Triebes, der, wie Tacitus, freilich nicht als erster, sagt (Hist. IV, 6), den Weisen erst als letzte Schwäche verläßt. Sie interessieren ihn im Individuum wie in Gruppen; in jedem Menschen und in jeder Situation erkennt er ihre Spuren. Unermüdlich ist er im Aufspüren aller ihrer verborgenen Erscheinungsformen bei Großen und bei Kleinen. Das höchste Lob, das er, ein einziges Mal, erteilt — natürlich dem Germanicus —ist: „er wußte nichts von Neid und Einbildung" (II, 72); denn sonst wüten diese Laster gerade im kleinsten Kreis, in der Familie, unter Brüdern. Von Drusus, dem Sohne des Germanicus, kann er sagen, er habe einen brutalen Charakter über den normalen Ehrgeiz und die normale Abneigung von Geschwistern untereinander hinaus (Ann. IV, 60), oder man habe dem Nero die Ermordung seines Bruders Britannicus verziehen, indem man sie als Ausfluß der naturgegebenen Zwietracht unter Brüdern ansah. Aber auch den Staat vergiftet dieses Laster. Die Kaiser sind eifersüchtig auf ihre Feldherrn, Tiberius auf Germanicus, Domitian auf Agricola. Tiberius ist weiter eifersüchtig auf die Ehren, die seiner Mutter erwiesen werden; die Erhöhung einer Frau empfindet er als eigene Demütigung (Ann. 1 , 1 3 ) . E r läßt Beamte jahrelang in ihren Provinzen aus Neid, damit möglichst

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wenige das Ziel erreichen (Ann. I, 80). Wenn in Augustus' Testament als dritte Kategorie von Erbschaftsnehmern Mitglieder der Nobilität genannt werden, denen der Verstorbene eigentlich mißtrauisch gegenüberstand, so geschieht das, um vor der Nachwelt zu prahlen (Ann. I, 8). Mucian, der Kaisermacher Vespasians, verbietet seinen Offizieren aktives Vorgehen unter dem Vorwand, es könne ein unblutiger und verlustloser Sieg errungen werden; in Wirklichkeit will er eben allen Feldherrenruhm allein einheimsen (III, 8). Dieser Ehrgeiz geht aber auch durch die ganze soziale Stufenleiter hinunter. Zu oberst stehen Senatoren mit Namen besten Klanges, die aus Geltungstrieb sich gegenseitig mit den unsinnigsten Anträgen überbieten, ohne jede Linie und Haltung, wenn sie nur Aufsehen und die Aufmerksamkeit des Kaisers erregen können. Geht es mit einem freisinnigen Antrag nicht, weil schon ein anderer mit einem solchen zuvorgekommen („weil Piso die Allüren der Freimütigkeit mit seinem Antrag schon vorweggenommen hatte"), so macht man zur Abwechslung einmal in Unterwürfigkeit; selbst ein Seneca veröffentlicht die Reden seines jugendlichen Schülers Nero nur, um zu beweisen, wie anständig das sei, was er lehre, oder um sein eigenes Genie zur Schau zu stellen (Ann. X I I I , 11). Weiter unten kommen die Emporkömmlinge, die zuerst ihre Altersgenossen, nachher ihre Vorgesetzten, zuletzt ihre eigenen Hoffnungen zu übertreffen sich mühen (Ann. III, 66); alle Stände sind vertreten bis hinunter zu den Soldaten, zum niedrigen Volk, wo das gleiche Laster dumpf unsichere und unumschriebene Gestalt annimmt, wie bei jenen Elementen, die schon darum zu einem Unternehmen sich

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hingezogen fühlen, weil sie sehen, daß es den besseren Kameraden unangenehm ist (Hist. I, 38). Vor allem aber interessieren den Tacitus die verhüllten und nicht auf den ersten Blick zu erkennenden Abarten des Ehrgeizes, so, wenn Augustus scheinbar ablehnt, dabei aber, was er ablehnt, mit allen Fasern ersehnt (Ann. I, 3), oder der verborgene, aber um so intensivere Haß der Livia und des Tiberius gegen ihren Adoptivenkel, resp. Adoptivsohn Germanicus, dessen Ursachen um so heftiger, weil gänzlich unberechtigt waren (Ann. I, 33), ferner die Reaktion des Tiberius, dem der Wunsch eines anderen, z. B. des Senates genügt, tun das Gegenteil davon zu tun (Ann. II, 38), ja überhaupt die ganze seelische Existenz des Tiberius, die aus lauter Ressentiments besteht, die er ängstlich zu verbergen sich bemüht. Darum ragt der Charakter des Tiberius, so verzeichnet er auch vom historischen Standpunkt aus sein mag, über alle anderen taciteischen Charakterzeichnungen hinaus, weil er rein aus Elementen dieses für Tacitus zentralen Triebes zusammengesetzt ist. Die Sache wird sogar noch komplizierter, weil allmählich das Verbergen bei Tiberius Selbstzweck wird; „selbst in Dingen, die er nicht zu verheimlichen hatte, brauchte Tiberius immer zweideutige und unklare Worte, sei es aus Veranlagung, sei es aus Angewöhnung" (Ann. I, 1 1 ) ; darum sind Rede und Miene des Kaisers gleichzeitig hochmütig und undurchsichtig (Ann. I, 33). Unbeschreibliche Meisterwerke psychologischer Interpretation sind die Szenen der Regierungsübernahme durch Tiberius, wo es den Mitspielern in diesem Drama fast unmöglich ist, den schmalen Grat des Handelns nicht zu verfehlen, den ihnen der verborgene Macht-

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hunger des Tiberius vorschreibt, in seiner „anmaßenden Bescheidenheit" (Ann. 1,8), damit er alles bekommt und doch nichts begehrt zu haben scheint, „dabei auch die Befriedigung haben kann, vielmehr vom Staat gerufen und erwählt zu scheinen als durch die Umtriebe einer Frau (seine Mutter Livia) und die Adoption eines alten Mannes (Augustus) hineingeschmuggelt worden zu sein" (Ann. I, 7). Im langen Verlauf der Regierung wird dann aber selbst das Heißbegehrte schal, immer neue Sensationen müssen es würzen. Sie, die Macht, verwandelt ihren Träger und Sklaven; nicht nur Tiberius, alle sind ihre Opfer, Caligula, Nero und sicherlich auch Domitian, über den des Tacitus Darstellung uns freilich nicht erhalten ist. Aus dieser Zweideutigkeit, die dank dem krampfhaft verborgenen Ehrgeiz in sozusagen jedem Charakter und in jeder Handlung eingeschlossen ist, entsteht jenes Zwielicht, das Tacitus auf alles, was er erzählt, fallen läßt und worin er der größte Meister ist. Die Welt nimmt dadurch ein unerhört böses Gesicht an; sie erscheint gleichsam krank an einem geheimen Leiden und vergiftet bis ins Mark hinein. Alle seine Menschen haben darum ein zwiespältiges Wesen; sie sind wie etwa Mucian, aus Üppigkeit und Tatkraft, Umgänglichkeit und Arroganz, guten und schlechten Eigenschaften gemischt (Hist. I, 10). Gibt er ihnen nicht selber diesen Mischungscharakter, so läßt er die öffentliche Meinung zwiespältig über sie urteilen; dabei ist die negative Seite stets ausgedehnter, liebevoller ausgebaut als die positive; das berühmte Beispiel ist die doppelte Charakteristik des Augustus zu Anfang der Annalen: WEIS im Gedächtnis haften bleibt, ist der feindselige Teil der-

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selben. Wie die ganzen Menschen, so sind erst recht ihre Handlungen zweigesichtig; jeder kann man durch böswillige Interpretation eine schlimme Deutung geben, in jeder eine Spur jenes dominierenden Triebes feststellen. Läßt Tacitus auch gern den Leser die Wahl, welcher Erklärung er sich anschließen will — dessen ist er sicher, daß von der ungünstigen etwas auf alle Fälle hängen bleibt, selbst wenn er sie selber ablehnt mit Redensarten wie: „ich kann das nicht glauben, obgleich es auch überliefert ist" (Ann. I, 76); „das könnte ich nicht bestätigen" oder „dennoch dürfte ich es nicht bestätigen" (Ann. III, 16) u. ä. m. Die Tatsache der Mitteilung bleibt eindrücklicher als die Ablehnung. Meist wird die böse Deutung so pointiert angehängt, daß sie sich wie ein Stachel eingräbt, oft gerade an einem Kapitelschluß, der gewohntermaßen sententiös gefärbt ist. Dadurch wird die Bosheit in den Rang einer Dauerwahrheit emporgehoben. Gleich zu Beginn dfer Annalen häufen sich für diese Technik die Beispiele; einzelne haben wir schon oben angeführt. Im 3. Kapitel heißt es von Gaius, dem Enkel des Augustus, der von diesem adoptiert worden war und zu höchsten Aufgaben berufen schien, dann aber jung starb: „ihn raffte ein früher, vom Schicksal bestimmter Tod hinweg — oder die Hinterlist seiner Stiefmutter Livia"; zwei Kapitel später von Augustus, der kränkelt: „einige redeten von verbrecherischen Mitteln seiner Gattin." Zwischendrin wird von einer Schrift des Augustus über die Staatsaufgaben erzählt, daß sie die Warnung enthalten habe vor einer Erweiterung der Reichsgrenzen; dazu die Anmerkung: „wobei man nicht weiß, ob das aus Angst oder Eifersucht geschah." Mögen die Beispiele in den

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ersten Seiten der Annalen besonders gehäuft sein — sie hören tatsächlich nie mehr auf. Im Leben des Tiberius feiern sie wahre Orgien: wenn er trotz schlechter politischer Nachrichten eine kaltblütige Haltung an den Tag legt, so geschieht das „aus innerer Größe — oder, weil er bereits wußte, daß die Angelegenheit unbedeutend sei und viel weniger wichtig als die öffentliche Meinung annahm" (Ann. III, 41) oder, wenn er ans Krankenbett seiner Mutter eilt, so geschieht das, „weil die Beziehungen zwischen Mutter und Sohn noch herzlich sind — oder der Haß erst im Verborgenen keimte" (Ann. III, 64) usw. Das führt hie und da zu direkten Verfälschungen der Wahrheit; so heißt es Hist. X V , 45: „Einige überlieferten, daß Nero (seinen Lehrer) Seneca zu vergiften versuchte"; X V , 60 wird dieser Versuch bereits als eine auch von Tacitus anerkannte Tatsache behandelt: „Da der Giftanschlag mißlungen war . . als ob Tacitus das Opfer seiner eigenen zweideutigen Darstellung geworden wäre, wie das dem Leser ununterbrochen widerfährt. Nicht anders geht es mit dem Tod des Germanicus, einer der ergreifendsten Episoden der Annalen. Kein Leser, der nicht von der Hinterhältigkeit der taciteischen Erzählung überzeugt wäre, daß Germanicus dem Gift zum Opfer fiel, das Adoptivvater und Adoptivgroßmutter für ihn bereitet haben; im Prozeß, der nachher seinen direkten Widersachern, dem Ehepaar Piso — Tiberius und Livia bleiben natürlich ganz im Hintergrund —, gemacht wird, erweist sich dieser Verdacht als völlig imbegründet, und zwar deshalb, weil Tacitus in diesem Kapitel ein anderes Interesse hat, nämlich die kalte Undankbarkeit des Tiberius gegenüber seinen Werkzeugen zu zeigen.

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Es wäre falsch, wie man es wohl schon getan hat, hinter dieser Verhaltungsweise eine persönliche Gereiztheit des Tacitus zu vermuten; es braucht nicht einmal in seinem Charakter ein finsterer und pessimistischer Zug vorhanden gewesen zu sein. Es ist sein historischer Stil, mit dem er seinen Werken Einheit und Geschlossenheit verleiht. E r arbeitet nicht mit Spannung, nicht mit Kontrasten, nicht mit Sympathie und Antipathie; er gibt seinem Werk, seiner Zeit, seinen Menschen eine einheitliche dunkle Färbung. Am deutlichsten wird der Unterschied zur offiziellen historiographischen Manier in der Darstellung jener Tugendheroen der von ihm geschilderten Epoche, jener Oppositionsfiguren republikanisch-stoischer Prägung, repräsentiert vor allem in den beiden Persönlichkeiten des Paetus Thrasea, der als Opfer des Nero seinen Tod fand, und seines Schwiegersohnes Helvidius Priscus, den sogar ein Vespasian entfernen mußte. Tacitus bewundert sie wirklich, es ist sicherlich unrichtig, wenn man in seiner Haltung ihnen gegenüber Ironie wittern will; als Paetus Thrasea das Verhängnis naht, leitet er die Erzählung ein mit den Worten: „Zuletzt faßte Nero den Wunsch, die Tugend selber auszurotten" (Ann. X V I , 21). Aber er kann es doch nicht unterlassen, ständig an ihrem Ruhm und ihrem Auftreten Abstriche zu machen; er sieht die Eitelkeit durchschimmern und fühlt die Hohlheit und Sinnlosigkeit der heldischen Gebärden. Die Hauptlinien stammen aus seinen Quellen; die Interpretation und damit die Eingliederung in den Geist des Ganzen aber von Tacitus. Thrasea, so heißt es (Ann. X I V , 49) handelt „aus Charakterstärke — und damit sein Ruhm nicht aufhöre"; er mischt sich wichtigtuerisch in Kleinigkeiten

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ein und schweigt bei entscheidenden Fragen (Ann. XIII, 49); er handelt im Grunde genommen sinnlos, indem er zwar Anlaß zu seinem eigenen Untergang gibt, aber damit den anderen nicht im geringsten den Weg zur Freiheit eröffnet (Ann. X I V , 12). So kann Tacitus nicht umhin, andere Männer, die den rechten Mittelweg zwischen Untertänigkeit und Unbotmäßigkeit innezuhalten wissen, diesen Phantasten gegenüberzustellen, die ohne allen Nutzen für den Staat sich durch einen anspruchsvollen Tod berühmt machten (Agr. 42), Männer wie sein Schwiegervater und wohl auch wie er selber. Auch Seneca gehört zu diesen Verunglimpften. Am Benehmen ihm gegenüber läßt sich dies mehr nur fühlen; deutlicher wird es aus der Art und Weise, wie er dessen Gattin behandelt, weil wir eine eindrucksvolle Parallele zu ihrem Verhalten haben. Im III. Buch der Annalen, bei der Bestrafung der bösartigen Intriganten, des Piso und seiner Frau Plancina, der Feinde des Germanicus, wird erzählt, daß die Plancina, als sich ein Hoffnungsstrahl für ihre persönliche Rettung zeigt, sich allmählich von ihrem Gatten zu distanzieren anfängt, um die Verteidigung individuell zu führen. Jedermann empfindet das als einen weiteren Beweis für die Gemeinheit dieses Menschen, die auch untereinander keine Treue kennen (Ann. III, 15). Daß auch das in starkem Maße Stil ist, zeigt sich dann aber am Ende des Werkes (Ann. X V , 64) beim Freitod des Seneca; mit ihm zusammen öffnet sich auch seine ihm in treuer Liebe verbundene Gattin Paulina die Adern, obgleich dazu kein Anlaß vorliegt. Nero wünscht aber ihren Tod nicht, er gibt den Befehl, ihn zu verhindern: es werden ihr die Adern wieder verbunden und das Blut gestillt, „wobei man, so führt Tacitus fort,

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nicht weiß, ob sie es merkte. Denn wie das Volk immer das Schlechtere glaubt, so fehlte es nicht an Stimmen, die behaupteten, sie habe, solange sie Nero für unerbittlich hielt, den Ruhm vereinten Todes mit ihrem Gatten gesucht, dann aber, als sich ihr freundlichere Aussichten auftaten, hätte sie sich durch die Lockung des Lebens besiegen lassen." Damit aber ist die dem Stil fremde Helle des Bildes beseitigt, auch wenn Tacitus noch ein paar teilnehmende Worte über das weitere, einzig dem Andenken an Seneca gewidmete Leben der Paulina hinzufügt. In diesem Zusammenhang dürfen wir darauf hinweisen, daß auch die berühmte Stelle über die Christen bei Anlaß des Brandes der Stadt Rom in seiner Ungerechtigkeit nicht zu wörtlich zu nehmen ist, da es seine Haltung dem gleichen Stilprinzip verdankt. Nur eine Figur von größerer Bedeutung fällt in gewissem Grade aus dem Rahmen; es ist Germanicus. Man möchte sich beinahe so ausdrücken, daß Tacitus in diesem Fall nicht imstande war, seine dunklen Farben in das lichte Bild einzuschwärzen, das seine Quellen von dem hebenswürdigen Prinzen entwerfen; er muß vor ihm kapitulieren. Des Germanicus Bescheidenheit, sein fehlender Machthunger, die Selbstverständlichkeit seines Gehorsams und der Unterordnung dem Vater und Kaiser gegenüber, die keiner Intrige zugängliche Liebe zum Bruder, dem echten Sohn des Tiberius, der diese übrigens in gleicher unangreifbarer Treue erwiderte, heben ihn aus allen anderen Figuren des ganzen Werkes, soweit wir es kennen, hinaus. Nur in minutiösen Details kann Tacitus auch hier nicht ganz von seiner Art lassen. Als Germanicus endlich — fast nimmt ihm der Leser die bis jetzt bewiesene Langmut übel — gegen Piso

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losbricht, gegen den er, selbst nach des Tacitus Andeutungen, eine Engelsgeduld bewiesen hatte, werden dafür die Hetzereien seiner Umgebung verantwortlich gemacht (Ann. II, 57), und als er gewissen Bitten des Armenierkönigs Artabanus entspricht, geschieht dies nicht um dieser willen, sondern um den Piso zu kränken. Diese kleinen Stiche ändern aber nichts am Ausnahmecharakter des Germanicusbildes. Man könnte dieser Darstellung des taciteischen Stiles Einseitigkeit vorwerfen, spielen doch darin die militärischen Kapitel keine Rolle. Darf man sie nur Füllmaterial nennen, zur Erholung, wie Tacitus selber sagt, von den Greueln der Hauptstadt ? Das wäre sicherlich übertrieben, denn gewisse von ihnen haben selbständigen Charakter, wie die Kriege des Germanicus mit der mit Furcht und Bewunderung gezeichneten Figur des Arminius, des Befreiers der Germanen, oder wie die Kämpfe gegen den Bataverführer Julius Civilis. Aber im großen und ganzen ist es doch so, daß der antike Leser seinen Tacitus las wie der heutige, der nicht mit einer besonderen Fragestellung an die Lektüre herantritt und Tacitus nicht als Quelle brauchen will. Darum hat Tacitus, als er als römischer Patriot, der dem Reiche Gefahren drohen sah, die ihn ängstigen, den Germanen eine eigene Schrift widmete, sie unter ein anderes Stilgesetz gestellt. Dieses Gesetz ist durch die Forschung der letzten Zeit immer deutlicher geworden; aber es ist schwer, es allgemein verständlich zu machen, da die direkten Parallelen fehlen, d. h. verborgen sind in fremder Umgebung und nur in ihren Schatten zu erkennen sind. Aber jeder verständige Leser der Germania fühlt, daß er sie anders lesen muß als

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die Historien und die Annalen. Er fühlt auch, daß eine stärkere Verpflichtung zur Wahrheit daraus spricht. Mag auch Tacitus sie selber nicht empfunden haben, so ist er darin ein Erbe jener strengeren Haltung, jener naturwissenschaftlichen, der wir im Laufe der Betrachtung der antiken Geschichtsschreibung schon wiederholt begegnet sind. Dieses Büchlein über die Germanen hat im Laufe der Zeiten eine Bedeutung erhalten, die über die damalige zur Zeit des Verfassers weit hinausgeht. Es ist die bedeutendste schriftliche Urkunde von den Völkern, die durch die Völkerwanderung zum wichtigsten Element der europäischen Geschichte und Kultur wurden. Den germanischen Völkern selber gehört es zum geliebtesten Besitz der antiken Literatur. Sie empfinden es gleichsam als eine Prophezeiung ihres Erscheinens in der Geschichte, wie der mittelalterliche Christ die vierte Ekloge Vergils. Und sie haben damit völlig Recht; denn Tacitus schrieb dieses kleine Werk, weil er das Kommende ahnte. Er schrieb es aus Sorge, aber ohne jegliche Gehässigkeit. Eine solche verbot die Formtradition, die eher Sympathie für die Völker außerhalb der griechischrömischen Welt zum Stilgesetz machte, besonders die sittliche Überlegenheit der primitiveren Völker gerne betonte. Es ist darum ein äußerst liebenswürdiges Büchlein daraus geworden, das unsere Liebe vollauf verdient.

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