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German Pages 240 [241] Year 1983
Hermann Ley Vom Bewußtsein zum Sein
Hermann Ley
Vom Bewußtsein zum Sein Vergleich der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1982
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin, 1982 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/06/82 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5932 Umschlaggestaltung: Rolf K u n z e Bestellnummer: 754025 8 • (6665) • L S V 0115 P r i n t e d in G D R DDR 18,- M
Inhalt
Vorrede
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Einleitung
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1. Vortrag: Hegels Phänomenologie des Geistes und das Entwicklungsdenken von Marx
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2. Vortrag: Entgegengesetzte Aspekte der Entfremdung bei Hegel und Marx
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3. Vortrag: Gegensatz von idealistischer und materialistischer Geschichtsphilosophie
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4. Vortrag: Aspekte der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte
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5. Vortrag: Strukturen bei Hegel und Marx - der Weltgeist und die Theorie von Basis und Überbau
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6. Vortrag: Geschichtsdialektik und Theorie der Handlung
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7. Vortrag: Zufall, Notwendigkeit und Voraussagbarkeit in der Geschichte
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8. Vortrag: Hegels Idee der bürgerlichen Gesellschaft und die Klassentheorie von Marx
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9. Vortrag: Ökonomie und Bewußtsein in der Geschichte
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Namenregister
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Der historische Materialismus als eine der Anwendungen und Entwicklungen der genialen Ideen, der Samenkörner, die bei Hegel im Keimzustand vorhanden sind. W. I. Lenin. Werke, Bd. 38, S. 180
Im allgemeinen gibt die Philosophie der Geschichte sehr, sehr wenig - das ist begreiflich, denn gerade hier, gerade auf diesem Gebiet, in dieser Wissenschaft haben Marx und Engels den größten Schritt nach vorn getan. Hier ist Hegel am meisten veraltet und antiquiert. W. I. Lenin, ebenda, S. 304.
Vorrede Hegel und Marx zu vergleichen, um den spezifischen Unterschied zu verdeutlichen, entspricht einem sich wiederholenden Anliegen ideologischer Klassenauseinandersetzungen. Mit Marx begann eine ganze Welt sich umzuwälzen. Warum das so geschehen konnte, beschäftigt nachträglich die Philosophie der Arbeiterklasse und die der bürgerlichen Gesellschaft aus sehr unterschiedlichen Gründen. An Marx und Lenin anknüpfendes Denken und Handeln vollzieht den Entwicklungsprozeß nach, aus dem der Marxismus-Leninismus entstand, um daraus für die gegenwärtige Problematik neue Ansatzpunkte zu finden, die das empirisch Vorkommende leichter bewältigen lassen. Eine solche Funktion vermag das historische Herangehen jedenfalls zu besitzen. Innerhalb der pluralistischen Erscheinungsweisen der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft entsteht das Beschäftigen mit Hegel genau aus dessen durch Marx vermittelter welthistorischer Funktion - wobei versucht wird, jedes Interpretieren auszusparen, durch das die Arbeiterklasse zu ihrer selbständigen Weltanschauung gelangte und die Methode zur Umwälzung antagonistischer Klassengesellschaften fand. Die Hegeischen Werke verlieren damit ihre Dialektik. Als ich 1974 auf Grund eines Austauschvertrages zwischen der Humboldt-Universität Berlin und der Universität von Paris I im Panthéon, Amphithéâtre Descartes zu Vortrag und Diskussion eingeladen wurde, entwarf ich ein dort benutztes Manuskript. Naturgemäß stand die Auseinandersetzung mit Strömungen im Vordergrund, die von Paris aus vordrangen. Das größte Aufsehen erregte der philosophierende Strukturalismus, mit dem sich - ausgehend von Einzelwissenschaften - die Attacke gegen die Geschichtstheorie von Marx wendete. In der Linguistik entstanden, bewährte sich der Strukturalismus in der Ethnologie, genauer in einigen in dieser enthaltenen Spezialproblemen. Das genügte, um das Verfahren 7
Der historische Materialismus als eine der Anwendungen und Entwicklungen der genialen Ideen, der Samenkörner, die bei Hegel im Keimzustand vorhanden sind. W. I. Lenin. Werke, Bd. 38, S. 180
Im allgemeinen gibt die Philosophie der Geschichte sehr, sehr wenig - das ist begreiflich, denn gerade hier, gerade auf diesem Gebiet, in dieser Wissenschaft haben Marx und Engels den größten Schritt nach vorn getan. Hier ist Hegel am meisten veraltet und antiquiert. W. I. Lenin, ebenda, S. 304.
Vorrede Hegel und Marx zu vergleichen, um den spezifischen Unterschied zu verdeutlichen, entspricht einem sich wiederholenden Anliegen ideologischer Klassenauseinandersetzungen. Mit Marx begann eine ganze Welt sich umzuwälzen. Warum das so geschehen konnte, beschäftigt nachträglich die Philosophie der Arbeiterklasse und die der bürgerlichen Gesellschaft aus sehr unterschiedlichen Gründen. An Marx und Lenin anknüpfendes Denken und Handeln vollzieht den Entwicklungsprozeß nach, aus dem der Marxismus-Leninismus entstand, um daraus für die gegenwärtige Problematik neue Ansatzpunkte zu finden, die das empirisch Vorkommende leichter bewältigen lassen. Eine solche Funktion vermag das historische Herangehen jedenfalls zu besitzen. Innerhalb der pluralistischen Erscheinungsweisen der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft entsteht das Beschäftigen mit Hegel genau aus dessen durch Marx vermittelter welthistorischer Funktion - wobei versucht wird, jedes Interpretieren auszusparen, durch das die Arbeiterklasse zu ihrer selbständigen Weltanschauung gelangte und die Methode zur Umwälzung antagonistischer Klassengesellschaften fand. Die Hegeischen Werke verlieren damit ihre Dialektik. Als ich 1974 auf Grund eines Austauschvertrages zwischen der Humboldt-Universität Berlin und der Universität von Paris I im Panthéon, Amphithéâtre Descartes zu Vortrag und Diskussion eingeladen wurde, entwarf ich ein dort benutztes Manuskript. Naturgemäß stand die Auseinandersetzung mit Strömungen im Vordergrund, die von Paris aus vordrangen. Das größte Aufsehen erregte der philosophierende Strukturalismus, mit dem sich - ausgehend von Einzelwissenschaften - die Attacke gegen die Geschichtstheorie von Marx wendete. In der Linguistik entstanden, bewährte sich der Strukturalismus in der Ethnologie, genauer in einigen in dieser enthaltenen Spezialproblemen. Das genügte, um das Verfahren 7
auf andere Gebiete auszudehnen. Entbehrte der ethnologische Strukturalismus der Geschichte und ihrer Entwicklung, so glaubten revisionistische und andere Theoretiker eine Möglichkeit zu finden, Entwicklung aus der neueren und neuesten Geschichte auszutreiben. Derartige Versuche richteten sich bald von der Ethnologie und vorwiegend psychiatrischen Medizin gegen jede praktizierte oder theoretisch abgebildete Entwicklungsgeschichte der sozial-ökonomischen Strukturen im Sinne der Marxschen Theorie von Basis und Überbau. Eine der Folgen erwies sich als Versuch einer skeptischen Relativierung jeder Entwicklung von Wissenschaft. Strukturen wurden im Gegensatz zu dem Benutzen des Begriffs „Struktur" durch Marx zu einem Ausdruck der Geschichtslosigkeit der menschlichen Gesellschaft, dem Versuch, Gesetzmäßigkeiten der Entwickung in ihr zu bestreiten. Im philosophierenden Strukturalismus liegt ein Sonderfall dieser antimarxistischen Variante vor. Die Polemik flaute inzwischen nicht ab. Sie vereinigte sich mit anderen Versuchen, die Bedeutung der Entfaltung der Produktivkräfte als gegenstandslos für emanzipatorischen Fortschritt erscheinen zu lassen. Die psychoanalytischen Varianten im Strukturalismus Lacans und Derridas finden in verschiedenen westlichen Ländern erneuten Anklang. Sie vereinigen sich mit lebensphilosophischen Strömungen, die die vorhandenen Klassenbeziehungen als sekundär zu verdrängen suchen. Damit aber erfolgt ein Vereinigen mit Ansichten Michel Foucaults. Zu positivistischen Tendenzen einer die Klassenbeziehungen ausschaltenden eingeengten Wissenschaftlichkeit besteht eine gewisse Verwandtschaft. Der philosophierende Strukturalismus täuscht lebensphilosophisch Exaktheit vor, um ihr in Hinblick auf die Gesellschaft um so gründlicher entgehen zu können. Wie sich herausstellt, erhielt sich unter verschiedenen Vorzeichen ein Rückgriff auf Hegel, mit dem das Vordringen einer veränderten Interpretation Friedrich Nietzsches zu konkurrieren hatte. Foucault und Derrida besitzen beide Aspekte, wodurch ein Anschluß an westeuropäische und nordamerikanische Tendenzen der bürgerlichen Ideologie erfolgt. Das Darstellen des qualitativen Übergangs von Hegel zu Marx verdeutlicht sich unter dem Gesichtswinkel eines historischen Zugangs zu den Aufgaben des real existierenden Sozialismus. Da verschiedene Versuche revisionistischen Beeinflussens der Arbeiterklasse an Marx ansetzen, wie das die klassischen Bemühungen Eduard Bernsteins und anderer bereits unternahmen, so lassen sich die Wandlungen an neueren Erscheinungen ablesen. Sie ordnen sich mehr oder minder in akzentuierte antikommunistische Ideologie ein. Spitzt sich die Aggression gegen die sozialistischen Länder zu und vereinigt sie sich mit konterrevolutionären Aktivitäten, dann gewinnen einige der ständigen Begleiterscheinungen antimarxistischer Argumente mehr vordergründige Bedeutung als andere. Reaktivierbar sind beide je nach der Lage der ideologischen Auseinandersetzungen. Welche von ihnen vordergründig werden, läßt sich nicht voraussehen. Sicher erscheint nur, daß die Stoßrichtung identisch bleibt. Handelt es sich um Argumente, die mehr oder minder verdeckt.
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kompliziert und verschlungen daher kommen, bleibt es wesentlich, in ihnen den Sinn der Konfrontation der Klassen zu erkennen. Die Lehren von Marx und Engels sowie die weitere Entwicklung der Theorie durch Lenin bewähren sich in allen Ländern und sind präsumtiv bereits auf sie zugeschnitten. Innerhalb der bürgerlichen Ideologie sind in verschiedenen Ländern und Bereichen durchaus äußerlich differente Weisen der Argumentation vorherrschend. Das aus gegebenem Anlaß vorliegende Einbeziehen einiger Theoretiker, die vorwiegend von Paris ausgingen, läßt erkennen, welche Anliegen bei ihnen vorhanden sind. Benutzen Gruppen von Strukturalisten anscheinend die Methodologie von Sprachwissenschaften, um sie zweckentfremdet gegen Marx einzusetzen, dann läßt sich das Verfahren der Diversion daran untersuchen. Vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, das Verhältnis von Hegel zu Marx näher zu bestimmen. Die Art des Herangehens wird indes nicht bloß von historischem Gesichtspunkt geleitet, sondern von gegenwärtigem Interesse. Materialistische Dialektik und historischer Materialismus erweisen sich im Nachzeichnen einiger Momente ihrer Entwicklung dem philosophischen Idealismus durchweg überlegen. Die von Marx herausgearbeiteten Ideen erweisen sich als tragfähig, um der Arbeiterklasse die Grundlage für weitere Problembewältigung zu geben. Berlin, im November 1980
Hermann Ley
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Einleitung
Das Vergleichen der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx soll dem Herausarbeiten des Unterschiedes dienen, zugleich aber den in beider Theorie enthaltenen Fortschritt belegen. Theoretisches Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse erfolgt später als das Aneignen von Produktionsmechanismen und ersten Einsichten in die Natur. Zunächst bleibt Entwicklung in der menschlichen Geschichte erst zu erraten, dann gelingt es, sie wissenschaftlich zu belegen und schließlich die gefundene Einsicht in revolutionäre Entwicklung umzusetzen. Der Weg von Hegel zu Marx und Lenin erweist sich als Übergang von der Epoche des Kapitalismus zu der des Kommunismus. In vorliegender Folge von Erörterungen wird untersucht, wie sich bei Hegel einzelne Elemente theoretischer und empirischer Untersuchung der Gesellschaft in einer dialektischen Theorie verdichten, von der aus Marx zu den materialistischen Grundstrukturen der Gesellschaft gelangt, mit deren Kenntnis sich die Arbeiterklasse zur geistigen und praktischen Emanzipation befähigt. Da die einzelnen Abschnitte der vorliegenden Arbeit zu dem Zweck von Vorträgen an der Pariser Universität entstanden, berücksichtigen sie neben anderem gelegentlich auch dort in Gang befindliche Debatten. Der historische Materialismus von Marx erwies sich als die einzige wissenschaftliche Theorie zum Verständnis der Entwicklung der Klassengesellschaft, des Entstehens der Arbeiterklasse und ihrer bestimmenden Rolle für den historisch notwendigen Übergang von der antagonistischen zur nichtantagonistischen Gesellschaft, von den auf Ausbeutung gegründeten Ordnungen zur Aufhebung der Ausbeutung durch die Diktatur des Proletariats. Wie Marx die bei Hegel sich zeigenden theoretischen Ansätze nach dem bekannten Wort vom Kopf auf die Füße stellt, bleibt aktuell, da es sich damit um ein welthistorisch wirksames Exempel der Auseinandersetzung von philosophischem Idealismus und Materialismus handelt. Da sich die Auseinandersetzung zwischen Hegel und Marx auf philosophischem Gebiet vollzieht, ergibt sich zugleich, welche in die Gesellschaft hineinwirkenden Konsequenzen theoretische Auseinandersetzungen zu haben vermögen. Außerdem wird die Theorie tatsächlich zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Vorgängig sind aber nach Marx zwei sich wechselseitig beeinflussende Prozesse wahrzunehmen. Nebeneinander und in nicht immer gleichem Tempo ablaufend, lassen sich Umwälzungen feststellen, die unterschiedliche Schichten 11
des gesamtgesellschaftlichen Seins betreffen. Die sozialökonomischen Veränderungen fanden vor Marx weniger Beachtung als die politischen. Die in und neben dem herrschenden Bewußtsein auftretenden neuen Momente erscheinen weniger beachtenswert als die Geltung heischenden Institutionen. Im Verhältnis von Hegel und Marx begegnet sich eine bürgerlich revolutionierte Ideologie mit einer auf die neuentstehende Klasse des Proletariats orientierten Weltanschauung und Methode. Mit dem gedanklichen Umfunktionieren des vorgefundenen Materials entsteht eine wesentlich veränderte Sichtweise, die ihre Praktikabilität inzwischen zu belegen vermochte. Was Hegel Wissenschaft der Logik nannte, verstand sich selbst als inhaltlich bezogen. Die Dialektik durchbricht gemäß Hegels Intentionen den Bereich bloßer, das Denken durchziehender, festgeronnener Bestimmungen. Sie bezieht sich auf die Geschichte der menschlichen Gesellschaft, wie sie sich innerhalb des Bewußtseins reflektiert. Als „Logik" aufgefaßt, sind von Hegel typisch erscheinende Bewegungsabläufe gedanklich festgehalten, die ihren Inhalt bewußt aus verschiedenen Bereichen des Denkens, der Gesellschaft und der Natur entnehmen. Das Denken steht rechtens für Hegel an erster Stelle, da er innerhalb des Bewußtseins Phasen, Brüche und Übergänge entdeckt, die sich als Prozeß aufsteigender Entwicklung dechiffrieren lassen. Vom Standpunkt objektiv idealistischer Identitätsphilosophie beziehen sich nach Hegel mindestens Teile der Dialektik auf alle möglicherweise vorkommenden materiellen und ideellen Objekte. Von dem üblichen Begriff der Logik erhielt sich in Hegels Sicht wenig. Daß sich in der Dialektik als Methode eine Abstraktionsebene abheben lasse, die in den verschiedenen Bereichen vorkommt und Strukturen der Bewegung darstellt, die bestimmende Charakteristika repräsentieren, übersteigt bereits den Horizont formal klassifikatorischen Folgerns. Abstrahiert Hegel auch von den Geltungsbereichen, in denen er seine Logik angewandt wissen will, so ist der spezifische Inhalt von Verhältnisbeziehungen immer mitgemeint. Schließt die formale Logik Widerspruchsfreiheit als besonderes Merkmal stets ein, so befaßt sich die Hegeische Logik gerade mit denjenigen allgemeinen Strukturen, in denen inhaltlich gemeinte Widersprüche auftreten. Sie sind auf das Nebeneinander und Nacheinander von Sachen und Prozessen bezogen, sollen allgemein gelten, finden aber genauere Untersuchung bloß hinsichtlich der Gesellschaft. Dort findet Hegel Strukturen der Bewegung, die das innere Bezugsgefüge von Entwicklung aufzudecken beginnen. Nicht zu vergessen ist, daß Hegel ausdrücklich mit einer Kritik Kants einsetzt. Die besondere Bewandtnis der in „Phänomenologie" und „Logik" geübten Polemik ist gerade dann nicht ohne weiteres zugänglich, wenn man sich an den Problembereich erinnert, in dem Kant unmittelbar zu wirken gewohnt war. Es könnte den Anschein erwecken, als ob Hegel das Entwicklungsdenken neu einführe und darin die Besonderheit der dialektischen Logik zu finden sei. Kant ging von einer Hypothese der physikalischen Veränderung der Erde in der Zeit aus, knüpfte daran die Entwicklungsgeschichte des Kosmos, erweiterte sie auf Objekte des 12
biologischen Lebens und bezog die Gesellschaft ein, für die er als Antrieb der Entwicklung das Wirken von Antagonismen anzunehmen empfahl. Anders als Kant übertrug Hegel das bis dahin in der deutschen bürgerlichen klassischen Philosophie am weitesten ausgebaute Entwicklungsdenken nicht eigentlich auf neue Gebiete. Vielmehr ließ er die bereits vorhandenen Ansätze einer Entwicklung in der Natur fallen und beschränkte sich auf das Vertiefen der bei Kant nur skizzenhaft vorgezeichneten Momente in der Gesellschaft feststellbarer Prozesse. Sie sind unter Entwicklungsdialektik subsumierbar. Um für die Gesellschaft den bis dahin ungewohnten Standpunkt zu begründen, benötigt Hegel eine Polemik gegen Kants Erkenntnistheorie. Sie richtet sich vornehmlich gegen folgende Annahmen : - das philosophische und einzelwissenschaftliche Erkennen vermöge nicht an den tatsächlichen Inhalt der behandelten Objekte heranzukommen, - im Erkenntnisprozeß projiziere das menschliche Denken sich bloß in die erarbeiteten Ergebnisse hinein und verfälsche damit die von den Objekten empirisch gewonnenen Daten, - Dialektik sei ein zwar notwendiges Produkt des Erkenntnisprozesses, aber nur ein Schein, den es aufzuheben gelte, - die Dinge an sich ließen sich prinzipiell nicht erkennen und blieben jedem Denken unzugänglich, - auch Gesetze und Gesetzmäßigkeiten seien nur in die Dinge hineingelegt, wie alle anderen Kategorien, die als Stammbegriffe des Verstandes unveränderlich dem Bewußtsein vorgegeben seien und auf jeden Fall damit sich der Entwicklung entzögen. Hegel führt seine Kritik der Kantischen Erkenntnistheorie auf dem höchst abstrakten Niveau seiner Dialektik, in deren Strukturen er die für alle Erscheinungen der objektiven Realität gültigen Wahrheiten aufzudecken meint. Ist die Entwicklung in die Kategorien verlegt, dann bleibt es unerheblich, wie weit sie in den einzelnen Sachverhalten sich tatsächlich vergegenständlicht haben. Lassen sich Momente der Dialektik in ihnen nachweisen, dann sieht Hegel gerade darin das Aufdecken von Wahrheit, die in der Sache selbst der formalen Kriterien durchaus zu entbehren vermag. Deshalb bemüht sich Hegel nicht, jene Gebiete durchzuarbeiten, in denen Kant Entwicklung vermutete und hinsichtlich des Kosmos eine faktische kopernikanische Revolution vollzog, da die dafür zuständigen Disziplinen sich auch hypothetisch noch nicht zu rechtfertigen vermochten. Wichtiger erscheint es für Hegel zu untersuchen, was es mit der Tragweite von wissenschaftlichem Denken überhaupt auf sich habe. Da Hegel zu dem Ergebnis kommt, dialektisches Denken gestatte auch komplizierte Zusammenhänge aufzudecken und bereichere damit in jedem Falle im Ganzen gesehen die objektiven Inhalte eines sich entwickelnden gesellschaftlichen Bewußtseins, sieht er sich dazu befähigt, das bisher am wenigsten entwickelte Gebiet zu analysieren. Stellt Lenin fest, Hegel habe hinsichtlich der Philosophie der Geschichte nur wenig gegeben, so bleibt dieses Urteil zutreffend, wenn man den Vergleich zu Marx als Maß-
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stab heranzieht. Immerhin lockert erst Hegels dialektische Kritik der Erkenntnis die bis dahin hinsichtlich der Gesellschaft gültigen Ansichten soweit auf, daß überhaupt gesellschaftliche Entwicklungsstrukturen zugänglich werden konnten. Soweit die Aufklärung des 18. Jahrhunderts sich mit Gesellschaft befaßt hatte, blieb der Anschein erhalten, künftige Veränderungen der Gesellschaft, auch revolutionärer Art, müssen frühere Zustände wieder reaktivieren, um den Menschen zu befreien. Der von Descartes bis Diderot im Anschlug an Bacon geläufige Zug zu Naturerkenntnis und Technik fand entschiedene Einrede bei Rousseau und wurde nicht integriert in den gleichsam natürlichen Umwälzungsprozeß der Institutionen und Systeme. Betonte Rousseau die negative Seite von Kultur, Wissenschaft und Kunst, so nicht zu dem Zweck, gerade in diesen den Antrieb zu Fortschritt zu sehen, sondern vielmehr zu dem anderen, Rückkehr zur Natur tatsächlich simplifizierend als Zielvorstellung erträumter Rückkehr zu falscher Idylle aufzufassen. Hegel sah seinen Gegenstand der Kritik in Rousseaus und Kants Zweifeln, soweit sie sich bei dem einen auf die Chancen von gesellschaftlicher Entwicklung und bei dem anderen auf die Möglichkeiten objektiver Erkenntnis bezogen. Infolge der wieder systematisch aufgegriffenen Dialektik entfiel damit weder die Ambivalenz der Entwicklung in der Gesellschaft noch die widerspruchsvolle Freiheit der Erkenntnis. Die Tätigkeit des Verstandes, Mannigfaltigkeiten im Bewußtsein abzubilden, vereinigt in Hegels dialektischer Sicht die Einheit von der Sache selbst, die empirischen Fakten und die Aktivität des gesellschaftlich bedingten Denkens, in denen sich die Entfaltung der Idee verwirklicht und zuletzt die Natur erschließt. Als philosophischer Idealist hat Hegel zur Ausgangsposition die Welt der Ideen, zu denen das menschliche Denken gelangt, indem es adäquat objektive Realität abbildet, die als stufenweise Manifestation der Idee gilt. Da aber der Materialismus gewinnt, wenn sich philosophische Idealisten streiten, wie Lenin gelegentlich bemerkt, wirkt sich Hegels Kritik an Rousseau und Kant dementsprechend aus. An Kant wird dessen zum Subjektivismus neigender Kritizismus abgelehnt, nicht aber die effektiv Erkenntnis fördernden Momente seiner Philosophie. Hegel erwirbt durch die sein gesamtes Werk durchdringende Kritik an Momenten der tradierten progressiven Philosophie des Aufklärungsjahrhunderts die Möglichkeit, innergesellschaftliche Beziehungen aufzudecken, die von der Beziehung zwischen Mensch und Natur auf die Funktion der Mittel und der Vermittlung zu schließen gestatten. Nur angedeutet, entsteht daraus die Vorstellung des übergreifenden Einflusses von Arbeit und Werkzeug, die Klassendifferenzierung und Bewußtseinsbildung bestimmen. Innerhalb einer idealistisch orientierten Philosophie entstehen daraus keine Folgen. Hegel benutzt das an materielle Strukturen der Gesellschaft heranführende Moment als Darstellung des ausgeführten Zwecks in der Lehre vom Begriff. Aus der „Phänomenologie des Geistes" aber erkennt Karl Marx, daß sich Hegel auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen befindet (1844), da er sich, wie man heute weiß, schon in seiner frühen Zeit gründlich mit Ökonomie befaßte. Während der Frankfurter 14
Periode verfaßte er einen großen, verlorengegangenen Kommentar zu den Werken von James D. Steuart (1712-1780). Einige ökonomische Texte liegen sich inzwischen wieder auffinden. Sie erhellen, wieso sich Hegel in seiner Rechtsphilosophie mit dem künftigen Einfluß der Industrie und dem damit entstehenden Proletariat befassen konnte. Vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft aus sieht Hegel damit neue Widersprüche. Hegels Geschichtsauffassung bleibt eine Darstellung des Geistes der verschiedenen aufeinanderfolgenden Epochen. Progression ist als Aufschwung des Geistes zum Selbstbewußtsein geschildert. Als Gipfelpunkt des sich in der Gesellschaft manifestierenden Selbstbewußtseins erscheint bei Hegel der Staat. Soweit Hegel die verschiedenen Strukturen des gesamten gesellschaftlichen Bereichs zu durchdringen vermag, handelt er darüber in seiner .Logik" und zuvor in der „Phänomenologie", da er dort nicht Geschichte zu schreiben versucht, aber vermittelt durch das Aufsuchen dialektischer Gesetzmäßigkeiten auf Sachverhalte gestoßen wird, die sich im systematischen Erfassen der Geschichte seiner Darstellung wieder entziehen. Dafür verlegt Hegel die Entwicklung in das Werden der Sittlichkeit und der Moral, in die Religion und die Gottesvorstellung. Erkennt Lenin in Hegels Philosophie einen Prozeß, der Hegels letztes Wort die Natur sein läßt, so riß die Debatte um die Funktion der Religion in der Hegeischen Philosophie nicht ab. Ob es sich um Protestantismus, preußische Staatsreligion, Pantheismus oder Atheismus handele, blieb in der Diskussion und war davon abhängig, von welcher gesellschaftlichen Position an das Problem herangegangen wurde. In Hegel selbst vereinigen sich unterschiedliche Schattierungen und sind davon abhängig, wie weit im Denken des Philosophen Konformismus überwiegt oder sich in einigem die Dialektik als Algebra der Revolution - etwa im Verständnis des russischen revolutionären Demokraten Alexander Herzen - ankündigt. Soweit Hegel als Dialektiker und Identitätsphilosoph argumentiert, resultieren Momente des Atheismus, in denen Gott in der radikalen Formel der „Phänomenolgie" nur sinnlosen Laut, bloßen Namen bedeutet. Er schlägt vor, von der Bedeutung allein zu sprechen, ohne den sinnlosen Laut noch hinzuzufügen. In der total religiös überformten herrschenden Ideologie des damaligen preußischen Staates bot sich an, partiell im Anschluß an Kants natürliche Theologie wenigstens einen abgeminderten Pantheismus beizubehalten, der indes geschichtlich stets heterodoxe, also der Orthodoxie abgewendete Sinnhaftigkeit aufzuweisen pflegt. An der Sittlichkeit und Staat betreffenden Problematik blieb die Hegeische Geschichtsphilosophie indes jeglicher konservativen Interpretation offen, die aber unter anderem deswegen nicht den Kern der Hegeischen Philosophie trifft, weil Hegel in seiner legalen und illegalen Option für das damals bürgerlich-revolutionäre Burschenschaftswesen, das sich gegen die Durchführung der reaktionären Karlsbader Beschlüsse wendete und die Ideen der Befreiungskriege repräsentierte, eine durchaus subjektiv progressive Deutung seiner Theorie praktizierte. Aus dem Briefwechsel Hegels und Hoffmeisters Anmerkungen dazu lassen sich die Einzelheiten unmißverständlich und ohne Schwierigkeiten oder Interpretationskünste nachvoll15
ziehen. Sieht Hegel in seiner Geschichtsphilosophie die absolute Entäußerung der Idee im Volksgeist verwirklicht, so entfällt in dem Identifizieren der Idee mit unterschiedlichen Völkern die Dialektik materieller gesellschaftlicher Strukturen, von denen Hegel anderenorts handelt und bis zur übergreifenden Funktion der Entwicklung von Produktionsinstrumenten gelangt. Wie die Dialektik von Marx auf Grund der weltanschaulichen und klassenmäßigen Position der Hegels entgegensteht, so verhält es sich ebenso mit der Geschichtsphilosophie. Die Verbindung von Hegel zu Marx erfolgt indes über die realisierte Kategorie des „Aufhebens". Hegel ist in Marx widerlegt, umgekehrt und im doppelten Sinne des Wortes »aufgehoben". Der rationelle Kern der Dialektik wurde in die marxistische Philosophie hinübergerettet. Erfolgt im werdenden Denken von Marx zunächst ein Eindringen in die Hegeische Philosophie, dann das Herausschälen der Dialektik, anschließend mit Ludwig Feuerbach der Übergang zu materialistischer Position, die schnell die Beschränktheiten Feuerbachs hinter sich läßt, so erweist sich als entscheidend die Orientierung auf die in Deutschland erst im Entstehen begriffene Arbeiterklasse. Aus der spezifisch mit der Industrie entstehenden Armut erwächst nach Hegel „eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende"1 Frage. Marx kommt zum Proletariat nicht aus bloß individuell subjektiven Gründen, sondern aus der wissenschaftlich fundierten Einsicht, in der Arbeiterklasse finde sich die Klasse, die aus der Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung allein befähigt und deshalb berufen sei, den weiteren Fortgang der Geschichte zu bestimmen. Die durch ihr Entstehen möglich gewordene weitere Revolutionierung der Gesellschaft bewirkt nach Marx eine neue Stufe dialektischen Aufhebens des zuvor Entstandenen. Die methodologische Denkbestimmung des „Aufhebens" findet durch Marx eine Darstellung, die weltanschaulich materialistisch entscheidend über Hegel hinausgeht. Infolge des Übergangs von der bloß abstrakten zur konkreten Arbeit gewinnt die Entwicklung der Produktivkräfte für die Geschichtsphilosophie eine bestimmte Funktion. Ihr Charakter und ihre absolute Höhe gehen als maßgebliche Akzente in das theoretische Denken von Marx ein und gewinnen zusätzlichen praktischen Wert als wichtiges Anliegen für das zur herrschenden Klasse gewordene Proletariat. Soweit hier konkret und abstrakt unterschieden ist, fließen noch nicht die ökonomischen Kategorien ein, mit denen sich Marx später in seinem „Kapital" befaßte. In der Auseinandersetzung mit Hegel sind nicht die Sachverhalte der ökonomischen Theorie gemeint, sondern vielmehr die Kriterien, die auf die materiellen Strukturen der Gesellschaft hinführen. Damit fixiert Marx den wesentlichen Unterschied zu dem vorgängigen Materialismus der Aufklärung, in dem ebenfalls bereits Produktionsinstrumente in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft angesprochen waren, aber nicht in ihrem Zusammenhang mit der gesamten Gesellschaft verstanden werden konnten. Erst durch die dialektische Analyse 1 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, auf Grund des von Freunden Hegels besorgten Originaldrucks im Faksimileverfahren neu herausgegeben von Hermann Glockner, Bd. 7, 3. Auflage, Stuttgart 1951, § 244, S. 319.
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Hegels ließen sich Gesetzmäßigkeiten verstehen, die die unterschiedenen Sachverhalte integrierten. Materialismus in Geschichtsphilosophie betrifft die Beziehungen zwischen den Menschen als Funktion der Besitzverhältnisse zu dem Hauptproduktionsmittel und den Produktionsinstrumenten, die organisatorischen Strukturen und die Realität der Wechselbeziehungen. Marx dehnt die Grundsätze des Materialismus auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte aus, wie Lenin konstatiert. 2 Wie der Materialismus in der Natur Naturgesetze annimmt, so Marx in der Gesellschaft gesellschaftliche Gesetze. Letztere bilden sich gemäß progressiver Epochen der verschiedenen Produktionsweisen aus, und ihre Manifestationen werden als aufeinanderfolgende ökonomische Gesellschaftsformationen bezeichnet. Besaß der vorherige Materialismus das Primat einer vorwiegend substantiell aufgefaßten Materie, deren damals bekannten Eigenschaften ihr als notwendig beigelegt wurden, so besitzt Marx eine andere Konzeption von Materialismus. Materiell sind die außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein vorhandenen Objekte und ihre Beziehungen. Die wesentlichen Verhältnisse gelten selbst als unmittelbar materiell. Die Vermittlung zwischen unterscheidbaren Objekten gewinnt den Vorrang. Stammt erstere Formulierung von Lenin, so spricht Marx von den hinter dem Rücken der Beteiligten wie Naturgesetze sich durchsetzenden gesellschaftlichen Gesetzen. Der erkenntnistheoretische Unterschied zu dem früheren Materialismus liegt auf der Hand. Alle wesentlichen Beziehungen in der Gesellschaft, die sich in den Aktionen der Menschen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ausbilden, werden als objektiv real bezeichnet und üben auf die Handelnden einen entsprechenden Einfluß aus, der wissenschaftlicher Erkenntnis unterliegt. In der Gesellschaft gefunden, erweist sich, daß in den die Natur und die Technik betreffenden Disziplinen die entwickeltere Definition des philosophischen Materialismus von Marx nicht unbeträchtliche Tragweite besitzt. Angriffe auf den gegenwärtigen von Marx begründeten Materialismus berücksichtigen in der Regel nicht die grundlegend veränderte Auffassung von Materialität, die sich nicht auf das Substrat beschränkt, sondern Relationen einbezieht. Hegels Dialektik erschloß den Zugang zu der Objektivität von Beziehungsgefügen, deren materialistischen Charakter Marx erkannte und darauf seine konkreten Forschungen in der Ökonomie, in den gesamtgesellschaftlichen Prozessen und in der Politik des Klassenkampfes aufbaute. In der Geschichtsphilosophie von Marx sind die materiellen Strukturen bestimmend. Die Analyse vergangener Formationen verlangt, soweit sie zur Ausbildung gesellschaftlicher Klassen führten, nach Marx das Berücksichtigen der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, die mit einer entsprechenden Höhe der Entfaltung und des Charakters der Produktivkräfte korrespondieren. Maßgeblich sind die materiellen Produktionsmittel. Sind die Produktionsinstrumente bloß ideell vorhanden und nicht materiell realisiert, wirken sie sich nicht entscheidend aus. Geht jedes Produktions2 Vf. I. Lenin, Karl Marx, in: Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 43. 2
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instrument erst durch den Kopf, bevor es gesellschaftliches Arbeitsmittel wird, so erweist sich der effektive Stand in der materiellen Gestalt, die ihrerseits die Arbeitsorganisation bestimmt. Auf der Grundlage der Produktionsverhältnisse bilden sich Klassenkämpfe aus, die in der Geschichte erkennen lassen, wie sich die Veränderungen und die diversen Entwicklungsschritte in ständiger Auseinandersetzung durchsetzen. In der Theorie von Basis und Überbau analysiert Marx gesamtgesellschaftliche Beziehungen, die den gesamten institutionellen und ideologischen Bereich einbeziehen. Aus der Theorie der Klassenauseinandersetzungen ergibt sich aber zugleich die Funktion und Rolle der ideellen Kontroversen, in denen sich der Entwicklungsgang der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse spiegelt. Herrschendes und nicht herrschendes Bewußtsein treten sich in der Gestalt des ideologischen Klassenkampfes gegenüber. Die tradierten Bewußtsemsmassen lasten wie ein Alptraum auf dem Bewußtsein der Lebenden, soweit erstere noch nicht ausgeschaltet wurden. Das Abbilden der materiellen Strukturen bezieht sich auf die einander entgegengesetzten Hauptklassen der Gesellschaftsordnung, wobei die Möglichkeiten künftiger Entwicklung ebenfalls widergespiegelt sind und die progressiven Ideen als Antizipation künftiger möglicher Entwicklungsstufen revolutionierenden Einfluß ausüben. Die Klassen und Gruppen einer Formation verhalten sich zu den hinter ihrem Rücken entstandenen materiellen Strukturen keineswegs passiv, um so mehr als diese Strukturen ihr eigenes Produkt sind. Handeln sie den durch ihre Aktivität entstandenen Gesetzmäßigkeiten entgegen, dann verliert sich die Antizipation vermuteter Zukunft in Utopie; erkennen sie die sich vorbereitenden Tendenzen, dann beschleunigen sie die sich notwendig vorbereitenden Vorgänge. In seiner Darstellung der Lehre von Marx kommt Lenin auf die zwei Hauptmängel der früheren Geschichtstheorien zu sprechen. Erster Mangel war, bestenfalls bloß die ideellen Motive des geschichtlichen Handelns zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, ohne nachzuforschen, wodurch die Motive hervorgerufen werden. 3 Bleibt aber ein Versuch der Analyse von gesellschaftlichem Bewußtsein in Motivforschung stecken, dann erweist sich der Zugang zu dem bewußten und emotionellen Handlungsspielraum verschlossen, der sich durch die jeweilige sozialökonomische Struktur auftut. Das will nicht besagen, daß nicht auch andere Motivationsebenen vorhanden sind und sich deren Untersuchung lohnt. Aber die in einer bestimmten Gesellschaftsformation noch, wieder oder neu gültigen Motivationen resultieren aus der Lebenstätigkeit nicht minder wie aus anderen Bedingungsgefügen und schließen sich nicht gegenseitig aus. Erfolgt eine Reduktion der Motivforschung etwa auf die vererbte und traditionell erworbene Motivationsstruktur, so entfällt das Untersuchen der Wurzeln der Wirksamkeit dieser Verhältnisse im Entwicklungsgrad der materiellen Produktion. Den zweiten Mangel sieht Lenin in der Vernachlässigung der Massen der Bevölkerung 3 Ebenda, S. 45/46.
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durch die früheren Geschichtstheorien, „während der historische Materialismus zum erstenmal die Möglichkeit gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Massen sowie die Veränderungen dieser Bedingungen zu erforschen".4 Klassenkampf mündet in Massenkampf. Die Volksmassen in ihrer selbständigen Klassenaktion zu berücksichtigen, ist ein erstrangiges Anliegen der von Marx begründeten Geschichtstheorie. In Beziehung auf die Widersprüche der jeweiligen sozialökonomischen Gesellschaftsformation fragt sich stets, welchen Zielen die Massen folgen und ob sie eigenen oder fremden Klassenintentionen folgen. Wieweit es überhaupt in einer bestimmten Epoche als möglich erscheint, sich eigene Ziele zu setzen, läßt Marx vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sowie von den internationalen Verhältnissen abhängig sein, wie seine zahlreichen Artikel zu den damals aktuellen Zeitereignissen ausweisen. Das Berücksichtigen der Massen veranlagte den Bruch mit den anderen Linkshegelianern, die sich auf die Kritik der bestehenden Zustände beschränkten. Da aber der historische Materialismus, wie ihn Marx entwarf, in sich eine Einheit darstellt und ohne dialektischen Materialismus unverständlich und unanwendbar bleibt, bedeutet das Berücksichtigen der Massen in keinem Falle das Ausschalten der übrigen Bestandteile der Theorie. Erst wenn die Theorie die Massen ergreift, wird sie zur materiellen Gewalt. Der ideologische Klassenkampf erweist sich als Voraussetzung einer Aktion der Massen, die sie aus dem Bannkreis herrschender bürgerlicher oder älterer Ideologie herausreißt und zu eigener Zielsetzung befähigt, das heißt auf die in der Geschichte möglich gewordenen Zielsetzungen zu orientieren gestattet. Lenin spricht von naturgeschichtlicher Exaktheit, mit der die Lebensbedingungen d?r Massen und die Bedingungen ihrer Veränderung auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung zu erforschen seien. Empirisches Studium der konkreten Sachverhalte erweist sich als Bedingung, um die Problembereiche aufzutun, die in die verschiedenen Phasen des ideologischen, ökonomischen und politischen Klassenkampfes eingehen. Da nach Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse ein selbständiger Aufbau der materiell-technischen Basis jener zwei Phasen von kommunistischer Gesellschaft grundlegend für das Aktionsprogramm der siegreichen Volksmasse wird, gehört die empirische Erforschung von jeweiligen Ausgangsstrukturen und realisierbarer konkreter Möglichkeiten zu den Momenten der Anwendung des historischen Materialismus. Der Unterschied zwischen Hegel und Marx konzentriert sich im Klassenaspekt und in der aus der Theorie abgeleiteten Perspektive. Hegel sucht - entgegen seiner Dialektik - einen absoluten Abschluß der Geschichte und analysiert historisch die Vergangenheit. Marx hingegen bemüht sich, aus dem Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart, aus der Bewegung der materiellen Grund4 Ebenda, S. 45.
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strukturen die Zukunft zu erschließen, ohne sich betreffs ihrer Gestaltung auf Einzelheiten festzulegen. Ein der Geschichtskonzeption Hegels und Marx' gemeinsam gemachter Einwand neuerer bürgerlicher Ideologie bezichtigt sie eschatologischer, heilsgeschichtlicher Zielsetzungen. Ihre Theorie bringe erneut in die Geschichte einen teleologischen und damit theologischen Zug. Solche Einwände pflegen häufig zugleich die Dialektik zu beschuldigen, sie lasse jeglicher Willkür in der Erörterung von Vergangenheit und Zukunft freien Lauf und entbehre damit in jeder ihrer Folgerungen der an wissenschaftliche Analyse zu stellenden Strenge. Der umgekehrte Vorwurf, das Fehlen der Dialektik in den Attacken auf Marx lasse das metaphysische und damit mechanistische Denken überwuchern, trifft den Sachverhalt besser. Gegen die Heilserwartung der alten Religionen gewendet, bedeutet die Dialektik des Werdens nicht bloß eine erkenntnistheoretische Lehre unter vielen anderen und die darauf gegründete Geschichtsphilosophie eine beliebig auswechselbare neue Sicht. Vielmehr vermochte die Dialektik erstmalig die überlieferten Datenmengen der Geschichte aus der bloßen Chronologie und der auf Personen bezogenen Abfolge in eine theoretische Ordnung zu bringen. Hielt sich Hegel in seinem weltgeschichtlichen Konzept an verschiedene Stufen der herrschenden Bewußtseinsbildung, so vermochte Marx durch die Analyse von Basis und Überbau das Werden der Gesellschaften auf einen objektiv überprüfbaren Maßstab zu beziehen, dem größere Strenge eigen ist als den vielfältig verschlüsselten Inhalten der Ideengefüge. Vermochte Hegel nicht zu begründen, warum die Repräsentanz der absoluten Idee sich verschiedener Völker gleichsam als Gefäß bediene, so bezog Marx das Entstehen der verschiedenen Formationen auf den der menschlichen Gesellschaft stets zugehörigen Bereich der Arbeit und der gesamten Lebenstätigkeit. Da die Aktivität der Klassen und Schichten je einbezogen bleibt, hängt der Übergang von einer Formation zur anderen auch von der Fähigkeit der unterdrückten Klasse ab, sich durchzusetzen und die alten Strukturen zu zersetzen und zu überwinden. Die Sippenstrukturen der frühgeschichtlichen Gesellschaften wirken als entwicklungshemmendes Moment in das Entstehen der Klassengesellschaften noch lange hinein und verschwinden erst gänzlich auf einer relativ hohen Stufe sich durchsetzender industrieller Fertigung und dementsprechender Arbeitsteilung. Empirisch läßt sich jeder Stufe, auch den ältesten und am längsten währenden, ein allgemeiner Stand der Entwicklung der Produktivkräfte zuordnen. Mit dem Materialismus von Marx erfährt jener Bereich der Lebenstätigkeit, der mit Arbeit und Arbeitsmittel verbunden ist, erstmalig eine eingehende Würdigung in Verbindung mit dem geschichtlichen Werden und wurde inzwischen ein zentrales Moment, das auch die Ideologie der neueren bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr zu übersehen vermochte. Unter der Voraussetzung der Aktivität der Klassen und ihrer Auseinandersetzungen veranlaßt die konkrete Analyse der in der Basis der Gesellschaft erreichten Charakteristika, die weiteren möglichen Schritte der Geschichte zu er-
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örtern - eine Aufgabe, der sich Marx auf Grund des Studiums des Industriekapitalismus unterzog. Folgerte Hegel aus dem Verlauf der Geschichte das Durchsetzen der bürgerlichen Gesellschaft und sah auf deren Grundlage entstehende Probleme heraufziehen, so vermochte sich Marx dem Eindruck der inzwischen formierten neuen Klasse nicht zu entziehen und diagnostizierte das Ende der auf kapitalistisches Privateigentum gegründeten Gesellschaft sowie den Beginn einer auf neue Eigentumsformen gegründeten kommunistischen. Enthielten die überlieferten Religionen fast ausnahmslos die Vorstellung, die Geschichte münde in eine Endzeit, so sehen Marx und Engels in der von der Arbeiterklasse bestimmten Ordnung den Beginn einer innerweltlichen Epoche, in der sich eine Beschleunigung der Entwicklung der Produktivkräfte durchsetzt. Sie ist als Prozeß der ideellen und materiellen Entwicklung aufgefaßt, der keinerlei Kennzeichen einer Endzeit anhaftet. Da die konkrete Arbeit als Merkmal der ständigen Menschwerdung verstanden ist, bleibt sie als geschichtsbildende Kraft für die Marxsche Geschichtsphilosophie ein zentrales Anliegen und besitzt in dieser Allgemeinheit hinreichende Unabhängigkeit von ihrer historisch sich ausbildenden Gestalt. In der gegenwärtigen Entwicklungsperiode erweist sich das auf die Arbeit bezogene Moment der Marxschen Theorie als besonders wichtige Kategorie. So allgemein die Formulierung auch ist, und Marx ausdrücklich auf die Funktion ihrer Besonderheiten hinweist, so wichtig bleibt ihre Eigenschaft, zwischen Mensch und Natur zu vermitteln. Mit dem Werden der Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft entstand als Ersatz für das etwaige Bestreiten gesellschaftlicher Entwicklung die Behauptung, damit trete die Gesellschaft in die Nachgeschichte ein. Daraus wäre zu folgern, daß Geschichte das Fehlen von Wissenschaft in der Produktion bedeute, außerdem aber die Abwesenheit von Planung, deren Vorhandensein die Gesellschaft geschichtslos mache. Hatte Marx die besondere Gesetzmäßigkeit jeder unterschiedlichen Gesellschaftsformationen entdeckt, so entzündet sich an dieser Theorie die mit jener Lehre gemachte Unterstellung, Geschichte verschwinde bei besserer Beherrschung von Sozialstrukturen und ihrer etwaigen Antizipation. Die besonderen Gesetze der unterschiedenen sozialökonomischen Produktionsweisen entfallen für die Lehre von „Nachgeschichte" und damit auch das Beachten der jeweiligen Stellung der Produzenten zu den Produktionsmitteln, die der Marxismus berücksichtigt und aus ihrer Veränderung das Anwachsen gesellschaftlicher größerer Effektivität ableitet. Diese Position aber als gegenstandslos geworden zu betrachten, geht mit dem von methodologischer Seite vorgebrachten Einwand einher, in allen Disziplinen empirischer Herkunft gebe es höchstens Quasi-Gesetze, deren reine Gestalt eigentlich bloß der Mathematik zugestanden ist. Hinsichtlich der Gesellschaft wird dann unter Umständen vorgebracht, wenn es doch so etwas wie Gesetze gebe, so ließen sie sich nicht abbilden oder mindestens nicht zur Voraussage benutzen. Bei Marx findet man sich auf den Unterschied von allgemeiner und spezieller Arbeit verwiesen. Letztere bezieht sich auf 21
den unmittelbaren Arbeitsprozeß, erstere auf die vorgängig zu leistende theoretische Arbeit. Beide verändern sich in der Geschichte und realisieren selbst Entwicklung in Abhängigkeit von den produzierenden Aggregaten, die sie vorfinden und die sie selbst erzeugen. Mit dem Vorhandensein von Arbeitsteilung waren bereits Piaton und Aristoteles in der griechischen Antike vertraut, und in der Klassengesellschaft asiatischer Produktionsweise5 findet sie sich neben dem traditionell arbeitenden Handwerker in den Priesterkörperschaften, die bis an die Neuzeit heran geistige Arbeit arbeitsteilig betreiben. Eine solche Reminiszenz gibt jedenfalls zu erkennen, daß produktionswirksame geistige Arbeit aus der Zeit der Bewässerung nutzenden Stromkulturen bis in die Gegenwart reicht, zukünftig sicher an Gewicht in den sich entwickelnden Ländern gewinnt, daß aber nur unter dem Blickwinkel überschwellender Phantasie an das Ausschalten der speziellen Arbeit zu denken ist. Die Tendenzen, die Marx im Kapitalismus als zum Kommunismus hinführend entdeckte, werden indes von dem Eindringen wissenschaftlicher Arbeit in die Produktion nicht in irgendeinem verschrobenen Sinne aufgehoben, sondern - umgekehrt - entschieden gefördert. Nach Marx bleibt die Entwicklung der Produktivkräfte, der geistigen und der materiellen, ein unabdingbarer Gegenstand für das Begreifen von Geschichte und der darin beschlossenen weiteren Entfaltung der Gesamtheit der Kultur. Ein im Grunde auf gleicher Ebene liegender Einwand gegen die von Hegel zu Marx hinführende Geschichtsphilosophie bedient sich der Tatsache, daß es außerhalb der darin hervorgehobenen wesentlichen Verhältnisse, also Gesetzen, noch andere gebe. Sie seien so wichtig, daß man auf alle die verzichten könne, die sich in der Philosophie - aufgefaßt als Geschichte der Metaphysik von Piaton bis Hegel und von den Präsokratikern bis Heidegger - vorfinden, wie Jacques Derrida hervorhebt 6 und Michel Foucault in erster Linie auf Marx bezog.7 In einer merkwürdigen Verkehrung der Funktion von Wissen, objektiven Strukturen und der Kontinuität des historischen Prozesses bleibt der philosophierende Strukturalismus bemüht, nach tradierter neopositivistischer Sitte an die Stelle der Kritik überholter Gesellschaften die Kritik der Sprache zu setzen. An die Stelle von Entwicklung enthaltender Geschichtsphilosophie, ihrer sie vorbereitenden Philosophie und deren spätbürgerlicher Deformationen tritt eine der Geschichte entfremdete und die Linguistik als Folie benutzende Bedeutungslehre. Die gesellschaftlichen Probleme, die in der Geschichte des späten 20. Jahrhunderts die Erde bewegen, werden beiseite geschoben und dafür eine Begründung in Schrift, Text und Sprache gesucht. Antievolutionistisch und antidialektisch erscheinen die Diskontinuitäten als Argument gegen Entwicklung und ebenso 5 J. Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 118 (Grammatologie). 6 J. Derrida, Positions, Paris 1972, S. 129-133; Lettre de Jacques Derrida ä JeanLouis Houdebine, 15. Juli 1971 (Positionen. Brief von Jacques Derrida an JeanLouis Houdebine). 7 M. Foucault, Les mots et lès choses, Paris 1966, S. 384 (Die Worte und die Sachen [Suhrkampausgabe 1974: Die Ordnung der Dinge]).
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gegen die Möglichkeit, sich den „Strukturen" zu entziehen, die als Fesseln der Individuen mißverstanden sind. Die von Hegel zu Marx abgewandelte Theorie der Entfremdung findet bei den philosophierenden Strukturalisten ihre Bestätigung. Distanziert von der gesellschaftlichen Realität, bringt das Hinwenden zu einem Teilgebiet gesellschaftlicher Erscheinungen interessantes Material und partiell beachtenswerte Standpunkte hervor, die aber alles vernachlässigen, worin sich materielle Lebenstätigkeit äußert, und den diesbezüglichen konkreten Inhalt entfallen lassen. Als Entfremdung in Aktion erscheint die Kritik an Philosophie schlechthin in Gestalt eines Verzichts auf zusammenhängendes Weltverständnis, von dem allein einige Aspekte der Sprache bleiben, deren Inhalte kaum noch interessieren, wenn die Kenntnis über deren Formalismen sich angereichert hat. Mit der Begleiterscheinung des Hasses gegen den „Menschen", der gestorben sei wie ehedem gemäß Friedrich Nietzsche Gott, wiederholt sich ein Ressentiment gegen Entwicklung überhaupt, das sich in der These vom Ende der Geschichte äußerte. Wird der Geschichtsphilosophie von Marx jene angeblich an Religion erinnernde Heilserwartung vorgeworfen, dann beweisen die philosophierenden Strukturalisten umgekehrt, daß sie gleichsam alttestamentarisch das Ende der Welt für gekommen ansehen und zum Tröste versichern, daß geschriebenes Wort - nicht anders übrigens als das gesprochene - verschiedener Interpretation fähig sei, was zuvor schon ohne Akribie und komplizierten Apparat bekannt war. Gegen Jean-Louis Houdebine versichert Jacques Derrida in einem Brief vom 15. Juli 1971, seine Destruktion von Geschichtsphilosophie sei nicht neutral und als zufällige Intervention aufzufassen. An Lenins These von der Parteilichkeit der Philosophie habe er keine Ausstellung zu machen, da sie immer vorhanden gewesen sei. 8 Insofern ist allerdings Jacques Derrida gerade im Verständnis der Geschichtsphilosophie von Marx zuzustimmen. Philosophieren bedeutet Parteilichkeit. Aber um die Theoreme zu entziffern und die Grundlage ihrer Motivation aufzusuchen, bedarf es einer Theorie, die ihre Bedingungen nicht außer acht läßt und sie außerdem aufzudecken gestattet. Auf die von Marx entdeckten materiellen Fundamente der Geschichte zu verzichten, beraubt der Möglichkeit, Zusammenhänge aufzudecken, die alle Geschichtsprozesse motivieren, und zwar auch dann, wenn in einigen alten oder vielleicht auch neueren Kulturen Entwicklung versiegte und eine Destruktion und Deformation sich ausbreitete, die sich keine weitere Entwicklung der Gesellschaft vorzustellen vermag. Jene Versicherungen, es gebe keine Grundlage der Motivation, brauchen nicht auf Treu und Glauben angenommen zu werden, gerade weil der spätbürgerlichen Ideologie die Marxschen Kategorien der Theorie der Klassen und des Klassenkampfes unbequem sind. In der Geschichte des Begriffs Parteilichkeit ist zunächst auf Hegel zu verweisen, der erkannte, daß in der bürgerlichen Gesellschaft sogenannte „Faktionen" 2 Ebenda.
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entstehen, in denen sich die Parteinahme organisiert. Was Hegel in dem Sieg des Knechts über den Herren für die bürgerliche Gesellschaft andeutet wird bei Marx zu einer Analyse des Kapitalismus und vor allem der Möglichkeiten der Arbeiterklasse. Wird die Geschichte der menschlichen Gesellschaft nach rückwärts verfolgt, um das historische Verständnis wachzuhalten und sich überhaupt der Gesetze geschichtlicher Entwicklung zu versichern, dann bleibt bei Marx der künftige Geschichtsprozeß immer im Horizont. Das Verändern der vorgefundenen gesellschaftlichen Realität erscheint Marx in der Kritik Ludwig Feuerbachs als maßgeblicher Bruch mit der vergangenen Philosophie, an der sich die materialistische Geschichtsauffassung zu bewähren hatte. Sie analysiert nicht, um bloß zu interpretieren, sondern um unter anderem auch die Wechselwirkungen zu studieren, die den verschiedenen Elementen der BasisÜberbau-Theorie konkret in der Geschichte zukommen, um herauszufinden, wie die einzelnen Gebiete ineinandergreifen, sich beeinflussen und auseinander entstehen. Im Anschluß an Marx läßt sich damit revolutionierte Gesellschaft weiterentwickeln. Entsteht in der bürgerlichen Gesellschaft ein Abscheu vor den materiellen Fundamenten der Gesellschaft und vor den physischen wie geistigen Leistungen, die sie erzeugen, dann bewahrt die Geschichtsphilosophie von Marx vor dem Verfall von Geschichtsbewußtsein. Als dialektischer Materialismus bleibt aber die Weltanschauung der Arbeiterklasse zum anderen gesichert gegen einen blanken Fortschrittsglauben, durch den der praktizierten Entwicklung das Verständnis der Widersprüche genommen würde, die jeder Wirklichkeit anhaften und die schon Hegel als nicht eliminierbar fand. Versucht eine sich exakt dünkende Methodologie des Widerspruchs und der Dialektik ledig zu werden, dann verzichtet sie prinzipiell auf das Eindringen in gesellschaftliche Entwicklung und mindert ebenfalls die Anwendbarkeit in Naturwissenschaft und Technik bewährter Verfahren auf ihre gesellschaftlichen Bezugspunkte in der Ökonomie und der Leitung von Prozessen, die mit dem Entfalten der Produktivkräfte beträchtlich an Bedeutung gewinnen. Übrigens veranlaßt gerade die Beachtung der Dialektik in jeglichem gesellschaftlichen Kontext, jeden Wirkungsmechanismus auf die der Gesellschaft zukommende Verantwortung zu überprüfen. Marx entdeckte in seiner Geschichtsphilosophie nicht, wie spätbürgerliche Ideologie glaubhaft zu machen sucht, die Freiheit des Menschen beendigende Strukturen, sondern gerade jene Gesetzmäßigkeiten, die die Arbeiterklasse zu ihrer Befreiung auszunutzen vermag.
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1. Vortrag
Hegels Phänomenologie des Geistes und das Entwicklungsdenken von Marx
Hegel bezieht sich in der Geschichte der Dialektik auf Heraklit, Piaton und Diderot. Karl Marx und Friedrich Engels knüpfen unmittelbar an Hegels Philosophie an. Marx entwickelte seine Gedanken aus der Idee der Veränderung des ideellen Kosmos, Engels über das versuchte Verständnis ökonomischer Strukturen. Gegenwärtig waren beiden Theoretikern der Arbeiterklasse die Arbeiten französischer Materialisten wie der utopischen Sozialisten St. Simon, Fourier und Owen. Sie waren stolz, nicht nur von diesen, sondern in ihrem Denken auch von Kant, Fichte und Hegel abzustammen. Victor Cousin sah in Hegel einen begeisterten Anhänger und Nachfolger der französischen Aufklärung. Wenn Cousin auch die Ansichten Hegels nicht teilte, so edierte er bekanntlich Schriften Abälards, der sich als früher Materialist auffassen lägt. Der Grund liegt darin, dag Abälard die Universalbegriffe in den Dingen als existent erklärte. Es ist eine bei Aristoteles vorhandene These, die bei Lenin als speziell materialistisches Kennzeichen aufgefaßt wird. Hegel besitzt von idealistischer Position her eine analoge Theorie. Sein monistischer Idealismus kommt von Schelling. In der Entfaltung der Dialektik lägt sich der Einfluß Immanuel Kants nicht verkennen. Hegels „Wissenschaft der Logik" erweist sich als eine laufende Paraphrasierung von Kants „Kritik der reinen Vernunft". In Hegel vereinigen sich die Gedanken der französischen und deutschen Aufklärung zu einer Identitätsphilosophie der Entwicklung des Bewußtseins. Marx sieht den Zusammenhang der sich wechselseitig beeinflussenden Entwicklung materieller und geistiger Strukturen. Die wesentlichen gesellschaftlichen Beziehungen der Klassen und Individuen gelten als materiell. Es ist eine Materialität, die nicht die Art physikalischen oder biologischen Substrates besitzt. Alle Arten von Relationen und Strukturen, alle Arten sich verändernder Konstellationen von Objekten sind für Marx materiell. Daher entsteht bei Marx eine Entwicklungstheorie der Gesellschaft, in der die verschiedenen Formationen progressiv aufeinander folgen und Basis und Überbau in widersprüchlicher Wechselwirkung begriffen sind, die Entwicklung erzeugt. Besitzt Maupertuis um 1745 bereits in seiner „Venus Physique" eine biologische Entwicklungshypothese, die Diderot ebenso wie die Buffons interessiert, so liefert Immanuel Kant deren eine ganze Serie. Vor der „Kritik der reinen Vernunft" schrieb Kant die „Naturgeschichte des Himmels", die Entwicklung 25
der Galaxien einbezieht. Nach der ersten „Kritik" nähert sich Kant einer Entwicklungshypothese des organischen Lebens in der „Kritik der Urteilskraft". Anschließend folgen die „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784). Hegel erblickt in Kants transzendentaler Dialektik das methodisch entscheidende Verfahren, um das Denken geeignet zu machen, entgegengesetzte Positionen aus der Masse der Mannigfaltigkeit auf den Begriff zu bringen. Die von Kant entdeckten Entwicklungprozesse der Natur beschäftigten Hegel nicht. An Kants Versuch, eine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zu entwerfen, erinnert der Hegels, aufeinanderfolgende Antagonismen im Bewußtsein zu entdecken. In der „Phänomenologie des Geistes" verfolgt Hegel Prozesse, die partiell unhistorisch von der sinnlichen Gewißheit der Welt der Erscheinungen und der übersinnlichen Welt, dem Skeptizismus bis zur beobachtenden Vernunft und der Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins gehen. Das unglückliche Bewußtsein wie das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit erscheinen als notwendiges Moment. Sie finden zwar ausführliche Darstellung, aber nicht Hegels Sympathie. Der wahre Geist und damit die bloß „sittliche Handlung" gehören bei dem universalhistorisch gestimmten Philosophen ebenso zu den niederen Erscheinungsformen des Selbstbewußtseins. Der sich entfremdende Geist und die Aufklärung stehen aber miteinander in Beziehung. Die absolute Freiheit und der Schrecken sind nach Hegel ihr Produkt und weitere Durchgangsstufe. Die früheren Stufen der Religion sieht Hegel in dem Glauben der Aufklärung untergehen. In den geoffenbarten Religionen fehlt Hegel das hinreichende Selbstbewußtsein. Schließlich entsteht das absolute Wissen aus der Arbeit, die der Geist als wirkliche Geschichte vollbringt. Kommt der Geist auf den Begriff, dann gewinnt er damit den Äther seines Lebens,1 er wird damit Wissenschaft: „Wenn in der Phänomenologie des Geistes jedes Moment der Unterschied des Wissens und der Wahrheit und die Bewegung ist, in welcher er sich authebt, so enthält dagegen die Wissenschaft diesen Unterschied und dessen Aufheben nicht, sondern indem das Moment die Form des Begriffs hat, vereinigt es die gegenständliche Form der Wahrheit und des wissenden Selbsts in unmittelbarer Einheit.-"2 Welche Momente aus einer Philosophie herausgegriffen werden und in den weiteren Prozeß gesellschaftlichen Bewußtseins eingehen, ist in den verschiedenen Abschnitten der Aufeinanderfolge von Gesellschaften verschieden. Abhängig aber ist es auch von den Klassen, auf die sich die mit Philosophie befassenden Individuen orientieren. Da die in einem literarischen oder philosophischen Werk enthaltenen Beziehungen und Sachverhalte beträchtlich sein können, entspringt dem die Möglichkeit zahlreicher Anknüpfungen. Alexandre Kojeve, Raymond Aron oder Jean-Paul Sartre bieten Varianten der Interpretation, die sich 1 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Ed. Glockner, Bd. 2, S. 617. 2 Ebenda.
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nicht unbeträchtlich von der Art des Herangehens durch Michel Foucault unterscheiden. Geschichtlich relevant wurden im 19. Jahrhundert nebeneinander die Deutungen von Sören Kierkegaard und von Karl Marx. In der vorliegenden Heihe von Vorlesungen soll uns beschäftigen, welche Momente für Marx interessant wurden und wie er die von Hegel empfangenen Anregungen umgestaltete und was er aus ihnen hinsichtlich seiner Geschichtsphilosophie machte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Darstellung und Konfrontation beider unterschiedlicher Geschichtstheorien von dem aktuellen Interesse des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts auch dann geprägt wäre, wenn ich versuchen wollte, einer absoluten unparteiischen Objektivität Geltung zu verschaffen. Die Gegenwart und ihre Problematik geht unvermeidlich in den Versuch ein, beide Geschichtsphilosophien zu vergleichen und zu würdigen. Andere Fragen werden mitschwingen und die Aspekte prägen, unter denen sich das Werk beider Denker Geltung verschafft. Zunächst soll uns an Hegel das beschäftigen, woran Marx anknüpfte. Es wird sich zeigen, daß Lenin später festzustellen vermochte, wie Hegel Elemente des historischen Materialismus hervorbrachte, die sich materialistisch in gesellschaftliche Aktivität umsetzen ließen. Wie sich diese in Hegels Logik und Rechtsphilosophie enthaltenen Momente vorbereiten, läßt sich an der „Phänomenologie des Geistes" erkennen. Bei Hegel geht die Interpretation von der Hegeischen Rechten bis zur Hegeischen Linken, von nazistischer Rechtsphilosophie über bürgerlich demokratisches Denken bis zu ultralinken Schattierungen. Marx findet sich unterschiedlich angezogen in der Theorie des Marxismus-Leninismus oder in der Operationsforschung, bei Lévi-Strauss und dem (US-) amerikanischen Antikommunisten Brzeszinski. In der „Vorrede" zur „Phänomenologie des Geistes" findet sich philosophisch verallgemeinert die Quintessenz der Hegeischen Geschichtsphilosophie. Später ge•schrieben als der eigentliche Text, bringt sie die Grundgedanken und Kategorien, die sich aus Hegels Analyse ergeben hatten: „Auch weil die Philosophie wesentlich im Elemente der Allgemeinheit ist, die das Besondere in sich schließt, so iindet bei ihr mehr als bei anderen Wissenschaiten der Schein statt, als ob in dem Zwecke oder den letzten Resultaten die Sache selbst und sogar in ihrem vollkommenen Wesen ausgedrückt wäre, gegen welches die Ausführung eigentlich das Unwesentliche sey."s Entdeckt Hegel in der Geschichte des Bewußtseins Strukturen, die sich als Entwicklung deuten lassen, so erscheint die in der „Phänomenologie" versuchte Ableitung gegenwärtig weitgehend willkürlich. Die Reihenfolge der verschiedenen Gestalten des Bewußtseins deckt sich kaum mit den neueren Resultaten. In der Konfrontation von Napoleon und Hegel beschrieb Kojève die historische Situation, in der Hegel unter dem Feuer der Kanonaden von Jena und Auerstädt 1807 die „Phänomenologie" zum Abschluß bringt. Sieht Kojève in Hegel 3 Ebenda, S. 11.
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das Durchsetzen von Atheismus als einen notwendigen Prozeß der Auseinandersetzung mit der Religion, so trifft er gewiß eine wesentliche Seite der umstrittenen Persönlichkeit Hegels, der in dem damaligen Preußen vorwiegend illegal arbeitete, wenn er sich mit politischen Problemen befaßte. Er wirkte unter den harten Bestimmungen der Karlsbader Beschlüsse, was manche vernachlässigen, wenn sie in ihm bloß einen sogenannten preußischen Staatsphilosophen sehen. In den Kategorien der Hegeischen Geschichtsphilosophie existieren die Grundbestimmungen des dialektischen Denkens, die bei Marx materialistisch abgewandelt sind. Vielfach verschlungen leitet Hegel aus den Phänomenen der verschiedenen historisch konkurrierenden Bewußtseinsmassen einen Prozeß des Fortschritts ab. Nimmt Foucault an, Entwicklung sei gegenwärtig uninteressant geworden, so sollte man nicht vergessen, daß in modernen allgemein soziologischen Theorien und in den Naturwissenschaften Entwicklung angenommen wird. Das gilt für die sogenannte Industriegesellschaft und postindustrielle Gesellschaft nicht minder wie etwa für die moderne Interpretation der astrophysikalischen Weltmodelle, die Erweiterung der Mendelschen Genetik durch die Mutationstheorie und f ü r die Lehre des Übergangs von anorganischen Verbindungen zu organischen Molekülen, wobei Jacques Monod, François Jacob und Manfred Eigen zu denken ist. Insofern kommt Hegels Entdeckung von Entwicklungsstrukturen innerhalb einiger Schichten des gesellschaftlichen Seins auf jeden Fall noch immer aktuelle Bedeutung zu. Den Naturwissenschaftlern war Hegel bis in die jüngste Zeit ein Greuel. Sie begriffen nicht, daß die Kontroverse mit Kants „Kritik der reinen Vernunft" auch von den Entwicklungsproblemen der Naturwissenschaften und der Natur selbst sowie dem Entwurf von Hypothesen handelt. Bleibt bei Immanuel Kant in der transzendentalen Dialektik naturwissenschaftlicher Empirismus oder Epikureismus unvermittelt neben den Themen der Religion, der frommen Sittlichkeit des Staates und der theologischen Kosmologie der Schöpfungsgeschichte, so bringt Hegel das Gegensätzliche in Verbindung. Dialektik als Einheit des Widersprüchlichen ist Hegels Negation der Negation, mit der Kants Thesis und Antithesis vereinigt werden. Aus dem Analysieren dieser Einheit von Antagonismen entspringt bei Hegel das Entdecken von Richtung in der Geschichte, einem tendenziellen Prozeß, der nach Hegels Meinung auf Entwicklung vom Niederen zum Höheren angelegt ist und mehr Elemente, als in Kants Geschichtsversuch in weltbürgerlicher Absicht vorfindbar, beinhaltet. Polemisiert Hegel gegen den Anspruch der Mathematik auf grundlegende erkenntnistheoretische Geltung für das Unterscheiden von Wahrheit und Falschheit, so hat er mit seiner Zurückweisung Kant auf seiner Seite. Kant zählt Piaton - unbeschadet dessen noch heute faszinierender Dialoge - zu den „Platonisten" und einer Partei der Theologie und des Glaubens. Daß es sich bei dem Analysieren dialektischer Kategorien um eine der formalen entgegengesetzte inhaltliche Logik handelt, hat Hegel ebenfalls von Kant. Die transzendentale 28
Dialektik gilt Kant ausdrücklich als Logik. Wahrheit existiert für Hegel bloß als das wissenschaftliche System derselben: „Indem die wahre Gestalt der Wahrheit in diese Wissenschaftlichkeit gesetzt wird. - oder was dasselbe ist, indem die Wahrheit behauptet wird, an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz zu haben, - so weiß ich, daß dieß im Widerspruch mit einer Vorstellung und deren Folgen zu stehen scheint, welche eine so große Anmaßung als Ausbreitung in der Ueberzeugung des Zeitalters hat".i Ganz parallel mit Kant wendet sich Hegel gegen den formallogischen Wahrheitsbegriff und setzt ihn in Beziehung zu der anderen Tendenz, das Wahre als Gefühl und Erbauung sich anzueignen. Beides stellt auch Kant nebeneinander. Aber entschiedener noch als Kant läßt sich Hegel gegen den „Piatonismus" vernehmen : „Das Schöne, Heilige, Ewige, die Religion und Liebe sind der Köder, der gefordert wird, um die Lust zum Anbeißen zu erwecken, nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende Nothwendigkeit der Sache, sondern die gährende Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichthums der Substanz seyn."5 Begeisterung und Trübheit sollen, wie Hegel berichtet, etwas Höheres als die Wissenschaft sein. Das sei eine Meinung, die verächtlich auf die Bestimmtheit blickt. Sie hält sich absichtlich fern von dem Begriffe und der Notwendigkeit.6 In der Entwicklung des begrifflichen Inhalts sieht Hegel Wahrheit im Prozeß, im Prozeß selbst einen notwendigen Fortgang. Da Hegel Dialektiker ist, bedeutet Entwicklung Fortschritt, so wie er sich in der ideell aufgefaßten Realität äußert. Das Fortschreiten ist für Hegel absolut. Die Geschichte löst in seinem Verständnis tatsächlich Probleme, ohne daß es sich um einen mechanistisch zu beschreibenden oder sogar zu verstehenden Prozeß handelt. Diese Notwendigkeit ist von vornherein als offen aufgefaßt, als ein breites Feld von Möglichkeiten. Die Mathematik der Wahrscheinlichkeiten ist dem besser angepaßt. Hegel verlangt von einer Philosophie, daß sie sich auf den Weg der Wissenschaft begibt, deren Begriff aber die Ausführung sei, nicht die Definition. Antiwissenschaftlich in diesem Sinne nennt Hegel das Verzichten auf Maß und Bestimmtheit 7 : „Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und eben so vielfacher Anstrengung und Bemühung. "8 Die Bestimmtheit und das Maß in der Darstellung der Entfaltung des Geistes und dem Entstehen seiner neuen, noch nicht dagewesenen Momente soll diesen vielfältig verschlungenen Weg wiederzugeben suchen. In der Vorrede behandelt Hegel die Dialektik von Substanz und Subjekt. Ihre 4 5 6 7 8
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S. S.
14/15. 16. 17. 18. 19.
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Einheit sei gleichsam in der Darstellung des Systems zu rechtfertigen. Die eine Substanz als Gott darzustellen, erregt die Empörung des Zeitalters, diagnostiziert Hegel. Gott für sich sei ein sinnloser Laut, ein bloßer Name. Erst das Prädikat sage, was er sei, gebe seine Erfüllung und Bedeutung. Dann ließe sich ebenso wie in der Antike von reinen Begriffen sprechen: vom Ewigen - der moralischen Weltordnung - dem Sein - dem Einen, „ohne den sinnlosen Laut noch hinzuzufügen".9 Hegel verlangt weder das eine noch das andere zu tun, sondern den Verlauf der Bewegung des Geistes seit der Antike darzustellen, der schließlich in der Entfaltung oder Entwicklung der Wissenschaften münde. Das Absolute lasse sich weder in Gott noch im Subjekt darstellen. Vielmehr bedeuteten beide, absolut genommen, eine falsche Antizipation. Sie seien als ruhender Punkt fixiert. Die Philosophie aber habe vorzubringen die Selbstbewegung des Inhaltes.10 Die Wissenschaft baue sich den Geist als seine eigene Wirklichkeit und als ein Reich in dem ihm gemäßen Elemente. Da Hegel die Existenz der materiellen Außenwelt ausdrücklich bejahte, ist damit als Geschichte die Gesamtheit aller Vorgänge angesprochen, in denen sich schließlich das jeweils herrschende und bestimmende Bewußtsein äußert. Es entsteht nach Hegel aus zahlreichen Umwälzungen. Kant sprach hinsichtlich der Naturwissenschaften von einer Folge von Revolutionen, die seit der Antike vorsichgegangen wären. Hegel hat dafür nur den Begriff der „Umwälzungen". Sie kommen philosophisch auf den Begriff des Werdens. So wenig man eine Zoologie meine, wenn man „alle Tiere sage", so verhalte es sich nicht anders, wenn man in der Abfolge der Entwicklung des Geistes vom Anfang, dem Prinzip oder dem Allgemeinen spreche: „Das Ganze ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.'1* Hegel verlangt zu untersuchen, was denn eigentlich die Natur der Vermittlung sei.12 Er versteht darunter die Verbindung zwischen Objekt und Subjekt. Das Mittlere gilt als das Übergreifende. Die Befriedigung der antagonistisch entgegentretenden Widersprüche bedeute, im Subjekt die Totalität des Objektes aufzunehmen. Mit anderen Worten sei das der Gang des Geistes zur Wissenschaft, die mit dem höchst entwickelten Bewußtsein der menschlichen Gesellschaft identisch werde. Hegel faßte sie als bürgerliche Gesellschaft auf, vermerkt aber auch bereits in der Rechtsphilosophie das Aufkommen des Proletariats. In § 243 der „Rechtsphilosophie" spricht er von der fortschreitenden Bevölkerung und Industrie, der Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit der Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse. Die Armut mache keinen zum Pöbel, dieser werde erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere 9 10 11 12
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Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 26/27 Ebenda, S. 24. Ebenda.
Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft und die Regierung. 13 Hegel diagnostiziert, es sei eine die moderne Gesellschaft bewegende und quälende Frage, wie der Armut abzuhelfen sei. Zuvor hatte er bemerkt, jene aus der Arbeitsteilung entstehende Abhängigkeit und Not beeinträchtigen die Fähigkeit und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel sieht in der Vermittlung des einfachen Werdens, die er in der Phänomenologie skizziert, jene über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibenden Momente, die schließlich zum Entstehen der Lehre von Marx und ihrer Ausbreitung Anlag waren. Das Wahre besteht bei Hegel nicht in der Definition und nicht im Resultat; es sei ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen werde. Hegel verlangt sie und spricht von der Gewinnung der Wirklichkeit aus dem An sich zum Für sich. Der Embryo sei wohl an sich Mensch, nicht aber für sich. Diese Form von selbstbewußter Freiheit sei das Ergebnis einfacher Unmittelbarkeit, die den Gegensatz noch auf der Seite lasse. Das Werden der Wissenschaft überhaupt ist für Hegel die »Phänomenologie des Geistes", zugleich aber ist es das Werden des Individuums, des besonderen Individuums. Besonderheit entfalle in dem Fortschreiten der Aneignung der verflossenen Stufen des Geistes und der Vereinigung von Objekt und Subjekt in der Vereinigung von Wissen und Handeln. Wie man nicht „wie aus der Pistole" mit dem absoluten Wissen anfangen könne, so versichert Hegel, sei es auch mit der Entwicklung des Individuums. Es verliere seine sozusagen kuriose Besonderheit und gewinne die Stufe der Allgemeinheit, werde gleichsam historisches Individuum. Das Individuum wie die Gesellschaft wird im Verständnis Hegels angetrieben durch das Negative. Die Entfremdung wird gleichsam zum Antrieb. Aus der Entfremdung gehen Individuum und Subjekt wieder in sich zurück. Damit ist dann die Negation, die als die Entfremdung verstanden ist, aufgehoben in dialektischem Sinne. Als Ziel gilt, daß Sein und Wissen nicht mehr auseinanderfallen : „Ihre Bewegung die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Philosophie,"14 In dem berühmten Kapitel über Herrschaft und Knechtsschaft schildert Hegel den Sachverhalt, den Marx als Klassenkampf begreift und als Grund der inneren Selbstbewegung der Gesellschaft auffaßt. Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist für Hegel das knechtische Bewußtsein: „Der Herr bezieht sich auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Seyn, denn eben hieran ist der Knecht gehalten; es ist seine Kette, von der er im Kampie nicht abstrahiren konnte, und darum sich als unselbstständig, seine Selbstständigkeit in der Dingheit zu haben, erwies.*15 13 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 244, S. 318. 14 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 37. 15 Ebenda, S. 153/154.
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Nach Hegel kommt der Knecht durch die Arbeit zu sich selbst. Arbeit ist ausgehaltene Begierde oder sie bildet.16 „Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem Bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbstständigkeit hat."17 So läßt Hegel den Knecht über den Herrn triumphieren. Zweifellos ist für Hegel der Triumph über den Herrn der Sieg der bürgerlich verstandenen Gesellschaft über den Seigneur, den Großgrundbesitzer. Der Knecht ist der Bourgeois. Die Vermittlung, von der Hegel als charakteristisch für das Werden sprach, bedeutet indes hier das Herausstellen von durch Arbeit veränderten Objekten, die selbständig auf das Verhältnis von Herr und Knecht einwirken. Da Hegel in erster Linie von der Entfaltung und dem Werden des Bewußtseins spricht, begreift Marx diesen Begriff der Arbeit vorwiegend als geistige Arbeit. In der buchstäblichen Formulierung bringt Hegel indes darüber hinaus auch den veränderten Gegenstand, der durch den Prozeß der physischen Arbeit die Gestalt gewinnt, die sich auswirkt. Für Hegel ist bloß entscheidend, daß damit der Knecht, was auch immer später darunter zu verstehen sein wird, Gewalt über den Herrn gewinnt .Das Individuum, das arbeitet, verändert sich im Verständnis Hegels selbst. Im Prozeß der Arbeit bleibt das Individuum nicht dasselbe. Obwohl Hegel die Gewalt ausdrücklich als historische Kategorie behandelt und bis zu den von den Jakobinern deklarierten „Schrecken", der terreur, steigert, erscheint in der „Phänomenologie" schon das Arbeitsverhältnis als zentrales System von Beziehungen, in denen der Knecht die faktische Überlegenheit über den Herrn gewinnt, sich Herr und Knecht verwandeln und das Bewußtsein als Fähigkeit und Wissen den Knecht über den Herrn stellt. Der Knecht wird damit ein Für-sich-seiendes. Die in der Arbeit gesetzte Vermittlung wird von ihm zurückgenommen. Entsteht daraus Bildung, so andererseits Furcht vor dem Mittel und der Negation des Herrn und des Mittels selbst in der individuellen Aneignung. Hegel leitet daraus Furcht als gesellschaftliche Erscheinung ab, die aus dem Umgang mit dem Mittel hervorgehe. Sie wiederholt sich stets, wenn sich im Prozeß der Negation der Negation die relativ festgeronnenen Gestalten auflösen und als neues Moment in das Werden des Wissens eingehen. Marx versichert in den „Pariser Manuskripten" von 1844 ausdrücklich, Hegel befinde sich auf dem Boden der modernen Nationalökonomie, sehe aber in der Arbeit nur die geistige Arbeit. Sicherlich sah Hegel tatsächlich in dem Überwinden des unglücklichen Bewußtseins und dem Werden des Wissens im Gegensatz zur geoffenbarten Religion das Werden der bürgerlichen Gesellschaft. Marx versteht unter der Umstülpung Hegels, die begriffliche Analyse des Bewußtseins auf die konkreten Gestalten des gesellschaftlichen Seins auszudehnen, die Hegel andeutet, aber kurzschlüssig wieder in das Bewußtsein zurücknimmt. Er untersucht in der Geschichte, wie sich das Verhältnis von Herr und Knecht 16 Ebenda, S. 156. 17 Ebenda.
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verändert. Kommt für Hegel die Industrie neu in das Blickfeld, so wird sie für Marx zum entscheidenden Thema. Unter den neuen Bedingungen veränderter Mittel führt er die von Hegel begonnene Analyse fort. Im Gegensatz zu dem objektiven dialektischen Idealismus Hegels bringt der dialektische und historische Materialismus von Marx die Untersuchung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse einschließlich der Auseinandersetzung mit der den unterschiedenen Produktionsverhältnissen entsprechenden Ideologie. Falsches und adäquates Bewußtsein sind bereits das Thema Hegels. Marx übernimmt die Funktion des Wissens schon in der „Einleitung" zur „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie". „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift", ist eine der wichtigsten Thesen des jungen Marx, mit der der historische Einbruch in die konkreten Entwicklungsprozesse beginnt. Das Genießen der Produkte der Arbeit des Knechts durch den Herrn ist analogisiert durch die ökonomische Analyse der Ausbeutung, die das Marxsche „Kapital" vornimmt. Die Mittel finden indes eine besondere Würdigung in dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie". Sie gelten als letztlich bestimmend für den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsformation. Da sie Ausdruck der sich entwickelnden Gestalt und Persönlichkeit des Knechts sind, ist dem gesamten Spektrum der Fähigkeiten eine der Triebkräfte zugeschrieben, durch die der Übergang zu einer Veränderung des Menschen und der Gesellschaft eintritt. Die dialektische Philosophie hat indes bei Hegel und Marx gemeinsam, daß die „Mittel" als Produktionsmittel bei beiden zum Fürsichseienden werden müssen, nicht nur durch die unwillkürliche Beeinflussung des arbeitenden Individuums, das hier für eine logische und soziale Klasse steht, sondern auch durch das Bewußtwerden des Prozesses. Ohne den Übergang von der Tätigkeit zum physischen Individuum und dessen rationalem Begreifen der Wechselwirkung fehlt das dialektische Aufheben. Marx analysiert die Möglichkeit, daß der Herr gegenüber dem Knecht unterliegt und der Knecht notwendig über den Herrn die politische Herrschaft gewinnt. In der ökonomischen Analyse des Kapitalismus aber bereitet Marx die künftigen gesellschaftlichen Strukturen des Sozialismus vor, durch die diese wechselseitige Funktion der Arbeit als Einheit von geistiger und physischer der weiteren Entwicklung der Individuen und der Gesellschaft dient. Die Arbeit ist, wie wir sahen, bei Hegel die Kette, von der im Kampfe nicht zu abstrahieren ist. Der dialektisch verstandene Materialismus abstrahiert auch in der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung nicht von diesem Moment der Vermittlung. Das Aufheben der von Hegel in den Arbeitsprozeß und den Versuch der bewußten Generalisierung verlegten Furcht wird bei Marx zum Thema des Aufhebens der Entfremdung. Die moderne Diskussion befaßt sich in Verbindung mit den daraus für den Kapitalismus entstehenden Problemen der Regelung und denen der sozialistischen Planung mit der Position der Individuen überhaupt zu Mittel und Vermittlung. Hegel lastet den Mitteln, die die Gestalt von Maschinen und Maschinensystemen besitzen, nicht den Ursprung von Furcht an. Vielmehr sind sie für Hegel ein Anzeichen ungenügender Aufhebung des Problembereichs 3
Ley, Bewußtsein
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in das Bewußtsein. Marx sieht die charakteristischen Gründe in dem Verhältnis von - sozusagen - Herr und Knecht, das heißt, in den antagonistischen Klassenwidersprüchen und in der Gesellschaftsformation, die die spezifische Art der Wirkung der Mittel begründen. Durch ihre Aufhebung entsteht dann erst das veränderte Verhältnis zu den Mitteln, in denen das Subjekt das Objekt nicht mehr als fremdes sich gegenüberstehen hat. Verfolgt Hegel die Entwicklung des Bewußtseins, so Marx die Abfolge unterschiedlicher Beziehungen zwischen Herr und Knecht durch die gesamte Geschichte der Klassengesellschaften bis zu ihrer Überwindung, deren Möglichkeit bei Marx abhängig ist von der Entwicklung der Klassen und der Mittel selbst. Die Mittel und ihre Entwicklung gelten deshalb selbst als revolutionäres Element, die indes die Revolutionierung der Individuen verlangen, besonders aber des individuellen und des gesellschaftlichen Bewußtseins. Die „Phänomenologie" nennt Friedrich Engels eine Parallele der Embryologie und Paläontologie des Geistes. 18 Neben tradierten versteinerten Gestalten früherer Stufen des Bewußtseins verfolgte Hegel das Aufkeimen des zeitgenössischen Bewußtseins in einzelnen seiner konkreten Manifestationen. Methodologisch revolutioniert er dabei das Denken und sucht es zu befähigen, Entwicklung sich zu eigen zu machen. Mit der Idee, die Selbstbewegung des Inhaltes zu erfassen, ist ein neues Forschungsgebiet erschlossen, für das die begrifflichen Instrumentarien noch nicht vorlagen und erst zu erarbeiten waren. Da Hegel als philosophischer Idealist mit Bewegung des Inhalts in erster Linie die des Bewußtseins meint, ist es bereits als dialektische List der Vernunft aufzufassen, wenn er im Verhältnis von Herr und Knecht auf ein Klassenverhältnis stößt, das außerhalb der Sphäre des Bewußtseins Objektivität in Anspruch nimmt. Für Marx entsteht daraus notwendig bei der weiteren Untersuchung der in zwischen eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen die Forderung, den mit dem Proletariat entstandenen neuen Widerspruch in der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen. Der damit entdeckte spezifische Klassenantagonismus verlangt die weitere Analyse der Gründe, die zur Veränderung der Konstellation veranlaßten, wie sie Hegel im Unterschied zu Marx vorfand. Im Unterschied zum Verfahren der formalen Logik, den manifesten Inhalt beiseite zu lassen, verlangt 18 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: K. Marx/F. Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd. 21, Berlin 1975. S. 269: „Phänomenologie des Geistes (die man eine Parallele der Embryologie und der Paläontologie des Geistes nennen könnte, eine Entwicklung des individuellen Bewußtseins durch seine verschiedenen Stufen, gefaßt als abgekürzte Reproduktion der Stufen, die das Bewußtsein der Menschen geschichtlich durchmacht), Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, und diese letztere wieder in ihren einzelnen geschichtlichen Unterformen ausgearbeitet: Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion, Geschichte der Philosophie, Ästhetik usw. - auf allen diesen verschiedenen geschichtlichen Gebieten arbeitet Hegel daran, den durchgehenden Faden der Entwicklung aufzufinden und nachzuweisen . . . "
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das dialektische Denken nicht nur das Beachten des Inhalts, sondern das Aufsuchen der Triebkräfte der Entwicklung in dem zur Untersuchung anstehenden Objektbereich. Als methodologisches Problem ergibt sich die Frage, wie aus der empirischen Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Erscheinungen und der Natur, in der sie sich abspielen, überhaupt wesentliche Momente zu finden seien, in denen sich gesellschaftliche Bewegung erkennen lasse. Zum Inhalt gehört die Totalität aller Erscheinungen. Engels deutet die „Phänomenologie" auf Grund einer aus der Biologie stammenden Überlegung, die zugleich ein bereits von Hegel gegen Kant verwendetes methodologisches Problem berührt, das für alle empirischen Disziplinen inzwischen an Bedeutung gewonnen hat. Mit jenem Vergleich ist die „Phänomenologie" als abgekürzte Reproduktion der Stufen bezeichnet, die das Bewußtsein geschichtlich durchlaufen hat. Soll die Selbstbewegung des Inhalts ihre Darstellung finden, so konnte Engels empirisch in dem vorliegenden Hegeischen Text entdecken, daß nicht der gesamte Inhalt gesellschaftlicher Mannigfaltigkeit in die versuchte Rekonstruktion der Selbstbewegung eingegangen war. Wie wir wissen, begnügten sich Marx und Engels nicht mit der von Hegel gegebenen Begründung, die für den Verlauf der Selbstbewegung als hinreichend erachtet wurde. Vielmehr erweiterten sie den Bereich notwendig erachteter Untersuchung auf die unterhalb des Bewußtseins wirkenden Strukturen, die Hegel angedeutet, aber als irrelevant beiseite gelassen hatte, als er daran ging, Entwicklung zu analysieren. Weder für Hegel noch für Marx deckt sich die Welt der Erscheinungen mit der der bestimmenden aufzudeckenden Strukturen. Bleibt Hegel vorwiegend innerhalb des Bewußtseins und einiger seiner Erscheinungsformen, so hat Marx in den Phänomenen der nicht zum Bewußtsein gehörenden Schichten der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit nach etwaigen Gesetzen zu suchen. In beiden Fällen ist angenommen, daß Gesetze vorzufinden sind. Anzusetzen ist für Hegel wie für Marx an den Erscheinungen, von denen keine strenge Ableitung zu den zu entdeckenden Gesetzen hinleitet - und somit der gleiche Sachverhalt vorliegt wie in sämtlichen anderen empirischen Disziplinen. Die Strukturen sind demnach zu suchen, hypothetisch zu entwerfen und zu testen. Deshalb sieht sich Engels veranlaßt, Hegel zu entschuldigen, daß er zu „gewaltsamen Konstruktionen seine Zuflucht nehmen"19 mußte. Sie sind als Hypothesen aufgefaßt, nicht als absolute Wahrheit, obwohl der Text im Prinzip grammatikalisch einwandfrei folgert. In den Konstruktionen äußert sich selbst die geschichtliche Bedingtheit, die nur ihr zugekommene und angemessene Grundlagen besitzt. Vermag es sich beim Suchen nach Entwicklung einmal um schlichten Irrtum zu handeln, zum anderen - vom gegenwärtigen Interesse rückblickend - um das bevorzugte Herausheben bestimmter Strukturen, so bleibt als das wesentliche Resultat das Entdecken von faktischer Entwicklung. Philosophisch bezeichnet sie Hegel als Werden, um dem in der deutschen Sprache und im Lateinischen als 19 Ebenda.
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Quelle romanischer Idiome gegebenen Doppelsinn zu entgehen, als werde aus etwas Vorhandenem etwas herausgewickelt, das als schon verstanden zu gelten hätte. Abgeleitet werden soll in nicht formallogischer, sondern dialektischer Weise, wie sich Neues vorbereitet und in welcher Weise es geschichtlich mit dem zuvor Vorhandenen verbunden ist. Die Verbindung liefert die einfach durch die zeitliche Existenz gegebene Kontinuität der Geschichte. Zu beschreiben bleibt sowohl der sichtbare Unterschied der durch den Inhalt abgrenzbaren differenten Gestalten des Bewußtseins oder der anderen Bereiche der Gesellschaft als auch deren Werden und Vergehen. Da aber in der Geschichte Kulturen zugrunde gingen, auf deren Boden sich lange Zeit keine neue Entwicklung zeigte oder anderen Ortes entstandene Gestalten übernommen wurden, erschien als mindeste Aufgabe, einen derartigen Bruch festzustellen. Es sind Diskontinuitäten der Geschichte, die sowohl Stagnation und Rückschritt wie auch Fortschritt zu repräsentieren vermögen, wobei nach Hegel und nach Marx keineswegs das Selbstverständnis der Ordnung für ihren tatsächlichen Wert innerhalb der Evolution ausschlaggebend sein muß. Hegel rekonstruiert die Geschichte und ihren Fortschritt, den er als gewiß annimmt, in den Erscheinungsformen des Geistes. Seine aufeinanderfolgenden Stufen sind Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft, Geist als Sittlichkeit, Bildung und Moralität, Religion und absolutes Wissen. Ihr Inhalt erschließt sich nach Hegels vorhergehender Versicherung nicht in der Definition - aller formalen Logik der metaphysischen Geschichtsschreiber und Philosophen damit ein Graus - , sondern in seiner Darstellung. Jedenfalls sollen die zum Teil aufeinanderfolgenden Stufen des Inhalts eine Objektivierung der absoluten Idee sein, zum anderen aber auch nebeneinander und in sich selbst Progression besitzen. Die Religion läßt Hegel ebenfalls eine Durchgangsstufe sein, die in ihrer Funktion entstanden ist und vergeht. Er schreibt: „Diese Versöhnung des Bewußtseyns mit dem Selhstbewußtseyn zeigt sich hiermit von der gedoppelten Seite zu Stande gebracht: das eine Mal im religiösen Geiste, das andere Mal im Bewußtseyn selbst als solchem. Sie unterscheiden sich beide so von einander, daß jene diese Versöhnung in der Form des Ansichseyns, diese in der Form des Fürsichseyns ist."20 Religion gilt damit Hegel als „Ansichsein" und vollkommen gegenüber dem Bewußtsein, das in der „Phänomenologie" als höchste Phase das absolute Wissen zugeordnet erhält. Es gilt als begriffene Geschichte, ist als Geisterreich apostrophiert und erhält Unendlichkeit zugebilligt.21 „An sich" gilt Hegel weniger als „für uns". Die Unendlichkeit des absoluten Wissens bleibt im Verständnis Hegels geschichtlich, auf jeden Fall aber jeder Form der Religion, auch der geoffenbarten, überlegen. Zweifellos handelt es sich um einen Zug, der bereits von Zeitgenossen Hegels rechtens als atheistisch verstanden wurde und es objektiv bleibt. 20 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 606. 21 Ebenda, S. 620.
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Infolge des „für uns" aber versichert sich Hegel der innergesellschaftlichen Funktion des Wissens gegenüber der Religion, der bloß eine analoge Wertigkeit zugebilligt ist. Der direkte Bezug auf den höheren Entwicklungsprozeß erfolgt indes in der direkten Anwendung auf den gesellschaftlichen Menschen, der sich seiner Möglichkeiten versichert. Das Wissen gilt nicht als bloß individuelle Kenntnis, sondern als im gesellschaftlichen Bewußtsein erreichte Stufe gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Das auf jeder Stufe absolute Maß der Entwicklung fand Marx in den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, wobei letztere jene absolut und intensiv zu entfalten haben und dadurch sich als höhere Stufe ausweisen. Da Marx kein Moralisieren in der Geschichte zuläßt, ist grundsätzlich als Angelegenheit der herrschenden Ordnung und der in ihr herrschenden Klasse anheimgestellt, wie sie die Entfaltung der Produktivkräfte aus ihren neu erschlossenen Möglichkeiten bewältigt, um sich als höhere Ordnung auszuweisen. Obwohl Hegel der Moral und Sittlichkeit einen niederen Rang in der Phänomenologie des historischen Geistes zuschreibt, aber immerhin ausführlich von ihnen handelt, orientiert er auf die historischen Fakten und die Personen, in denen sich der sogenannte Weltgeist manifestiert. Von vornherein ist ihnen abgesprochen, mit der Elle der Sittlichkeit gemessen zu werden. Insofern versucht Hegel, sich methodologisch jeder fälschenden Subjektivität zu entziehen, um die charakteristischen Prozeßformen als Merkmale des erscheinenden Geistes in der Geschichte bestimmen zu können. So heterogen auch das Ergebnis von Hegel und das von Marx hinsichtlich der Kennzeichen und Kriterien des Fortschritts ausfällt, so findet Friedrich Engels eine Verwandtschaft in der Methode, die er als die wahre Bedeutung und den revolutionären Charakter der Hegeischen Philosophie22 bezeichnet. Aus dem Untersuchen der Hegeischen Philosophie kommt er auf die Struktur einer Methode, die sich in der von Engels formulierten Weise nicht in den Texten vorfindet, soweit auf ihren verbalen Wortbestand reflektiert ist. Sinngemäß beurteilt Hegel indes tatsächlich die verschiedenen Stufen der Manifestation der absoluten Idee in der von Engels skizzierten Weise, was sich schon allein daraus ergibt, daß alle vorgefundenen Bewußtseinsschichten der einen absoluten Idee ent22 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, a. a. O., S. 267/268: „. . . so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochne Prozefj des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen blofje Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings auch eine konservative Seite: Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen für deren Zeit und Umstände an; aber auch nur so weit. Der Konservatismus dieser Anschauungsweise ist relativ, ihr revolutionärer Charakter ist absolut - das einzig Absolute, das sie gelten läßt."
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stammen sollen. Metaphorisch genommen, erhält damit die systembedingte und seltsam klingende Konstruktion, die an Piaton angelehnt ist, die Funktion einer Bekräftigung der Identitätsphilosophie. Im strikten Gegensatz zur Aufklärung werden einzelne historisch entstandene Stufen der Entwicklung nicht einfach verworfen, sondern gelten als notwendige Stufen, insofern sie eine der vielen möglichen Manifestationen des Geistes bedeuten. Überwunden sind sie historisch durch das Werden, erhalten aber durch den Bezug auf die Idee eine relative Legitimität, die sie nicht vor dem Untergang schützt. Da Hegel und Marx an unterschiedlichem gesellschaftlichem Substrat ihre Untersuchungen durchführten, bekräftigen sich die auf differentem Territorium erzielten Resultate wechselseitig. Aus dem Abstand fast eines halben Jahrhunderts vermochte Engels die Beziehung zu Hegel zu würdigen, ohne dabei in irgendeiner Weise eine Gleichsetzung vorzunehmen. Suchte Hegel Entwicklung auf den Gebieten nachzuweisen, die Marx in den Überbau verwies, so entsteht daraus die weitere Problematik, ob denn Basis und Überbau sich jeweils entsprechen und parallele oder jeweils voneinander und von der Basis unabhängige Entwicklung ausweisen. So viel ist sicher, daß Hegel jene in Stufen vorsichgehende Evolution auf Gebieten fand, in denen eine vielfach vermittelte Abhängigkeit von den Momenten der Basis im Verständnis von Marx vorliegt und sich nebeneinander Tempoverzögerungen und Beschleunigungen vorfinden. In dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" steht der bekannte Satz: „In der Bettachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaitlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn austechten.""23 Zuvor schreibt Marx: „Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." Aus diesem Gemenge ungleichmäßig auf die gesellschaftlichen Widersprüche reagierender Erscheinungen sonderte Hegel diejenigen aus, in denen sich nach seiner Ansicht das Werden nachweisen ließ. Vor der gleichen Situation aber befand sich Marx. Auf dem von ihm erschlossenen Gebiet bot der Rückgriff auf die Produktivkräfte, in den „Pariser Manuskripten" von 1844 schon verstanden als Entfaltung der Wesenskräfte des Menschen in der Gesellschaft, ein relativ sicheres Kriterium, das für die Übergangsphasen durch die Kategorie der Möglichkeit interpretierbar ist. In der Darstellung der nach Marxens Worten naturwissenschaftlich getreu zu konstatierenden Produktionsbedingungen entspricht dem eine abgekürzte Reproduktion der Stufen, die Engels bildhaft durch den Vergleich mit Embryologie und Paläontologie nahelegt. Wissenschaft sucht aus 23 K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 9.
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den vorliegenden Mannigfaltigkeiten Merkmale, Muster, Kriterien und Strukturen aus, durch die nach dem Stand der Kenntnisse die Rekonstruktion der Objekte im Bewußtsein gelingt, wobei niemals allein die logische Strenge der Ableitung hinreichend ist, um die Gültigkeit zu belegen. In Biologie und Geologie erschloß sich aus dem Nebeneinander das Nacheinander. Die Embryologie gestattet die abgekürzte Entwicklung der Art zu verfolgen, wenn inzwischen deren Evolution wahrscheinlich gemacht werden konnte. In den geologischen Schichten ergeben sich Lücken zwischen den aufeinanderfolgenden Arten aus der Unvollständigkeit der untersuchten Strata und der relativ zufälligen Zugänglichkeit, daneben aber auch aus den wissenschaftlich neu hinzugekommenen Kriterien, die eine Verbindung und Verwandtschaft der Arten untereinander überprüfbar machen, wie etwa die Geschichte der Folge von Aminosäuresequenzen in den Proteinen. Abgesehen davon, erschließen sich sowohl in der Geschichte wie in der Naturwissenschaft ständig neue Momente, die sich von den jeweils aktualen Gesichtspunkten her aufdecken lassen. Nicht nur die abgekürzte theoretische Reproduktion der Stufen, sondern des gesamten Objektes, das zur Untersuchung ansteht, unterliegt den gleichen Kriterien wissenschaftlichen Vorgehens. Um die Korrelation von Faktoren in einer empirischen Mannigfaltigkeit zu finden, muß man eine Mannigfaltigkeit von Daten und Faktoren kennen. Zu dem, was Hegel für wesentlich erachtete, kommt das hinzu, was Marx aus dem Material der Geschichte herausholte und aus der Theorie praktisch umzusetzen begann. Das Reich des Gedankens und der Abstraktion mußte verlassen und in Anwendung auf die wirkliche Geschichte neu gewonnen werden. In den „Pariser Manuskripten" von 1844 sieht Marx das Große an der Hegel schen .Phänomenologie" in der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip sowie in der dialektischen Darstellung des Menschen als einem Prozeß, der den wirklichen Menschen als Produkt seiner Arbeit begreift. 24 Wenn Marx zu solcher Anerkennung bereit ist, dann ist darin bereits der Übergang vom Idealismus zum Materialismus vollzogen. Die an Hegel vermerkten Fehler, wie Marx formuliert, sind von dem Standpunkt der dem Proletariat zugewendeten Position korrigiert. Abstraktion von der wirklichen Geschichte nennt Marx die Negation in Gedanken und die bloß theoretische Darstellung des Erzeugungsaktes und der Erzeugungsgeschichte des Menschen, 25 die selbst erst Anfang der wirklichen Geschichte des Menschen bedeuten. Marx 24 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte 1844, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1974, S. 574. 25 Ebenda, S. 570: „Aber indem Hegel die Negation der Negation - der positiven Beziehung nach, die in ihr liegt, als das wahrhaft und einzig Positive, der negativen Beziehung nach, die in ihr liegt, als den einzig wahren Akt und Selbstbestätigungsakt alles Seins - aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte gefunden, die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als eines vorausgesetzten Subjektes, sondern erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte des Menschen ist."
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untersucht darüber hinaus die ihm gegenwärtige Geschichte und ihre Triebkräfte sowie Negation und Aufhebung in eine neue Gesellschaftsformation. Sind die früheren Ordnungen entstanden und vergangen, so sucht Marx infolge der Anregung der konkreten Wirklichkeit die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft und den konkreten Prozeß ihrer Umwandlung. Schließt sich damit die Arbeiterklasse mit der materialistischen Philosophie zusammen, dann verlangt das Abgehen von der bloß spekulativen Geschichte die Organisation der Arbeiterklasse als Partei und das exakte Studium der sozialökonomischen Gesellschaftsformation, aus der die Bedingungen des Übergangs erwachsen. Die Kritik an der Hegeischen Geschichtsphilosophie bezieht sich deshalb in doppelter Weise auf den Vorwurf der Abstraktion: Die Arbeit, die den Menschen macht, ist von Hegel bloß in der Rückwirkung auf den Menschen aufgefaßt, soweit er Bewußtsein ist oder zum Selbstbewußtsein gelangt. Marx vermißt den konkreten Produktionsprozeß und die Gemeinschaft von physischer und ideeller Veränderung des Menschen, dazu aber vor allem das Anerkennen der materiell verstandenen Strukturen, in die das Individuum durch den Arbeitsprozeß und durch das damit gesetzte Verhältnis zu seinen Arbeitsmitteln gelangt. Hegel analysiert nicht die Klassenzugehörigkeit der Produzenten und die Klassenverhältnisse der Gesellschaft, ebensowenig aber die Klasseneigenschaften der verschiedenen Formen der Institutionen und des Bewußtseins, deren Geschichte er nachwies. Zum anderen bleibt die Handlungsweise der Individuen theoretisch auf die Mittel bezogen, ohne zur Analyse der gegenständlichen Aktion zu gelangen, die produktive Arbeit und Ausprägung der Wesenskräfte mit der gegenständlichen Aktion verbindet, um „alle Verhältnisse umzuwerten, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist'.26 Produktion und gesellschaftliche Umwälzung versteht Marx als einen einheitlichen Vorgang, in dem das Selbstverständnis des Proletariats beide Momente in Bewußtsein und Handeln einbezieht Hat Hegel den Selbsterzeugungsakt des Menschen in der Arbeit erkannt, so lenkt Marx seine Aufmerksamkeit auf den Umwälzungsvorgang in der gesamten Gesellschaft, von der die Arbeit nur einen Teil darstellt, als treibende Kraft des künftigen Geschichtsprozesses. Die Arbeit ist als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur verstanden. Marx sieht in der „Phänomenologie" neben der Natur die Entäußerung des Menschen in die Werkzeuge nicht aufgehoben, sondern versteht als Negation der Negation das konkrete Behaupten des Menschen gegenüber der Natur und den Werkzeugen.27 Zur Arbeit zugehörig und von ihr trotz26 K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1961, S. 385. 27 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte . . ., a. a. O., S. 5 7 7 : „Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt;
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dem unterschieden, verlangt das Beherrschen der Folgen des Stoffwechsels mit der Natur durch die Arbeit auch die gegenständliche Aktion hinsichtlich der gesamten gesellschaftlichen Beziehungen. Die Arbeiterklasse soll damit faktisches Subjekt der Geschichte werden, indem sie ihre eigene Geschichte bestimmt und auf anderer Ebene vom Knecht zum Herrn wird. In der Analyse und Umwandlung der Hegeischen Geschichtsphilosophie, wie sie Marx in der „Phänomenologie" bereits entworfen sieht, ergibt sich eine Theorie, die Marx zunächst Naturalismus oder Humanismus nennt, 28 um sich sowohl gegen den Hegeischen Idealismus wie den früheren vorwiegend mechanischen Materialismus abzugrenzen. Der vormarxistische Materialismus bezog sich hauptsächlich auf die Natur und ihre Abbildung im Bewußtsein, er wirkte gesellschaftsrelevant und in der Regel progressiv, weil er über die Konfrontation mit der Religion die herrschende Ideologie und ihre Institutionen zu zersetzen pflegte und gegen jeden Konservatismus auftrat. Da Entwicklung der gesamten Gesellschaft in Hegels Identitätsphilosophie erahnt ist, wird die Dialektik zu dem Instrument, das ihre Objektivität in der gegenständlichen Welt der Gesellschaft beweisen kann. Mit dem Erkennen der gegenständlichen Wesenskräfte und der gegenständlichen Klassenaktion erhält der Materialismus die neue Dimension, seine erkenntnistheoretischen und praktischen Prinzipien, bereichert durch die Dialektik, als revolutionäre Methode in der Gesellschaft zu bewähren. In der Auseinandersetzung mit der „Phänomenologie" gewinnt Marx den theoretischen und philosophischen Ansatz zur Beschäftigung mit der vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen geschaffenen gegenständlichen Natur. Wird versucht, einen Bruch zwischen den Frühschriften und den späteren Arbeiten zu behaupten, soweit die inzwischen erarbeiteten Grundthesen gemeint sind, dann wird in der Regel an der in den „Pariser Manuskripten" noch nicht ausgereiften Terminologie angeknüpft. Da aber häufig gerade die bei Marx sichtbare entschiedene Betonung der Arbeit und ihrer subjektiven Grundlage entfällt, die Industrie dann nicht als Ausdruck dieser subjektiven Wesenskräfte zugelassen wird, verbleibt diese Kritik in der gerade von Marx verlassenen Sphäre der schlechten Abstraktion. Unter Naturalismus und Humanismus versteht Marx den gegenständlichen Charakter der Gesellschaft und ihrer konkreten Revolutionierung durch die Arbeiterklasse. Soweit Marx Abstraktion ablehnt, ist der Verzicht auf die genannten gegenständlichen Sachverhalte gemeint. Das Bilden wissenschaftlicher Begriffe und das Abbilden ihrer dialektischen Entwicklung fällt für Marx nicht unter die Enthaltsamkeit des philosophischen Idealismus vor der gegenständlichen Welt. Die erkenntnistheoretisch gemeinte wissenschaftliche Abstraktion äußert sich im Begriff der gesellschaftlichen Klasse, deren Angehörige es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein mufj. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge." 28 Ebenda.
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als Individuen Gegenstand aller späteren Arbeiten bleiben. Was Marx in den „Pariser Manuskripten" Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte nannte, bedeutet im Klartext die Entwicklung zur Persönlichkeit des Individuums. In der älteren Formulierung aber findet sich unmittelbar der Hinweis auf den Entwicklungsprozeß, in dem Persönlichkeit jeder literarischen Unverbindlichkeit enthoben bleibt und die gegenständliche Klassenaktivität jeder Art als Bildung des ausgebeuteten und machtlosen Proletariats zum Menschen ohne Ausbeutung, ohne Knechtschaft, machtausübend und in seinen Tätigkeiten sich entwickelnd gemeint ist. Mit der Entgegensetzung von Klassenbegriff und Individuum aber läßt sich belegen, wie einige Grundtatsachen des Parteienstreites zwischen Materialismus und Idealismus in anderem Gewände immer wieder auftauchen und einen recht bemerkenswerten Effekt zu haben vermögen. Mit dem Betonen der Gesellschaftsklasse und der Strukturen der Gesellschaft ist das Allgemeine und damit die Gesetzmäßigkeit in den Dingen und im Denken angesprochen. Ob das Einzelne oder der Allgemeinbegriff das Primat besitze, ist eines der wichtigsten alten Unterscheidungsmerkmale, mit dem sich Materialismus und Idealismus philosophisch abgrenzen. Das Einzelne verlorengehen zu lassen, gehört in die idealistische Fassung des Primats des Geistes als einer extremen Fassung des Dualismus, der das Einzelne fallen läßt, ohne damit Identitätsphilosophie zu werden. Wenn seitens des französischen philosophierenden Strukturalismus die Behauptung aufkam, Struktur und in Sprache fixierter Begriff beseitigen so etwas wie den Menschen und den Humanismus, die bei dem späteren Marx entfallen wären, so liegt eine neue, aber nicht moderne Abwandlung jenes antimaterialistischen Affronts aus vergangener Zeit vor. Hegel beging diesen Verstoß gegen die philosophischen Grundkategorien nicht und Marx noch weniger. War das Individuum in Hegels Vorstellung von Geschichte die Durchgangsstation der absoluten Idee, so wird es bei Marx zum bestimmenden Subjekt, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Mit dieser Feststellung ist der Mensch schlechthin im Unterschied zum Tier angesprochen. Um näher zu wissen, welchen Weg er auf den Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung einnimmt, sind jene gegenständlich bezogenen Kriterien nötig, die die Arbeiterklasse charakterisieren.
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2. Vortrag
Entgegengesetzte Aspekte der Entfremdung bei Hegel und Marx
Entfremdung bei Hegel und bei Marx ist nicht dasselbe. Die Differenzen sind beträchtlich. Die unterschiedliche Belegung mit Bedeutung hat sich fortgesetzt. In die theoretische Deutung des Begriffs mischt sich wahrscheinlich eine andere Schicht von Inhalten, die vielleicht sprachlich assoziiert sind und zugleich gesellschaftliche Positionen ausdrücken.1 1 In dem im deutschen mehr als im französischen Sprachraum bekannten Lexikon von Henri Frédéric Roux, Nouveau Dictionnaire François-Allemand et AllemandFrançois, T. I, Berlin 1979, heißt aliénable als Adjektiv: so veräußert werden kann - aliénation als Substantiv: Veräußerung; familiär: Abwendung des Herzens; Trennung der Freundschaft, Verrückung des Verstandes - aliéner als Verb: veräußern; familiär; abwendig machen, närrisch machen - s'aliéner de quelqu'un : mit einem nicht mehr umgehen - aliéner l'affection, le cœur de quelqu'un: sich einem zum Feinde machen, jemandes Herz von sich abwenden oder abwendig machen - aliéner l'esprit: den Verstand verrücken. - Désaisir ist nicht ausgewiesen. Dafür findet sich das Adjektiv désaise mit der Bedeutung mißvergnügt. Im Sachs-Villatte, Encyklopädisches Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache, Berlin 1898, heißt entäußern : se défaire de qu., Entäußerung : déssaisissement, Entäußerungsrecht: droit d'aliénation. Entfremden heißt aliéner aliéné ist der Geisteskranke - hôspital des aliénés: die Irrenanstalt - aliénation verweist auf Entäußerung. Entäußerung und Entfremdung erscheinen demnach begriffsgleich; in dem droit d'aliénation, in dem juristischen Terminus, hat sich die neutralste Bezeichnung erhalten. Sie ist ein positives Recht der Verfügung über Eigentum. Der Besitz wird damit beweglich und unterliegt nicht mehr gewissen in der feudalen Gesellschaft dem Besitz auferlegten Verboten der Veräußerung. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft läßt sich der Boden kapitalisieren. Da in den Boden Arbeit investiert ist, und zwar physische und geistige Arbeit, läßt sich diese in Geld ausdrücken. Daneben wird die Gunst der ursprünglichen gleichsam geologischen Qualität und die vor langer Zeit, etwa von den Bernardinern oder Zisterziensern in der Erde, auf der früher Urwald stand, vergegenständlichte Arbeit ebenfalls fähig, kapitalisiert zu werden. In dem neutralsten neueren Ausdruck der aliénation findet sich der Bezug auf Geld als allgemeines Äquivalent Der Jurist Marx bringt in den Begriff der aliénation den Bezug auf die kapitalistische Geldwirtschaft hinein. Hegel verwendet das Entäußern zunächst nicht einmal in dem Sinne von désaise
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Bei Marx sind Kategorien Hegels in die Theorie von Basis und Überbau eingegangen. Das Vergegenständlichen der Idee erzeugt die materiellen Produktivkräfte, die ihre übergreifende Funktion besitzen. Durch ihren Charakter und ihre Menge beeinflussen sie den Charakter der Gesellschaftsformation. Im Verständnis von Marx sind aber materielle Produktivkräfte immer zunächst durch den Kopf gegangen. Sie enthalten Arbeitserfahrung auf jeden Fall. Dann aber entsteht im Kopf der Entwurf des Objekts, das sich als Produktionsinstrument und Arbeitsmittel entäußert. Von einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktion an steuert die Summe der vorhandenen Wissenschaften beträchtliche Anregung bei. Die Wissenschaften zeigen sich als erkannte Gesetzmäßigkeiten, quantifizierte Beschreibung von experimentell isolierten Naturvorgängen, Folge und System von Aussagen und Sätzen. In den speziell technischen Wissenschaften handelt es sich um Sätze mit dem Charakter von Aufforderungen. Sie verallgemeinern und spezifizieren den Inhalt von Naturgesetzen und technischen Gesetzmäßigkeiten, die Gesetze der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation einbeziehen. Der Inhalt des Begriffs „Produktivkraft Wissenschaft" stammt von Friedrich Engels und ist in den „Deutsch-französischen Jahrbüchern" von 1844 unter dem Titel „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" veröffentlicht worden. Darin nennt er beispielhaft Berthollet neben James Watt, Davy und Justus Liebig, die mit ihrem Wissen die Gesellschaft weit voran gebracht haben. James als mißvergnügt, sondern in dem von Sachs-Villatte 1898 mit dessaisir angegebenen Begriff : jemandes Besitz entziehen, abtreten, aus den Händen geben, fahren lassen. Um auf den Unterschied der bei Hegel und bei Marx benutzten Begriffe zu verweisen, habe ich deshalb an der Universität Paris-Sorbonne I in Bezug auf Hegel von dessaisissement, für Marx stets von aliénation gesprochen, um Entäußerung von Entfremdung zu trennen. Es sei indes vorausgeschickt, daß Marx den Inhalt des Hegeischen Begriffs der Entfremdung zu einer theoretischen Grundlage seiner gesamten Philosophie in bezug auf das Verständnis der Gesellschaft gemacht hat. Hegels Begriff des dessaisissement ist als fundamentaler Sachverhalt in den historischen Materialismus eingegangen, wie sich zeigen wird. Hegel entwickelt indes ebenso diejenigen Gesichtspunkte, die Marx später bestimmten, das mit der Aliénation verbundene Abqualifizieren auszudrücken. Dessaisissement ist für Hegel ein notwendiger Prozeß, durch den die absolute Idee in der materiellen Wirklichkeit Gestalt gewinnt, dann aber wieder in die Idee und den Begriff zurückgenommen wird. Verwendet man auf französisch für den deutschen Begriff Entäußerung den Terminus dessaisissement, dann entbehrt er jedes Mitschwingens der Begriffsbestimmung von 1779. Es handelt sich nicht um eine Bedeutung im Sinne von „mißvergnügt". Erst bei dem Fehlen des Zurücknehmens tritt für das subjektive Bewußtsein der Zustand des Mißvergnügens auf. Das neutrale, aber als notwendig verstandene Entäußern, dessaisir, besitzt bei Hegel die Bedeutung einer philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Kategorie. Die Wortbedeutung wurde durch eine Diskussion mit einigen französischen Wissenschaftlern (Philosoph, Ökonom, Jurist) von Sorbonne I, Paris, sichergestellt, denen ich dafür danke.
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Watt z. B. ist als ein Mann apostrophiert, der durch die Dampfmaschine der menschlichen Gesellschaft mehr Geld einbrachte, als alle bisherigen Ordnungen bislang für Wissenschaft ausgegeben hatten. Daß Wissenschaft entsprechend eingesetzt wird, hängt nach Marx von der Gesellschaftsordnung ab. Wer den Nutzen daraus zieht, das bedingen nach Marx und Engels die Produktionsverhältnisse und die jeweils herrschende Klasse. Von den inneren Beziehungen der Klassenherrschaft her aber wird bestimmt, ob der Fortgang der Industrialisierung Entfremdung im Sinne von Mißvergnügen erzeugt und in welchem Umfang. Die unterschiedliche Bedeutung von Entäußerung und Entfremdung in der vorgegebenen Unterscheidung ist also bei den folgenden Erörterungen stets festzuhalten. Hegel verwendet die Begriffe „Entäußern" und „Entfremden". Aus dem Zusammenhang ergibt sich, welcher der Prozesse dominiert, die zuvor skizziert wurden. Marx betont den objektiven Charakter der Entäußerung als Materialist wesentlich stärker als Hegel. Für Hegel gilt die Notwendigkeit der Entäußerung unbedingt für alle Formationen, was auch für Marx zutrifft, der indes bloß für die kapitalistische Gesellschaft Dequalifikation der Entfremdung als bestimmte Weise von falschem Bewußtsein auffaßt. Hegel sagt über seinen Begriff der „Entfremdung" in der Vorrede zur „Phänomenologie": „Das unmittelbare Daseyn des Geistes, das Bewußtseyn, hat die zwei Momente, des Wissens und der dem Wissen negativen Gegenständlichkeit. Indem in diesem Elemente sich der Geist entwickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen dieser Gegensatz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseyns auf. Die Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtseyn macht; die Substanz wird betrachtet, wie sie und ihre Bewegung sein Gegenstand ist Das Bewußtseyn weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung (Hervorhebung - d. V.) ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbst. Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d. h. Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Andersseyn aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrne, d. h. das Abstrakte, es sey des sinnlichen Seyns oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet (Hervorhebung - d. V.), und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit darstellt, wie auch Eigenthum des Bewußtseyns ist."2 Soviel ergibt sich aus dem Text Hegels mit aller Eindringlichkeit, daß er Entfremdung als objektiven Vorgang verstanden wissen will. Als notwendiger Prozeß, der die gesamte Bewegung des Bewußtseins zum Gegenstand hat, ist keinerlei moralische Wertung untergelegt. Vielmehr betont Hegel, daß allein auf dem von ihm beschriebenen Wege das Werden des Bewußtseins zum Wissen philoso2 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 36/37.
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phisch darstellbar wird. Philosophisch heißt aber bei Hegel unbedingt wissenschaftlich. Hegel betrachtet den Prozeß der Entfremdung zunächst ausschließlich vom Standpunkt des Bewußtseins her. Dieses Bewußtsein aber ist das gleichsam unreflektierte Dasein des Geistes. Insofern hat es die zwei Momente des Wissens und der Gegenständlichkeit. Setzt Hegel auch das Wissen an die erste Stelle, so steht er nicht an, die dem Wissen negative Gegenständlichkeit als das Primäre hinzustellen. Aus dieser Objektivität resultiert erst das Wissen. Der beide verbindende Prozeß bleibt für Hegel die Arbeit. Wissen und Gegenständlichkeit haben zueinander ein negatives Verhältnis. Das Wissen negiert die dem Wissen entgegenstehende Objektivität. In anderer Ausdrucksweise kommt dem Wissen eine höhere Objektivität zu als der vergegenständlichten Wirklichkeit, die dem unmittelbaren Dasein des Geistes als sinnliche Wirklichkeit entgegentritt. Hegel verweist aber darauf, daß die materiellen Dinge durch die Sinne auch bereits im Bewußtsein vorhanden sein können. Sie sind es aber unbegrifflich oder unbegriffen, nicht unbegreifbar und unverständlich. Das Aneignen der sinnlichen Wirklichkeit heißt indes für Hegel ebenso Tätigkeit des Geistes wie die weitere Verarbeitung zum Wissen. Die dem Wissen negative Gegenständlichkeit besitzt f ü r Hegel eine doppelte Existenz. Sie entsteht als durch Arbeit zustande gekommene Vergegenständlichung. In der „Wissenschaft der Logik" ist der Pflug als charakteristisches Symbol eingeführt, das bei Karl Marx als Produktionsmittel figuriert. Hegel interessiert, daß sich in dem Gerinnen zur Objektivität und Vergegenständlichung der Geist entwickelt. Innerhalb des Bewußtseins befinden sich nacheinander und nebeneinander alle die Momente, in denen sich der Geist entfaltet. Soweit sich das Bewußtsein die verschiedenen Momente des in ihm sich vollziehenden Prozesses aneignet, sammelt es dabei Erfahrung. Im Verständnis von Hegel besitzen diese unterschiedlichen Momente in sich den Gegensatz und den Widerspruch. Da es sich bei Hegel nicht um eine Disziplin der formalen Logik handelt, vermag das Bewußtsein sowohl das Unverbundene wie das schon aufeinander Bezogene in sich zu enthalten und zu verarbeiten, um Wissenschaft zu entwickeln, die der Objektivität im Sinne der Vergegenständlichung überlegen sei. Für Hegel erhebt sich nicht das Problem einer von der Realität isolierten Wissenschaft, da sie von vornherein als sich an der Realität abarbeitender Prozeß konzipiert ist und daher als Produkt von Arbeit und Handlung aufgefaßt wird. Insofern kommt dem Geist die Aufgabe zu, ein Anderes zu werden. Damit ist dieses Andere ein Objekt für sich selbst, Gegenstand des Geistes, der es erzeugt hat. Als besondere Form eines platonisierenden Idealismus läßt Hegel alle Materie und alles vom Menschen geschaffene Produkt aus dem „Geist" hervorgehen. In der großen Konzeption seines Systems handelt es sich dabei um so etwas wie die Weltseele. In dem Problem von Vergegenständlichung und Entfremdung handelt es sich nicht um die Weltseele, sondern um gesellschaftlich verstandenen Geist, um Bewußtsein. Weil dem „Weltgeist" und dem Bewußtsein des menschlichen Subjekts höhere Objektivität zukommt als der Materie und den Produkten 46
des Geistes, wie Hegel will, handelt es sich in der „Phänomenologie des Geistes" bereits wie auch in den späteren Arbeiten immer um Arbeit. Da der in der „Logik" erwähnte Ptlug zweifellos auch physische Arbeit benötigt und veranlaßt, ist diese unmittelbar einbezogen, wenn darüber reflektiert ist, wie das unmittelbare Gegenwärtig-Sein des Geistes dazu gelangt, Objektivität zu werden, um dann wieder zu sich selbst zu gelangen. Erfahrung hat bei Hegel einen Sinn, der anders als es bei Kant exemplifiziert ist, Materialität und Bewußtsein einschließt. Erfahrung ist bei Hegel eine Bewegung zwischen Geist und Materialität, von der Materialität zurück zum Wissen. Soweit dem Bewußtsein die Objekte zwar zugänglich, aber nicht verarbeitet sind, gelten sie Hegel als abstrakt. Sinnliches Sein und das nur gedachte Einlache gilt als das Unmittelbare. Sie sind gemeinsam dem Bewußtsein so lange entfremdet, wie sie noch nicht dem Prozeß dex Aufhebung der Entfremdung unterworfen worden sind. Damit erst wird das entäußerte Objekt in seiner Wirklichkeit und Wahrheit wiederhergestellt. Es ist dann Eigentum des Bewußtseins und Wissen. Da aber Hegel das Werden überhaupt als das bestimmende Charakteristikum der ideellen und materiellen Realität auffaßt, ist nicht das Resultat das allein Interessierende. Vielmehr gewinnt durch die Konzentration auf das Werden das Negative sein Profil. Insofern nennt Hegel die Ungleichheit zwischen dem Ich und der Substanz, die sein Gegenstand ist, das Negative überhaupt. 3 Das Negative besitzt damit die übergreifende Funktion. Es ist die Privation, der „Mangel", gleichzeitig aber die Seele oder das Bewegende/ 1 Für Hegel ist weniger wichtig, wenn Ich und Substanz, was auch damit bezeichnet sein mag, gleich oder adäquat, „absolut" konform werden. In dem Unterschied von Begriff und Sache, von Objekt und Subjekt liegt die Seele des Werdens. Hegels Analyse der Entfremdung untersucht den Komplex, der sich als Triebkraft der Entwicklung darstellen läßt. Wie sich auch die weitere Entwicklung des Philosophierens in der nachhegelschen Epoche gestaltet hat, so zeigt sich ein bemerkenswerter Gewinn. Hegel skizziert von der gegenwärtigen Position aus den Fortschritt des Bewußtseins, der sich in Gegensätzen durchsetzt. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Informationsrevolution, wissenschaftlich-technische Revolution sind für Hegels Gedankengang keine absoluten Erscheinungen. Sie haben ebenso den Gegensatz in sich, wie alles Werden des Geistes, in dem Vergegenständlichung und Entfremdung Momente der Spannung zwischen Subjekt und Objekt sind, zwischen Gesellschaft und der Entwicklung des Bewußtseins, zwischen dem Ich und der Gesellschaft, zwischen diesen beiden Momenten der Realität und nicht zuletzt der Natur. Insofern spricht Hegel nicht in seiner Einleitung zur „Phänomenologie" von einer absoluten Zielsetzung, sondern nennt das relative Ziel für den Wissenden ebenso notwendig wie die Reihe des Fortgangs. 3 Jedes in dieser Ent3 Ebenda, S. 37. 4 Ebenda. 5 Ebenda, S. 73.
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Wicklung engagierte Objekt sei in doppelter Weise auf den Tod angelegt. Da die Negation übergreifende Funktion besitzt, erzeugt eine Gestalt eine andere. Im Anderen geht die alt gewordene Gestalt über sich hinaus. Tod ist bei Hegel auf Leben bezogen, ein Moment, das Alexandre Kojève unterschätzt. Im Anschluß an Kants Bezeichnung der Dialektik als transzendental oder in realistischerem Sinne als transzendent, spricht Hegel in antitheologischem Sinne von übersinnlich, was das die Welt der Sinne Übersteigende bedeutet Als Übersinnlich bezeichnet Hegel das ruhige Reich der Gesetze. Dieses „Reich" ist das unmittelbare Abbild der wahrgenommenen Welt, verkehrt in sein Gegenteil.6 Nun erscheinen aber die von Hegel verwendeten Beispiele nicht überzeugend. Dag die sinnliche Welt in dem ruhigen Reich der Gesetze und ihrer Aufhebung in umfassendere oder engere Gesetze jeweils eine Art von Umkehrung darstellt, deckt sich mit der Ansicht Demokrits und Kants, aber auch mit der Auffassung des dialektisch gewordenen Materialismus. In der Praxis muß die ihr vorhergehende Theorie wieder den Zugang zu der konkreten Mannigfaltigkeit gewinnen. Darin aber liegt für Hegel die Schwierigkeit, auf jeder Stufe des Werdens des Wissens und der Veränderung des Bewußtseins die Position zu erkennen, auf der sich das Bewußtsein befindet. Das unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein wird mit der Gegensätzlichkeit von Denken und Handeln nicht fertig. Entweder meint es, bereits durch das Denken die Wirklichkeit gewonnen zu haben, oder es bleibt in der Welt der Produkte des Menschen oder wie ein Teil der Aufklärung in der Naturbewunderung befangen. Es kann sich etwa einbilden, in der Natur oder einem nicht rekonstruierbaren Naturzustand Rechtsvorstellungen zu finden, denen für die Gegenwart Gültigkeit zukommen soll. Denis Diderot hat in seinem berühmten „Supplement zur Reise Bougainvilles" diese Annahme durch Ironie vernichtet. Bei Jean-Jacques Rousseau endete die Dialektik in der Vergangenheit, trotz Diderot oder wegen Diderot. Kunst und Wissenschaft blieben verurteilt. Die neuere Verdammung von Industrie und Wissenschaft durch die zahlreichen Varianten des Kulturpessimismus verraten nicht bewältigten Rousseauismus und erst recht dann, wenn sie - wie etwa Latouche - Marxismus durch Psychoanalyse ergänzen. Das Wissen von Gesetzen als Umkehrung der sinnlichen Wirklichkeit ist bei Hegel ein Moment kontinuierlicher Arbeit. Es bedeutet kein ein für allemal erreichbares Ziel, sondern stellt stets neue Aufgaben. Hegel schreibt: „Das Bewußtseyn ist sich daher durch seine Erfahrung, worin ihm seine Wahrheit werden sollte, vielmehr ein Räthsel geworden, die Folgen seiner Thaten sind ihm nicht seine Thaten selbst . . . Die abstrakte Nothwendigkeit gilt also tür die nur negative unbegriffene Macht der Allgemeinheit, an welcher die Individualität zerschmettert wird."7 Die mangelnde Einsicht in die Folgen der Handlung wie die Isolierung der 6 Ebenda, S. 129. 7 Ebenda, S. 283.
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Notwendigkeit in der Geschichte gegenüber dem Individuum veranlaßt die Annahme, das Gesetz des Herzens in sich zu tragen. 8 Hegel definiert diesen Zustand als eine Verdopplung der Vorstellung von Gesetzmäßigkeit und Gesetzen. Das Individuum oder die „Individualität" empfindet die Gesetze außer sich und bildet sich ein, ein anderes Gesetz in seinem Inneren zu tragen. 9 Hegel setzt voraus, daß Gesetze außerhalb des davon betroffenen Individuums dem historischen Werden entsprechen und damit eine Repräsentation und ein Moment der Wahrheit bedeuten. Das „Gesetz des Herzens" erscheint für Hegel außerhalb der Wahrheit. Der davon betroffene Sachverhalt ist die Entfremdung (aliénation) in pejorativem abwertendem Sinne. „Das Individuum hat durch den Begriii seines Thuns die nähere Weise bestimmt, in welcher die wirkliche Allgemeinheit, der es sich angehörig gemacht, sich gegen es kehrt. Seine That gehört als Wirklichkeit dem Allgemeinen an; ihr Inhalt aber ist die eigne Individualität, welche sich als diese einzelne dem Allgemeinen entgegengesetzt erhalten will."10 Die Folgen für das Individuum bringt Hegel auf den Begriff, wenn er in Vorwegnahme von Anarchismus hinzufügt: „Das Herzklopfen lür das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über . . Z11 Hegel vollzieht darin zugleich eine Kritik der Aufklärung Rousseaus und antizipiert Erscheinungen der Gegenwart. Da Hegel in der Geschichte Entwicklung erkennt, sind es nicht bloß fanatische Priester, schwelgende Despoten und für ihre Erniedrigung sich rächende Diener, die nach unten weiter treten. 12 Geschichte besitzt bereits auf der Stufe der Phänomenologie eine Funktion, die in allem Gegensätzlichen sich durchsetzt und Fortschritt repräsentiert, ohne auf irgendeiner Stufe den Widerspruch, das Gegensätzliche, auszuschalten. Eine Absage an die objektivierten Produkte des entwickelten gesellschaftlichen Bewußtseins erträumt sich die Rückkehr zur Natur und akzeptiert auch nicht die Dialektik Diderots. In jedem Produkt der Technik und der Anwendung technischer Prinzipien in der Gesellschaft sieht der verrückte Eigendünkel, den Hegel in der „Phänomenologie" apostrophiert, das Absterben der Individualität und eines Horizonts der Wünsche. Alles das, was Produkt des Menschen ist, wird zu den Blumen des Bösen, deren Ursprung bei Baudelaire direkt hinreichend durch eine Analyse aufgehellt ist, die sich nicht zu bemühen brauchte, in besondere unbewußte Abgründe hinabzusteigen, da sie durch des Dichters Familiengeschichten geliefert wird. Ebenso oberflächlich läßt sich bei Kierkegaard aus der gescheiterten Wochenenderfahrung mit Christine die besondere Gestalt dieses Existentialismus ableiten. Hegel begnügt sich im Grunde festzustellen, daß Unverständ8 9 10 11 12 4
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S. S.
283/284. 285. 287. 289. 290.
Ley, Bewußtsein
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nis für die Totalität der geschichtlichen Entwicklung das Individuum veranlaßt, aus der Geschichte in seine totale Subjektivität auszuweichen. Verschiedene Varianten neueren Bewußtseins halten Entwicklung nicht mit Widerspruch verträglich. Andere meinen, es gebe kein Erkennen gesamtgesellschaftlicher Gesetzmäßigkeit. Andere wieder sehen nicht, daß in der Darstellung von Prozessen in verschiedenartigen Modellen der Widerspruch ebenso enthalten ist. Es ist der Gegensatz zwischen Ereignis und dem Feld der Möglichkeit, der durch die Aktivitäten der Individuen und der Gesellschaft auszufüllen bleibt. Ebenso gehört hierher die Annahme, es sei ein Verschulden, wenn sich an jeder kreativen Leistung der Naturwissenschaften und der Technik das Gegensätzliche zeigen könnte, wie es in Ambivalenzen zum Ausdruck kommt, nicht vorauszusehen war und erst nachträglich abzustellen bleibt. Ähnliches gilt für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Karl Marx befaßte sich mit dem Nachweis einer auf den Kapitalismus bezogenen Entfremdung, die für ihn als gesetzmäßige notwendige Folge der kapitalistischen Geldwirtschaft auftritt. Prinzipiell ist sie bei Marx nicht an die Wissenschaften oder die Technik gebunden. Entfremdung ist für Marx eine gesellschaftliche Erscheinung, die indes durchaus als Problem der Veränderung der Gesellschaft und des Erkennens oder Wissens aufgefaßt ist. Die Ambivalenz der Wissenschaften von Natur und Technik hat Friedrich Engels in seinem „AntiDühring" behandelt. Marx und Engels waren sich darin einig und wendeten sich aus diesem Grunde gegen den blanken Fortschrittsglauben des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, aber auch gegen jeden Kulturpessimismus. Am ausgeprägtesten findet sich die Position bereits beim jungen Marx dargestellt. Vorausschickend möchte ich bemerken, daß auch der späte Marx nichts von den hier heranzuziehenden Äußerungen zurückgenommen hat. Die zuerst zu betrachtenden Stellen finden sich in den „Pariser Manuskripten", die späteren im „Kapital" Band I und III. Marx sieht als das Große der „Phänomenologie" folgendes an: - das Entdecken der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip, - das Entdecken der Selbsterzeugung des Menschen als Prozeß, - das Begreifen der Vergegenständlichung im Verständnis Hegels als Entgegenständlichung, - das Erfassen des Wesens der Arbeit in bezug auf den objektivierten vergegenständlichten Menschen als den wahren, weil wirklichen Menschen, - das tätige Verhalten des Menschen zu sich selbst als eines Gattungswesens, - das Erkennen der Notwendigkeit der Entwicklung der Gattungskräfte.13 Häufig wird gegen das Benutzen der „Pariser Manuskripte" eingewendet, sie seien Frühschriften und deswegen lasse sich das dort über Hegel Geschriebene 13 K. Marx, ökonomisch-philosophisches Manuskript, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 574.
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nicht als Ansicht des späteren Marx auffassen. Marx ist aber ein Philosoph, Politiker und Ökonom der Epoche der Entwicklung der Industrie und entwickelt sein Denken gegen die Luditten Englands und den Anarchismus, gegen jedes Maschinenstürmertum. (Deshalb entfällt der andere Einwand, das sogenannte Zeitalter der Produktion von Information als nachindustrielle Epoche habe die Warenwirtschaft abgelöst.) In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" findet sich manches, was tatsächlich später von Marx anders gesehen wurde. In den genannten Punkten handelt es sich aber um Thesen, die in den späteren Gedankenreichtum eingegangen sind. Wendete man ein, Marx spreche hier vom Menschen, der nach Michel Foucault schon längst verschieden sei und nur ein vorübergehendes Glanzstück der verflossenen Aufklärung wäre, so trifft auch diese Bemerkung kaum den Gegenstand. Unter Mensch ist hier ein die gesamte Spezies bezeichnender Begriff gemeint. Mensch steht für menschliche Gesellschaft, nicht für Humanismus oder Humanität, sondern für die Gesamtheit der Entwicklung der Menschen. Als besondere Leistung fa§t Marx auf, dafj Hegel den Vorgang der Entfremdung erkennt, wenn er auch blofj eine Entwicklung des spekulativen Denkens geschrieben habe. Zuvor aber schreibt Marx den Satz: „Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte getagt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon - obgleich in entfremdeter Gestalt — zur Basis des wirklich menschlichen Lebens geworden ist. . ."14 Im vorliegenden Zusammenhang bleibt besonders erwähnenswert, dafj auch in entfremdeter Gestalt die Industrie und die Naturwissenschaften zur Basis des wirklichen Lebens geworden sind, erst recht also in einer Gesellschaft, in der das kapitalistische Privateigentum aufgehoben ist. Spricht Hegel vom Geist, so Marx vom Menschen. Beide meinen die Gesellschaft in ihren verschiedenen Daseinsweisen, in den Stufen der Entäußerung und der Entfremdung sowie in den Phasen von deren Aufhebung. Marx betont die Perioden, in denen das dem gesellschaftlichen Menschen entgegenstehende materialistische Produkt unmenschlich geworden ist. Sieht er diesen Zustand in der Ordnung begründet, so werden davon nicht betroffen die beiden Formen gesellschaftlicher Arbeit, die in den .Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" und im »Kapital" unterschieden sind. Es sind das allgemeine Arbeit, spezielle Arbeit. Ersteres ist die wissenschaftliche Arbeit, letzteres ist die Tätigkeit des Fabrik14 Ebenda, S. 543. 4*
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arbeiters. Beide drücken gemeinsam die Wesenskräfte des Menschen aus. Marx verlangt als Folge der Aufhebung der Entfremdung die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften.15 Entfremdung sieht Marx in erster Linie mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln verbunden. Seine Aufhebung bedeutet nach Marx den entscheidenden Schritt zur Aufhebung der Entfremdung. Wie Marx zu verstehen sei, wenn er von der Aufhebung der Arbeitsteilung in körperliche und geistige Arbeit spricht, wurde viel diskutiert. Soviel ist gegenwärtig klar, daß es in absehbarer Zeit keine Aufhebung der Arbeitsteilung gibt. Im Gegenteil zeichnet sich in der Industrie, in der Landwirtschaft und in den Wissenschaften ab, wie die Arbeitsteilung eher zunimmt als abnimmt, der gelernte Arbeiter zwar andere Fähigkeiten besitzen muß als der früher spezialisierte Arbeiter, sein Wissen und auch seine praktischen Fertigkeiten aber zunehmen. Wenn in den US-amerikanischen Statistiken von dem Zunehmen der white collar workers gesprochen wird, so handelt es sich um ein Zunehmen der technisch-naturwissenschaftlichen Intelligenz und der gelernten Arbeiter. Black collar workers sind bloß die Ungelernten, wie Galbraith zur Methodik US-amerikanischer Statistik gegen verbreiteten Irrtum richtigstellt. Emanzipation des Menschen heißt unter anderem: Verständnis und Wissen der gesamtgesellschaftlichen Prozesse, in die sich bei erweiterter Disponibilität die Arbeitsteilung aufhebt. Geistige und körperliche Arbeit durchdringen sich wahrscheinlich insofern, als die körperliche Arbeit in vielen Fällen mehr Kenntnis erfordert, die geistige Arbeit aber die bewußte Integration in die objektivierte und in die lebendige Arbeit vollzieht. Als übergreifendes Moment in der Entwicklung der Produktivkräfte nennt Marx das Verhältnis von vergegenständlichter und lebendiger Arbeit. Sie haben ihren Ausdruck in den Schemata der gesellschaftlichen erweiterten Reproduktion. Mit der relativen Abnahme der lebendigen Arbeit nimmt der Einfluß der allgemeinen Arbeit zu. Bei Marx handelt es sich aber bei diesem im „Kapital" dargestellten Vorgang nicht um den von ihm als Entfremdung bezeichneten Tatbestand. Es sind vielmehr Prozesse, die sich in der Gesellschaft schlechthin durchsetzen und nicht zu umgehen seien. Das Stagnieren der Entwicklung der Produktivkräfte ist für Marx' Geschichtsverständnis kein Progrelj der Gesellschaftsformation, sondern Rückfall in eine überholte Charakteristik vorkapitalistischer Ordnungen. In diesen gibt es nur eine langsame Entwicklung der Produktivkräfte, die sich über große Zeitabschnitte hinzieht. Als Momente der modernen Entfremdung, die von den modernen Techniken ausgehen soll, gibt es eine ganze Skala von Erscheinungen, die dazu herangezogen werden, um einen entsprechenden Nachweis zu führen. Es sind das u. a. - die Objektivierung der Produktivkräfte überhaupt, - der Zwang zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt, - die sich schneller als bisher verändernde Situation am Arbeitsplatz, 15 Ebenda, S. 540.
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- die schnelle Veränderung der Produkte durch sich steigernde Qualität, - das Freisetzen von Arbeitern durch Einsparen von Arbeitsplätzen durch wissenschaftliche Arbeitsorganisation und Automatisierung, - die Notwendigkeit des Übergangs von einer gewohnten Arbeit zu einer anderen, - die sekundären Folgen der Industrialisierung, die sich als Umweltverschmutzung äußern können und gegen jede Industrialisierung vorgebracht werden. Im Prinzip läßt sich dazu sagen, dag es sich häufig dabei um Vorgänge handelt, in denen die Gesellschaft dem Einzelnen, dem partikularen Individuum entsprechende Hilfe geben muß. Mit fortschreitender Industrialisierung lassen sich die Folgen konsequent bloß durch zentrales Planen abfangen. Die Kosten der Neuordnung, die sich aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt ergeben, dürfen im Prinzip keinesfalls höher sein als der Nutzen. Das heißt, daß sich die Veränderung der Produktivkräfte nur dann als Fortschritt rechtfertigt, wenn ihr Nutzen um so vieles höher ist, daß der entstehende gesellschaftliche A u f w a n d reibungslos abzudecken ist und beträchtlich unterhalb des Ansteigens des Nutzens liegt. Gerade in diesem Gesichtspunkt bewährt sich das gesellschaftliche Interesse an der Instandhaltung der Natur bei fortschreitender Industrialisierung, die sich nur mit rückschrittlichen Positionen aufhalten ließe. Das subjektive Gefühl der Entfremdung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft verweist auf einen objektiven Zustand, in dem sich viele Individuen unmittelbar als nicht emanzipiert vorkommen, weil sie die Gesellschaft und die Instanzen, die Entscheidungen treffen, als unergründbar im Sinne K a f k a s antreffen. In den „Pariser Manuskripten" finden sich einige Seiten, die sich als Vorstudien zum „Schloß" oder zum „Prozeß" auffassen ließen. Einen anderen Problemkreis betreffen die von Snow international diskutierten Fragen, die einen Gegensatz von literarischer und technischer Kultur zum Gegenstand haben. Dabei handelt es sich um eines jener Momente, in denen das Unverständnis gesamtgesellschaftlicher Vorgänge bei all denen anzutreffen ist, die sich nicht mit Naturwissenschaften und Technik befassen müssen oder sich nicht damit befassen wollen. Zwischen mathematischer und klassischer Ökonomie gibt es dabei ebenso Gegensätze wie zwischen konventioneller Ökonomie und literarischer Kultur. Nicht zuletzt erhebt sich als objektives Problem, wie nicht bloß das Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge in das allgemeine Bewußtsein der Individuen der Gesellschaft, ihrer antagonistischen oder nichtantagonistischen Klassen und Schichten in dialektischem Sinne aufzuheben ist. Die Vorstellung, es lasse sich durch irgendeine neue Disziplin, sei es eine solche der Mathematik und Technik oder Querschnittswissenschaft, der Zugang zu den modernen und den künftigen Lösungen der Technik bewerkstelligen, scheint mir fehlzugehen. Allein über eine Kenntnis der Zusammenhänge gesellschaftlicher Strukturen und das Beherrschen von Strukturen sah M a r x die Möglichkeiten für das Abschaffen anarchischer Produktion. Insofern hat Hegel gerade beschrieben, wie Angst und Entfremdung in der Gesellschaft zu entstehen vermögen, aber sich in einem langwierigen Pro-
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zeß als aufhebbar erweisen. Sah Hegel stufenweise progressive Entfaltung der Entwicklung der verschiedenen Schichten des Bewußtseins, so Marx in den materiellen Strukturen der Gesellschaft. Jedenfalls waren beide der Überzeugung, daß es sich nicht lohne, an der Menschheit oder der Gesellschaft zu verzweifeln, sondern dag es eine Frage der Aktivität von Klassen sei, der Aktivität von Individuen, die sich innerhalb der historischen Entwicklung bewegen, mit den auftretenden Widersprüchen fertig zu werden. In der Entwicklung von Hegel zu Marx verändern die Begriffe „Entäußerung" und „Entfremdung" ihren Inhalt in einer spezifisch dialektischen Weise. Gemeinsam ist beiden unbeschadet der grundlegenden Unterschiede, Gesetzmäßigkeit des Werdens, die Vergehen impliziert, nachzuweisen. Die entscheidende Differenz gründet sich auf den jeweiligen Klassencharakter. Aus der Entäußerung des gesellschaftlichen Menschen in die Produktionsmittel und Arbeitsgegenstände wird bei Marx die Theorie von der Funktion der Entwicklung der Produktivkräfte und von der dialektischen Wirkung als Instrument der Versklavung und der Befreiung sowie des Werdens der Persönlichkeit. Die Lehre von der Entfremdung ist bei Marx an das Werden des Privateigentums an Produktionsmitteln gebunden, damit im Besonderen an den Kapitalismus und wird mit der Aufhebung der Ausbeutung gegenstandslos. Kulturpessimistische Effekte sind insofern Folgen der objektiven Bedingungen des Kapitalismus, und zwar in doppelter Hinsicht: Die Ambivalenz jedes technisch-wissenschaftlichen Fortschritts ist unabhängig von der Entwicklungsstufe der Mittel und der Ordnung an die Unbestimmtheit der Folgen gebunden. Entfremdung entsteht aus der Anwendung jedes technischen Mittels unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenwirtschaft und ist unabhängig davon, ob mögliche technisch bedingte Folgen vorausgesehen, abgefangen oder unterschätzt werden, weil sie sich als nicht voraussehbar erwiesen. Der in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen objektivierte Entfremdungseffekt äußert sich im herrschenden bürgerlichen Bewußtsein. Oppositionelles Bewußtsein kann sich gegen jede Anwendung von Wissenschaft und Technik im Kapitalismus wenden und dehnt diese berechtigte Abneigung manchmal gegen jede Gesellschaftsordnung aus. Bürgerliche Entfremdungslehren können spontane Reaktion auf die dem Kapitalismus immanenten Ausbeutungsverhältnisse sein, zudem aber eines der Verfahren, um davon auf andere Gegenstände oder Menschengruppen abzulenken. Im Marxschen Sinne heißt das, den Klassenwiderspruch des Kapitalismus, der ein (Ausbeutungs-) Verhältnis zwischen Menschen darstellt, zu vergegenständlichen. Dieser Begriff enthält bei Marx eine der kapitalistischen Entfremdung zugeschriebene Bestimmung. Er wird einmal aufgehoben in die Theorie der Produktivkräfte, zum anderen aber als bestimmte Erscheinungsform der Entfremdung interpretiert. Wie sich innerhalb der bürgerlichen Ideologie Entfremdung äußert, hängt von den Umständen ab und ändert sich außerdem durch das pluralistische Schillern und ständige Umstellen der Argumentationsweisen, die damit 54
ein Mittel des ideologischen Klassenkampfes werden. Eine der neueren Varianten beschreibt Jacques Derrida im Anschluß an Jean-Jacques Rousseau. In der Schwebe bleibt, welche Auffassung Derrida selbst zu repräsentieren beabsichtigt. Mit dem Zurückgehen auf Rousseau gewinnt dieser - innerhalb eines in manchen bürgerlichen Ländern dominierenden linguistisch philosophierenden Milieus die Rolle eines Kronzeugen, der neben Wissenschaft und auf Produktion bezogene Technik auch noch die Schrift als menschheitsfeindlich abzuqualifizieren empfiehlt. Aufgefaßt als Nachweis immerwährender Ambivalenz der zwischen Mensch und Natur geschalteten Mittel, die hinter dem Rücken der Beteiligten wirken, belegen die linguistisch-strukturalistischen Überlegungen hinsichtlich Sprache, Schrift und Text bloß die Ambivalenz aller gesellschaftlich entstandener Mittel, zu denen jene gehören. Mit dem Verwerfen der marxistischen Theorie von Basis und Überbau beginnt indes der pessimistische Effekt zu dominieren. Das Benutzen von Sprache, Schrift und Text sowie der Gestalt der typischen Inhalte (als charakteristische Gegenstände des linguistisch-strukturalistischen Problemkontextes) erscheint so als Vorbelastung jeder menschlichen Gesellschaft. Es hat dann den Anschein, als könnte sie gar nicht anders, als ständigen Verfall im Vergleich zur Tierwelt zu produzieren. Der düstere Aspekt jeglicher Entwicklung ist konsequent in den Vordergrund geschoben. Derridas Untersuchung der sogenannten „Grammatologie", einer begrifflichen Neuprägung, erhält als Zielsetzung, Entfremdung in anderen Worten als unaufhörlich mit dem existierenden Menschen verbunden nachzuweisen. Die Ambivalenz der Mittel ist als unaufhebbare Belastung deklariert und als Grund der unaufhebbaren Ausbeutung des Menschen durch seine Mittel mißverstanden. Ambivalenz ist mit Entfremdung gleichgesetzt. Die Bindung der verschiedenen Erscheinungsformen von Ordnungen an deren Grundwiderspruch und Klassencharakter ist bestritten. Dafür sind aus Sprache und Schrift abgeleitete Sachverhalte als Versklavungsmittel präsentiert, denen zudem noch jegliche Beziehung zur auf Arbeit gegründeten Lebenstätigkeit abgesprochen ist So macht Derrida etwa Claude Lévi-Strauss den Vorwurf, er lasse die Schrift erst nach der Sprache entstehen und setze als Hypothese, Grund des Entstehens der Schrift und damit der schriftlichen Kommunikation sei das Erleichtern der Versklavung.16 An die Stelle der Versklavung lasse sich ebenso die Vorstellung wachsender Freiheit setzen.17 Damit aber begebe man sich in das Gebiet der „marxistischen Hypothese" und der „Metaphysik der Gegenwart"18, die Derrida klassisch neopositivistisch überhaupt als unzulässig philosophierend ablehnt, wie er die Philosophie pauschal verwirft. Weil die genannten alternativen Betrachtungsweisen möglich sind, meint Derrida beide verwerfen zu sollen, womit indes 16 J. Derrida, De la grammatologie, a. a. O., S. 190. 17 Ebenda, S. 191. 18 Ebenda.
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das Gebiet der subjektiven und objektiven Dialektik berührt ist. Zum Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse scheint kaum etwas beigetragen zu sein, wenn anstatt aufeinanderfolgender Entstehung von Sprache und Schrift gleichzeitige Ausbildung nachzuweisen wäre oder sich vorsprachliche Gestik mit der Sprache vorausgehenden Schreibbewegungen identifizieren ließe. Selbstverständlich gehört es in den legitimen Bereich von Forschung, solche Fragen klären zu wollen. Wenn indes daraus abgeleitet wird, andere Untersuchungen seien überflüssig, weil es überhaupt Ambivalenzen gibt, so erfolgt eine beträchtliche Problemverschiebung, die andere Ursprünge besitzt, als die Linguistik und Grammatologie zu assoziieren nahelegen. Die Ambivalenz oder dialektische Doppeldeutigkeit des Fortschritts gilt dann als Gelegenheit, bestimmte Problembereiche abzuschreiben und sie als unerheblich anzusehen. Da zunächst das Benutzen von Produktionsinstrumenten einer bestimmten Tierart als Mittel zur Erhaltung des Lebens dient, zudem andere Spezies keine Werkzeuge benötigen, resultiert aus der damit entstehenden Selektion zugunsten größerer Schädelkapazität die Möglichkeit, der Lebenserhaltung dienende oder zerstörerische Folgen voneinander zu unterscheiden. Da sich tatsächlich herausstellt, daß jedes der von den Anthropoiden und schließlich dem homo erectus und dem homo sapiens entwickelten Mittel mehrere Möglichkeiten von Folgelast eröffnen, bedeutet die Wahl des Ausnutzens der einen oder anderen das Festhalten an der natürlichen Zielsetzung des Organischen, die Art zu erhalten und zu überleben. Daß damit zugleich die Fortexistenz der menschlichen Kultur zu sichern ist, erweist sich als ein echtes Problem, mit dem in ganzer Radikalität erst Kapitalismus und Kommunismus bewußt konfrontiert sind. Dieses Problem gibt der Arbeiterklasse und dem Marxismus das grundlegende Argument politischen und moralischen Handelns. Da Derrida die ununterbrochene Kontinuität von Entfremdung und ihre Unabhängigkeit von der Gesellschaftsordnung nachzuweisen bemüht bleibt, bringt seine Kritik an Lévi-Strauss keine Aufhellung. Derrida hält es aber für selbstverständlich, daß mit dem Einführen der Schrift bei frühhistorischen Stämmen eine Kaste oder Klasse bevorzugt werde und damit besser gesicherte Autorität ein Instrument der Kapitalbildung zugeeignet erhalten habe. Derrida wendet ein, um ein Anwenden auf den ausbeuterischen Prozeß der imperialistischen Kolonisation vergessen zu machen, alle die von Lévi-Strauss vorgebrachten Aktualisierungen seien nicht mit dem Auftreten der Schrift verbunden, sondern dann gegenwärtig, wenn die Spezies als Gesellschaft zu leben beginne, das heiße vom Ursprung des Lebens im Allgemeinen an, ab eines sehr heterogenen Niveaus der Organisation und ihrer Komplexität, von denen aus man die Produktion organisieren könne, sozusagen Bedarf und Verbrauch auf das Schaffen von Reserven einzustellen vermöge. 19 Damit aber wird kenntlich, wie Derrida zu argumentieren beabsichtigt, wenn auch an anderer Stelle darüber Unklarheit aufkommt. Gesell19 Ebenda, S. 190.
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schaft ist im Prinzip als unveränderlich definiert und auf generelle Bestimmungen insistiert, die jeder beliebigen Gesellschaft zuzuschreiben sind. Marx kritisierte dieses Verhalten von Theoretikern in der Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" hinsichtlich der Produktion und Arbeit zugeschriebenen Eigenschaften. Er konstatierte, es handele sich nicht bloß um die Aufstellung dieses Katalogs, sondern um das Hervorheben der Besonderheiten auf einer besonderen Stufe der Entwicklung. Wenn Derrida aber gerade ablehnt, die Besonderheiten als charakteristische Merkmale zuzulassen, dann gibt er zu erkennen, daß es sich für ihn darum handelt, jeden Hinweis auf mögliche Entwicklung auszuschalten. Derrida kritisiert damit Claude Lévi-Strauss von rechts. Nennt es Derrida die verschiedenen Niveaus des Lebens erschließen, wenn er darauf stößt, es gebe zwei alternative Propositionen, deren je eine gegen die andere als wahr oder falsch bezeichnet werden könnte20, dann erörtert er nichts anderes als die zwei Seiten eines dialektischen Widerspruchs. Gemäß einer schon alten Debatte dialektischer Problematik wiederholt er, es lasse sich jede Seite gleichermaßen als wahr oder falsch bezeichnen und dann erscheine die darauf hinleitende Fragestellung als zweifelhaft. 21 Im Anschluß an Jean Hyppolites Analyse der „Phänomenologie"22 versucht Derrida unter Ausschluß der Dialektik aus der Bezogenheit von Sachverhalten deren Gültigkeit als solche in Frage zu stellen. Gemäß Hegel heißt das mit den Dingen schönzutun und ihren Widerspruch nicht auszuhalten. Verteidigte sich Lévi-Strauss gelegentlich gegen den Vorwurf, er habe das Vorhandensein von Entwicklung bestritten, so nimmt Derrida entsprechende antievolutionistische Andeutungen bei Lévi-Strauss als vollendetes Faktum, um methodologisch Entwicklung auszuschalten. Als Kuriosum bleibt zu vermerken, daß man nach einer Lektüre von Derridas „Grammatologie" annehmen müßte, Lévi-Strauss habe mit äußerster Konsequenz eine dialektische Polemik geführt, die man wegen ihres Marxismus ablehnen müsse, zum anderen aber nur zum Schein antikolonialistisch und anti-ethnozentristisch sei. Derrida erscheint es blasphemisch zu konstatieren, in Bibliotheken eingesargtes Wissen vermöge Völker gegenüber Lügen verwundbarer zu machen, als sie es ohne die Bücher seien, und die Anfälligkeit wachse noch schneller als die Zunahme gedruckter Dokumente.23 Insofern bestätigt Derrida die Vermutung, er verstehe unter den verschiedenen Niveaus der Lektüre ein gewöhnliches Abflachen der in der Geschichte vorkommenden Gegensätze. Die Vehemenz, mit der dialektische Widersprüche erkennbar und darstellbar werden, wenn sie als Momente von Entwicklung aufgefaßt 20 Ebenda, S. 191. 21 Ebenda. 22 J. Hyppolite, Génèse et structure de la Phénoménologie de l'esprit de Hegel, Paris 1949, S. 126 f. (Entstehung und Struktur der Phänomenologie des Geistes von Hegel). 23 J. Derrida, De la grammatologie, a. a. O., S. 193.
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sind, gesteht Derrida nicht zu, obwohl er nicht umhin kann, die relative Berechtigung jener bei Lévi-Strauss gefundenen Beobachtung anzuerkennen. Daß Fortschritte zugleich und in derselben Hinsicht Ambivalenz hervorrufen, erscheint ihm zu dick aufgetragen. Das weitere Kuriosum ergibt sich aus der Tatsache, daß Derrida den Vorwurf bereit hält, Lévi-Strauss interpretiere Rousseau falsch und gleichsam drehe sich Jean-Jacques im Grabe, wenn er einen solchen Schüler anerkennen sollte 24 , um schließlich die bei Rousseau in einigem Umfang vorhandene Dialektik gänzlich zu streichen. Marx vermochte eine Theorie der Entfremdung zu entwerfen und ihr Vorhandensein in der empirischen gesellschaftlichen Entwicklung zu belegen, ohne die Progression von einer zur anderen Gesellschaftsformation zu bestreiten. Umgekehrt Derrida: Er findet es als gleichsam ungehörig, daß sich Lévi-Strauss auf Rousseau beruft, um damit dessen Abscheu vor den wissenschaftlichen Büchern, dem Verschließen des großen Buchs der Welt durch so viele Werke ins Gedächtnis zu rufen. Derrida bringt eine gehörige Liste von Bonmots, in denen Rousseau erklärte : ein Kind, welches lese, denke nicht; dabei besonders eindrucksvoll Rousseaus Satz: „Ich habe die Wahrheit in den Büchern gesucht: ich habe nichts gefunden als Lüge und Irrtum." 25 Derrida erweckt den Anschein, als habe nicht Rousseau in derartigen Wendungen seine Ansicht geäußert, sondern Zeitgenossen, denen vorgeworfen sei, daran zu erinnern. An und für sich besitzt ein solcher Vorwurf keine innere Rechtfertigung, da Derrida in Übereinstimmung mit dem sonstigen philosophierenden Strukturalismus immer wieder betont, man müsse die überlieferten Texte neu lesen, um sich deren Kontext mit der Aktualität zu versichern. Wie Derrida fälschlich bemängelt, für Marx, Engels und Lenin keine entsprechenden Protokolle der (neuen) Lektüre gefunden zu haben, die ihm ausreichend erschienen 26 , so verhalte es sich nicht anders mit Hegel. 27 Die Texte von Marx und Lenin werden deshalb für eine ganze Gruppe Objekte des Studiums, wie sich denn eigentlich Hegel in die leninschen Texte der „Hefte" umgesetzt habe. Um Lenins Interpretation zu verstehen, sei nötig, die Sprache Lenins, das historische Feld, in dem er schrieb, die sehr genaue Situation und die politische Strategie, die die Formation der Texte regeln, zu studieren. 28 Mit dem von Derrida genannten Katalog von Aufgaben aber erschließe sich ein objektiver Einblick in die Vielfalt der eingegangen Zwischentöne. Sie erscheinen ihrerseits durchaus politisch gemeint, aber der gemeinte politische Inhalt wird zwischen den Zeilen verschlüsselt. Derrida tut so, als wenn es in jedem Geschriebenen keinen konzisen Inhalt gäbe, auch keinen gegenwärtig existierenden Sozialismus, vor allem aber keine welthistorische Wirkung, die mit Marx 24 25 26 27 28
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Vgl. ebenda, S. 192. Rousseaus Brief an Christophe de Beaumont, ebenda, S. 194. J. Derrida, Positions, a. a. O., S. 86. Ebenda, S. 104/105. Ebenda, S. 105.
im Anschluß an die Umstülpung Hegels einsetzte und gegenwärtig das Weltgeschehen bestimmt. In der „Grammatologie" dominiert der Eindruck alles beherrschender Entfremdung. Die erneute Lektüre veranlagte, soweit aus Derridas Lesart für mich zu ersehen ist, eine Vermischung der von Hegel und Marx dem gemeinten Inhalt gegebenen Bedeutung. Von Hegel ist der Begriff der Entäußerung in seinem generellen Sinnverständnis genommen. Das heißt: Soweit der Mensch Mittel verwendet oder benötigt, gilt er als entfremdet. Da aber bei andersartiger Lektüre von Hegel „Entfremdung" bloße Durchgangsstufe und neutral bleibt, wenn sie auch übergreifende Funktion besitzt, wertet Hegel die Zurücknahme in das Bewußtsein und sieht in dem Aufisteigen zur Idee die Entwicklung, die in der „Grammatologie" schon abgeschnitten i s t Sie fiel Derrida bei der Lektüre Hegels nicht auf, ein erstaunliches Faktum, da sie in Hegels Texten nicht nur oberflächlich angeheftet ist. Dafür ist aus Marx die für eine bestimmte Gesellschaftsformation kennzeichnende Entfremdung der Hegeischen Entäußerung aufgeprägt und damit jeglicher Phase der menschlichen „Geschichte" zugeschrieben. Als Resultat erzeugt die „Grammatologie" bei unbefangener Lektüre den Eindruck, wo sich das Benutzen von Mitteln vorfinde, herrsche in marxschem Sinne Entfremdung. Die Entwicklung der Produktivkräfte, zu denen auch die begrifflichen Vorleistungen für das Erzeugen von Produktionsinstrumenten gehören, die Schrift also einbezogen bleibt, ist als uninteressant beiseite gelassen. Da nur die Schrift in teilweiser Vermischung mit ihren Inhalten und ihrer Funktion allein Berücksichtigung findet, ist ihr nicht der Charakter einer ideellen Produktivkraft zugeschrieben. Hingegen ist ganz manifest der Eindruck hervorgerufen, Schrift in flachster Bedeutung genüge bereits, um ihre negativen Folgen für die Gesellschaft sichtbar zu machen, obwohl ihre Nutzensfunktion natürlich nicht zu übersehen sei, ein bei Rousseau und den späteren engagiertesten Kulturpessimisten sparsam, aber wiederholt und regelmäßig eingeführter Passus, dem wahrscheinlich die Funktion einer jesuitischen Mentalreservation zugedacht ist. Der Unterschied von Hegel und Marx, soweit er gerade aus den marxschen Texten in seiner Bedeutung für die Ausbildung des Marxismus hervorgeht, wird von der „Grammatologie" eingeebnet, obwohl hier keineswegs behauptet ist, deren Sinngehalt sei mit dieser Feststellung zu erschöpfen. Texte sind - fast wie die Natur selbst und im leninschen Verständnis etwa das Elektron - unerschöpflich, selbst wenn die Bedeutung ganzer Werke oder einiger Passagen eine Zeitlang gleichsam ruht und keine Reaktualisierung erfährt. Gelegentlich erwähnt Derrida Friedrich Nietsche. Geht Michel Foucault auf dessen Konzept des Übermenschen ein, so Derrida auf eine neopositivistische Variante Nietzsches, die als prototypisch für Dialektik in erneuertem Mißverständnis interpretiert ist. Dialektik, soweit einige ihrer Momente von Derrida erschlossen wurden, ist als ein weiteres Moment der Entfremdung aufgefaßt. Konnten Marx und Hegel damit den Prozeß der Entwicklung, des Werdens und des Aufhebens zugänglich
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machen, so entdeckt man neuerdings darin die Schwierigkeit des Verständnisses nicht nur von Texten, sondern der Welt überhaupt. Das entsprechende Vorgehen verfährt insofern sophistisch, als die stillschweigende Voraussetzung zu sein scheint, eigentlich müßte man die Welt eindeutig interpretieren können. Da sich herausstellt. Buchstabenfolgen und Phonetik seien ebenso zweideutig wie andere Sachverhalte, meist aber überhaupt mehrdeutig, wird darin ein gültiger und zureichender Grund gesehen, das Urteil überhaupt in der Schwebe zu lassen. Konzise Urteile wie sie aus bewußter Klassenposition hervorgehen, sind deshalb auf Grund ihrer Konkretheit abgelehnt. Nietzsche gilt als einer der Theoretiker, die an den Begriffen die destruierende Seite hervorheben. Wie seitens Derrida mit Lévi-Strauss belegt wurde, Schrift besitze Doppelfunktion, und mit Rousseau, sie wirkte stets antihuman, so findet sich das Gleiche mit Nietzsche demonstriert. Aus den „Unzeitgemäßen Betrachtungen" ist Nietzsches Verzicht auf solche Begriffe wie Subjekt und Objekt, Subjekt und Materie erwähnt. Dazu kommen als sogenannte hypothetische Wesen bezeichnete Ausdrücke wie Geist, Ewigkeit und Unwandelbarkeit der Materie, Sich des Ausdrucks Materialität zu entledigen, ist der gleichen Kategorie zugehörig. 29 Hegel sah sich zum Übertragen lateinischer Termini in die deutsche Sprache mit dem Zweck einer Neubegründung philosophisch-dialektischer Denkbestimmungen veranlaßt, weil er im Deutschen viele doppeldeutige Ausdrücke fand, von denen er annahm, sie seien gleichsam vorherbestimmt zur Anwendung in dialektischem Philosophieren. In der Polemik mit Hegel und Marx kommt indes eine andere Methode zur Anwendung. Obwohl von der Sprache und ihren vielfältigen Manifestationen ausgegangen ist, bringt Derrida als Moment der Dialektik das Benutzen und das Nichtbenutzen von Begriffen vor. Hegel betrachtet in philosophischem Selbstverständnis die innere Dialektik von Worten als zufälliges Abbild objektiver und subjektiver Dialektik, die sich in der konträr aufeinander bezogenen unterschiedlichen Bedeutungsbelegung gleicher Worte manifestiert. Das Haben oder Nichthaben von Allgemeinbegriffen liegt indes auf einer durchaus anderen Ebene, die bei Derrida unter die Kategorie von Strukturniveaus fällt. Im Verständnis Hegels kann unter anderem das Vorhandensein von Begriffen ein objektives Entwicklungsniveau im Prozeß der Entäußerung und der Zurücknahme bedeuten. Jedenfalls sind solche Merkmale einer philosophischen Sprache in der Hegeischen Philosophie Momente des Werdens und Vergehens von Stufen des Bewußtseins. Insofern äußert sich in ihnen Dialektik. Begnügt sich Derrida mit dem Feststellen der Setzung von Begriffen und ihrer einfachen Verneinung, dann kann sich darin Dialektik zeigen, müßte indes daraufhin abgef r a g t werden, ob und wie der Verzicht auf bestimmte Universale in den Wandlungsprozeß von sprachlichem Verständnis und Ideologie eingegliedert wäre. Auf der Hand liegt die Feststellung, es handele sich bei Nietzsche um eine analog 29 J. Derrida, De la grammatologie, a. a. O., S. 88 f., Anm. 24.
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den Neopositivisten benutzte erkenntnistheoretische Variante, die eine Abneigung gegen theoretische Begriffe offenbart. Befaßt sich Nietzsche mit Gesellschaft in einem im Schnitt reaktionären Anliegen, so verfahren die verschiedenen Gruppen von Neopositivisten entsprechend in der Naturwissenschaft und Mathematik. Sie verstehen es auch ohne Nietzsche, sich wie Empiristen zu verhalten. Im Effekt entfällt dann in den empirischen Disziplinen das Anerkennen von Gesetzen. Aus einem bloß formallogischen Beschränktsein ergibt sich in der „Grammatologie" das Verfahren, gerade das Werden zu vernachlässigen und an dessen Stelle eine abgeflachte und entschärfte bloße Konfrontation unterschiedlicher Bedeutungen zu setzen. Aus der von Hegel und Marx gegebenen Möglichkeit, Kriterien für Progreß anzugeben, wird bei Derrida Verzicht auf Geschichte, soweit sie Entwicklungsstruktur auffaßt, und bloß vorsichtiges Zugestehen einer in Anführungszeichen gesetzten Geschichte, wenn in ihr jede auszeichnende und Richtung gebende Struktur entfällt. Der damit entstehende Wirrwarr des Nebeneinander genügt dann dem Anspruch, aus Entwicklungsgeschichte unkoordinierte Ereignismengen werden zu lassen, die kein historisch entstandenes Produkt auszeichnen, sondern gemeinschaftlich alle Ereignisse in Düsternis tauchen. Der negative undialektische Aspekt gilt dann als der allein zugelassene. Nach Marx gilt die geschichtliche Erscheinung der Entfremdung keineswegs immer und überall in allen möglichen Welten wie etwa eine mathematische Struktur, sondern bloß in der kapitalistischen Warengesellschaft. Anderen Erscheinungen kommt dementsprechend eine andere Bezeichnung mit Angabe der entsprechenden Bedingungen zu. Auf den Versuch, entgegengesetzte Aspekte bei Marx und Hegel festzustellen, hat Derrida bereits vorwegnehmend geantwortet. Er schreibt nämlich in seiner „Grammatologie", Marx, Engels und Lenin sei zuzuschreiben, sie hätten die differenzierte und kontradiktorische Struktur ihrer Beziehungen zu Hegel ungenügend beschrieben. 30 Nun bleibt es stets ein Anliegen zuständiger Disziplinen, sich damit zu befassen, wie der Übergang von einem Ereignis zum anderen erfolge. Wenn es sich nicht um die ungebrochene Fortsetzung eines Trends oder eine einfache Wiederholung handelt, bleibt zu erörtern, wie eine Anknüpfung oder eine mehr oder minder relevante Abwandlung erfolgt. Das 30 J. Derrida, Positions, a. a. O., S. 86/87: „. . . je ne me suis trouvé devant le texte de Marx, d'Engels ou de Lénine comme devant une critique homogène. Dans leur rapport à Hegel, par exemple. Et la manière dont ils ont eux-mêmes réfléchi et formulé la structure différenciée ou contradictoire de leur rapport à Hegel ne m'a pas paru, à tort ou à raison, suffisante. Il me faudra donc analyser ce que je considère comme une hétérogènité, en conceptualiser la nécessité, la règle de déchiffrement . . ." („. . . ich fand mich vor dem Text von Marx, Engels oder Lenin nicht wie vor einer homogenen Kritik. Zum Beispiel in ihrer Beziehung zu Hegel. Und die Art, in der sie ihre differenzierte oder kontradiktorische Struktur der Beziehungen zu Hegel durchdachten und formulierten, erschien mir jedenfalls ungenügend. Ich mußte also das, was ich als Heterogenität auffasse, analysieren, dessen Notwendigkeit und Entzifferungsregel auf den Begriff bringen . . .").
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aber ist gerade eines der Gebiete der Dialektik, die dann die Bedingungen gründlicher zu erfassen versteht, wenn sie materialistisch vorgeht und damit materielle und. ideelle Strukturen gemeinsam zu behandeln erlaubt. Der philosophische Idealist vernachlässigt gerade diejenigen, die der Materialist für die wichtigste» hält, vermag sich aber alle die Strukturen zu erschließen, die sich der theoretischen oder empirischen Behandlung zuführen lassen, ohne Konsequenzen für die Progression in den Klassenauseinandersetzungen zu besitzen. Im Vergleich zu Hegel bringt Derrida weitere Einengungen, die des Interesses unter Materialisten nicht entbehren, aber bloß zeigen, daß die Entfremdung in der kapitalistischen Warengesellschaft vor keinem Gebiete halt macht. Derrida scheint bloß geneigt, den Unterschied von Hegel und Marx als Heterogenität aufzufassen. Was das zu bedeuten habe, ist als Vorgang der Differenzierung und des kontradiktorischen Entgegensetzens bezeichnet. Zweifellos liegen beide Momente vor. Marx differenziert einige der Hegeischen Kategorien, die als Einheit von realen und ideellen Sachverhalten im Hegeischen Kontext gelten. Soweit es sich um den Klassenwiderspruch handelt, der Marx von Hegel trennt, bedeutet aber das Anwenden der Bezeichnung »kontradiktorisch" bereits eine objektiv inadäquate Interpretation. Bloß formallogisch zutreffend, behandelt aber die angewandte Dialektik gerade den Übergang von der Herrschaft der Bourgeoisie zur Arbeiterklasse. Die Herrschaft der einen oder anderen Klasse schließt sich wechselseitig aus. Das Proletariat als Massenerscheinung ist von der Bourgeoisie erzeugt mit dem Durchsetzen der Industrialisierung auf Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln. Der antagonistische Widerspruch äußert sich in gesellschaftlicher Entwicklung und Entgegensetzung auf Grund der Eigentumsverhältnisse mit daraus folgender Ausbeutung. Das Vermeiden bestimmter Begriffe erweist sich tatsächlich als signifikant, aber in anderer Weise als Derrida vermutet. Mit dem Ersetzen von „antagonistisch" durch „kontradiktorisch" ist der innere Zusammenhang von sozialökonomischer und gedanklicher Entwicklung ausgeschaltet und hinsichtlich der Entfremdung die Gleichsetzung eingeleitet. Soll nun an die Stelle der Analyse dialektischer Entwicklung etwa Homogenität und Heterogenität oder Konstruktivität und Dekonstruktion treten, so bleibt dabei das bereits erreichte Niveau außer acht, das die Analyse des Aufhebens nahelegen würde, wenn man die Differenz der unterschiedlichen, inhaltlich wenigstens partiell verstandenen Schreibweise untersuchen wollte. Da dem aber gerade ausgewichen ist, ergibt sich folgerichtig und nicht von ungefähr, neben den von Friedrich Nietzsche vorgeschlagenen Begriffen auch Kriterien philosophischer Differentialdiagnose fallen zu lassen. Es handelt sich etwa um Materie und Geist, Materie und Idealität, Materie und Form. Auf sie werden die beiden Modi der Dekonstruktion angewendet, die Derrida zuläßt. Umkehrung und positive Ersetzung als Transgression. 31 Da in dem Eifer des Klassifizierens nur 31 Ebenda, S. 88/89: „Le concept de matière doit être marque deux fois (les autres aussi) : dans le champ déconstruit, c'est la phase de renversement, et dans le 62
zwei Modi der Umkehrung etwa des Begriffes „Materie" vorgeführt sind, läßt sich generell einwenden, dag dialektische Aufhebung in der Begriffsveränderung wesentlich mehr Phasen der Modifikation zuläßt. „Materie" besitzt als Begriff eine mit den Naturwissenschaften und ihren Anfängen parallele Geschichte, erhielt demnach öfters eine begriffliche Verschiebung des Inhalts, den Marx auf die Gesellschaft ausdehnte, Lenin aber allgemeiner definierte und von ihrem Substratcharakter in den Naturwissenschaften befreite. Vor Lenin hatte Marx in gleicher Weise die Materialität gesellschaftlicher Strukturen begründet, eine Ableitung, die Derrida wieder veranlaßt, von Materialismus in Anführungszeichen zu schreiben. 32 Da er dem Substratcharakter der Materie verhaftet bleibt, vermag er selbstverständlich nicht, den Übergang von Hegel zu M a r x nachzuvollziehen. Auf die Jean-Jacques Rousseau zugeschobene Funktion als Kronzeuge genereller Entfremdungsideologie kommt Derrida mit anderen durch eine Diskussion des „Essay über den Ursprung der Sprachen" zurück. 3 3 Als Synonym f ü r Entfremdung benutzt Derrida in Anschluß an Jean-Jacques den Ausdruck „Supplement". Es sind meist f ü r den Menschen schädliche „Ergänzungen" des Naturzustandes, eines schon von Diderot als leer und irreführend gefundenen Begriffes. Mit Piatons doppeldeutiger Warnung, dem Studium der Namen nicht das der Sachen unterzuschieben, die Rousseau aufgriff, entstand vielleicht jene M a nier des philosophierenden Strukturalismus, die natürlich auch objektiv existierende formale Struktur vor der inhaltlichen auszuzeichnen und erstere zu bevorzugen. Jene Warnung besteht insofern durchaus rechtens, als der Übergang von Hegel zu Marx und die Umkehrung vom philosophischen Idealismus zum Materialismus die „Sachen", von denen Hegel ebenfalls spricht, konkreter zur Wirkung bringt. Der Begriff des „Pöbels", den damals Hegel benutzt und der erst später (wie etwa der Begriff „Dirne") eine vollständige Abqualifizierung erfuhr, ist etwas anderes als das von Marx angesprochene Proletariat und schließlich die siegreiche Arbeiterklasse, überhaupt jede Klasse in den verschiedenen Stufen und Übergängen in der Entfaltung von Klassenbewußtsein. In anderem zur Erhellung herangezogenen Material übernimmt Derrida von Rousseau eine Art abgewandelte „Rede über die Methode". Es handelt sich um das Verlassen eines als katastrophisch bezeichneten Naturtexte déconstruisant, hors des oppositions dans lesquelles il a été pris (matière/ esprit, matière/idéalité, matière/forme, etc.). Par le jeu de cet écart entre les deux marques, on pourra opérer à la fois une déconstruction de renversement et une déconstruction de déplacement positif, de transgression." 32 Ebenda, S. 89. 33 Es empfiehlt sich zum Vergleich alte Ausgaben heranzuziehen. In den Œuvres complètes de J.-J. Rousseau, Bd. II, Paris 1832, S. 337, z. B. heißt es in einer Anmerkung, zufällig mettiert zu Kapitel V, De l'écriture : Platon verurteile definitiv jenes gefährliche System, das darauf hinziele, dem Studium der Namen das der Sachen zu substituieren. 63
zustandes. Die Frage des Ursprungs ist nach Derrida weder ereignismäßig noch strukturell zu erklären. Sie entziehe sich der einfachen Alternative des Faktums und des Rechts, der Geschichte und des Wesens. Der Übergang von einer Struktur zur anderen, beispielsweise des Naturzustands zur Gesellschaft, könne durch keine strukturelle Analyse zur Explikation gelangen. Es handele sich um ein äußeres Faktum, sei irrationell, katastrophisch und erziele damit den Einbruch. Der Zufall besitze keinen Anteil am System. Die Geschichte sei unfähig, dieses Faktum oder Tatbestände solcher Ordnung zu determinieren. Die Philosophie vermöge es durch eine Art freier Erfindung, produziere quasifaktische Hypothesen, die die gleiche Rolle spielen, um das Entstehen einer neuen Struktur zu erklären.34 Um die Bedeutung des methodologischen Exkurses zugänglich zu machen, ist zu erwähnen, daß Derrida schließlich die Lévi-Strauss vorgehaltenen Stellen des „Émile" wiederholt und ebenso Rousseaus Bemerkung, der Buchstabe töte,35 um schließlich festzustellen, das „Supplement" befinde sich schon an der Quelle des Naturzustandes, den Rousseau als rein, unschuldig und Ursprung dei noch unverdorbenen Völker darzustellen suche.36 Unter der Voraussetzung einer immer weiter zurückgeschobenen Belastung der Gesellschaft bis in den Naturzustand hinein, man könnte sagen bis zu den Anthropoiden vor dem Beginn des Werkzeuggebrauchs, verdient der methodologische Diversionsakt seine Würdigung. Mit dem Konstruieren der Vorstellung der Katastrophe, die sinnlos in den Naturprozeß eingreift, gelangt die Heterogenität der fachlichen und philosophischen Konzeption zum Vorschein. Derrida gesteht, den Übergang von einer Struktur zur anderen vermöge keine strukturelle Analyse zu leisten. Man fragt sich nun, weshalb sie sich dann überhaupt Sachverhalten zuwende, in denen auf jeden Fall Übergänge, zunächst gleich welcher Art, von den Beteiligten behauptet werden. Es ließe sich ein Standpunkt annehmen, der nachweisen will, gerade die Vorstellung, einen faktischen und signifikanten Übergang zu vollziehen, sei pure Imagination. Dann müßte sie aber als bloß subjektive Annahme nachgewiesen werden. Solche Fälle sind sicherlich in der Geschichte häufiger vorgekommen, als sie exakte Untersuchung und entsprechenden Nachweis finden. Von leninistischer Seite wird der Nachweis der Imagination für den Pluralismus der spätbürgerlichen Ideologie als gegeben angenommen. Seitens der damit gemeinten Schulen wird umgekehrt der grundsätzliche Unterschied zu den anderen pluralistischen Richtungen betont und vornehmlich die Bindung an die Gesellschaft des kapitalistischen Privateigentums bestritten. Derrida aber sucht Ähnliches von Marx und Hegel zu behaupten, begeht aber eine bemerkenswerte 34 J. Derrida, De la grammatologie, a. a. O., S. 365. 35 Ebenda, S. 429. 36 Ebenda: „On veut remonter du supplément à la source: on doit reconnaître qu'il y a du supplément à la source . . . Par ce regard silencieux et mortel s'échangent les complicités de la science et de la politique: plus précisément de la science politique moderne. La lettre tue (Emile, p. 226)."
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Überbestimmung seines Verfahrens. Er bekennt, mit den von ihm benutzten methodischen Mitteln gar keine Übergänge erfassen zu können. Dann aber ist das Ergebnis vorweggenommen. Vielleicht meint er, es lasse sich überhaupt keine Analyse mit dem genannten Ziele durchführen. Dann aber verfehlt er, in seiner Redeweise und in seiner Schreibweise gerade diesen Gesichtspunkt wahrscheinlich zu machen. Daß Geschichte und Philosophie nicht identische Wissenschaften sind, ist bekannt und durch den Inhalt der dazugehörigen Werke belegt. Es könnte sein, daß sich Disziplinen wie diese annähern, wenn das Werden zu berücksichtigen ist, ähnlich wie etwa die Entwicklung der politischen Ökonomie auf das philosophische Denken von Marx und die der Naturwissenschaften auf das von Engels einwirkte. Für den philosophierenden Strukturalismus erscheint aber der umgekehrte Vorgang eventuell wachsenden Auseinanderklaffens der Bemühungen in den verschiedenen auf Gesellschaft bezogenen Disziplinen charakteristisch. Ist erwähnt, daß der Zufall nicht in das System Rousseaus passe, ihm aber Effekte in der Perfektionierung der menschlichen Vernunft zugeschrieben seien, dann müßte sich Derrida mit der These Demokrits beschäftigen, daß die Welt aus Zufall und Notwendigkeit entstehe. Jacques Monod bewältigte in strukturalistischem Milieu den anscheinend kontradiktorischen Widerspruch von Konservatismus der Vererbung und den Momenten der Mutation als sprunghafter Veränderungen nicht, behielt aber nolens volens die Entwicklung in der Biologie bei, beeinflußt von Pascals Entsetzen vor der Unendlichkeit der Räume und der von den Naturwissenschaften und der Mathematik erschlossenen Dimensionen. Pascal unterlag einer genuinen Entfremdung vor den Ergebnissen umwälzender Disziplinen, die er selbst mit entwickelt hatte. Da aber die bedingte Wahrscheinlichkeit aus vielen modernen Disziplinen ebensowenig wegzudenken ist wie aus der Ethnologie, so ist es um so verwunderlicher, daß Derrida Zufall und Katastrophismus in Beziehung setzt. Die erkenntnistheoretische Untersuchung von Zufall, Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, die schon weit gediehen ist, bleibt achtlos liegen, und Derrida gelangt zu der Vermutung, auch die Geschichte vermöge Fakten des Übergangs nicht zu analysieren. Geschichte und Philosophie sind von Derrida in einer Weise konfrontiert, wie der Empirismus in den Naturwissenschaften allein den Fakten Zuverlässigkeit zuschrieb und die theoretische Verbindung der Fakten als philosophische Spekulation abtun zu können glaubte, deshalb aber auch zusammenfassende Terme mit Bedeutung und angegebenen Randbedingungen eine Zeitlang ablehnen wollte. Es war einer der Gründe, durch den das Durchsetzen von Entwicklungslehre in den Naturwissenschaften verzögert wurde. Nun kann allerdings die Geschichte wie die Wissenschaft von der Gesellschaft etwas ähnliches für sich in Anspruch nehmen, wie dasjenige, was der Physiker Walter Gerlach vorbrachte, um zu erläutern oder begreiflich zu machen, warum erst mehr als 2000 Jahre nach Anaxagoras und Demokrit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Wissenschaften die Evolution nicht nur anerkannt, sondern 5
Ley, Bewußtsein
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nachgewiesen werden konnte. Bis dahin, so erläutert er, waren die differenten Kenntnisse in den Einzelwissenschaften noch nicht so weit entwickelt, um etwa die kernphysikalischen Vorgänge in den Sonnen der Galaxis und Metagalaxis hinreichend verfolgen zu können. 37 Ohne Entdeckung und Annahme von Gesetzmäßigkeiten in der Gesellschaft erweist es sich als unmöglich, von den Fakten zu Strukturen vorzustoßen. Da sich aber das Anerkennen von Detailgesetzen und daraus abgeleiteten Entwicklungsgesetzen als Klassenfrage erwies, die nur solche Klassen bejahend beantworten, die wie die Arbeiterklasse von der Entwicklung Vorteil zu erwarten haben und ihn in ihrer Klassenpraxis auszunutzen vermögen, flüchten sich die antagonistischen Gegner des Proletariats in eine für spezielle Fragenkreise durchaus nützliche Methodologie formaler Paradigmen, die keine Entwicklung zulassen, soweit es sich um Gesellschaft handelt. Wenn ein Strukturalist erklärt, strukturelle Analyse sei für Übergangserscheinungen unanwendbar, dann erscheint es paradox, wenn ein marxistischer Nichtstrukturalismus erklärt, gemäß der philosophischen Entwicklung von Hegel zu Marx seien sogar empirisch in der Gesellschaft durchaus Strukturen der Entwicklung feststellbar. Marx faßte die Strukturen der sozialökonomischen Basis als Nebeneinander von Parametern, also als Muster mit möglichen Schwerpunktverschiebungen, auf und verfolgte ihre Abwandlung in der Zeit. Unter den Zusatzbedingungen der sprunghaften Veränderungen in den Ordnungen durch revolutionäre Aktion waren auch die Übergänge begründet und unterlagen auf Grund der Theorie der empirischen Beobachtung, wie etwa die Ereignisse der Pariser Kommune und der Februar- und Oktoberrevolution 1917. Infolge der Analyse der Entfremdung und ihrer möglichen Aufhebung erschlossen sich auch Strukturen des Überbaus. Methodologische Voraussetzung ist das Anerkennen der Gleichwertigkeit von synchronischer und diachronischer Struktur. Wie aber Derrida schon an der Geschichte verzweifelt, wenn sie nicht eingleisig verläuft, was sie nie zu tun scheint, dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der zeitliche Aspekt ohne die signifikanten Änderungen der Bedeutung gesellschaftlicher Parameter betrachtet wird. Mit dem Rückgriff auf empirische Daten gewinnt indes auch die Philosophie die ihr abgesprochenen Möglichkeiten und vermag zu den Entdek-: kungen zu gelangen, die die Aufeinanderfolge von Hegel und Marx, ihren Hauptunterschied und das Weiterwirken des rationalen Kerns der Hegeischen Philosophie bestimmen. Da Derrida das abkürzende Verfahren anwendet, das den Wissenschaften eigen ist und die Philosophie bewußt zu benutzen versteht, entstehen durch seine Willkür im Abstrahieren antievolutionistische „Lücken" in den Texten, in denen sich Übergang vollzieht. Sie entsprechen analog den Abbrüchen der Kontinuität in der Gesellschaft, die gleichsam verschiedene Gracle haben. Entfremdung in marxschem Sinne entspricht den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft. 37 W. Gerlach auf der Tagung der Leopoldina zu Halle, 11. bis 14. Oktober 1973, Einleitungsvortrag.
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Vorstehende methodologische Erörterungen erwiesen sich als notwendig, weil durch den philosophierenden Strukturalismus selbst die Möglichkeit eines Vergleichs von Hegel und Marx unter besonderer Betonung des Entfremdungseffektes der bürgerlichen Gesellschaft bestritten wurde. Klassifikatorisch nähern sich, wie daraus zu entnehmen war, solche Auffassungen, die Gesetze in der" Gesellschaft anerkennen, dabei aber konsequent jede Einlinigkeit mechanistischer und formallogischer Diktion meiden. Die Präzision der Analyse der Gesellschaft und ihrer Erscheinungen nimmt dabei zu, während einem Verzicht auf Dialektik nur beschieden ist, einseitig die verschiedenen in dialektischem Gegensatz befindlichen Momente der Gesellschaft zu beleuchten. Jene undialektische Ideologie findet keinen Zugang zu den manifesten Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft, produziert aber notwendig potenzierten Pessimismus.
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3. Vortrag
Gegensatz von idealistischer und materialistischer Geschichtsphilosophie
Ein Vergleich zwischen der Geschichtsphilosophie von Hegel und der von Marx verlangt zu fragen, in welche der großen Geistesströmungen sie einzuordnen seien, die sich mit den Namen Demokrit und Piaton belegen lassen. Im Deutschen spricht man in dieser Beziehung von Weltanschauung. Ideen, die man über die Welt als Ganzes haben kann, lassen sich mit den genannten Name« einigermaßen verdeutlichen, wobei für Piaton in erster Linie die Philosophie des Höhlenbeispiels charakteristisch ist, nicht aber der Piaton des „Timäus" und der Weltseele, da im Verlaufe der Geschichte Pantheismus, wie ich ausführlich belegt habe, zu Materialismus hinleitet und Atheismus produziert. Bezeichnen wir Hegel als idealistisch, Marx als materialistisch, so ordnen wir beide Denker in die beiden Strömungen ein, die als Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppierungen und Parteien auf dem Gebiete des Bewußtseins in der Gesellschaft vorhandene oder entstehende Gegensätze ausgetragen haben. Dabei haben sie indes stets auch Fragen in diesen Auseinandersetzungen aufgeworfen, die aus der praktischen Bewältigung der Natur und der Gesellschaft selbst entstanden sind. Die Einordnung in die Linie Demokrits und Piatons ist indes eine Vornahme von Klassifikation, die aus den in der Philosophie vorliegenden Gedankenmassen bestimmte Seiten heraushebt. Engels reduziert den grundlegenden Unterschied der beiden philosophischen Hauptströmungen auf die Frage nach dem Primat der Materie oder des Geistes, auf die Frage, was war zuerst vorhanden - die Materie oder der Geist. Materialistische Tendenzen liegen dann über weite Strecken der Geschichte der Philosophie vor, wenn festgestellt wird, die Materie sei unerschaffen. Idealistische Tendenzen bedeuten demnach, wenn das Erschaffensein der Welt durch einen außerhalb der später entstandenen Welt vorhandenen Gott oder durch das Reich der Ideen behauptet wird. Soweit in der Gesellschaft keine bestimmenden Gesetze angenommen werden, die Entwicklung beinhalten, bezeichnet die an Marx und Lenin orientierte Philosophie die betreffende Strömung im Hinblick auf die Gesellschaft als idealistisch. Insofern war Demokrit in bezug auf die Natur Materialist, hinsichtlich der Frühgeschichte der Gesellschaft ebenfalls Materialist, hinsichtlich der späteren Geschichte der Menschheit aber Idealist. Lenin hat in seinem „Materialismus und Empiriokritizismus" mittels der Analyse philosophischer Äußerungen der verschiedenen Physiker des beginnenden
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20. Jahrhunderts das Unterscheiden materialistischer und idealistischer Momente durchgeführt, in bezug auf Hegel als einem Idealisten im „Philosophischen Nachlaß" oft Momente betont, in denen Hegel an den dialektischen oder historischen Materialismus herankomme. Insofern Hegel sich als Monist auffassen läßt, gehört er nicht zu den konsequenten Anhängern des Platonischen Höhlenbeispiels, sondern zu den Anhängern der Weltseele. Er neigt dann zu materialistischen Tendenzen. Materialismus in der Gesellschaft bedeutet, Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen, die außerhalb und unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein sich durchsetzen. Das entspricht Lenins Formel zur Definition der Materie, die als derjenige Begriff bezeichnet wird, der die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende objektive Realität bezeichnet. Begriff und Kategorie werden bei Hegel, aber auch bei Marx und Lenin, nebeneinander zur Bezeichnung des gleichen Sachverhaltes verwendet. Bei Hegel wird sich feststellen lassen, daß er von einem Primat der Idee ausgeht, aber Gesetze außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein grundsätzlich anerkennt, wie es sich bereits bei der Ableitung seiner Konzeption der Entfremdung und der Entäußerung herausstellte. Das Bezeichnen als materialistisch oder idealistisch bedeutet, wie gesagt, das Zuordnen zu den hauptsächlichen großen philosophischen Strömungen. Bei Aristoteles ist die Metaphysik eine auszeichnende Denkrichtung, die sich mit den Kategorien und ihrer Begründung befaßt. Sie bezeichnet die Grundlagen philosophischen Denkens überhaupt. Im Anschluß an Hegel erhält Metaphysik die Bedeutung einer Gegenposition zur Dialektik. Insofern bedeutet metaphysisch: mechanistisches Denken. Einen Verzicht auf die von Demokrit oder Piaton bezeichnete Position versuchten die Neukantianer bloß verbal und näherten sich damit vorwiegend Schulen des subjektiven Idealismus, wobei für sie zusätzlich das Ablehnen von dialektischem Denken charakteristisch ist. In Hegels Geschichtsphilosophie verbinden sich pantheistische Elemente und dualistischer Idealismus mit einigen wenigen Elementen einer dialektisch-materialistischen Philosophie. Wie sich diese verschiedenen Ansätze zusammenfügen, wollen wir zunächst anzudeuten suchen. In der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" vom 25. Juni 1820, geschrieben vor der Niederschrift der Einleitung zur „Philosophie der Geschichte", beginnt Hegel mit einer kritischen Würdigung Piatons. Dessen Republik gelte, so äußert Hegel, für das Sprichwort eines leeren Ideals. Sie sei aber Darstellung der Natur der griechischen Sittlichkeit. In Piatons Republik äußere sich das Bewußtsein der in sie einbrechenden tieferen Prinzipien. Die Prinzipien des Rechts und der Moral sind insofern nicht willkürliches Projekt, sondern etwas Ernstes, das ein Entwicklungsmoment eines historischen Prozesses wiedergibt. Piaton habe ein Verderben der griechischen Antike heraufkommen sehen und sich deshalb eine Sittlichkeit ausgedacht, von der er annahm, sie könnte das Verderben aufhalten oder überwinden. Damit aber habe er die freie Persönlich-' keit am tiefsten verletzt. Hegel ist nun der Ansicht, gerade damit habe sich Pla-
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ton als großer Geist erwiesen. Er habe die Ideen erfaßt, um die sich die damals bevorstehende Umwälzung der Welt gedreht habe. Daraus entstand die oft mißdeutete Formel Hegels, der schon Friedrich Engels indes große Tragweite zu-; schrieb: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."^ Immer wieder traf Hegel der Vorwurf, damit sei das Bestehende grundsätzlich gerechtfertigt. Es handele sich um bloße Apologie. Hegel ist aber Dialektiker, für den die Zwecke und subjektiven Zielsetzungen der Gesellschaft vor dem vergehen, was als vernünftiger Beitrag zur Geschichte einer Epoche beiträgt oder welche gegenwärtigen historisch vordergründigen Momente die Geschichte in ihren Erscheinungen abbaut. Die These Hegels, wie sie sich im Text befindet, läßt außerhalb des Zusammenhangs mindestens zwei Interpretationen zu. Sie kann tatsächlich als absolute Rechtfertigung jedes Ereignisses der Geschichte angesehen werden, zum anderen aber enthält sie den auf die Umwälzung der Geschichte, die Revolutionen gerichteten Sinn der Geschichte, in der keine der ausgeprägten Formen auf ewig Bestand hat. Hegel postuliert, daß sich in der Geschichte die Realisierung der Vernunft vollzieht. Sie bezeichnet den Weg, den die Zurücknahme der Entfremdung in die Wirklichkeit der Idee bedeutet. Insofern spricht Hegel von einer Philosophie der Geschichte, die über das Darstellen der bloßen Fakten hinausgeht. Die meisten anderen Völker hätten Geschichte geschrieben, bemerkt Hegel gelegentlich, die Deutschen hätten sich hingegen überlegt, wie man Geschichte schreiben solle. So ähnlich machten die anderen Völker ihre Revolutionen, während die Deutschen sie mit Hegel schließlich in Gedanken vollzogen, bevor sie dazu kamen, sie in der konkreten Wirklichkeit des Gedankens durchzuführen. Das ist übrigens der Ansatzpunkt für Marx festzustellen, daß nun auch in Deutschland sich eine konkrete Umwälzung ankündige, als deren potentielles Subjekt er das Proletariat als einer neuen, früher nicht vorhandenen Klasse entdeckte. Daß es sich aber bei dem Subjekt der Revolutionen um Klassen handele, entnahm er aus Thierry, Guizot, Mignet und Thiers. Hegel begnügt sich zu untersuchen, wie historisch verwirklichte Existenz und der Gang der Idee in der Geschichte zueinanderstimmen. In der Geschichtsphilosophie Hegels wirkt sich die Dialektik in der Feststellung aus, daß niemals in allen Völkern gleichzeitig die historische Idee realisiert sei, sondern nur in einem oder einigen vorkomme. Versucht sich die Vernunft in den anderen Völkern herauszuarbeiten, bleibt sie nach Hegel in Ansätzen stecken, während eines der vielen existierenden Völker sich zu einer Stufe des Selbstbewußtseins heraufarbeitet, von der aus andere schließlich fähig seien, eine weitere Etappe des Ganges des Weltgeistes durch die Geschichte zu realisieren. Das Maß der in der Geschichte erreichten Vernunft besitzt Hegel in den Erscheinungen, die Sir William Petty zur superstructure (Überbau) rechnete. 1 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 33.
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Petty hatte in seiner „Political Arithmetic" Ökonomie, materielle Produktivkräfte und Bevölkerung samt ihren verschiedenen Schichten (gestaffelt nach Besitz, Einkommen, Tätigkeit und statistisch erfaßter Kaufkraft von Löhnen) in Frankreich und den Niederlanden untersucht. Daraus leitete er ab, welche Erscheinungen der Organisation des Staates, der Religion und des vorherrschenden Selbstbewußtseins den unterschiedlichen ökonomischen und politischen Bedingungen beider Länder entsprachen. Davon ausgehend, leitete er wiederum die stimulierende Funktion des Bewußtseins einschließlich der Religion oder beider hemmende Kraft ab. Für England ergab sich daraus die Folgerung, es müßte noch besser als die Niederlande dazu geeignet sein, Frankreich und die Niederlande zu übertreffen, und zwar in ökonomischer und politischer Hinsicht. Der Überbau wird zu einem Indiz hinaufinterpretiert unter der Bedingung, die Beziehungen zu ökonomischer und politischer Entwicklung zu beachten. Pettys Prognose erwies sich als stichhaltig. Im 18. und 19. Jahrhundert konnte sich England zur Weltmacht emporschwingen. Hegel übernimmt ohne mir bekannten Rückgriff auf Petty die Rekonstruktion von Geschichte über den Überbau, um damit die Entwicklung der Produktivkräfte und der Politik zu prognostizieren. Typisches Kennzeichen der Hegeischen Dialektik ist die Auffassung von Rationalität und Realität in der Geschichte. Was erklärterweise in einer Gesellschaft als rational in das allgemeine Bewußtsein erhoben worden ist, braucht vor der Geschichtsauffassung Hegels weder rational noch real zu sein. Umgekehrt kann das nicht rational und nicht real Erscheinende sich später als rational durchsetzen. Nun gibt Hegel zwar gedanklich und metaphysisch vor, wie sich der Gang der Vernunft in der Geschichte vollziehe. Er erklärt aber in dem Vorwort zur „Rechtsphilosophie", Philosophie vermöge stets bloß hinterdrein die Vorgänge zu analysieren: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau mahlt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau, in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen-, die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug."2 Die Geschichte und der Weg der Vernunft sind demnach in ihrer Konkretheit stets als offen aufgefaßt, und damit ist die Dialektik wieder eingeführt. Hegel maßt sich nicht an, das Konkrete zu prognostizieren. Ihm eine derartige Vorstellung zu unterschieben, geht an dem buchstäblichen Sinn seiner Überlegungen vorbei. In den Formulierungen von Marx über die zukünftige Entwicklung sind bloß einige Fixpunkte gegeben, die den Unterschied zu dem utopischen Kommunismus verdeutlichen sollen. In der elften Feuerbachthese ist das Verändern der Welt angesprochen. Hegel begnügt sich mit dem Erkennen. Wenn Alexandre Kojeve die „Phänomenologie des Geistes" in der Vereinigung von Napoleon und Hegel als personifizierten Weltgeist enden läßt, dann deckt sich Hegels persönliches Verhalten nicht mit der verbalen Analyse, in der auch der preußische 2 Ebenda, S. 36/37. 71
Staat als Endpunkt der Entwicklung der Vernunft angesprochen ist. In seinen politischen Aktivitäten stand Hegel auf dem Standpunkt der damals oppositionellen Studentenverbindungen, der Burschenschaften, und kollaborierte mit dem internationalistischen Flügel der Studentenbewegung, nicht aber mit deren in Jena ansässigem antisemitischem Zweig. Internationalistisch, wie sich die Gruppierung bezeichnete, kooperierte Hegel mit Cousin. Hegel sah die Geschichte nicht mit Napoleon und dem damaligen preußischen Staat als abgeschlossen an. Vielmehr arbeitete er selbst an der Überwindung der reaktionären Karlsbader Beschlüsse und des Bündnisses der drei großen siegreichen kontinentaleuropäischen Mächte. Außerdem hatte Hegel die Absicht, die „Rechtsphilosophie" umzuschreiben, falls die preußische Zensur aufgehoben werden sollte. Hegel erkannte, daß zu seiner Zeit eine Gestalt des Lebens alt geworden sei. Rechtfertigen bedeutet für Hegel das Verständnis, warum sich bestimmte historische Verhältnisse durchsetzen und warum sie aufgelöst werden. Die historische Vernunft gilt als das substantielle Wesen der sittlichen, wie der natürlichen Wirklichkeit.3 Diese „sittliche" Realität hat für Hegel nicht den Anspruch des Moralisierens, sondern eher den Charakter der Feststellung, daß sich eine jeweilige Stufe der Geschichte auch in einer für sie charakteristischen moralischen Realität äußert. Dabei aber kann das Transzendieren der Gegenwart sich ins Leere begeben, aber auch die Idee der künftigen Umwälzung erwerben: „Wenn die Reflexion, das Gefühl oder welche Gestalt das subjektive Bewußtseyn habe, die G e g en w a rt für ein Eitle s ansieht, über sie hinaus ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eiteln, und weil es Wirklichkeit nur in der Gegenwart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit. Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in einem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen."4 Hegel sieht darin eine Versöhnung mit der Wirklichkeit, die der Verstand gewährt. Es gilt als eine besondere Entwicklungsstufe der Vernunft, nichts in der Gesinnung anzuerkennen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt sei. Gesetzt den Fall, Hegel habe tatsächlich nicht über seine Zeit hinausgedacht, so hat er jedenfalls festgehalten, daß die Geschichte Stufen durchläuft, die sich nachträglich als notwendig herausstellen. Vom Standpunkt moderner Experimentalwissenschaften aber bedeutet dann der Hegeische Vorschlag für das Geschichtsverständnis, eine Schar von Hypothesen zu entwerfen, die sich in der Geschichte als konkretes Schicksal von Völkern verwirklichen, von denen eine oder einige der gegebenen Manifestationen schließlich sich als weiterführend 3 Ebenda, S. 36. 4 Ebenda, S. 33.
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erweisen. Sie gestatten dann empirisch nachzuvollziehen, an welche die Geschichte weiter anknüpfte. Das Rechtfertigen durch den Gedanken kann nach Hegel sowohl das vergebliche Tun der Geschichte betreffen, ebenso aber auch einen in der Geschichte schließlich von vielen Völkern aufgenommenen Weg. Die entsprechenden Ideen, die sich dann in der Zukunft verwirklichen, sind im Verständnis Hegels die wahren Ideen. Sie bedeuten richtiges Bewußtsein, die anderen sind falsches Bewußtsein. Das Kriterium ist der faktische historische Prozeß, der die einen Möglichkeiten ausscheidet, andere aber immer wieder aufgreift und realisiert. Nicht das einzelne historische Faktum wird von Hegel gerechtfertigt, sondern der in den Revolutionen sich abzeichnende Trend.. Er enthält das, was Hegel erkenntnistheoretisch als Umschlag von der Quantität in die Qualität, oder anders als Umschlag von der einen Qualität in eine andere Qualität ausdrückt. Das Einbeziehen der Quantität betrifft das unscheinbare Vorbereiten der neuen Ideen. Der einzige Gedanke, der nach Hegel von seiner Philosophie an die Geschichte herangetragen wird, ist der, daß die Vernunft die Welt beherrsche. Hat Hegel die Idee, in der Geschichte bestimme und zeige sich Vernunft, so versichert er ebenfalls. Neues lasse sich in der Geschichte nur durch die Vernunft erzeugen. Darin läßt sich ein idealistischer philosophischer Zug erkennen. Marx hingegen ist der Auffassung, in den materiellen Strukturen, die letztlich Beziehungen zwischen Menschen sind, bereite sich vor, was an Neuem gedacht werden könne. Dann sei es erst ein Neues von der Art, die sich verwirklichen lasse. Das Fundieren des Entstehens von Ideen charakterisiert demnach den Materialismus von Marx. In der „Einleitung" zur „Philosophie der Geschichte" finden sich eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die den Hegeischen Standort fixieren lassen. Was nun Hegel näher als „Vernunft" bestimmt, bringt er durch einen Vergleich mit dem Newtonschen System und der Wende des Kopernikus zum Ausdruck. Er schreibt: Die Bewegung des Sonnensystems eriolgt nach unveränderlichen Gesetzen: diese Gesetze sind die Vernunft desselben, aber weder die Sonne, noch die Planeten, die in diesen Gesetzen um sie kreisen, haben ein Bewußtsein darüber,"5 Hegel nennt das Vorhandensein von Gesetzen in der Natur die Vernunft derselben. Die modernen epistemologischen Debatten über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Gesetzen in der empirischen Natur beziehen sich gerade auf diesen Gesichtspunkt. Die durchgängige Gesetzmäßigkeit von Natur und Gesellschaft gehört im Ansatz in das Gefüge der Ideen Hegels. Marx übernimmt arbeitsteilig mit Engels gerade diese Gedanken einer Einheit der Welt, faßt sie aber materialistisch auf. In der Geschichtsauffassung von Marx bleibt dieser Bezug bestehen und findet seine Ausarbeitung in Ökonomie und Klassen5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Ed. Glockner, Bd. 11, S. 37.
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Politik. Erst aus der Annahme von Gesetzen in der Natur folgert Marx, wie schon aus seiner Doktordissertation zu ersehen ist, die Möglichkeit, in der Gesellschaft ebenso Gesetze entdecken zu können. Diesen Vorteil zu folgern bietet die dialektische Identitätsphilosophie. Eine Philosophie, die diesen Gesichtspunkt aufgibt, verfällt erneut in Dualismus. Sie hat dann stets Schwierigkeiten, auch in der Gesellschaft Gesetzmäßigkeiten anzuerkennen, und sieht überall bloß zufälliges Geschehen, das der Notwendigkeit ermangelt. Die Thematik Jacques Monods trifft mit Zufall und Notwendigkeit also durchaus ein höchst interessantes und notwendiges Problem, wenn auch seine Lösung das Gesellschaftliche verfehlt. Hegel knüpft daran an, daß das Entdecken von Gesetzen in der Natur ein epochemachender Schritt gewesen sei, der dem Anaxagoras zukomme. Allerdings anthropomorphisiert Hegel auch die Vernunft in der Natur, er meint, die Vernunft müsse man personifiziert auffassen. Die Vernunft gleichsam als spirituelle Person habe die Natur und ihre Gesetze hervorgebracht. Moderne materialistische Erkenntnistheorie lehrt, daß jede beliebige Folge von Mannigfaltigkeiten als Gesetzmäßigkeit aufgefaßt werden darf. Sie läßt sich über Wahrscheinlichkeitsverteilungen darstellen. Das benötigt gegenwärtig nicht bloß die Quantenphysik, sondern ebenso die praktisch betriebene Gesellschaftspolitik, wenn sie mit statistischen Daten arbeitet und Trends zu erschließen sucht oder Trendveränderungen vorauszusagen bemüht ist. Letzteres Verhalten ist materialistisch, Hegels Annahme eines Primats der Vernunft hingegen idealistisch. Hegel lehnt ab, in der Geschichte so etwas wie Gottes Plan anzuerkennen. Im Zufälligen brauche man nicht Gottes Schickungen zu erblicken. 6 Er wendet sich gegen das, was er „Kleinkrämerei des Glaubens" 7 nennt. Die historischen Individuen sind für Hegel ganze Völker und ganze Staaten. Die These, Vernunft regiere die Welt, setzt Hegel mit dem anderen Satze gleich, Gott regiere sie. Das hindere aber nicht, sondern setze umgekehrt voraus, die Mittel und Erscheinungen der Geschichte zu kennen, mit denen sich diese Hegeische dialektische Vernunft durchsetze. Er orientiert also gerade hinsichtlich der Geschichte auf das Widersprüchliche. Die Weltgeschichte, so versichert Hegel, geht auf dem geistigen Boden vor sich. Als Welt aber muß man sowohl die physische wie die psychische Natur ansehen. 8 In der Natur des Geistes verlangt Hegel zu unterscheiden - die abstrakten Bestimmungen der Natur des Geistes, - welche Mittel der Geist braucht, um seine Idee zu realisieren, - endlich die Gestalt, welche die vollständige Realisierung des Geistes in der Wirklichkeit ist, nämlich den Staat.9 Weltgeschichte ist für Hegel der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. 10 Er 6 7 8 9 10
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Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. 40. S. 43. S. 44. S. 46.
sieht diesen Schritt übrigens im Protestantismus realisiert. Mit Luther läßt Hegel diese Epoche beginnen. Historisch habe der Protestantismus die Niederlande und England hervorgebracht. Im Bewußtsein Voltaires besteht die gleiche Vorstellung. Voltaires Briefe über die Engländer aus den beginnenden vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts sind unmittelbarer Ausdruck dieses theoretischen Weltgefühls, das sich zuvor schon bei Pierre Bayle in seinen „Gedanken über den Kometen" und in seinem „Historischen und Kritischen Dictionnaire" feststellen läßt. -Zum Anarchismus neigt Hegel nicht. Die von Marx entworfene Theorie des Staats prognostiziert einen künftigen Zustand, in dem der Staat verschwindet, wenn kein Repressionsinstrument mehr benötigt wird. Hegel beschäftigt sich nicht mit den sozialökonomischen Strukturen. Marx erklärt wiederholt ausdrücklich, daß die Planung eine der wesentlichen Strukturen künftiger Gesellschaft sei. Es ist eine Voraussage, die eingetroffen ist. In den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ist man um Planen bemüht, weil es entwickelten produktiven Kräften entspricht. Es stellt sich aber heraus, daß man entsprechende sozialökonomische Gesetze und Eigentumsverhältnisse benötigt, um Planung durchzusetzen und in gesteigerter Entwicklung des Sozialproduktes eingehen zu lassen. Wenn Planung entfallen soll, weil sie ebenfalls als repressiv aufgefaßt wird, dann bliebe als Alternative bloß die Rückkehr zum Kapitalismus der freien Konkurrenz. Eine andere Alternative besteht nach meiner Meinung nicht, solange in den Gesellschaften dieser Erde einigermaßen erhebliche Produktivkräfte materieller Art und des Verstandes vorhanden sind. Den Zugang zu den von Marx als materiell erachteten Strukturen bringt Hegel mit dem an die „Phänomenologie" anknüpfenden Bemerken, dies sei „das unendliche Recht des Subjects, daß es sich selbst in seiner Thätigkeit und Arbeit befriedigt findet".11 Das Verhältnis von Bewußtsein und Interesse, von dem Jürgen Habermas handelt, hat hier seinen philosophiehistorischen Ursprung. Hegel bejaht das Interesse ausdrücklich. Wessen Interessen verwirklicht werden, ist eine entscheidende historische Frage. Sie führt darauf, welche Interessen den Inhalt des Staates bestimmen und überhaupt in der Gesellschaft dominieren. Hegel erwähnt übrigens ausdrücklich das partikulare Interesse. Es setzt sich zusammen aus den dem Individuum eigentümlichen Bedürfnissen, dem Trieb und den Interessen überhaupt. Der physische Trieb ist ausdrücklich zwischen Bedürfnis und Interesse eingeführt. Die moderne Ethologie als Verhaltenswissenschaft und die Sozialpsychologie beschäftigen sich damit ebenso wie die Psychoanalyse. Hegel sieht darin ein wesentliches Moment der Vernunft. Aus der Identitätsphilosophie ergibt sich ein Zugang auch zu den verschiedenen materiellen Strukturen, die Marx später hinsichtlich der sozialökonomischen weiter aufhellt. Die arideren Strukturen blei11 Ebenda, S. 50/51.
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ben indes ebenso wirksam und verlangen entsprechende Berücksichtigung. Die verschiedenen Gesellschaftsordnungen befassen sich damit durchaus unterschiedlich. Der Puritanismus ist zu höchster gesellschaftlicher Wirksamkeit gelangt. Die schnellste Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik hat sich über einige Jahrhunderte unter puritanischen Vorzeichen vollzogen, die aber hinsichtlich der Wirksamkeit gegenwärtig offensichtlich kaum noch Relevanz besitzen. Die konkrete Mitte zwischen Idee und menschlicher Leidenschaft vereinigt sich nach Hegel in der sittlichen Freiheit des Staates. Hegel lehnte bekanntlich Kants Versuch ab, ein sittliches Programm des Sollens zu entwerfen, und vermutete, es bleibe eine leere Forderung, sittliche konkrete Ziele verwirklichen zu wollen. Den Leidenschaften gibt Hegel ein größeres Gewicht. Für das Existieren des Staates setzt Hegel als selbstverständlich voraus, daß sich in ihm partikulare Interessen und Leidenschaften entgegentreten. Erst aus dieser Auseinandersetzung vermag nach Hegel sich das sogenannte Zweckmäßige auszubilden. Es liegt nicht auf der Hand und ist nach Hegel nicht identisch mit dem, was als das Vernünftige angesehen wird. Vielmehr sieht er in der Lebendigkeit der Völker und Individuen, in der Gegensätzlichkeit der unterschiedlichen Interessen sich ein Höheres und Weiteres durchsetzen, das nicht mit den ausgesprochenen Absichten gleichzusetzen sei. Das, was sich so durchsetzt, ist in Hegels Sprache das Allgemeine und Substantielle, dem alles andere untergeordnet sei und als Mittel dient.12 Die Idee gehe zum unendlichen Gegensatz fort.13 Die Tätigkeit aber gilt Hegel als die Mitte des Schlusses, welche das Allgemeine und Innere in die Objektivität übersetze.14 Bezeichnet Hegel die großen Menschen in der Geschichte als Wille des Weltgeistes15, so erklärt er ausdrücklich, daß solche Individuen nicht das Bewußtsein der Idee besitzen, die sie hervorbringt und die sie hervorbringen.1® Das Auseinanderfallen von Zweck und Absicht auf der einen Seite und dem Allgemeinen der geschichtlich bestimmten Gesetzmäßigkeit einschließlich ihrer Inhalte wird von Hegel konsequent durchgeführt. Damit aber zeigt sich, wie Karl Marx tatsächlich an Hegel in verschiedenster Weise anknüpfen kann, indem er Hegel umgestaltet. An Hegel vollzieht sich seine epochemachende Entdeckung, daß in den großen Persönlichkeiten nicht das Bewußtsein dessen vorhanden ist, was sie anregen und tatsächlich ohne und meist gegen ihren Willen hervorbringen. In der „Deutschen Ideologie" haben Marx und Engels den Gegensatz ihrer Ansichten gegen die vorgefundene, generell als idealistisch bezeichnete Geschichtsauffassung vorgebracht. Sie schreiben: „Diese Geschichtsauiiassung beruht also darauf, den wirklichen Prodüktions12 13 14 15 16
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Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda.
S. S. S. S.
54. 55. 56. 60.
prozefj, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsiorm, also die bürgerliche Gesellschalt in ihren verschiedenen Stuten, als Grundlage der ganzen Geschichte aulzulassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc. aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann."17 Die Ideenformation soll aus der materiellen Praxis erklärt werden. Die daraus entwickelte Lehre von Basis und Überbau ist so etwas wie eine synchronische Struktur, der selbstverständlich eine diachronische Struktur entspricht. Das synchronische und das diachronische Gefüge sind dialektisch aufgefaßt. Im Verlaufe der schon von Hegel dargestellten Widersprüche tritt in der synchronischen Struktur eine Verschiebung der Schwerpunkte der Momente ein, die in das betreffende Schema als nebeneinander wirkend eingegangen sind. In der Wirksamkeit der synchronischen Struktur kann in bestimmten Gesellschaftsformationen die Religion eine führende Rolle besitzen. Das gilt vor allem dann, wenn in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung innerhalb der Kirche die gesamte geistige Arbeit geleistet wird und sich in ihr entwickelt. Erst als Produkt des historischen Prozesses tritt eine Verselbständigung der geistigen Tätigkeit ein, die sich dann außerhalb der religiösen Institutionen abspielt. Das gilt sowohl für die ideologiebildenden Instanzen des adäquaten und nichtadäquaten Bewußtseins der gesellschaftlichen Strukturen wie für die verschiedenen Wissenschaften. In der Renaissance bestehen die religiösen Institutionen, mit den Wissenschaften befaßt, noch neben den weltlichen Universitäten, die allmählich zu dominieren beginnen. An der Sorbonne war es die Fakultät der Artes, in der sich mit Siger von Brabant, Boethius von Dacien und anderen so etwas wie philosophischer Materialismus herausbildete. Es ist oft gefragt worden, wie denn die Wechselwirkung dieser Parameter von Basis und Überbau zu verstehen sei. Mechanistisches Herangehen ermöglicht kein Verständnis. Das Materialistische in der Theorie von Marx ist die stetige und ständige Berücksichtigung der materiellen Strukturen. Es sind das die Strukturen der materiellen Produktion und die unabtrennbar davon aufgefaßten Strukturen der Produktionsverhältnisse. Für die Geschichtsschreibung ergibt sich daraus die Aufforderung, die entsprechenden Sachverhalte zu untersuchen und in Beziehung zu den übrigen historischen Erscheinungen zu setzen. Eine stringente Beziehung zwischen irgendeinem innerhalb der Produktion gefundenen Faktum und einem ideologischen Ereignis oder einer politischen Tatsache findet sich in den seltensten Fällen. Engels nennt solche direkten Beziehungen, wenn er tech17 K. Marx/F. Engels, Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1973, S. 37.
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nische Erfindungen in der Kriegstechnik nachweist und sich Sieg oder Niederlage als davon mindest mitbestimmt erweisen. Das Schreiben von Geschichte besteht darin, wahrscheinliche und faktische Beziehungen aufzudecken. In welchem Umfange bei spezieller Geschichtsschreibung Wert auf die ökonomischen und Klassenstrukturen zu legen ist, ergibt sich aus dem Sachzusammenhang. Marx hat jedenfalls darauf verwiesen, da ß damit der Horizont der wirklichen Geschichte erreicht werde. Es enthebt nicht, die tatsächlichen Ereignisse und die sich abzeichnenden Möglichkeitsfelder darzustellen und zu analysieren. Innerhalb der Lehre von Marx ist die aktive Rolle der Individuen und Klassen ebenso gewürdigt wie die der Ideen. Engels hat in seinen Altersbriefen darauf verwiesen. Da menschliche Gesellschaft die Tätigkeit werkzeugmachender Tiere bedeutet, ist jede der zur Herstellung von Werkzeugen benötigten Fähigkeit und Antriebskraft einzubeziehen. In umfangreichen historischen Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß in der Reformation erstmalig generell der Berui als ein innerhalb der Welt vorzüglicher Auftrag des Menschen aufgefaßt wurde. Der Calvinismus hat diese Bedeutung von Beruf und Profession noch überhöht. Damit zeigt sich aber eine besondere Seite dieser Verflechtung. Bilden sich bestimmte juristische Bedingungen heraus, die das Ausüben des Berufes tolerieren, seine Tätigkeit erweitern, dann liegt damit bereits eine Verschränkung von Basis und Überbau vor. Das gleiche gilt auch für die Wissenschaften. Marx hat die in Industrie sich entäußernden menschlichen Wesenskräfte zunächst als eine grundlegende Seite der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit innerhalb der Entfremdung und nach dem Aufheben der Entfremdung dargestellt. In seiner späteren Zeit befaßt sich Marx mit ihnen als Moment der erweiterten Reproduktion. In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" ist ganz ausführlich auf die Wissenschaft als Produktivkraft eingegangen. Nun ist aber hinreichend in dem Lande Descartes' bekannt, welchen außerordentlichen Einfluß die „Rede über die Methode" besessen hat. Technik und Wissenschaft gelten dort als ein den weiteren Gang der Gesellschaft maßgeblich bestimmender Faktor. Wie auch die Wissenschaften in ihrer Beziehung zu den Produktivkräften in jeder Epoche aufgefaßt werden mögen, so viel ist klar: Wenn die herrschende Philosophie die Wissenschaften beeinträchtigt, dann muß daraus eine Verlangsamung der Produktivkräfte folgen. Geht ein herrschendes Bewußtsein auf die Beziehung der Wissenschaften zur Produktion positiv ein, stellt Mittel für die Grundlagenforschung zur Verfügung, dann vermögen sich die Wissenschaften in materielle Technik und gesellschaftliche Potenz umzusetzen. Ein mechanisches Verhältnis besteht indes nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte offensichtlich nicht. Um Wissenschaft in Produktivkraft umzusetzen, sind zu berücksichtigen - die vorhandenen Produktionsverhältnisse, - der gesellschaftliche Bildungsstand der Massen, - die Arbeitsbereitschaft von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, aber auch von Gesellschaftswissenschaftlern, vor allem aber der Arbeiter, 78
- die in der Gesellschaft herrschenden speziellen Gesetzmäßigkeiten der ökonomischen Trends, der Krisen und Konjunkturkurven, - die Fähigkeit, bekannte theoretische Mittel tatsächlich in der gesellschaftlichen Realität anzuwenden. Für eine Geschichtsschreibung ergeben sich daraus viele Probleme der Analyse von Vergangenheit und Gegenwart. In den sozialistischen Ländern liegt in der Theorie des historischen Materialismus eine methodologische Grundlage vor, entsprechend zu handeln. Diese Orientierung der gesellschaftlichen Aktion hat unmittelbar materialistische Voraussetzungen in der Philosophie von Marx. Die Funktion des progressiven Bewußtseins verkörpert sich in der Partei der Arbeiterklasse, nimmt in einer sozialistischen Gesellschaft entschieden an Bedeutung zu und realisiert sich als gesteigerter Einfluß des subjektiven Faktors. Zu blankem Voluntarismus hat diese Auffassung keine Beziehung. Die dialektische Theorie läßt, weil nicht mechanisch, offen, wie sich die gesellschaftlichen Kräfte unter neuen Klassenvoraussetzungen ihre Ziele wählen. Ökonomistisch ist diese Theorie, wie ihr gelegentlich vorgeworfen wird, deswegen ebensowenig, da sie die materiellen Grundlagen der Gesellschaft als Voraussetzung der gesamten kulturellen Entwicklung besonders berücksichtigt. Daneben ist anzumerken, daß sich die Sachverhalte des Überbaus stimulierend äußern. Wie sie sich ausbilden, ergibt sich in der historischen Entwicklung. Daraus aber folgt, wie sich die Geschichtsauffassung von Marx auf Vergangenheit und Gegenwart bezieht. Für die Gegenwart ergibt sich ein Programm der gesellschaftlichen Aktivitäten. Die herrschende sozialistische Ideologie nimmt unmittelbar das gesamte Handeln innerhalb der Planwirtschaft in die ethischen Normen, in die sittlichen Voraussetzungen der Gesellschaft auf. Das gleiche gilt für die Gesamtheit der geistigen Tätigkeiten von den Wissenschaften bis zur Kunst. In den Vorlesungen über Ästhetik von Hegel ist erkenntlich, in welch großem Umfang er die politischen Erscheinungen der Revolution in seine künstlerische Analyse einbezieht. Er fällt damit kein Werturteil über die künstlerische Qualität. Das damalige Vorherrschen der Idylle in Deutschland erklärt Hegel indes ebenso politisch wie die Bedeutung der Genremalerei in den Niederlanden des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Idylle erscheint Hegel regressiv, die alte Genremalerei progressiv. Das gleiche zu analysieren gilt für die Funktion der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft. Die Beziehung auf die Gesellschaft ist in jedem Falle gegeben, handele es sich um das Bauhaus in Weimar und Dessau oder daraus hervorgegangene Erscheinungen der Bautechnik und der abstrakten Malerei. Das Aufzeigen der Beziehung zu den gesellschaftlichen Strukturen sagt noch nichts darüber aus, wie denn bestimmte Kunst, die in einer bestimmten Epoche entstanden ist, auf die Nachkommen oder die Zeitgenossen unseres Jahrhunderts und da noch unterschiedlich in den verschiedenen Dezennien wirkt. An Le Corbusier lassen sich diese unterschiedlichen Effekte seiner Bauten und seiner Theorie besonders deutlich ablesen. Marx bringt das Beispiel der Kunst der griechischen Antike, die Sympathie 79
fand, weil - so Marx - die Menschheit in ihr die Jugend ihres eigenen Geschlechtes wiederfand. Wir wissen heute, daß die Antike der Griechen wahrscheinlich fünfeinhalb Millionen Jahre der Existenz von Anthropoiden mit Werkzeuggebrauch, Homo erectus und Homo sapiens hinter sich hatte. Es ist also in der Antike schon eine sehr späte Jugend vorhanden. Auch die afrikanische Kunst der Stammeskulturen hat bereits und gerade in Afrika diese fünfeinhalb Millionen Jahre hinter sich. Sie ist demnach ebenso spät wie die antike Kunst Griechenlands und ist nicht minder in modernem Bewußtsein Erinnerung an Jugend, wenn auch unterschiedlicher Klassenprovenienz. Nach Hegel und nach Marx setzen sich die Gesellschaftsformationen Ziele, in denen sich Vernunft oder Zeitgeist oder Klassenbewußtsein äußern. Wie eine moderne Welt ihre eigenen Probleme behandelt, muß jeweils durch die Charaktermaske hindurch begriffen werden, die sich Menschen, Klassen und Gesellschaften dieses unseres Jahrhunderts eventuell ausborgen, um ihre eigenen Ziele darin auszudrücken, zu verbergen oder offen zutage treten zu lassen. Daß sich heute, wie Foucault meint, in dem Irren die Grundstrukturen unserer Zeit offenbaren sollen, ist ein spezifisches Zeichen der Entfremdung und des Unverständnisses von vergegenständlichtem Sein. In dem künstlerischen Verständnis der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit finden sich aber nach Marx ebenso die in der gesamten Gesellschaft wirkenden Strukturen wieder, niemals aber in einfachem Sinne widergespiegelt, sondern vielfältig vermittelt. Diese Seite der Vermittlung aber ist eine der wichtigsten Kategorien, die sich für das Verständnis der Basis-Überbau-Theorie nötig macht. Nicht bloß die „Mittel" im Sinne der Produktionsinstrumente und ihres geistigen Vorlaufs sind interessant, sondern ebenso die Prozesse, in denen die verschiedenen Antriebe sich ineinander umsetzen und miteinander in Beziehung stehen. In der Gesellschaft gelten stets die bewußt gesetzten Relationen wie die unbewußt sich formierenden Strukturen. Gültigkeit und Wirkung besitzen beide. Das Verständnis der Wechselwirkung, die sich aus gesellschaftlichem Handeln ergibt, ist eines der entscheidenen Probleme, die die materialistische Philosophie aufzudecken vermag, dazu aber alles das heranzuziehen sucht, was einzelwissenschaftlich Teilgebiete zu erschließen gestatten. Wie sich aber die weltanschauliche Auseinandersetzung dieser Thematik in neuerer Zeit bemächtigt, läßt erkennen, wie aktuell der Übergang von Hegel zu Marx geblieben ist. Nach dem Versuch einer totalen Liquidation weltanschau-. licher Positionen durch jenen Empiriokritizismus, mit dem sich Lenin zu befassen hatte, ergab sich wenige Jahrzehnte später innerhalb der bürgerlichen Philosophie ein erneuter Rückgriff auf Hegel. Folgenreich erwies sich die Vorlesungsreihe Alexandre Kojèves über Hegels „Phänomenologie"18, zu deren Hörern u. a. Jean-Paul Sartre und Soziologe Raymond Aron gehörten. Später erst publiziert, 18 A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Leçons sur la Phénoménologie de l'Esprit professées de 1933 à l'Ecole des Hautes-Etudes réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris 1947, (1968).
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hielt der originäre Effekt an, als sich bereits wesentliche Momente über Sartre und Aron nicht bloß in dem französischen Diskussionsraum auswirkten. Gelegentlich findet sich eine Kritik der weltanschaulichen Position Hegels, auf die eingegangen sei. 19 Dem Raisonnement Hegels wird einleitend von Kojève Korrektheit bescheinigt: Wenn die reale Totalität den Menschen impliziere und der Mensch erweise sich als dialektisch, dann sei es die Totalität ebenso. Aber davon ausgehend begehe Hegel einen schweren Fehler : Von der Dialektik der realen Totalität schließe Hegel auf den dialektischen Charakter ihrer beiden konstituierenden fundamentalen Elemente, die Natur und den Menschen, wobei Mensch und Natur gleich Geschichte gesetzt würden. Damit verfolge Hegel eine Tradition des ontologischen Monismus, die mit den Griechen beginne. Die Griechen, denen die philosophische Entdeckung der Natur zuzuschreiben sei, hätten ihre naturalistische Ontologie auf den Menschen ausgedehnt. Diese Ontologie sei ausschließlich von der Kategorie der Identität bestimmt. 2 0 Soweit Kojève konstatiert, Hegel gehöre in die monistische Tradition und schließe sich damit der in der griechischen Antike beginnenden Strömung an, ist die Feststellung korrekt. Sie entspricht dem historischen Tatbestand. Nicht minder zutreffend ist der Vermerk über die philosophische Entdeckung der Natur. Geistige Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur gab es schon zuvor bei anderen Völkern und unter den vorhergehenden Ordnungen. Nicht anders verhält es sich mit dem Auswerten der Arbeitserfahrungen und der Beobachtungen, die in der Untersuchung der Regelmäßigkeit des Jahresverlaufs und der Möglichkeit der Voraussage von Terminen, die mit Jagd, Ernte, Bewässerung 1 zusammenhingen. Philosophische Entdeckung bezieht sich auf die Zusammenfassung der Naturerscheinungen in dem Begriff der Natur und einem daraus abgeleiteten Monismus, der die Dinge der Natur innerweltlich einander zuordnet und die verschiedenen Theismen übersteigt, seien sie polytheistisch oder monotheistisch. In der griechischen Philosophie verbindet sich die Vorstellung der einen Natur mit den Anfängen wissenschaftlicher Überlegungen und Forschungen, die hypothetisch die Einheit der Natur annehmen und darauf ihre Hypothe19 Ebenda, La dialectique de réel et la méthode phénoménologique chez Hegel. Texte intégral des Conférences 6 à 9 du Cours de l'année 1934-1935, S. 447-449. Anm. 1, S. 485-487. 20 Ebenda, S. 485 : „Le raisonnement de Hegel est certainement correct : si la Totalité réelle implique l'Homme, et si l'Homme est dialectique, la Totalité l'est elleaussi. Mais, en partant de là, Hegel commet, à mon avis, une erreur grave. De la dialecticité de la Totalité réelle, il conclut à la dialecticité de ses deux éléments constitutifs fondamentaux, qui sont la Nature et l'Homme ( = Histoire). En le faisant, il ne fait que suivre la tradition du monisme ontologique qui remonte aux Grecs: tout ce qui est, d'une seule et même manière. Les Grecs qui ont philosophiquement découvert la Nature, ont étendu à l'homme leur ontologie .naturaliste', dominée par la seule catégorie de l'Identité." 6
Ley, Bewußtsein
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sen wie die des Atomismus gründen, den Menschen aber zunächst physiologisch und dann hinsichtlich seiner Evolution als Gattung phylogenetisch einbeziehen. Kojève erläutert, die Vereinheitlichung stehe unter der Kategorie der Identität. Nun gibt es zwar die Identitätsauffassung des Parmenides, mit der zugleich Ruhe, Bewegungslosigkeit und der Zweifel an der realen Existenz der natürlichen Mannigfaltigkeit verbunden sind. Auf Demokrit und Piaton trifft indes Kojèves Bemerkung zweifellos nicht zu. Es ergibt sich, daß philosophietheoretische Betrachtungen auch in aktuellen Debatten nicht unfruchtbar zu sein brauchen. Materielle Wirklichkeit bloß dem Gesetz oder der Kategorie der Identität unterworfen aufzufassen, entspricht einer der Traditionen philosophischen Denkens. Banal ist schon der Hinweis, dafj mit dem Gleichsetzen von unterschiedenen Mannigfaltigkeiten in die eine Natur oder spirituell ausgeweitet das Eine den dialektischen Widerspruch bereits enthält. Als Folgeerscheinung entsteht die Annahme des Parmenides, wenn das Eine als real aufzufassen sei, dann sei an der realen Existenz des Mannigfaltigen zu zweifeln. Daraus entstehen bei Piaton und Demokrit der Ansatz und die Realisierung monistischer Philosophie, die durch ihren Ausgang voneinander geschieden sind. Ob Primat der Idee oder der Materie als solcher zu gelten habe, unterscheidet die Grundrichtungen. Für Piaton und Demokrit gilt die Denkbestimmung der Identität nicht als gleichermaßen fundamental. Bei Piaton vertragen sich seine dialektischen Untersuchungen mit der Würdigung der Mathematik, bei Demokrit das konkrete dialektische Werden des Kosmos einschließlich des Menschen und der Gesellschaft mit der Annahme der Einheit der Welt und einem durchgehend innerweltlichen Standpunkt. Ob die spätere Benutzung stets alle die Elemente festhält, die bereits in der benutzten Philosophie eines der Urheber enthalten sind, bleibt insofern unerheblich, weil erst allmählich aus Hypothesen Theorien entstehen, die der Überprüfung an der Realität standhalten. Meinte Jacques Derrida, Philosophie benutze bloß eine phantastische Ergänzung der Fakten und gerate damit in Mythologie, so gehört zu theoretischem Denken unausbleiblich die Hypothese. Weltseele und Atomismus wirkten in den folgenden zwei Jahrtausenden als Hinweisung auf monistisches Denken und gegen den religiösen Dualismus. Erkenntnistheoretisch vermochten sie sehr unterschiedliche Positionen anzuregen, unter denen sich der naturwissenschaftliche Materialismus und die Hypothese allgemeiner Entwicklung befanden. Die darin einbezogene Dialektik benutzt nicht bloß die Kategorie der Identität. Innerhalb der zum Monismus neigenden Konzeptionen äußert sich der weltanschauliche Unterschied anders. Der Naturalismus oder die sogenannte naturalistische Ontologie sieht Dialektik und Werden konkret in den Objekten selbst und hält sie für abbildbar. In dem zum Monismus neigenden Piaton des „Timäus" und der Weltseele fehlt vornehmlich die objektive Dialektik, während sich die subjektive in „Parmenides" und „Politikos" als vorhanden erweist. Die Kategorie der Identität benutzen beide Grundrichtungen. Kojève geht demnach von einer verschobenen und deshalb verfehlten Vorstellung von Naturalismus aus. Das Entdecken der dialektischen Kategorien sieht Kojève bei Hegel als Ver82
längerung der Bemühungen von Descartes, Kant und Fichte entstehen. Als ihre Prototypen gelten die Denkbestimmungen der Negativität und Totalität. Sie seien, so berichtet Koj ève, aus der Analyse des menschlichen Wesens entstanden, wobei er „Mensch" in der vorphilosophischen judäochristlichen Tradition versteht. Hegel habe nun seine anthropologisch-dialektische Ontologie auf die Natur ausgedehnt, wobei sich f r a g t ob Kojève die Genealogie zutreffend rekonstruiert. Sicherlich läßt sich Hegel zuschreiben, vom Handeln auszugehen und von dorther den Bezug zur Natur zu gewinnen. Andererseits läßt sich der materialistische Duktus der Aufklärung als hinreichend bekannt voraussetzen, woraus Hegels zum Atheismus neigendes Engagement herkommt. Ob aber Hegel tatsächlich erst zur Natur gelangt, nachdem er in der Gesellschaft Entwicklung entdeckt hatte, bleibt fraglich, da die intensive Beziehung zu Kant Anknüpfung und Kritik provozierte. Da Kant aber Hypothesen zur Entwicklung von Natur und Gesellschaft entwarf, bleibt Hegel die innere Bewegung der natürlichen Wirklichkeit aus Tradition gegenwärtig. Kojève aber hält das Ausdehnen der Dialektik von dem Negation hervorrufenden menschlichen Tun auf die Natur für nicht gerechtfertigt. In der Natur gebe es nichts dem Gleichwertiges. Weil das Negation hervorrufende menschliche Tun in der genuinen Natur nicht vorkomme, fehle der Natur in eigentlichem Sinne auch die Geschichte. 21 Die Frage nach der Weltanschauung ist bei Kojève mit der nach der Existenz von Geschichte verbunden. Wie bekannt diskutiert die spätbürgerliche Philosophie das Ende der Geschichte in der Gesellschaft, das eine Folge der Beherrschung der Natur und der Abläufe in der Gesellschaft durch den Fortschritt der Naturwissenschaften und der Technik sein soll. „Geschichte" erhält damit schon bei Kojève und dann bei den späteren bürgerlichen sogenannten allgemeinen Soziologen einen besonderen Status, der sich als existentialistisch qualifizieren läßt, auf jeden Fall eine beträchtliche Begriffsverschiebung enthält. Geschichte wird definitorisch auf das Handeln bezogen und darauf ein grundlegender Unterschied zwischen Natur und Mensch gegründet, dem zugleich weltanschauliche Bedeutung zugeschrieben ist. Im vorliegenden Fall schreibt Kojève der Natur ruhiges, identisches Sein und das Fehlen von Geschichte zu, der die Abwesenheit von Dialektik gleichkomme. Dem Menschen sind die naturalistisch bedingten Strukturen abgesprochen. Dafür gelte für ihn das Vorhandensein von Geschichte und Dialektik. Die Abgrenzung zwischen Natur und Mensch gilt Kojève als Argument gegen „monistische Ontologie", deren Benutzung Hegel als entscheidender Mangel angerechnet ist. 22 21 Ebenda, S. 486: „Hegel . . . a étendu son ontologie dialectique .anthropologique' à la Nature. Or, cette extension n'est nullement justifiée (et elle n'est même pas discoutée chez Hegel). Car si le fondement dernier de la Nature est l'Etrestatiquedonné (Sein) identique, on n'y trouve rien de comparable à l'Action (Tun) négative qui est la base de l'existence spécifiquement humaine ou historique." 22 Ebenda: „L'argument classique: tout ce qui est d'une seule et même manière, n'aurait pas dû obliger Hegel à appliquer à l'Homme et à la Nature une seule et 6»
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Im Vergleich mit Marx trieb Hegel die monistische Konzeption nicht weit genug, obwohl auch die Explikation der Handlung als Kennzeichen der menschlichen Gesellschaft bei Marx durch einen weitergehenden Katalog von Eigenschaften ergänzt ist. Allein das Übertragen des Merkmals von Gesetzen in der Natur auf die Gesellschaft macht den monistischen Charakter der Hegeischen Philosophie, die infolge eines Systemzwangs durchlöchert wurde, und gestattet für Marx den Zugang zu den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft. Nennt Hegel seine Philosophie selbst „Identitätsphilosophie", dann besteht der Anschluß an die oben gekennzeichnete andere antike Tradition, die Identität mehr oder minder ausgesprochen schon als dialektische Denkbestimmung versteht und auch der materiellen Realität zuschreibt, wie es sich bei dem zwischen Materialismus und Idealismus schwankenden Aristoteles nachweisen lieg. 2 3 Hegel faßt Sein als dialektisch und hinsichtlich der dialektischen Gesetze als identisch und einer gemeinsamen Quelle zugehörig, die Marx als die Materie versteht, aus der in der Aktion des Menschen materielle und naturgesetzlich wirkende Gesetze entstehen. Tatsächlich ist das wahre Wesen des Menschen und damit der Gesellschaft die Tätigkeit. Sie ist indes für Hegel ebenso als entstanden aufzufassen wie die sonstige Objektivierung der Ideen. Deshalb gilt die Dialektik als generell gültig und belegt die Identität, anstatt, wie Kojève will, umgekehrt gegen deren Gültigkeit zu verstoßen. Mit dem absoluten Trennen von Natur und Mensch aber orientiert sich Kojève an der Vorstellung des endenden 19. Jahrhunderts, in der Natur Gesetze zuzulassen, in der Gesellschaft aber solche zu bestreiten und in dieser nur eine Folge einmaliger Ereignisse zu sehen, die bestenfalls zu „verstehen" seien. Kojèves Einwand gegen dialektische Identitätsphilosophie gehört in die Tradition der Hermeneutik, aus deren Mißverstehen in der Folge später bürgerlicher Philosophie und in vielfacher Tradierung das Erkennen gesamtgesellschaftlicher Prozesse abgeschrieben ist. Denn nach Hegel (im „après-Hegel" sagt gelegentlich Derrida) bedeutet jedes Abmindern von Werden und Entwicklung Rückschritt. Gestattet Hegels unvollständiger Monismus idealistischer Prägung den vormarxistischen Materialismus durch Dialektik und Werden zu überholen, so befähigt er außerdem den Linkshegelianismus, zum Materialismus vorzustoßen, und schließlich Marx, Gesetze in den materiellen Strukturen der Gesellschaft zu finden. Das spätere konkrete Entdecken der Gesetze des Werdens in Natur wie Gesellschaft verweist auf den heuristischen Wert der dialektischen Identitätsphilosophie und ihrer Wirkung auf naturwissenschaftlichen und dialektischen Materialismus. Gleichsetzen von Aktion und Negativität erhält in Kojèves Diktion bloß deshalb abgrenzende Funktion, weil die Handlung spezifisch gesellschaftlich intermême ontologie (qui est chez lui une ontologie dialectique), car il dit lui-même (dans la PhG) que'l'être vrai de l'Homme est son action'. Or, l'Action ( = Négativité) agit autrement qu'est l'être ( = Identité)." 23 Vgl. W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in : Werke, Bd. 38, Berlin 1976, S. 340.
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pretiert wurde, nicht aber das Aufeinandereinwirken von Objekten schlechthin einbezieht. In den Naturwissenschaften entsteht daraus nicht bloß das Beachten von Wechselwirkung, sondern dazu noch die Analyse von Bewegung und Veränderung, von Umwandlung der Objekte ineinander. Soweit ältere Philosophie nur das Erscheinungsbild beachtete, vermochte sie immerhin ständigen Wandel und Ewigkeit der Materie zusammenzudenken, wenn sie damit auch auf den idealistischen Ausweg von selbständiger Existenz der Form verfiel, eine dualistische Verselbständigung, die Hegels monistische, aber idealistische Ideenlehre abschwächte. Negativität und Identität sind in der Dialektik eine Einheit und weder blofj auf den Menschen noch nur auf die Natur begrenzt. Kojèves Einwände gestatten nun, deutlicher zu sehen, welche Funktion die Dialektik bei der Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus überhaupt und besonders in Hinblick auf die Geschichte besitzt. Die Debatte dient nicht nur dem Verständnis der Hegeischen Geschichtsphilosophie, sondern auch der Art des Zusammenhangs von dialektischem und historischem Materialismus. Koj ève beanstandet an dem sogenannten monistischen Irrtum Hegels zwei schwerwiegende Konsequenzen. Hegels einzigartige dialektische Ontologie solle zugleich eine dialektische Metaphysik und Phänomenologie darstellen - ein Versuch, den Koj ève von vornherein für inakzeptabel erklärt. Er sieht darin den Versuch, Hegels Ankündigung zu erfüllen, die sozusagen vulgäre Naturwissenschaft zu ersetzen, unter der Hegel die antike und die an Newton orientierte verstehe, der aber ebenso die gegenwärtige zuzuordnen sei, fügt Kojève hinzu. Gilt Kojèves Erweiterung, dann wäre die Frage zu stellen, ob denn die modernen Naturwissenschaften mit der antiken und der Newtons gleichzusetzen seien. Damit aber ist die Antwort bereits verneinend ausgefallen. Die Naturwissenschaft ist nicht mehr an Newton gebunden, obwohl sie erst sich zur gegenwärtigen Stufe erheben konnte, weil sich die Mechanik Galileis und Newtons durchgesetzt hatte. Bedeutete die Absicht Hegels nichts anderes als die Vorahnung einer Entwicklung der Disziplinen über Newton hinaus, dann wäre dem schon ein gewisses Verdienst zuzusprechen. Kojève findet bei Hegel eine Interpretation der Naturwissenschaften, von der er feststellt, sie sei kein willkürliches Hineinlesen, sondern Hegel insistierte auf ihr ausdrücklich, und sie habe sich inzwischen durchgesetzt. Sie bestehe in der Annahme der Einheit von Objekt und Subjekt, durch die dem Experiment eine andere als die klassische Deutung gegeben werde. Das isolierte Objekt sei ebenso eine Abstraktion wie das isolierte Subjekt, das beobachte und das Experiment durchführe. 24 Die doppelte Abstraktion sei für Wissenschaft kennzeichnend, in der Quantenphysik drücke sie sich durch die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs aus. Damit aber entzieht sich Kojève selbst die 24 A. Kojève, Introduction, a. a. O., S. 454 und S. 454-456 Anmerkung 1 : „En fait, la Physique n'étudie et ne décrit pas le Réel concret, mais seulement un aspect artificiellement isolé du Réel, c'est-à-dire une abstraction."
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Grundlage für sein Argument, um eine dialektische Methodologie für Natur und Gesellschaft zu verlangen.25 Mit dem zweiten schwerwiegenden Schluß, den Kojève behauptet, um den monistischen Irrtum Hegels zu widerlegen, gelangt er auf ein anderes Gebiet, das ihn wieder auf die Inkonsequenz des ersten Einwandes zurückführt. Kojève sieht nämlich in dem Zulassen einer Dialektizität von allem, was existiere, gleichsam einen Zirkelschluß des Wissens, der fälschlich als Kriterium der Wahrheit eingeführt sei. Bezüglich des Menschen bedeute das die Annahme eines Endzwecks der Geschichte. Da sich aber nach Hegels Vorstellung der Mensch in der Geschichte wandele, sei die jeweilige Beschreibung, selbst wenn sie korrekt sei, nur eine teilweise und ganz provisorische „Wahrheit".26 Von Hegels Annahme, der Mensch schaffe sich selbst, gibt Kojève eine durchaus zutreffende Vorstellung, soweit es die Konsequenz betrifft, daß eine korrekte Beschreibung niemals generell und endgültig, sondern stetem Wandel unterworfen sei. Unzutreffend ist aber die damit bei Kojève verbundene Vorstellung, geschichtliche Erkenntnis sei deshalb nicht als generalisierbar zu betrachten. Thematisiert Hegel nur allgemeine und spezielle Strukturen der Entwicklung des Geistes, so entdeckt Marx solche für die Gesellschaftsformationen und den Fortgang der Klassenauseinandersetzungen einschließlich der Entfaltung der zwei Phasen des Kommunismus. Den Unterschied erzeugen die mit Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gegebenen Bedingungen und eben jene Veränderungen des nach sozialökonomischen Klassen unterscheidbaren Gattungszusammenhangs. Sie lassen sich „beschreiben" und damit wissenschaftlich darstellen, insofern die Bedingungen angegeben werden, mit denen unterschiedliche Ordnungen sich prägnant unterscheiden lassen. Es gelingt somit zu formulieren, in welcher Weise sich der Übergang zwischen ihnen vollziehen kann, und zu beschreiben, wie er sich tatsächlich vollzogen hat. In dem Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit, einem ebenfalls dialektischem Kategorienpaar, wiederholt sich die Differenz zwischen theoretischem Modell, der betreffenden Gesetzmäßigkeit und den faktisch eingetretenen Ereignissen, die zum Beispiel von der Organisiertheit der Arbeiterklasse, ihrer Partei und den Chancen der Geschichte abhängen, unter anderem aber auch von den Aktionen des Klassen25 Ebenda, S. 487. 26 Ebenda, S. 486: „L'erreur moniste de Hegel a deux conséquences graves. D'une part, en se basant sur son ontologie dialectique unique, il essaye d'élaborer une métaphysique et une phénoménologie dialectiques de la Nature, visiblement inacceptables, qui devraient selon lui remplacer la science ,vulgaire' (antique, newtonnienne et donc aussi la nôtre). D'autre part, en admettant la dialecticité de tout ce qui existe, Hegel à dû voir dans la circularité du savoir le seul critère de la vérité. Or nous avons vu que la circularité du savoir relatif à l'Homme n'est possible qu' à la fin de L'Histoire; car tant que l'homme change radicalement, c'està-dire se crée en tant qu'autre qu'il n'est, sa description même correcte n'est qu'une .vérité' partielle et toute provisoire."
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gegners der Arbeiterklasse. Der Unterschied zwischen Hegels Geschichtsauffassung und der Theorie von Marx besteht in dieser Hinsicht nicht in der differenten Benutzung dialektischer Denkbestimmungen, auch nicht in der nur einen Teilausschnitt der Geschichte betreffenden Abbildung durch das wissenschaftliche Bewußtsein, sondern in der Ausdehnung der Widerspiegelung auf von Hegel nicht hinreichend oder gar nicht beachtete Bereiche, unter anderem aber auf solche, die zu Lebzeiten Hegels noch gar nicht existent waren. Der Unterschied von einzelnem Ereignis und theoretischer Darstellung, von Einzelnem und Allgemeinem aber stammt aus der Dialektik des Aristoteles und ist Hegel und Marx gemeinsam. In der Gesellschaft mögliche Ereignisse an die theoretisch vorausgesagten Ereignisse heranzuführen, ist bei Marx wesentlich konsequenter als bei Hegel auf die menschliche Aktivität gestellt, das heißt auf die Klassenaktivität, nicht die Tätigkeit des Menschen oder des Individuums. Welche Beziehung zu den Naturwissenschaften besteht, bleibt bei der Erörterung des Unterschiedes in der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx aber noch näher zu bestimmen, da die gegen Hegel gewendeten Vorwürfe in gleicher Weise gegen Marx geltend gemacht worden sind. Sie zielen nicht bloß gegen eine Natur und Gesellschaft umfassende monistische Konzeption, sondern vornehmlich gegen die Gültigkeit der Dialektik in der Gesellschaft selbst. Da Kojève versucht, Hegels Text ernstlich zu begreifen, billigt er ihm auch zu, hinsichtlich der Natur Gedanken vorgebracht zu haben, die neueren Ergebnissen entsprechen. Kojève steht damit nicht allein. Ähnlich urteilten bereits der Logiker Charles Sanders Peirce oder Carl Friedrich von Weizsäcker, Adolf MeyerAbich, C. West Churchman und André Lwoff, um einige Theoretiker der kapitalistischen Welt zu erwähnen, die nicht als Linkshegelianer oder Marxisten zu verdächtigen sind. Der Unterschied zwischen an Newton orientierter Naturwissenschaft und den späteren nicht-klassischen Disziplinen besteht in der Einbeziehung von genuinen Wahrscheinlichkeitsprozessen, dazu aber in der Funktion dieser Vorgänge im Werden und Vergehen konkreter Naturgestalten. Mit dem Übergang zu den nicht-klassischen Disziplinen, die die Natur betreffen, gelang es, Methoden und Verfahren zu erarbeiten, die der Dialektik gesellschaftlicher Entwicklung im Ganzen und in Teilgebieten näher stehen, als die Mechanik es seinerzeit erreichen konnte. Gerade aus diesem Grunde wendete sich Marx der Dialektik zu, weil damit allein gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit erfaßbar schien und die Mannigfaltigkeit entgegengesetzt wirkender Vorgänge wie das Durchsetzen bestimmter Ergebnisse in der Unbestimmtheit antagonistischer Willensbildung auf den Begriff zu bringen war. Nicht zuletzt brachte der technische Fortschritt eine engere Beziehung zwischen der Entwicklung der Naturwissenschaften und den Produktivkräften zuwege, so daß materialistische Dialektik sich auch auf die Wechselbeziehungen zwischen materiellen und ideellen Produktivkräften bezieht, der technische Fortschritt und Natur wie Gesellschaft betreffende Wissenschaften Momente der Ökonomie werden, die auch Möglichkeiten zu quantifizieren veranlaßt. 87
Der Vorwurf der Teleologie trifft Hegels System. Soweit indes der Fortgang zum absoluten Wissen als Abbildung der «Phänomenologie des Geistes" gedacht ist, besitzt die genannte These mindestens eine andere unterschwellige Bedeutung, die in Hegels Logik explizit abgehandelt ist. Sie entspricht dem wachsenden Fortschritt der Wissenschaften auf allen Gebieten, der zunehmenden Möglichkeit, bis dahin unbekannte Erscheinungen theoretisch zu fassen und daraus praktische Handlungsweisen abzuleiten. Die absolut fortschreitende Erkennbarkeit der Welt betrifft Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Insofern ist der Prozeß einer Annäherung an das absolute Wissen in der Hegeischen Philosophie nicht Abschluß der Geschichte, sondern, wie er ausdrücklich feststellt. Blick auf das bisherige Resultat. Da Hegel auch entgegen anderen Vorstellungen meint, Philosophie blicke grundsätzlich bloß nach rückwärts, liegt darin ein entscheidender Unterschied zu Marx. Soweit indes Hegel überhaupt von wissenschaftlichen Erkenntnissen spricht, ist zugebilligt, den intendierten Vorgang oder Sachverhalt anzunähern. Die Dialektik auf jedem Gebiet der Totalität gilt als objektiv und die damit zu erzielenden Resultate ebenfalls. Damit ist aber gerade die von Kojève subjektivistisch und agnostizistisch gedeutete These der doppelten Abstraktion betroffen. Sie beschreibt den Erkenntnisprozeß, der an das Allgemeine, die Gesetzmäßigkeit in den Naturobjekten, heranleitet und sich nicht von den Objekten entfernt oder gar davon ablenkt, wie es sich Kant in einigem vorstellte. Darin äußert sich die grundlegende Annahme der Hegeischen Identitätsphilosophie. Indem Marx zum dialektischen und historischen Materialismus überging, erhielt das gesellschaftliche Bewußtsein eine höhere Wertschätzung, als es der metaphysische Idealismus dem Verstände und der Vernunft zubilligt. Da die Marxsche Geschichtsphilosophie aber die Zukunft dem Denken erschließt und deren sich abzeichnenden Ziele aus Gegenwart und Vergangenheit ableiten, erweist sich erst recht in dieser Dimension eine Ausweitung auch gegenüber Hegel. Kojève wirft Hegels und Marx' monistischem Konzept im Grunde vor, daß sie die Welt als nicht abgeschlossen annehmen und damit jede Wissenschaft auf das Ende der Tage verschieben wollten.27 Unbeschadet der Annahme von Gesetzen in der Natur, erweist diese sich als schöpferisch wie die Gesellschaft, das , heißt, beide lassen Neues entstehen, das aufeinander aufbaut, in den relativen Schritten Momente des Werdens enthält, die Voraussetzung des weiteren sind. Gesetze sind dialektisch, wenn sie auch Regelmäßigkeiten darstellen, wenn sie stochastisch nacheinander oder nebeneinander in Erscheinung treten. Hegels Geschichtsphilosophie, soweit sie direkt ausgearbeitet wurde, blieb retrospektiv. Der rationelle Kern der Dialektik aber erschloß in dem Materialismus von Marx den Zugang zur rationalen Bewältigung in erster Linie der gesellschaftlichen Entwicklung. 27 Ebenda: „Si donc la Nature est créatice ou historique au même titre que l'homme, la vérité et la science proprement dites ne sont possibles ,qu' à la fin des temps'? Jusque-là il n'y a pas de savoir (Wissen) véritable, et on n'a que le choix entre le scepticisme (le relativisme, l'historisme, le nihilisme, etc.) et la foi (Glauben)."
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4. Vortrag
Aspekte der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte
Im Vergleich von Hegel und Marx hinsichtlich ihrer Geschichtsphilosophie ist festzustellen, daß sie beide unbedingt das Vorhandensein von Gesetzmäßigkeit annehmen. Vorbereitet ist diese Sicht durch lange empirische Erfahrung der Völker. Die Schicksale der Völker und Staaten finden sich bereits in der Mythologie niedergelegt. Aus den Ruinen vergangener Geschlechter entsteht so etwas wie unreflektiertes Geschichtsbewußtsein. Es ist über wechselnde Perioden bewußter oder unbewußter. Gehen Kulturen zugrunde, entstehen Vorstellungen eines Endes der Geschichte und einer endgültigen Abrechnung, wie sich aus den Dokumenten verfolgen läßt, die mit dem Beginn schriftlicher Überlieferung einsetzen. Mit dem Versuch, das Durchsetzen neuer Erscheinungen zu erklären, beschäftigen sich jeweils die Historiographen, die Chronisten, seien es Priester, Sänger oder Beamte. Mit Sir William Petty entstand der Versuch, statistische Kriterien zu finden, durch die geschichtliche Vorgänge und geschichtliche Taten einschließlich Politik und dem, was wir heute Ideologie nennen können, mefjbaz zu machen sind. Durch Giambattista Vico werden die verschiedenen Schicksale der Völker auf einen einheitlichen Nenner gebracht. Es entsteht tatsächlich so etwas wie eine Neue Wissenschaft. Der verdienstvolle Übersetzer der „Scienza Nuova" ins Deutsche nennt sie „Geschichtstheologie" und wendet sich gegen das tolle Mißverständnis, Vico sei ein verkappter Feind der Kirche gewesen und ein Vorfahre des italienischen Risorgimento. Die „Scienza Nuova" ist tatsächlich eine neue Wissenschaft, aber schwerlich als Theologie zu bezeichnen. Dieser Vorwurf wird sich im 20. Jahrhundert gegen alle Theorien erheben, die Gesetzmäßigkeit in der Gesellschaft annehmen. Vico weist umgekehrt - meines Wissens erstmalig - nach oder behauptet zumindest, daß Religion und Kirche in Verbindung mit der Entwicklung der verschiedenen Arten von Eigentum stehen und die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Schichten wahrnehmen, deren Eigenschaften er zu beschreiben sucht. In einer bemerkenswert willkürlichen Etymologie der Worte und Begriffe kommt Vico auf sinnvolle Zusammenhänge. Es ist nämlich wie bei William Petty, bei dem sich der merkwürdige Satz findet, in den Statistiken seien die verwendeten Daten meist ungenau oder falsch; man müsse sich nur wundern, daß trotzdem etwas Richtiges herauskomme. Das gilt bei Petty für langfristige Perspektiven, die sowieso eine große Varianz besitzen. 89
Heute ist man mit den Kriterien für Primärdaten vorsichtiger geworden, wenn es sich um kurzfristige Voraussagen handelt. Vico wird ebenso wie Petty nicht umsonst von Karl Marx erwähnt. Hegel übernimmt die Tradition von Kant. In Frankreich hat Montesquieu an die materiellen Grundlagen der Geschichte herangeführt. Nach einer sorgfältigen Durchsicht des „Geistes der Gesetze" („Esprit des lois") bin ich der Ansicht, daß Montesquieu nicht das geographische Milieu in der Geschichte für entscheidend hält und das schon gar nicht für eine Hypothese in Anspruch zu nehmen ist, die Nord und Süd gegenüberzustellen beabsichtigt. Ökonomie und Produktion finden indes bereits eine recht gründliche Berücksichtigung. In den Geschichtswerken Voltaires läßt sich unschwer das Beachten vom Einfluß materieller Kultur neben ideeller und rein politischer Zielsetzung feststellen. Gelegentlich finden sich regelrechte Analysen der ökonomischen Verhältnisse. In der herrlichen „Pucelle", der „Jungfrau von Orleans", geht die Satire in einer stets durchgehend geführten Debatte mit dem Klerikalismus bis zur direkten Kritik der politisch-gesellschaftlichen Strukturen. Ohne auch nur im mindesten Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, AI Farabi verdiente dann eine besonders ausführliche Analyse, läßt sich konstatieren, daß Hegel und Marx von zwei unterschiedlichen Aspekten her Strukturen der Gesellschaft untersuchen. Strukturen in diesem von Marx in der Vorrede zur „Kritik der politischen Ökonomie" verwendeten Sinne sind bis dahin1 nicht entdeckte Wechselbeziehungen und Sachverhalte der in der Theorie von Basis und Überbau gegebenen Problembereiche. Sie beziehen sich auf Prozesse, in denen sich signifikant unterscheidbare Veränderungen aus einer unübersichtlichen Mannigfaltigkeit herausbilden. Diese Mannigfaltigkeit ist als ursprünglich gegensätzlich, widerspruchsvoll, durchsetzt von gegenläufigen Tendenzen aufgefaßt, bei denen prinzipiell Absicht, Zwecksetzung und Wunsch sowie faktische Resultate auseinandergehen. Daß ein derartiges Gemenge von widerstrebenden Tendenzen in der Geschichte tatsächlich vorliegt, hat die These von Gottes unerforschlichem Ratschluß in verschiedenen großen Religionen festgehalten. Es ist nicht die Erfindung von Hegel oder Marx. Suchen die Religionen den Grund und die Ursache in ein spirituelles Jenseits zu verlegen, so beruhen die Vorstellungen von Hegel und Marx darauf, in dieser Welt die Gründe vorfinden zu können, durch die sich bestimmte Strukturen durchsetzen. In der Philosophie Hegels gilt dieser Grundsatz auch, obwohl eine außerhalb dieser Welt existierende andere Welt der absoluten Idee angenommen ist. Je nachdem, wie ernst man die Konkretheit dieser absoluten Idee annimmt, lassen sich daraus verschiedene Spielarten von Konservatismus ableiten. Da aber Hegel diese Welt für erkennbar hält, ist keinerlei Transzendieren in eine andere Welt nötig, um die Strukturen analysieren zu können, die den bisher abgelaufenen Gang der Geschichte durchschaubar zu machen geeignet scheinen. Was aber sind diese Gesetze und Gesetzmäßigkeiten? Diese Gesetzmäßigkeit anzunehmen bedeutet die Überzeugung, daß sich bestimmte Strukturen ausbil90
den, wobei die zugrunde liegenden einzelnen Gesetze nicht bekannt zu sein brauchen. Mindestens hat sich diese Vorstellung durchgesetzt, seitdem sich aus der Masse von Phänomenen durch das Verwenden von Datenmengen Strukturen errechnen und erschließen lassen, damit aber eine gewisse Beherrschbarkeit von Prozessen in Teilgebieten vorwiegend technischer Art erworben wird. Soweit Hegel aus Entfremdung und Entäußerung die Zurücknahme in den Geist analysiert, bezieht er alles ihm aus der Geschichte Zugängliche in diesen Prozeß ein. Materielle und ideelle Kultur verweisen prinzipiell aufeinander, wenn auch Hegel am meisten die Bewegung des allgemeinen Bewußtseins interessiert. Wenn Hegel über die römische Welt der Antike spricht, beginnt er indes folgendermaßen: „Napoleon, als er einst mit Göthe über die Natur der Tragödie sprach, meinte, daß sich die neuere von der alten wesentlich dadurch unterscheide, daß wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen unterlägen, und daß an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sey."1 Man solle demnach die Politik als das neuere Schicksal in der Tragödie gebrauchen. Nach wie vor aber bleibt die wesentliche Entdeckung der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte erhalten, daß sich nämlich hinter dem Rücken der Beteiligten Gesetze durchsetzen. Sie können durchaus bekannt sein, dann versucht man sich auf sie einzustellen. Mindestens müssen sie anerkannt werden. Wenn es gegenwärtig in verschiedenen führenden Ländern des Kapitalismus so etwas wie Planung gibt, so erweist sie sich als eine der wichtigsten Bemühungen, die zyklischen Krisen abzufangen, was indes ebenso scheitert wie das Vermeiden politischer Krisen. Es sind vornehmlich zyklische Schwankungen in der Produktion, die Preise und Beschäftigung einbeziehen. Die US-amerikanische Ökonomie erkennt mindestens seit Samuelson die Existenz solcher Zyklen an. Die Regelung ökonomischer Prozesse geht von der Voraussage solcher zyklischen Veränderungen aus, um von dort her die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen auf dem Kreditmarkt abzustimmen. In den sozialistischen Ländern werden Prognosen durchgeführt, die sich auf die Strukturen der Entwicklung von Wissenschaft und Technik beziehen und daraus Entscheidungen ableiten, die mit dem Einsatz des •gesamten Staatsinteresses durchgeführt werden, zum anderen aber weltpolitische Perspektiven betreffen. Ihre Grundlage ist der staatliche gesellschaftliche Plan. Für das Benutzen solcher Gesetze der Entwicklung in Ökonomie, Wissenschaft und Technik gilt, daß die Voraussagen nicht nach allen Parametern bestimmt sind. Wie Einstein vergebens nach den verborgenen Parametern suchte, verhält es sich auch hier. Eine neue wissenschaftliche Entwicklung mag zwar „in der Luft liegen", ist aber in ihrer Spezifik prinzipiell nicht voraussagbar. Das ist eine der wichtigsten Entdeckungen von Gesetzmäßigkeit, die mit der Einheit von Zufall und Notwendigkeit zusammenhängt. In der Dialektik von Feld und Ereignis spiegelt sich erkenntnistheoretisch dieser objektive Sachverhalt in der 1 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 361.
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materiellen und ideellen Wirklichkeit. Die Voraussagen von Marx verhalten sich, ähnlich. Es sind Wahrscheinlichkeitsstrukturen, in denen dem Handeln von Massen ein besonderes Gewicht zugemessen ist. Die Revolutionen der Bourgeoisie gegen den Adel sind übertragen auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Nichtbesitzer von Produktionsmitteln in der Industrie gegen deren Besitzer stehen. Das Durchsetzen anderer gesellschaftlicher Strukturen ist als ein Vorgang aufgefaßt, der aus gesellschaftlicher Handlung, Einsicht und allgemeiner Kenntnis besteht. Daß es sich um eine vordergründig gewordene Politik handelt, die in dieser Form zuvor nicht existent war, machte sich bereits Hegel verständlich und ist eines der Ergebnisse der Französischen Revolution. Die Notwendigkeit von Prozessen ist bei Marx als Resultante auch zufälliger Ereignisse aufgefaßt. Sie ist auch dann keine mechanistische Folge von Ursache und Wirkung, wenn Hegel und Marx von Notwendigkeit sprechen. Das von Hegel besonders betonte Verkörpern des „Weltgeistes" in einzelnen Völkern bezieht sich auf die Vielfalt der Bedingungen und Aktionen, die nicht überall zur gleichen Resultante gelangen. In Indien sprengt erst gegenwärtig das Einführen moderner Landwirtschaft die alten Gruppengemeinschaften, die sich um die jahrtausendealten Bewässerungseinrichtungen gebildet haben. Ich sage ausdrücklich nicht Stammesgemeinschaften, da das Primäre offensichtlich die Art und Weise der Bewässerung ist. Im Irak wie in Ägypten sind sie schon früher verfallen und haben nicht in den Strom der modernen Entwicklung der Industrie geführt. Erst nachträglich erfolgte der Reimport aus Landschaften, Kulturen und Klassenbedingungen, in denen sich andere Voraussetzungen herausgebildet hatten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß um das Jahr 1000 und zum Teil in der Mitte des 12. Jahrhunderts arabisch sprechende Gebiete den christlichen Territorien der ost- und weströmischen Tradition noch weit überlegen waren. Die französischen Arabisten haben besondere Verdienste, die Wechselwirkung zwischen der Blütezeit eines zu Wissenschaft und Hochkultur neigenden Islam und der christlichen Welt der Siger von Brabant, Thomas von Aquino, Bonaventura, Alexander von Haies und vieler anderer herausgearbeitet zu haben. Der deutsche Wissenschaftler Max Horten erschloß bereits vor dem ersten Weltkrieg die begleitenden geistigen Auseinandersetzungen in seiner Übersetzung der „Zerstörung der Zerstörung" („Destructio destructionum"), die wie die Aristoteleskommentare des Averroes über das Hebräische in das Lateinische übertragen und damit wesentlichen Teilen Europas zugänglich gemacht wurde. Für Karl Marx ist charakteristisch, daß alle die in Basis und Überbau angeführten Parameter als nebeneinander wirksam aufgefaßt sind. Welche Parameter besondere Bedeutung besitzen, kann sich dabei ständig verändern. Es handelt sich also um einen Katalog von Merkmalen, bei dem die materiellen Sachverhalte und Randbedingungen nie außer acht gelassen werden dürfen, die anderen indes ihre wechselnde Bedeutung besitzen. Lenin behandelt organisatorische Strukturen, die willentlich gesetzt werden, ebenfalls als materiell. Die unterschiedliche Funktion der verschiedenen Parameter in Basis und Überbau er92
scheint als eines der Elemente der Dialektik, die in der konkreten Analyse einer bestimmten Situation besondere Beachtung erfahren. Einer der wesentlichen Gesichtspunkte der gegenwärtigen Entwicklung der jungen Nationalstaaten besteht z. B. in den meisten Fällen in dem Fehlen einer einigermaßen entwickelten Arbeiterklasse, was nicht hindert, daß die betreffenden Länder in den Entwicklungsprozeß der einen Welt hineingerissen sind und die aus dem Entstehen von industriellem Bürgertum und Arbeiterklasse erzeugten Widersprüche zum Teil noch vor sich haben, wenn sie ihren Weg nicht auf sozialistische Entwicklung einstellen. Ob ein Widerspruch innerhalb der Entwicklungstheorie von Marx zwischen Materialismus und Geschichtlichkeit bestehe, ist gelegentlich Gegenstand der Diskussion geworden. Offensichtlich spielt dabei eine Rolle, was eigentlich unter Materialismus verstanden wird. Die Objektivität von Strukturen ergibt sich dabei als das Entscheidende. Jene Frage nach Gesetzmäßigkeit erhält dabei ihre Antwort. Ist die Objektivität von Strukturen anerkannt oder beweist sie ihre Existenz in den Naturwissenschaften, den Disziplinen der Technik und den Gesellschaftswissenschaften, so liegt ein materialistisches Fundament vor. Ob diese Strukturen bewußt als materiell anerkannt werden oder nicht, spielt für ihr tatsächliches Wirken eine geringere Rolle. Jedenfalls hat die Geschichte des Materialismus auf das Erkennen der Objektivität hingewiesen. Mit der subjektiv-idealistischen Interpretation von Kant hat sich die objektive Wirkung der Strukturen für das gesellschaftliche Bewußtsein nur verstärkt. Die Subjektivität von Konstruktionen in Hypothese oder Theorie hat ihre Bewährung an einer vom Bewußtsein zwar ausgewählten, aber unabhängigen Außenwelt erst recht zum Prinzip erheben müssen. Die nach der langfristigen Hegelrenaissance einsetzende Hegelkritik versucht gerade an solchen Gesichtspunkten anzusetzen, die sich innerhalb der Geschichte der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Praxis und der Philosophie hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzten. In der BRD erscheint eine gegen Hegel gerichtete Serie von Arbeiten, die von Werner Becker stammt, einem Schüler Adornos, der sich gegen Adorno wendet. Er polemisiert unter anderem gegen zweierlei, das allerdings bereits oft gegen monistische Philosophien vorgebracht wurde: gegen die Identitätsphilosophie überhaupt und den sogenannten „Prozeßgedanken".2 Wahrheit als Prozeß erscheint der Bedeutung zu widersprechen, die formale und besonders mathematische Logik gegenwärtig gewonnen haben. Daß mathematische Logik in den Naturwissenschaften auf ein sich ständig in unterschiedlichem Rhythmus entwickelndes Wissen angewendet wird, bleibt dabei unerörtert. Der Streit zwischen Philosophy of science und Theoretikern des Operation Research spielt sich dabei in den Gefilden der ökonomischen Praxis ab, weniger in der militärischen Technik, die anwendet und kaum philosophisch diskutiert. Es sei darauf ver2 W. Becker, Hegels Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1971, S. 138/139.
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wiesen, daß seit Kant und in den modernen Disziplinen das Konstruieren von Modellen zum Zweck von Darstellung, Abbildung und Entwurf große Bedeutung besitzt. Dieses Konstruieren bedeutet das Entwerfen von Modellen, die getestet werden. Hegel entwarf sein Modell der Entwicklung des allgemeinen Bewußtseins auf der Grundlage zahlreicher anderer Vorstellungen, die er in der »Phänomenologie" Revue passieren läßt. Als Marx die Schemata erweiterter gesellschaftlicher Produktion fand und diskutiert, hatte er den Versuch von Quesnay und überhaupt die Theorie der Physiokraten vor Augen, an denen er seine Strukturen konstruierte. Bei Quesnay und Marx liegt die Idee vor, gesamtgesellschaftliche Prozesse zu analysieren. Die Totalität der Gesellschaft zu erfassen wird gelegentlich dann als unmöglich erklärt, wenn die Meinung vorliegt, es sollte die gesamte Mannigfaltigkeit zugrunde liegen und abgebildet werden. Es handelt sich aber stets nur um eine Auswahl aus der Mannigfaltigkeit, nämlich um Strukturen, Abbilden heißt, Merkmale und Gestalten erfassen. Es sind Verfahren, die Friedrich Engels als zur Hypothese gehörig unter die Entwicklungsformen der Naturwissenschaft rechnet. 3 In der Erkenntnistheorie der Dialektik ist eine Zusammenfassung unterschiedlicher Vorgänge vollzogen, die den Widerspruch nichtkontradiktorischer Art auch in den Erkenntnisprozeß selbst einbezieht. Werner Becker erneuert den schon von Karl R. Popper erhobenen Vorwurf, Hegel sei im Grunde seines Herzens konservativ und nicht progressiv. M a r x trennte bekanntlich konservatives System von revolutionärer Methode. Hegelscher Konstruktivismus kann sich auf beiden Niveaus bewegen, und die Deutung seiner Absichten erfordert jeweils Interpretation, deren Schlüssel Hegel selbst mitgibt. Soweit Entwicklung gemeint ist, liegen Momente vor, die darstellen, wie innere Widersprüche über die vorhandene Repräsentation der Vernunft jeweils hinausdrängen. Friedrich Engels spricht von relativem Konservatismus und absolut revolutionärem Charakter dialektischer Philosophie. 4 Damit hängt die andere von Becker wieder aufgeworfene Frage zusammen, wie denn die Identität von Objekt und Begriff innerhalb der Identitätsphilosophie zu verstehen sei. Die alte aristotelische These, Wahrheit sei die Übereinstimmung von Begriff und Sache, erfährt damit eine erneute Behandlung. Lenin spricht, wie vorher der Mediziner Virchow, vom Kopieren der Dinge und entwickelt die Dialektik der Aneignung äußerer Objekte. Zuvor war bereits klar, daß eine Entsprechung von Begriff und Sache vorliege. Die Kernphysik wendet übrigens buchstäblich nichts gegen das Photographieren von Stoßprozessen ein, durch das Teilchen entdeckt werden. Klar ist von vornherein, daß eine Photographie ebensowenig wie begriffliche Repräsentation mit der materiellen Sache vollständig identisch ist. In der „Phänomenologie" Hegels und in seiner „Philo3 F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1972, S. 499, 507, 520. 4 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, a. a. O., S. 268.
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sophie der Geschichte" entspricht ein Begriff jeder der Stufen in der Entwicklung der Vernunft der Sache, die er repräsentiert. Da aber in jedem Zustand Momente vorhanden sind, die über ihn hinaustreiben, nimmt Hegel an, daß jede dieser Verwirklichungen der Vernunft über den früher analysierbaren Zustand hinaustreibt. Bewegung ist als Grundeigenschaft des Ideellen und des Materiellen angenommen. Damit aber erfaßt Hegel in der Philosophie eine der Grundeigenschaften, die sich bereits dem Bewußtsein aufdrängten mit einem wesentlichen Unterschied, daß sich nämlich in der Geschichte eine Richtung nachweisen lasse. Vermutet Theologie und ihr zugrunde liegende Religion eine außerweltliche Zielrichtung, so wird diese bei Hegel innerweltlich, wenn er sich auch nicht von der idealistischen Konstruktion der absoluten Idee trennen konnte. Das Konstruieren als solches erweist sich indes mehr als hundert Jahre später als ein Moment des wissenschaftlichen Denkens außerhalb der Philosophie, wobei häufig die anderen Disziplinen glauben, eine neue Entdeckung gemacht zu haben. In dem Identitätsprinzip zwischen Sache und Begriff ist durch die Dialektik zugleich die Entwicklung von Sache und Begriff enthalten. Bei Aristoteles existiert diese Einsicht noch nicht. Inzwischen aber hat sich seit dem 18. Jahrhundert gerade dieser Gesichtspunkt durchgesetzt, ebenfalls unabhängig davon, wieweit dieser Sachverhalt in das Bewußtsein der an der Entwicklung der Wissenschaften beteiligten Forscher eingeht. Becker aktiviert in sicherlich verfehltem Verständnis den kartesianischen Zweifel5, weil er entdeckt, daß jede Form von Wirklichkeit außerhalb des Subjektes und unabhängig von seinem Bewußtsein dem Zweifel ausgesetzt ist. Genau dieser Gesichtspunkt ergibt sich bei allen empirischen Disziplinen. Das Dialektische von empirischer Erkenntnis besteht indes darin, daß die über Gegenstände außerhalb des Subjekts vorhandene wissenschaftliche Erkenntnis eine gewisse Objektivität in sich birgt, aus der Anwendbarkeit hervorgeht. Becker steht übrigens auf dem von den Neopositivisten eingenommenen Standpunkt, Kant habe radikal jede Erkenntnis von Gegenständen subjektiviert. Daher kommt es, daß Becker den Konstruktivismus verwirft, nämlich soweit er sich gerade auf die Gegenstände bezieht, die sich außerhalb des Subjektes befinden. Die empirischen Bestimmungen sieht Becker demnach als nur äußerlich an die Theorie Hegels herangetragen an. In der Dialektik der Welt der Sachen und Begriffe vollzieht sich indes in jeder Erkenntnis dieser Schritt vom Gedanken zur Welt der geschichtlichen Ereignisse oder der Naturvorgänge und muß im gesellschaftlichen Bewußtsein und nicht zuletzt auch in der gesellschaftlichen Praxis zur Verarbeitung kommen. Dieser Schritt von der Theorie zur Empirie und umgekehrt von der Empirie zur Theorie enthält stets einen Übergang und eine Kluft, die ausdrücklich auch im Bewußtsein vollzogen werden müssen. Die Identitätsphilosophie Hegels setzt sich vom Gegenstand der menschlichen Geschichte her gerade mit diesem Gesichtspunkt auseinander. Wie in der mo5 W. Becker, Hegels Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 47.
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dernen Entwicklung der Wissenschaften und ihrer Anwendung dieser Gedankensprung immer wieder nötig ist, so entzündet sich daher auch immer wieder die Kritik an jeder Identitätsphilosophie, sei sie idealistisch wie bei Hegel oder materialistisch wie bei Marx. Damit ist aber zugleich das von Werner Becker angesprochene Problem der Objektivität der Wissenschaften berührt. Becker meint, Hegel habe jede Objektivität zu Fall bringen wollen. Er erwähnt die Vorstellung von Objektivität in den Naturwissenschaften und stellt sie der angeblich grundsätzlich fehlenden Objektivität in den Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften gegenüber. Von der Soziologie und ihrer Feldforschung her ist bekannt, daß das Untersuchen von empirischen Fakten kleiner Gruppen die Notwendigkeit theoretischer Über : legungen nicht ausschaltet. Auch Dürkheims Untersuchung des Selbstmordes konnte dieses Problem nicht verhindern, obwohl ihren Resultaten eine über lange Zeiträume hinaus gültige Bedeutung zuzukommen scheint. In den Naturwissenschaften äußert sich die Dialektik von Objektivität und relativer Ungültigkeit der Resultate in dem Streit der Schulen. Gelegentlich heißt es, manche Auffassungen stürben erst mit ihren Begründern oder ihren Repräsentanten aus. In der Biologie ist die Genetik ein solches Feld. Die These von der Vererbung erworbener Eigenschaften hielt sich bekanntlich weit über das 19. Jahrhundert hinaus, obwohl sie bereits durch Maupertuis in der Mitte des 18. Jahrhunderts gleichsam vorsorglich überholt war, wenn man so sagen darf. In der Quantenmechanik ist die Auseinandersetzung von Planck und Einstein mit der Kopenhagener Schule bekannt, in der letztere sich durchsetzte. Ein philosophisch weniger gravierendes Beispiel ist die Lehre Wegeners von der Kontinentalverschiebung, in der die veränderte Gestalt der Plattentektonik hervorragende Geltung für das Verständnis der mineralischen Lagerstätten fand. Das Anwenden der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist heute im Vordringen und erreicht zuvor unerschlossene Terrains, obwohl eine Aufnahme in das wissenschaftliche philosophische Bewußtsein noch aussteht und obwohl das entsprechende Denken jeder Darstellung gesellschaftlicher Gesetze für Gruppen oder umfassendere Strukturen zugrunde liegt. Objektivität ist auf jeden Fall ein Prozeß und impliziert Parteilichkeit, sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Gesellschaftswissenschaften und erstreckt sich auf das gesellschaftliche Handeln. Daß Hegel in der Analyse aufeinanderfolgender Niveaus des Bewußtseins auf derartige Problemstellungen traf, ist also keinesfalls als Äußerung eines besonders konservativen Denkens aufzufassen. Bei der Analyse von Strukturen wird immer wieder ein Gegensatz zu Problemen der Entwicklung gesehen. Es fragt sich, ob dafür ein zureichender Grund angegeben werden kann. Die Ergebnisse von Claude Lévi-Strauss über Fragen der Familienstruktur sind dafür charakteristisch. Offensichtlich handelt es sich um eine echte Entdeckung, nachzuweisen, daß es in der Struktur früherer Gesellschaften vor dem Entstehen der Klassen und des Staates keinen Entwicklungszug etwa von der Polygamie zur
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Monogamie gebe. Vielmehr stellt sich heraus, daß auf dieser Stufe nebeneinander jede der möglichen Kombinationen von Hierarchie und Zusammengehörigkeit verwirklicht sein kann. Sicherlich liegt die gleiche Möglichkeit der unterschiedlichen Kombinationen von Parametern auf jeder anderen Stufe der Entwicklung vor. Unbeschadet dieser Entdeckung ergibt sich mit dem Übergang zur Klassengesellschaft bzw. zur Bildung von Staaten ein Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrrecht. Das geschieht vielleicht bloß in ausgeprägter Form in der griechischen Antike. Dort aber findet der Übergang literarischen Niederschlag in der Orestie des Äschylos. Zu begründen ist dann für eine Darstellung der Geschichte, warum gerade dort und überhaupt die von Lévi-Strauss entdeckte Gesetzmäßigkeit keine Gültigkeit mehr besitzt. Daß es sich bei Lévi-Strauss um eine Gesetzmäßigkeit handelt, die er entdeckte, scheint mir klar. Da alle Vorgänge, die bedingt zufällig verlaufen, Regelmäßigkeiten sind, die gerade in der Gesellschaft als Erscheinungsform von Notwendigkeit und Zufall die wesentliche Form der Gesetze darstellen, gilt das gleiche auch für den Tatbestand der Familien- und Verwandtschaftsstruktur. Daß es sich bei dem Vordringen der Gleichberechtigung der Frau um den Beginn der Abschwächung des Vaterrechts handelt, scheint mir sicher. Allerdings läßt sich nur der Tatbestand einer Veränderung gegenwärtig vermerken, und erst in einem späteren Jahrhundert wird sich feststellen lassen, wie weit sich darin ein gesellschaftlicher Prozeß darstellt, der absolute Gültigkeit beanspruchen darf. Der Zusammenhang von selbständiger Arbeit und Rechtsgeltung ist gegeben. Die Arbeit der Frau verändert nicht nur die Verhaltensweise und die Sexualbeziehungen, sondern auch ihre Position als Rechtssubjekt. Darüber hinaus aber können sich Verschiebungen einstellen, die gegenwärtig nicht zu übersehen sind. Die Beziehung zur Arbeit ist jedenfalls Hegel und Marx eigen. Die konkrete, nicht bloß abstrakte Arbeit bringt Modifikationen mit sich, die über die rein theoretisch mögliche Konstruktion hinausgehen und deshalb gesondertes Studium verlangen. Im Sinne von Marx bestimmen die Eigentumsverhältnisse als juristischer Ausdruck der Produktionsverhältnisse die verschiedenen Erscheinungen des Überbaus. Nicht zu vergessen ist indes, was Marx in der Einleitung zur „Kritik der politischen Ökonomie" über das empirische Auftreten von Kategorien und ihrer Position innerhalb der logischen Ableitung ihrer Zusammengehörigkeit sagt. Vergleichen wir die von Claude Lévi-Strauss stammenden zwei Definitionen aus dem „Wilden Denken" und der „Strukturalen Anthropologie", die Derrida in der „Grammatologie" benutzt: „... zwischen Praxis und Praktiken schaltet sich immer ein Mittleres ein, nämlich ein hegriüliches Schema, durch dessen Operation eine Materie und eine Form, obwohl beide nicht unabhängiger Existenz, sich zu einer Struktur zusammenlügen wie in einem empirischen und intelligiblen Wesen."6 6 J. Derrida, De la grammatologie, a. a. O., S. 173: „. . . entre praxis et pratiques s'intercale toujours un médiateur qui est le schème conceptuel par l'opération 7
Ley, Bewußtsein
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Die andere Stelle aus der „Anthropologie structurale" lautet: „In erster Linie bietet eine Struktur Systemcharakter. Sie besteht aus Elementen, bei denen die Modiiikation eines Elements die Modiiikation aller anderen nach sich zieht."1 Nehmen wir an, die Beziehung zwischen Materie und Form lasse sich als das Verhältnis von Elementen und ihren Relationen auffassen, die eine Menge konstituieren sollen. Da es sich in der Analyse der Gesellschaft erst sekundär um Mathematik handelt, wie in der Ökonomie und historisch auch in der Linguistik ersichtlich ist, entsprächen den Elementen in der Basis-Überbau-Theorie die verschiedenen inhaltlich bestimmten Kategorien. Sie sind jeweils Zusammenfassung einer Menge differenter Erscheinungen, die man unter eine Kategorie subsumiert. Innerhalb der Gesellschaft sind diese Kategorien nicht getrennt, sie werden erst für das Bewußtsein selbständige Kategorien durch die theoretische Behandlung empirischen Stoffes. Sie stehen untereinander in Beziehungen sehr vielfältiger Art, die theoretisch vereinzelt werden. Das begriffliche Schema, dem diese einzelnen Aktionsgruppen innerhalb der Gesellschaft „gehorchen", findet sich in der gesellschaftlichen Praxis nicht getrennt vor. Die Theorie ist bemüht, die einzelnen Relationen herauszupräparieren, um zu verstehen, welche Art der wechselseitigen Einwirkung vorliegen muß. Läßt sich das Herausbilden von bestimmt geltenden Systemen der Verwandtschaft als Permutation behandeln, so läßt sich in der gesamten Gesellschaft nicht die gleiche Strenge finden. Allerdings kann man auf diese Weise, wenn man so will, bestimmen, welche vielfältigen Einflußmöglichkeiten vorliegen, um sich davon zu überzeugen, welche Parameter man vernachlässigt, wenn bestimmte Wechselbeziehungen besonders hervorgehoben werden. Die intelligiblen Strukturen brauchen weder für Hegel noch für Marx stets auch empirisch vorhanden zu sein, wenn es sich um die Herausbildung eines Prozesses handelt. Da gesellschaftliche Entwicklungen in keinem Falle in jedem Lande völlig identisch sind, werden sogenannte klassische Fälle von den nichtklassischen unterschieden. Da Marx diesen Sachverhalt ausdrücklich ausgesprochen hat und Hegel feststellte, daß nur in einigen Ländern nacheinander sich der „Weltgeist" offenbart, gilt für beide allgemein, daß die Strukturen historisch empirisch unvollständig auftreten. Die vorhandenen Lücken werden dann allerdings in der Regel durch weiteres Bestehen von Institutionen oder sonstigen Verhältnissen älterer Gesellschaftsformationen ersetzt bzw. ausgefüllt. Dieser Sachverhalt gilt demnach ebenfalls als Gesetzmäßigkeit. Es sind das keine mathematisch formulierten Gesetze, sondern Erfahrungswerte, die aber die Stringenz duquel une matière et une forme, dépourvues l'une et l'autre d'existence indépendante, s'accomplissent comme structure, c'est-à-dire comme êtres à la fois empiriques et intelligibles." 7 Ebenda, S. 306: „En premier lieu une structure offre un caractère de système. Elle consiste en éléments tels qu'une modification quelconque de l'un d'eux entraîne une modification de tous les autres." 98
wesentlicher Beziehungen oder Verhältnisse besitzen. Es ist das die kategoriale Bestimmung, die Hegel und Marx ausdrücklich für ihre Interpretation der Gesetze zugrunde legen. Unabhängige Existenz besitzen die verschiedenen Elemente in der realen Gesellschaft nicht. Soweit sie von Veränderungen der Relationen zwischen anderen Elementen beeinflußt werden, kann sich herausstellen, daß einige der Elemente unverändert bleiben. In kybernetischem Sinne ließe sich das ohne weiteres verstehen. Es wäre dann ein Fall von Ultrastabilität, der einzelne Gruppen von Erscheinungen innerhalb der sich verändernden Gesellschaft beträfe. Es läge also eine Struktur in der Gestalt der vorgegebenen Definitionen vor, da natürlich auch in der abgewandelten Weise das konkrete Gefüge auf jeden Fall empirisch und theoretisch darstellbar bleibt. Ein Unterschied besteht allein darin, daß eine Theorie über den totalen Prozeß einer bestimmten Entwicklung nicht in jedem ihre Bestandteile der materiellen und ideellen Wirklichkeit aufgefunden werden kann. Hingegen ist es möglich, den konkreten Fall empirisch zu untersuchen und seine konkret vorgefundene Struktur auch theoretisch abzubilden. Insofern läßt sich von System sprechen, und zwar unabhängig davon, ob der theoretisch konstruierte Fall vorliegt oder irgendeine der historisch entstandenen Modifikationen. System bedeutet im technischen Sinne das Vorhandensein von irgendeiner der Formen von Determination, wenn sie nur nicht ausschließlich mechanistisch verstanden wird. Dieses System muß gestatten, alle Formen von Übergangswahrscheinlichkeiten einzubeziehen. So viel mag genügen, um anzudeuten, daß eine Theorie über die Gesellschaft nicht ohne weiteres mit mathematischen Fachausdrücken zu belegen, schon gar nicht aber zu erschöpfen ist. Andererseits besteht die Möglichkeit, mit beliebig verfügbaren mathematischen Strukturen gesellschaftliche wie naturwissenschaftliche Prozesse zu approximieren. Dabei entfallen ebenso Bestandteile der vorhandenen objektiven Mannigfaltigkeit wie bei der verbalen und begrifflichen Untersuchung, die stets in einigem der Anwendung von Quantifizierung vorausgegangen sein muß. Bekanntlich hat sich in verschiedenen Wissenschaften ergeben, das Klassifizieren nach Merkmalen setze stets voraus, daß sehr viele nicht reflektierte andere Merkmale unbewußt benutzt werden. Es sind solche, die sich im Fortschreiten der Erkenntnis als selbstverständliche Untersuchungsmerkmale herausstellten, dann aber nicht ausdrücklich erneut durchdacht zu werden brauchen. In empirischen Disziplinen beginnt auch die logische Darstellung historischer und damit empirischer Prozesse nicht stets bei Adam und Eva. Diese Sachverhalte liegen etwas anders, wenn wir etwa an das Anliegen Michel Foucaults denken, das er in den „Worten und den Sachen" und in der „Archäologie des Wissens" behandelt hat. In der merkwürdigen Klassifikation von Borges8, die Foucault heranzieht, gibt 8 J. L. Borges, Das Eine und die Vielen, München 1966, S. 212.
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es unter den Tieren solche, die dem Kaiser gehören, einbalsamierte, in Freiheit lebende Hunde, und solche, die wie Fliegen aussehen. Klassifizieren kann willkürlich sein und bleibt es stets mindestens hinsichtlich der Intention, die aber nicht minder objektiv denn die Objekte ist. Entsprechend ist aber nicht der Anschein, sondern der objektive Grund der klassifizierten Objekte und der Zweck der Klassifikation. Beide Momente vermögen objektiv zu sein. Tatsächlich lassen sich logische Klassen sehr verschiedener Art bilden. Die in Hegels und Marxens Geschichtsphilosophien vorgenommenen Klassifizierungen beziehen auf jeden Fall in der Gesellschaft tatsächlich vorkommende Sachverhalte ein. Es wird aber bekanntlich darüber gestritten, ob eine Einteilung nach bestimmenden Eigentumsverhältnissen oder dem Verhältnis von Gruppen von Individuen zu den Produktionsinstrumenten zulässig sei oder nicht. Eine andere Frage ist die Aktivität im Klassenkampf, die in den verschiedenen Ländern verschieden ist. Das war sie aber auch bereits zu den Zeiten von Marx. Nach 1854, jener Zeit nach dem kalifornischen Goldrausch, wäre es Marx nie in den Sinn gekommen, die englischen Arbeiter nicht als der Arbeiterklasse zugehörig zu betrachten, obwohl er sie als Arbeiteraristokratie klassifizierte. Davon abgesehen, ist es aber auf jeden Fall gerechtfertigt, verschiedenste Beziehungsgefüge aufzudecken. Bei Brecht gibt es den Begriff der Verfremdung, die nicht das gleiche wie Entfremdung bedeutet. Vielmehr thematisiert er neben anderem exemplarischem Hervorheben moralische oder gesellschaftliche Probleme anderer Art, in denen lehrmäfjig und analog bestimmte Thesen nahe gebracht werden sollen. Ähnlich lassen sich für historische Niveaus aus der Sprache sonst nicht berücksichtigte Relationen ergründen, die sich dann als signifikant herausstellen können. Brecht geht auf solche Bedeutungen in seinen verschiedenen Stücken ein, indem er Relationen konstruiert, die mit Bedeutung geladen sind und Menschen sehr vieler Länder und Ordnungen anzusprechen vermögen. Wenn sich Foucault auf die Sprache und die in ihr zu findenden Aussagen und Relationen bezieht, dann mag auf den Vergleich zwischen dem Marquis de Sade, den „120 Tagen", einer vergleichenden Anatomie und der ökonomischen Historizität eingegangen werden. Foucault9 läßt Sade eine Gedankenfolge konstituieren, die entgegengesetzt sei jeder der Begriffsbildungen, die an die Formierung einer ökonomischen Historizität gebunden war. 10 Einfluß von materieller Produktionsweise existiert bereits vor der Fassung ökonomischer Entwicklung in Begriffen. Die von Sade geschilderte Verhaltensweise dürfte wesentlich älteren Datums sein, als es der Termin der Abfassung der „120 Tage" ausweist. Als literarisches und wissenschaftliches Faktum aber bedeuten Sade und die ökonomische Historizität Quesnays, Turgots und Neckers fast parallel auftretende Erscheinungen. 9 M. Foucault, Les mots et les choses, a. a. O., S. 290/291. 10 Ebenda, S. 291 : „On voit se constituer ainsi une pensée qui s'oppose, presque en chacun de ses termes, à celle qui était liée à la formation d'une historicité économique."
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Aus der „Deutschen Ideologie" wird ersichtlich, wie es - gelegentlich auch heute - nicht ohne weiteres üblich ist, gesellschaftliche Prozesse des Oberbaus mit dem Bereich der Ökonomie in Beziehung zu setzen. Was aber nebeneinander an Wissenschaft und Literatur, an theoretisch erfaßtem und nur im Volksverhalten gängigem Material vorliegt, ist durchaus der wissenschaftlichen Beschreibung angemessen. Es dient wesentlicher Charakterisierung. Was Gesellschaften an Fakten unterdrücken, ist einer Archäologie durchaus wert. Immerhin stellt Sade eine Verhaltensschicht bloß, die in den meisten Ländern als pathologisch gewertet wird und dazu auffordert, den Arzt in Anspruch zu nehmen, der den Richter zu ersetzen vermag, wie bekannt ist. Erst im übertragenem Sinne wird Sade zu einem Symbol der unvermindert gegenwärtigen Brutalität, das so gar nicht an Rousseaus lyrische Landschaftsbeschreibungen, eher an Sades Glorifizierung des Schreckens und Rousseaus manifeste Impotenz erinnert. Das Nebeneinander schon in einer Person, das die Konfessionen Rousseaus und Augustins enthüllen, verweist auf die Konstanz über viele Jahrtausende, auch derer, aus denen keine literarischen Dokumente überkommen sind. Noch nicht lange ist es her, daß Folterungen Volksschauspiele waren. Zu erwarten, daß inzwischen eine vollständige Veränderung der menschlichen Natur eingetreten wäre oder stark wirkende gesellschaftliche Hemmungen sich durchgesetzt hätten, wäre unrealistisch. Die Begründung einer Geschichte der Ökonomie ist noch realiv jung. Noch jünger allerdings zeigt sich die wissenschaftlich erhobene Forderung, sozialökonomische Strukturen in Darstellungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gebiete einzubeziehen. Bisher zeigt sich eher die Tendenz, nach kurzem kulturgeschichtlichem Zwischenspiel und einigen Ansätzen entsprechender Analyse wieder damit aufzuhören. So verstehe ich jedenfalls das Anliegen Foucaults. Indessen meine ich, daß das eine das andere nicht ausschaltet. Strukturen, die noch zu entdecken sind, erscheinen mir unendlich viele. Aus meiner Erfahrung habe ich den Eindruck gewonnen, daß Geschichte außerordentlich gewinnt, wenn sie nicht bloß eingleisig daher fährt. Dabei handelt es sich nicht nur um kollektiv zu gestaltende Unternehmungen. Gemäß der Forderung von Hegel und Marx sollte einiges aus dem von ihnen entdeckten Gebiet der Strukturen zum allgemeinen Bewußtsein gehören, worin keiner auf Grund seines Berufes zu dispensieren wäre. Es sind Gesetze, die in die gesamte unterschiedliche Realität der Gesellschaft und der Natur eingreifen. Wissenschaftliche Leistung ist ein Resultat menschlicher, gesellschaftlicher Entwicklung. Erkannte Gesetzmäßigkeiten sind aus der Verschiedenheit herausgehoben. Entdeckte man bisher wenig oder gar nicht behandelte Fakten und Strukturen, dann sollte man sie gründlich untersuchen, auch wenn es sich um nicht geläufige Resultate handelt. Das gilt für Sade und die ökonomische Historizität. Bei Foucault findet sich dazu noch der fehlleitende und verschrobene Gedanke eines „Endes" der Geschichte und einer „Unendlichkeit" des Lebens.
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Hegel und Marx haben in dem Aufdecken von Gesetzen der Gesellschaft gerade versucht klarzustellen, daß es ein solches Ende der Geschichte nicht gibt, wenn auch bestimmte Gestalten der Geschichte aufhören zu existieren und neue Gestalten entstehen. Ist die Unendlichkeit des Lebens bloß als synchrone Struktur gemeint, so wäre daran zu erinnern, daß die Vertiefung historiographischer Chronologie noch sehr jung ist und erst im Begriffe scheint, neue Gebiete zu erschließen. Eine Bereicherung ist von synchronischen Querschnitten zu erwarten, die Muster einer Ordnung zu bestimmtem Zeitpunkt zu geben geeignet sind. Der zeitliche Längsschnitt ist aber davon nicht zu trennen. Für die gesellschaftliche Handlung erhebt sich aber ununterbrochen die Frage, wie für den nächsten Zeitpunkt zu entscheiden ist. Die Folge von Projekten in ihrer Entwicklung zu erfassen, ist Gegenstand einer auf Entwicklung angelegten Geschichte. Reflektierte der philosophische Idealismus das Handeln des Menschen früher als der philosophische Materialismus, so erweist sich heute die Feststellung als erheblich, daß gerade die Annahme von Naturgesetzen durch den Materialismus diese unterschiedliche Orientierung bedingte. Handeln erscheint als der Bereich, in dem die Naturgesetze nicht gelten. Tritt eine Verwischung des Unterschiedes ein durch die Delegierung der Regelmäßigkeiten und Ausnahmen an eine jenseitige Instanz, dann bleibt der Gegensatz erhalten. In der Vermischung von juristischem Gesetz und in der Natur entstandenem Naturgesetz bleibt die dualistische Position vorhanden. Sie überträgt die Funktion des innerweltlichen Urhebers auf jegliches Geschehen, projiziert sie in den Himmel der Phantasmagorie und handelt sich damit den irrationalen Widerspruch ein. Bleibt das Individuum unbedingt für seine Handlungen verantwortlich und unterliegt staatlich und kirchlich verhängten Sanktionen, so gehört es zu den bestraften Handlungen, den unbedingt wirksamen Willensentscheid Gottes nicht anzuerkennen. Der sogenannte unerforschliche Ratschluß symbolisiert die Irrationalität, die der Theorie des Handelns letztlich seitens des philosophischen Idealismus zugrunde gelegt wird. Da Hegel und Marx mit der Annahme von Gesetzmäßigkeiten in der Gesellschaft auch deren Erkennbarkeit annehmen, macht das Vorhandensein von Irrationalismus keine Ausnahme. Es unterliegt damit ebenso wissenschaftlicher Analyse. Die Gründe des Entstehens von Irrationalismus wie der verschiedenen Arten von Religionen gelten auch als erkennbar. Sie finden ihre Erklärung als Momente des Werdens der Ordnungen und entstehen nach Hegel und nach Marx gesetzmäßig in Verbindung mit den verschiedenen Stufen der Entwicklung. Da aber damit das Selbstverständnis der Gesellschaften und bei Marx der Bourgeoisie und Arbeiterklasse dem Zugriff zugänglich ist, muß das reaktionär gewordene Regime des Kapitalismus zu dem Zweck der Verlängerung des Überlebens die Erkennbarkeit gesellschaftlicher Prozesse mit aller Konsequenz bestreiten. Damit entfallen für die spätbürgerliche Ideologie Marx und Hegel, es sei denn, Hegel werde in einen anderen Typus von Denker umfunktioniert. Wie schon früher, erfolgt dann eine Anknüpfung von rechts, d. h. eine Fortsetzung des Rechtshegelianismus, zu dem oft auch die existentialistischen Interpretationen gehören. Kenn-
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zeichnend ist das Wegfallen von Gesetzmäßigkeiten in der Erkenntnis der menschlichen Geschichte, das auch der technisch gefärbte Dezisionismus betreibt, wenn er das Entscheiden nach mathematischen Modellen als willkürlich oder irrational annimmt. Aller Ertrag philosophischer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist in Vergessenheit geraten, wenn die bürgerliche Ideologie das Vorhandensein oder die Erkennbarkeit gesellschaftlicher Gesetze überhaupt oder wenigstens umfassender gesamtgesellschaftlicher Gesetze bestreitet. Gesetze als ruhiges Abbild der Erscheinungen und ihr bloß annähernder Charakter beruhen auf der materialistischen Erkenntnis des Vorhandenseins des Allgemeinen in den Dingen, wie immer wieder zu wiederholen ist. Dem Nachweis von Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte vorzuhalten, daß entweder das Einzelereignis von der erarbeiteten Gesetzmäßigkeit abweiche oder gerade die Präzision des Eintretens oder der Beherrschbarkeit von Ereignissen verdächtig sei, zeigt das Bevorzugen von Voluntarismus in der spätbürgerlichen Ideologie. Mit dem Betonen des Gegensatzes von Willen und Gesetzmäßigkeit behält sie sich vor, stets nach zwei Fronten vorzugehen. Wird die selbständige Entscheidungsfähigkeit der Klassen in der Gechichte betont, erfolgt eine Ausflucht in mechanistische Argumente. Es heißt dann, der Mensch sei streng determiniert und besitze keinerlei Handlungsspielraum, da die genetisch begründeten Verhaltensweisen und die Erziehung ihn bereits unaufhebbar fixiert hätten. Marx wendete in den Feuerbachthesen dagegen ein, daß auch der Erzieher erzogen werden müsse. Betont er außerdem mit Hegel, daß sich der Mensch durch die Arbeit selbst erschaffe, so ist ein anatomisch und physiologisch zur Arbeit fähiger Mensch vorausgesetzt, an dem die gesellschaftlich bedingte Entwicklung ansetzt, und der auf dem Boden der jeweils erreichten biologischen Evolution wirkt. Marx untersucht in der sozialökonomischen Basis der Gesellschaft wesentliche Verhältnisse, in bestimmten Entwicklungsabschnitten der Gesellschaft bestimmende Zusammenhänge, die aus der übrigen Mannigfaltigkeit herauszuheben sind. Erstens ist zu erfassen, welche wesentlichen Beziehungen tatsächlich als erkennbar vorkommen. Dann interessiert, wie sie entstanden, da daraus auf die Bedingungen zu schließen ist, aus denen sie hervorgingen. Ändern sich die sie begründenden Bedingungen aus der Dynamik der Ordnung und/oder der Aktivität der dadurch entstandenen und selbst der Entwicklung unterliegenden Klassen, dann können andere Verhältnisbestimmungen oder Beziehungsgefüge maßgebend werden. Es entstanden dann aus der Entwicklung der Gesellschaft selbst andere Gesetzmäßigkeiten, von denen jeweils einige ausdrücklich als Gesetz bezeichnet werden können. Das Beschreiben von Regelmäßigkeiten geht nach Marx bei der wissenschaftlichen Arbeit an dem empirischen Material der Gesellschaft der logischen Ableitung aus Kategorien stets voraus. Sind auf dem Weg der Gewinnung von Allgemeinbegriffen wie Arbeit, Geld, Kapital, Klasse und nicht zuletzt Gesellschaft in der materiellen Wirklichkeit der Gesellschaft Begriffe gewonnen worden, die eine mehr oder minder generelle Bedeutung besitzen. 103
dann kommt es darauf an, die unterschiedliche Bedeutung zu erkennen, die sie in verschiedenen historischen Perioden und Epochen besitzen. In der Einleitung zur „Kritik der politischen Ökonomie" ist am Beispiel der Ware auf den Unterschied von empirischer und logischer Aufeinanderfolge veränderter Erscheinungen in der Gesellschaft hingewiesen. Gemeint ist damit das Vorkommen einzelner Merkmale einer zentralen Kategorie der gesellschaftlichen Entwicklung und der Wertung, die die gleichen Merkmale in der logischen Ableitung erfahren, die den Aufbau der betreffenden Theorie ergeben. Der Unterschied von Historischem und Logischem beruht bis zu einem gewissen Grade auf der Differenz zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Nacheinander bilden sich Erscheinungen aus, die erst allmählich jene Merkmalsgruppen auffüllen, die schließlich als Kategorie des Allgemeinen materiell vorhanden sind und für theoretische Analyse anstehen. Die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten, die etwa von der zentralen Kategorie der Ware ausgehend die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus und der Notwendigkeit des Übergangs zum Kommunismus auszuarbeiten gestattete, erweist sich dann als heuristisches Orientierungsmittel. Die an Marx orientierte Arbeiterklasse gewinnt damit die Richtpunkte, die sie durch ihre Aktivität in der Richtung der vorhandenen und sich vorbereitenden neuen Gesetzmäßigkeiten, also etwa der Veränderung der Eigentumsverhältnisse, anzustreben vermag. Die Parteien der Arbeiterklasse vermögen auf Grund der Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten, die Marx, Engels und Lenin entdeckten, auch spontane Bewegungen der verschiedenen Klassen und Schichten, die im Stadium des Imperialismus aus dem Zersetzungsprozeß der kapitalistischen Gesellschaft hervorgehen, entsprechend auszunutzen. Der Einwand, es ließen sich wohl unbedeutendere wesentliche Verhältnisse verbal und von Fall zu Fall auch quantifizierend beschreiben, aber keine solchen, die den gesamten gesellschaftlichen Prozeß erfassen, entfällt aus einem triftigen Grund: Zunächst stand die Entdeckung im Blickfeld, daß Gesellschaftsformationen voneinander zu unterscheiden sind. Dünkten sich die Nachfahren des Mittelalters zunächst als weit hinter der Antike zurückgeblieben, so war einige Jahrhunderte später zu erkennen, daß es einen Trend theoretisch zu erfassen gebe, der im Mittel völlig neue Probleme, Sachverhalte und Problemlösungen erzeugt hatte. Die Idee des Fortschritts erwies sich an dem qualitativen und quantitativen Wachstum verschiedener Art meßbar. Die Detailuntersuchungen der inneren Gesetzmäßigkeiten folgten. Sie sind in dem Werk von Hegel und von Marx ablesbar. Problematisch erweist sich eher die Untersuchung von engeren Gebieten als von tiefgreifenden, umfassenden Veränderungen und Revolutionierungen. Die ökonomischen Gesetze dienen Marx zum Nachweis der Notwendigkeit des Übergangs zu einer von kapitalistischer Ausbeutung freien Ordnung und für das Begründen revolutionärer Tätigkeit der Arbeiterklasse. Mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats werden der historische Materialismus und die Entwicklung der Produktivkräfte zu einem entscheidenden Gegenstand für die Entwicklung der sozialistischen und kommunistischen Gesell104
Schaft. In beiden Fällen erweisen sich die objektiven wesentlichen Beziehungen in Basis und Überbau als Begrenzungen des Voluntarismus und dialektisch zugleich als Bedingungen für Willensentscheidungen, die damit einen erweiterten Handlungsspielraum gewonnen haben und in denen erfolgversprechende und notwendige Aktion gleichsam vorgezeichnet ist - Überlegung, Willen, Kenntnis, Disziplin und kreative Phantasie aber sind die subjektiven Bedingungen, um den objektiven Handlungsspielraum auszufüllen. Sind damit die Handlungen determiniert durch die sich in der Gesellschaft bewußt oder hinter dem Rücken der Beteiligten ausbildenden Beziehungen, so bedeutet jene von Friedrich Engels erwähnte Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit eben das Ausnutzen des determinierten Handlungsspielraums, wobei die Resultate der Tätigkeit anzeigen, wie weit die Einsicht in die gegebenen Möglichkeiten fortgeschritten war und. sich Handeln und Denken adäquat vereinigten. Das Widerlegen von Hypothesen durch Experiment und Industrie gilt nicht minder für die übrige gesellschaftliche Handlung. Gegen die Vorstellung spätbürgerlicher Ideologen, das Erkennen von Gesetzen fessele genau so wie das Vordringen der Technik in der Industrie und in den Leitungsapparaten, die ihre Entscheidungen mit größerer Sachkunde fundieren, weil sie technische Mittel gründlicher benutzen, lassen sich Überlegungen von Kojève benutzen. Konstant sucht er nachzuweisen, daß in der Entwicklungsauffassung von Hegel ein Zirkelschluß vorliege. Soweit von einem vollkommenen Staat geredet werde, sei es eine Tatfrage festzustellen, ob dies zutreffend sei. Damit handele es sich um eine fast unentscheidbare Angelegenheit. Werde hingegen ein Ziel vorgegeben, verhalte es sich anders, wenn es um das Resultat einer logischen Analyse gehe, die keine Divergenz der Meinung erlaube. Streng genommen ist diese Beschreibung des Sachverhalts unzutreffend 11 , da die gleiche logische Struktur mit ungleichem empirischen Material belegbar zu sein pflegt. Bei dem Benutzen hypothetisch-deduktiver Systeme, die für Inhalte gelten sollen, ist das empirische Überprüfen letztlich ebenso nötig. Es betrifft die Übereinstimmung von Sache und Begriff, die in jedem Falle in einer dialektischen Erkenntnistheorie oder bei Vorhandensein spontaner Dialektik empirisch nachweisbare Annäherung zu enthalten hat, ein Moment, das für jedes Anwenden dialektischer Widerspiegelungstheorie seine Geltung beansprucht. Kojève stellt nun fest, es gebe zwar in der „Phänomenologie" bei Hegel einen solchen Zirkel, nicht aber in der „Logik" und in der „Enzyklopädie". 12 Die Dialektik hält sich einmal an das empirisch Vorfindbare, analysiert es auf 11 Vgl. A. Kojève, Introduction, a. a. O., S. 291. 12 Ebenda, S. 291, Anm. 1: „D'ailleurs, il ne suffit pas que la PhG soit circulaire: le Logique (ou l'Encyclopédie) doit l'être aussi; et ce qui est beaucoup plus important: aussi le Système dans son ensemble, c'est-à-dire l'ensemble de la PhG et de l'Encyclopédie. Or c'est précisément là que la noncircularité du système de Hegel est parfaitement évidente. Mais je ne puis le dire ici qu'en passant et sans le démontrer."
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eventuell nachweisbare Richtung in den Veränderungen und gestattet ebenso den empirischen Nachweis, der eine Auffächerung in unterschiedliche Parameter vornimmt und neue Möglichkeiten für die Theorie und Praxis erschließt. Wenn Ziele historisch als Denkmöglichkeit auftreten, ohne die materiellen Bedingungen ihrer Verwirklichung zu finden, dann gelten sie als utopisch. Soweit aber sich dann die empirische und theoretische Begründung vereinigen können, um früher utopische Gedanken zu realisieren, dann entstehen daraus Zielsetzungen, die hinreichend nahe an der Realität bleiben, um tatsächliche Verwirklichung zu gestatten. Anders ausgedrückt, bestätigt Kojève von einem ganz anderen Standpunkt aus, dag zunächst bei Hegel nicht vorausgesetzt wird, was dann nachträglich scheinbar bewiesen wird. Findet er aber nicht einmal in Hegels System das teleologische Element, obwohl es naheliegend ist, infolge der These von der Objektivierung der absoluten Idee eine derartige Finalität anzunehmen, dann ist damit nur bestätigt, dag Dialektik als Methode die Offenheit der Geschichte voraussetzt, sie aber keineswegs im Sinne etwaiger Richtungslosigkeit impliziert. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit besitzt in dialektischem Verständnis strikte Bedingtheit und Offenheit der Entwicklung, wobei aber das Durchsetzen von Progreg Absolutheit beansprucht und nicht die Geschichte stillstellt. Dafür bemüht sich Kojève nachzuweisen, Hegel vernichte durch das Einschmelzen der Subjektivität in die Objektivität der Bewegung jede Individualität in dem verzehrenden Feuer des Prozesses. Existentialistisch und strukturalistisch ist damit die These vom Ende des Menschen, wie sie Michel Foucault vorbringt, auf Hegels etwaige Antizipation zurückgeleitet. 13 Überhöhte Hegel tatsächlich die Individualität, wenn er die historische Person mit dem Weltgeist identifizierte, oder minderte er sie damit ab, dag er in der Persönlichkeit die Objektivierung der absoluten Idee in ihrer Entwicklung gegeben sieht - so bleibt zu fragen. Hegel befagte sich mit den Präliminarien seiner später ausgearbeiteten Philosophie in dem Aufsatz des „Kritischen Journals" von 1802, der „Glauben und Wissen" überschrieben ist. Kritisiert ist die Reflexionsphilosophie der Subjektivität, die Hegel vollständig ausgearbeitet bei Kant, Jacobi, Fichte vorliegen sieht.14 Mag es Hegel in den Jahren der auf 1789 folgenden Epoche widerfahren sein, an dem Scheitern eines Sturm und Drang fast zu verzweifeln, so analysiert er schlieglich, dag in der gesamten Philosophie von Kant bis Fichte ein Subjektivismus dominiere, der von menschheitsbeschwörender Schönrednerei bis zum Anarchismus reiche. In „Glauben und Wissen" finden 13 Ebenda, S. 443: „Hegel le sait et le dit. Mais il dit aussi, dans une de ses lettres que ce savoir lui a coûté cher. Il parle d'une période de dépression totale qu'il a vécue entre le 25 e et la 30 e année de sa vie: d'une .Hypochondrie' qui allait ,bis zur Erlahmung aller Kräfte', .jusqu'à la paralysie de toutes ses forces' et qui provenait précisément du fait qu'il ne pouvait pas accepter l'abandon nécessaire de l'Individualité, c'est-à-dire en fait de l'humanité, qu'exige l'idée du Savoir absolu." 14 G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, Ed. Glockner, Bd. 1, S. 277-433.
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sich entsprechende Andeutungen, in der „Phänomenologie" erscheint ihre Darstellung als Momente des Werdens der Idee. Gegen Jacobi geht Hegel am schärfsten vor, weil jener von einer den ganzen Menschen15 erleuchtenden Wissenschaft und Weisheit spricht. Ebenso unerträglich erscheint es Hegel, daß Jacobi dem „Menschen" Dasein durch Phantasie, Vernichtung durch Vernunft geben möchte und auf dem Paradoxon insistiert, dem Menschen erscheine Vernunftberaubung als das Ärgste, das eröffnete Menschenlos sei indes ein Los der grauenvollsten Verzweiflung.16 So unvollständig auch Hegels Skizze der Entwicklung von Gesellschaft in ihren ausgearbeiteten Formen bleibt, so entschieden identifiziert er sich bereits Jahre vor der „Phänomenologie" mit der Dialektik wachsender gesellschaftlicher Erkenntnis. Rundweg abgelehnt ist genau der Gesichtspunkt, den Alexandre Kojève als den Hegels annimmt. Das unglückliche Bewußtsein, von dem die „Phänomenologie" handelt, entsteht für Hegel aus dem Widerspruch zwischen überschätzter Individualität und absolutem Unverständnis der objektiven Prozesse. Das Los der grauenvollsten Verzweiflung, das Jacobi heraufbeschwört und als Vernichtung durch Vernunft deutet, hebt sich nach Hegel in der stufenweisen Verwirklichung des Weltgeistes auf. Das Aufbegehren gegen die Wirklichkeit erscheint Hegel als unzureichend und widersinnig, wenn es sich nicht an die Objektivität der Entwicklung halten will. Maßgeblich erscheint die Hegeische Idee, der faktische Absolutheit eingeräumt ist, daß solche Erkenntnis des Gesellschaftlichen überhaupt möglich sei. Unabhängig von der weiteren Entfaltung des Programms bleibt das Ablehnen des Subjektivismus erhalten. Zweifellos handelt es sich bei der Polemik Hegels gegen Kant, Jacobi und Fichte nicht bloß um einen speziellen Aspekt jener immer wieder als idealistisch abqualifizierten Philosophie. Unter den vielen anderen Gesichtspunkten sieht Hegel als zentrales Thema, was denn das Individuum für sich selbst aus den vorgegebenen Denkstrukturen machen könne. Verworfen ist die im Individuum angeregte Vorstellung, es habe sich durch den Subjektivismus der genannten drei philosophischen Systeme zu unbedingter Selbständigkeit gleichsam emporfühlen können. Philosophie und Wissen bloß auf den „Menschen" zu beziehen, erscheint Hegel als wirklicher Verzicht auf die Individualität. Aber auf die vermeintliche Selbständigkeit zu verzichten, verlangt gemäß Hegel das Anwenden des Denkens auf das, was er gelegentlich in „Glauben und Wissen" als Triplizität bezeichnet. Jener Dreischritt ist als Aufhebung des unauflöslich scheinenden Gegensatzes von Apriori und Aposteriori gedacht. Das je Vorgefundene und Gemachte wird Hegel zu der Einheit eines Fortschritts, in der sich der Mensch seiner Verzweiflung begibt und zu einem innerhalb der gesellschaftlichen Bewegung handelnden, verständigen Individuum aufschwingt. Dann wäre weiter zu fragen, was denn Kojève unter Individualität verstehe, wenn er die Polemik gegen die subjektivistische Philosophie durch Hegel als 15 Im Original gesperrt, vgl. ebenda, S. 371, Anmerkung.
16 Ebenda, S. 372.
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deren Vernichtung aufgefaßt wissen will. Wahrscheinlich meint er damit eine Ausprägung der Einzelperson, die gleichsam willkürlich Eigenschaften und Fähigkeiten zur Manifestation bringe und die subjektive Skurrilität zum Programm erhebt. Da die Konfrontation von Subjekt und gesetzmäßiger Entwicklung unter Persönlichkeit offensichtlich das nicht in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte sich Einfügende meint, entsteht ein Widerspruch, dem aber gerade ein besonderer Wert beigemessen wird. Es ergibt sich, so könnte man mindestens annehmen, eine tatsächliche Bevorzugung der Absonderlichkeit. Das scheint aber nicht der Fall. Gemeint ist eine Konfiguration von Persönlichkeit, in der sich Merkmale ausprägen, die von Gesetzmäßigkeit bestimmt sind, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten ausbilden. Das muß man zumindest annehmen, da sonst nicht erklärlich wäre, wie ein Gegensatz von Persönlichkeit und Kenntnis der Gesetzmäßigkeit eine derartig gewichtige Funktion erhalten könnte. Hegel und Marx gehen im Unterschied zu diesen Vorstellungen davon aus, daß jegliche objektive Gestaltung des Individuums und seines Bewußtseins als gesellschaftliche Erscheinung aufzufassen ist. Damit aber bleibt es unerheblich, was für ein Inhalt im Einzelfall vorliegt. Das Individuum ist primär als gesellschaftlich verstanden, ohne daß behauptet würde, es müßte sich deshalb dieser Beziehung bewußt sein und sich darüber Rechenschaft ablegen. Vielmehr lautet die auf Gesetzmäßigkeit tendierende Gegenbehauptung, jegliche Art der Individualität sei von ihren Bedingungen abhängig, entstehe aus den vorgefundenen und beeinflusse diese im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Wie weit sie historisch wirksam werden, erweist sich als ein damit eng verbundenes Problem und als abhängig von der zu den sich entwickelnden Widersprüchen eingenommenen Position. Mit Kojéves Hinweis auf eine Krise in Hegels individueller Entwicklung wird auf den Unterschied der Selbstbewältigung zu der anstehender geschichtlichen Entwicklung verwiesen. Unverständnis und Ablehnung der Geschichte ist ebenso eine Rückäußerung auf gesellschaftliche Prozesse wie die Beteiligung an den Vorgängen, die zuvor sich schon oder hinterher als die geschichtsträchtigen herausstellten. Unter Beachtung der historisch gegebenen Schranken sind stets auch die vorgegebenen Handlungsspielräume relevant. Nur auf die Grenzen zu reflektieren bedeutet den pessimistischen Zweifel und die Unfähigkeit, den eigenen Ort zu finden, der die subjektive Entwicklungsmöglichkeit gestattet. Ein notwendiges Verlassen der Individualität und der Humanität oder der Idee der Menschheit ist nach der philosophischen Vorstellung von Hegel und Marx damit keineswegs verbunden, schon gar nicht die Vorstellung, es handele sich damit um die Konzeption des Todes des Menschen, wie Kojéve annehmen zu müssen glaubt. In der materialistischen Widerspruchsdialektik besitzt die Negation als Moment der materiellen und theoretischen Entwicklung die Funktion einer Triebkraft. Auch der Persönlichkeit ist Entwicklung zugebilligt und die Fähigkeit der Veränderung und damit des Werdens. Insofern bedeutet Einschmelzen der Subjektivität das Erreichen des historischen Horizontes, in dem sich die revolutionierenden Pro108
zesse abspielen. Spricht Hegel von der „Vernichtung des Gegensatzes oder der Endlichkeit", dann fügt er unmittelbar an: „. . . unendlich ist, d. h., die sich ewig vernichtet, - aus welchem Nichts und reinen Nacht der Unendlichkeit die Wahrheit als aus dem geheimen Abgrund, der ihre Geburtsstätte ist, sich emporhebt." 17 Infolge der positiven Funktion des Nichts, der Vernichtung entsteht das unendlich aufgefaßte Werden, vor dem nichts Endliches Bestand habe. Jeder auf Konservatismus und Unveränderlichkeit erpichten Philosophie ist deshalb dialektische Philosophie zuwider, da diese die Konstanz als bloß im Werden und der damit verbundenen Entwicklung gegeben erkennt. Begrenzung und Tod sind dann identisch für alle Objekte und Subjekte, die sich gegen das Werden zu stemmen suchen, während die Entwicklung als Repräsentant des Lebens, des Individuums und der entstehenden Gesellschaften gleichsam Überwinden des Todes bedeutet. Jacobis Sehnsucht nach der ganzen Persönlichkeit spiegelt das Nichtbewältigen des gesellschaftlichen Widerspruchs, aus dem jene „grauenvolle Verzweiflung" notwendig hervorgeht. Hegel entdeckte als Gesetzmäßigkeit den Ursprung des unglücklichen Bewußtseins in der Geschichte und meint, es setze sich seine Ziele außerhalb, transzendiere die Wirklichkeit künstlich und erreiche sie damit gleichsam nicht, vermöge sie nicht ins Blickfeld zu bekommen 18 , verschmelze nicht mit der Geschichte. Jacobi ist von Hegel eine falsche Identitätsvorstellung vorgeworfen, Identität ohne Bewegung, eine Annahme, die Kojeve ebenfalls Hegel unzutreffend unterstellt. Machte sich Kierkegaard zu einem Philosophen der Verzweiflung, so tendiert auch der Existentialismus in Kojeves Interpretation Hegels mehr zu Jacobi als zu Hegel selbst. 19 Anders knüpft Marx an Hegel an, indem er dessen Identitätsphilosophie materialistisch aufhebt, das heißt „vernichtet" und damit den Materialismus dialektisch werden läßt. Das Verhältnis von Individuum und sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen erfährt damit eine dialektische und materialistische Behandlung und entfernt sich noch wesentlich weiter von Jacobi, als es der Hegeischen Kritik gelang. Als gegenwärtig ablesbares Ziel innerhalb der Geschichte sieht Karl Marx einen Vorgang, in dem die Individuen sich ihre eigenen gesellschaftlichen Zusammenhänge unterzuordnen bemüht sind. Er konstatiert, sie vermöchten sie sich nicht unterzuordnen, bevor sie sie geschaffen hätten. 20 Der Gegensatz von Absicht und Handlung entsteht nach Marx erst durch den vorgängigen Handlungsvollzug und die durch ihn gesetzten Bedingungen, die dem Handelnden ihre Objektivität durch ihr Vorhandensein beweisen. Schon mit dem Verständnis, es handele sich 17 Ebenda, S. 432. 18 Vgl. ebenda, S. 373. 19 Vgl. H.-C. Rauh, Hegel und die marxistische Ideologiekritik; H. Krumpel, Gesellschaftstheoretische Aspekte der Hegeischen Philosophie, in: Zum Hegelverständnis unserer Zeit, Ed. H. Ley. Berlin 1972, S. 150 ff. und 308 ff. Vgl. auch M. Buhr/ G. Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft, Berlin 1968. 20 K. Marx, Grundrisse, Berlin 1974, S. 79.
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um ein historisches Produkt, wird der vorherige unhistorische Bewußtseinsstand! verlassen sowie die notwendig damit verbundene Annahme, es seien nur naturwüchsige Zustände, an die anzuknüpfen oder auf die zurückzukommen sei. Marx nennt es abgeschmackt. Wissen und Wollen mit angeblicher Naturwüchsigkeit zu konfrontieren, die durchaus nicht bloß biologisch existieren kann, aber die infolge historischer Aktion entstandenen veränderten Bedingungen zu reflektieren hat. Jenes ganz allgemein von Jacobi beschriebene verzweifelnde Bewußtsein, das Hegel entgegengesetzt interpretierte, findet bei Marx eine auf die sozialökonomischen Bedingungen bezogene Untersuchung. In dem Prozeß des Schaffens neuer Bedingungen kann ein Zustand vorhanden sein, in dem Fremdartigkeit und Selbständigkeit existierten, die noch nicht in das Bewußtsein eingegangen sind.21 Da Jacobi und Hegel nicht anders als Kojéve kulturhistorischen Pessimismus, wenn auch von durchaus verschiedenem und entgegengesetztem Standpunkt aus, mit kräftigen Ausdrücken belegen, fällt auf, daß Marx zurückhaltendere Ausdrücke wählt. Das kommt nicht von ungefähr. Weil Marx den sachlichen Zusammenhang untersucht, wenn er Momente des Bewußtseins analysiert, gelangt er zum Verständnis auch der Relativität von Positionen, die ein gestörtes oder noch nicht entwickeltes Verhältnis zu den historischen Vorgängen besitzen. Daß die Ableitung von Gesetzen aus empirischen Daten und zentralen Bestimmungen als Verständnis der Sache selbst begriffen ist, setzt Materialismus und die Kritik Hegels an Kant voraus. Beim vormarxistischen Materialismus fehlt die Geschichte und das Werden. Kant erkannte den Anteil der Aktivität des Subjekts an den Ergebnissen von Erkenntnis. Hegel sah in Tätigkeit und Mittel den Zugang zur Welt der materiellen und ideellen Objekte gegeben. Marx untersuchte Charakter, Wandel, konkrete Gestalt und immanenten Widerspruch der Tätigkeit und der Mittel unter der Voraussetzung der Erkennbarkeit, die dem Materialismus zugehört und die Dialektik um Aufheben und Entwicklung der Dinge und des Wissens wie der Persönlichkeit bereicherte. Damit werden auch Momente in der Entwicklung des Individuums zugänglich, die anders als bloß potenzierte Fremdartigkeit erscheinen und mehr oder minder simpel aus dem Geschichtsprozeß herausfallen. Marx unterscheidet als gesetzmäßiges Faktum den Vorgang des Schaffens der Bedingungen eines bestimmten sozialen Lebens von dem anderen Start, der die weiterzuentwickelnden Bedingungen bereits vorfindet. Selbst „grauenvollste Verzweiflung" erscheint dann bloß als Durchgangsphase, nicht als Endstation gescheiterter oder realisierbarer Sehnsucht. Haben sich die neuen Bedingungen bereits so weit heraus21 Ebenda: „Aber es ist abgeschmackt, jenen nur sachlichen Zusammenhang als den naturwüchsigen, von der Natur der Individualität (im Gegensatz zum reflektierten Wissen und Wollen) unzertrennlichen und ihr immanenten, aufzufassen. Er ist ihr Produkt. Er ist ein historisches Produkt. Er gehört einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung an. Die Fremdartigkeit und Selbständigkeit, worin er noch gegen sie existiert, beweist nur, daß sie noch in der Schöpfung der Bedingungen ihres sozialen Lebens begriffen sind, statt von diesen Bedingungen aus es begonnen zu haben."
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gebildet, daß sie als Möglichkeit erkennbar sind, besitzt auch die Möglichkeit historische Realität und damit Materialität, die ihren objektiven Grund kennzeichnet. Das Unterordnen der Sachzusammenhänge und des Sachzwangs unter die Gesellschaft sieht Marx in mehreren Ebenen sich neben- und nacheinander vollziehen. Die sachliche Tätigkeit schafft Verhältnisse, die den Individuen selbständig gegenübertretende Verhältnisse sind und sich ihnen gegenüber verselbständigt haben. 22 Soweit diese aber in das Bewußtsein eingehen, hat es das Individuum mit Abstraktionen zu tun, wenn die persönliche Abhängigkeit früherer Produktionsbeziehungen aufgehoben ist und der Bezug bloß theoretisch zugänglich zu machen scheint. In einer derartigen Phase tritt ein Vorgang ein, der etwa dem entspricht, was nach und vor Kojeve auch Theoretiker wie Topitsch und etwa die der frühen Frankfurter Schule anzeigten. In der Theorie von Marx besitzt die Bewegung des Bewußtseins eine relative Unabhängigkeit von den sozialökonomischen Strukturen und ihren Widersprüchen. Jeder ihrer Akte gehört in den Bereich der komplexen Vorgänge, in denen sich die Beteiligten gemäß ihren ideologischen Formen und mit den Ideen bewegen, „worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten". 23 Soweit also der Schicht der Ideologie zugehörig, zeigt sich die kontroverse Situation antagonistischer Verhältnisse, die „bewußt" zu machen vermögen, aber auch den subjektiven Zustand der zugehörigen Entwicklungsstufe enthalten und nicht ohne die ökonomischen Produktionsbedingungen zu verstehen sind, die deren objektive Grundlage charakterisieren. Nicht zuletzt sieht Marx diesen doppelten Beleg als notwendig an, da er vermerkt, daß Verhältnisse sich nur in Ideen ausdrücken lassen, über deren Entstehen nicht minder theoretische Reflexion erforderlich ist.24 Bloß bei den Ideen stehenzubleiben, die sich ihrerseits auf die Thematik des Bewußtseins beziehen, heißt die Illusionen zu nähren, die sich die Individuen über ihre Verhältnisse machen. Deshalb sind diese Gegenstand wissenschaft22 Ebenda, S. 81/82. 23 K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 9. 24 K. Marx, Grundrisse . ... a. a. O., S. 82: „. . . da 6 die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind. Verhältnisse können natürlich nur in Ideen ausgedrückt werden und so haben Philosophen als das Eigentümliche der Neuen Zeit ihr Beherrschtsein von Ideen aufgefaßt und mit dem Sturz dieser Ideenherrschaft die Erzeugung der freien Individualität identifiziert. Der Irrtum war vom ideologischen Standpunkt aus um so leichter zu begehn, als jene Herrschaft der Verhältnisse . . . in dem Bewußtsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint und der Glaube an die Ewigkeit dieser Ideen, d. h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse, von den herrschenden Klassen, of course, in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird."
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licher Arbeit und erzeugen damit die Kenntnis von Gesetzen, die für sich und an sich Ausdruck der Beziehungen sind, die eine der Stufen gesellschaftlicher Entwicklung bestimmen. Da Hegel sich blofj auf das Behandeln einer der oberen Etagen der Gesellschaft beschränkte, vermochte er nur die Entwicklung der Illusionen über die Gesellschaft zu behandeln, an denen aber bereits Evolution zu entdecken war. Erfolgen der ideologische Klassenkampf und die Austragung der damit verbundenen Konflikte mit Berücksichtigung der sozialökonomischen Strukturen und der in ihnen beschlossenen Entwicklungsmomente, dann resultiert eine Objektivierung der Kontroverse, nicht aber eine Einschränkung des Individuums. Da der theoretische Ausdruck der Klassenauseinandersetzungen zur Verfügung steht, korrigieren sich Vorstellungen, die an der Sache vorbeizielen, durch das Vereinigen von Theorie und Praxis, die zu einem Annähern des Begriffs an die objektiven Bedingungen veranlassen. Sprach Hegel von einem Versöhnen mit der Wirklichkeit 25 , so entwarf Marx — mit der These von der gemeinschaftlichen Kontrolle, der die gesellschaftlichen Verhältnisse zu unterwerfen seien - das Programm des Erringens nichtantagonistischer Produktionsverhältnisse durch die Arbeiterklasse. Das Entwikkeln der Klasse und der Individuen war infolgedessen auf diese künftige Entwicklung bezogen. Mit dem Entdecken gesamtgesellschaftlicher Gesetze aber war darüber hinaus ein Gebiet von Zusammenhängen erschlossen, das in der Ökonomie unter der Herrschaft der Arbeiterklasse Planung als notwendiges Produkt der Geschichte einbezog, in der Ökonomie als Einzelwissenschaft ihre mathematische Quantifizierung anregte, die Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Disziplinen zugänglich machte und den Gesamtaufbau der sozialistischen Gesellschaft als Feld der Entfaltung der Persönlichkeit des Individuums als Massenerscheinung eröffnete. 25 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., Vorrede, S. 3 6 : „So wie die Vernunft sich nicht mit der Annäherung, als welche weder kalt noch warm ist und darum ausgespien wird, begnügt, ebenso wenig begnügt sie sich mit der kalten Verzweiflung, die zugiebt, daß es in dieser Zeitlichkeit wohl schlecht oder höchstens mittelmäßig zugehe, aber eben in ihr nichts besseres zu haben und nur darum Frieden mit der Wirklichkeit zu halten sey; es ist ein wärmerer Friede mit ihr, den die Erkenntnis verschafft."
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5. Vortrag
Strukturen bei Hegel und Marx — der Weltgeist und die Theorie von Basis und Überbau
Bei Hegel findet sich der Terminus »Struktur" nicht. Marx spricht in dem berühmten Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie" von der »ökonomischen Struktur der Gesellschaft"1 und den „ideologischen Formen", worin sich die Menschen ihrer Konflikte bewußt werden und sie ausiechten.2 In der Frühgeschichte menschlicher Gesellschaft gelten die von Marx dargelegten komplexen Beziehungen nur im eingeschränkten Sinne oder sind nicht mehr feststellbar. Bestimmend sind in der Frühgeschichte die Blutsbande oder Verwandtschafts strukturen, auf die Lévi-Strauss im Anschlug an Marx und Engels hinwies. Jene Strukturen besitzen ihre Geltung auf Grund der geringfügig entwickelten Produktivkräfte. Ist bei Marx das Verwenden des Begriffs »Struktur" mehr oder minder zufällig, besitzt aber einen konkreten begrifflichen Inhalt, so sind mit der ökonomischen Struktur Bedingungen gegeben, die mit dem Überbau in Beziehung gesetzt sind. Bedingungen, Beziehungen und Sachverhalte bilden ein Gefüge. Die gesamte Gesellschaft ist als Einheit aufgefaßt, die sich in Veränderung befindet. Unter den Bedingungen, Beziehungen und Sachverhalten befinden sich einige von relativer Konstanz, andere in langsamer oder schneller Veränderung. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution befinden sich die Produktivkräfte in ständiger Revolutionierung. Die Produktionsverhältnisse versteht Marx als Aufeinanderfolge qualitativ unterschiedener Stufen. Ihre Revolutionierung bedeutet den markanten Einschnitt in den verschiedenen Entwicklungsstufen. In dem Verhältnis von Basis und Überbau ist eine Struktur entdeckt, indem mit qualitativ unterschiedenen Parametern Bereiche gegeben sind, die untereinander verschiedene Zwecke erfüllen, heterogene Inhalte besitzen, die von materiellen Objekten und Strukturen bis zu ideellen Objekten und Strukturen reichen. Sie enthalten Systeme von Produktionsinstrumenten, die vorgängigen Ideen der produzierten Objekte, wissenschaftliche und mythische Vorstellungen, Institutionen, Individuen, Gruppen und Klassen. Eine derartige Masse von Erscheinungen zu ordnen und damit verfügbarer zu machen, erwies sich als ein wichtiges 1 K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW, Bd. 13, a. a. O., S. 8. 2 Ebenda, S. 9. 8
Ley, Bewußtsein
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wissenschaftliches Anliegen. In den sozialistischen Gesellschaften dient dieses Ordnungsprinzip als Moment der gesellschaftlichen Organisation und Planung. Darüber hinaus dienen die von Marx entdeckten Strukturen auch Zwecken der bürgerlichen Gesellschaft, womit sich abzeichnet, daß es sich um objektive Gefüge handelt, echte Strukturen, die ihre relative Konstanz über recht einschneidenden Veränderungen beibehalten. Erinnert sei an das „Brookings Quarterly Economic Model of the US"3. Als Vorläufer von Leontief wird bis auf Quesnay zurückgegangen, dessen Ideen nach Nikaido von den französischen Enzyklopädisten abstammen. Erwähnt sind d'Alembert und Mirabeau.4 Die Angriffe auf die Lehre von Basis und Überbau richten sich vorwiegend gegen zwei Momente. Sie wenden sich gegen das Beziehen von Wirkungen irgend eines der konkreten Objektbereiche auf solche des Bewußtseins. Zum anderen vernachlässigen sie die Vermittlung von Wirkungen und die sehr unterschiedlichen Effekte, die ein und dieselbe Gruppe von Bedingungen hervorrufen kann. In beiden Fällen wird der Theorie von Marx vorgeworfen, mechanistische Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten als grundlegend für die Wirklichkeit anzunehmen. Das von Marx begründete Denken ist aber materialistisch und dialektisch. Die Theorie von Basis und Überbau gibt allgemeine Zusammenhänge. Die Gesetzmäßigkeit setzt sich in tausend einzelnen Akten durch. Der Einzelfall kann sich damit von dem generellen Sachverhalt unterscheiden. Die Vorstellung des einzelnen Individuums braucht sich nicht mit den Resultanten der einzelnen Aktionen zu decken. Damit aber entsteht auch eine Divergenz in der subjektiven Vorstellung. Grundsätzlich braucht sich der Einfluß ökonomischer Fakten nicht mit der subjektiven Haltung des einzelnen Individuums zu decken. Stets lassen sich einzelne Fälle als Beispiel gegen eine direkte Beeinflussung des Individuums durch die sozialökonomischen Strukturen vorbringen, nicht aber Einwände gegen das Beeinflussen von sozialökonomischen Strukturen durch das Bewußtsein von Klassen und ihren einzelnen Individuen. Sie werden weniger als Produkte ihrer Zeit verstanden als man ihnen zutraut, die Zeitverhältnisse weitgehend beliebig zu verändern. Insofern berühren sich Hegel und Marx. Hegel schreibt in seiner Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts": „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein SohnseinerZeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken e r f a ß t . Es ist eben thöricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der That darüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie 3 J. S. Duesenberry/G. Fromm/L. R. Klein/E. Kuh, Economic Model of the US, Brookings Quarterly, Chicago/Amsterdam 1965. Marx ist ausdrücklich zitiert von Hukukane Nikaido, Introduction to Sets and Mappings in Modern Economics, Amsterdam 1972. 4 Ebenda, S. 7 - 9 .
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s e y n s o l l , so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen, — in einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt."5 In der Klassengesellschaft bilden sich als Effekt der gleichen sozialökonomischen Strukturen entsprechend der verschiedenen Hauptklassen einander entgegengesetzte Ideologien heraus. Sie entsprechen beide ihrer Zeit, nicht aber in gleichem Maße den Strukturen der Entwicklung. Solange sich keine sichtbare Entwicklung in der Gesellschaft vollzieht, können die konkurrierenden Philosophien nebeneinander bestehen und sich bekämpfen, ohne daß die eine über die andere dominiert. Deckt sich eine der vorhandenen Ideologien mit dem Vordringen der einen der Hauptklassen, dann verkörpert sie ihre Zeit. Sie unterstützt den Prozeß der gesellschaftlichen Revolutionierung; solange bestimmte Gesellschaften wandlungsfähig sind, entwickeln sie Varianten ihrer Hauptideologie, die die ihnen eigenen Veränderungsprozesse zu stimulieren vermögen. Jedenfalls ist der Hegeische Gedanke, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefaßt, äußerst bemerkenswert. Hegel betont den vermittelten Zusammenhang; Marx hebt hervor, wie weit eine Philosophie ihre Zeit zu transzendieren vermöge, ohne damit ihre Zeit zu verlassen. Daher unterscheidet Marx zwischen Utopie und Wissenschaft in bezug auf die Gesellschaftstheorie. Der seinerzeit in Frankfurt und dann in London wirkende Theoretiker Karl Mannheim nannte jedes auf die Zukunft gerichtete Projekt Utopie, wie es Ernst Bloch ähnlich zu tun versuchte. Marx wurde zum Ökonomen, weil er in der Einzelwissenschaft überprüfen wollte, wie der philosophisch erschlossene Zusammenhang in der Basis der Gesellschaft tatsächlich verlaufe. Nun haben Prognosen, die nicht mechanistisch verfahren, stets den Bezug auf ein Feld von Wahrscheinlichkeiten. In manchem treffen sie zu, in anderer Beziehung treffen sie die künftigen Ereignisse nicht. Es kommt also darauf an, welche Domänen von Ereignissen voraussagbar sind und welche nicht. Die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Feld und Ereignis wirkt sich dabei aus. Voraussagbar sind Strukturen, die durch die konkrete Geschichte mit unterschiedlichen Ereignissen belegt werden. Jene von Marx vorausgesagte Revolutionierung erfolgte nicht im Deutschland des 19. Jahrhunderts und nicht in dem insurgierten Polen, das im gleichen Jahrhundert Europa Barrikadenkämpfer für noch ausstehende bürgerliche Revolutionen lieferte. In Rußland erfolgt die Revolution unter Bedingungen, die nur zum Teil den von Marx vorausgesagten entsprachen. Rußland gehörte nicht zu den sozialökonomisch entwickeltsten Ländern, in denen Marx die Revolution kommen sah. In welchen Ideen sich aber das Anknüpfen an bestimmte Zeitverhältnisse äußert, kann sehr verschieden sein. Die hervorragende Rolle der Ökonomie, die Marx entdeckte und ausführlich darstellte, bleibt unbestritten vorrangig. Daß gleiche Strukturen ungleiche Wirkungen auf das Bewußtsein ausüben, zeigt sich in dem wachsenden Trend, Ökonomie samt Wissenschaft und Technik abzuwerten. War es früher ein Kennzeichen 5 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 35.
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konservativer idealistischer Ideologie, so hat sich inzwischen in manchen Strömungen der Linken eine solche konkrete Abwertung durchgesetzt. Das Berücksichtigen der Ökonomie gilt als das Zugeständnis von Repression. Es entstehen Utopien gesellschaftlicher Entwicklung, die praktisch die Ökonomie auszuschalten suchen, soweit es sich um technisch-ökonomische Entwicklung handelt. Insofern trifft Hegels Vorstellung über die vernünftige und vermittelnde Einsicht, die mit der Wirklichkeit versöhnt6, tatsächlich zu. Sie ist nicht beschönigend gemeint, sondern verweist auf ein unaufhebbares Fundament der menschlichen Gesellschaft, bedeutet den Hinweis auf „Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart"7. Hegel integrierte die Produkte des praktischen Handelns in den normalen Vorgang menschlicher Aktivität und betrachtete sie ausschließlich von dem Standpunkt der menschlichen Individuen. Sie waren damit verbunden mit dem sogenannten Weltgeist. In der Einleitung zur „Philosophie der Geschichte" äußert Hegel in dem wahrscheinlich von ihm selbst niedergeschriebenen Text: „Zuerst müssen wir beachten, daß unser Gegenstand, die Weltgeschichte, aut dem geistigen Boden vorgeht. Welt begreift die physische und psychische Natur in sich; die physische Natur greift gleichfalls in die Weltgeschichte ein, und wir werden schon im Anfange auf diese Grundverhältnisse der Naturbestimmung aufmerksam machen."8 Hegel bringt als sinnfälliges Gegenbeispiel, der milde ionische Himmel habe „sicherlich viel zur Anmuth der homerischen Gedichte beigetragen, doch kann er allein keine Homere erzeugen; auch erzeugt er sie nicht immer; unter türkischer Botmäßigkeit erhoben sich keine Sänger".9 Dialektisch ist in diesem Fall die unterschiedliche Wirkung der gleichen Faktoren. Gesucht werden mußte demgemäß nach den unterschiedlichen wirkenden Bedingungen. Die von Hegel erwähnte türkische Botmäßigkeit nennt eine besondere Form des Staats, in der die Freiheit erstickt wurde. Da das Maß an Freiheit für Hegel das Charakteristikum abgibt, ist von diesem Gesichtspunkt der Einfluß des milden ionischen Himmels paralysiert. Die ökonomischen und geographischen Einflüsse zu untersuchen, gehört zu den Fakten, die die Geschichte zu berücksichtigen hat. Da auf verschiedenen Territorien der Erde tatsächlich Entwicklungen begannen, aber nicht weitergeführt wurden, bleibt die Klärung der Frage für die Geschichtswissenschaft unabweisbar, warum die Entwicklung abbrach. Es kann sich um zufällige historische Fakten handeln. Es vermögen geographische Bedingungen eine Rolle zu spielen. Ob das eine oder andere vorliegt oder andere Gesetzmäßigkeiten eingegriffen haben, bleibt für den Standpunkt der Weltgeschichte zu erörtern. 6 7 8 9
Ebenda. Ebenda. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 43. Ebenda, S. 121.
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Der Einbruch der Völkerwanderung in Europa hat nicht überall den gleichen Einfluß ausgeübt. Der Einbruch der Mongolen und Tartaren überrollte in Vorderasien die arabisch sprechende Kultur. Die Araber scheiterten in Marseille und in Poitiers, gewannen indes fast den gesamten südlichen und östlichen christianisierten Bereich. Konnten die Araber und die von ihnen gewonnenen Völker an die europäische Kultur anknüpfen, so hatten die in die arabischen Territorien einbrechenden Turkvölker keinen Gewinn. Die arabischen Gebiete waren aber längere Zeit so stabil, daß sie ihre eigenen, nicht integrierten Nomaden vertragen konnten, ohne daß die städtische Kultur zusammenbrach, wenn von den arabischen Nomaden Städte verbrannt wurden. Die territoriale Aufsplitterung in Fürstentümer aber erzeugte eine Schwächung, die nach dem Einbruch der Il-Kane nicht mehr wettzumachen war. Das Vordringen in die Gürtel von Wäldern im nördlichen Asien gelang nicht. Ein geographisches Moment bleibt also erhalten, wenn die Ausbreitung des Mongolensturms berücksichtigt wird. Die fränkisch-germanische Bevölkerung zwischen Rhein und Pyrenäen vermochte den Normannen wie den Arabern zu widerstehen. Es waren Kämpfe, von denen Friedrich Engels sagt, „das neue Geschlecht, Herren wie Diener, war ein Geschlecht von Männern, verglichen mit seinen römischen Vorgängern". 10 Verjüngt hatte sie nach Engels ihre Gentilverfassung, die den Resten der römischen Strukturen eingelagert wurde. Das Verbinden von historisch älteren mit neueren Strukturen verträgt sich durchaus mit der Lehre von Marx und Engels. Darin hat Lévi-Strauss durchaus recht. Das Produkt ist indes eine höhere Stufe der Entwicklung, worin Hegel mit Marx übereinstimmt. Daß sich aber gegensätzliche Momente zu höherer Entwicklung zusammenfinden und durchdringen, macht das Dialektische aus und läßt eine mechanische Betrachtung der Geschichte nicht zu, wenn sie sachgerecht bleiben soll. Für Hegels Vorschlag, die physische und die psychische Welt zu berücksichtigen, sind auf manchen Gebieten noch keine entsprechenden einzelwissenschaftlichen Voraussetzungen gegeben. Handelt es sich um das exakte Unterscheiden von genetisch bedingter Verhaltensweise und aus den gesellschaftlichen Verhältnissen aufgenommene Eigenschaften, so existieren nach wie vor keine tragfähigen Kriterien, die exakte Zuordnung zu dem einen oder anderen Komplex gestatten. Für die Pädagogik wäre das Unterscheidenkönnen wertvoll. Im vorliegenden Zusammenhang heißt es, die verschiedenen Momente in das einzubeziehen, was wir Strukturen nennen. Elemente und Relationen bilden die Struktur und in erweitertem Zusammenhang in technischem Sinne das System. Bei Hegel finden sich gelegentlich Bemerkungen, die auf System in diesem Sinne hinweisen. Sind es auch bloß seltene Äußerungen, so besitzen sie einen zusammenfassenden Charakter. Sie verweisen auf den synchronischen Aspekt. Er unterscheidet in seiner „Enzyklopädie" (§ 14) zwischen der Entwicklung des Den10 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW, Bd. 21, a. a. O., S. 149.
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kens, die in der Philosophie dargestellt werde, und einer anderen Darstellung „rein im Element des Denkens". Wissenschaft des Absoluten, sagt Hegel, sei wesentlich System, weil das Wahre als System, als konkret nur als sich in sich entfaltend und in Einheit zusammengenommen dargestellt werden könne. Damit sei dieses Absolute als Totalität erfaßt. Es mache sich nötig, die einzelnen Momente dieser Totalität zu unterscheiden und durch Bestimmung der Unterschiede die Notwendigkeit der Unterschiede zu bestimmen. Hegels Entwurf der Geschichtsphilosophie bezieht sich auf eine nicht aufhörende Entwicklung des sogenannten Absoluten. Jederzeit sei es aber in seiner Totalität aufzufassen. Die Totalität gilt selbst als das Absolute, das die philosophische Reflexion gerade erkennen müsse. Damit unterliegt im Gegensatz zu Hegels Grundkonstruktion das Absolute doppelter Interpretation. Sofern die Totalität gemeint ist, ist dem philosophischen Denken der Auftrag von Hegel zuerteilt, die Gesamtheit der objektiven Realität der Gesellschaft zu erfassen. Das Physische und Psychische sind die Randbedingungen und zugleich in einigem die Konstanten. Ihnen stehen die Variablen entgegen, die zu unterscheiden verlangt wird, um zur Einheit des Prozesses zu gelangen. Ein Inhalt, äußert Hegel in der Erläuterung zu § 14, hat allein als Moment des Ganzen seine Rechtfertigung. Totalität bedeutet für Hegel Einheit des Prozesses und wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Inhalte. Da er aber gerade die Unterschiede der verschiedenen Inhalte betont, bedeutet Totalität nichts, was mit Totalitarismus zu tun hätte. Das Erkennen der Gesamtheit zusammengehöriger Erscheinungen ist indes ausdrücklich als notwendig hervorgehoben. Wird vermutet, das Ganze ließe sich sowieso nicht erkennen, dann ist damit das Problem auf ein anderes Gebiet verschoben. Vollzieht sich Entwicklung einschließlich ihrer Phasen des Niedergangs im Prinzip in einem nicht endenden Prozeß, so liegt aber jeweils 1. überhaupt eine Gesamtheit vor, aus der Strukturen von Signifikanz ausgelesen werden, 2. eine gewisse Willkür in der Abgrenzung dessen vor, was als Gesamtheit aufzufassen ist. Ohne den systematischen Zusammenhang von Teilgebieten zu beachten, fehlt die Verbindung zu den Nachbargebieten. Innerhalb des Systems, das in diesem Falle die gesellschaftliche Wirklichkeit darstellt, hat das Verschiedene seine relative Selbständigkeit. Hegel befaßt sich in seiner Philosophie der Geschichte mit einigen der Momente, die auf das Erkennen der Gesamtheit abzielen. Soweit die spezielle philosophische Reflexion vorliegt, muß das Vorgehen gerechtfertigt werden. Außerdem aber erhält dadurch das einzelne Forschungsgebiet sein Areal zugeteilt. Besteht je eine selbständige Aufgabe für jede einzelne Disziplin, so verflechtet diese sich mindestens in ihren Grenzgebieten mit anderen Disziplinen. Fehlt dieser Bezug auf das Ganze, dann läßt sich sehr schwer die Verbindung der einzelnen Gebiete nachträglich herstellen. Das System der einzelnen ihm eigen-
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tümlichen Elemente mache die ganze Idee aus, so Hegel, die in jedem einzelnen erscheine. 11 Von der idealistischen Identitätsphilosophie so formuliert, läßt der philosophische Materialismus daraus gemäß erreichter Einsicht die Einheit der Welt in ihrer Materialität werden. Ausgesprochen ist damit, daß es innerhalb der Welt keine Gebiete gäbe, die nicht irgendwie aufeinander bezogen seien. Hegel betont aber, daß sich in jedem Teilbereich diese Idee des Ganzen spiegele. Daraus entsteht f ü r Marx und Engels die Vorstellung, daß auf die Totalität bezogene Gesetze in Natur, Gesellschaft und dem Denken zu finden wären. Die Totalität betrifft in der Hauptsache zunächst, daß es Gesetze gibt, daß Strukturen vorzufinden sind. Wird die Gesellschaft untersucht, so ergibt sich daraus, daß in jedem Teilgebiet Momente aufzuweisen sein müßten, die auf die anderen Gebiete in Basis und Überbau verweisen. Sieht Hegel das Konkrete im Begriff, so vollzieht der Materialismus von Marx das Untersuchen der in den Begriff aufgenommenen konkreten Gebiete, der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Natur und den Ideen, in denen die gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgt. Marx macht hier keinen Unterschied zur Wissenschaft, da er in den Ideen die Inhalte sieht, in denen sich die Menschen ihrer Konflikte bewufrt werden und sie ausfechten. Gerade in dem Inhalt der einzelnen Formen des Bewußtseins ist damit auf die Totalität der Gesellschaft in den unterschiedlichen entgegengesetzten Inhalten hingewiesen. O b es sich dabei um falsches oder richtiges Bewußtsein handelt, entscheidet die Geschichte selbst in ihrem langfristigen Ablauf, wobei die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Problematik eines der wesentlichen Mittel darstellt, in denen sich das Selbstverständnis der Geschichte vollzieht. Hegel hat dafür die Bezeichnung, in der Form der wissenschaftlichen Darstellung ordne sich die äußere Erscheinung zu der inneren Folge des Begriffs. 12 Eine sinnvolle Geschichte gebe damit die rationelle Wissenschaft der Natur und der menschlichen Begebenheiten und Taten in einem äußerlichen, den Begriff abspiegelnden Bilde. 13 Damit unterscheidet Hegel eine äußere von einer inneren Darstellung. Die äußere Darstellung bringt die konkreten Begebenheiten, aus deren Folge und Wechselbeziehung sich die innere diachronische Struktur erschließen soll und die Totalität zu gewinnen ist. Aus dem Zustand der Entäußerung müssen deshalb die äußeren Erscheinungen und Ereignisse in die beiden unterschiedenen Strukturen zusammengenommen werden. Gelangen sie in den wissenschaftlichen Begriff, dann gelangen sie aus dem Zustand des An sich und des Für sich in den wesentlich verschiedenen, weil begriffenen Zustand des „An-und-für-sich". 14 Damit erst, versichert Hegel, er11 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler, Berlin 1966, § 15, S. 48. 12 Ebenda, § 16, S. 50. 13 Ebenda. 14 Ebenda, § 18, S. 50/51. 119
scheine die Idee. Sie besitze damit etwas Fließendes. Bloß bei der Abteilung der einzelnen Wissenschaften stehenzubleiben, heiße demnach im Unrichtigen verharren, die gesellschaftlichen und historischen Erscheinungen würden dann so behandelt wie Arien.15 Hegel verstand sich noch nicht zu der Annahme biologischer Entwicklung. Die Einteilung der gesellschaftlichen Bereiche aber wie die biologischen Arten zu behandeln, ist das Unrichtige und Falsche. An anderem Orte versichert Hegel, da ß mit dieser Entgegensetzung des Falschen auch ein Moment der objektiven Realität vorliege. Für Hegel und Marx ergibt sich dieses Urteil aus der Konzeption der Entwicklung, in der die einzelnen Gestalten der Wahrheit jeweils Momente darstellen, in denen sich die Entwicklung als objektiver Fortschritt repräsentiert. Der Übergang vom individuellen Eigentum an den Produktionsmitteln zum gesellschaftlichen Eigentum gilt als einer der entscheidenden Schritte, in denen sich der Entwicklungsprozeß äußert. In der diachronischen Struktur untersucht Hegel, wie sich im Werden das Gewordene aufhebt. In der „Logik" ist diese zentrale dialektische Kategorie behandelt. Die Untersuchung von Prozessen führt in der Darstellung der „Logik" von den einfachen Bestimmungen zu reicheren und konkreteren. 16 Durch das dialektische Vorgehen werde nicht nur nichts von dem früheren Inhalte verloren noch lasse es etwas zurück. Vielmehr trage der entwickeltere Begriff alles Erworbene des konkreten Prozesses mit sich, bereichere ihn und verdichte es in ihm. Der reichste Inhalt des Begriffs werde zum Konkretesten und Subjektivsten. Hegel leitet daraus ab, daß für die Geschichte gerade in der Persönlichkeit die reichste Subjektivität vorliege, darin aber auch das Allgemeine des historischen Prozesses sich zusammenfasse. Wie in den verschiedenen Bereichen das Allgemeine, das Gesetzmäßige, die Struktur des Gesamtprozesses, die Totalität erkennbar wird, so ebenso nach Hegel auch in der Persönlichkeit. Bei Hegel und Marx handelt es sich nicht um einfaches Aufdecken archäologischer Schichten, sondern um deren Integration in die höhere Entwicklungsstufe. Jeweils bleibt damit zu untersuchen, welche neue Bedeutung alte Schichten der gesellschaftlichen Wirklichkeit gewonnen haben, welche Bedeutungsverschiebungen vorsichgegangen sind. Die Persönlichkeit findet bei Marx eine andere Wertung als bei Hegel. Bereits in der „Heiligen Familie" ist auf die Rolle der Massen in der Geschichte in Polemik gegen Bauer und seine Anhänger aus dem Stralauer Klub der Doktoren hingewiesen. Masse und Persönlichkeit treten in ein besonderes Wechselverhältnis, in dem sich Dialektik ebenfalls äußert. Die Persönlichkeit ist im Verständnis von Marx nicht die gleiche wie für die bürgerliche Gesellschaft. Die Strukturen der Klassenzugehörigkeit sind als ausgezeichnetes Merkmal aufgefaßt, durch das sich die Persönlichkeit innerhalb des Klasseninteresses entfaltet. Innerhalb der 15 Ebenda, § 18, S. 51. 16 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1951, S. 502.
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Geschichte ist indes die Masse als besonderes historisches Subjekt verstanden, dem in jeder Gesellschaftsformation seine Rolle zukomme, die die Geschichtsschreibung aufzudecken habe. Die Geschichte der Klassenkämpfe bietet noch viel unerschlossenes Material, durch das Strukturen hinter den die Chronologie bestimmenden vordergründigen Darstellungen aufzuhellen sind. In der marxistischen Geschichtsauffassung bleibt indes die Persönlichkeit des Einzelnen ein bestimmendes Moment des historischen Prozesses. In der Polemik über die Tendenzen von Gesellschaften mit Industrie erscheint als wichtiges Moment zu erörtern. Es fragt sich nämlich, wie weit sich die Persönlichkeit in der Industrie der Fließfertigung, der Automatisierung sowie der großen Forschungskollektive erhält. Gegen die Vorstellung einer Abtötung der Individualität setzte Marx schon in seinen Frühschriften auf die Reifung der individuellen Persönlichkeit. Soweit demnach innerhalb der Industrie der Einzelne, das Individuum, nicht zur Leistung aufgefordert wird, sind diese Erscheinungen als Durchgangsphasen aufgefaßt, über die schließlich die reichere Persönlichkeit triumphiert. Ich habe den Eindruck, daß alle Vermutungen, modernere Industrie benötige bloß noch geschickte Idioten, sich nicht bewähren. Ebenso bin ich der Auffassung, daß eine Reduzierung der Produktion auf bloßes vergegenständlichtes theoretisches Wissen völlig an dem wirklichen Sachverhalt der gegenwärtig feststellbaren Erscheinungen vorbeigeht. Dem entspricht etwa die Meinung, daß Industrialisierung und Verstädterung stets eine Atomisierung der Gesellschaft zur Folge hätten im Sinne der Isolierung des persönlichen Lebens und damit der persönlichen Sphäre ihrer Mitglieder in Gestalt einer besonders fühlbaren Form der Entfremdung. Der Mensch werde vereinsamt, weil die Gesellschaft, ihre Verhältnisse und Institutionen sich um so stärker als sachliche und fremde Kraft gegen ihn zur Geltung brächten. Vorausgesetzt wäre, daß gesellschaftliche Strukturen gleich welcher Art in früheren Gesellschaften weniger oder gar nicht auf das Individuum gewirkt hätten. Nach meiner Meinung verhält es sich anders. Einmal sollte man sich vor der Glorifizierung alter Gesellschaften hüten. Um Mißverständnisse über ältere Gesellschaften zu vermeiden, ist ein näheres Untersuchen gerade der Abhängigkeiten dieser Gesellschaften in bezug auf die verschiedenen Klassen und Schichten nötig. Dann handelt es sich darum, die Veränderungen von einer Gesellschaftsformation zur anderen zu untersuchen. Gibt es etwa im Mittelalter bloß Naturkatastrophen bis hin zu Massenseuchen, die viele europäische Städte bis iivdas 18. Jahrhundert getroffen und so etwas Prosaisches wie die städtischen, nationalen und internationalen Gesundheitsinspektionen hervorgerufen haben, so ist das Fehlen von zyklischen Krisen kein unbedingter Vorteil. Der Gesichtskreis der Individuen im Zeitalter der Naturalwirtschaft war, wie mit Gewißheit zu sagen ist, keinesfalls größer als der der Völker mit Rundfunk und Television. Wendet sich intellektuelles Gerede gegen Massenkommunikationsmittel überhaupt, so ist damit unbedingt die bewußte Ausschaltung von Information ausgesprochen, wenn auch vorgeblich gemeint sei, den Menschen vor Überfütterung 121
mit Information zu behüten. Das veränderte Informationsgefüge gehört in die sich entwickelnden Strukturen. Jene angebliche Atomisierung der Persönlichkeit ist sicherlich ein Moment der Persönlichkeitsbildung überhaupt. Gemeinschaft liegt in den großen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Persönlichkeit benötigt den Zugang zu gesellschaftlichen Prozessen und ihre individuelle Entwicklung. Wenn Industrie heute Unsicherheitsfaktoren in sich birgt, wie schnellen technischen Fortschritt, stochastische Rohstoffverknappung mit Preisanstieg und durch Substitution bedingte weitere Preissteigerung, so handelt es sich strukturell um Produkte der menschlichen Arbeit, die über die Bedingungen der Entwicklung von Produktionsinstrumenten bzw. produzierenden Systemen zuvor nicht vorhandene Strukturen setzen. Dazu gehört so etwas wie technischer und moralischer Verschleiß von technischen Einrichtungen, ebenso die Notwendigkeit, sich schneller auf neue Bedingungen einzustellen. Damit ist aber eine Umstellung des Menschen gefordert, der sich auf einen anderen Arbeitsplatz einstellen muß, wenn er nicht konservativ auf die Stufe des mittelalterlichen Handwerkers herabfallen möchte. Dazu kommt die Forderung, innerhalb relativ kurzer Zyklen neue Lösungen von technischen Problemen zu finden, die sich als Druck auf die Leistung auswirken, wie die moderne Industrie eine andere Disziplin verlangt, als die Werkstatt des Meisters und seiner Gesellen kannte. Die Objektivität der Strukturen erzwang im Mittelalter, neue technische Entdeckungen in der Werkstattsphäre möglichst zu unterdrücken, worin zweifellos eine weitere Einschränkung der Persönlichkeit gegeben war, die in einigem hinter die Gesellschaft der Antike zurückfallen ließ, um schließlich doch ein höheres absolutes Niveau zu erreichen. Gegenwärtig erzwingen die objektiven Strukturen kontinuierlichen Fortschritt eines ganzen Spektrums von Disziplinen und Arbeitserfahrung, die im Mittel eine wesentliche Bereicherung der Persönlichkeit bedeuten können. Eine undialektische Beurteilung von Strukturen liegt vor, wenn behauptet wird17, durch den Tauschprozeß habe der Mensch seine Herrschaft über den Gesellschaftsprozeß verloren. 18 Unter den Phöniziern und in der griechischen wie römischen Antike bedeutet nach meiner Meinung Warenwirtschaft keine Entfremdung, sondern Vorbedingung weiterer kultureller Entwicklung. Im Kapitalismus bedeutet das Durchsetzen weltweiter Warenwirtschaft die Voraussetzung einer Vergesellschaftung der Arbeit, auf die Marx verweist. Marx beseitigt im Anschluß an Hegel die Vorstellung, Entwicklungsprozesse besäßen grundsätzlich nur eine einzige Bedeutung, seien also entweder fortschrittlich oder nicht progressiv. In den durch Warenwirtschaft ausgedrückten Strukturen bilden sich die Bedingungen weiterer Entwicklung, besitzen aber damit gleichzeitig andere Eigenschaften, die in ihrer Negativität neue Strukturen der Gesellschaft hervorrufen. Sohn-Rethel erwähnt, damit sei die intellektuelle Selbständigkeit des indi17 A. Sohn-Rethel im Anschluß an G. Lukäcs und K. Mannheim. (A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt a. M. 1972.) 18 Ebenda, S. 116.
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viduellen Geistesarbeiters entstanden. Ich habe den Eindruck, dag die geistige Arbeitsteilung, aus der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit entstanden, eines jener zwiespältigen Produkte gesellschaftlicher Entwicklung ist, das in die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft gehört. Dem Geheimbund des Pythagoras war bereits intellektuelle Selbständigkeit eigen, als die Waren-wirtschaft noch sehr unentwickelt war. Für die jüngere Steinzeit ist bereits Warenverkehr auf umfangreichen Handelsstraßen nachgewiesen. Die Vorstellung, moderne Wissenschaft sei an die Kategorien der Tauschabstraktion gebunden, übernimmt die Annahme von Lukäcs, naturwissenschaftliche Ergebnisse seien durch ihre notwendige Bindung an eine Gesellschaftsformation ebenso notwendig falsches Bewußtsein, das sich erst in der klassenlosen Gesellschaft aufhebe, in der «s natürlich ebenso wissenschaftliche Entwicklung zu geben vermag. Sohn-Rethel leitet aus der Tauschkonzeption ab, dem individuellen Geistesarbeiter sei der Zugang zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse damit verschlossen. Eine äußerliche Anknüpfung bietet eine Bemerkung von Marx, der die Logik das Geld des Geistes nennt. Die Analogie bietet sich an, da durch die formale Logik und übrigens auch durch die Dialektik es möglich wird, heterogene, unterschiedene konkrete Objekte gleich welcher Dimension auf jenen gemeinsamen Nenner zu bringen, der sie logisch in Beziehung zu setzen gestattet. Das Erkennen von Strukturen hat übrigens in engerem oder weiterem Sinne die gleiche Funktion. Jede wissenschaftliche Erkenntnis bringt Einzelnes in Zusammenhang, da der wissenschaftliche Begriff das Allgemeine ausdrückt. Diese bei Aristoteles vorhandene Erkenntnis wird auch durch das Ausbreiten des Tauschmechanismus nicht ausgeschaltet. Sohn-Rethel meint, rationales Denken müsse mit dem materialistischen Prinzip raum-zeitlicher Erklärung identifiziert werden. Tue man das, so bedeute die Trennung von der Handarbeit, der rationale Intellekt sei bloß zur Hälfte rational. Daraus erfolge die Begriffsblindheit gegenüber dem gesellschaftlichen Sein.19 Handarbeit ist indes, wie bekannt, nicht die Voraussetzung rationaler Erkenntnis, wie jedem der hier behandelten Theoretiker geläufig ist. Aus der Handarbeit ist das Verständnis in dem von Sohn-Rethel gemeinten Sinne ebenfalls nicht entstanden. Wirksam ist jene von Hegel entdeckte Totalität der gesellschaftlichen Strukturen, die jedes der von ihr umfaßten Gebiete beeinflußt, in der Theorie aber ein Kriterium am empirischen Material und an der Einstimmung in die Totalität der Strukturen besitzt, die außerdem noch dem Kriterium gesellschaftlicher Praxis unterworfen sind. Daß empirisches Wissen überhaupt in Strukturen darstellbar ist, setzt indes neben der Faktenkenntnis logisch stringente Ableitung und Schlüssigkeit voraus. Die Handarbeit scheint sich auf sehr lange Zeit zu erhalten, braucht aber nicht beim einzelnen Individuum vorhanden zu sein. Ganz im Gegenteil ist die Arbeitsteilung überhaupt die Voraussetzung jeder theoretischen Erkenntnis, wobei die 19 Ebenda, S. 117.
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Handarbeit in ihrem eigenen Bereich ebenfalls nicht bloß historisch das Denken entwickeln half, sondern auch vermutlich denkintensiver wird. Im Vergleich zum früheren Handarbeiter und dem Landarbeiter alter Gesellschaften, die relativ lange die gleichen Manipulationen und Verfahren - von Geschlecht zu Geschlecht vererbt - repetieren, ist unbeschadet statistischer Schwankungen oder wellenförmiger Trends durchaus wachsende Intelligenzintensität festzustellen, was auch im allgemeinen für hochrationalisierte Fließbandarbeit gilt, für moderne Werkzeugmaschinen und andere Aggregate, erst recht aber für automatisierte Tätigkeit, die Überwachungsfunktion erfordert. Tauschabstraktion provoziert nach Sohn-Rethel mechanistisches Denken. Die alten Vorstellungen von Borkenau scheinen dabei ebenfalls mitzuschwingen. Borkenau nahm an, daß die gesamte Wissenschaft und Philosophie der Manufakturperiode ein Reflex der arbeitsteiligen Manufakturarbeit darstelle. Damit seien aber jenem Denken wohl die Eigenschaften der Manufakturproduktion eigen; nicht aber eine gewisse Objektivität der Naturerkenntnis. Analog läßt sich von einer Entdeckung etwa in der Physiologie auf ähnliches Verhalten in anderen Gebieten schließen. Nikaido hat deshalb die durchaus richtige Vorstellung, Quesnay könnte sich an der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey orientiert und deshalb die Idee gefaßt haben, in der Ökonomie müsse es auch so etwas wie einen Blutkreislauf geben. Durch das Vertrautsein mit der Handarbeit kommt indes ebensowenig automatisch mechanistisches Denken zustande, wie das Vorhandensein von Dialektik nicht unmittelbar oder vermittelt in jedem Gebiete der Wissenschaften mechanistisches Denken beseitigt, und zwar unabhängig davon, wie weit Tauschmechanismus vorhanden ist oder nicht. Ein geradezu erstaunlicher Vorschlag, der sich eng an Lukäcs20 anschließt, kommt deshalb von SohnRethel. In einer weniger klaren Weise als Lukäcs verlangt er das Abschaffen des „erkenntnistheoretisch undiskutierbaren" Materialismus. Die mathematische Naturerkenntnis hingegen ist also völlig unter der Tauschkonzeption entstanden und von ihr bestimmt mißverstanden. Die Natur sei auf Grund der Tauschabstraktion auf einen gleichförmigen, in seiner Wiederholbarkeit unverbrüchlichen Mechanismus von Naturgesetzen festgelegt.21 Damit aber wiederholt sich die Debatte, die Rickert in Deutschland anführte, ob überhaupt unwiederholbar einmalige gesellschaftliche Ereignisse in Gesetze zu fassen seien. Rickert war der Meinung, es gebe zwar Naturgesetze, nicht aber Gesetze der Gesellschaft. Es ist eine Auffassung, die auch noch gegenwärtig etwa von Hans Albert in der BRD und von Popper in England abgewandelt, aber ähnlich vertreten wird. Hegels Weltgeist reduziert sich bei näherer Betrachtung auf das Anerkennen von Strukturen. Die von Marx entdeckte Gesetzmäßigkeit setzt ausdrücklich gar nicht voraus, daß sich das Einzelereignis mit der Gesetzmäßigkeit deckt. Damit 20 G. Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 141-143. 21 A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, a. a. O., S. 164.
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aber liegt ein Sachverhalt vor, der erkenntnistheoretisch Natur und Gesellschaft näher zueinander bringt. In Natur und Gesellschaft zeigt sich jener Spielraum der Wahrscheinlichkeit, auf den bereits hingewiesen wurde und der die Darstellung der Prozesse aus beiden Bereichen in Gesetzen als der Bestimmung wesentlicher Verhältnisse erlaubt. Die Wiederholbarkeit ist in der Natur nicht anders gegeben als in der Gesellschaft. Soweit Strenge gefordert wird, gibt es sie weder in der Natur noch in der Gesellschaft. Trotzdem lassen sich relative Konstanzen feststellen. Wird nun die mathematisch-physikalische Denkweise zu einem Denken gemäß den Formen des gesellschaftlichen Zusammenhanges von Aneignung gemacht 22 , so erfolgt nicht bloß eine Subjekti vierung des Erkenntnisprozesses. Auch der Charakter des Tauschvorgangs wird verkannt. Der Tausch über Geld ist ein Stellenwechsel von Produkten, der in einer nicht zu unterschätzenden Hinsicht das Produkt an die Stelle befördert, an der es seine Gebrauchswerteigenschaften zur Geltung bringen kann. Auf jeden Fall unterliegen im Produktionsprozeß auftretende Faktoren einer Bewertung, mindestens hinsichtlich ihrer Gebrauchswerteigenschaften. Dafür gilt nicht die bloße Selbstbewertung. Der Grund liegt in der allerdings absolut strengen Notwendigkeit, daß bestimmte Leistungen erforderlich sind, um Produktionsmechanismen zu erzeugen oder in Gang zu halten. Die gesellschaftliche materielle und ideelle Existenz besitzt ihre Anforderungen in der Naturalwirtschaft und der Geldwirtschaft auf der Ebene der Struktur der Gebrauchswerte. Deshalb besitzen im Durchschnitt Produkte nur Tauschwert, wenn sie Gebrauchswert haben. Marx unterschied die technische Zusammensetzung der Produktion von der wertmäßigen Zusammensetzung. Die mathematisch-physikalische Aneignungsweise, von der gelegentlich erwartet wird, sie könne verschwinden, setzt sich auf der Seite der technischen Zusammensetzung gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse durch. Utopisch im soeben skizzierten Sinne ist es aber anzunehmen, daß seitens der Gesellschaft die Berechnung des Einsatzes von gesellschaftlicher Arbeit und einzelner Arbeit nach Quantität und Qualität irgendwann einmal entfalle. Welcher gesellschaftliche Nutzen aus der unterschiedlichen Qualität von lebendiger Arbeit entspringt, ist eine Frage der Schätzung und der Kalkulation. Sie wird heute umfangreich geübt. Der Multiplikationsfaktor einzelner und kollektiver geistiger Arbeit kann dabei in technischer, aber auch in gesellschaftswissenschaftlicher Weise beträchtlich sein. Natürlich handelt es sich dabei stets um die Objektivierung der Leistung. Gerade damit aber zeigt sich auch auf dieser Seite der Objektivität der Strukturen, in die die menschliche Tätigkeit eingebettet ist. Soviel sich auch die Strukturen geändert haben, so wenig lassen sich die den Menschen im Unterschied zum Tier bestimmenden Beziehungen aufheben, die mit der Kategorie Arbeit gekennzeichnet sind. Darauf ist hinzuweisen, da gelegentlich angenommen wird, künstlerische Tätigkeit oder musische überhaupt ersetze das Gewinnen von sonstigen Konsumgütern. 22 Ebenda, S. 165.
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Wie steht es mit der angeblichen Festlegung auf einen unverbrüchlichen Mechanismus von Naturgesetzen, mit denen sich Sohn-Rethel beschäftigte? In dem. Nachwort zur zweiten Auflage des „Kapital" stellt Marx seine dialektische Methode dar; sie ist „von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil" 23 , von Hegel wurde sie in ihrer „allgemeinen Bewegungsform zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt" 24 , der rationelle Kern aber erst von Marx aus der mystischen Hülle befreit. Um die auf die Gesellschaft angewendete materialistische Dialektik gleichsam objektiv zu belegen, enthebt sich Marx der eigenen Darstellung der im „Kapital" angewendeten Methode, indem er aus dem Petersburger „Europäischen Boten" vom Mai 1872 die Analyse eines russischen Rezensenten vorbringt, mit der er sich gänzlich und ohne Einschränkung identifiziert. 25 Marx erwähnt bekanntlich immer wieder, daß sich die gesellschaftliche Bewegung wie ein naturgeschichtlicher Prozeß durchsetzt. Im Unterschied zu den spätbürgerlichen Theoretikern, die Natur von Gesellschaft trennen, betonte jener Rezensent I. I. Kaufmann, worin von Marx die Beziehung zu Vorgängen in der Natur gesehen wird. Als Muster der Abfolge gesellschaftlicher Erscheinungen gilt nicht die Mechanik, sondern eine andere Eigenschaft von Naturprozessen: Notwendigkeit des Übergangs einer Ordnung in eine andere, und zwar unabhängig davon, „ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind". 26 Dafür ist für die Gesellschaft wie für die Natur das Vorhandensein von Gesetzen angenommen, „die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen". 2. In Kenntnis der Vorrede oder des Vorworts zur „Kritik der politischen Ökonomie" ist erläutert, für Marx sei „nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt". 28 In Natur und Gesellschaft sind Gesetze von Marx vorausgesetzt, in der Gesellschaft deshalb, weil auf Grund der philosophischen monistischen Konzeption diese Eigenschaft von der Natur aus auf den bisher nur unvollständig untersuchten Bereich ausgedehnt werden darf. Die vormarxsche wissenschaftliche Ökonomie beschäftigte sich bereits mit dem Auffinden von Gesetzen. Marx benutzt die Ergebnisse der klassischen Forschung, kritisiert und modi23 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, Nachwort zur zweiten Auflage, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 27. 24 Ebenda. 25 Ebenda, S. 27: „Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode?" 26 Ebenda, S. 26. 27 Ebenda. 28 Ebenda, S. 25.
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fiziert sie, hat aber vor allem die Bewegung und Veränderung dessen im Auge, was er reale Basis oder sozialökonomische Struktur nennt. Deshalb beschäftigen ihn der Übergang einer Ordnung in die andere, der Übergang einer Struktur in die andere und die darin sich ausdrückenden Gesetze. Marx legt nicht die Erforschung der Struktur und die sie bestimmenden Gesetze von Gesellschaft der Naturwissenschaft zugrunde, sondern umgekehrt deren Ergebnisse der Erforschung der Gesellschaft. Dabei ist zunächst nicht vorausgesetzt oder abgeleitet, was es für Gesetze sein mögen, sondern daß es Gesetze sind. Bestimmend erscheint Marx, daß die gesellschaftlichen Gesetze unabhängig vom Bewußtsein sind. Damit ist die materialistische weltanschauliche Position von dem spezifischen Verhältnis des Menschen zur Natur auf die Gesellschaft übertragen. In beiden Fällen ist vorausgesetzt, daß menschliche Aktivität gegenüber der Natur zur Naturwissenschaft und der Darstellung von Naturgesetzen führt, in der Gesellschaft die menschliche Aktivität Gesetze erzeugt, die unabhängig vom Bewußtsein wie Naturgesetze wirken. Identität ist demnach nicht in jeder Hinsicht angenommen. Der Unterschied besteht darin,'daß wir die einen gemacht, die anderen nicht gemacht haben, jener Umstand, auf den Vico hinsichtlich der Menschengeschichte und der Naturgeschichte verwies. 29 In der Theorie von Basis und Überbau verwies nun Marx auf die Dialektik in diesen Sachverhalten der Gesellschaft im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Objektivität der Basis, der daraus entstehenden Klasseninteressen, der mit der herrschenden Klasse gegebenen Dominanz, die in der Regel mindestens auf der Höhe ihrer Klassenherrschaft das Bewußtsein der unterdrückten Klassen bedingt, beeinflußt und bestimmt. Objektivität und Materialität sind im Verständnis von Marx den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen gegeben sowie der Möglichkeit von deren Erkennbarkeit und dem Verhältnis zu den verschiedenen Erscheinungen des Überbaus. „Objektiv" heißt Existenz außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein, einschließlich adäquater Abbildung im Prozeß. Sie besitzen damit Strukturen, die die materielle Konfiguration der Basis darstellen, von ihnen ausgebildeter Gesetzmäßigkeit unterliegen und Gesetze enthalten, insofern es sich um wesentliche Verhältnisse handelt. Ähnliche Gesetzmäßigkeit regelt das Verhältnis von Basis und Institutionen des Überbaus sowie den Formen des Bewußtseins. Wechselwirkung liegt stets vor, wobei für den gesamten Überbau die Basis die Bedingungen liefert, selbst aber als materielle Struktur hinter dem Rücken der Beteiligten entstanden ist, einschließlich des Verhältnisses der Beteiligten untereinander. Da das Bewußtsein der Individuen der menschlichen Gesellschaft einmal Produkt der sozusagen physischen und physiologischen Materie und zum anderen der Arbeit darstellt, funktioniert es unter dem Einfluß der Physis und der Gesellschaft. Zum Bewußtsein, das damit als nicht materiell qualifiziert ist, gehören 29 Ebenda, S. 393 Anm.
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also als Voraussetzung physisch und gesellschaftlich bedingte Eigenschaften. Da die im Bewußtsein sich abbildende Kommunikation der Individuen nach einiger Anlaufzeit unter den morphologisch bereits kenntlichen Anthropoiden durch die Arbeit angeregt und bereichert wird, gehören in das Bewußtsein auch jene objektiven Erkenntnisse, die der Herstellung von Produktionsinstrumenten und dem Zugänglichmachen sonstiger Produktionsmittel dienen. In den Bereich der objektiven Kenntnisse gehören neben der Arbeitsorganisation auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Produktionsprozeß überhaupt ermöglichen. Sie sind es, die vermutlich nach schließlich zweieinhalb bis viereinhalb Millionen Jahren aus Arbeitserfahrung und mystifizierendem Ritual zu dem wurden, was wir heute Wissenschaft nennen. Wenn man Wissenschaft mit den zur wissenschaftlichen Arbeit von Forschung und Entwicklung notwendigen Mitteln verwechselt, was häufig geschieht, dann verwischt sich der Unterschied von Materie und Bewußtsein. Wissenschaft übersteigt die mit unmittelbarer oder vielfältig vermittelter Arbeitserfahrung verbundenen Kenntnisse. Sie bildet in einem langwierigen Verlauf fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung Naturvorgänge ab, die in den Bereich des gesellschaftlichen Interesses geraten sind und/oder die Neugierde hervorriefen, vielleicht auch ein Komplettierungsbedürfnis entstehen ließen. Mit Technik oder Technologie befaßt sich Wissenschaft als Darstellung wesentlicher Beziehungen, d. h. von Gesetzmäßigkeiten für den generellen Entwurf von Produktionsinstrumenten und produzierenden Aggregaten in ähnlicher Weise, wie Naturvorgänge quantifizierender und qualifizierender Analyse unterworfen werden. Für sie ist das Entwerfen von in der Natur nicht realisierten oder nicht auf gleiche Weise realisierbaren Objekten kennzeichnend. Sie müssen erst als Gestalt und in der Funktion durch den Kopf gehen. Nicht zu vergessen ist, daß Hypothesen, die zu Theorien werden, auch wenn sie widerspiegeln sollen, durch den Kopf gehen müssen. Soweit in Bewußtseinsinhalten, also in Erscheinungen des Überbaus, Kenntnisse vorhanden sind, die durch Experiment und Industrie im weitesten Sinne getestet werden, sind sie, den Zeitverhältnissen und der Epoche entsprechend, adäquates Bewußtsein. Als falsches Bewußtsein sind sie dann nicht abzuqualifizieren, obwohl der weltanschauliche und methodologische Hintergrund den Klassenauseinandersetzungen unterliegt, die Klassenideologien untereinander austragen und von denen die progressiven in der Regel den philosophisch höheren Wahrheitsgehalt zu besitzen pflegen. Einige der genannten Momente sind zu beachten, wenn Marx Vergleiche aus den Naturwissenschaften bringt, um einen auf die Gesellschaft anzuwendenden Materialismus im Umriß vorzuzeichnen. Im „Vorwort" zur ersten Auflage des ersten Bandes des „Kapital" entschuldigt sich Marx, daß das Kapitel über Wertsubstanz und Wertgröße so kompliziert gehalten sei. Die Wertform sei zwar einfach, aber schwer zu studieren, schwerer als die Analyse viel inhaltsvollerer und komplizierterer Formen, die wenigstens bis dahin schon teilweise gelang. Als Grund gibt Marx an, der ausgebildete Körper sei leichter zu studieren als 128
die Körperzelle.30 Zudem vermöge man sich bei der Analyse ökonomischer Formen weder des Mikroskops noch chemischer Reagenzien zu bedienen. Die Abstraktionskraft habe beide zu ersetzen. Warenform des Arbeitsprodukts und die Wertform der Ware bedeuten in der bürgerlichen Gesellschaft die ökonomische Zellenform. Dem Ungebildeten, schreibt Marx, scheine sich die Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. Es handele sich aber um die gleichen Spitzfindigkeiten wie in der „mikrologischen Anatomie".31 Betonte Marx die Funktion der Abstraktionskraft für die Analyse der sozialökonomischen Strukturen und überhaupt der Ökonomie, so ergab sich inzwischen, daß für das Benutzen des Mikroskops und der chemischen Reagenzien nicht minder jene Abstraktionskraft einzusetzen ist. Tatsächlich besitzt die Ökonomie weder Mikroskop noch Reagenzien, vermag sich aber der Daten der Statistik und der Buchführung zu, bedienen, dazu noch, wie Marx verfährt, der Berichte von Fabrikinspektoren und Untersuchungskommissären.32 Sie ersetzen das Experiment. Marx sucht in der Gesellschaft „dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur" zu kommen33, das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen"34, die „Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß"35 aufzufassen. Die bürgerliche Gesellschaft bezeichnet Marx mit aus den Naturwissenschaften entlehnten Ausdrükken: Sie ist „kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus".36 In der Petersburger Rezension sind die Begriffsbestimmungen von Marx aufgegriffen. Um das „Gesetz der Phänomene" zu finden, ist der Zusammenhang nötig, „wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird"37. Das Beobachten liegt den von Marx angestrebten Abstraktionen zugrunde, die historisch und logisch verfahren. 38 Die an dem ökonomischen Material angesetzte Beobachtung läßt zu, Ware und Wert als Grundkategorien zu erkennen und daraus die a priori erscheinende Darstellung des Kapitals hervorgehen zu lassen, bei der auf den Übergang von 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Ebenda, S. 11/12. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 15. Ebenda. Ebenda, S. 15/16. Ebenda, S. 16. Ebenda. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 27: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." Lcy, Bewußtsein
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einer Form in die andere besondere Aufmerksamkeit verwendet wird. Da Marx ausdrücklich zwischen der empirischen Aneignung des Stoffes und der logischen Darstellung unterscheidet, ist nahegelegt, darin ein besonderes dialektisches Verhältnis zu sehen. In den Daten der Statistik wird eine Regelmäßigkeit erkennbar sein, die sich ungefähr so mit diesen Daten deckt wie empirische Einzelfakten und eine logisch bestimmte Darstellung zusammenkommen können. Die Übereinstimmung gilt der Sache und dem Bewegungsprozeß. Die Statistik wird stets eine Varianz aufzuweisen haben, in der sich die Einheit von historischen und logischen Strukturen, aber auch ihr Unterschied äußert. Die als Statistik abbildbaren Daten enthalten einmal die mathematisch darstellbare Regelmäßigkeit von Wahrscheinlichkeitsstreuungen und ebenso charakterisierbaren Übergängen, zum anderen die den Randbedingungen und dem besonderen Inhalt adäquate theoretische Darstellung, die in den Reproduktionsschemata mündet. Dann bleibt zu beachten, daß Marx zwischen unentwickelten und entwickelten Formen der Erscheinungen ein und derselben Gesellschaftsformation unterscheidet. Die logisch aus der „ökonomischen Zellenform" abgeleiteten Gesetze betreffen die entwickeltsten Beziehungen. Unentwickelte müssen sich schon deshalb von den theoretischen Strukturen unterscheiden, weil in ihnen auf Grund des weniger entfalteten Entwicklungsstadiums die materiellen Momente der bestimmenden Kategorien nur unvollständig enthalten sind und sich deshalb nur partiell auswirken. Entsprechende Kenntnis, sagt Marx, kann „naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." 39 Bevor die den zeitlichen Ablauf zunächst ausklammernde Beziehungsdarstellung der Reproduktionsschemata von Marx aufgestellt werden konnte und der zu den gesuchten Übergängen führende zeitliche Ablauf zu untersuchen und mit den Fakten entwickelter Länder zu vergleichen war, mußte aus der ökonomischen Zellenform das Reproduktionsschema abgeleitet werden. Da Marx weniger die Übergänge in der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigten als der Übergang zum Sozialismus, war im Prinzip ausreichend, „mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andern Ordnung" 40 , nämlich der sozialistischen, nachzuweisen. Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit sind die philosophischen Bestimmungen, mit denen der Übergang belegt ist. Ist dann angemerkt, daß in der Kulturgeschichte, zu der hier die Ökonomie gezählt ist, das bewußte Element eine so untergeordnete Rolle spiele 41 , so sind andererseits die den Übergang zwingend machenden Strukturen solche, die selbst dann eintreten, wenn keinerlei Bewußtsein vorliegt. Der Übergang selbst erfolgt dann mit Bewußtsein als Abkürzung des Prozesses. Im Unterschied zu Hegel geht Marx nicht von der Idee aus und vergleicht die bürgerliche Gesellschaft auch nicht mit der davon vorhandenen Idee: „nur die äußere Erscheinung kann 39 Ebenda, S. 16. 40 Ebenda, S. 26 41 Ebenda. 130
ihr (der Analyse - H. L.) als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache." 42 Daraus resultiert in der von Marx durchgeführten Analyse das Feststellen einer Serie von Ordnungen, worin Entwicklungsstufen erscheinen. Die ökonomischen Gesetze gelten ihm nicht als allgemeingültig, sondern jede historische Periode besitzt ihre eigenen Gesetze: „Mit einem Wort, das ökonomische Leben bietet uns eine der Entwicklungsgeschichte auf andren Gebieten der Biologie analoge Erscheinung." 43 Den älteren Ökonomen ist unterstellt, sie hätten die ökonomischen Gesetze mit denen der Physik und Chemie verglichen/* 4 Indes: „eine tiefere Analyse bewies, daß soziale Organismen sich voneinander ebenso gründlich unterscheiden als Pflanzen- und Tierorganismen . . . J a , eine und dieselbe Erscheinung unterliegt ganz und gar verschiednen Gesetzen infolge des verschiednen Gesamtbaus jener Organismen." 45 Wie in der Biologie die Systematik unabhängig von der Kenntnis der Evolution entstand, schließlich aber die Evolutionstheorie die Systematik zu benutzen und ihrerseits zu unterstützen wußte, so ergibt sich in der Ökonomie ein Analogon. In diesem Falle heißt der Vergleich, daß analoges Verhalten auf eine Ähnlichkeit hinleitet, bei der als Identität das Vorhandensein von Gesetzen überhaupt und von solchen der Entwicklung auftritt. Da konkrete Vergleiche zeitbedingt sind, ist zu erwähnen, daß nicht nur die Biologie auf eine derartige Verhaltensweise der Natur führt, sondern die Evolution generell nachgewiesen werden konnte, die Biologie damals aber bereits über umfangreiche Belege verfügte. Der Gegensatz zu Physik und Chemie hat sich insofern erhalten, als die Allgemeingültigkeit ihrer Gesetze im Kosmos ihre Bestätigung fand, Leben aber bisher nur vermutungsweise mit ähnlicher Allgemeingültigkeit im Kosmos anzunehmen war, die Gültigkeit seiner Gesetze aber bei entsprechenden Bedingungen als sicher sich ausweist. Gerade unter diesem Gesichtswinkel aber gilt auch das Eintreten des Wirkens chemischer Gesetze als historisches Faktum, in Abhängigkeit von der Entwicklung der Galaxien und in ihnen der Sterne. Welche physikalischen Gesetze dominieren, erwies sich nicht minder als geschichtliche Entwicklungsstufe. In der Natur erstreckt sich das Eintreten von bedingungsabhängigen Naturgesetzen über lange Zeiträume. In der Gesellschaft lassen sich die Epochen einerseits leichter verfolgen, weil sie relativ kurzfristig aufeinanderfolgen. Die Milliarden Jahre kosmischer Evolution aber sind besser überschaubar geworden, als es etwa für die Gesellschaft in manchen Gegenden für einen Zeitraum von wenigen hundert Jahren gelingt. Wichtiger ist zu sehen, daß Marx sich Naturgeschehen als äquivalentes Analogon heranzieht, um die Berechtigung seiner Art des Herangehens 42 43 44 45 9»
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. 131
zu belegen, und er Entwicklung in der Gesellschaft ableitet, die damals in der Natur nur andeutungsweise und vorwiegend hypothetisch zugänglich war. Der geschichtliche Nachweis der durchgängigen Gültigkeit von Entwicklung erfolgte später als die philosophische These materialistisch monistischer Aspekte aufgestellt wurde. Sie erwies sich als zutreffende Prognose. Hegel war sich am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht sicher, wie weit Entwicklung anzunehmen sei: hinsichtlich der Gesellschaft gewiß, doch nahm er die Entwicklungsdialektik nicht für die Naturdisziplinen, hingegen für die Gesamtheit der Realität als gültig an, die dafür aber der spiritualisierten Konstruktion anheimfiel. In der Gesellschaft ist vom russischen Rezensenten des „Kapital" als umfassende Gesetzmäßigkeit schlicht formuliert: „Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze." 46 Die spezifischen, von der sonstigen Natur differenten Bedingungen sind darin angezogen: Zweck, Zielsetzung, Wollen, Absichten und jenes graduell unterschiedene Bewußtsein in der Beziehung auf die Produktivkräfte, die andere Verhältnisse und andere sie regelnden Gesetze hervorrufen. Durch die von Marx angesprochene Entfaltung der Produktivkräfte sind aber in der Evolution der menschlichen Gesellschaft die verschiedenen Formen des Bewußtseins einschließlich der Arbeitserfahrung und der Wissenschaften niemals ausschließlich in einen Verblendungszusammenhang eingeschlossen, wie Sohn-Rethel behauptet. 47 Marx bestimmt deshalb die Funktion der englischen Ökonomie bis Ricardo als Wissenschaft. 48 Auf Grund des damals nach Marx unentwickelten Klassenkampfes kann Ricardo „bewußt den Gegensatz der Klasseninteressen, des Arbeitslohns und des Profits, des Profits und der Grundrente, zum Springpunkt seiner Forschungen" 49 machen. Obwohl die Warenproduktion bereits weitgehend die englische Ökonomie bestimmte und die kapitalistische industrielle Revolution bereits eine ökonomische und politische Revolutionierung der englischen Gesellschaft eingeleitet hatte, konnte Marx die Bedingungen für Wissenschaft auf einem ausgesprochenen klassenrelevanten Gebiet als gegeben annehmen. Sohn-Rethel meint, der Verblendungszusammenhang erzeuge die „Selbstbegegnung der Natur im menschlichen Denken" 50 in dem Maße, wie die Gesellschaft dem Regiment des Warentausches zum Opfer falle und um ihr Überleben zu kämpfen habe. 51 Wie sich im Anschluß an diese Behauptung herausstellt, ist eine andere Erläuterung zusätzlich parat. Kompletter Nutzen für den Produktionsprozeß sei von dem Grad der Vergesellschaftung abhängig. 52 46 47 48 49 50 51 52
Ebenda. A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, a. a. O., S. 248. K. Marx, Das Kapital, Nachwort zur zweiten Auflage, in: MEW, Bd. 23, a. a. O..S. 20. Ebenda. A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, a. a. O., S. 168. Ebenda. Ebenda, S. 170/171.
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Beide Momente interessieren im vorliegenden Zusammenhang bloß im Verhältnis zur Basis-Überbau-Theorie. Unabhängig vom Grad der Vergesellschaftung ist weder jene Selbstbegegnung mit der Natur noch der Vorgang, in dem die Produktionstechnik weitgehend wissenschaftlich wird. Als allgemeines Gesetz gilt Marx aber die Beziehung von Produktivkräften und den durch sie bedingten Verhältnissen. Geschichtlich bereitet sich jenes auf Produktionstechnik zielende Denken bereits in der Antike vor. Da im Unterschied zu den sonstigen Tieren der Homo sapiens produziert, benötigt er die von ihm geschaffenen und erzeugten Mittel immer zum Überleben, nicht erst unter dem „Regiment des Warentausches" und unter dem Vorhandensein von Handels- oder Industriekapitalismus. Die mit der verschiedenen Entwicklung der Produktivkräfte sich ändernden Gesetze, die diese regeln, sind jedenfalls so bestimmt, daß sie in verschiedenen Ordnungen eine beschleunigte Entwicklung der praktikablen Fähigkeiten und der Wissenschaften hervorriefen. Das Überleben, um den von Marx angeführten Terminus zu gebrauchen, gelang auch Ordnungen, wie etwa dem Mittelalter und dem Feudalismus, ohne beschleunigte Entwicklung der Wissenschaften. Wenn die Beziehung von Basis und Überbau ohne das Primat der Entwicklung der Produktivkräfte gedacht wird, dann entsteht die Annahme einer ideologischen Überformung der Naturwissenschaften, die deren fortschreitendes Durchdringen der Naturprozesse in Frage stellt. In diesem Falle aber gibt es bloß ein verbales Analogon zu Warentausch und dem allgemeinen Äquivalent Geld. Da Marx phantasmagorische und verzerrte Widerspiegelung der gesellschaftlichen und zum Teil auch der natürlichen Wirklichkeit als Vergegenständlichung und Entfremdung des Bewußtseins nachzuweisen vermochte, die er ebenfalls an eine bestimmte Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung band, erscheint es erst recht widersinnig, einen Bezug zu den Disziplinen der Naturerkenntnis herstellen zu wollen. Die Anwendung der Dialektik verweist auf einen anderen Zusammenhang. Mit den immanenten Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft entsteht eine engere Verbindung von Mensch und Natur durch die Industrie und außerdem jene das Bewußtsein betreffende Entfremdung. Mit dem Wachstum erst der Manufaktur und dann der Industrie entwickelt sich sowohl Wissenschaft wie Anwendung, da sich vorgängig und parallel Arbeitserfahrung massenhaft anhäuft und Gesetze zu wirken beginnen, die technischen Fortschritt unbedingt einbeziehen, im gleichen Maße übrigens Arbeiterklasse neu produzieren, die durch den technischen Fortschritt überflüssig gemacht werden soll. Mag die Dialektik dieses verschlungen wirkenden Prozesses als Verblendungszusammenhang erscheinen, weshalb Dialektik der bürgerlichen Ideologie nicht eingeht, so belegen die materiellen Produktivkräfte die Objektivität der zugrundeliegenden Arbeitserfahrungen und' der anteilig benutzten Rechenhaftigkeit in technischer Beziehung. Aus der Irrationalität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entsteht die Spannung zur technischen Vernünftigkeit, die den Entfremdungsvorgang aufsteigert, da sie als widersprüchlich in das herrschende Bewußtsein eingeht. 133
Hegels Weltgeist sollte den Gang der absoluten Idee durch die Weltgeschichte verkörpern und enthielt folgerichtig nur am Rande die von Marx in der Vergegenständlichung der Mittel entdeckte Dialektik. Zwischen der Objektivität des Fortschritts der Mittel und der Subjektivität der von den spezifischen Gesetzen der Ordnung abhängigen Reflexion innerhalb der herrschenden und oppositionellen Ideologie vermochte Hegel nur einen faulen Kompromiß zu schließen. Die materialistische Dialektik hingegen vermochte das falsche Bewußtsein aus der bloßen Verneinung herauszunehmen und das Werden aller gesellschaftlichen Beziehungen auf ihre Widersprüchlichkeit hin zu untersuchen. Soweit dem jeweiligen herrschenden Überbau in der Serie von Ordnungen relative Berechtigung zukommt, ortet Marx durch den von den Produktionsverhältnissen her gegebenen Spielraum, wieviel davon in die Formen des Bewußtseins einzugehen vermag. Daher gestattet seine Lehre von Basis und Überbau die Analyse vergangener Formationen und die Darstellung einer Geschichte, in der aus der Nichtübereinstimmung von Überbau und Basis die Momente sich ablesen lassen, in denen sich weitere Entwicklung abzeichnet. Sprechen werden damit nicht bloß die materiellen Zeugnisse der physischen und geistigen Arbeit, sondern ebenso die Dokumente, die von den künstlerischen Produkten bis zu den Akten reichen. Aus den verschobenen und verzerrten Abbildungen irgendeiner Gegenwart lassen sich die Hoffnungen ebenso erschließen wie die späteren Korrekturen von zuvor entworfenen Möglichkeiten, nicht minder aber auch die wechselnde Wertung des Vergangenen. Dient Vergangenheit innerhalb eines neuen Überbaus als Charaktermaske, wie Rom der Französischen Revolution, so wirken die inadäquaten Interpretationen vielleicht stimulierender, als es eine sachkundige Darstellung getan hätte. Eine Geschichte der Verschiebungen von Sache, Bedeutung und Begriff aber gewinnt erst Sinn in dem Kontext der Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen, ohne die den isolierten Fakten bloße Chronologie bleibt und ihre Konturen verschwimmen. Die Funktion der verschiedenen Elemente des Bewußtseins bleibt unter Verzicht auf die Verbindungen zur Basis im Dunkeln und selbst Moment der Entfremdung, nachdem ihr Zusammenhang aufgedeckt ist, während frühere Unkenntnis aus der minderen Entwicklung der Gesellschaft im ganzen hervorging. Koyré läßt mit Galilei erst das reine Denken beginnen und sich von Erfahrung und Sinnesvorstellung trennen, wie Sohn-Rethel zustimmend anmerkt. 53 Das Mißverständnis zwischen den unterschiedlichen Bereichen hängt sich damit an entwicklungsgeschichtliche Einschnitte und Stufen der Wissenschaften selbst, ohne zu reflektieren, welche Gründe vorliegen, den Unterschied verfehlt zu interpretieren. Galilei verzichtet in seinem theoretischen Denken nicht auf empirische Beimengungen, wie auch z. B. Mengentheorie und Topologie Anwendung auf Ökonomie zu finden vermögen. Ptolemäus hielt sich wohl an die Sinnes53 Ebenda, S. 168, zit. Koyré nach : Études d'Histoire etc., Paris 1966, S. 189.
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erfahrung der Sonnenbewegung, aber benötigte einen sicherlich komplizierteren Apparat des Denkens, um eine Übereinstimmung von Theorie und Empfindung herzustellen, als Kopernikus und Kepler, für die die Nichtübereinstimmung inzwischen als historisches Ereignis Grund der neuen Denkanstrengung wurde. Marx hatte als eine Voraussetzung den Widerspruch von Rousseaus Dialektik mit dem industriellen Fortschritt und den Eindruck der innergesellschaftlichen Antagonismen, die eine neue Klasse hervorbrachte. Das ständige Lösen und Setzen von Widersprüchen, ihre theoretische und praktische Überwindung bringt die innergesellschaftliche Entwicklung auf die Tagesordnung der Geschichte, die nicht mit blofjer Kritik sich zufrieden gab, sondern in den Fundamenten auf Revolutionierung verwies.
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6. Vortrag
Geschichtsdialektik und Theorie der Handlung
In Hegels Theorie vom Staat äußert sich die Dialektik des philosophischen Denkens, die über sich hinaustreibt. Hegel erweist sich als Staatstheoretiker, der konservativ und revolutionär zugleich einen Aufriß der vorhandenen Gesellschaft gibt und künftige Entwicklung andeutet. Deshalb kann Marx aus der Kritik der Rechtsphilosophie Hegels einen neuen Standpunkt gewinnen, der die Struktur der Gesellschaft genauer analysiert und den Staat als Repressionsinstrument erkennt. Die Revolutionierung wird auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Der Staat wird seines Heiligenscheines beraubt. Das gesellschaftliche Handeln versteht sich als wesentliche Veränderung der Beziehungen in der gesamten Gesellschaft. In einer Anmerkung zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" fertigt Hegel den konterrevolutionären Theoretiker Karl Ludwig von Haller ab, der von 1816 bis 1820 eine „Restauration der Staatswissenschaften" in vier Bänden veröffentlicht hatte. (Zwei weitere Bände erschienen bis 1834.) Hegel kritisiert. Haller habe darauf verzichtet, den rationellen Inhalt darzustellen, der der Staat sei.1 Hallers Leidenschaft entzündete sich in der Polemik gegen Rousseaus Auffassung vom Staat. Das Ergebnis war eine spezifische Form von Anarchismus. Hegel schildert sie: „. . . in ein Gegentheil geworfen, das ein völliger Mangel an Gedanken ist, und bei dem deswegen von Gehalt nicht die Rede seyn kann-, - nämlich in den bittersten Haß gegen alle Gesetze, G e s etzg eb ung, alle s {ärmlich und gesetzlich bestimmte Rechte. Der Haß des Gesetzes, gesetzlich bestimmten Rechts ist das Schiboleth, an dem sich der Fanatismus, der Schwachsinn und die Heuchelei der guten Absichten offenbaren und unlehlbar zu erkennen geben, was sie sind, sie mögen sonst Kleider umnehmen welche sie wollen,'2 Haller trat 1820 zum Katholizismus über und wurde 1824 in Paris im Depart1 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., §258, S. 332: „. . . hier aber ist mit Bewufjtseyn auf den vernünftigen Inhalt, der der Staat ist, und auf die Form des Gedankens nicht nur Verzicht gethan, sondern es wird gegen das Eine und gegen das Andre mit leidenschaftlicher Hitze gestürmt." 2 Ebenda, § 258, Anm., S. 333. 136
ment für auswärtige Angelegenheiten angestellt. Nach der Julirevolution ging er in die Schweiz zurück und war ein Führer der dortigen katholischen Partei. Haller war der Ansicht, es sei ein unabänderliches Gesetz Gottes, daß stets der Mächtigere herrschen müsse. Hegel wendet ein, gemeint sei nicht die Macht des Gerechten und Sittlichen, sondern die zufällige Naturgewalt. Er wirft Haller vor, jedes Gesetzbuch zu verwerfen, da sich die natürlichen Gesetze von selbst verstünden. Die Gerichtsbarkeit sei keine Pflicht des Staates, sondern eine bloße Wohltat der Mächtigeren, die damit Hilfeleistung üben. Als Maxime für das Individuum genüge 1. eigene Befolgung und Einschärfung des natürlichen Gesetzes, 2. Widerstand gegen Unrecht, 3. Flucht, wo keine Hilfe mehr zu finden ist.3 Hegel hingegen steht für gesetzliche Regulation: „Aul das preußische allgemeine G e s e tzb uch" sei „H. v. H. besonders übel zu sprechen . . ., weil die unphilosophischen Irrthümer (wenigstens noch nicht die Kantische Philosophie, aui welche Hr. v. Haller am erbittertsten ist) dabei ihren unglaublichen Einfluß bewiesen haben, unter anderem vornehmlich, weil darin vom Staate, Staatsvermögen, dem Zwecke des Staats, . . . von Pflichten des Oberhaupts, Staatsdienern u.s.i. die Rede sey. Am ärgsten ist dem Hrn. v. H., das Recht, zur Bestreitung der Staat sbedürfnisse das Privatvermögen der Personen, ihr Gewerbe, Produkte der Konsumtion mit Abgäben zu belegen'."11 Diese Polemik Hegels ist eine der heftigsten, die sich in seinen gesamten Werken vorfinden. Damals handelt es sich bei Haller um so etwas wie konservative Romantik. Wendet sich Haller scheinbar gegen jede Repression, so äußert sich deutlich die unbedingte Verteidigung des bürgerlichen Individuums, das sich unbeeinträchtigt von irgendeiner Instanz bereichern soll. Die Polemik geht gegen den feudalen und den bürgerlichen Staat. Die Gewalt des Mächtigen gilt als gottgewolltes Schicksal, in dem sich das Naturrecht zur Geltung bringe. Da Haller Steuern und jeden Rechtskodex ablehnt, so bleibt ausschließlich die absolute Willkür des tatsächlichen Inhabers der Macht übrig. Es ist die pseudoprogressive Apotheose von Satrapenherrschaft ältester Staatengründungen, nach Marx: der asiatischen Produktionsweise, wodurch tatsächlich jedes Individuum sich im Besitz des Trägers der politischen Gewalt befindet, formal aber tun und lassen darf, was es möchte. Hegel sieht in der Lehre von einem Naturrecht, das gegenwärtig Gültigkeit besäße, einen grundlegenden Verstoß gegen die These von der Entwicklung in der Gesellschaft. Nun ließe sich annehmen, Hegels Appell an Sittlichkeit und Recht sei bloße Apologie, Hallers Glorifizierung der Gewalt sei realistischer. Zweifellos entsprach Hallers Vorstellung einer Mischung von Heiliger Allianz 3 Ebenda, S. 334. 4 Ebenda, S. 334/335.
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und Karlsbader Beschlüssen mit einem Beruhigungsmittel, das beliebige antiautoritäre Interpretation offenließ. Hegel hingegen beschäftigt die tatsächliche Struktur des Staates hinsichtlich einiger seiner Funktionen in der Geschichte. Da die Repression des Staates offensichtlich zutage lag, Hegel sich aber in der Kritik dieser Seite eingeengt fühlte5, war das Betonen von Sittlichkeit und Recht ein Argument gegen den existierenden preußischen Staat und die Staaten der Heiligen Allianz. Zu den von Gans der „Philosophie des Rechts" hinzugefügten Absätzen gehört eine Äußerung, die Jean Hyppolite in seiner Ausgabe weggelassen hat, die aber aufschlußreich scheint: „Bei der Idee des Staats muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten. Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, tür schlecht erklären, . . . hat immer . . . die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich . . . Weil es aber leichter ist, Mängel aulzutinden, als das Affirmative zu begreiien, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus des Staates selbst zu vergessen. Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zerfalls und des Irrthums, übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defiguriren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch . . . das Leben besteht trotz des Mangels . . ."6 Hegel schildert in seiner Philosophie des Rechts eine synchronische Struktur des Staats, um damit die Momente der Veränderung in den Griff zu bekommen, die an den verschiedenen Elementen des Staates ansetzen können. Den Naturzustand bezeichnet Hegel als Zustand der Roheit und der Unfreiheit. Als Grund sieht Hegel das Vorhandensein bloßer einfacher Naturbedürfnisse an. Vom Staat spricht Hegel in diesem Zusammenhang nicht. Die Entfremdung von dem Naturzustand ergibt sich als Ausdehnung der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse. Hegels Entdeckung besteht in der Verbindung von Bedürfnis und Arbeit, die gemeinsam als Grundlage objektiver Veränderungen angesehen sind. Er sieht darin eine Entwicklungstendenz, eine Richtung: „Die Richtung des gesellschaftlichen Zustandes auf die unbestimmte Vervielfältigung und Specifizirung der Bedürfnisse, Mittel und Genüsse, welche, so wie der Unterschied zwischen natürlichem und ungebildetem Bedürfnisse, keine Grenzen hat, - der Luxus ist eine ebenso unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Noth, welche es mit einer den unendlichen Widerstand leistenden Mate5 Vgl. Hegel an Creuzer vom 30. Oktober 1819, Nr. 359. In: Briefe von und an Hegel. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister, Berlin 1970, Bd. II, S. 2 1 7 - 2 2 0 . Dazu die Anmerkungen von Hoffmeister. Die Maßnahmen von Granow hatten die Herausgabe der Rechtsphilosophie um ein Jahr verzögert. 6 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., Zusatz zu § 258, S. 336.
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rie, nämlich mit äußeren Mitteln von der besonderen Art, Eigenthum des freien Willens zu seyn, dem somit absolut Harten, zu thun hat."7 Dialektisch sieht Hegel in der durch Arbeit aufgehobenen natürlichen Grenze die Einleitung eines Prozesses, der keine Grenze mehr hat, soweit Bedürfnisse, Mittel und Genüsse in Frage kommen. Mit den „Mitteln" sind von Hegel tatsächlich Techniken gemeint. Sie gehen über jede von der Natur vorgegebene Möglichkeit des Befriedigens von Bedürfnissen hinaus, geben aber damit eine andere Grenze. Jedes dieser Bedürfnisse, vor dem Erreichen von Luxus und mit dem Beginn luxuriösen Aufwands, muß der unendlichen Widerstand leistenden Materie abgerungen werden. Betont sonst Hegel die Seite des Begriffs, so unterstreicht er hier umgekehrt die Härte der Materie, die dem Willen der Befriedigung der Bedürfnisse entgegensteht. Hegel faßt den Staat als die Gesamtheit der Gesellschaft auf, die sich vom Naturzustand entfernt und wachsende Bedürfnisse befriedigen will. Dieser Vorgang ist als Wille aufgefaßt, der in Notwendigkeit umschlägt. Der Widerstand der Materie ist stets zu überwinden, um aus der Absicht und der Idee der Befriedigung von Bedürfnis die tatsächliche Befriedigung herbeizuführen. Um Eigentum des freien Willens zu werden, müssen die Techniken gegen die Materie eingesetzt werden. Insofern ist aber dieser Luxus der Vermehrung der Bedürfnisse unendliche Vermehrung der Abhängigkeit und Not. Im deutschen Text ergibt sich nicht, daß mit „Not" das in der französischen Übersetzung Hyppolites betonte „Elend" gemeint ist, das Reichtum auf der einen, Elend auf der anderen Seite anhäuft. Es gibt zwar Anmerkungen, die mit dem Entstehen der Industrie auf diese Dialektik aufmerksam machen. Zunächst aber meint Hegel einen anderen Gesichtspunkt. Er will sagen, daß das Aufheben des Naturzustandes und der auf diesem Niveau gegebenen Abhängigkeit andere und neue Abhängigkeit setzt. Sie wird zur Notwendigkeit, da nicht auf die äußeren Mittel verzichtet werden kann, wenn sie einmal in den gesellschaftlichen Prozeß «ingeführt worden sind. In anderem Falle erfolgt ein erneuter Abfall in die Rohigkeit und Unfreiheit des Naturzustandes. Damit aber bestimmt Hegel näher, was denn eigentlich unter Freiheit zu verstehen ist. Spricht Hegel auch von Sittlichkeit, so meint er damit nicht die Utopie Kants, nicht das Aufstellen moralischer Redensarten, die so allgemein sind, wie die von Haller, sondern eine Entfernung vom Naturzustand, mit der sich Individuum und Gesellschaft gegen die unendlichen Widerstand leistende Materie durchsetzen. Marx entdeckte, daß sich neben der Materie der Natur außerdem gesellschaftliche Gesetze ausbilden, die in diesem Prozeß nicht außer acht zu lassen sind. Die gesellschaftlichen Gesetze können ebenso wie die Natur harten Widerstand leisten, wenn nicht die entsprechenden Mittel vorhanden sind, um diese Gesetze zu kennen und sich nach ihnen zu richten. Freiheit und Sittlichkeit sind für Hegel Folgen wachsender Bedürfnisbefriedigung und gehen mit ihnen parallel. 7 Ebenda, § 195, S. 275.
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Ohne die unbestimmte Vervielfältigung der Bedürfnisse und Genüsse besteht für Hegel keine Freiheit und Sittlichkeit. Die Gesellschaft oder der Staat, die hier nebeneinander zu nennen sind und als identisch aufgefaßt werden können, entwickeln sich in dem Maße, wie sie fähig werden, die Entfernung vom Naturzustand zu vergrößern. Die unendliche Vermehrung der Abhängigkeit erweist sich aber, einmal vorhanden, als Notwendigkeit, die in das allgemeine Bewußtsein eingehen muß, worin sich aber das wesentliche Moment der Sittlichkeit äußert. Daß Hegel die Materie als das absolut Harte bezeichnet, macht darauf aufmerksam, wie Hegel seine Identitätsphilosophie verstanden wissen will. Sie besitzt keine Verwandtschaft mit Agnostizismus und subjektivem Idealismus. In der von Gans angefügten mündlichen Bemerkung Hegels an den § 195 ist der Zynismus des Diogenes als dialektische Gegenwirkung gegen den Luxus des antiken Athens geschildert. Befindet sich der Luxus auf seiner Höhe, so sind die Not und die Verworfenheit ebenso groß. Die „Not" ist damit buchstäblich genommen. Unabhängig von dem sozialökonomischen Niveau erfolgt auf die Entwicklung der Techniken, der Mittel eine Rückäußerung, die nicht von der Notwendigkeit des einmal eingeleiteten Prozesses ist. In der Kritik von Marx an Proudhon ist gelegentlich angemerkt, es sei kleinbürgerlich, das Positive ohne das Negative haben zu wollen. Gesetzt den Fall, daß die wachsende Bedürfnisbefriedigung keinen Luxus zulasse, so impliziert sie trotzdem jene unendliche Vermehrung der Abhängigkeiten, die zu beherrschen zur gesellschaftlichen Aufgabe geworden ist. Aus der Notwendigkeit der Arbeit leitet Hegel ab, daß partikularisierte Bedürfnisse partikularisierte Mittel erheischen. Als Folge ergibt sich ein Verhältnis zu menschlicher Produktion.8 Marx nannte die Industrie den Ausdruck der menschlichen Wesenskräfte. Hegel verstand die Produktion in ihrer Gesamtheit einschließlich der Produktionsmittel als das Moment, das Geschichte macht. Ihr Ergebnis für die Gesellschaft ist von doppelten Folgen: Es entsteht daraus eine praktische Bildung durch die Arbeit und mit der Teilung der Arbeiten schließlich die Maschine. Hegel bespricht dieses Gebiet in dem Kapitel über die Sittlichkeit. Als erste Wirkung der Arbeit versteht er die Bildung des Verstandes überhaupt und damit der Sprache. Aus der Entwicklung von Verstand und Sprache ist die theoretische Bildung abgeleitet. Beschrieben ist dieser Vorgang mit den Worten: „An der Mannigfaltigkeit der interessirenden Bestimmungen und Gegenstände entwickelt sich die theoretische Bildung, nicht nur eine Mannigialtig8 Ebenda, § 196, S. 276: „Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Processe specificiert. Diese Formirung giebt nun dem Mittel den Werth und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht."
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keit von Vorstellungen und Kenntnissen, sondern auch eine Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens und des Uebergehens von einer Vorstellung zur anderen, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen u.s.t. - die Bildung des Verstandes überhaupt damit auch der Sprache."9 Da Hegel nicht die Absicht hat, eine Apologie der Gesellschaft zu betreiben, erschöpft er die Funktion der Arbeit weder in dem Herausbilden der theoretischen Kultur noch der Sprache überhaupt, sondern erörtert den Inhalt der praktischen Kultur. Die Arbeit erzeugt sowohl Bedürfnis wie Gewohnheit. Die Gewohnheit der Beschäftigung, die Beschränkung des Tuns erfolgt teils nach den zur Bewältigung der Natur auszuübenden Tätigkeiten, teils aber und vornehmlich nach der Willkür anderer. Die Willkür anderer übersetzt Hyppolite mit „durch den Willen der anderen". Das Individuum als gesellschaftliches Lebewesen steht aber stets unter dem Einfluß anderer. Wie Marx später festhält, kann sich das Individuum nur in der Gesellschaft vereinzeln. Diese Willkür, von der Hegel spricht, bedeutet sowohl unbedingten Einfluß der Gesellschaft als auch Unterordnung unter die Gesellschaft und unter den Einfluß einzelner. Grund ist die andere Unterordnung unter das partikulare Bedürfnis und die Natur, die ebenfalls in ihrer Besonderheit verschiedene Aktivitäten erfordert, um sie zu bearbeiten. Aus dieser Vielzahl von Bedingungen der Arbeit ergibt sich ein Netz von Anforderungen, die das Individuum prägen und entwickeln. Scheint die Bindung des Menschen zuzunehmen, so erweist sich die unbedingte Abhängigkeit von gesellschaftlicher Entwicklung an die sie bedingenden Strukturen. Das eine ist nicht ohne das andere. Beachtet Hegel auf der einen Seite Willkür, Dressur und Gewohnheit, so auf der anderen objektive Tätigkeit und allgemeingültige Geschicklichkeit. Das Resultat der Totalität geht über die partikularen Entwicklungen hinaus. Weder das eine noch das andere verträgt Abqualifizierung. Das Entäußern und die Entfremdung erweisen sich als ebenso notwendige Momente des Werdens der Gesellschaft, von der Hegel ausdrücklich spricht. Die Bedürfnisse sind in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" als System aufgefaßt. Von System zu sprechen hat seinen Sinn in den Strukturen, die notwendig entstehen, wenn den Konsequenzen nachgegangen wird, die aus dem Vorhandensein von menschlicher Arbeit entstehen. Sagte Marx, daß Hegel auf dem Boden der modernen Nationalökonomie stehe, dann ist damit gemeint, daß aus der Totalität der sich notwendig ausbildenden Elemente des Systems Gesellschaft kein wesentliches Moment weggelassen ist. Unterschieden ist bei Hegel zwischen den mit negativen Akzenten zu bewertenden Folgen und dem Resultat, das ohne die negativen Momente nicht zu entstehen vermag. In der Teilung der Arbeit ist von Hegel ebenso die Ambivalenz oder Dialektik der Konsequenzen aufgezeigt. Die Teilung der Arbeit macht das Arbeiten des Einzelnen einfacher und die Geschicklichkeit größer. Die Entwicklung der Geschicklichkeit und der Mittel vervollständigt die Abhän9 Ebenda, § 197, S. 276/277.
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gigkeit und die Wechselbeziehungen der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit.10 Als Bestandteil einer Philosophie des Rechts scheint es unnötig zu sein, auf die Notwendigkeit der Arbeitsteilung hinzuweisen, aber seit Aristoteles und Piaton, gehört es zu den Selbstverständlichkeiten, auf sie zu verweisen. Bei Hegel wird die Arbeitsteilung und die Produktion zu einem integrierten Bestandteil einer Philosophie über die Gesellschaft und zur Grundlage der Bedürfnisse, zu denen auch die übrige Superstruktur wird, möge sie sich als Institution oder als Form des Bewußtseins äußern. Die Idee von Marx zu einer Aufhebung der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit betrifft weder die Beseitigung der Arbeit noch die Abschaffung der Arbeitsteilung. Sie bezieht sich indes auf jeden Fall auf ein Anwachsen der theoretischen Kultur als unaufhebbares Moment der gesellschaftlichen Entwicklung, solange sich darin so etwas wie Fortschritt abspielt. In den wiedergegebenen mündlichen Bemerkungen zu §197 referiert Gans: Der Barbar sei faul (Engels spricht später oft über den Unterschied von Barbarei und Zivilisation) und unterscheide sich vom Gebildeten dadurch, daß er in der Stumpfheit vor sich hinbrüte. Praktische Kultur sei eben die Gewohnheit und das Bedürfnis nach Beschäftigung. Beseitigung von Ausbeutung soll nach Marx das Bedürfnis nach Beschäftigung steigein, nicht abbauen. Gebildetsein ist aber im Verständnis von Hegel nicht eine Eigenschaft von Gruppen einer bestimmten Stufe der Entwicklung, sondern der gesamten Stufe, in der sich die Arbeit realisiert und die Gesellschaft durchdrungen hat. Soweit sich keine Gewohnheit des Arbeitens und kein Bedürfnis nach Arbeit ausgebildet hat, liegt noch eine Annäherung an den Naturzustand vor. Das Bedürfnis nach Arbeit erscheint als hohes Produkt der Entwicklung. Die Ersetzung des Menschen durch die Maschine ist in der Rechtsphilosophie ein Resultat notwendiger Entwicklung. Hegel analysiert, es sei die Abstraktion des Produzierens, die das Arbeiten immer mehr mechanisch mache. Das Abstrahieren von der körperlichen Produktion erscheint als Maschine. Hegel benutzt den höchst philosophischen Begriff der Abstraktion, um das Entstehen eines Prozesses zu erläutern, der sich in materiellen Strukturen der Produktion niederschlägt. Das Nebeneinander von konkreter und abstrakter Arbeit entäußert sich in die materielle Wirklichkeit. Daß damit ein die gesamte Gesellschaft erfassender Vorgang angesprochen ist, war ihm bereits in seiner „Wissenschaft der Logik" klar. Marx befaßt sich mit den Auswirkungen auf die von der Maschine betroffenen Individuen, um deren Probleme der Lösung näherzubringen, womit aber das Entstehen von Problemen nicht aufhört. Die Produktion mechanisch zu machen, heißt indes nicht das Verzichten auf andere nicht-mechanische Wissenschaften, um das System von Maschinen zu entwickeln. Es ist nicht mit mechanistischen Momenten der Philosophie identisch. Das ist gegenwärtig nötig zu betonen, da 10 Ebenda, § 198, S. 277.
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von dem Anwenden bestimmter technischer Wissenschaften und anderer Disziplinen gelegentlich angenommen wird, daß damit ein Bruch in der Geschichte eintrete. Hegel hat bereits in seiner philosophischen Phantasie davon gesprochen, daß der Mensch ausgeschlossen sei aus der Produktion und daß die Maschine ihn ersetze. Marx formuliert, der Mensch trete neben die Maschine. Sie hört in beiden Fällen nicht auf, Produktionsinstrument und Mittel zu sein. Die anderen Folgen, die das theoretische und praktische Bewußtsein betreffen und sich als Kultur äußern, bleiben davon ebenfalls nicht betroffen. Sie gehören zu der synchronischen Struktur, die menschliche Gesellschaft bedeutet. Die Begrenzung des Hegeischen Denkens liegt in der Vorstellung relativ unveränderlicher Eigentumsverhältnisse, die mit dem Entstehen des Staates eingetreten sind. Bei Marx wird daraus die Forderung nach dem Aufheben des Privateigentums am Boden und an den Produktionsmitteln sowie eine Perspektive des Absterbens des Staates, die sich auf absehbare Zeit nicht realisiert, solange antagonistische Klassenverhältnisse vorliegen. Hegel analysiert aber den wesentlichen Unterschied von Eigentum am Boden und dem Gewerbe, das die Formierung des Naturprodukts zu seinem Geschäft hat. Hyppolite übersetzt sinngemäß übertragen: Die industrielle Klasse habe „die Formierung des NaturProdukts zu seinem Geschäfte und ist für die Mittel seiner Subsistenz an seine Arbeit, an die Reflexion und den Verstand, sowie wesentlich an die Vermittelung mit den Bedürfnissen und den Arbeiten Anderer angewiesen".11 Diese Deutung Hegels durch Hyppolite betrifft die mit der industriellen Revolution eingetretene Entwicklung. Allerdings spricht Hegel nicht von industrieller Klasse, sondern von dem „Stand des Gewerbes".12 Grundsätzlich ist aber der Unterschied zu der auf den Boden sich gründenden Agrikultur. Sie ist zunächst eine weniger durch Reflexion und den eigenen Willen vermittelte Existenz. In seiner Vorlesung betonte Hegel, auch die Agrikultur nehme den Charakter der Produktion an, wie sie im Stand des Gewerbes auftrete. Hegel erkannte, daß alle die Momente, die Bezug auf die industrielle Tätigkeit haben, auch für die Agrikultur Gültigkeit besitzen. In einem Zeitalter relativ schneller Entwicklung des technischen Fortschritts kommt all den Momenten wachsende Geltung zu, die Hegel aufzählt. Arbeit, Reflexion und Verstand sind von Marx in den „Grundrissen" zusammengefaßt und bedeuten jene Produktivkraft Wissenschaft, die zugenommen hat. Hegel befaßt sich unter den Bedingungen Preußens und anderer deutscher Staaten des beginnenden 19. Jahrhunderts mit der Formierung der bürgerlichen Klasse. Er erörtert, das Individuum sträube sich gegen die Vorstellung, es müsse sich für einen besonderen Stand entschließen. Teilweise faßt er darunter die Zuordnung zu der Gesamtheit der objektiven gesellschaftlichen Ziele. Zum anderen aber scheint Hegel darunter das Entschließen für eine besondere Berufstätigkeit überhaupt zu verstehen. Er schreibt nämlich: 11 Ebenda, § 204, S. 282.
12 Ebenda, § 204.
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„Daß das Individuum sich zunächst (d. i. besonders in der Jugend) gegen die Vorstellung sträubt, sich zu einem besondern Stand zu entschließen, und dieß als eine Beschränkung seiner allgemeinen Bestimmung und als eine bloß äußerliche Notwendigkeit ansieht, liegt in dem abstrakten Denken, das an dem Allgemeinen und damit Unwirklichen stehen bleib i."13 Damit aber bleibe das Individuum noch im Allgemeinen. Bloß im Gedanken stehenzubleiben, erscheint Hegel irreal. Auf die Jugend bezogen analysiert er den Prozeß, in dem sich die materiellen Grundlagen der Gesellschaft mit den verschiedenen psychischen Antrieben und den verschiedenen Schichten des Bewußtseins in Beziehung setzen. Hegel kommt es nach dem Abenteuer der Phänomenologie des Geistes und der Logik nicht in den Sinn, die konkrete Sphäre der Gesellschaft ohne Bezug auf die Gesamtheit der Erscheinungen zu erörtern. Das theoretische und praktische Handeln haben sich nun zusammengeschlossen. Selbst die mit dem Wechsel der Generationen auftauchenden Probleme sind in seinen Gesichtskreis eingeschlossen. Das Revoltieren des Individuums erscheint ihm als Vorgang, der sich mit der Eingliederung in die Gesellschaft notwendig ergibt. Der Beruf erscheint als Begrenzung, die er als notwendigen Vorgang in der Entwicklung der Gesellschaft darstellte. Im Individuum wiederholt sich, was sich im Ablauf einer langen Periode gesellschaftlicher Entwicklung ausbildete. Das Individuum identifiziert sich mit der gesamten Gesellschaft und sträubt sich zunächst dagegen, in die gesellschaftliche Arbeitsteilung einzusteigen. Marx wird es in den „Grundrissen" als eine romantische Illusion bezeichnen, die leere Fülle früher Epochen in die spätere Entwicklung übertragen zu wollen. Geschichte ist auf der Stufe der Philosophie des Rechts bei Hegel die Geschichte der Strukturen, die für die Phänomene des Bewußtseins, den absoluten Geist bestimmend sind. Diese Strukturen handeln nicht von den unmittelbar historisch sich niederschlagenden Ereignissen, sondern sind als Grundlage aufgefaßt, aus der sich die vielen Probleme der anderen Niveauebenen ableiten, auf die sie einwirken und die sie reflektieren. Das Unterscheiden von Klassen ist dann die notwendige Folge der Untersuchung Hegels. In den §§ 243 und 245 ist darauf hingewiesen, daß 1. die bürgerliche Gesellschaft sich dann in ungehinderter Wirksamkeit befindet, wenn sich die Bevölkerung und die Industrie entwickeln, 2. das Übermaß des Reichtums der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausreicht, um das Übermaß an Armut und die Erzeugung von Proletariat zu steuern. Staat steht für Hegel als die verwirklichte Idee der gesamten gesellschaftlichen Prozesse. Er ist Gewalt und Ausführung der Notwendigkeit der Entwicklung, damit aber auch der Entwicklung unterworfen wie die Gesellschaft selbst. Die Gesetze des Staates sind damit aber nicht bloße Tyrannei, sondern Ausdruck der partikularen Bedürfnisse des Individuums und der Gesellschaft. Der Zweck des Staates ist damit das allgemeine Interesse, worin das der Französischen Re13 Ebenda, § 207. 144
volution und ihre Illusionen sich reflektieren. Es ist hinreichend bekannt, daß sich Kant und Hegel ebenso wie Fichte in den glühendsten Worten für die Französische Revolution aussprachen. Zweck des Staates ist damit abstrakte Wirklichkeit Notwendigkeit, die sich in verschiedene Gewalten aufteilt, durch die Form der Kultur hindurchgegangener esprit, von dem Wissen und Wollen sich ableiten. Staatstheorie und Theorie des Rechts sind in der Hegeischen Philosophie Vorwand, um die Geschichte von der Phänomenologie auf allgemeine Gesetzmäßigkeit zu bringen. Der historische Materialismus orientiert sich auf konkrete Strukturen, die einmal an der Ökonomie der kapitalistischen Warengesellschaft ableiten, wie die Gesetzmäßigkeiten im einzelnen beschaffen sind und welche Konsequenzen sich anbieten. Zum anderen bringt der historische Materialismus eine Theorie des Handelns, die sich auf die von Hegel nur in den Anfängen skizzierte neue Klasse stützt. Das „Umstülpen" Hegels durch Marx betrifft nicht bloß das umgekehrte Lesen der von Hegel entdeckten Strukturen. Es bezieht sich auch auf den Sinngehalt der Kategorien der Gesellschaft und die Art ihrer Anwendung. Sicherlich läßt sich Hegel nicht vorwerfen, seine Gegenwart ungenügend berücksichtigt zu haben. Er vermochte das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft theoretisch sichtbar zu machen. Marx bezog die Theorie des Handelns in die materialistische Philosophie ein und gewann eine neue Dimension in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die zugleich die Erscheinungen der Entfremdung zum Anlaß nahm, um den Fortgang der Geschichte der menschlichen Gesellschaft auf neuer Klassengrundlage nachzuweisen. Nach Hegel begann sich in der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft in deutschen Territorien der Mystizismus Schellings als eine Form der Entfremdung und des Pessimismus auszubreiten. Marx hingegen übernahm den Optimismus der Entwicklung, der bei Hegel dominiert, aber von dem Blick der „Eule der Minerva" überschattet ist. Hegel entdeckte, daß Gestalten des Lebens der gesellschaftlichen Entwicklung alt werden können, und entschied sich nicht unbedingt dafür, ob nur die feudale oder auch die bürgerliche Gesellschaft damit gemeint sei. Jedenfalls gab er die Geschichte des Entstehens der bürgerlichen Revolutionen als Rückblick, obwohl sie in anderen Ländern noch ausstanden. Marx orientierte sich auf gesellschaftliche Umwälzungen, die noch bevorstanden, ohne daß historische Exempel bereits vorlagen. Die Arbeiterklasse auf ihre historische Potenz zu prüfen, erwies sich als das unmittelbare Anliegen im Anschluß an die Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. In der „Einleitung" zu den „Grundrissen", die nach der „Kritik der politischen Ökonomie" geschrieben wurde, ist das neue historische Subjekt in die Theorie der Geschichte eingeführt und wird in ersten Umrissen auf den Begriff gebracht. Es fragt sich, welche dialektische Transformation durch die Geschichtstheorie von Marx und Hegel durchgeführt wurde. Zum ersten hat sich der Zweck der historischen Analyse geändert. Untersuchte 10
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Hegel die Gegenwart und Vergangenheit, um deren Bewegungsgesetz zu finden, so war Marx bemüht, in der Vergangenheit und Gegenwart die Strukturen der Zukunft herauszufinden. Für den Materialisten wurden die vorhandenen Entwicklungsstrukturen anders als bisher lesbar. Gab es in der Vergangenheit den Nachweis von dialektischen Umschlägen, so mußte danach gesucht werden, welcher Art künftige Revolutionierungen der Gesellschaft sein konnten. Zum zweiten war es wichtiger geworden, zunächst einmal nicht das historische Individuum zu untersuchen, in dem sich der Weltgeist vergegenwärtigt, sondern die Klassen darzustellen, die historisch relevante Handlung vollziehen. Hatte Hegel über die verschiedenen Völker reflektiert, die historisch wirksam geworden waren, so suchte Marx nach den Bedingungen, unter denen künftig die neue Klasse einen entscheidenden Einfluß auf den Geschichtsprozeß zu gewinnen vermochte. Zum dritten entnahm Marx aus der begrifflichen Analyse Hegels, daß Staat und Recht in der Geschichte wechselnde Funktionen annehmen und bestimmte notwendige Funktionen ausüben. Marx beschäftigte, welche Wandlungen eintreten konnten, wenn eine neue Klasse zur geschichtlichen Wirksamkeit gelangte. Der Staat wurde auf seine unterschiedlichen Funktionen untersucht, die sowohl Repression wie regulierende Aufgaben der gesamten Gesellschaft beinhalten. In Verbindung mit den verschiedenen Klassen ergaben sich dann jedenfalls Aufgaben, die begrifflich identisch, und solche, die grundsätzlich unterschieden waren. Zum vierten machte sich nötig, die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft in Beziehung zu den unmittelbaren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu bringen. War Geschichte bisher ein Nachvollzug gewesener Handlungen, so mußte sie nun eine Anleitung zum Handeln sein, die den bekannten dreifachen Aspekt annahm. Die Untersuchung hatte sich auf die ökonomischen, ideologischen und politischen Auseinandersetzungen zu erstrecken, die der neuen Klasse das Bewußtsein ihrer gemeinsamen Klassenlage vermittelte. Zum fünften ergibt sich der Gegensatz von Empirismus und dialektischem und historischem Materialismus durch das Hervorheben des theoretischen Aspekts, der das begriffliche Gerüst darzustellen gestattet, in dem die materiellen und ideellen Fakten der gewesenen und künftigen Geschichte den Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zugeordnet werden können. Der historische Materialismus muß die Dialektik voll in sich aufnehmen, um hinreichend das faktische Geschehen mit den sich abzeichnenden Gesetzen in Verbindung bringen zu können. Damit aber wird für Marx zu einem wesentlichen Problem, wie sich die Objektivität von Gesetzmäßigkeit mit dem gesellschaftlichen Handeln hinreichend zur Deckung bringen läßt, ohne an dem Vorhandenen kleben zu bleiben und ohne sich im utopischen Denken über die möglichen Entwicklungsstrukturen hinwegzusetzen. Aus der bisherigen Analyse von Hegels Geschichtsphilosophie ging hervor, daß sich schon damals in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Zeitereig146
nissen Fragen abzeichneten, die anderthalb Jahrhunderte später noch ebenso gegenwätig sind wie damals. Allerdings mit einem nicht unwesentlichen Unterschied. Die von Hegel erwähnte Verhaltensweise, die sich weigert, die historischen Fakten auf den Begriff zu bringen, äußert sich immer wieder als eine in der bürgerlichen Gesellschaft auftauchende Haltung, die inzwischen größeren Umfang angenommen hat und sich ideologisch stärker als damals artikuliert, inzwischen sind im Anschluß an die umfangreiche Analyse von Marx sozialökonomische Strukturen durchsichtiger geworden, als sie zuvor waren. Außerdem dehnten sich damit die in den vorhandenen Konfrontationen sich entgegenstehenden Ideologien um einen weiten Bereich aus. Der Umfang der Auseinandersetzungen hat sich vergrößert, nicht aber bloß um neue theoretische Gebiete, sondern außerdem um die praktische Dimension der Entwicklung der materiellen Strukturen, in denen sich unterschiedliche Gesellschaftsformationen im ökonomischen Wettbewerb befinden. Wie die verschiedenen Strukturebenen in Beziehung stehen, bleibt ein Gebiet der Auseinandersetzungen kontradiktorischer Ideologien. Die von Hegel entdeckte Struktur der Entwicklung ist von Marx auf alle Gebiete der Gesellschaft ausgedehnt worden, in denen Hegel bloße Andeutungen gegeben hat. Die materiellen Strukturen von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sind zur Grundlage der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gemacht worden. Warum in der einen Ordnung sich Bedingungen der Transformation einstellen und in der anderen nicht, läßt sich nachträglich - bisher jedenfalls - nicht immer aufhellen. Gegenwärtig ergeben sich die Widersprüche in den verschiedenen Ländern aus sehr verschiedenen Bedingungen, die oft Gebiete mit alten, historisch längst überholten Strukturen einbeziehen, weil es sich anbietet, sie mit den gegenwärtig herrschenden Hauptwidersprüchen in Verbindung zu setzen. Die verschiedenen Strukturen erweisen sich aber auch hinsichtlich ihrer Geltung in dem historischen Prozeß der Transformation als flüssig. Die von Hegel betonte Kategorie des Volks hat durch die vertiefte ökonomische Analyse nicht an Gewicht verloren. Der Begriff der Nation ist bei vielen Völkern erst aufgekommen, nachdem er bei anderen an Bedeutung einzubüßen begann. Der Zusammenhang von Ökonomie und spezifischem Überbau hat sich bei der Analyse der Entwicklung einzelner Völker ohne gemeinsame Sprache als Effektor ergeben, um bisher getrennt nebeneinander lebende Stammesgemeinschaften wie in einem Schmelztiegel umzuschmelzen. Die ökonomische Entwicklung von politisch vereinheitlichten Territorien gilt als Kriterium des Maßes. Eines der Ergebnisse der Untersuchungen von Hegel und Marx besteht aber gerade darin, daß nicht der äußere Anschein als gültig zu betrachten ist. Was als vernünftig und wirklich sich erweist, steht im Verständnis der Dialektik gesetzmäßig mit der äußeren Erscheinung in Widerspruch. Zahlen sind deshalb zwar Maßstab, aber kein unbedingt aussagekräftiger, da die sich vorbereitenden inneren Strukturen die Entwicklung bestimmen. Immerhin müssen sie sich letztlich nach außen wenden und zum äußeren Erscheinungsbild werden. 10*
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Welche Art Objektivität sich in den verschiedenen Gebieten der Basis und des Überbaus zu erkennen gibt, bestimmt auch die Unterscheidung, was auf den einzelnen Gebieten als historischer Prozeß aufzufassen ist. In der Dialektik der Auseinandersetzungen ergibt sich jeweils ein konkurrierendes Bewußtsein, von denen schon nach Hegel nur eine der vorhandenen Ideologien herrschendes Bewußtsein sein kann, die andere aber möglicherweise die Vernunft repräsentiert, d. h., daß sie sich als historischer Fortschritt durchsetzt, dann sich aber ihrerseits als herrschendes Bewußtsein aufwirft. Auf allen Ebenen des Überbaus bildet sich die Konkurrenz der tradierten Schichten aus, die dialektisch in die neue eingehen, das bedeutet transformiert werden. Die Suche nach einem Maß der Objektivität auf naturwissenschaftlicher Ebene begegnet sich mit dem Versuch, die Kluft zwischen Gesellschaftswissenschaften und Naturwissenschaften zu überbrücken, die sich in den „zwei Kulturen" Snows aufgetan hat. Die zwei Kulturen der herrschenden und der unterdrückten Klassen überdecken indes diesen Streit zwischen den aus der Arbeitsteilung entstandenen Widersprüchen, wenn auch letzterer vordergründig scheint. Um feststellen zu können, welche Momente denn in einer sich durchsetzenden neuen Kultur als aus der Vergangenheit aufgehoben zu betrachten sind, macht es sich nötig, gründlich auf den verschiedenen Gebieten Geschichte zu betreiben, die an der Empirie nicht vorbeigehen darf. Hat Geschichte stets ein konstruktives Element in sich, indem von der Gegenwart aus die Vergangenheit interpretiert wird, so bleiben die Fakten das unverrückbare Gerüst, wenn auch ständig neue Fakten in den Gesichtskreis gezogen werden können. Wird gelegentlich eingewendet, daß Dialektik gegen Erfahrung immunisiere, um der Erfahrung und den Fakten ausweichen zu können, so ist auf folgendes hinzuweisen. Da Geschichte nachträglich geschrieben wird, muß sie aus der Menge des Überlieferten das an sich ziehen, das von dem jüngeren Standpunkt aus Bedeutung besitzt. Dabei werden meist Momente relevant, die für die damaligen Repräsentanten weniger wichtig waren oder aus ihrer Geltung verdrängt werden sollten. Die Objektivität wird davon nicht tangiert, wie man zunächst annehmen sollte. Wenn sich Strukturen hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzen, können sie nicht vordergründig in dem Bewußtsein ihrer Zeit gewesen sein. Das Entdecken von neuen, bisher unbekannten Sachverhalten kann ungezielt vorgenommen werden und bietet dann den Rohstoff für weitere Interpretation, die legitim aber auch an schon bekanntem Material vorgenommen werden kann. Die historische Wirklichkeit spricht nicht bloß aus den Dokumenten, da sie die Illusion einer Zeit über sich selbst wiedergibt. Wenn dabei von Illusion gesprochen wird, dann ist nicht zu verkennen, daß sich das konkurrierende Bewußtsein gemeinsam mit dem herrschenden, wie Marx in seinem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" sagt, über den vorhandenen Gegensatz Klarheit zu verschaffen sucht, sie sich diesen Gegensatz tatsächlich bewußt machen. Dialektik berücksichtigt daß der Widerspruch der Welt immanent ist und deshalb jede Handlung widersprüchliche Folgen zu setzen vermag. Eine auf die Geschichte angewandte dialektische Er-
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kenntnistheorie muß deshalb nicht nur den empirischen, synchronisch feststellbaren Widerspruch beachten, sondern auch verdeutlichen, wie mit jeder Handlung neue Widersprüche gesetzt werden. Sie entstehen sowohl innerhalb bekannter wie unbekannter Strukturen. Gilt für Marx generell, daß das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewußtsein bestimmt, dann bleibt stets zu erörtern, welche Strukturen konkret miteinander in Verbindung treten können und welche neue Beziehungen im historischen Progreß entstehen. In der in der Lehre von Marx enthaltenen Theorie der Handlung äußert sich die Analyse als Tatsachenfeststellung, als Abbildung von Möglichkeiten und Prozessen, als abgekürzte Geschichte der menschlichen Gattung. Sie hat vordergründig und in letzter Instanz die Absicht, die Notwendigkeit gesellschaftlicher Entwicklung zu skizzieren und der Arbeiterklasse ein langfristiges Aktionsprogramm zu geben, das bis zur Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen reicht und mit dem Abbau auch der nichtantagonistischen Klassen das umfangreiche Fließen der Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums in der zweiten Phase des Kommunismus einbezieht. Handeln faßt Marx als Tätigkeit auf, die sich auf die Natur und die Gesellschaft selbst bezieht. In beiden Fällen wirkt es umwälzend. Die Natur wird mit der Entwicklung der Produktionsmittel verändert, soweit diese auf sie einwirken. Damit entwickeln sich die Individuen als arbeitsteilig wirkende Subjekte der Gesellschaft, in der sich aufeinanderfolgende progressive Ordnungen auszubilden vermögen. Hegel reflektierte, daß höhere Stufen stets von anderen Völkern und in anderen Territorien erreicht wurden als die vorhergehenden Stufungen. Marx kommt zu dem Ergebnis, daß auf der gesamten Erde höchste Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu erreichen sind. Anders als Rousseau sehen Marx und Engels einen wirklichen Fortschritt als Produkt der vielfältigen gesellschaftlichen Aktion, in der tatsächlich kontinuierlicher Progreß infolge der ständigen Produktion neuer Widersprüche erzielt wird. Deren Aufhebung erzeugt höhere Stufen mit Notwendigkeit. Wenn allerdings die Widersprüche kastenmäßig eingefroren werden, erfolgt ein Stagnieren, dagegen ein Progreß bloß dort, wo in der antagonistischen Gesellschaft neue Klassen zum Zuge gekommen sind und weitere Entwicklung ohne oder mit historischem Bewußtsein erzeugen. In der Diktatur des Proletariats kommt diejenige Klasse zum ersten Male zum Tragen, die mit ihren historischen Möglichkeiten zugleich zum ersten Male die Volksmasse zum historisch entscheidenden Subjekt macht. Vor dem Einsetzen des Industriekapitalismus war weder eine derartige Klasse vorhanden, die sich Aufgaben wie das Proletariat zu stellen vermochte, noch konnte eine Theorie entstehen, die mit dem Nachweis des notwendigen Übergangs zu einer von Ausbeutung freien Gesellschaft die Grundlagen für entsprechendes Handeln entwarf. Dialektik in der Geschichte der Ordnungen setzt sich gleichzeitig in die Dialektik des ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampfes um. Die Marxsche Dialektik wendet sich radikal der Zukunft zu und überwindet 149
bei Hegel die bei diesem noch vorhandenen letzten Reste eines Rousseauismus, der in jeder Entfaltung der Gesellschaft einen Rückschritt sah. Hegel entwirft die Idee des Fortschritts als einen konkreten dialektischen Prozefj, lägt aber Philosophie als „Eule der Minerva" vorwiegend rückwärts blicken. Wie sich diese an Rousseau erinnernden Reste heute fortsetzen, sei mit einem Rückgriff auf die „Praxis"-Philosophie belegt. Ein zentraler Gesichtspunkt sei an einer Passage von Pedrag Vranicki demonstriert. Zweifellos erwies sich die Gattung Homo sapiens als theoretisch-praktisches Wesen.14 Wenn nun die Praxis blofj als Veränderung, Schaffung von Gegenständen und eigene Geschichte definiert wird, so resultiert, dag es keineswegs sophistisch ist, an den vorgebrachten Begriffen mangelnde Genauigkeit zu beanstanden. Auch die Natur insgesamt besitzt eigene Geschichte; Veränderung erzeugen die verschiedensten biologischen Objekte wie zum Exempel monozelluläre Gebilde und darunter etwa Diatomeen, die beträchtliche geologische Schichten zu bilden fähig sind. Schaffung von Gegenständen bedeutet keinen Unterschied zwischen Produktionsinstrumenten und Konsumgütern des individuellen Verbrauchs. Mittel zu benutzen, um das Leben zu erhalten, ist nach Marx grundlegend. Über physische und geistige Arbeit entwickeln sich das Individuum und die Gesellschaft, in der allein die menschliche Person existiert und in Stufen sich verändernde Arbeit auszuüben vermag. Als eigene Geschichte des Menschen verstanden, ist die Arbeitsproduktivität steigernde Veränderung der Mittel, die vermittelte Entwicklung der Handlung und des Handlungsspielraums, mindestens des potentiellen. Daß dabei unvermittelt und vermittelt dialektische Sachverhalte wirken und neu wirksam werden, ist für die Theorie des dialektischen und historischen Materialismus selbstverständlich. Unumgänglich ist indes innerhalb des Marxschen Konzepts die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die physische und geistige Entwicklung einbezieht und deshalb technische, ökonomische und gesellschaftliche Entfaltung als dialektische Einheit begreift, aus der keines dieser Momente entfallen kann, wenn von menschlicher Gesellschaft die Rede ist. Momente des Überbaus besitzen nach Marx nicht die gleiche Stabilität wie die in die sozialökonomische Struktur eingehenden Elemente. Mindestens die genannten drei sich durchdringenden Gebiete und selbstverständlich die Individuen bilden die Grundlage des Gattungslebens. In der Superstruktur vermögen Institutionen und Formen des Bewußtseins wie Kirche und Religion an Bedeutung zu verlieren und zu verschwinden, wenn sich die phantastische Abbildung der Wirklichkeit erübrigt. Ohne Steigerung der Arbeitsproduktivität und fortschreitende Beherrschung der gesellschaftlichen Beziehungen aber resultiert auf die Dauer kein Fortschritt. Jedenfalls ergibt sich 14 P. Vranicki, Marginalien zum Problem des Humanismus, in: Mensch und Geschichte, Frankfurt a. M. 1969, S. 11: „Die menschliche Natur besteht - in der Einheit mit der animalischen Natur des Menschen, auf die er gleichzeitig einwirkt - nur darin, daß der Mensch ein theoretisch-praktisches Wesen ist . . . denn die fundamentale Definition der Praxis ist: Veränderung, Schaffung von Gegenständen und eigene Geschichte."
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deren gemeinsame Bedingtheit aus der Analyse von Marx. Praktisches und theoretisches Handeln verweisen aufeinander. Ergeben sich Zerrungen und zusätzliche Widersprüche innerhalb der Gesellschaft aufgrund unterentwickelter Produktivkräfte, die erst in der ersten und zweiten Phase des Kommunismus zu überwinden sind, dann bleibt um so mehr auf die Funktion der Steigerung der Arbeitsproduktivität verwiesen, die Rationalisierung und fortlaufende Herstellung wie Erhaltung der Kontinuität der Produktion dialektisch einbezieht. Dialektik der Handlung, d. h. das Erkennen der Dialektik unter anderem auch und gerade in der Arbeitstätigkeit, wird gegenwärtig von stets anderen und doch in der Hauptsache identischen Gesichtspunkten zu bestreiten versucht. Dialektik durchzuhalten, selbst wenn sie zugestanden wird, erweist sich als gar nicht so einfach zu verwirklichendes Unterfangen. Pedrag Vranicki vermerkt etwa, in der Geschichte habe der Mensch nur dadurch Fortschritt zustande gebracht, »daß er sich radikal partialisierte, entfremdete". 15 So weit, so gut. Fortschritt und Entfremdung gehen in bestimmten Etappen der historischen Entwicklung zusammen. Das historische Moment der Handlung verlangt indes deren widersprüchliche Momente auch in der detaillierteren Behandlung festzuhalten. Vranicki verfährt indes anders.16 Sein Text erweckt den Anschein, als ob es eine menschliche Existenz gegeben habe, die nicht vom anderen Menschen abhängig, frei von ihren eigenen Vorstellungen, Herr über die Bestimmung ihres Lebens und ihrer Tätigkeit war. Nun lassen sich identische Verhältnisse unterschiedlich interpretieren. Abhängigkeit und Freiheit von den eigenen Vorstellungen brauchen nicht eindeutig und in gleicher Weise verstanden zu werden. Im Kontext entsteht bei Vranicki der Eindruck, Entfremdung bedeute gerade jene Form der Abhängigkeit vom Anderen und von einem herrschenden Bewußtsein. Den philosophierenden Strukturalisten lassen sich verschiedenste Einwände entgegenhalten, nicht aber die Behauptung, auf der von der Ethnologie behandelten Kulturstufe frühhistorischer Zeit hätte es keine Abhängigkeit gegeben. Mindestens hingen sie nach deren Auffassung von der kombinatorisch zu erschließenden und entsprechend streuenden Vielfalt der Verwandtschaftsverhältnisse ab, für spätere Epochen noch dichter von der Sprache, der Phonetik, der Schrift und dem Duktus des Geschriebenen. Wie weit es zutreffend ist, solche zweifellos vorhandenen Abhängigkeiten als dominierend oder als untergeordnet zu betrachten, vielleicht in differenten Zeitabschnitten wechselnde Abhängigkeiten gelten zu lassen und sogar den manifesten Bedeutungswandel als Repression zu werten, ist eine andere, an anderem Ort zu behandelnde Frage. Jedenfalls vermag Vranickis Generalisierung nicht zu befriedigen. Sie erweckt Illusionen. Untersucht Marx Erscheinungen, die er als 15 Ebenda, S. 13. 16 Ebenda: „Vorankommen konnte der Mensch nur durch die Schaffung solcher Verhältnisse, die ihn im Grunde versklavten, in denen er abhängig wurde, in denen er nicht mehr Herr über die Bestimmung seines Lebens und seiner Tätigkeit war."
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Entfremdung klassifiziert, so benutzte er eine Buchstabenfolge, die im Verständnis Hegels tatsächlich fortdauernde Kontinuität besaß, aber notwendige Durchgangsstufe blieb, insofern also nicht abgewertet aufzufassen war. Marx analysierte die als Entfremdung bezeichnete Erscheinung als Eigenschaft einer bestimmten Gesellschaftsformation und des kapitalistischen Privateigentums. Damit entfällt, wenigstens im Verständnis von Marx, das Ausdehnen jener Bewertung auf die Gesamtheit oder die meisten der Ordnungen. Bezeichnet man andere Erscheinungen mit gleichem Namen, dann entsteht eine Deformation des Begriffs, die nicht mehr aufhellend zu wirken vermag, da schließlich fast jede der gesellschaftlichen Phänomene als anfällig und behaftet, infiziert mit Entfremdung diagnostiziert werden kann. Das Befreien vom anderen Individuum ist irreal und unter der Bedingung heterosexueller Vermehrung der Gattung kaum vollziehbar, wenn man auch ähnliche Hypothesen in der Geschichte etwa bei den Marcioniten praktizieren wollte.17 Sicherlich will Pedrag Vranicki nicht auf einer so weit gehenden Ausdeutung des eigenen Textes insistieren. Gesellschaftliches Dasein aber bedeutet Beziehung zu den anderen und die Vermittlung eines mindestens gruppenweisen gemeinsamen Produktionsprozesses, der auch vor dem Einsetzen der Arbeitsteilung, die über das Physische hinausgeht, Abhängigkeit setzt. Ohne das Verhältnis der gemeinsam Lebenden und Arbeitenden zueinander existiert keine Gesellschaft. Auf sie zu verzichten, setzt einen nicht existierenden Ausnahmefall voraus, der auf einen Teil der tradierten Erfahrung der Gattung verzichtet. Beschäftigten Marx vornehmlich die Unterschiede der feststellbaren Serie von Ordnungen, so gehören jene allgemeingültigen Eigenschaften der „Substruktur" des Werkzeuge benutzenden Anthropoiden zu der Bedingung, ohne die nicht einmal Werkzeuggebrauch entsteht, wie gegenwärtig auch seitens der physischen, d. h. naturwissenschaftlichen Anthropologie als sicher anzunehmen ist. Abhängigkeit von anderen ist so dialektisch und ambivalent wie nur irgendeine andere gesellschaftliche Erscheinung. Was man auch unter Aufhebung der Arbeitsteilung zu verstehen vermag, so hebt sich damit unter keinen Umständen nichtantagonistische Abhängigkeit auf, da Produktion sich nur in einem sozialökonomischen Zusammenhang realisiert. Über seine Gestalt entscheidet die jeweilige Ordnung, die hinter dem Rücken der Beteiligten und mit Bewußtsein entsteht. Innerhalb des Humanum muß, gewollt oder nicht gewollt, Abhängigkeit bestehen bleiben. Ein Verzicht auf auch noch so partielle Naturbeherrschung, die bereits erreicht ist oder als möglich anzunehmen wäre, bedeutet Rückschritt. Das Abfangen damit verbundener Störungen gehört zu den von der jeweiligen Ordnung zu bringenden Leistungen. Verzicht aber setzt erneut eine andere schon überwundene Abhängigkeit. Wie steht es mit der Abhängigkeit von den eigenen Vorstellungen? Ohne 17 Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. II, 1, Berlin 1970. S. 48/49, 51/52, 56.
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weiteres ist anzunehmen, es sei nicht anders als mit dem zuerst behandelten Sachverhalt. Vorstellungen begleiten bereits den Übergang vom Pongiden zum Anthropoiden. Ohne noch so einfachen Gehalt in Gedanken läßt sich, unbeschadet begleitender genetischer Programmierung, das jagdbare Getier nicht identifizieren, ebensowenig Früchte und Pflanzen, einschließlich erster natürlicher Pharmaka. Die Arbeitsproduktivität, von der wir sprachen, ist von der Fähigkeit zur Reproduktion von Ideen begleitet, die selbst wieder Abhängigkeit erzeugen und die Initialriten, aus denen Erziehung und pädagogischer Eros hervorgehen. Ohne geistige Vorstellungen gibt es keine Bestimmung des Lebens und der Tätigkeit. Gelegentlich dominierte in pseudokybernetischer Sprechweise die Manie, jegliche Übermittlung von Kenntnis als vorprogrammierendes Verfahren zu klassifizieren. Da Worte Nebenbedeutung mitschwingen lassen, vermittelt solche Redeweise den Eindruck der gewaltsamen Deformation, zu der die gleichen Verfahren psychologistisch auch verwendbar waren und sind. Auch unter der Bezeichnung Selbst- oder Fremddetermination ensteht die gleiche Assoziation. Ist sie gewollt, dann pflegt die Absicht einherzugehen, unter Selbstverwirklichung und Aufheben jeder Abhängigkeit unbedingte Möglichkeit von Individualität und selbständiger Existenz zu suggerieren, die bis zur Freiheit vom Selbst zu steigern wäre und marcionitische Tradierung verrät. Unter die Kategorie des Selbstbewußtseins fällt nach meiner Ansicht ein so weitgehendes Unabhängigkeitsgefühl nicht, da auf den gleichsam natürlichen Zusammenhang gesellschaftlichen Daseins Verzicht geleistet ist; Abhängigkeit von den eigenen Ideen erweckt dazu noch den Anschein, als ob es überhaupt möglich sei, sich soweit zu verselbständigen, um unabhängig von Überlieferung und von Wechselbeziehung zu Mensch und äußerer sonstiger Realität Gedanken zu entwickeln. Von eigenen und anderen Ideen abhängig zu sein, bedeutet weder nach Hegel noch nach Marx Entfremdung. Soweit Homos erectus und Homo sapiens Werkzeuge benutzen, entsteht und entfaltet sich Bewußtsein. Dessen dialektische Eigenschaften äußern sich unter anderem in der Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft, in deren Existenz genuine Gedanken des einzelnen stets einen kollektiven und damit gesellschaftlichen Hintergrund besitzen, unabhängig davon, ob individuelle Gedanken gehegt und entsprechende Entscheidungen getroffen werden oder Gemeinschaften, Gruppen, Klassen den Denk- und Entscheidungshorizont bestimmen. Denken und Fühlen haben gesellschaftlichen Ursprung. Wenn an die Möglichkeit von Manipulation durch Massenkommunikationsmittel gedacht wird, gerät häufig in Vergessenheit, daß in vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen und erst recht in der Urgemeinschaft das Minimum von heutigen Kenntnissen weit unterschritten wurde und äußerste Enge des Bewußtseins die Regel war. Geschichtliches Handeln vollzog sich unter der Vorherrschaft vorwiegend sehr langfristig tradierter Kenntnisse, die auf Grund der über lange Strecken unveränderten Strukturen der Gesellschaft keinen wesentlichen, signifikanten Zuwachs erhielten. Die einzige Möglichkeit der Aufnahme neuer Ideen lag in 153
der Uminterpretation des dem Stamm eigenen Materials oder dem Herausgreifen einzelner Gedankenbruchstücke, denen unter gelegentlich veränderten Bedingungen allmählich ein anderer Sinn gegeben wurde. Die Geschichte der Apokryphen, der Zusammenstellung der zu Altem und Neuem Testament zählenden Schriften, läßt sich aussondern und als Entwickeln von Hintergrundwissen verstehen, das sich im Entstehen und Vergehen der antiken Kultur ausbildete und die subjektiv eigenen Gedanken, von denen Vranicki spricht, vorbereitete und kanalisierte. Für einen Teil der ehemaligen Sklaven und Kolonen, für die angesiedelten Stämme der Völkerwanderung, bedeutete die Bibel mit oder ohne Apokryphen zweifellos eine Ausweitung des Wissens, auf dessen Grundlage die eigenen Gedanken ihren Weg beschritten. Paradigmatisch läßt sich aus diesem relativ gut überschaubaren älteren Geschichtsabschnitt der Umfang von Hintergrundwissen bestimmen, zu dem einheimische, regional eng verbreitete noch ältere mythische Schichten hinzukamen und in die feudal hierarchisch gegliederten Schichten, Berufsverbände, Berufsgruppen der Völker und ihre sonstige Gliederungen eingingen. Mit dem Vordringen der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben nimmt im Vergleich zu mündlicher Tradierung der erwerbbare Gedankeninhalt zu. Mit den Sorgen des literarisch gebildeten Intellektuellen läßt sich das Problem des Fortschreitens selbständiger Meinungsbildung nicht angehen. Auf der Grundlage des verfügbaren Kenntnisbestandes vermochte sich die Differenzierung in Klassen zu vollziehen und konnte mit dem Eintritt in die Klassengesellschaft der Klassenkampf auf seinen drei Ebenen in Erscheinung treten. In Epochen total religiöser Überformung bieten Religion und säkularisiertes Wissen den Begriffsbestand, in dem sich die Klassen und Schichten ihrer Konflikte bewußt werden und sie ausfechten. Sie gehen in entsprechende Handlung über. Vranickis Vermutung, es hätte eine Zeit gegeben, die nun verschwunden, aber anzustreben sei, in ihr sei der Mensch im Gegensatz zur Gegenwart Herr über die Bestimmung seines Lebens und seiner Tätigkeit gewesen, läßt sich als profund ahistorisch klassifizieren. Ähnlich wie bei den Ideen, ist der Spielraum der Tätigkeit und damit der Bestimmung des Lebens nach der konkreten Entwicklung der Produktivkräfte und der Ordnung vorgegeben. Die Möglichkeiten, die zu weiterer Entfaltung anstehen, haben ebenfalls ihre historisch vorgefundenen Grenzen. Ein Lamentieren erweist sich damit als überflüssig. Die Diskussion vermag sich höchstens darauf zu erstrecken, wie umfangreich der jeweilige Handlungsspielraum im Vergleich zur Gegenwart anzusetzen wäre. Ich habe den Eindruck, daß die von der Beschleunigung des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts gegebene schnelle Veränderung der Arbeitsanforderungen, der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse, der Informationsflut an populärer und wissenschaftlicher Literatur und Sonderdrucken der bürgerlichen und revisionistischen Intelligenz mehr Schwierigkeiten und Sorgen bereitet als den Nutzern. Tatsächlich entsteht an Brennpunkten der Forschung und des Produktionsfortschritts ein dem Verlaufe der Negation der Negation folgendes Faktum, das 154
Interesse heischt. Mit der Offenlegung des Kenntnisstandes, von in Handlung umsetzbarem Wissen in der Antike, den sogenannten mehr oder minder weltlichen Artistenfakultäten des Mittelalters, den Publikationen seit Gutenbergs Erfindung der Buchdruckerkunst entstand eine Verbreitung von Information, die das individuelle und öffentliche gesellschaftliche Bewußtsein bereicherte und bis in die untersten Schichten vordrang. Dürers Holzschnitte boten nicht die schlechteste Information. Die Prognostika, die - partiell ebenfalls mit Holzschnitten versehen - Rabelais und Kepler neben weniger bedeutenden Autoren verfaßten, drangen in das gesamte Volk. Wie weit mündliche Überlieferung reichte, belegen die Gerichtsprotokolle, aus denen die Verbreitung häretischer und oft revolutionärer Ideen zu ersehen ist. Mindestens bis in das 13. Jahrhundert Europas und viel weiter zurück, vornehmlich im Vorderen Orient, sind darüber Materialien verfügbar. Mit der Beschleunigung gesellschaftlicher Produktivkräfte setzt eine Verbreitung des Wissensbestandes ein, der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts modernstes Fundamentalwissen auf die damit befaßten kleinen Forschergruppen beschränkt und die Frist, nach der neue Ergebnisse in Natur- und technischen Wissenschaften verfügbar sind, entschieden verkürzt. In dem Zeitalter der Weltkriege nimmt die Geheimhaltung von praktikablem Wissen zu, die wieder an die Codices der mittelalterlichen Handwerksinnungen oder die jahrtausendealte Übertragung chemischen Geheimwissens erinnert. Der Durchschnitt des Kenntnisstandes, den man für das praktische und theoretische Handhaben moderner Produktionsinstrumente und analoger Geräte administrativer Institutionen braucht, vermehrt sich und erfährt eine Objektivierung auch in den Stoffplänen der Schulen. Intensiv erweiterte Reproduktion beschleunigt den technischen Fortschritt entschieden. Gelegentlich erinnern Bildungskataloge an den Wunschanbauplan Rabelais' in „Gargantua und Pantagruel", übertreffen indes Goethes Ideen zur Pädagogischen Provinz und Basedows Idealvorstellungen bei weitem. Allein schon in der Erweiterung des schulischen Zeitraums resultiert ein Maßstab der für gut befundenen Volksbildung, auf die die entwickelte sozialistische Gesellschaft besonderen Wert legt. Minimum und Maximum der Aneignung von Kenntnis und die Art ihrer Anwendung bleiben indes vorgegeben und bloß in einer Art anarchistischem Verweigerungsdrang unterbietbar. Wenn eine reaktionäre Ausbeutergesellschaft bemüht ist, Volksmassen niedrigstes Wissen zu vermitteln, dann bietet die Verweigerung, gegebene Möglichkeiten auszunutzen, gleichsinnig Entwicklung retardierende Absicht. Wie auch in einer Gesellschaft die Verteilung der vorhandenen Individuen auf die Bedarfsträger durchgeführt wird, so bleibt stets der Bedarf «ine objektive Größe. Er erstreckt sich nicht bloß auf die manuellen Tätigkeiten und die in ihnen erwünschte oder nicht erwünschte Neuerung sowie auf Forschung und Entwicklung, eine heutzutage in Prozenten des jährlichen Volkseinkommens und in Köpfen meßbare Datenmenge. Manuelle und geistige Anforderungen sind nach Maschinentyp, Beruf, Studienrichtung und Spezialisierung fest155
gelegt, wie die möglichen Änderungen der Schwerpunkte gewiß sind. Ebenso wichtig erweist sich das Erziehen zu der Fähigkeit, auf zuvor weniger benötigte Gebiete umzusteigen. Behauptet Pedrag Vranicki, es handele sich um Reduzierung des Menschlichen, verstanden als endlose Möglichkeit des Handelns, auf extreme Armut, dann trifft diese Feststellung nur sehr bedingt zu, da der Tendenz nach historisch im Effekt Ausweitung und nicht Einengung erfolgt. Das überlieferte Ideal des mittelalterlichen, vormanufakturellen Handwerkers verschiebt sich in der illusionären Befassung mit der Vergangenheit ebenso wie die angebliche Freiheit des mit der Natur verbundenen frühen Menschen, dessen Abhängigkeiten sich im Verlauf der Geschichte im Durchschnitt minderten. Einheit des Menschen mit der Natur erkennt Karl Marx auch in der Industrie einer Entfremdung erzeugenden sozialökonomischen Ordnung, wie die „Pariser Manuskripte" und die Texte der „Deutschen Ideologie" übereinstimmend aussagen und erkennen lassen. Vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften durch Aufheben des kapitalistischen Privateigentums18 bedeutet das Ausdehnen der allgemeinen Tendenz vom Entfalten geistiger Wesenskräfte auf die Volksmassen unter Beachten der gesellschaftlichen Bedürfnisse des Kommunismus. Vranicki will eine menschliche Praxis, die das Zukünftige nicht minder als die Vergangenheit verzerrt. Er meint ein Handeln und Denken vorzufinden, das sich immer noch in der idolatrischen Phase ihrer Bewegung befindet. Zu den traditionellen Religionen seien heute soziale und politische Mystifikationen hinzugetreten, die mehr und mehr an Boden gewönnen.19 Soll Unfreiheit aufgehoben werden, dann definiert Vranicki diese Situation als einen Zustand, der aus der Ungewißheit und Unsicherheit einzelner Sphären des gesellschaftlichen Lebens, mächtiger einzelner Klassen oder des Staates resultierte - die Wurzel dieses menschlichen Bedürfnisses war allemal, so fährt er fort, das Gefühl der Ohnmacht.20 Daß genossenschaftliche Selbstverwaltung als Allheilmittel gilt, ein altes anarchosyndikalistisches Prinzip, betont nur eines der Momente, die sich aus der Verfehltheit der Analyse ergeben. Auf Gruppen zu insistieren ist kein Grund, der gestattet, Klassen und Staat ganz allgemein anzusprechen, ohne zu betonen, um welche Klassen und um welchen Staat es sich handelt, wozu gerade Entwicklungstheorie der Gesellschaft als Mittel der Unterscheidung nötig ist. Nebeneinander erwähnt Vranicki „Ungewißheit und Abhängigkeit von der Natur" und „Abhängigkeit und Unsicherheit einzelner Sphären", in denen Klassen und Staat auftauchen, mit denen sich hier die Debatte erübrigt, da sich darin die fehlende Analyse des wirklich existierenden Sozialismus zeigt, der in Auseinandersetzung mit dem Imperialismus entsteht. In dem ersten Teil der Definition von Unfreiheit läßt sich das unhistorische und undialektische Denken ohne Schwie18 Vgl. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: band, Erster Teil, a. a. O., S. 540. 19 P. Vranicki, Marginalien, a. a. O., S. 17. 20 Ebenda.
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MEW, Ergänzungs-
rigkeiten erkennen. Ungewißheit und Abhängigkeit von der Natur galt Lukrez als Grund der Religion, die er aus der Furcht vor den Naturgewalten ableitete. Marx hingegen sieht in der Religion ein historisch entstandenes und vorübergehendes Phänomen, das aus gesellschaftlichen Ursachen entsteht und Klassenfunktionen erfüllt, als Repression und - wie etwa in den Bauernkriegen und den bürgerlichen Revolutionen in Deutschland, den Niederlanden und England - als progressiver Stimulans. Ungewißheit und Abhängigkeit gehen indes undialektisch über das von Lukrez Gemeinte hinaus. Ein Beseitigen der Abhängigkeit von der Natur wäre ein absolut irreales Ausscheiden aus einem Bezugsgefüge, dem der Mensch als Teil der Natur und ihr Produkt zugehörig war und bleibt. Sollte Vranicki seine Hoffnung auf wissenschaftlich-technische Revolutionierungen oder den Kommunismus der Selbstverwaltung setzen, dann erweist sich etwaiges Vermuten dieser Art ebenfalls als überzogen. Anzunehmen, daß eine Entwicklung der Produktivkräfte aus der Natur auszuscheiden gestattet, versäumt, über deren Stellung zwischen Gesellschaft und Natur zu reflektieren. Die vom Menschen veränderte Natur bleibt Natur, obwohl sie partiell geänderte Eigenschaften annimmt. Individuum und Gesellschaft lassen »Wesenskräfte" des Menschen entstehen, die individuell und gesellschaftlich begründet sind. Ist auch der von Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" verwendete Begriff des Wesens mit anderen Ausdeutungen belastet, so hatte Lenin kein Bedenken, ihn in seinem theoretischen Denken zu benutzen. 21 Mit Gesetz und Gesetzmäßigkeit ist jedenfalls der mit Wesenskräften gemeinte Sachverhalt getroffen. Wäre die Ambivalenz von Ergebnissen menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung mit Entfremdung gleichzusetzen, dann handelte es sich tatsächlich um ein unaufhebbares Verhältnis, nämlich das menschlicher Gesellschaft, solange die Erde bewohnbar ist und nicht aus astrophysikalischen Gründen ihre Bewohnbarkeit verhindert wird. Soweit Gesellschaft Dehumanisierung hervorruft, gehört diese zu den aufzuhebenden Erscheinungen. Abhängigkeit aber von der Natur bezeichnet einen jener ambivalenten Sachverhalte, in denen jede Befreiung von der Abhängigkeit neue Interdependenzen setzt, die ihrerseits zu den zu beherrschenden Erscheinungen gehören, die unbedingte Grundlage der gesellschaftlichen Gesetze sind. Soweit Vranicki von „Ungewißheit" spricht, ist zu erwidern, daß die Struktur der Materie Gewißheit bloß als Grenzfall in sich aufbaut. Sie resultiert als abgrenzendes Produkt, in dem sich bestimmte Erscheinungen manifestieren. Bei hochgradiger Differenzierung der Produkte der Materie, d. h. mit dem Erscheinen von reproduktionsfähigen organischen Verbindungen und dem Entstehen des genetischen Codes geht die Unbestimmtheit auch in das Erzeugen neuer Formen und Gestalten ein, obwohl diese selbst wieder ausgeprägt und abgegrenzt existieren. Im Verlaufe naturwissenschaftlicher Entdeckungen und 21 W. I. Lenin, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1976, S. 142: „Ergo sind Gesetz und Wesen gleichartige Begriffe (Begriffe gleicher Ordnung) oder besser gleicher Potenz."
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unter den Bedingungen der Entwicklung technischer Aggregate wiederholt sich in der menschlichen Gesellschaft das gleiche. Bleibt zu fragen, ob nun daraus in jedem Falle das Gefühl der Ohnmacht entstehen soll. In der Antike überdeckte das Selbstverständnis neu erschlossener, bis dahin nicht vorhandener Möglichkeiten das nebenherlaufende Gefühl des Ausgeliefertseins an den Ingenieur, während die herrschende Gedankenwelt paradigmatisch sich den neuen Bereich zueignete. Die Prometheus-Sage ist ein Merkmal für die Schmerzlichkeit des Losreißens von den Göttern und einer neuen Position des Menschen, der sich nicht mehr auf die Gottheiten herausredet, sondern in seinem Verhältnis zur Natur die Notwendigkeit der innerweltlichen Eigenverantwortung aufkeimen sieht. Auf jeder Stufe der Bewältigung von Natur erhebt sich von neuem die Frage nach dem Auswirken auf Gesellschaft und Individuum sowie auf die Natur. Sinn der Theorie von Marx ist unter anderem, den Blick für die Entwicklung der Produktivkräfte zu schärfen und für die Errichtung einer Gesellschaft, die mit dem Erfüllen dieser Aufgabe zugleich den Nutzen der Volksmasse zuwendet und die Natur erhält, deren Substrat und deren Gesetzmäßigkeit Grundlage für das Entfalten jeglicher Kultur bleibt. Im Verfolg einer unpraktischen „Praxis-Philosophie" kommt auch Hans Magnus Enzensberger auf die kleinmütige Ansicht, man solle zunächst die Idee des materiellen Fortschritts problematisieren, „die in der marxistischen Tradition eine entscheidende Rolle spielt". 22 Zugespitzt und verschärft läßt sich wiederholen, daß historischer Materialismus gerade darin seine Überlegenheit gegenüber den verschiedenen Arten von Kultur Verächtern und Maschinenstürmern besitzt. Jede neue Ordnung setzt sich mit den Problemlösungen auseinander, die der vorherigen Gesellschaftsordnung nicht gelungen ist zu bewältigen, wobei die Fähigkeit, Produktivkräfte höher zu entwickeln, Marx als Kriterium der Überlegenheit der neuen Ordnung ausweist. Wie andere pessimistische Theoretiker zuvor (Herbert Marcuse, Dieter Senghaas, Claus Koch, André Gorz), erneuert Enzensberger die luddittische These und sucht sie als notwendiges Produkt dialektischer Entwicklung der Produktivkräfte auszulegen. Die gehäuften Vokabeln suchen zu begründen, daß weitere Entfaltung ausschließlich Destruktion erzeuge. 23 22 H. M. Enzensberger, Zur Kritik der politischen Ökologie, in: Kursbuch 33, Oktober 1973, S. 26. 23 Ebenda, S. 27: „Von einem gewissen Punkte an enthüllen also diese Produktivkräfte die Kehrseite, die in ihnen schon immer verborgen war, und sie erweisen sich als Destruktivkräfte, nicht nur im speziellen Sinn der Rüstungsproduktion und des künstlichen Verschleißes, sondern in einer viel allgemeineren Bedeutung: der industrielle Prozeß, soweit er von diesen deformierenden Produktivkräften abhängt, bedroht seine eigenen und damit die Lebensgrundlagen der menschlichen Gesellschaft . . . Wenn ein gewisses (allerdings kaum zu bestimmendes) Maß an Zerstörung der Natur erreicht und irreversibel geworden ist, dann droht die Vorstellung vom .Reich der Freiheit' ihren Sinn zu verlieren. Vollends absurd scheint
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Zu den Deformationen des theoretischen Denkens gehört schon die Bemerkung, jetzt erst enthülle sich die Kehrseite der Produktivkräfte, die schon immer in ihnen enthalten war. Die bisherigen Kehrseiten erzeugten, so möchte ich den Vorwurf umkehren, den Fortschritt der Ordnungen. Legt man das ausschließliche Schwergewicht auf die jeweils zum Vorschein kommenden Ambivalenzen, dann versickert Geschichte in eine reine Aufzählung von Verfall. Zu wundern verbleibt dann bloß, wieso dann überhaupt Menschen zu überleben vermochten. Enzensberger antwortet, die bisher verborgene Destruktivkraft habe sich erst jetzt geäußert, und darin sei das dialektische Produkt der Geschichte zu sehen. In seiner Kritik der politischen Ökologie soll damit gesagt sein, Ambivalenz moderner Produktivkräfte abzufangen sei überhaupt unmöglich. Neben der abzulehnenden imperialistischen Rüstungsproduktion bringt Enzensberger als gleichartig den „künstlichen Verschleiß", der unverkennbar die Anknüpfung an Arnold Gehlen2'* ankündigt. Bringt Marx in seinen Schemata der erweiterten Reproduktion die wachsende technische Zusammensetzung der Grundfonds gerade in den zwei Phasen des Kommunismus, so Enzensberger die Entdeckung der Verewigung technischer Stagnation, die den eigentlichen Fortschritt repräsentiere. „Künstlicher Verschleiß" ist synonym mit der Legende, schneller moralischer Verschleiß von Produkten sei gewollte Bosheit, um den Konsumenten schlechthin zu ärgern. Auf Steigern der Arbeitsproduktivität ausgelegte Produktionsinstrumente bringen in jeder Ordnung dann dem Einzelnen und der Gesellschaft Verlust, wenn das Entwickeln der wissenschaftlichen Technik einseitig keine Beachtung findet. Aber Enzensberger will belegen, der industrielle Prozeß bedrohe seine eigenen und die Lebensgrundlagen der Gesellschaft durch künstlichen Verschleiß und Rüstung. Letzteres trifft zu, weshalb der Kampf für den Frieden seitens der sozialistischen Länder herausragende Bedeutung beansprucht. Die These vom künstlichen Verschleiß aber impliziert das Verlangen, auch die Wissenschaft solle zur Stagnation gebracht werden. Sie aber hat die siegreiche Arbeiterklasse in ihre Obhut genommen. Das Verschleißen der Natur ist von Enzensberger auf Plünderung der Erde zurückgeführt, eine These, die der früher benutzten vom Kampf des Kapitalismus um Rohstoffe ähnelt, sie aber nicht so deutlich ausspricht. Die Behauptung, das Entfalten der Produktivkräfte vernichte in Kürze alle Vorräte, geht es, in einer kurzfristigen Perspektive von der Möglichkeit einer .Überflufjgesellschaft' oder von der Abschaffung des Mangels zu sprechen, so wie Marcuse das getan hat. Der .Reichtum' der überentwickelten Konsumgesellschaften des Westens verdankt sich, soweit er nicht, wie für einen Großteil der Bevölkerung, bloße Chimäre ist, einem Rausch der Plünderung und des Raubes, der in der Geschichte ohne Beispiel ist, und dessen Opfer einerseits die Völker der dritten Welt und andererseits die Menschen der Zukunft sind. Es handelt sich also um einen Reichtum, der unvorstellbaren Mangel erzeugt." 24 Vgl. A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg 1969.
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von der fahrlässigen Annahme aus: neue Rohstoffe seien nicht mehr vorfindbar, keine neuen Energiequellen zu gewinnen und das Ersetzen des einen Rohstoffs durch den anderen höre auf. Jeder dieser Gesichtspunkte geht von der Überzeugung aus, es sei bereits gelungen, jegliche technisch-wissenschaftliche Neuerung abzuwürgen. Diese Voraussetzung ist unzutreffend. Entsprechende Extrapolationen eines schnellen Endes aller Vorräte nach dem Vorgehen des Club of Rome und der MIT-Studie der beiden Meadows' erwähnen die genannten Gesichtspunkte, aber vernachlässigen sie und gehen deshalb an der Sache vorbei. Mit dem Ingangsetzen jenes mit der industriellen Revolution beginnenden Prozesses entstehen fördernde Widersprüche in der gesellschaftlichen Entwicklung: technischer Fortschritt, Arbeiterklasse, Marxismus-Leninismus und sozialistische Gesellschaft. Soll Stagnation bevorzugt werden, dann ergibt sich erneut jener „Stillstand der Geschichte", der sich in den größten Abschnitten der bisherigen Geschichte und im Mittelalter vorfindet und den die Apologeten des Pessimismus herbeireden. Inzwischen aber ist die Periode des imperialistischen Kolonialismus im Prinzip durch die entstandene Selbständigkeit der Entwicklungsländer abgeschlossen. Schlössen sich diese von der industriellen Entwicklung aus, was bisher der Idee nach nicht vorfindbar ist, dann schwänden ihre Produkte in der Weltproduktion und neue arbeitsteilige Erzeugnisse kämen nicht hinzu. Dann erfolgte das Ersetzen der vorenthaltenen Rohstoffe nach dem seinerzeitigen Beispiel der Verfahren von Haber-Bosch und Fischer-Tropsch oder dem schnellen Entwickeln der Großtransporter zur See sowie das Umstellen auf neue Energiequellen und bisher nicht genutzte Substrate. Menschengemäße Benutzung von Technik ist grundsätzlich Klassenauftrag und gesellschaftliche Aufgabe, die nur die Arbeiterklasse zu bewältigen vermag, wenn sie den historischen Materialismus nicht aufhebt, sondern konsequent anwendet.
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7. V o r t r a g
Zufall, Notwendigkeit und Voraussagbarkeit in der Geschichte
Wie bekannt, warf Jacques Monod in seinem „Le hasard et la nécessité" in der Diskussion von Problemen der Molekularbiologie erneut die Frage der Voraussagbarkeit in der Geschichte auf. Mit Gaston Bachelard läßt sich feststellen, daß es sich dabei um Dialektik handelt, weil die Vermittlung von Notwendigkeit und Zufall vorliegt.1 Betont Bachelard die Vermittlung und damit die zusammengesetzten Wahrscheinlichkeiten2, so insistiert Jacques Monod auf der Nichtvermitteltheit von Notwendigkeit und Zufall. In einem von Monods Arbeitsgebieten, der Regulation der Synthese von Eiweißen, dominiert die strenge Notwendigkeit, die ebenso für die genetische Übertragung von Eigenschaften im Prozeß der Vererbung gilt. Die Mutationen hingegen unterliegen dem bedingten Zufall. Der Versuch, gezielte Mutationen eindeutig durch einen notwendigen, mechanistisch ablaufenden Prozeß zu erzielen, scheitert mit einiger Gewißheit an den Eigenschaften des genetischen Substrats. Monod betont diesen Widerspruch. Er sieht in ihm keinen dialektischen, sondern einen kontradiktorischen Widerspruch. Daraus ergibt sich seine erkenntnistheoretische Verzweiflung. Innerhalb der Biologie spricht Jacques Monod von einer „meist aufsteigenden Richtung" der Evolution.3 Der Selektion ist zugeschrieben, „an den Produkten des Zufalls"4 zu arbeiten, da sie sich aus keiner anderen Quelle speisen kann.5 Die Lebewesen gelten auf Grund der Vererbung als äußerst konservativ. Der Weg der Evolution setzt an elementaren Ereignissen an, die zufällig und ohne jede Beziehung zu den Auswirkungen sind. Monod bezweifelt, daß sich in der Gesellschaft ein notwendiger Entwicklungsprozeß durchsetzen könne. Sieht er in der Evolution jedoch diese „meist aufsteigende Richtung", so bestreitet er gerade für die Gesellschaft, daß ein ähnlich strukturierter Prozeß ebenfalls eine meist aufsteigende Richtung zu nehmen vermöge. Aus der Existenz des bedingten Zufalls dringt für das Verständnis Mo1 G. Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, 7. Ausgabe, Paris 1960, S. 8, 14, 27 u. 113-114 (Der neue naturwissenschaftliche Geist). 2 Ebenda, S. 114. 3 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit, München 1971, S. 149 (S. 135 franz.). 4 Ebenda. 5 Ebenda. 11
Ley, Bewußtsein
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nods die Kälte des Weltalls in die Herzen und die Gesellschaft. Wir seien, so meint Monod, bloß Zigeuner am Rande des Weltalls. Sicherlich gibt es sehr wenige bewohnte Welten, mit denen unsere Nachfahren Kontakt werden aufnehmen können. Wenn solche Lebewesen anderer Planeten Kontakte mit unserer Erde aufnehmen sollten, verdienen sie genau dann die Bezeichnung „Mensch", wenn sie Produktionsinstrumente herstellen können. Im anderen Falle sind sie eine andere Art von Tieren. Die Philosophie von Hegel und von Marx geht erkenntnistheoretisch von der Einheit von Zufall und Notwendigkeit aus, wie sie sich bereits bei Demokrit findet. Aus dieser Einheit von Zufall und Notwendigkeit resultiert jene „meist" aufsteigende Richtung, von der Monod aber bloß in Hinblick auf die biologische Evolution spricht. Die gleiche Gesetzmäßigkeit äußert sich, wie ich es sehe, in der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx. Selbstverständlich handelt es sich dabei schon bei Marx und Engels um ein historisches Intervall in bezug auf die Geschichte des Kosmos. Engels meinte, wir seien noch weit von der Zeit eines Niedergangs der Menschheit entfernt, in der etwa das Leben des Menschen auf der Erde unmöglich werde. Da eventuell die Auswanderung auf einen anderen Planeten menschlicher Technik im Verlaufe einiger Jahrtausende möglich sein mag, würde sich dann die Existenz des Homo sapiens aus der Evolution unseres Sonnensystems entsprechend verlängern. Die Galaxis unserer Milchstraße geht aber auf jeden Fall gemäß dem Modell von Einstein und Friedmann mit unserem gesamten Kosmos zugrunde. Wenn also von aufsteigender Evolution in strengem Sinne gesprochen werden soll, handelt es sich um den gegenwärtig nachvollziehbaren Vorgang eines von Marx und Engels noch für lange Zeit auf unserer Erde als gültig und wirksam angesehenen Trends. Eine solche allgemein aufsteigende Entwicklungsrichtung erweist sich als dominierend im Vergleich zu den Widersprüchen der gesellschaftlichen Entwicklung und dem sich ableitenden Pessimismus mancher Ideologen. Hegel spricht von aufsteigender Entwicklung bloß bis zur Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Über die weitere Entwicklung macht Hegel eine ambivalente Aussage. Einmal verwirklicht sich der absolute Geist in der Geschichte. Zum anderen sieht er Widersprüche in jeder Ordnung entstehen. Ausdrücklich betont er, eine Gestalt der Gesellschaft sei alt geworden, und darüber hinaus vermöge die philosophische Voraussage nicht zu gehen. Er lehnt demnach jeden historisch-gedanklichen Transzensus ab. Soweit aber Hegel das System des absoluten Geistes entwirft, spricht er von einer endgültigen Verwirklichung jenes absoluten Geistes. Soweit er indes empirisch die menschliche Gesellschaft untersucht, ist jede ihrer Gestalten eine endgültige Verwirklichung, in der die vorhandenen Widersprüche über die realisierten Formen der Gesellschaft in Ökonomie und Bewußtsein hinausweisen. Marx beschäftigt sich mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus, ohne voraussagen zu wollen, wie sich die neuen Gestalten
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der Gesellschaft konkret verwirklichen. Es werden bloß einige Bedingungen notwendiger Umwandlung angegeben. Das Entstehen einer Richtung in der Geschichte wird von Hegel und Marx als notwendiger Prozeß aufgefaßt. In dem Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall dominiert das Durchsetzen von bestimmten Strukturen, die gedanklich als historische Gesetze zu bezeichnen sind. Wie äußert sich Hegel über das Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit? In Hegels „Logik" finden sich in dem III. Abschnitt, zweites Kapitel, die Sätze.„Diese absolute Unruhe des Werdens dieser beiden Bestimmungen (der Möglichkeit und der Wirklichkeit - H. L.) ist die Zufälligkeit."6 „Das Zufällige ist also notwendig, darum weil das Wirkliche als Mögliches bestimmt . . . ist."7 „Das Seiende selbst ist so nicht das Notwendige . . . So ist die Wirklichkeit in ihrem Unterschiedenen, der Möglichkeit, identisch mit sich selbst. Als diese Identität ist sie Notwendigkeit."8 Erkenntnistheoretisch entscheidend ist die Diskussion des Verhältnisses von Zufall und Notwendigkeit mittels der beiden anderen Kategorien von Wirklichkeit und Möglichkeit. Die Möglichkeit geht der realisierten Wirklichkeit voraus und ist in jeder neu gewordenen Wirklichkeit wieder in anderer Weise vorhanden. Vermag die Philosophie das Werden über Möglichkeit und Wirklichkeit zu denken, dann ist nicht zu vergessen, daß es sich um das Produkt von 2500 Jahren Geschichte der Philosophie und rund drei Jahrhunderten Wahrscheinlichkeitsrechnung handelt, das in dieser Weise generalisiert wird. Da Hegels Gegenstand die Gesetze des Denkens, des gesellschaftlichen Bewußtseins, der Gesellschaft und der Geschichte sind, so verwundert nicht, daß die Anwendung auf die Geschichte im Vordergrund sich befindet. In der Geschichte handelt es sich nicht unmittelbar um das Quantifizieren der gesellschaftlichen Vorgänge, sondern um ihre qualitative Darstellung. Da aber Hegel die Kategorie der Zufälligkeit für das Werden an dieser Stelle sogar der Notwendigkeit als überlegen darstellt, ergibt sich, daß es sich um eine geniale Generalisierung handelt, wie sich nachträglich feststellen läßt. Das Zufällige hat sich vor und nach Hegel als quantifizierbar erwiesen. Die allgemeine Behauptung der Dialektik Hegels, daß Quantität und Qualität ein einheitliches dialektisches Kategorienpaar darstellen, bewahrheitet sich auch in der gesellschaftlichen Praxis. Mit der Berücksichtigung des Zufälligen ist die Quantifizierung des Werdens vorgegeben, die für die notwendige Seite des Prozesses seit dem Entdecken der Mechanik als Wissenschaft außer Zweifel steht. Das Quantifizieren erweist sich als die technische Seite des Versuchs, Gesellschaft in ihrer weiteren Entwicklung zu leiten und zu lenken. Gesellschaftlich bestimmt aber bleibt die andere Frage, welche Voraussetzungen sich in der Gesellschaft erkennen lassen, um den prak6 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. II, a. a. O., S. 174. 7 Ebenda, S. 175. 8 Ebenda.
Ii»
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tischen Leitungsprozeß zu realisieren. Das 20. Jahrhundert ist darum bemüht, durch Planen das Werden zu kanalisieren. Wissenschaft wird auch in dieser Beziehung unmittelbare Produktivkraft. Hegels Analyse von Möglichkeit und Wirklichkeit gibt den allgemeinen Ausdruck für die Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklung. Das Mögliche erweist sich als Ausdruck und Bereich der Zufälligkeit wie der Notwendigkeit. Damit aber ist Zufall stets an Bedingungen gebunden. Es handelt sich um bedingten Zufall. Die Möglichkeit setzt an einer bestimmten Wirklichkeit an. Erst als identisch mit der Möglichkeit wird Notwendigkeit zur erweiterten und erneuerten Wirklichkeit. Die Bewegung der Möglichkeit, die sich selbst authebt9, erweist sich als Zusammengehen und Übergang. Die Geschichtsphilosophie Hegels ist ausschließlich auf das Werden gerichtet. In der Einleitung zur „Philosophie der Geschichte" hält sich Hegel an seine erkenntnistheoretischen Darlegungen. Er kommt dabei zu einem erstaunlichen Ergebnis. Als Wichtigstes im „Auffassen und Begreifen der Geschichte"10 gilt für Hegel, den „Gedanken des Übergangs" zu haben und zu erkennen. 11 Zwischen Individuum und Volk ist ein wichtiger Unterschied festgestellt. Das Individuum durchläuft während seiner physischen Existenz verschiedene Bildungsstufen nacheinander und bleibt dabei das gleiche Individuum. Für ein Volk gilt nach Hegel nicht dasselbe. Ein Volk verwirklicht eine bestimmte Entwicklungsstufe des Geistes, welche die erreichte Bildungsstufe seines Geistes bedeutet. Dann realisiert sich die nächste Bildungsstufe des Geistes in einem anderen Volke. Soviel auch über diese Behauptung Hegels nachgedacht und soviel auch dagegen eingewendet wurde, so reflektiert Hegel nichts anderes als den bisherigen Gang der Geschichte. Marx und Engels waren sich nicht darüber klar, wo und in welchem Volk der nächste Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft stattfinden werde. Sie kannten die niederländische, englische und französische Revolution. Ihre Vermutung ging dann auf Deutschland, um dort den nächsten Ort eines Übergangs zur bürgerlichen und etwa zur proletarischen Revolution zu finden. Nach dem Scheitern dieser Vermutung orientierten sie sich auf Teile des russischen Reiches. Sie begannen russisch zu lernen. Als notwendige Vorbedingung erschien ihnen eine Bauernrevolution, wodurch die bürgerliche Revolution verhindert werde, ihren eventuellen Sieg zu stabilisieren, so daß die neue Klasse die Möglichkeit gewinnen könnte, ihrerseits zu siegen und sich zu behaupten. Der Zustand der Partei der Arbeiterklasse galt als notwendige weitere Bedingung, um vorhandene und entstehende Möglichkeiten auszunutzen. Die Kategorie des Übergangs gilt Hegel als zentrale Kategorie der Geschichtsphilosophie. In der Kategorie des Übergangs äußert sich der Geist. Er ist stets 9 Ebenda, S. 178. 10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 119. 11 Ebenda.
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Same und Resultat des ganzen Lebens der sich entwickelnden Gesellschaft Das Werden des Geistes wird zu einer Folge geschichtlicher Gestalten der verschiedenen Völker. Die jeweils erreichten Leistungen Schliefjen sich aneinander. Wie die Verflechtungen zwischen den Völkern erfolgen und welche Ideen sie untereinander austauschen, aufnehmen und entwickeln, ist eine der Aufgaben, die sich schon lange gerade die französischen Komparatisten stellen, indem sie Kulturen verschiedener Völker vergleichen. Daraus aber folgerte Hegel: „Die Ohnmacht des Lebens zeigt aber sich darin, daß das, was anlängt und was Resultat ist, auseinanderiällt."12 Die Frucht wird jedem Volke, so versichert Hegel, ein bitterer Trank. Hegel spricht von dem unendlichen Durst jedes Volkes. Wenn es von dem Tranke aber genießt, den es selbst mit zubereitet hat, gehe es daran zugrunde. In den Völkern verwirkliche sich bloß eine Stufe des Weltgeistes. Die Geschichte in ihrer Totalität ergebe erst diese seine Gesamtheit. Geschichte in ihrer Totalität fällt demnach für jedes einzelne Volk auseinander. Ein einzelnes Volk verwirklicht also nur einen Teil der Geschichte, wobei es unbestimmt bleibt, wem es seine eigenen Resultate weitergibt und welche in einer der folgenden Epochen keinen Einfluß auf den Fortgang der Weltgeschichte gewinnen. Dialektisch ist für Hegel schon das Auseinanderfallen von Anfang und Resultat. Gegen Hegel zieht der Einwurf nicht, die Dialektik bleibe im Unbestimmten. Im Gegenteil. Er betont, daß die Dialektik der Geschichte gerade in dieser Unbestimmtheit bestehe. Deshalb aber sucht er zu veranlassen, die Geschichte von einem übergeordneten Gesichtspunkt zu betrachten, da bloß dann zu verfolgen sei, wo etwas Neues anfange und wie die Resultate weiterwirken. Da aber die moderne Geschichte mit dem Entstehen von Nationen und einem entsprechenden Entstehen von Nationalgefühl verbunden ist, fällt es den Nationen schwer, sich selbst bloß als ein Moment der Weltgeschichte zu sehen. Junge Nationen vergessen oft, daß sie früher einmal bereits in die Geschichte eingriffen, und verdrängen im Sinne von Freud ihre eigene Geschichte, die gerade jene Ablösung der einzelnen Völker bekräftigt. Da aber gegenwärtige Geschichte nicht von der Erinnerung lebt, sondern von jener Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit, ist das Ausschöpfen der in dem Dasein von Kontinenten und Völkern gegebenen Möglichkeiten die konkrete Aufgabe. So viel aus den historischen Möglichkeiten auszuschöpfen, wie sich durch die Aktivität des Volkes und seiner Klassen und Schichten als möglich erweist, bietet sich an. Darüber aber trifft Hegel keine Aussage. Was er als Ohnmacht des Lebens bezeichnet, hat einen doppelten Sinn. Es kann damit die gleiche Resignation gemeint sein, die die Theoretiker der Entfremdung aussprechen und Monod thematisiert, zum anderen aber vermögen sich die vorhandenen Klassen darauf zu konzentrieren, ihre Möglichkeiten zu realisieren, die sich nachträglich in der Geschichte feststellen lassen. 12 Ebenda.
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Sieht man in Hegels Philosophie der Geschichte nach, welche Völker er der Behandlung für wert hielt, so haben zahlreiche inzwischen in die Geschichte eingetretenen Nationen Grund, sich zu beschweren. Die Staaten der Heiligen Allianz von 1815 sind ihm zuwider, soweit sie in sich nicht Keime erkennen lassen, die auf eine nächste Stufe der Geschichte verweisen. Unter Freiheit versteht Hegel konstitutionelle Monarchie ohne wechselseitige Adressen der Ergebenheit 13 , die er den 1500 Jahren bis 1830 zuschreibt. Den beiden Amerikas billigte Hegel Zukunft zu, die bisher indes noch nicht abzusehen sei, da das bisherige geschichtliche Geschehen nur ein Widerhall der europäischen Ereignisse darstelle und noch nicht zu eigener Entwicklung angesetzt hätte. Insofern sieht Hegel im Leben des gegenwärtigen Geistes einen Kreislauf von Stufen, die noch nebeneinander bestehen, wenn sie bereits vergangen erscheinen. Mit dieser Idee der weiteren Existenz jedes der Momente vergangener Epochen hat Hegel einen wichtigen Gedanken ausgesprochen, der in der geschichtlichen Analyse sich bemerkbar machen kann. Da Geschichtsschreibung Analyse und Interpretation der vorfindbaren Strukturen bedeutet, lassen sich aus ein und demselben historischen Material wie aus der Gegenwart Inhalte erschließen, die nicht nur aus der Gegenwart in die Vergangenheit des einen Volkes oder Kontinentes zurückführen, sondern auch in der Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart das für die Zukunft Interessante aufdecken. Sucht eine historische Untersuchung den Bezug zur Gegenwart auszuschalten, dann verdeckt sie in der Vergangenheit einen Teil gerade der historisch verwirklichten Momente, während sie andererseits aufdeckt, was in der Geschichte als Möglichkeit vorhanden war, sich aber nach unserer Kenntnis nicht durchsetzte. Da Hegel aber die Gegenwärtigkeit des Vergangenen behauptet, müßte dementsprechend auch eine Verbindung von dem anscheinend nicht in die weitere Geschichte Eingegangenen zu den gegenwärtigen Ereignissen herstellbar sein. Für bloße Chronologie hat Hegel keinen Sinn, dafür aber für eine Ausweitung der Geschichtsschreibung auf alle anscheinend wesentlichen Momente, die synchronisch und diachronisch nachweisbar sind. Hegeische Geschichtsphilosophie verabscheut die Eingleisigkeit, obwohl Hegel selbst sich nur mit der Geschichte der direkt auf die gegenwärtige Epoche hinweisenden Ereignisse befaßt. Da aber Hegel in der „Philosophie des Rechts" bereits die Skizze einer ökonomischen Entwicklung versucht, hat er damit die Breite erfaßt, die von den Substrukturen bis zum Überbau reicht, die Ökonomie ebenso einbezieht wie Dichtkunst, bildende Kunst, Wissenschaft und Philosophie. 1 '' Zufall und Möglichkeit sind für Hegel damit identisch. Jede Äußerung zu einer der vielen Disziplinen in Basis und Überbau läßt die Wirklichkeit an ihren Möglichkeiten ausmessen. Als das Vernünftige bezeichnet Hegel dasjenige, was Maß und Ziel in sich hat. In der Geschichte konkurrieren Maß und Ziel, um die subjektive Vorstellung 13 Ebenda, S. 567, 568. 14 Ebenda, S. 114.
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von der Objektivität des historischen Prozesses korrigieren zu lassen. Jede der historisch verwirklichten Gestalten referiert schließlich dem Historiker den Umfang dessen, was in der menschlichen Geschichte sich als möglich erweist, obwohl jeder einzelne Akt der Geschichte einmalig auftritt, nie wieder in der gleichen Konstellation anzutreffen sein wird. Da aber Hegel von der Zufälligkeit und den Möglichkeiten zur Wirklichkeit und dem Werden gelangt, besteht für ihn nicht das Insistieren auf der Einmaligkeit des historischen Ereignisses. Die Zufälligkeit ist im Werden aufgehoben, ohne dem zufälligen Ereignis etwas von seiner Einmaligkeit zu nehmen. Da Hegel neben den Völkern, in denen sich die Stufen der Vernunft und der Entwicklung der Freiheit zeigen, die anderen mit schon gewesenen Stufen des Geistes weiter existieren läßt, wie es der Geschichte entspricht, zeigt sich stets ein Doppeltes. Die neuesten Gestalten der Geschichte lassen stets mehr oder minder den Vergleich mit älteren Gestalten der Geschichte zu, von denen sich einige zumindest erhalten haben und von der Gegenwart aus zu entschlüsseln sind. Die unentwickelten Völker suchen häufig an den weiter entwickelten Gestalten der Vernunft die Schuld, daß es ihnen nicht gelingt, an deren Stelle ihren irgendwann einmal nachweisbaren Zug der Eroberung und der Assimilation anderer Völker fortzusetzen, worüber Hegel in der Geschichte der Antike und des Mittelalters einiges Material beizubringen sucht. Freiheit bedeutet im Verständnis Hegels dementsprechend, historische Möglichkeiten ausnutzen zu können. Da in der Möglichkeit das Zufällige enthalten ist, versteht Hegel unter Freiheit das Wählen der Völker unter den verschiedenen Möglichkeiten, bei dem sie ihre Geschichte vertun oder zur Negation früherer Zustände zu verwenden vermögen. Das Bild von der Ohnmacht des Lebens sieht Hegel bestätigt durch die orientalische Idee des Phönix. Er gilt als Repräsentation des Naturlebens, das ewig sich selbst seinen Scheiterhaufen bereitet, sich ewig verzehrt und sich verjüngt aus der Asche neu zu anderen Gestalten erhebt. Interesse ist nur da, wo Gegensatz ist 15 , heißt einer der Sätze, in denen Hegel die Triebkraft der Geschichte zu beschreiben sucht. Mit den Kategorien von Möglichkeit und Wirklichkeit, Zufall und Notwendigkeit gelangt Hegel aber zu einem Sinn der Geschichte, der sich in die Strukturen entäußert hat und sich auf jeder der Ebenen von Struktur und Superstruktur zum Enträtseln anbietet. Die Diffamierung der Historie als Ideologie entspricht dem Hochmut irgendeiner gegenwärtigen Position, die nicht zugestehen will, daß sich in den verschiedenen Schichten des Bewußtseins objektive Bedingungen und konkrete Möglichkeiten äußern, deren Zusammenhang aufzudecken von der Geschichtsphilosophie und der Geschichtsschreibung erwartet wird, die zumindest sich bewußt sind, daß es eine Totalität der Geschichte gibt, die sich aufdecken läßt. Hegel verzichtet darauf, aus den vorhandenen Möglichkeiten die Zukunft vorhersagen zu wollen. Der geistigen Form, die sich in der Geschichte realisiert, 15 Ebenda, S. 112. 167
sagt Hegel aber höhere Lebendigkeit zu, als die natürliche Form besitze16, und hat damit nicht den Vorwurf zur Hand, es handele sich bloß um Bewußtsein. Da Maß und Ziel als Auszeichnung des bewußten Seins gilt, bestimmt Hegel daran den Inhalt des Denkens, das sich im Werden bewährt Karl Marx nimmt die Bestimmung der Freiheit durch Hegel aus dessen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" in die „Grundrisse" auf, indem er sich mit Adam Smith auseinandersetzt. Bestätigung der Freiheit gilt für Marx in dieser Skizze17 als das Überwinden von Hindernissen. Zugleich spricht er über das Setzen von Zwecken, die den Schein bloßer äußerer Naturnotwendigkeit abstreifen. Setzt das Individuum Zwecke, so erörtert Marx, bestätige sich das Subjekt, indem es sich selbst verwirkliche und vergegenständliche. In dem Werk von 1857/58 entwickelt Marx diese Objektivation durch die Arbeit. Er spricht von der Betätigung der realen Freiheit in der Arbeit. Diese Betätigung der realen Freiheit ist ausdrücklich der religiösen Auffassung der Arbeit entgegengesetzt. Sie gilt nicht als Fluch. Marx polemisiert gegen „Jehovas Fluch, den er Adam mitgab"18 und betont die andere Seite der Arbeit, die zugleich zu verwirklichen als historisches Ziel bezeichnet ist. Die reale Freiheit, deren Aktion die Arbeit sei, gilt Marx als das Aufheben der verschiedenen historischen Formen, in denen Arbeit bisher aufgetreten ist. Er hält aber für richtig, Adam Smith zu entgegnen, daß jede dieser historischen Formen der Arbeit eine der gleichzeitigen Formen der realen Verwirklichung der Freiheit sei, die als Eigenschaft des Menschen erscheint, und zwar auch in seiner enthumanisierten Gestalt. Arbeit solle nicht äußere Zwangsarbeit sein, sondern umgekehrt travail attractif, eine Bezeichnung, die Marx auf französisch bringt. Travail attractif entspricht für Marx der „Selbstverwirklichung des Individuums". Arbeit sei damit keineswegs bloßes amusement, wie es Fourier grisettenmäßig naiv aufgefaßt habe.19 Die Arbeit der materiellen Produktion erhalte diesen Charakter erstens durch das Vorhandensein ihres gesellschaftlichen Charakters, zweitens durch ihren wissenschaftlichen Charakter, durch den die Arbeit allgemeine werde, nicht bloß Anstrengung des Menschen als dressierte Naturkraft, sondern als Subjekt, als alle Naturkräfte regelnde Naturkraft.20 Wie sich die Arbeit auch in der konkreten Entwicklung ausbildet, so ergibt sich die Betonung der wissenschaftlichen Arbeit dem reifen Marx, der im Begriff ist, das „Kapital" zu schreiben. Da Marx nicht von Klasse spricht, sondern von Individuum, setzt er das Individuum als Kollektivsubjekt und zugleich als einzelnen. Marx zählt zu der reale Freiheit bedeutenden Arbeit ausdrücklich auch das Komponieren. Wissenschaft 16 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften . . ., a. a. O. § 248, S. 201. 17 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie a. a. O., S. 505. 18 Ebenda. 19 Ebenda. 20 Ebenda.
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und Kunst durchdringen sich als freie Betätigung des Menschen in einer von der Ausbeutung befreiten und hochentwickelten Gesellschaft. Es handelt sich bei Marx um die Angabe eines Nahziels. In Fortführung der Idee Hegels und der konkreten Anwendung auf den Produktionsprozeß erweist sich ein anderer Doppelcharakter der Arbeit als die wissenschaftliche Tätigkeit wie selbstverständlich aufgefaßt ist, zugleich als Produkt von Arbeitsteilung und Freizeit. In ihr ermöglicht sich, die Betätigung zu wählen, die zusätzlich Selbstverwirklichung mit sich bringt. Die erste Art der Betätigung von realer Freiheit bezieht sich auf den gesellschaftlichen Produktionsprozeß in seiner Gesamtheit, die andere auf die gleiche Gesellschaft, in der sich das Bedürfnis mit den Individuen reproduziert und neue Bedürfnisse schafft und deren Befriedigung gestattet. Das Ziel der gesellschaftlichen Klassenkämpfe mündet bei Marx in die Realisierung der Entwicklung des Individuums, das damit zugleich die ökonomische Basis und den Überbau zum Gegenstand seiner Freiheit gemacht hat. Beide Freiheiten sind aber für Marx identisch. Sie sind gerade als Gegensatz zur antagonistischen Klassengesellschaft aufgefaßt. Das Individuum ist ebenfalls als Totalität verstanden. Die Ökonomie gilt als selbstverständlicher Bestandteil einer Gesellschaft, durch die das Individuum zugleich seine Bedürfnisse überhaupt subjektiv erzeugt und objektiv befriedigt. Wird gelegentlich versucht, Vereinfachung der Arbeit in genereller Hinsicht als Entmenschlichung zu bezeichnen, so sei noch einmal auf die Polemik gegen Adam Smith verwiesen. Marx betont, daß die Arbeit allein produziert und Werte erzeugt. Die Arbeit sei die einzige Substanz der Produkte als Werte. Der qualitative Unterschied der Teilung der Arbeit gilt als historisches Produkt. Sie bedeutet Differenzierung. Für die große Masse der Arbeit, so schreibt Marx, wird sie wieder aufgehoben. 21 Die qualitativ höhere Arbeit erhält ihr Maß an der einfachen. Als allgemeines Äquivalent dient in dieser Beziehung das Geld. Ein direktes Messen durch die Arbeitszeit und die Reduktion des Maßes der Arbeit auf einfache Arbeit ist bisher noch nicht möglich, müßte außerdem den Ausgleich auf gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit reflektieren, in der sich erst die individuelle Arbeit als gesellschaftliche Arbeit bewährt und positive schaffende Tätigkeit ist.22 Ersichtlich bezieht sich Marx auf eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe, in der sich Freiheit des Individuums und der Gesellschaft decken. Sie setzt demnach hohe Entwicklung der Produktivkräfte und hohe Entwicklung des Individuums gleich. Differenzierte Arbeit wird aufgehoben durch Entdifferenzierung in der unmittelbaren Produktionstätigkeit und das Vordringen der wissenschaftlichen Arbeit, die als entscheidende Produktivkraft verstanden ist. Dabei spricht Marx nicht über die Kampfpotenz der Betriebsarbeiter, der Ingenieure oder der Inder oder Afrikaner, sondern von der Entwicklung der materiellen Basis der Gesellschaft, die ihren gesellschaftlichen Charakter gewonnen hat und damit 21 Ebenda, S. 506. 22 Ebenda, S. 507.
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Arbeit zur Betätigung der Freiheit ebenso gemacht hat wie die Freizeit, die damit ineinander übergehen und sich ergänzen. Neuere physiologische Bestimmungen der Funktion von Freizeit und des Wechsels der Arbeit, sei sie spezielle oder allgemeine Arbeit, erörtern auch die psychische Hygiene, die sich im modernen Lebensprozeß als notwendig aufdrängt. Ersichtlich schlieft sich Marx der Analyse in der „Rechtsphilosophie" an. Er berücksichtigt, daß die Arbeitsteilung ihre das Individuum an eine Arbeitstätigkeit ein Leben lang fesselnde Organisationsform durch das Aufheben der Differenzierung der konkreten Arbeit befreit, dafür aber die Freiheit außerdem in die Differenzierung der geistigen Arbeit verlegt, was sich auch im unmittelbaren Produktionsprozeß abzeichnet. Freiheit und Regelung der Produktion, Planen und kreative Arbeit sind für Marx dialektische Gegensätze, die sich gegenseitig bedingen. Sie wirken nach seiner Vorstellung positiv auf die Selbstverwirklichung des Individuums. Marx betont, daß die Individuen sich ihre gesellschaftlichen Bedingungen nicht unterordnen können, bevor sie diese geschaffen haben. Außerdem lohne es sich nicht, nach früherer ursprünglicher Fülle des Individuums sich zurückzusehnen. Marx bezeichnet diese ursprüngliche Fülle als „volle Entleerung". 23 Bei Marx ist die Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung aus den als notwendig begründeten Strukturen der Beziehung von Individuum, Arbeit und Produktion abgeleitet. Das zufällige Moment kommt bei Marx aus dem Gang der konkreten Produktion, der Entfaltung der speziellen und allgemeinen Arbeit. Wissenschaftliche produktive Arbeit läßt sich bei aller Planung und Organisation bekanntlich als stochastischer Prozeß mit Poisson-Verteilung darstellen und abbilden. Sie ist genau so harte und ernste Arbeit wie Komponieren, das Marx gegen Fourier generell für die wissenschaftliche Arbeit ins Feld führt. Das Ergebnis ist nicht identisch mit der in der speziellen und allgemeinen Arbeit unmittelbar verwirklichten Erfüllung von Zwecken im konkreten oder wissenschaftlichen Produkt. Vielmehr ergibt sich, daß die Erreichung des unmittelbaren Zwecks unterschieden ist von den auf die Gesellschaft ausgeübten Einflüssen. Das Verständnis des gesellschaftlichen Prozesses, das Verständnis der Entwicklung ist arbeitsteilig ebenso unterschieden von der Arbeit, die eine „alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit" 24 wird. In der Analyse der allgemeinsten gesellschaftlichen Strukturen wird gerade auf die Differenzierung auf höherer Ebene hingewiesen. Sie ist indes eine Darstellung des Übergangs im Werden, wie sich dieser Vorgang dialektisch ausdrükken läßt. Zugleich liegt aber dabei eine Analogie zu der Formulierung der BasisÜberbau-Theorie vor. Sie ist bloß die vereinfachte Wiedergabe des Gesamtprozesses, der ebenfalls abgekürzt in der ökonomischen Analyse der „Grundrisse" enthalten ist. Wie im Verhältnis von Basis und Überbau, so stehen in der ökonomischen Analyse die Notwendigkeiten der Basis in Beziehung zu allen Erscheinungen des Überbaus, in denen sich die Menschen nicht nur ihrer Konflikte be23 Ebenda, S. 79/80. 24 Ebenda, S. 505.
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wüßt werden, sondern sich natürlich auch ihre Ziele setzen und über das dialektische Moment der gegebenen Möglichkeiten reflektieren. Aus der ökonomischen Analyse der Entwicklungsstrukturen kommt Marx auf die Bedeutung der Statistik zu sprechen. Er nennt das: „Möglichkeit allgemeiner Statistik". 25 Sie gehört zu den Ergebnissen eines Wachstums der allgemeinen Kommunikation in der Gesellschaft. Aus der wechselseitigen Information, die von den technischen Mitteln und ihrer wissenschaftlichen Aufbereitung in Statistiken abhängt, soweit sie inhaltlich aufgefaßt ist, bezieht sich Marx auf das Erfassen des Inhalts, der überhaupt gesellschaftliches Planen möglich macht. Zum gesellschaftlichen Charakter der Produktion, der aus der Arbeitsteilung herauswächst, gehört die Abbildung der Zusammenhänge im Bewußtsein, durch die für Marx erst die Zufälligkeit des einzelnen in gesellschaftliche Verfügbarkeit aufgehoben wird. Alle Zufälligkeiten der Entwicklung wissenschaftlicher Arbeit und damit der Schaffung neuer Bedürfnisse sind in diesen komplexen Prozeß einbezogen. Vorgegeben ist in der historisch gemeinten ökonomischen Analyse von Marx nicht irgendeine bestimmte Weise der Entwicklung der Bedürfnisse oder eine Begrenzung der Entwicklung der Produktivkräfte etwa auf eine Ausschaltung der allgemeinen Arbeit, sondern umgekehrt. Der Ausgleich von körperlicher Arbeit und geistiger Arbeit vollzieht sich in der großen Linie der Prognose von Marx auf der Ebene der geistigen oder allgemeinen wissenschaftlichen Arbeit. Das Zufällige geht in die Notwendigkeit über, bleibt aber als von der allgemeinen Entwicklung spezifisch bestimmter Zufall selbst eine Produktivkraft, die Bedürfniswachstum und Freiheit miteinander verbindet. In seinem „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" hat Marx dieses Moment polemisch als Gegensatz zu den Eigenschaften der Arbeit des Parzellenbauern behandelt. Es heißt dort auf sie bezogen: „Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse. "26 Anwendung der Wissenschaft unter Bedingungen gesellschaftlichen Eigentums erzeugt nach Marx größere Mannigfaltigkeit der Entwicklung und der Talente. Es ist der Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse, den Marx auf Grund der Erzeugung größerer Mannigfaltigkeit, Talente und Wissenschaft hervorgehen sieht. An gleicher Stelle gibt Marx eine Definition der Klasse. Gleiche ökonomische Existenzbedingungen, Interessen und Bildung, die von denen der anderen Bevölkerung wesentlich unterschieden sind, lassen eine Klasse entstehen. 27 Dabei betont Marx, daß es sich um ökonomische Existenzbedingungen handele, die veranlassen, daß sie Individuen anderer ökonomischer Existenzbedingungen feindlich gegenüberstehen. 25 Ebenda, S. 79. 26 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonarparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1969, S. 198. 27 Ebenda.
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Die Arbeiterklasse ist auf diese Weise von der Bourgeoisie getrennt, aber in der Ordnung der Produktionsverhältnisse aufeinander bezogen. Die Analyse der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung bezieht aber im Interesse der Nichtbesitzer von Produktionsmitteln die Entwicklung der Wissenschaft als entscheidendes Moment in die Entwicklung der Gesellschaft ein, so daß diese Eigenschaft, keine Produktionsinstrumente zu besitzen, das übergeordnete Moment ist. Der prognostische Charakter der Theorie von Marx gründet sich auf das Benutzen ökonomischer Strukturen, um das Profil des Individuums herauszuarbeiten. Tatsächlich ist die Ökonomie nicht um der Ökonomie willen herausgestellt, sondern als die Grundlage, die die Entwicklung von Klasse, Individuum und Produktionsverhältnis bestimmt. Mit der Entwicklung der Individuen wird aber zugleich der gesellschaftliche Wille charakterisiert, der sich in der gesellschaftlichen Entwicklung schließlich durchsetzt. Klasse und Individuum sind bei Marx kein sich ausschließender Gegensatz, erscheinen so bloß dem mechanistischen, undialektischen Denken. Humanismus im Verständnis von Marx ergibt sich aus der Analyse der Texte, die die gesellschaftliche Entwicklung an der letztlichen Wirkung auf das Individuum darstellen. Die gesellschaftlichen Strukturen beziehen sich auf die Gesamtheit der Individuen und Klassen, die sich aus Individuen eben gleicher ökonomischer Existenzbedingungen zusammensetzen. Unter Gleichheit aber versteht Marx nicht die Auslöschung der individuellen Verschiedenheit. Er bemängelt diese Gleichheit gerade bei jenen Parzellenbauern, die er damit der Mannigfaltigkeit verlustig gehen sieht, die aus dem Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse entsteht. Nichts ist deshalb selbstverständlicher, wenn Marx die unbedingte Anwendung von Wissenschaft in der Produktion unterstreicht. Sie erzeugt jenen Reichtum der Person in der Gestalt der individuellen Mannigfaltigkeit, bei der der physische Reichtum der Gesellschaft als Ursache und Folge der gleichen Mannigfaltigkeit der Talente vorgestellt ist. Welche Bedeutung indes die allgemeine ökonomische Analyse für die Prognose der gesellschaftlichen Entwicklung für Marx hat, geht aus einer anderen Bemerkung im „Achtzehnten Brumaire" hervor: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, aui den sozialen Existenzbedingungen, erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bildenZ28 Den Ausgangspunkt des Handelns aber sieht Marx in den materiellen Existenzbedingungen, die ihrerseits wieder zum Gegenstand gesellschaftlicher Existenz28 Ebenda, S. 139.
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weise werden, wenn sie auf Grund geänderter Formen des Eigentums die Denkweisen und Lebensanschauungen bewußt bestimmen und keine verzerrte Abbildung im individuellen und gesellschaftlichen Bewußtsein erfahren. Insofern bezeichnet Marx, in einem Brief an den Arzt Dr. Ludwig Kugelmann vom 17. März 1868, „die große Industrie nicht nur als Mutter des Antagonismus, sondern auch als Erzeugerin der materiellen und geistigen Bedingungen zur Lösung dieser Antagonismen.. .".29 Soweit Antagonismen in der großen Industrie entstehen, erscheint es als gesellschaftliche Aufgabe, sie in dialektischer Weise aufzudecken. Im dialektischen Verständnis heißt es nicht, die Industrie zu beseitigen oder ihre theoretischen und empirischen Grundlagen zum Verschwinden zu bringen. Entstehende Ambivalenzen sind dazu da, gesellschaftlich aufgehoben zu werden. Welche Bedürfnisse in der Entwicklung der großen Industrie einschließlich der Produktion und Ausnutzung von Information entstehen, ist keine Frage der Deklaration, sondern jenes Prozesses, in dem sich jene realen Möglichkeiten und jene reale Freiheit entwikkeln, von denen Marx gesprochen hat. Das Vereinigen von Mannigfaltigkeit und Naturkräfte regelnder und planender Tätigkeit verwirklicht sich für Marx in dem Anwenden aller dazu benötigter Fähigkeiten. Die Scheu vor den Wissenschaften, der Technik und der großen Industrie einschließlich der Industrie von sich rentierender Datenverarbeitung und Datengewinnung ist Entfremdung, die den gesellschaftlichen Prozeß ganz außerhalb des Bewußtseins läßt. Erinnert sei an zwei moderne Prozesse jener auf Mannigfaltigkeit angelegten wissenschaftlichen Tätigkeit, die gegenwärtig in einigem noch als spektakulär zu gelten haben. Das eine ist der Hinweis auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung für das Bestimmen der Investsummen für erweiterte Produktion in der „Kritik des Gothaer Programms". Das andere ist der Brief von Marx an Engels vom 31. Mai 1873. Dort heißt es: „Ich habe hier Moore eine Geschichte mitgeteilt, mit der ich mich privatim lange herumgebalgt. Er glaubt aber, daß die Sache unlösbar ist, oder wenigstens, wegen der vielen und großenteils erst auszufindenden Faktoren, die darin eingehen, gegenwärtig unlösbar ist. Die Sache ist die: Du kennst die Tabellen, worin Preise, Discountrate etc., etc. in ihrer Bewegung während des Jahres etc. in auiund absteigenden Zickzacks dargestellt sind. Ich habe verschiedenemal versucht zur Analyse der Krisen - diese ups and downs als unregelmäßige Kurven zu berechnen und geglaubt, ... daraus die Hauptgesetze der Krisen mathematisch zu bestimmen."30 Annähernd achtzig Jahre bedurfte es, um das von Marx gestellte Problem mathematisch handhabbar zu machen. Selbstverständlich gilt die mathematische Behandlung ebenso für Gesellschaften, in denen auf Grund der geänderten Be29 Marx an Kugelmann, 17. März 1868, in: MEW, Bd. 32, Berlin 1965, S. 541. 30 Marx an Engels, 31. März 1873, in: MEW, Bd. 33, Berlin 1966, S. 82.
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dingungen spezifische Erscheinungen der zyklischen Krise nicht in Erscheinung treten, dafür aber andere Schwingungen sich in der Verwirklichung der Planaufgaben herausbilden, die ebenfalls mathematischer Kontrolle bedürfen, um das gesellschaftliche Handeln darauf abzustimmen. Inzwischen ist hinreichend bekannt, wie das Quantifizieren auf Gesetze hinleitet, die den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgen, auf jeden Fall aber zu behandeln sind, nachdem die Theorie der Festkörper und der Elektronik so weit entwickelt wurde, um Datenmengen verarbeitbar zu machen. Soweit die Vermutung sich äußert, es handele sich um eine Beseitigung der individuellen Mannigfaltigkeit, so räumte Marx die Vorstellung prinzipiell aus. Die Kurven der ökonomischen Analyse aber gelten zugleich als Mittel der Untersuchung der Faktoren, die es ihrerseits gilt, in ihrem Ablauf auch mikroökonomisch zu analysieren, um sie besser in den Griff zu bekommen. In den Debatten über das Wesen von „Geschichte", die Althusser als Historizismus und Ideologie im Verständnis von falschem Bewußtsein interpretiert 31 , äußern sich Momente des Versuchs gegenwärtiger Problembewältigung im politischen Kampf. Es sind das die drei Gebiete des Klassenkampfes im Verständnis von Lenin und damit auch des auf Ökonomie, Politik und Verteidigen des herrschenden Bewußtseins gehenden Anliegens spätbürgerlicher Ideologie. Von ersterem Standpunkt aus ist zuzubilligen, daß es sich um die Suche nach Selbstverständigung handeln kann, aber nicht muß, zum anderen aber regiert ein gegen die Arbeiterklasse und die Entwicklung der Theorie von Marx gerichtetes reaktionäres Klasseninteresse. Marx befaßte sich mit Ökonomie, nachdem er bereits zur Arbeiterklasse gefunden hatte und sich am Klassenkampf in den verschiedenen Formen beteiligte, um eine exakte Begründung für ein selbständiges Bewußtsein des Proletariats zu geben, das mit dem Gang der Geschichte verbunden ist, sich aber unverwechselbar in der Zielstellung von der Vergangenheit unterscheidet. Indem die Theorie von Marx Zukunft antizipiert, entwirft sie künftige Geschichte aus den gegenwärtigen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die auf eine deutlich unterschiedene neue Stufe gesellschaftlicher Entwicklung hinauslaufen. Die Polemik gegen den Begriff der Geschichte wendet sich unausgesprochen gegen das dialektische Verständnis von Entwicklung. Geschichte erscheint dann begrifflich als „theoretisch hohl" und Produkt von Fehlleistungen, Träumen und Wunscherfüllung. Das Benutzen des Ausdrucks „Geschichte" erforderte demnach, wie Althusser unumwunden erklärt, Sigmund Freud oder die Theorie des psychoanalytischen Laboratoriums. Nun ver31 L. Althusser, Das Kapital lesen (1968), Reinbek bei Hamburg 1972, S. 192: „Wir haben nur gesehen, was mit einem anderen Wort, dem Wort .Geschichte' passieren kann, wenn es in dem kritischen Diskurs auftritt, den Marx an seine Vorgänger richtet. Dieses so gehaltvoll erscheinende Wort ist in Wirklichkeit - in der Unmittelbarkeit seiner Evidenz - theoretisch hohl, oder besser: es ist von ideologischer Fülle." Dazu Anmerkung 3 3 : „Man kann diesen symptomatischen Fall in Parallele setzten zu «Fehlleistungen' und .Träumen' - für Freud ,Wunscherfüllung'."
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sichert Marx im „Vorwort" zur ersten Auflage des „Kapitals" ausdrücklich, seine Analyse richte sich nicht gegen Personen als solche, sondern bloß, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. 32 Unter der Voraussetzung der Theorie von Basis und Überbau vermag eine psychoanalytische Untersuchung von Personen nur eventuell einige ihrer Verhaltensweisen zu begründen und zu verändern, nicht aber die Beziehung von Begriffen zu materiellen sozialökonomischen Strukturen aufzudecken. Soweit sich Marx auf Geschichte bezieht, unterscheidet er das empirisch zu untersuchende Material und die theoretische Darstellung, deren beider Vorgehen ausdrücklich als entgegengesetzt, aber zusammengehörig bezeichnet sind. Auf die materiellen Strukturen orientiert sich sowohl die empirische Forschung wie die aus ihr abgeleitete Theorie. Insofern stehen sie sich keinesfalls kontradiktorisch gegenüber. Untersuchte Marx die Darstellbarkeit von kapitalistischer Ökonomie in mathematischen Formalismen, dann bezog er sich einmal auf die empirisch konstatierbaren Ereignisse des Verlaufs kapitalistischer Wirtschaft, zum anderen auf eventuelle Anwendbarkeit des gleichen Instrumentariums auf die unter kommunistischer Planung verlaufenden Prozesse. In beiden Fällen handelt es sich um Voraussagbarkeit, die seitens einer auf die Arbeiterklasse orientierten Theorie auch für die Phänomene des Kapitalismus ausgesprochen ist. So allgemein die Theorie die kapitalistische Warenwirtschaft darstellt, ist sie, für den Materialisten selbstverständlich, auf die materiellen Erscheinungen und das Wesen ihrer Strukturen ausgedehnt, wenn sie auch mit gleicher Selbstverständlichkeit stets Begriffliches, das heißt Allgemeines, behandelt, und zwar auch dann, wenn sie gleichsam exemplarisch am unmittelbaren historischen Substrat demonstriert. In doppeltem Sinne schuf Marx eine auf Gesellschaft bezügliche Theorie. Sie ist auf Praktikabilität bezogen. Sie muß anwendbar sein: für den Klassenkampf der Arbeiterklasse und alle daraus erwachsenden Folgerungen. Ideologische Auseinandersetzungen und das Selbstverständnis des Proletariats erfordern geschichtliches Verständnis ebenso wie Darstellung des historischen Prozesses. Die Anwendung erstreckt sich natürlich auch auf den ökonomischen Klassenkampf, in dem die sozialistischen Staaten die Überlegenheit der neuen Ordnung zu belegen unternehmen. Planerfüllung erscheint als mikrodimensionierte Seite der Geschichte, aber als eines der wichtigsten Gebiete nach der Institutionalisierung der Diktatur des Proletariats. Mit Althussers Geschichtsbegriff läßt sich nicht ohne weiteres diskutieren, da er, soweit von dem Begriff „Geschichte" die Rede ist, für mich kaum verständlich scheint. Soweit indes im Sinne des philosophierenden Strukturalismus auf die von ihm behauptete Diskrepanz zwischen Struktur und Einzelereignis verwiesen ist, wird der Gegenstand der Debatte klarer. Mit Rückgriff auf die Bezeichnungen Synchronie und Diachronie zeigt sich 32 K. Marx, Das Kapital, Vorwort zur ersten Auflage, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 16.
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der Kern der Sache. Da der philosophierende Strukturalismus das idealistische Erbe des Neukantianismus wieder aktivierte, erfolgt eine spezielle Deutung, die Rickert wiederbelebt und an den Jenenser Philosophen Bruno Bauch erinnert, der immerhin selbst Bismarcks Dogge als historische Persönlichkeit bezeichnete. Von Rickert kommt das Betonen des Unterschiedes von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Hat die erstere Gesetze, so die andere nur unverwechselbare Einzelereignisse zum Gegenstand. Althusser übernahm in der Phase seiner „Kapital "-Lektüre von Michel Foucault den mit Verve vertretenen angeblich progressiven Antihumanismus und Antihistorizismus.33 Das »Ereignishafte" hält Althusser für ein Merkmal der Diachronie, in der die Zeit auftaucht und wieder verschwindet.34 Ist von Klassen und der Aktivität von Massen zu handeln, dann meint Althusser wie Foucault, den Menschen verschwinden zu sehen, obwohl die Klassen aus Individuen bestehen, die der Spezies Homo sapiens zugehören. Steht Geschichte zur Diskussion, gestattet es die grammatikalische Intransigenz nicht, darunter verschiedene Gesellschaftsformationen, Stufen der Entwicklung oder des Verfalls und Erscheinungen der Basis wie des Überbaus zu subsumieren. Jene von Friedrich Engels beschworene Gefahr besteht dabei nicht: Subsumiert man eine Schuhbürste unter die Gattung der Säugetiere, so wachsen ihr damit noch lange keine Milchdrüsen. 35 Althusser kann einwenden, dafj er gegen Lévi-Strauss den Strukturalismus abgelehnt und nicht etwa befürwortet habe, worin ihm zuzustimmen wäre. In der gegebenen Begründung kommt indes zum Vorschein, daß es sich um die gleiche Frage handelt, die Jacques Monod bewegte und die Grenzen seiner Philosophie überstieg. Ohne Einführen der Zeit in das synchronische Schema oder den entsprechenden Katalog von Eigenschaften, Merkmalen oder Parametern gibt es keine Diachronie und keine Geschichte. Sie besteht nun im Unterschied zur Annahme von Lévi-Strauss und Althusser faktisch aus Einzelereignissen, die tatsächlich als solche einmalig sind wie jedes Ereignis in Natur und Gesellschaft. 33 L. Althusser, Das Kapital lesen, a. a. O., S. 158: „. . . dafj der Marxismus aber kraft des einzigartigen ihm zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen Bruchs theoretisch gesprochen ein Antihumanismus und ein Antihistorizismus in einem ist." 34 Ebenda, S. 142: „Synchronie . . . ist nicht die konkrete Ko-Präsenz selbst, sondern die Komplexität des Erkenntnisobjekts, das die Erkenntnis des Realobjekts vermittelt. Wenn es sich mit der Synchronie so verhält, müfjten sich ähnliche Schlußfolgerungen auch für die Diachronie ziehen lassen; denn die ideologische Konzeption der Synchronie (als das Beisichselbstsein der Essenz) begründet die ideologische Konzeption der Diachronie. Es ist kaum nötig, auf die Schwächen der Diachronie gerade bei den Denkern hinzuweisen, die ihr die Rolle der Geschichte zuschreiben. Die Diachronie wird auf das Ereignishafte und dessen Auswirkungen auf die Struktur des Synchronen reduziert: Geschichte wird damit zum Unvorhergesehenen, zum Zufall, zur Einmaligkeit eines Ereignisses, das aus zufälligen Gründen im leeren Kontinuum der Zeit auftaucht und wieder verschwindet." 35 F. Engels, Anti-Dühring, in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 125.
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Das hindert nicht ihre Darstellbarkeit in Funktionen, Statistiken, Deskriptionen, Explanationen, wesentlichen Verhältnissen, kennzeichnenden Beziehungsgefügen, also nach ihrer Gesetzmäßigkeit und in Gesetzen, die keinesfalls immer so benannt werden müssen. Marx benötigte nicht in Hegel einen Pseudogewährsmann, um nicht allein in der Welt zu stehen, wie Althusser meint, sondern entdeckte den rationellen Kern in der mystischen Hülle, die die Dialektik bei Hegel besaß. Geschichte zu analysieren bedeutet ebenso das Aufheben der von den handelnden Personen den gesellschaftlichen Vorgängen gegebenen Mystifikation, die aus dem antagonistischen Klassenwiderspruch und/oder der Unentwickeltheit der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse entspringt. Eine dieser Mystifikationen besteht in metaphysischem Denken. Sind weder in Natur noch Gesellschaft Sprünge zugelassen oder diese überbetont, dann resultiert Unfähigkeit zu dialektischem Denken. In der Kritik an Lévi-Strauss wird die eine Seite des dialektisch Zusammengehörigen fallengelassen. Sichtbar ist die Furcht, Unvorhergesehenes, Einmaliges, Zufall auftauchen und wieder verschwinden zu sehen. Ereignisse haben das so an sich. Wohin sie gehören, zu welcher logischen Klasse von Ereignissen und in welche stochastische Folgebeziehung, hat aber die Analyse zu ergeben. Und empirische Untersuchungen liefern niemals lückenloses Material, soweit auch versucht werden sollte, die Forschung bis ins Detail zu betreiben. Zu dem Verhalten von Historischem und Logischem, auf das Marx verwies, kommt noch die Eigenschaft des theoretischen Denkens hinzu, die innere Beziehung, das innere Band, die Folge und das Verhältnis der Ereignisse zueinander festzustellen und zu formulieren. Zur gleichen Kategorie von Erscheinungen gehören Ereignisse dann, wenn sie überprüfbar zuzuordnen sind und sich das Behaupten der Dazugehörigkeit als überprüfbar erweist. Da aber Althusser schon davor zurückschreckt, Einmaligkeit, Unvorhergesehenes und Zufall zuzulassen, muß er auf eine mechanistische Konstruktion auch dann zurückkommen, wenn er sie zu vermeiden sucht. Materialistisches dialektisches Denken vermag die Kategorien von Wesen und Erscheinung als heuristisches Forschungsinstrument zu benutzen, weil gerade ihre Existenz in der materiellen Wirklichkeit Voraussetzung für ihre Formulierung war. Sind die Erscheinungen in einiger Hinsicht zufällig und als Ereignis unvorhersehbar wie künftige Forschungsergebnisse über die Struktur der Materie und technische Entdeckungen oder der Zeitpunkt der Revolution in einem bestimmten Lande, dann lassen sich theoretisch die Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten angeben, in derem Verlauf solche Ereignisse mit einem bestimmten Erwartungswert zu versehen sind. Will Althusser die revolutionäre Praxis theoretisch retten, dann bedarf es nicht des Versuchs, das Zufällige ausschalten zu wollen. Nach Hegel und Marx besteht dafür kein theoretisches Bedürfnis, obwohl zugegebenermaßen die damit angesprochene Dialektik der theoretischen Bewältigung zu den schwierigsten Kapiteln marxistisch-leninistischer Dialektik gehört. Damit hebt sich aber auch 12
Ley, Bewußtsein
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der scheinbar kontradiktorische Widerspruch von Ereignis und Gesetzmäßigkeit zum dialektischen Widerspruch auf. Althusser vermutet latenten Empirismus, wenn von Geschichte und nicht bloß von „besonderen Strukturen der Geschichtlichkeit"36 gesprochen wird. Jenes Einbeziehen des Zufälligen in die Geschichte und die besonderen Strukturen der Geschichtlichkeit macht erst die Dialektik des Prozesses und enthebt der Metaphysik. Befaßt sich Lévi-Strauss vorwiegend mit Ethnologie, so richtet sich etwaige Polemik gegen ihn am wenigsten gegen das Untersuchen kombinatorisch unterschiedlichen Zusammenspiels zwischen den Parametern eines synchronischen Schemas oder Katalogs. In seinem Vorzugsbereich ist damit ein wesentliches Merkmal getroffen, das sich analog in der Wechselwirkung zwischen den Momenten der Basis-Überbau-Theorie bemerkbar macht, ohne im mindesten das Primat der Basisstruktur zu beeinträchtigen, allerdings auch nicht die bewußten und unbewußten Aktionen der progressiven und reaktionären Klassen im Durchsetzen oder Retardieren des Fortschritts. Diachronie vermag durchaus sinnfällig ein Moment des Geschichtlichen zu charakterisieren, ein nicht zu unterschätzendes Moment in der Debatte mit einigen Gruppen Naturwissenschaftlern, die zu ihrem Zweck vollständig ausreichend synchronische Strukturen benötigen. Meint Althusser, es handele sich um die falsche Bezeichnung des Prozesses oder dessen, was Marx die Entwicklung der Formen nennt37, so bedarf es der anderen Bezeichnung, um in der interdisziplinären Zusammenarbeit bei der Bewältigung mancher Fragen der Realisierung gesellschaftlicher Planung quantifizieren zu können. Für Geschichtsschreibung lohnt sich eine entsprechende Reflexion ebenfalls, um die Verbindung von Logischem und Historischem zu thematisieren. Um zu verstehen, wie punktuelle Ereignisse - einem von Althusser glücklich benutzten Ausdruck - die De- und Restrukturierung des Synchronen bewirken38, bedarf es ihrer Benutzung. Dann erst kommt das Resultat des theoretischen Denkens zum Zuge, wenn die Verbindung der Überbauerscheinungen zur Basis oder ihre unmittelbare Einwirkung auf Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zur Behandlung ansteht. Drei Begriffspaare diskutiert Althusser, um eine metaphysisch nur vertretbare Inkohärenz zwischen ihren Bestandteilen nachweisen zu wollen. Es sind das Wesen/Erscheinung, Notwendigkeit/Zufall und das Handeln des Individuums in der Geschichte. Sie repräsentieren, so meint er, den Versuch, vom Nichtökonomischen als Erscheinungsform auf dessen Wesen als eines Ökonomischen zu schließen.39 Es sei eine absurde Beziehung, in der Theoretisches als das Ökonomische mit dem Empirischen, Nicht-Ökonomischen gleichgesetzt werde.40 Als 36 37 38 39 40
L. Althusser, Das Kapital lesen, a. a.O., S. 143. Ebenda, S. 142. Ebenda. Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 147.
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Absurdität erscheine demnach, muß man zwangsläufig folgern, jede Beziehung zwischen einer institutionellen oder ideologischen Erscheinung sowie dazugehöriger Ereignisse und den sozialökonomischen Strukturen der Basis. Bezweifelt ist demnach rundweg die Möglichkeit, von Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Bedingungen und Ereignissen, die differenten logischen Klassen zugehören, zu sprechen. Nach Hegel und Marx beruht die Möglichkeit, daß solche verschiedenen Faktoren aufeinander einwirken, auf der monistischen Grundthese der Einheit der Welt. Materialistisch angewendet, liegt ein möglicher Zusammenhang vor, der die Produkte der Materie einbezieht. Welche Faktoren auszuschalten seien, erschließt das Untersuchen, mit dem Wesentliches von Unwesentlichem getrennt wird. Es ist ein Vorgang, der als wissenschaftliche Simplifikation zu bezeichnen ist und auf der grundsätzlich das Abbilden von objektiver Realität und der Entwurf als Antizipation künftiger Strukturen beruht. 41 Von einer Absurdität zu sprechen, wenn Theoretisches und Empirisches überhaupt in Beziehung gesetzt wird, erinnert an Immanuel Kant, soweit er sich selbst idealistisch interpretiert und den materialistischen Epikureismus fallen läßt. 42 Widerspiegelung und Entwurf beziehen sich der Möglichkeit nach stets auf materiell und ideell Einzelnes, wobei das Umsetzen eine zusätzliche Tätigkeit erfordert. Philosophisch ist in dem Zulassen der Beziehung ein Kriterium des Unterschieds von Materialismus mit Dialektik und Idealismus mit Antidialektik zu sehen. Einzelnes enthält stets Allgemeines, das durch den wissenschaftlichen Begriff und übrigens auch die unmittelbare Arbeitserfahrung angesprochen wird. Die merkwürdige Begriffsverschiebung resultiert aus dem intellektualistischen Verfahren, unter Ökonomie eine Disziplin zu begreifen, die sich nicht in Praktikabilität umzusetzen vermöchte. Für Sozialismus und Kommunismus bedeutet Ökonomie exakt nach Marx unter anderem die wertmäßige Zusammensetzung der Fonds im Verhältnis zur technischen und geht in die organische Zusammensetzung dieser Fonds ein. Dialektik heißt hier, die Erkenntnis eines Gegenstandes mit der Existenz eines anderen Gegenstandes gleichzusetzen und den Unterschied entschieden aufrechtzuerhalten. Zu behaupten, aus dem Vorhandensein ökonomischer Theorie gehe hervor, das Empirische gleich welcher Art besitze keine eigene Theorie, wenn Ökonomisches mit ins Spiel komme 43 , erscheint weit hergeholt. Wenn vorausgesetzt werden darf, daß jede Disziplin ihren eigenen Gegenstand besitze, so heißt das nicht, die verschiedenen Disziplinen könnten nicht in ein und demselben Objektbereich nachweisbar und anwendbar sein. Voraussagbarkeit unter Berücksichtigung der dazu erforderlichen Kenntnisse ergibt sich durch das Heranziehen der dem Gegenstand angemessenen Disziplinen und Denkbestimmungen. 41 Vgl. W. I. Lenin, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 159/160, S. 198. 42 Vgl. H. Ley, Zur Dialektik Kants, in: H. Ley/G. Stiehler etc.. Zum Kantverständnis unserer Zeit, Berlin 1975, S. 237. 43 L. Althusser, Das Kapital lesen, a. a. O., S. 146 f. 12'
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Das kontradiktorische Entgegensetzen „zweier Realitäten" 44 bringt Althusser auch für das Begriffspaar Notwendigkeit und Zufall vor. Es sei, so versichert er, eine erstaunliche Mechanik. Sie diene dem Bemühen, die Kluft zwischen dem Theoretischen eines Gegenstandes (der Ökonomie) und dem Nicht-Theoretischen, Empirischen eines anderen Gegenstandes (dem Nicht-Ökonomischen), durch das Ökonomisches sich „seinen Weg bahne" („Umstände", „Individualität" usw.), zuzuschütten.45 Schon das Behaupten, es handele sich um eine „Mechanik", verdeutlicht das Auseinanderhalten begrifflicher Produkte, von denen philosophisch nicht vorweg auszumachen ist, ob und wie oder ob nicht eine Relation vorliege. Ein und dasselbe Materielle oder Gedanken-Konkretum enthält in sich eine Mannigfaltigkeit, die den praktisch unendlichen Prozeß von fortschreitender Entwicklung der Arbeitserfahrung und der Wissenschaften gestattet, ebenso eine je unabgeschlossene Serie von Gegebenheiten des praktischen und theoretischen Herangehens beinhaltet. Sind Begriffe oder mit Bedeutung belegte Termini definitionsmäßig abzuschließen, was nicht immer der Fall zu sein braucht, so ist damit nicht zum Ausdruck gebracht, daß sie gleichsam als unabhängige Variablen in einen zur Sache gehörigen Zusammenhang zu bringen seien. Darauf beruht unter anderem die quantifizierende Erfassung sehr komplexer Vorgänge, die auf einen Nenner zu bringen und dann in Beziehung zu setzen sind. Marxistische Philosophie wendet die These von der Einheit der Welt nicht bloß weltanschaulich, sondern auch methodologisch an. Außerdem ist für sie das Verbinden von Theorie und Praxis keine Phrase. In Althussers Konzept erscheint ein Abglanz jener kulturpessimistischen Varianten, die vom Denken nicht zur gesellschaftlichen Wirklichkeit kommen, als ob es sich in der Tradition des philosophischen Materialismus nicht um bewußtes Hinwenden zur materiellen Wirklichkeit handele und gerade darauf seine progressive Klassenfunktion in verschiedenen Ordnungen beruhe. Hatte Piaton ein vorgegebenes Reich der Ideen, die sich materialisieren konnten, und zugleich eine sie vereinigende Weltseele, so begnügt sich Althusser wohl mit einem Reich begrifflich getrennter, unvollständiger Abstraktionen, die dann sich gegenüber nur mehr oder minder spontane Praxis zulassen. Marx zu unterstellen, so etwas lasse ich aus dem „Kapital" herauslesen, erscheint verfehlt. Begriffe bleiben auch dann voneinander getrennt, wenn sie in ein Bedingungsgefüge einzugliedern sind und sich auf ein und denselben Objektbereich beziehen sollen. Im vorliegenden Fall ist der Zufall und das Zufällige einfach als das Empirische deklariert und ihm die Würde möglicher theoretischer Behandlung abgesprochen. Das eine ist so schlimm wie das andere. Im »Kapital" findet sich das Empirische nicht abgewertet, sondern verarbeitet. Einem Materialisten sollte es schlecht anstehen, so meine ich, das Empirische minder zu bewerten als das theoretische Denken. Das Empirische repräsentiert Natur und Gesellschaft in 44 Ebenda, S. 147. 45 Ebenda.
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ihren einzelnen Objekten und Subjekten. Kann über weite Strecken die Mathematik auf das Empirische verzichten und sich mit der formallogischen Stringenz begnügen, so gilt das nicht mit gleicher Ausschließlichkeit für Wahrscheinlichkeitstheorie, das Gebiet der angewandten Mathematik. In technischer Hinsicht belegt das Bewerten auch ideeller Tätigkeiten, wie weit das Gleichsetzen des Ungleichartigen zu betreiben ist. Zuschütten soll man die Kluft zwischen dem Unterschiedenen nicht. Theoretisch und praktisch aber läßt sie sich offensichtlich überspringen, wobei auch etwa philosophischerseits vorgebrachte Bedenken unbeachtet bleiben und das Kriterium von Experiment und Industrie die theoretische Zurückhaltung überspielt. Da Althusser als Beispiel stets das eventuelle Beeinflussen durch die Ökonomie vorbringt und es dem Texte nach ablehnt, so liegt eine Entsprechung auch zu Derrida vor, der an der „Schrift" im weitesten Sinne - vielleicht absichtslos - demonstriert, wie viele Sachverhalte sich von einem relativ engen Objektbereich ableiten lassen und Aufschluß über weitreichende historische Tendenzen zu geben vermögen. Oft geschieht es, daß dem Philosophen zugängliche Probleme des Kategoriengefüges anderen Disziplinen unverständlich bleiben. In der Regel als unterhalb der Würde des Philosophischen betrachtet, äußert sich in ökonomischen Bereichen ein Zugang zu einem der Bereiche des Gesellschaftlichen, in dem angewandte Methodologie vorliegt und praktisch die Einwände idealistischer Erkenntnistheoretiker anstandslos hinterfragt sind. Althusser verdeutlicht sich ein für allemal, indem er Marx vorwirft, sich auf Smith und Ricardo berufen zu haben, ohne zuvor die von der klassischen bürgerlichen Ökonomie benutzten Kategorien daraufhin abzuklopfen, ob die benutzten Abstraktionen nicht ideologisiert seien.46 Päpstlicher als ein Papst zu sein, erscheint in der Regel als kein auszeichnendes Merkmal einer Haltung. Marx wird auf Grund gleichsam gesammelten Schweigens zu einem Verführer zum Empirismus abgestempelt. Vielleicht sollte man den Zusammenhang der Ideen besser berücksichtigen, denn in anderem Gewände kommt der gleiche Versuch vor und die gleiche Versuchung, objektive Abbildungsfolgen wissenschaftlicher Art zu „ideologisieren", d. h. in Ideologieverdacht zu bringen, anstatt ihre Beziehung zur Realität zu prüfen. Für Smith und Ricardo liegt nach der Nieder46 Ebenda, S. 114-116: „. . . ein in seiner Evidenz für Marx symptomatisches Schweigen, das im ganzen Verlauf des Diskurs unhörbar bleibt . . . Mit welchem Recht erkennt Marx in ihnen (den von ihm benutzten Kategorien - H. L.) kritiklos die Kategorien an, von denen auch Smith und Ricardo ausgehen, und vermittelt so den Eindruck, als denke er einfach in der Kontinuität ihres Gegenstandes weiter und als gäbe es zwischen ihrem und seinem Gegenstand keinen Bruch? . . . Die Lücke dieses Schweigens können dann natürlich die Ideologie der realen Wechselbeziehung zwischen der Wirklichkeit und seiner Anschauung und Vorstellung und die .Präsenz' einer Abstraktion besetzen, die - auf der Basis dieser Abstraktion operierend - aus ihr jene .abstrakten, allgemeinen Beziehungen' herausholt: also empiristische Ideologie der Abstraktion.*
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schritt des „Kapital" die Bemerkung vor, deren Wissenschaftlichkeit ergebe sich aus den unentwickelten Klassenkämpfen.47 Infolge des Deklarierens von falschem Bewußtsein gehört zur Überprüfung und Charakterisierung von Überbauerscheinungen die Frage, in welcher Weise sich eine Zugehörigkeit zur herrschenden oder zu einer der oppositionellen Ideologien andeutet, welches Verhältnis zu Klassen und Gruppierungen vorliegt, ob und wie eine Beziehung zur Entwicklung oder Beschränkung der geistigen und materiellen Produktivkräfte besteht. Da die manifeste Negierung von solchen Beziehungen ebenfalls gesellschaftliche Anliegen zum Ausdruck bringt, scheidet es die betreffende Ideologie oder sonstige Überbauerscheinimg aus dem Kontext gesamtgesellschaftlicher Beziehungen nicht aus. Ähnlich verhält es sich bei der Verbindung von Notwendigkeit, Zufall und Voraussage. Spezifische erkenntnistheoretische Erörterungen besitzen die gleiche Ambivalenz der Wirkung und des Inhalts. Beziehen sie sich auf ideologische Klassenauseinandersetzungen und lassen sie sich in die Auseinandersetzung von Materialismus und Idealismus einordnen, dann besitzen sie außerdem eine Funktion in der Erörterung der Erkenntnisprobleme, die mit der Entfaltung materieller und ideeller Produktivkräfte verbunden sind. Die Polemik gegen das Zufällige und die Schwierigkeit, Notwendigkeit im Zufälligen zu erfassen, besitzen zweifellos ihre Beziehung zu weltanschaulichen und methodologischen Fragen, die innerhalb der ideologischen Auseinandersetzung und speziell in der Ökonomie - wie übrigens auch in der Militärorganisation und beliebiger Administration oder sonstiger Verwaltung - Folgen implizieren. Die Zufall, Notwendigkeit und Voraussage betreffenden Debatten erstrekken sich auf alle jene Areale, von denen Althusser annimmt, sie ließen sich philosophisch nicht miteinander vereinbaren. Nun bedeutet es nach Hegel eine gleichsam knotenhafte Widerlegung, logischen Argumenten nicht mit Gegengründen zu antworten, sondern etwa logische Schwierigkeiten der Bewegung durch das Gehen zu widerlegen. Ebenso solle man sich nicht mit der sinnlichen Gewißheit begnügen, sondern habe sie zu begreifen.48 Im Prinzip gültig, besteht indes trotzdem das Primat der materiellen Wirklichkeit und letztlich die Kontrolle des Denkens - analog gesprochen - an Experiment und Industrie. Das Benutzen der Regelmäßigkeit von stochastischen Folgen, beliebigen Zufallsserien bedingter Wahrscheinlichkeit, funktioniert sowohl für das genauere Erledigen von Aufgaben, die sonst schlechter abzuschätzen sind, als auch für das Sichern höchster Präzision und das Abschätzen von Wahrscheinlichkeitsfeldern, in denen künftige Ereignisse zu erwarten sind. Die sowjetischen Wahrscheinlichkeitstheoretiker Kolmogorow und Gnedenko, der sowjetische Ökonom Gwischiani und die Kybernetiker Berg und Tschernjak 47 Vgl. Hegels Text und Lenins zustimmende Bemerkung, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 242/243. 48 Ebenda, S. 144.
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besitzen für die praktische Anwendung und theoretische Durchdringung von Systemen und ihrer Analyse beträchtliche Verdienste. Das Anwenden gelingt auch ohne Einigkeit der Theoretiker über die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie und ohne philosophisches Verständnis der Durchdringung von Zufall und Notwendigkeit. Formallogisch bezeichnen diese Begriffe einander ausschließende Sachverhalte. Vereinigt sind sie im Verständnis von Hegel und Marx als Gesetzmäßigkeit. Das Durchdringen beider drückt sich bereits in dem mathematisch verwendeten Begriff der bedingten Wahrscheinlichkeit aus. Deshalb empfiehlt es sich nicht, von einer Überlagerung der statistischen Gesetze durch dynamische zu sprechen. Das damit sinnvoll Gemeinte ist bereits in dem Begriff der bedingten Wahrscheinlichkeit enthalten sowie in dem Betonen der Regelmäßigkeiten von Zufallsfolgen. Dazu gehört der Begriff des Intervalls, der die mathematisch oder empirisch ermittelten Grenzen angibt, für die ein Erwartungswert für Ereignisse einer bestimmten logischen Klasse angebbar ist. In diesem Zusammenhang ergeben sich die Charakteristika von solcher Voraussagbarkeit, die nicht mechanischen Gesetzen gehorcht, wenn eine so anthropomorphe Ausdrucksweise gestattet ist. Diese Art von Gesetzmäßigkeiten quantifiziert Sachverhalte, die in die Kategorie der Leninschen Definition von Gesetzen fallen und in denen die Unbestimmtheit gegenüber dem Einzelergebnis festgehalten ist Soweit eine praktische Berücksichtigung stattfindet, treten genau die von Lenin erwähnten Unbestimmtheiten auf, auf die bereits verwiesen wurde. Als materialistische Dialektik verstanden, werden damit weltanschaulich und methodologisch die Grenzen übersprungen, die die bloße formallogische Betrachtung - zudem aber äußerst wichtig in dem praktischen Vollzug der Anwendung - für das Bewältigen des Gesamtprozesses bedeutet. Die Unbestimmtheit, die durch das dialektische Denken angesprochen ist, zieht dann Vorwürfe auf sich, wenn nicht die von Althusser beschworene Kluft übersprungen wird - eine Empfehlung, die bereits d'Alembert in seinem hervorragenden Discours in der „Enzyklopädie" der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gab. Sie betrifft generell die Komplexität des Erkenntnisobjekts, das die Erkenntnis des Realobjekts darstellt. Althusser spricht in diesem Zusammenhang von Vermittlung. Wie weit aber der Sachverhalt aufgehellt wird, wenn das Denken in die für den historischen Materialismus wichtige Kategorie der Vermittlung einbezogen wird, erscheint nicht ohne weiteres akzeptabel. Gemäß der Marxschen Formel, daß das Mittel zuvor durch den Kopf geht, bevor es realisiert wird, entfiele damit die Grenze zu den materiellen Produktionsinstrumenten und überhaupt zu den produzierenden Aggregaten. Es handelt sich um eine fließende Grenze. Das Anwenden der Produktionsinstrumente verlangt im Prinzip geistige Tätigkeit in der physischen und ideellen Arbeit, die vorgängig und während des Produktionsprozesses geleistet wird und das Intervall von Arbeitsproduktivität bestimmt, das mit den gleichen Aggregaten technischer Art zu leisten ist, ein Verfahren, das vom VIII. und IX. und X. Parteitag der SED als wichtigstes Verfahren zur Erfüllung der Hauptaufgabe des Fünfjahrplans be183
schlössen wurde. Unter Voraussetzung dieses Sachverhaltes erfolgt die Vermittlung von Erkenntnisobjekt und Inhalt der Erkenntnis in letzter Instanz durch die Produktionsinstrumente verwendende Arbeit, genauer aber durch erstere, die auch die Qualität und Quantität der zur Erkenntnis benutzten technischen Mittel bedingen. Die einzelnen Schritte der gedanklichen Aufbereitung der zu untersuchenden oder zu entwerfenden Objekte bedingen sich gegenseitig. Sie gehören in den gesellschaftlichen Gesamtprozeß/' 9 Jedes Verwischen der Kategorien Materie und Bewußtsein erleichtert nicht die angebliche Analyse, sondern erschwert sie. Zufall, Notwendigkeit und Voraussage vereinigen sich mit Gesetz und Gesetzmäßigkeit als wesentliches Verhältnis in jenem gesamtgesellschaftlichen Prozeß, in dem sich die verschiedenen Momente durchdringen. Sie enthalten außerdem immer Unbekanntes von der Art, das aus dem erst später zu Entdeckenden hervorgeht. Prognostizierbar ist, daß unter bestimmten Bedingungen sich Kenntnis, Technik und Gesellschaft weiterentwickeln, nicht aber, welche Gesetze und Bestimmungen im Verlauf der Jahrtausende und sehr kurzfristiger Zeiträume neu zu entdecken sind. Das dialektische Durchdringen der materiellen Prozesse und ihrer differenten Merkmalsgruppen schildert Marx am Beispiel der Produktion im Allgemeinen, das als vielfach Gegliedertes beschrieben ist, von dem einiges allen Epochen angehört, anderes einigen gemeinsam zugehört. Das aber, was ihre Entwicklung ausmacht, ist gesondert zu behandeln.50 Produktion im Allgemeinen ist von Marx als verständige Abstraktion bezeichnet, obwohl er ausdrücklich feststellt, es gebe keine Produktion im Allgemeinen und auch keine allgemeine Produktion, sondern mindestens immer einen besonderen Produktionszweig.51 Soweit es sich um materielle Produktionsvorgänge handelt, fallen sie unter die Bestimmung des Einzelnen und gehören in die andere der Totalität.52 Nicht anders verhält es sich bei den von Althusser erwähnten Sachverhalten. Was Begriffe meinen, erfordert stets eine besondere Bestimmung ihres Inhalts und Umfangs, die sich überschneidende, durchkreuzende, verstärkende oder aufhebende Strukturen enthalten können. In der Abhandlung über die Methode der politischen Ökonomie, die die „Einleitung" enthält, erwähnt Marx das Zufällige nicht ausdrücklich. Indes befaßt sich die Ableitung des Unterschieds von Historischem und Logischem mit nichts anderem am Beispiel von Eigentum und Besitz, der Funktion des Geldes in unentwickelten und entwickelten sozialökonomischen Verhältnissen sowie sein gelegentliches Fehlen bei gleichzeitig entwickelter Teilung der Arbeit, die ebenfalls in ihrem unterschiedlichen Reifeprozeß dem gleichen Nachweis dient. Erst Punkt sechs des 4. Abschnitts der „Einleitung" erwähnt das Vorhanden49 50 51 52
K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 7. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 29.
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sein von unegalen Verhältnissen in der Entwicklung der materiellen Produktion, überhaupt ungleiche Entwicklung. In Punkt sieben sind die ungleich erscheinenden Momente als notwendige Entwicklung bezeichnet und ist die Berechtigung des Zufalls unterstrichen. 53 Die Geschichte als Weltgeschichte erklärt der gleiche Absatz als Resultat 54 , als Produkt des Werdens. Marx bezeichnet mit dem Wort „Notwendigkeit" teilweise Gesetzmäßigkeit, da der Zufall einbezogen ist, keineswegs aber, wie es vielfach üblich wurde, mechanistische Verursachung. Gelegentlich verabsäumt man, den unterschiedlichen Gebrauch gleicher Buchstabenfolgen hinreichend zu artikulieren. Für Marx sind Denkbestimmungen und wissenschaftliche Begriffe stets dialektisch zu fassen, wenn nicht ausdrücklich eine andere Verwendung angemerkt ist. So verhält es sich in der Darstellung ökonomischer Probleme und der Klassenauseinandersetzungen. Notwendigkeit des Übergangs heißt dessen Gesetzmäßigkeit, die Marx besonders hervorhebt, ohne etwa die unegalen Momente stets zu betonen. Gelegentlich benutzt Marx auch den Ausdruck „Notwendigkeit" in dialektischem Sinne als Bezeichnung für übergeordnete Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, um einer Verwechslung mit juristischen Gesetzen auszuweichen. 55 Daß indes Marx die Möglichkeit als objektive dialektische Kategorie für notwendige Prozesse ansieht und darin ebenfalls Hegel umstülpt, zeigt sich bereits in dem Verweis auf den Vorgang, in dem die Theorie zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. Jene andere „Einleitung" in die „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" entwickelt das Verhältnis von objektiver Bedingung und subjektivem Faktor, der in vorliegendem Fall eine Bewußtseinsänderung betrifft, die das schon entstandene Proletariat erfährt und die weltverändernde Theorie der Arbeiterklasse entstehen läßt. Als Voraussage aufgefaßt, die sich gegenwärtig noch weiter verwirklicht, bezeichnet Theorie eine Notwendigkeit in mehrfachem Sinn: als Gesetzmäßigkeit, benötigten Sachverhalt, der wieder Bedingungen der Möglichkeit von Aneignung voraussetzt, darin enthaltene zufällige Gesichtspunkte und die entscheidende Funktion der von Marx begründeten gesamten Theorie für die Entwicklung der Arbeiterklasse zur herrschenden Klasse, natürlich auf der Grundlage aktiver Klassenauseinandersetzung.
53 Ebenda. 54 Ebenda, S. 19. 55 Ebenda, S. 30, Punkt 7.
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8. Vortrag
Hegels Idee der bürgerlichen Gesellschaft und die Klassentheorie von Marx
In der Philosophie Hegels gibt es keine strenge Trennung zwischen einer Welt der Phänomene und den ihnen zugrunde liegenden Strukturen, dem Wesen oder den Gesetzen. Gegen Kant und mit Kant nimmt Hegel die Dialektik als immanente Eigenschaft der objektiven Realität, die für ihn wesentlich das Reich der Vernunft darstellt. Die Phänomene sind ebenso Entäußerung der Entwicklung der absoluten Idee wie die Welt der Strukturen und der Gesetze. Versichert Kant eine unbedingte Objektivität der transzendentalen Dialektik, so Hegel die Objektivität der immanenten, den Objekten und dem Denken zugehörigen Dialektik. Daher gelangt er aber nicht wie Kant zu Agnostizismus, sondern besitzt das materialistische Prinzip der Erkennbarkeit der Welt im Prozeß. In der Entdekkung der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie Hegel versteht, ist das Annehmen von Antagonismen eine Übernahme von Kant. Handelt es sich bei Kant bloß um den allgemeinen Hinweis, verlangt Hegel andeutungsweise zudem eine Analyse der ökonomischen Struktur. Das Phänomen ist dabei ebenso Gegenstand der Untersuchung wie andere für Hegel interessante Schichten. Der dialektische Gegensatz fügt die verschiedenen Bereiche der Realität zueinander. Die Phänomene gelten als ebenso wirklich wie die Strukturen. Den Phänomenen sind unmittelbar Strukturen zugeordnet wie den anderen Objekten, die die Aufmerksamkeit Hegels finden. Zu den Phänomenen gehört für Hegel die Moral in ihren verschiedenen Formen, sie beschäftigt ihn aber vorwiegend bloß ironisch. Die anders gemeinte Ironie der katholisierenden deutschen Romantik immunisierte ihn vermutlich gegen ein Überbewerten der schönen Seele. Gegen Hegel polemisiert Michel Foucault demnach nicht, wenn er gegen Kants anthropologische Fragen sich auf den Übermenschen Friedrich Nietzsches beruft. Kant gibt drei inhaltsschwere Fragen vor: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was daii ich holten?* Er sieht darin alles Interesse der spekulativen wie der praktischen Vernunft vereinigt und antwortet darauf, was das denn eigentlich sei - der Mensch. Es sind moralisierende Fragen, die durchaus ihre Berechtigung haben, ob sie jemandem 1 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. R. Schmidt, Leipzig 1930, S. 728.
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passen oder nicht. Sie lassen sich moralisierend beantworten oder glossieren, erkenntnistheoretisch analysieren oder absichtlich beiseite stellen. Nach Hegel würde jede dieser Abwandlungen der Kantischen Frage eine andere Stufe der Entwicklung des absoluten Geistes bedeuten. Tatsächlich gehören die humanistischen Fragen Kants sowohl in den Katalog eines Repertoires von Problemen, die eine Gesellschaftstheorie zu beantworten hat, wie in den anderen Katalog eines Reservoirs von Charaktermasken, die sich die verschiedensten Gesellschaftsformationen zulegen, wenn sie es für nötig halten. Marx hat sich über die Funktion von Charaktermasken geäußert und ihr "Vorhandensein als reguläre Erscheinung konstatiert. Tatsächlich ist es ein Moment der Entwicklung der Moral und des Überstiegs, des „Aufhebens" im dialektischen Sinne, wenn sich die Vorstellungen geltender Moral und der sogenannten Subkulturen verändern und mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen parallel gehen. Sie nehmen alte moralische Forderungen in sich auf. Vergangene Prinzipien vermögen sich wieder Geltung zu verschaffen, wie sich an der urgemeinschaftlichen Tradition des kollektiven Gebrauchs von Drogen und etwa an den wiederauflebenden Dionysien bestätigt. Die Kantischen Fragen aber lassen sich neben ihrer Funktion einer falschen Apologie des „Menschen" auch als physiologische oder sozialökonomische Probleme behandeln und die Tiefenschichten einbeziehen, für die sich die bürgerliche Psychoanalyse interessiert. Insofern äußert sich Foucault: „. . . es handelt sich dabei, und das ist mehr prosaisch und •weniger moralisch, um eine erfahrungskritische Verdopplung, durch die man den Menschen zu bewerten sucht, und zwar seitens der Natur, der Wechselbeziehungen oder seines Discours als der Begründung seiner eigenen Endlichkeit."2 Mag es sein, dag die Anthropologie, wie Foucault meint, einen neuen Schlummer eingeleitet hat, so lägt sich nicht verkennen, dag eine andere und neuere Fragestellung niemals die älteren völlig ausschaltet. Friedrich Nietzsche ist als der Entdecker der Relation zwischen der Benutzung der Terme Mensch und Gott aufgefagt: „Der Tod des zweiten ist synonym mit dem Verschwinden des ersteren, und etwas, bei dem das Versprechen des Kommens des Übermenschen zuerst und vor allem den Tod des Menschen impliziert."3 Stellte sich Nietzsche den Übermenschen als künftiges Produkt der Geschichte vor, so reflektiert er bloß das Erscheinen Robespierres und verkündet •die ewige Wiederkehr gerade aus einem Geist, den er als Zukunft empfindet. Erscheint Nietzsches Übermensch als die entfesselte Bestie, so deklariert Foucault: „Unser Humanismus schlummert auf einer brausenden Unwirklichkeit..., 2 M. Foucault, Les mots et les choses, a. a. O., S. 352: » . . . il s'agit, et c'est plus prosaique et c'est moins moral, d'un redoublement empirio-critique par lequel on essaie de faire valoir l'homme de la nature, de l'échange, ou du discours comme le fondement de sa propre finitude." 3 Ebenda, S. 353: „La mort du second est synonyme de la disparation du premier, et où la premesse du surhomme signifie d'abord et avant tout l'imminence de la mort de l'homme."
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soll man sich nicht daran erinnern, daß wir auf den Rücken eines Tigers gebunden sind."4 Betrachtet Althusser die Geschichte und den Historizismus als Ideologie, so reflektiert Foucault die Erscheinungen und nicht den Hintergrund. Das allmächtige grausame Schicksal dominiert seit der griechischen Antike im Bewußtsein der meisten Religionen. Hegel sah den Weltgeist in Napoleon, erwähnt seine berauschenden Siege und versichert an diesem eklatanten Beispiel die Ohnmacht des Sieges, über die die Geschichte hinweg gehe - „hinter dem Rücken der Beteiligten", erkennt Marx. Die Geschichte ist damit als ein naturhistorischer Prozeß bezeichnet, weil es sich um Gesetze handelt. Sie zu erkennen, bleibt unbenommen, wenn auf die Erscheinungen reflektiert wird, auf das Vordergründige, das sich der Analyse unmittelbar anbietet. Bestialität bleibt damit Bestialität. Aber die Furcht des Individuums vor der Geschichte und den Erscheinungen und den Strukturen, die sich durchsetzen, vermag selbst reflektiert zu werden. Das individuelle und gesellschaftliche Handeln weiß dann, womit es zu tun hat. Hegel beschäftigt die notwendige Folge in den geschichtlichen Erscheinungen, die sich in den Zufälligkeiten als eine der Varianten der Möglichkeit der Geschichte durchsetzt. Bleibt Entwicklung aus, dann handelt es sich ebenfalls um Verwirklichen von Möglichkeiten. Auf welchen Gebieten Entwicklung erfolgt, beschäftigt Hegel ebenfalls. Die Moral rechnet er nicht dazu, soweit sie sich als bloß moralisch versteht und nicht mit den anderen sich entwickelnden Strukturen hinreichend Verbindung besitzt. Die bürgerliche Gesellschaft erscheint Hegel als das jüngste Ziel, das sich aus der Mannigfaltigkeit herausgebildet hat. Bevor Hegel die Moralitäten der Bedürfnisse und ihre Rechtfertigung wie Befriedigung behandelt, spricht er über die bürgerliche Gesellschaft. Sie gilt im ganzen als objektive Moralität. Die von Hegel ironisierte Moralität ist die subjektive. Zu der objektiven Moralität oder der bürgerlichen Gesellschaft zählt Hegel die folgenden Punkte: A) Die Vermittlung des Bedürinisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Uehrigen - das System der Bedürfnisse. B) Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege. C) Die Vorsorge gegen die in jenen Systemen zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen, durch die, Polizei und Korporation,5 Objektive Moral gilt gleich einleitend als Vermittlung des Bedürfnisses. Sie bedeutet den Verweis auf Arbeitsteilung und die gründliche Beseitigung der Naturalwirtschaft. Das Vergangene ist als nicht mehr der Objektivität entsprechend abgewertet. Tatsächlich entspricht der Entwicklung der Gesellschaft das 4 Ebenda, S. 333. 5 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 188, S. 270.
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Herstellen innerer Kommunikation, die jeden von jedem abhängig macht durch die Ökonomie. Das Bewußtsein an sich dieses Bereiches verkörpert sich in Smith, Say, Ricardo. Der junge Hegel las Steuart, wie Lukäcs nachwies. Da Moralität im Bewußtsein angesiedelt ist, erschließt Hegel diese objektive Moralitäf als Idee der Freiheit über die Vermittlung der Bedürfnisse und die Arbeit. Mensch und Menschlichkeit sind damit aber auch innerhalb des Bewußtseins doppelt angelegt. Soweit sie sich auf die Produktion beziehen, intendiert Hegel auf Objektivität als Gegenstand seiner Analyse. Subjektivität bestimmt sich dann als Ausschalten der Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen. Die bürgerliche Gesellschaft ist dann die real gewordene Welt der Idee der Freiheit. Die damit eingeleitete Entwicklung der Produktivkräfte hat bereits im 18. Jahrhundert angefangen, den Abscheu der konservativen Politik auf sich zu ziehen. Für den Adel bedeutet jede beträchtliche Entwicklung der Produktivkräfte das Zerstören der fixierten Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft und den wachsenden Vorrang der Stadt und ihrer Bevölkerung. Da aber das Zersprengen der alten Hierarchie nicht nur die Aristokratie beeinträchtigt, sondern ebenso den Bauern und eine komplette Umschichtung der gesamten Bevölkerung einleitet, ist und bleibt die bürgerliche Gesellschaft an einen ständigen Umwälzungsprozeß gebunden. Damit aber pflegt jede Veränderung wie Umstrukturierung bis in die Landwirtschaft und den einzelnen Betrieb eine Kritik von rechts zu erfahren. Rechts heißt in diesem Zusammenhang das Bekämpfen von Erscheinungen, die mit dem Durchsetzen neuer Strukturen unabdingbar verbunden sind. Hegel orientierte sich damals auf England, in dem die Durchsetzung der vollständigen „Vermittlung" des Einzelnen durch die Arbeit am weitesten entfaltet war. Zugleich sieht Hegel in dem Bewußtsein an sich das protestantische Bewußt-* sein realisiert. Luther und Calvin sind in Beruf und Arbeit angesprochen. Das religiöse Bewußtsein spielt für Hegel bereits eine Rolle, wie später für Max Weber, nur daß es als Durchgangsform zum Wissen und nicht als Vollendung, nicht als leitende Triebkraft erscheint. Da die bürgerliche Gesellschaft aus dem protestantischen Geist hervorgehen soll, der ihrerseits inkonsequent, aber deutlich mit dem Volksgeist zusammengebracht ist, wendet sich Hegel entschieden gegen den Katholizismus. Die Religion hat für Hegel eine gesellschaftliche Funktion, die eine Gesellschaftsordnung charakterisiert. Wenn allerdings Hegel das Mittelalter geradezu haßt, dann denkt er nicht daran, den Protestantismus zum Prinzip zu erheben. Hegel versichert, der Protestantismus habe bloß eine Seite des Katholizismus aufgegeben, die andere? also behalten. Hegel ist bemüht, den rationalen Gehalt des Protestantismus rational, also unabhängig von der Religion zu formulieren. Gegen den Katholizismus findet Hegel Worte, die - wenn es erlaubt ist, so zu sagen - einer geballten Ladung gleichen, andererseits mehr gegen das Mittelalter als solches gerichtet sind: „So widersprechend, so betrugvoll ist dieses Mittelalter, und es ist eine Abge189
schmacktheit unserer Zeit, die Vortreiilichkeit desselben zum Schlagwort machen zu wollen. Unbefangene Barbarei, Wildheit der Sitte, kindische Einbildung ist nicht empörend, sondern nur zu bedauern; aber die höchste Reinheit der Seele durch die gräulichste Wildheit besudelt, die gewußte Wahrheit durch Lüge und Selbstsucht zum Mittel gemacht, das Vernunftwidrigste, Roheste, Schmutzigste durch das Religiöse begründet und bekräftigt - dies ist das widrigste und empörendste Schauspiel, das jemals gesehen worden und das nur die Philosophie begreifen und darum rechtfertigen kann."6 Differenzierend nennt Hegel Kirche und Stadt als Schutz gegen den Feudalismus, die die Bevölkerung benutzt, um sich einige Sicherheit in allgemeiner Unsicherheit zu schaffen, was partiell der historischen Entwicklung entspricht. Übrigens gehören bei Hegel die Hexenprozesse ebenso unter die Kategorie des „Verdachts" wie die Prozesse von 1794. Als die Entwicklung zur Gesellschaft erscheint Hegel, daß die Kirche der Industrie und dem Gewerbe kein Hindernis mehr in den Weg stellt. Freiheit bezeichnet Hegel aber in diesem Zusammenhang als Gehorsam. Gleichgesetzt ist diese Art Freiheit mit der philosophischen Kategorie: das Einzelne „gehorche" dem Allgemeinen. Hegel meint nicht, daß das Allgemeine gesondert existiere. Vielmehr vermittelt die Arbeit, daß das Individuum jenes Allgemeine begreife. Der Gehorsam ist damit eine weitere Funktion des Bewußtseins an sich. Damit aber begründet Hegel die Beziehung zum Eigentum und seinem Schutz durch die Justiz. Insofern wird die Justiz gleichzeitig zu einem Schutz des Individuums. Hegel spricht von der „Polizei", Jean Hyppolite übersetzt „administration" = Verwaltung. Im damaligen Sprachgebrauch sind beide Begriffe miteinander verbunden. Polizei als solche und die Administration als staatliche Verwaltung überdecken gemeinsam einen weiten Bereich, überschneiden sich und haben einige gemeinsame Elemente. Im Schutz des bürgerlichen Eigentums kommt der Klassencharakter zum Ausdruck, den Hegel ansonsten verwischt. Da aber die gesamte Ökonomie der Individuen dann dem Staate zum Schutze anvertraut wird, decken sich bereits in der Analyse der Gesellschaft die verschiedenen Belange, in denen die herrschende Klasse ihrem Staate bestimmte Funktionen anvertraut, der gegenüber alten Gesellschaftsformationen und konkurrierenden Gesellschaften die Wirklichkeit des Allgemeinen zu schützen befugt ist. Insofern aber setzt Hegel die bürgerliche Gesellschaft zwischen Staat und Familie. Die Familie gilt als das Primäre. Die bürgerliche Gesellschaft bildet sich aus und erzeugt den ihr adäquaten Staat. Indem Hegel von den Bedürfnissen spricht, wird das subjektive Moment der Lebenstätigkeit angesprochen. Immer wieder wiederholt sich in der Geschichte der Ideologie, daß die materielle Seite der Gesellschaft einschließlich der dazu gehörigen Reaktionen des Bewußtseins wegzulassen versucht wird. Hegel und Marx betrachten diesen Umstand als ein Ausweichen vor der wirklichen Ge6 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 486/487.
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schichte und eine Flucht, die sich dann als Minderung des Bewußtseins auswirkt. Hegel nennt das Individuum die konkrete Person als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür.7 Das Zufällige geht von der Bestimmung der einzelnen Subjekte der Gesellschaft bis in die Möglichkeiten der Wirklichkeit und des Werdens. Damit aber ist nach Hegel jedes Individuum auf das andere angewiesen und setzt sich die allgemeine Tendenz der Gesellschaft durch. Für die früheren feudalen Gesellschaften galt, daß die einzelnen Gebiete der Gesellschaft juristisch und administrativ voneinander getrennt waren und keine Vermittlung zwischen sämtlichen Individuen der Gesellschaft bestand. Der selbstsüchtige Zweck8 gründet für die bürgerliche Gesellschaft ein System allseitiger Abhängigkeit. Hegels Dialektik des Widerspruchs äußert sich ebenfalls in der Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft. § 185 beginnt: „Die Besonderheit für sich, einer Seits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substantiellen Begriff; anderer Seits als unendlich erregt, und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür, so wie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt, ist die Befriedigung des nothwendigen, wie des zufälligen Bedürfnisses zufällig. Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwickelung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar."9 In den alten Staaten brachen die Gesellschaften an diesem Widerspruch des Besonderen zusammen. Die bürgerliche Gesellschaft gründet sich einen Staat, von dem Hegel annimmt, daß die gerade im Besonderen ruhenden Triebkräfte mit der Beförderung der Besonderheiten des Individuums die objektive Moralität erhalten. Sie besteht insofern in der uneingeschränkten Kommunikation der Individuen auf der Ebene der Bedürfnisse und der Arbeit. Im Grunde unterscheidet Hegel zwischen Staaten, die diese Kommunikation nicht herzustellen und auszuhalten vermögen, und solchen, die sie befördern und erhalten. Die Einheit von partikularem Interesse und dem gemeinsamen gesellschaftlichen Interesse gilt für Hegel als die selbstverständliche Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, wobei aber das private Interesse gerade in keiner Weise beeinträchtigt sein soll. Das allgemeine Interesse verkörpert Hegels Staat, dessen Ziele sich gerade durch das Eigeninteresse verwirklichen. Hegel aber wäre kein Dialektiker, wenn er nicht ausdrücklich darauf verwiese, daß es sich dabei um eine Einschränkung des individuellen Interesses handele, die notwendige Kommunikation aber gerade ihren Schutz findet. „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche 7 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., § 182, S. 262. 8 Ebenda, § 183, S. 263. 9 Ebenda, § 185, S. 265.
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ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben. Da dieser durch das Allgemeine vermittelt ist, das ihnen somit als Mittel erscheint, so kamt er von ihnen nur erreicht werden, insolern sie selbst ihr Wissen, Wollen und Thun aui allgemeine Weise bestimmen, und sich zu einem Gliede der Kette dieses Z u sammenhang s machen. Das Interesse der Idee hierin, das rächt im Bewußtseyn dieser Mitglieder der bürgerlichen Cesellschait als solcher liegt, ist der P r o ce ß, die Einzelnheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürinisse, zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu billigen.'10 In der Vermittlung zwischen Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat sowie dem Ensemble von Widersprüchen dominiert der Processus. Hegel nennt ihn das Interesse der Idee. Er versichert, daß sich dieses Interesse der Idee nicht im Selbstbewußtsein befindet, also übergeordnet ist. Die Idee, sagt gelegentlich Lenin, bedeutet bei Hegel die Wirklichkeit selbst, die Natur und die Gesellschaft. Wissen, Wollen und Handeln sind indes im Hegeischen Verständnis auf eine allgemeine Modalität hin zu bestimmen. Damit erreichen sie das Ganze. Die Orientierung auf die Totalität macht nicht das Selbstbewußtsein mit der Idee identisch, nähert es ihr aber an. Das Übergewicht, das Hegel dem Processus gibt, ist bestimmend für seine gesamte Philosophie der Geschichte und damit für seine Theorie der Gesellschaft. Dort aber knüpft Marx an. Für Hegel drückt sich in der Konfrontation von privatem Interesse und Egoismus Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft aus. Marx konfrontiert Tauschwert und Gebrauchswert, die Wirtschaft des Profits und der Ausbeutung. Die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft haben demnach kein gemeinsames Interesse, außer in der Überwindung der feudalen Gesellschaft und älteren Gesellschaftsordnungen. Die Analyse von Marx vollzieht sich damit auf mehreren Ebenen. Die Klassenordnung wird zu der Quelle der Umwälzungen und der Begründung einer neuen Ordnung. Daneben erfolgt eine Umwälzung in der Ökonomie und der den gesamten Prozeß begleitenden Ideen. Eine der gegenwärtigen Debatten vollzieht sich angesichts der ökonomischtechnischen Umwälzungen. Im „Kommunistischen' Manifest" verweist Marx auf eine ständige Revolutionierung der Produktionsweise, ohne die die kapitalistische Gesellschaft nicht bestehen könne: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen . . . Wie für den Bourgeois das Aufhören des Klasseneigentums das Auf10 Ebenda, § 187, S. 267.
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hören der Produktion selbst ist, so ist für ihn das Aufhören der Klassenbildung identisch mit dem Aufhören der Bildung überhaupt."11 In der Darlegung der Maßregeln für die neue Ordnung, in der mit den überkommenen Eigentumsverhältnissen gebrochen ist, ist als ökonomische Maßnahme deklariert, „die Masse der Produktivkräfte möglichst rasch zu vermehren".12 Konnte die bürgerliche Gesellschaft nur existieren, wie Marx voraussagte, indem sie die Produktionsinstrumente ständig revolutioniert, so gilt der gleiche Gesichtspunkt für die sozialistische Gesellschaft. Möglichst rasch die Qualität der Produktivkräfte zu vermehren, ist mit dieser Seite der erweiterten Reproduktion identisch. Schildert Marx die negativen Folgen dieses Prozesses, so gilt die Negation der Negation nicht im Sinne der Beseitigung der Produktivkräfte, sondern der gesellschaftlichen Aktion, die diese Widersprüche aufhebt. Dialektik enthält Kontinuität und Diskontinuität. Der Bruch vollzieht sich in den Eigentumsverhältnissen, von denen Marx ökonomisch nachweist, daß sich Konzentration und Zentralisation in der kapitalistischen Gesellschaft durchsetzt. Die zufälligen Veränderungen der partikularen Interessen der Eigentum besitzenden Individuen münden notwendig nach Marx in dem Fortgang der Konzentration der Produktivkräfte auf der Grundlage ständiger Revolutionierung der Produktivkräfte. Der Bruch erfolgt in den Eigentumsverhältnissen und der Klassenherrschaft des Proletariats. Hat für Hegel das Eigentum eine zentrale Position für die bürgerliche Gesellschaft und den Staat, so in anderer Weise für Marx. Im „Kapital" ist auf den Prozeß verwiesen, der Eigentum in Eigentumslosigkeit umwandelt. Bei Hegel ist das Eigentum auf Arbeit bezogen. Der in der bürgerlichen Gesellschaft beschleunigte Produktionsprozeß schafft, wie Hegel ebenfalls feststellte, Maschinen. Industrie mit Maschinen bedarf zu deren Bedienung Menschen. In der List der Vernunft realisiert sich ein Vorgang, der Menschen heranziehen muß, die die Maschinen bedienen. Damit hängt die Auflösung der feudalen Ordnung und der Zusammenbruch der früheren Struktur der Staaten zusammen. Die ursprüngliche Akkumulation treibt den Bauern in die Stadt. Nun hat aber der technische Fortschritt die Eigenschaft, ständig Menschen überflüssig zu machen und zugleich erneut in den Produktionsprozeß hineinzuziehen. In dieser doppelten Bewegung entwickelt sich die Industrie „auf höherer Stufenleiter", verringert sich die Anzahl der Arbeiter relativ zu der objektivierten Arbeit und vermehrt sich zunächst absolut. Die Anzahl der vorhandenen Arbeitskräfte erscheint als die relative Grenze der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte. Vorbedingung ist, daß die Arbeitskräfte frei von Produktionsmitteln sind und deshalb gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Industrie erzeugt eigen11 K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 465, S. 477. 12 Ebenda, S. 481. 13
Ley,
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tumslose Individuen und beraubt sie von Eigentum an unentwickelten Produktivkräften, wenn sie Bedarf an Arbeitskräften hat. So wird in der Regel formuliert. Der Zusammenhang ist aber komplizierter. Wenn sich zunächst überhaupt durch Arbeitsteilung und das Vorhandensein von Städten Geldwirtschaft ausbreitet, sieht sich die Aristokratie häufig veranlaßt, ebenfalls eine Produktion zu beginnen oder ihre Produkte, über die sie verfügt, zu Geld zu machen. Sie beginnt, die Arbeitsproduktivität auf dem Lande zu heben oder durch Pächter zu Geld zu kommen, die ihrerseits höhere Arbeitsproduktivität durchsetzen. Nur in denjenigen Ländern entwickelt sich die Industrie schnell und kontinuierlich, wo sich die Aristokratie oder der niedere Adel auf die Geldwirtschaft einstellen. Damit werden aber auf dem Lande Menschen überflüssig. Da sie sich nicht von alleine aus der Hörigkeit entfernen, falls sie nicht zu revolutionieren versuchten oder vom Lande freiwillig flüchten, werden sie davongetrieben. Die Städte entstanden durch freiwilligen Zustrom vom Lande, indem die Grundbesitzer zunächst ihrer Arbeitskräfte durch diesen freiwilligen Akt beraubt wurden. Später sind die Großgrundbesitzer bemüht, die auf ihrem Land als Hörige sitzenden Bauern loszuwerden. Im größten Umfang gelingt es England, durch eine Umstellung der Landwirtschaft auf Viehzucht sowohl Marktprodukte überhaupt zu erzeugen und schließlich Rohstofflieferant der aufkeimenden Textilindustrie zu werden. Der Prozeß geht bis vor das 13. Jahrhundert zurück, als zunächst England Rohstofflieferant für Flanderns Textilindustrie wurde. Der stärkste Hebel für die Freisetzung der Arbeitskräfte wird aber die Umstellung in großem Stil auf Viehwirtschaft und vor allem Schafzucht für die beginnende Wollindustrie. Jedenfalls erfolgt in jedem Lande, in dem sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelt, ein Prozeß der Loslösung der Bauern vom Lande, der mehr oder weniger gewaltsam vor sich geht, wobei der Adel sich unter dem gleichen Druck befindet wie der Bauer und die Bourgeoisie selbst. Die Potenz der Bourgeoisie wächst nur in dem Maße, wie sie die Arbeitskräfte für ihre Industrie findet und eventuell von außen, d. h. von außerhalb der Landesgrenzen, anzieht. Manche Länder haben zu ihrem Schaden nachgeholfen, wie aus den Hugenottenvertreibungen nach der Aufhebung des Edikts von Nantes ersichtlich ist. Aus Deutschland kamen protestantische Sekten nach Rußland, die dort allerdings nur in geringfügigem Umfang in die Industrie gelangten und meist Bauern blieben. Von gleicher Art ist die Aussiedlung protestantischer Sekten nach dem Balkan und Südosteuropa. Es gehört bei Bevölkerungsbewegungen stets auch die Gunst der Umstände dazu, damit freigesetzte Bauern tatsächlich zu Industriearbeitern werden können. Die innere Umschichtung erfolgt durch den technischen Fortschritt. Damit ist verbunden, daß die Arbeit sich vereinfacht und der Übergang von einer Beschäftigung zur anderen ohne Schwierigkeiten möglich wird. Die alte Gewohnheit von ein Leben lang gleich bleibender Beschäftigung haftet indes im Bewußtsein der Arbeiter. Indem die Industrie mit ihrem technischen Fortschritt wieder höhere Anforderungen an Psyche und Physis des Arbeiters stellt, entsteht damit ein neuer Unruheherd unter dem Proleta-
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riat, und dem Staat fällt die Aufgabe zu, die Umstellungen zu erleichtern und für neue Ausbildung zu sorgen. Der technische Fortschritt erfolgte in der kapitalistischen Gesellschaft am schnellsten in den zyklischen Krisen und im Krieg. In den zyklischen Krisen überleben jene kapitalistischen Eigentümer, die selbst bei starkem relativem Preisverfall oder horrenden Preissteigerungen von einzelnen Monopolprodukten imstande sind, rentabel zu produzieren. Damit werden zusätzlich zu konjunktureller Arbeitslosigkeit weitere Arbeiter freigesetzt. Dieses Moment ist aber zugleich ein dialektisches Moment der Überwindung zyklischer Krisen. In dem Zeitalter der ökonomischen Politik nach Keynes verdeckt die manchmal annähernd erreichte Vollbeschäftigung diesen Vorgang. Durch bürgerlich-staatliche Intervention, die im Monopolkapitalismus sich als möglich erweist, unterliegt die Freisetzung der Arbeiter einer Gesetzmäßigkeit, die theoretisch als ein Kampf gegen den sinkenden Trend der Profitrate erscheint. Ob die Automatisierung signifikant die absolute Anzahl der zur Arbeiterklasse gehörenden Individuen beeinträchtigt, verringert oder umstrukturiert, wird sich bis zur Durchindustrialisierung des Planeten Terra nicht ohne weiteres feststellen lassen. Marx spricht des öfteren von einer Lösung der Bewertung der industriellen Produkte von dem Messen durch gleiche Quanta an durchschnittlicher Arbeitszeit, wobei letzteres nur als statistisches Maß verstehbar ist. Damit ist offensichtlich aber das Abwerten (moralischer Verschleiß) durch den größeren Einfluß von wissenschaftlicher allgemeiner Arbeit und der größeren Bedeutung von Arbeitsvorbereitung gemeint. Auf lange Sicht nimmt die Gesamtzahl der Arbeiter zu, die im unmittelbaren Arbeitsprozeß stehen. Die Anzahl der Repräsentanten allgemeiner Arbeit wächst hingegen gegenwärtig relativ schneller als die Anzahl der Arbeitskräfte für spezielle Arbeit, obwohl deren absolute Zahl für lange Zeit beträchtlich größer bleibt. Der Anteil an Beschäftigten in den tertiären Berufen der Dienstleistung wird sich wahrscheinlich in den entwickeltsten Regionen beträchtlich vermehren und kann der unmittelbaren Produktionsarbeit den Rang ablaufen. Er bleibt indes auf diese bezogen und wurde von Marx nicht analysiert. Immer mehr orientierte sich Marx auf das Bündnis von revolutionierten Bauern mit der Arbeiterklasse ohne Rücksicht auf deren Anzahl, wie aus den Vorworten zum „Manifest" von 1882, 1883, 1890 hervorgeht. Eine örtliche Bauernrevolution sollte das Signal der proletarischen Revolution im Westen sein. Bei Hegel findet sich gelegentlich die Bemerkung, eine Revolution trete dann ein, wenn der vorhandene Staat die fällig gewordenen Reformen nicht selbst durchführe. Er verallgemeinerte damit den unterschiedlichen Charakter der Revolutionen in England und Frankreich. Marx setzt auf die Partei einer Arbeiterklasse, die vornehmlich sich im Bündnis mit den Bauern befinden muß. Er war der Ansicht, daß die Arbeiterklasse durch das Wachstum der Industrie zur absoluten Majorität der Bevölkerung wird, zum anderen aber, daß die industrielle Disziplin in erster Linie zu einer gesellschaftlichen Umwälzung befähigt. Die subjektiven Eigenschaften der Industriearbeiter sind ebenso hoch bewertet wie 13»
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ihr absolutes Wachstum. Der industriellen Disziplin ist aber gegenüber jeder anarchistischen Utopie die höchste Bewertung zugeordnet. Die objektiven Prozesse der Entwicklung der Industrie, die Arbeiterklasse erzeugen und auf die ehemalige Landbevölkerung und sonstige ins Proletariat herabgesunkene Schichten neue Eigenschaften übertragen, wirken nach der Vorstellung von Marx zusammen. Da die Entwicklung der Industrie eigentumslose Schichten erzeugt, sind diese die Grundlage für die Möglichkeit, staatliches gesellschaftliches Eigentum herzustellen, wobei das genossenschaftliche Eigentum als eine Übergangsform herausgestellt worden ist. Diese letztere Form hat sich erst in der Entwicklung des realen Sozialismus ergeben. Wenn die Annahme vorhanden ist, daß die Arbeiterklasse an Bedeutung verloren habe, dann wird in der Regel von dem Zustand der Arbeiterbewegung in einigen, aber nicht allen hochentwickelten kapitalistischen Ländern ausgegangen, in denen sich nur schwache kommunistische Parteien entwickelt haben. Dialektisch wird dagegen von der Entwicklung des spezifischen Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft auf den Umschlag in neue Eigentumsverhältnisse geschlossen. Da Hegel die Dialektik des Umschlagens von einer Qualität in eine andere Qualität zu einer der Grundlagen des Werdens in der Gesellschaft machte, ist die Interpretation von Marx die direkte Fortsetzung der von Hegel vorgefundenen und auf den Begriff gebrachten Prozesse. Im Verständnis von Marx gehört die Idee des gesellschaftlichen Eigentums zusammen mit einer Veränderung der Klassenherrschaft und der endgültigen Aufhebung der Exploitation in den Bereich der realen Möglichkeiten, die erst dadurch erkannt werden konnte, weil die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft diese Möglichkeit erschlossen hat. Die Organisierung einer Partei der neuen Klasse läßt die historische Möglichkeit in reale Wirklichkeit von Herrschaft umsetzen. Das theoretische Problem verbindet sich mit der Basis-Überbau-Theorie. Der Materialismus von Marx und Engels versteht sich nicht als Ökonomismus. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber unter vorgefundenen Umständen. Die in der materiellen Basis der Gesellschaft wirksamen Strukturen sind stets in der Hauptsache Produkt dieser Menschen, die in der Klassengesellschaft ein unterschiedliches Verhältnis zu den Produktionsmitteln besitzen, dem Boden, den Produktionsinstrumenten und den sonstigen Arbeitsmitteln. Der Sinn der Lehre vom Überbau besteht darin, die Beteiligung des ebenfalls in unterschiedlichen Klasseninhalt geteilten Bewußtseins zu betonen. Die Ideen besitzen für den Marxismus schon vor dem Brief von Friedrich Engels an Bloch eine wesentliche Bedeutung, da das Selbstverständnis der Lehre von Marx als wissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Entwicklung als einzige Grundlage dafür angesehen wird, dag die Arbeiterklasse sich eine von der bürgerlichen Gesellschaft konkret unterschiedene und gegensätzliche Position zu schaffen vermag. Ohne diese Theorie entstehe bloß, so Marx, gewerkschaftliches Bewußtsein, trade-unionistische Verhaltensweise. Die Konfrontation mit dem Kapitalisten führt zu einer Frontenbildung und zu heftigen Kämpfen, Klassenkämpfen, die 196
aber nicht von sich aus in eine Herrschaft der Arbeiterklasse umschlagen. Die Wissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung ist nach Marx berufen, zum Inhalt des theoretischen Gewissens der Partei der Arbeiterklasse zu werden, die damit die theoretisch gewonnenen Grundkenntnisse entsprechend den jeweiligen Bedingungen in konkretes historisches Ereignis umsetzt. Es sind Ereignisse, die in einem Feld von Möglichkeiten auftreten können und entscheidend den Willen beanspruchen. Ohne den Klassenwillen treten die entsprechenden Ereignisse nicht ein, wozu kommen muß, dag die herrschende Klasse sich selbst als unfähig erweist, Widerstand zu leisten. Der Einwand, daß aus historisch zufälligem Geschehen kein Ereignis entstehen könnte, in dem sich der Umschlag der Machtstrukturen ergebe, vernachlässigt einige erkenntnistheoretische Sachverhalte, die im gesellschaftlichen Prozeß in seiner Totalität und in mikrosoziologischen Erscheinungen nicht minder relevant sind. Die alte philosophische These von dem Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem erwies sich seit der griechischen Antike als Merkmal der Unterscheidung von Materialismus und Idealismus. Wie bekannt, nimmt der dualistische Idealismus an, dag das Allgemeine eine getrennte Existenz von dem Einzelnen vor den Sachen besitze. Monistische Philosophie verweist auf die Einheit von Einzelnem und Allgemeinem. Die Folge dieser Konzeption ist es, den Unterschied von Allgemeinem und Einzelnem ernster zu nehmen und andererseits ebenso die Einheit. Das gleiche Allgemeine verwirklicht sich, rein epistemologisch betrachtet, in verschiedenem Einzelnen. Das Beispiel war auch für Leibniz zutreffend, der betonte, es gebe niemals zwei völlig gleiche Blätter eines Baumes der gleichen Art. Gesellschaftlich heißt das im vorliegenden Zusammenhang, daß das Durchsetzen bestimmter Ergebnisse historischer Entwicklung das mögliche Allgemeine in Wirklichkeit umwandelt. Wird aber Möglichkeit zu Wirklichkeit, dann heißt das in philosophischer Sprache, daß eines der möglichen Ereignisse auch tatsächlich realisiert worden ist. Wirklichkeit hat stets Ereignischarakter, worin sie auch bestehen möge. Ob nun dieses bestimmte Ereignis sich als Resultante ergibt oder einer Regelmäßigkeit entspricht, in der sich ein stationärer Zustand mit Übergangswahrscheinlichkeit ergeben hat, ist von dem betreffenden Sachverhalt abhängig. In gesellschaftlichen Prozessen von Resultante zu sprechen, ist jedenfalls ungenau, da euklidische Geometrie nicht für die Gesellschaft zuständig ist. In mikroökonomischen Prozessen aber ist bekannt, daß beliebige Prozesse auch dann angenähert oder approximiert werden können, wenn eine niedrigere Stufe mathematischer Entsprechung Verwendung findet. Der Vergleich mit einer Resultante ist demnach eine solche Approximation. In gesellschaftlichen Vorgängen bilden sich die Strukturen erst heraus, in denen sich Entwicklung vollzieht. Unter keinen Umständen gibt es gesellschaftliche Vorgänge, in denen keinerlei Beteiligung menschlicher Aktion vorliegt. Die Unabhängigkeit von Strukturen geht daraus hervor, daß die Vielfalt der menschlichen Willen sich in Wirkungsweisen kondensiert, in denen alle beteiligten Bedingungen des Ver197
gangenen und Gegenwärtigen eingegangen sind. Deshalb betont Hegel bereits die Eigenständigkeit der in der Geschichte sich äußernden „Vernunft', die materialistisch gelesen erst recht ihre Objektivität gegen die subjektive Zufälligkeit durchsetzt, obwohl und gerade weil sie aus der subjektiven Zufälligkeit entsteht. Im Grunde liegt bei den neueren Debatten wieder die Annahme von Rickert vor, das historische Ereignis begründe seine Einmaligkeit auf dem gesellschaftlichen Charakter der betreffenden Erscheinung. Der Dualismus zwischen Naturwissenschaft und Soziologie oder der Wissenschaft von der Gesellschaft ging von Rickert auf Lukäcs und andere über. Die unendliche Verschiedenartigkeit der Wirkungen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft selbst wird in der idealistischen und mechanistischen Philosophie zu einem Grund, um ebenso die Unmöglichkeit des wechselseitigen Beeinflussens von Ökonomie und Bewußtsein, von gesellschaftlicher Basis und den verschiedenen Arten des gesellschaftlichen Bewußtseins zu behaupten. Dualismus wirkt sich sowohl in idealistischer wie auch in materialistischer Position aus, wenn die Dialektik der allseitigen Wechselwirkung unbegriffen bleibt. In der Regel gehen die daraus resultierenden mechanistischen Vorstellungen aus einem Unverständnis moderner Naturwissenschaft hervor, soweit es sich um materialistische Ansätze handelt, oder aus einem Existentialismus wie dem Jean-Paul Sartres. Insofern läßt sich sagen, daß Hegel durch seine Konzeption der Einheit von Notwendigkeit und Zufall in der Gesellschaft dem Verständnis der modernen Naturwissenschaften mehr vorgearbeitet hat als der mechanistisch denkende Holbach. Für die Praxis der Arbeiterklasse und das Verwirklichen der Theorie bedeutet der Verzicht auf eine die Totalität der Gesellschaft umfassende Analyse ein Unverständnis für die wechselseitigen Prozesse, die den gesellschaftlichen Prozeß des Klassenkampfes und der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen überhaupt bestimmen. Die dialektische Selbstverständigung ist nach Eduard Bernstein immer noch beeinflußt durch den nachhaltigen Einfluß von Heinrich Rickert und dem Neopositivismus, die gemeinsam das Vorhandensein von Gesetzen in der Gesellschaft bestreiten und die mathematische Behandlung gesellschaftlicher Prozesse lange Zeit ebenso hinderten wie Norbert Wiener, der meinte, es gebe keine hinreichend langen Beobachtungsreihen in gesellschaftlichen Prozessen, die als konstant aufzufassen seien. Im Gegensatz dazu hat Gaston Bachelard bereits 1934 aus seiner Analyse moderner naturwissenschaftlicher Resultate erkenntnistheoretische Prinzipien formuliert, die dialektischem Denken wesentlich näher stehen als solche Auffassungen, die sich über die Art gesellschaftlicher Ereignisse und ihre Verflochtenheit mit dem Willen nicht recht einig werden können oder meinen, die individuelle psychologische Situation des Menschen sei mit den gesellschaftlichen Strukturen nicht in Beziehung zu setzen. Gelegentlich schreibt Bachelard: „Das einzige dem Wissenschaftler übrig bleibende Mittel besteht darin, das Axiom von Allem und Keinem zu bestreiten, d. h. aufzuhören, in sich kontradiktorisch widersprechenden lernten zu sprechen, was er tatsächlich vollzieht. 198
,wenn er sich der Doktrin des Indeterminismus verschreibt' (zitiert nach Peter A. Carmichael). Es handelt sich darum, diese metaphysische Kontradiktion zu transzendieren. In Wirklichkeit ist sie gemildert durch Vermittlung des Begriffs der Wahrscheinlichkeit. Nun ist die Logik der Wahrscheinlichkeit weit davon entfernt, vollständig konstituiert zu sein, und das Axiom von Allem und Keinem, das für die Komposition von Objekten gilt, läßt sich nicht ohne Vorbehalt auf zusammengesetzte Wahrscheinlichkeiten anwenden."13 Aus einem verfehlten Anwenden der formalen Logik auf empirische Sachverhalte entsteht die Vorstellung, daß vorhandene Strukturen nicht in neue durch einen Bruch überzugehen vermöchten, da die vorherigen mit den neuen Strukturen keinen unmittelbaren Zusammenhang haben. Für die Entdeckung von Entwicklungsstrukturen gilt der gleiche Sachverhalt in Mikro- und Makrodimension. Gelegentlich versichert Althusser, Marx habe sich gerade hinsichtlich einer genaueren Analyse der Klassen ausgeschwiegen.14 Michel Foucault besteht nicht auf dem Vorweisen einer Definition, sondern erwähnt keineswegs ablehnend in seiner Einführungslektion am Collège de France von Ende 1970 die emphatische Würdigung Hegels durch Jean Hyppolite, die auf Grund der zuvor publizierten Arbeiten Foucaults kaum zu erwarten war, und erwähnt als Produkt der Hegelschen Philosophie die Erkenntnis der Stellung des Individuums in einer Gesellschaft sozialer Klassen inmitten von Kämpfen.15 Marx sei dadurch mit den Fragen der Geschichte konfrontiert worden16, wobei zugleich der Einfluß Hegels auf Fichte, Bergson, Kierkegaard, Husserl und Jean Hyppolite vermerkt ist. Seit den Zeiten Hegels beginnen für Foucault die gegenwärtigen sozialen Klassen zu existieren und gelten für jede weitere Ausprägung der Gesellschaft als Merkmal. Er bringt Hyppolite und seinen Einfluß auf Frankreich auf die Formel: nach Hegel könne man nur mit ihm oder gegen ihn philosophieren, und er fragt, ob jedes Denken, wo es nicht an Hegel orientiert sei, notwendigerweise unphilosophisch sein müsse. Nietzsche, Artaud und Bataille dienen Foucault andererseits als richtungsweisende Zeichen.17 Daß sich Marx ausgeschwiegen habe, meint Foucault nicht. Im Verfolg der 13 G. Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, Paris 1960, S. 114: „Le seul moyen laissé au Scientiste est de nier l'axiome de omni et nullo, c'est à dire de parler en termes contradictoire . . ., et c'est ce qu'il fait .quand il souscrit à la doctrine de l'indéterminisme' (cité de Peter A. Carmichael). C'est cependant, cette contradiction métaphysique qu'il faut transcender. En réalité, elle est tempérée par l'intermédiaire de la notion de probabilité. Or la logique de la probabilité est loin d'être constituée et l'axiome de omni et nullo qui vaut pour les compositions d'objets ne s'applique pas sans réserve à des probabilités composées." 14 L. Althusser, Das Kapital lesen, a. a. O., S. 114 ff., 192 ff. 15 M. Foucault, L'ordre du discours, Leçon inaugurale au Collège de France prononcés le 2 décembre 1970, Paris 1971, S. 72-80. 16 Ebenda, S. 79. 17 Ebenda, S. 22/23.
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spätbürgerlichen Ideologie lenkte sich sein Interesse auf ein anderes Gebiet, das den Klassen fern zu sein schien, aber einen besonderen Typus von Klassenideologie repräsentiert, der nicht dazu dient, das Loslösen des Proletariats von herrschender bürgerlicher Ideologie zu betreiben. Die Marxsche Theorie vom Klassenkampf bezieht sich auf den historischen Prozeß, in dem Klassen entstehen, die Grundlage der Klassenbildung in der Ausbeutung auf Grundlage der Eigentumsverhältnisse, die Voraussetzungen der Überwindung antagonistischer Klassengegensätze und schließlich auf die nichtantagonistischen Klassen im Verlauf der Entwicklung in den zwei Phasen des Kommunismus. Lenin skizzierte in seiner Abhandlung über Karl Marx, geschrieben von Juli bis November 1914, die Funktion der Lehre vom Klassenkampf und den Klassen, so daß diese hervorragende Darstellung hier nicht noch einmal nachvollzogen zu werden braucht. Als Ergebnis kann gelten: „In einer Reihe von historischen Schritten . . . gab uns Marx glänzende und tieigreiiende Musterbeispiele der materialistischen Geschichtsschreibung, der Analyse der Stellung jeder einzelnen Klasse und mitunter verschiedener Gruppen oder Schichten innerhalb der Klasse und wies augenfällig nach, wie und warum ,jeder Klassenkampf ein politischer Kampf ist. Der von uns angeführte Auszug illustriert (aus dem ,Kommunistischen Manifest' - H. L.), welch kompliziertes Netz von gesellschaftlichen Verhältnissen und Übergangsstufen von einer Klasse zur anderen, von der Vergangenheit zur Zukunft Marx analysiert, um die Resultante der historischen Entwicklung festzulegen.*18 Der grundlegende Unterschied zu Hegel besteht in der Analyse der Gesellschaft zu dem Zweck, aus der Geschichte abzuleiten, wie sich in der Arbeiterklasse die Eigenschaften bilden, die sie zur herrschenden Klasse befähigen, und welche Potenz Klassenauseinandersetzungen in der Vergangenheit und Gegenwart überhaupt auszuweisen hatten, um die Entwicklung der Gesellschaft selbst und die Theorie über die Gesellschaft zu beeinflussen. Die Analyse der „Pariser Kommune" ist dafür das Musterbeispiel und wird von Lenin der Vorbereitung und erfolgreichen Durchführung der Oktoberrevolution zugrunde gelegt, wie „Staat und Revolution" ausweist. Der Unterschied der Blickrichtung von Hegel und Marx bestimmt den konkreten Charakter der anwendbaren Arbeiten, in denen das Industrieproletariat und dessen Bedürfnisfähigkeit ihre Darstellung fanden. Die Klassentheorie von Marx ist indes nicht einfach aus den politischen Ereignissen abgelesen und gedeutet. Vielmehr erweist sich die Untersuchung der kapitalistischen Ökonomie als das Mittel, den in England damals am weitesten ausgereiften Prozeß der Konfrontation von Industrieproletariat und Kapital sowie das Eindringen des Kapitals in die Landwirtschaft als allgemeingültigen Vorgang zu bestimmen, der sich notwendig - einmal begonnen - über die ganze Erde ausdehnt und die tradierten Klassen auflöst, umwandelt, in das Proletariat hineinschleudert oder sie veranlaßt, sich in Vorwegnahme künftiger Inter18 W. I. Lenin, Karl Marx, in: Werke, Bd. 21, a. a. O., S. 47/48.
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essen auf die Arbeiterklasse zu orientieren. Da das Vorhandensein von Übergängen zwischen den Klassen vorausgesetzt ist und empirisch durch Marx seinen Nachweis findet, wird ihm wesentlich wichtiger, genauer zu untersuchen, wie denn aus der in der Entwicklung des Kapitalismus erschlossenen Möglichkeit des Übergangs zur nichtantagonistischen Gesellschaft die neue Funktion des Proletariats als herrschende und bestimmende Klasse zu entstehen vermag und welche Aufgaben sich hinsichtlich der Entwicklung der Produktivkräfte ergeben, betreffs der Individuen, der Klasse und der Gesellschaft. Mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln sind die Voraussetzungen gegeben. Die „Pariser Manuskripte" skizzieren das Verhältnis von Industrie, Aufhebung der durch das kapitalistische Privateigentum erzeugten Entfremdung und dem Proletariat als der herrschenden und arbeitenden, selbstverständlich auch den» Prozeß planmäßig leitenden Klasse. Der junge Marx umreißt bereits - in einer im übrigen noch nach Ausdruck ringenden Terminologie - die Konstanten des revolutionären Prozesses, die keineswegs eine sich selbst erfüllende Voraussage bedeuten, dafür aber realisierbare Grundsätze darstellen. Das Unterordnen der eigenen gesellschaftlichen Zusammenhänge unter gemeinschaftliche Leitung erscheint Marx als die auf die Herrschaft des Kapitals folgende Epoche. 19 Mit dem Entdecken der ökonomischen Gesellschaftsformationen, auf deren Grundlage sich die von Hegel erahnten Folgen von progressiven Gestalten des Bewußtseins stützen, kommt Marx auf das Entstehen der Klassen. Das Ergebnis ist schließlich das Entstehen von Kapital und formell freier Arbeit, die als Lohnarbeit den Produktionsbedifigungen gegenübersteht. Ursprüngliche Akkumulation und Freisetzen der zuvor an alte Eigentumsformen, an den Boden oder das Handwerk gebundenen Individuen bestimmen die Bedingungen, unter denen das industrielle Proletariat als Gegenpol der die Produktionsbedingungen besitzenden Kapitalisten erzeugt wird. Da nicht in jedem Lande und zur gleichen Zeit die Auflösung früherer Gesellschaftsformationen in Kapital und Arbeit erfolgte, sondern die alten eingefrorenen Eigentumsverhältnisse erst zur Auflösung gelangten, nachdem an einer Stelle auf der Erde Geld zu Kapital und gebundener Werktätiger zum potentiellen Lohnarbeiter wurden, bleibt die Analyse der besonderen Bedingungen eine besondere Aufgabe. Marx unterzieht sich ihr in Andeutungen in den „Grundrissen" und befaßt sich eingehend im „Kapital" Band I mit den Voraussetzungen in den europäischen Ländern, die aus früher am Rande der alten Geschichte liegenden Gebieten zu Trägern der weiteren Entwicklung wurden. Es handelt sich um Länder, die von der Völkerwanderung vielfach überrollt wurden, von den Römern eine partielle Zivilisation erhielten, die der Völkerwanderung nicht standhielten, Mongolen und Araber wie Türken aber zurückzuschlagen vermochten oder durch die zufällige Gunst der Umstände verschont blieben, weil in ihren Territorien nichts zu holen war. Erfolgreicher Widerstand gegen die Normannen und die Wanderung 19 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 79.
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der Angeln und Sachsen nach England gehört in die Ereignisse der Völkerwanderung, die den eurasischen Kontinent mehr als anderthalb Jahrtausende in Bewegung hielt. In den Regionen, die bei gleichbleibender sozialökonomischer Struktur die gleiche Eigentums- und Klassengliederung beibehielten, erfolgte die Entwicklung über höchstens feudale Strukturen hinaus nicht, während das Frankenreich zum Kristallisationsgebiet der weiteren Entwicklung wird. Friedrich Engels schildert diesen Vorgang in seiner Arbeit „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats".20 Marx geht der Klassenentstehung in den „Grundrissen" nach. In der doppelten Untersuchung nach der Bewegung der Produktionsweise, der Produktivkräfte, des Eigentums liegt aber stets der Schwerpunkt auf den Eigenschaften der Individuen der verschiedenen sich ausbildenden Klassen. Marx faßt zusammen: „In dem Akt der Reproduktion selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z. B. aus dem Dort wird Stadt, aus der Wildnis gelichteter Acker etc., sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraus setzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache."21 Erschien für Hegel der Übergang von einer Stufe der Entwicklung zur nächsten als eine Emanation des Weltgeistes und der absoluten Idee, so untersucht Marx die Kommunikation zwischen Mensch, Natur und Mittel unter der Voraussetzung der ständigen Aktivität des Menschen innerhalb der Produktion, die die genannten Parameter verbindet. Grundsätzlich ist angenommen, daß die intersubjektiven Zielsetzungen das tatsächliche Handeln bestimmen, die Folgen in der Regel von ihnen abweichen und sich aus dem gesamten Komplex Einflüsse ergeben, die drei Möglichkeiten offen halten: Die Gesamtheit der Lebensbedingungen vermag konstant zu bleiben, zu zerfallen oder zu einer andern Stufe zu gelangen, in der sich so etwas ausbildet, das sich als Entwicklung bezeichnen läßt, wenn auf bestimmte Veränderungen reflektiert wird. Veränderung ergibt sich in einigem in jedem Fall selbst bei Konstanz der von Marx als wesentlich erachteten Bedingungen, nämlich durch den Zeitverlauf. Ein relativer Verfall ergibt sich, wenn Stammesgemeinschaften und Besiedlungsgebiete zu einer weiteren Stufe gelangen, aber andere den gleichen oder einen ähnlichen Schritt nicht tun. Marx betont generell die Aneignungsweise. Bloße Agrikultur erzeugt Konstanz der Gesamtverhältnisse. Zur asiatischen Produktionsweise gehört das Ergänzen der Agrikultur durch frühe handwerkliche Manufaktur, womit sich diese Aneignungsweise einer der ersten Klassengesellschaften noch länger stabil erhält.22 20 F. Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW, Bd. 21, a. a. O., S. 149. 21 K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 394. 22 Ebenda.
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Die von Marx empirisch erfaßten Veränderungen entstehen aus der einfachen Reproduktion. Sie intendiert auf Wiederholung, kann aber die objektiven Bedingungen in einer unterschiedlichen, aber oft lange dauernden Zeit verändern. Davon erfaßt sind die objektiven Lebensbedingungen und die Produzenten. Marx zählt auf: Heraussetzen neuer Qualitäten, Entwicklung und Umgestaltung durch die Produktion, neue Kräfte, neue Vorstellungen, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse, neue Sprache. Aus jeder der Veränderungen ergeben sich Merkmale, die sich als Kennzeichen des Ablaufs deuten lassen. Sie schalten sich nicht etwa gegenseitig aus, sondern beeinflussen sich. In Hegels Konzept liegt eine Vorherbestimmtheit insofern vor, als die absolute Idee als bereits fertig angenommen ist und die vom Menschen zu erkennende Herauswicklung gleichsam enthüllt. Marx hingegen begreift die Wechselwirkung zwischen den Einflußfaktoren während der Existenz des Menschen als stochastisch und gesetzmäßig, Entwicklung als notwendiges, aber zeitlich unbestimmtes Resultat. Als Maßstab gelten die Produktivkräfte, die Produktionsweise und die in der Produktion sich herausbildenden unterschiedlichen Verhältnisse. Die materiellen Produktivkräfte und die durch sie notwendig gesetzten Beziehungen gelten als Maßeinheit, die deutliche Unterscheidung gestattet. Äußere Einflüsse sind ausdrücklich zugestanden.23 Sie erzeugen Störungen, die das Individuum aus einfachen Gemeinwesen herausreißen und, wie Engels im „Ursprung" behandelt, in Entwicklung umschlagen können, aber nicht müssen. Hinsichtlich der dialektischen Doppeldeutigkeit gesellschaftlicher Ereignisse betont Marx, daß schon bei den „Alten", d. h. in der Antike, die Manufaktur als Verderb erscheint. Sie bedeutet Entwicklung der produktiven Arbeit, erzeugt Lust, das Surplusprodukt auszutauschen. Resultat ist das Autlösen der Produktionsweise. Austausch und Verschuldung wirken ebenso.24 Als das Schwierigste für die Entwicklung erweist sich das Auflösen der aus dem Übergang von den frühgeschichtlichen Urgemeinschaften hervorgegangenen Produktionsweisen der ersten Klassengesellschaften. Sie zeichnen sich durch das Hervorbringen eines Surplusproduktes aus, eines Mehrertrags, der Ausbeutung und alle die von Marx aufgezählten Ergebnisse zeitigt. Die zufällige äußere Einwirkung zerreißt indes erst die Fesseln des neu entstandenen Gemeinwesens, in die der Einzelne eingebunden ist, vollständig und unterstützt die inneren Erscheinungen, die den Be23 Ebenda. 24 Ebenda: „Bei den Alten erscheint die Manufaktur schon als Verderb (Geschäft der Libertini, Klienten, Fremden) etc. Diese Entwicklung der produktiven Arbeit (losgelöst von der reinen Unterordnung unter die Agrikultur als häusliche, Freienarbeit, die nur für Agrikultur und Krieg bestimmte, oder auf Gottesdienst, und Gemeinwesen - wie Häuserbau, Straßenbau, Tempelbau - gewandte Manufaktur), die sich notwendig entwickelt durch Verkehr mit Fremden, Sklaven, Lust das Surplusprodukt auszutauschen etc., löst die Produktionsweise auf, auf der das Gemeinwesen beruht und daher der objektive Einzelne, i. e. als Römer, Grieche etc. bestimmte Einzelne. Der Austausch wirkt ebenso; die Verschuldung etc."
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troffenen als Verderb gelten, aber Entwicklungsmomente sind. Mit dem Unterscheiden von objektiven und subjektiven Bedingungen, die gemeinsam der Entwicklung unterliegen, die die einfache Reproduktion hervorbringt, analysiert Marx das Entstehen der Klassen, Gruppen und Schichten, die aus dem Verderb der alten Gesellschaft ein neues Produktionsverhältnis entstehen lassen können. Die gegen den Willen der Beteiligten entstandenen neuen Bedingungen müssen indes notwendig auf Gruppen und Klassen treffen, die ihrerseits subjektiv die objektiv veränderte und entwickelte Situation ausnutzen. Vom Gattungswesen, Stammeswesen, Herdentier, das noch nicht in aristotelischem Sinne politisches Tier ist 25 , entsteht allmählich ein Vorgang, der innerhalb der Gesellschaft Vereinzelung erzeugt, das Individuum hervorbringt: „Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung. Er macht das Hürdenwesen überflüssig und löst es auf." 26 Lassen frühe Stufen der Gesellschaft die Zugehörigkeit zur Klasse, Schicht, Gruppe als festgeronnen erscheinen und fixieren sie empirisch belegbar über lange Zeit, d. h. mehrere Jahrtausende, über den Generationswechsel hinweg, an bestimmte, sich kaum verändernde Produktionsbedingungen, so ergeben sich alle Vorgänge der Auflösung als progressiv auf lange Sicht hin. Nicht aus dem relativ unveränderlich gehaltenen Oströmischen Reich ergab sich der Zugang zu dem, was Hegel bürgerliche Gesellschaft nannte, sondern aus dem von der Völkerwanderung überfluteten Weströmischen Gebiet, das die sehr unterschiedenen Stammesgesellschaften aufnahm und sich im Laufe von Jahrhunderten verjüngte. In der Klassentheorie von Marx sind die Voraussetzungen der Analyse, daß der Mensch als Kollektivwesen und innerhalb der Gesellschaft neue Eigenschaften gewinnt. „Neu" heißt dabei eine Eigenschaft, die zuvor nicht vorhanden war. Es sind nicht tradierte, sondern hinzugewonnene Fähigkeiten, die auch nicht als vererbt zu bezeichnen sind. Soweit es sich nach den Ergebnissen der Verhaltenswissenschaften um vererbte Anlagen handelt - und der Einsatz von kybernetischen Regelungsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft setzt nicht die Genetik außer Kraft - , wirken sie über weite Strecken konstant. Sie wirken auf jeden Fall langfristiger, als selbst relativ unveränderliche Produktionsweisen Eigenschaften stabilisieren. Als historisches Produkt bezeichnet Marx die Loslösung von den naturwüchsigen Bindungen innerhalb der Gesellschaft, die selbst bereits Ergebnis der Entfaltung der Produktionsweise sind, dazu aber außerdem die Entgegensetzung von Produktionsbedingungen und gesellschaftlichen Individuen. Da jede Entfaltung der materiellen Mittel im gleichen Zuge neue Eigenschaften der Individuen hervorbringt, gehört zu den späteren, nämlich den gegenwärtigen Ergebnissen, daß als weitere Stufe diese Trennung wieder aufzuheben notwendig wird. Die freien Individuen als spezifische Klassen der bürgerlichen Gesellschaft machen erforderlich, die aus sich herausgestellten Produktionsmittel 25 Ebenda, S. 395/396. 26 Ebenda, S. 396.
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-wieder unter Kontrolle zu bekommen, um sie weiterzuentwickeln, nicht um die Verhältnisse der Alten wieder einzuführen. 27 In dem doppelten Aspekt von Marx erscheint Technik stets als Moment gesellschaftlicher Sachverhalte und insofern eng mit den Ergebnissen Hegels verbunden. Abgesehen von der von Hegel oder Marx verwendeten Terminologie bedeuten das Herausstellen der Produktionsinstrumente und das ambivalente Verändern der natürlichen Produktionsmittel Momente des Progreß' und der Auflösung des je vorgängigen Produktionsverhältnisses einschließlich der verschiedenen Formen des Bewußtseins. Da die Produktionsinstrumente als Momente der Entäußerung aufgefaßt sind, läßt sich aus ihnen das bewußte Moment nicht entfernen. Die Debatte, ob es sich bei Wissenschaft um eine der Formen des Bewußtseins handelt, entsteht im Grunde genommen bloß von idealistischem und undialektischem Standpunkt aus. Einmal bezieht sich das Bewußtsein nur auf das gesellschaftliche Verhältnis, in das die Individuen, ihre Tätigkeiten und Produkte eingeschlossen sind. Soweit es sich um Wissenschaft handelt, sind die unreflektierten Fähigkeiten eingeschlossen, soweit sie als Abbildung und Entwurf der objektiven Realität angehören. Einbezogen ist das noch nicht erkannte Material der Objekte, die zu Produktionsinstrumenten werden. Ohne Bezug auf die materielle Basis der Gesellschaft sind auch die anderen Formen des Bewußtseins nicht existent. Sind also die entäußerten Mittel Grundlage der Produktion des gesell-' schaftlichen Individuums, der Gesellschaft, der Klassen und Schichten, so nicht minder der Veränderung der Technik und der Beziehungen zu ihr. Soweit sich die Produktionsmittel nicht weiter entwickeln, hört nach der Theorie von Marx die Entwicklung auf. Unerheblich ist dabei, wie weit die gesellschaftlichen Individuen diesen Vorgang bewußt abstoppen. Da nicht die Absicht, sondern die Bedingungen als entscheidend herausgestellt sind, so bedingen die einen Produktionsverhältnisse Stagnation, die anderen Progreß und setzen diesen hinter dem Rücken der Beteiligten durch, soweit dieser nicht durch die Struktur der Gesellschaft und durch Bewußtsein eine Unterstützung findet. Hegel läßt das Überspringen der Entwicklungsstimulation von einer Bevölkerung auf eine andere unerklärt. Marx macht es an den Bedingungen fest, deren Auflösung und Neu27 Ebenda: „Alle Formen (mehr oder minder naturwüchsig, alle zugleich aber auch Resultate historischen Prozesses), worin das Gemeinwesen die Subjekte in bestimmter objektiver Einheit mit ihren Produktionsbedingungen, oder ein bestimmtes subjektives Dasein die Gemeinwesen selbst als Produktionsbedingungen unterstellt, entsprachen notwendig nur limitierter, und prinzipiell limitierter Entwicklung der Produktivkräfte. Die Entwicklung der Produktivkräfte löst sie auf und ihre Auflösung selbst ist eine Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Es wird erst gearbeitet von gewisser Grundlage aus - erst naturwüchsig - dann historische Voraussetzung. Dann aber wird diese Grundlage oder Voraussetzung, selbst aufgehoben oder gesetzt als eine verschwindende Voraussetzung, die zu eng geworden für die Entfaltung des progressiven Menschen. .
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formierung, wobei aber das Notwendige und das Zufällige genuin einbezogen sind. Damit verliert die gesellschaftliche Entwicklung die bei Hegel noch vorhandene Vorherbestimmtheit und ist der menschlichen Gesellschaft und ihren' Klassen überantwortet. Wie weit ein Interesse an dem Entwickeln der Produktivkräfte vorliegt, wird in der Theorie von Marx zu einem Brennpunkt der menschlichen Geschichte. Es gehört zum Selbstverständnis der Natur, das sich im gesellschaftlichen Bewußtsein herausarbeitet. Soweit es nicht in dem oppositionellen oder herrschenden Bewußtsein seinen Platz erhält, vollzieht sich die Veränderung der Gesellschaftsformationen ohne das bewußte Zutun. Das Abfangen von Folgen, die die Gesellschaft und Entwicklungsbedingungen destruieren, erweist sich als ein immanenter Prozeß, dessen Erkennen als ein besonderes und wichtiges Erkenntnisprodukt erscheint. Insofern gehört zu den Produktivkräften auch die Analyse der Bedingungen, unter denen sich Klasse und Mittel wieder zusammenschließen, um zu verhindern, daß der Arbeiter und die mit ihm sich verbindenden Gruppierungen von Gemeinwesen verspeist werden.28 Trennen sich in der gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der nicht aufhebbaren Zusammengehörigkeit von Natur, Mittel und Individuum Objekt und Subjekt, so liegen die Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft vor, bei denen Hegel stehen bleibt. Marx hingegen untersucht im Gegensatz dazu die realen Voraussetzungen und die Struktur der künftigen Bedingungen, die sich in den vorhergehenden vorbereiten. Ohne die Untersuchung aber der Geschichte der Gesellschaftsformationen bleibt unverständlich, welche Funktion die Mittel besitzen, wie weit ihre übergreifende Wirkung reicht und ob sie eventuell irgendwann einmal auszuschalten seien und irrelevant würden. Für Hegel erhebt sich dieses Problem nicht, da er es für selbstverständlich hält, daß ohne sie nicht von menschlicher Gesellschaft zu reden ist. Da aber durch die bloße Bewältigung vorhandener Zustände im Bewußtsein, als kritische Kritik, keine Veränderung eintritt, war Marx gegen Bruno Bauer gezwungen, gerade diesen besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Dazu kam aber noch, daß Marx entdeckte, wie sich die neue Klasse zwar als Proletariat in der bürgerlichen Gesellschaft ausbildet, nicht aber schon Elemente der neuen Eigentumsverhältnisse. Da der Umschlag des Eigentums nicht aus der Gesellschaft herauswächst, ergibt sich die Notwendigkeit der Bewußtheit in bezug auf die Entwicklungsbedingungen und damit auch in bezug auf die Produktivkräfte. Als Einheit von Objekt und Subjekt verstanden, bedeutet das Wiederherstellen der Kontrolle über die Produktionsbedingungen, die früher ja gerade Grund der langfristigen Unveränderlichkeit der Gesellschaft waren, nicht die Rückkehr zu den gleichen Voraussetzungen. Anderenfalls müßten sich auch die Produktions28 Ebenda: „In der bürgerlichen Gesellschaft steht der Arbeiter z. B. rein objektivlos, subjektiv da; aber die Sache, die ihm gegenübersteht, ist das wahre Gemeinwesen nun geworden, das er zu verspeisen sucht, und von dem er verspeist wird."
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instrumente zurückentwickeln und die subjektiven Produktivkräfte entsprechend abbauen, wie an den verschiedenen Schichten vergangener Kulturen zu verfolgen ist. Als historische Aufgabe der Arbeiterklasse sah Marx die weitere Entfaltung der Produktivkräfte durch die gemeinschaftliche Kontrolle der Individuen über ihre Produktionsbedingungen und die Beherrschung ihrer eigenen gesellschaftlichen Zusammenhänge.29 Nennt man die Entwicklung der Produktivkräfte Emanzipationspotential, soweit sie auf die Abfolge progressiver Stufenfolgen wirken, so geht die Frage nach einer eventuell einsetzenden anderen Wirkungsweise der materiellen Technik an einem von Marx bereits angedeuteten Gesichtspunkt vorbei. Marx entdeckt die emanzipatorische Funktion der Arbeiterklasse und analysiert den gesellschaftlichen Zusammenhang, indem er generell Individuen der Gesellschaft und ihre Produkte, wie Subjekt und Objekt, schlechthin gegenüberstellt Löst damit das Proletariat ein anhängig gewordenes gesamtgesellschaftliches Problem, so bedeutet die Kontrolle der Produktionsbedingungen Verantwortung für weitere Entwicklung der Produktivkräfte. Hätte Marx verfehlt, die negative Funktion früheren Fortschritts zu untersuchen, dann wäre es durchaus sinnvoll, sich die Frage zu stellen, ob nicht etwa die Technik des späten 20. Jahrhunderts mit der sichtbar werdenden Ambivalenz etwas völlig Neues aufgeworfen hätte. Ganz im Gegenteil aber bringt die Dialektik, vornehmlich als materialistische, zum Bewußtsein, daß die Negation der Negation als Merkmal der Entwicklung überhaupt zu gelten habe. Schildert Marx den subjektiven Eindruck beim Aufkommen des Austausches und schon der älteren Formen der Manufaktur, also arbeisteilig organisierter Fertigung, als Verderb oder Verderben, so enthüllt er den Unterschied von subjektivem Eindruck und objektiver Wirkung. Indem sie als Verderb scheinen, dokumentieren sie die Momente der Auflösung und des Wachstums. Hält sich etwa Derrida an das merkwürdige Phänomen Rousseau, der nicht nur in Kunst und Wissenschaft, sondern schon in der Schrift den Beginn des Niedergangs zu erahnen meint, so erkennt Marx in der durchaus akzeptierten Erscheinung sowohl generellen Effekt wie Vorbedingung der Entwicklung. Ohne den Zusammenhang mit der Geschichte in ihren Folgebeziehungen zu durchdenken, bleibt Rousseaus Bedenken nichts anderes als ein Wiederholen der von Marx schon in früheren Perioden gefundenen Abneigung gegen die Veränderung in der Geschichte. Sie ist von Marx als ebenso generell gültig wie die Hegeische Veräußerlichung und Vergegenständlichung des Bewußtseins verstanden. Hat Hegel eine völlige Neutralität gegenüber der „Entäußerungsgeschichte", wie sie Marx nennt, so sieht Marx darin eine Triebkraft, die wegen ihrer emotionellen Wirkung über sich hinaustreibt. Im Gegensatz zur Metaphysik besitzt Dialektik den Charakter von produktivem Widerspruchsdenken und Berücksichtigen vorwärtsweisender Negativität, die in der Auflösung des Einen, der einen 29 Ebenda, S. 79.
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Ordnung, die Entwicklung des Anderen, der anderen Formation, ankündigt. Auflösen und Werden sind damit zusammengehörige Bestimmungen. Hegel sieht deshalb ohne nähere Erläuterung in der Vergegenständlichung eine Durchgangsstation, die auf jeden Fall in das Bewußtsein aufgehoben wird. Marx erkannte darin den Kampf der gesellschaftlichen Klassen, die die Eigentumsverhältnisse erzeugen. Ihre wechselseitige Negation aber ist als positives Moment verstanden, das sich in der Perspektive durchsetzt, zur revolutionären Umgestaltung der Ordnung führt oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen enden kann. So schildern Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest" diesen Vorgang, und Lenin zitiert es in seinem »Karl Marx". 3 0 Da sich die Gesellschaft deshalb ihrer Verantwortung nicht zu begeben vermag und auf sich ändernde, dem Fortschritt zugewendete Klassenbündnisse übergeht, gewinnt die Kenntnis der Dialektik an Gewicht. Bilden sich in der Gesellschaft entschiedene Abneigungen aus, deuten sie nicht nur auf überfällig gewordene Strukturen hin, sondern außerdem auf progressive Wachstumserscheinungen, die in sich die Möglichkeit tragen, sich durchzusetzen. Im Verständnis Hegels war es ausreichend, vom „Pflug" als Mittel nur im Hinblick auf eine - allerdings wichtige - Denkbestimmung zu sprechen, um den Sieg des Knechts über den Herrn näher zu bestimmen und abzuleiten. Marx benötigte die ökonomische Funktion der Technik in der gesamtgesellschaftlichen erweiterten Reproduktion, um die Bedingungen aufzufinden, unter denen tatsächlich gesamtgesellschaftliche Leitung der Produktion möglich wird. Mangelt es an dem Untersuchen von Basis und Überbau sowie der erweiterten Reproduktion, die der sozialistischen unter Herrschaft der Arbeiterklasse vorausgeht, dann bleibt der spätbürgerlichen Ideologie bloß das materielle Gerüst der Produktionsbeziehungen, an das sie sich hängt. Hatte Rousseau den philosophierenden Strukturalisten die Anregung gegeben, in Schrift und Sprache schon Entfremdung zu sehen, das entfremdete bürgerliche Bewußtsein als Dauererscheinung zu proklamieren, weil es Schrift und Sprache 31 gebe, so kann man noch eine andere Nachwirkung konstatieren. Rousseaus erkenntnistheoretisches Verhalten kritisiert, das Studium der Namen dem der Sachen zu substituieren. Unerörtert bleibe hier die von Piaton dem Sokrates zugeschriebene Meinung 32 , nach der anstelle des Studiums der Worte die Sachen nach ihrem Wesen zu studieren empfohlen ist. Konnte damit die Ideenlehre gemeint sein oder einfach das Erkennen nach Gesetzen, so war jedenfalls abgelehnt, bloß die Bezeichnungen als Grundlage der Erkenntnis zu nehmen. In Rousseaus nebenbei gegebenem Hinweis wird indes das Benutzen der 30 W. I. Lenin, Karl Marx, a. a. O., S. 46. 31 Engels vermerkt gelegentlich, Rousseau sehe bereits in der Sprache ein Verfälschen des Naturzustandes. Vgl. F. Engels, Anti-Dühring, in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 129. 32 Vgl. Piaton, Kratylos 427 E bis 440 E, c. 38 bis 44, ed. Otto Apelt, Leipzig 1918.
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Worte zu einem anderen Symptom, Verderb in der Entwicklung der Sprache zu diagnostizieren. Stehen Produktionsweise und Ordnung in Rede, dann genügen umgekehrt nicht die Dinge, sondern sind die Zusammenhänge erforderlich, die Beziehungen, die die Dinge unter sich eingehen und in die sie eingebettet sind. Hier liegt einer der Gründe vor, die Marx veranlassen, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Gesamtheit der Beziehungen in den Reproduktionsschemata und der Basis-Überbau-Gesamtheit als materiell aufzufassen. Erkenntnistheoretisch heifjt das, den vormarxistischen Materialismus um eine neue Dimension zu bereichern. Da sich im „Kratylos" Sokrates mit dem Problem befafjt, in der Erkenntnis die Individuen einer Klasse von Dingen in Begriffen gleichsam als ruhigem Abbild der Erscheinungen zu fassen, so handelt es sich zweifellos um ein der dialektischen Gruppe von Dialogen zugehöriges Werk. Aber Rousseau beschäftigt hier nicht die erkenntnistheoretische Seite der Angelegenheit, sondern der Aspekt undialektischer Negativität. Worte sind nicht als Begriffe verstanden, und das Erkennen, dessen Vorstufe das Bezeichnen sein kann, gilt als „gefährliches System".33 Nicht anders verhält es sich, wenn umgekehrt blofj die Sachen, also die materiellen Produktionsinstrumente in Gestalt materieller Technik, als nur gefährliche Objekte aufgefaßt sind und in Verdikt geraten. Das Dialektische Piatons ging in Hegels Dialektik ein und gestattete ihre Umstülpung in materialistische Erkenntnistheorie. Wie sich neuere spätbürgerliche Philosophie wendet, wenn sie sich mit Marx anlegt, verdeutlicht Niklas Luhmann.34 Gegen Hegel und. Marx bringt Luhmann vor, die Marxschen „Reduktionen", über die sich als erkenntnistheoretisches Phänomen auch Sokrates im „Kratylos" ausließ, seien vor ihrem Hintergrund zeitbedingte Konkretisierungen, die der Aufhebung verfallen könnten.35 Marx ist von Luhmann vorgeworfen, mit dem Selbstetikettieren als Materialismus und der Negation des transzendentalen Idealismus die eigene Bestimmbarkeit verloren zu haben.36 Da sich im Umschlagen von Hegels Idealismus in den Marxschen Materialismus ein dialektischer Umschlag manifestiert, so verfallen beide Ideengefüge der Kritik, als ob sich in ihnen nicht Bewegung der objektiven Realität in Gedanken niedergeschlagen habe und sich bereits in gesellschaftliche Realität umgesetzt hätte. 33 Vgl. J.-J. Rousseau, Essai sur l'origine des langues, Schlufjanmerkung von c. IV. (Untersuchung über den Ursprung der Sprachen). 34 Vgl. auch H. Ley/Th. Müller, Kritische Vernunft, Köln 1971, S. 234 bis 264. 35 N. Luhmann, Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 2, 1/1973, S. 31. 36 Ebenda: „Die Marxschen Reduktionen erscheinen vor diesem Hintergrund dann als zeitbedingte Konkretisierung, die selbst der .Aufhebung' verfallen können. Zu bewahren wäre dabei die Auffassung der Gesellschaft als eines sich selbst abstrahierenden, kategorisierenden, thematisierenden Sozialsystems, also die Negation einer gesellschaftsexternen Geistigkeit, eines transzendenten Bewußtseins, das sich selbst die Gesellschaft erklärt. Zu verzichten wäre auf Konkretionen, die dem historischen Moment und der polemischen Konfrontation verpflichtet waren, so
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Wie Marx demonstrierte, vermögen zeitbedingte Konkretisierungen der Aufhebung zu verfallen, was sich an Hegel aufwies. Der in den Konkretisierungen enthaltene Erkenntnisfortschritt aber geht bei dialektischer Aufhebung in die neue Theorie ein. Luhmann hingegen möchte nur den Begriff der Gesellschaft beibehalten und insofern die Dialektik der gesellschaftlichen Bewegung ausschalten, soweit sie sich an der Gesellschaftsformation und der in ihr sich ausdrückenden Evolution festmacht. Primat der Wirtschaft und materialistisch fundiertes System der Bedürfnisse erscheinen Luhmann zu den Konkretisierungen zu gehörend, die wegfallen sollten. Ohne die konkrete Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Klassen ist der Marxsche Materialismus tatsächlich nicht existent. Gerade die Klassen und die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse durch eine wissenschaftlich scheinende Reduktion wegfallen zu lassen, zeigt jene Form von philosophischem Idealismus, der nicht nur Marx, sondern selbst Hegel entbehren zu können glaubt. Die positivistische These, das Vordringen von Wissenschaft mache die weltanschaulichen Konzepte von Materialismus und Idealismus überflüssig, kommt durch Luhmann in neuem Gewände. Da gerade bei Luhmann Anstoß erregt, Marx betrachte Wirtschaft als die Substitution für das Ganze37, bleibt nicht zu verkennen, wie sehr die dialektische Analyse der Produktivkräfte durch Marx in engster Verbindung zu der Theorie von Basis und Überbau steht. In der materialistischen Geschichtsauffassung, eine von Friedrich Engels gegebene Bezeichnung, begründete Marx keine Theorie der „Wirtschaft". Die von ihm benutzten Denkbestimmungen gehen stets auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen. Ob sie damit dem transzendentalen Idealismus verpflichtet wären, braucht keiner ausführlichen Erörterung. In Hegel ist der Monismus Demokrits aufgehoben und kommt in Marx wieder auf einer Ebene zum Vorschein, die in Weltanschauung und Methode Natur und Gesellschaft berücksichtigt. Mit der klugen dialektischen Kategorie der Negation der Negation ist die Kontinuität ausgesprochen, die sich in dem Erscheinen neuer Gestalten anzeigt und die Verbindung zu dem Vorherigen dem denkenden Bewußtsein gegenwärtig macht. In seiner Analyse der Klassenentstehung und der Entwicklung der Gesellschaft bezeichnet Marx das Eigentum als das „Verhalten des arbeitenden (produzierenden) Subjekts (oder sich reproduzierenden) zu den Bedingungen seiner Produktion oder Reproduktion als den seinen".38 Wendet Luhmann ein, Eigentum sei auf Haben oder Nichthaben reduziert und deshalb sei das Beschränken der z. B. auf die Selbstetikettierung als Materialismus, die von der Negation des transzendentalen Idealismus lebt und mit diesem ihre eigene Bestimmbarkeit verloren hat; oder auf die Beschränkung der sozialen Kritik als bloße Kritik des Privateigentums, nachdem Eigentum nichts weiter mehr ist als die in jedem Geld-Code erforderliche Garantie eines binären Schematismus (Haben/Nicht-haben)." 37 Ebenda, S. 30. 38 K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 395. Marx unterscheidet an dieser Stelle übrigens asiatische, slawische, antike und germanische Form des Eigentums.
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sozialen Kritik am Privateigentum überflüssig 39 , so bleibt der als Kritik ausgegebene Formalismus nicht zu verkennen. Angewandte Entwicklungstheorie benötigt Begriffe verschiedener Allgemeinheit, wenn sie sich an die Sachen hält, ohne diese falsch zu isolieren oder zu typisieren. Sieht Luhmann bloß .binären Schematismus", so findet Marx darunter das empirisch analysierbare Verhältnis, in dem sich die wirkliche Geschichte erkennen läßt. Dialektischer Materialismus verlangt, weltanschaulich das konkrete geschichtliche Handeln zu beachten. Althusser stört der verschiedene Formationen zusammenfassende Begriff der Geschichte. Luhmann will einen Schematismus substituieren, in dem der Unterschied der Ordnungen, ihrer Eigentumsverhältnisse, Klassen und der weltanschaulichen Standpunkte entfällt. Nebenbei aber ist mit diesem Vorgehen belegt, wie notwendig es ist, auf die gesellschaftliche Kontinuität der Theorienentwicklung hinzuweisen, um den Verfall der spätbürgerlichen Ideologie zu thematisieren. Wenn Michel Foucault immerhin erwähnte, daß Jean Hyppolite die Frage sich erheben sieht, ob denn nach Hegel noch Philosophie möglich sei, so wäre festzustellen: Materialistische Philosophie und Dialektik bewahren vor dem Verlust des Gegenstandes der Wissenschaften und stören bürgerliche Philosophie, mit dem Stichwort »Reduktion" von der dem Kapital unangenehmen Wirklichkeit zu befreien. Betroffen ist davon natürlich die Klassentheorie von Marx, da sie in materielle Gewalt bereits umgeschlagen ist. 39
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N. Luhmann, Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems, a. a. O., S. 31.
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9. Vortrag
Ökonomie und Bewußtsein in der Geschichte
Im 19. Jahrhundert reflektieren Hegel und Marx über den historischen Prozeß von einem differenten Klassenstandpunkt, aber über eine identische Erscheinung der menschlichen Gesellschaft. Sie entdecken an einem unterschiedenen Objekt verschiedene Schichten und Strukturen, die sie zusammenfügen. Bleibt bei Hegel in seiner Identitätsphilosophie der Dualismus idealistischer Konzeption erhalten, so tendiert Marx auf eine umfassendere Totalität. Dialektischer und historischer Materialismus orientiert sich auf die Analyse des vergangenen und gegenwärtigen Geschehens, um das Zukünftige erkennen und bewältigen zu können. Sich auf das Kommende einstellen können, ist eine in der Geschichte bereits seit langem feststellbare Tendenz. Marx sieht die Aufgabe realistisch und realistischer als jede vorhergehende Philosophie, sei sie materialistisch oder idealistisch gewesen. Gemeinsam war der vormarxistischen Philosophie einschließlich der Religionen, die künftige Veränderung von Gesellschaftsformationen nicht zu berücksichtigen. Die Religionen entwarfen die menschliche Geschichte bis zu einem Weltende und bis zu einer künftigen spirituellen Existenz eines Jenseits, das in der Regel eine irrationale Abbildung des Diesseits war. Bei Hegel entfällt trotz seiner Konzeption einer absoluten Idee das Jenseits. Marx sucht sich an die Möglichkeiten zu halten, die der gegenwärtige in Bewegung begriffene Zustand der Gesellschaft bietet, um die der menschlichen Gesellschaft gegebene künftige Entwicklung der Gesellschaft zu prognostizieren. Hegels Entwicklungsschema endet bei der bürgerlichen Gesellschaft. Marx sagt die Herrschaft der Arbeiterklasse voraus und leitet deren Strukturen aus den Bedingungen der Entwicklung von Prozessen ab, die mit der industriellen Revolution in den begrifflich erfaßbaren Horizont des Geschichtsbewußtseins und der Einzelwissenschaften eingetreten sind. Es fragt sich, welche der beiden Theorien der Geschichte dem gesellschaftlichen Bewußtsein eine umfangreichere Funktion zugesteht. Der Materialist Marx entdeckte die Bedeutung der politischen Ökonomie für den gesamten Bereich der Gesellschaft. Hegel bleibt auf die Sphäre des Bewußtseins orientiert. In dieser paradoxen Situation stellt sich heraus, daß Marx der Funktion eines adäquaten Bewußtseins größeren Einfluß zugesteht, als Hegel dem mit der Idee in Übereinstimmung befindlichen Selbstbewußtsein zuzubilligen geneigt ist. Über die reale Zukunft dieser Welt keiner Aussage fähig zu sein.
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enthüllt die bei Hegel zurückgebliebenen mechanistischen Reste seiner Geschichtsphilosophie. Die Offenheit der Dialektik ist bloß auf die Vergangenheit bezogen, nicht aber auf das aktive Handeln der menschlichen Gesellschaft angesichts der weiteren Schritte der menschlichen Gesellschaft eingestellt. Marx bleibt angesichts der Zukunft dialektisch. Hegel stellt fest, daß die Philosophie über den offenen Horizont noch nicht eingetretener Ereignisse nichts zu sagen habe oder bloß in der leeren Spekulation zu bleiben vermöge. Aus der Theorie der Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit entstehen in der Hegeischen Philosophie nur verschwommene „Leitideen", die nicht in praktikable Maximen umzuschlagen vermögen. Einer der Gründe des unterschiedlichen Bezugs auf theoretisches Denken und gesellschaftliche, konkrete Praxis liegt in dem unterschiedlichen weltanschaulichen Fundament der Philosophie der beiden Denker. Hegel dehnt seine Theorie der Entwicklung nicht auf die Natur aus und bricht in dieser Hinsicht mit seinem Konzept der Einheit der Welt, die durch die absolute Idee vorgegeben sein soll. Marx überläßt die Naturdialektik zwar Friedrich Engels, obwohl er sich auch mit einzelnen Gebieten der Naturwissenschaften befaßt, hat aber die Vorstellung, Mathematik lasse sich mindestens auf die ökonomischen Grundstrukturen der Gesellschaft anwenden. Inzwischen ist die Entwicklung in den verschiedenen Bereichen der Natur als wesentliches Moment der Dialektik nachgewiesen und erfährt ständig weiteren Ausbau. Das Anwenden der Mathematik in der Gesellschaft belegt hingegen ein sehr weit reichendes weltanschauliches und methodologisch relevantes Faktum. Wie in der Physik besteht nicht bloß in den technisch und kaufmännisch interessierenden Gebieten der Gesellschaft die Möglichkeit der Quantifizierung, sondern ebenso in ökonomischen Grundstrukturen, die etwa die Ökonometrie als Instrument der Planung annähert, zu ihrer konsequenten Ausnutzung aber sozialistische Produktionsverhältnisse benötigt. Da Marx und Engels die Einheit der Welt in ihrer Materialität voraussetzen und diese Einheit der Welt, der Gesellschaft und der Ideen konsequenter als Hegel verfolgen, besteht für sie keine prinzipielle Trennung der verschiedenen Bereiche. Die Dialektik gilt als nicht bloß subjektiv. Weil die Dialektik objektiv als Eigenschaft aller Bereiche der Wirklichkeit genommen ist, gelten auch die gleichen allgemeinsten Kategorien des Denkens für alle diese Bereiche mehr oder minder umfassend. Die Anwendung der Mathematik auf die Totalität der Gesellschaft einschließlich aller z. B. in der Ökonomie vorhandenen subjektiven Entscheidungen, Entschlüsse und Haltungen ist eine der daraus abgeleiteten Folgerungen. Marx hatte deshalb hinsichtlich des Anwendens der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Gesellschaft weniger Hemmungen als die zeitgenössische und zum Teil auch noch die moderne Ökonomie verschiedener Schulmeinungen. Marx bezog sich damit aber nicht nur auf die Technik und technische Prozesse der Organisation der Gesellschaft. Er meinte die von der politischen Ökonomie behandelten Strukturen und Gefüge von Beziehungen. Daß es eine Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung gibt, impliziert für Marx unmittelbar 213
eine ebenso gesetzmäßige Beziehung zwischen Ökonomie und Bewußtsein. Unter vorgefundenen Umständen vermag deshalb nach Marx adäquates gesellschaftliches Bewußtsein Erkennen und gesellschaftliches Handeln miteinander zu verbinden und aktiven Einfluß auf die Veränderung und Entwicklung der Strukturen zu gewinnen, von denen das Bewußtsein selbst eine Teilerscheinung ist. Marx bezog in seine Theorie die in der Arbeit anfallenden Entscheidungen über künftiges Handeln als nicht unterhalb der Würde der philosophischen Reflexion ein und erweiterte sie über den unmittelbaren Entscheidungsbereich der einzelnen Personen und Gruppen bis zu einer die gesamte Gesellschaft betreffenden Aktivität. Hegel erschloß bloß einen kleineren Bereich, in den er allerdings auch das politische Handeln des Einzelnen und des Staates einbezog, die Ästhetik aber ebenso behandelte wie die Geschichte im allgemeinen, nicht aber die materiellen Strukturen, die ausgeschlossen blieben. Was nennt Hegel falsches und richtiges Bewußtsein? Er läßt in der „Phänomenologie des Geistes" das Bewußtsein durch die Arbeit zu sich selbst kommen. Als entzweites Bewußtsein1 ist das Werden repräsentiert. Falsches und richtiges Bewußtsein erweisen sich stets als Momente eines Prozesses, die jeweils bestimmten Phasen der Entwicklung des Bewußtseins adäquat sind und gegeneinander die höhere Stufe zu erzeugen vermögen. Deshalb läßt Hegel das Bewußtsein sich im Verhältnis zweier Extreme befinden.2 Innerhalb des Bewußtseins wird ein sogenanntes tätiges Diesseits mit dem anderen Bewußtsein einer passiven Wirklichkeit konfrontiert. Da Hegel das Werden des Bewußtseins beschreibt, durchläuft es stets Formen, in denen es die Wirklichkeit gegen sich hat, daran verzweifelt und sich schließlich einen höheren Inhalt aneignet, den es selber mit geschaffen hat. Das unglückliche Bewußtsein bleibt in Zweifel und Skeptizismus. Ober das tätige Diesseits entsteht eine neue Stufe des Werdens. Das Bewußtsein teilt sich nach Hegel stets in ein unglückliches und ein die Wirklichkeit antizipierendes Bewußtsein, ohne damit eigentlich je zu einem absoluten Wissen zu gelangen, obwohl es stets absolutes Wissen zu sein glaubt. In der „Phänomenologie des Geistes" schreibt Hegel deshalb in dem Abschnitt über das absolute Wissen: „Wenn in der Phänomenologie des Geistes jedes Moment der Unterschied des Wissens und der Wahrheit und die Bewegung ist, in welcher er sich aufhebt, so enthält dagegen die Wissenschaft diesen Unterschied und dessen Aufheben nicht, sondern indem das Moment die Form des Begriffs hat, vereinigt es die gegenständliche Form der Wahrheit und des wissenden Selbsts in unmittelbarer Einheit. Das Moment tritt nicht als diese Bewegung auf, aus dem Bewußtseyn oder der Vorstellung in das Selbstbewußtseyn und umgekehrt herüber und hinüber zu gehen . . ."3 1 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 156, 170. 2 Ebenda, S. 175. 3 Ebenda, S. 617.
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Der Wissenschaft der einzelnen Disziplinen ist damit die Geschichtsphilosophie entgegengestellt, die der Antizipation als fähig erachtet wird. Wissenschaft gilt jeweils als bloße Erfassung von Momenten. Hegel hat in dieser definitorischen Entscheidung einen Widerspruch in seiner Theorie, da die Philosophie selbst zur Wissenschaft werden und damit mehr als bloße Reflexion von Unzufriedenheit sein soll, die allein dem weder zur Philosophie noch zur Wissenschaft aufgestiegenen unglücklichen Bewußtsein zugeschrieben ist. Bloßes Wissen ist zwar für Hegel die höchste Form der Aneignung der Entfaltung des Geistes, in der Spannung zwischen Wissen und Wahrheit kommt es indes auch zur Kenntnis der Bewegung. Das Wissen selbst ist als scheinbare Untätigkeit bezeichnet, da damit der Geist den Begriff gewonnen hat.4 Falsches Bewußtsein entsteht im Werden und hebt sich in der Entwicklung des Bewußtseins auf, zu der historische Selbstverständigung gehört. Die Kritik von Marx trifft durchaus die Absicht Hegels, innerhalb des Bewußtseins zu bleiben, das sich bis zum absoluten Wissen steigert. Die Tätigkeit und die Arbeit bleiben abstrakt, wie in den „Pariser Manuskripten" von 1844 angemerkt ist. In der Theorie von Basis und Überbau sind die in der Arbeit erzeugten Objekte ebenso materielle Sachverhalte wie die Beziehungen der Klassen in der Produktion des gesamten Lebens. Daß die Ökonomie einen solchen Einfluß besitzt, ließ sich erst im Anschluß an Marx im einzelnen belegen. Inzwischen besteht an der Funktion der Ökonomie kein Zweifel mehr, wenn auch die von Marx daraus gezogenen Folgerungen von den Theoretikern der bürgerlichen Gesellschaft in der Regel unberücksichtigt bleiben. Dessen ungeachtet ist inzwischen charakteristisch, daß die zunächst gegen Marx gemachte Einwendung, zwischen den verschiedenen Schichten des Bewußtseins und der Ökonomie ließen sich keine Wechselwirkungen begründen und Vermittlungen untersuchen, praktisch trotz einiger Strukturalisten gegenstandslos wurde. 5 4 Ebenda, S. 616/617. 5 Erinnert sei an die von Guy Palmade edierten Arbeiten zu dem Thema: L'économie et les sciences humaines, Paris 1967, Bd. I und II. In der Sammlung Finance et économie appliquée gehört eine Selbstverständigung über die Beziehungen zwischen Ökonomie und den Humanwissenschaften zur gesellschaftlichen Tätigkeit und läßt sich aus dem Bereich der Anwendung nicht ausschliefen. Die dazu benötigte Disziplin wird Psychosoziologie und ökonomische Soziologie benannt. Robert Guihéneuf erwähnt Marx näher, er gibt eine kurzgefaßte Geschichte, die von Hobbes und Locke bis Mandeville reicht. Sie bezieht die großen englischen Ökonomen des 18. Jahrhunderts ein und leitet von Smith und Ricardo über Sombart und Schmoller bis zu den marginalistes und der schwedischen Schule hin, berücksichtigt Morgenstern und Neumann gebührend, geht von Max Weber und Vilfredo Pareto bis T. Parsons und C. Gini und stellt die Nutzenfunktion der allgemeinen Theorie von Heynes neben Rostow. Nach Georg Lukâcs heißt es zu Marx: „Déjà Marx avait établi des relations fondamentals entre l'activité économiques et les
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Die Verhaltenswissenschaften sind schon längst in die ökonomischen Untersuchungen einbezogen, um sie ebenfalls zum Zwecke verschiedener Voraussagen zu benutzen. Die Oberbauerscheinungen in der Definition von Marx und die sich ausbildenden Strukturen sind als eine der Grundlagen des gegenwärtigen bürgerlichen Anliegens aufgefaßt, einen tieferen Einblick in ökonomische Makround Mikroprozesse zu gewinnen. Für die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften ist dieser Aspekt höchst interessant, da von der anderen praktischen Seite her Fragen aufgegriffen werden, die theoretisch durchaus von den verschiedenen Parteien in den Geschichtswissenschaften und der Philosophie verschieden beurteilt werden. Die Ökonomie erweist sich als außerstande, ihre Probleme zu behandeln, ohne auf den übrigen Bereich gesellschaftlicher Erscheinungen einzugehen und sie als Bestandteil der Planungsversuche nichtsozialistischer Staaten zu behandeln. Da sich die Ökonomie in erster Linie mit Erscheinungen der Basis beschäftigt, bedarf es keiner Frage, daß man seitens der Disziplinen, die sich mit dem Überbau befassen, ebenfalls gründliches Eingehen auf die in der Basis sich vollziehenden Prozesse benötigt. Wird darauf verzichtet, läßt sich kein synchronisches und diachronisches Schema aufstellen, das die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Gebieten hinreichend behandelt. Mindestens vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart zeichnet sich deutlich eine enger werdende Verflechtung von Ökonomie und Bewußtsein ab. Marx gibt im „Anti-Dühring" von Friedrich Engels eine kurze Geschichte des ökonomischen Denkens. Von der englischen bürgerlichen Revolution des 17. Jahrhunderts unter Cromwell bis zur mathematischen Ökonomie des 20. Jahrhunderts läßt sich das Anliegen verfolgen, die Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit näher zu untersuchen, während in der Geschichtsphilosophie nach Petty, Vico und Marx das idealistische Geschichtsdenken vorwiegend Abstinenz zeigt und sich bestenfalls in die Kulturgeschichte verliert. Mit Luther, Calvin und Colbert aber läßt sich der Einfluß von prägenden Gestalten des Bewußtseins verfolgen, die von der Religion bis in die Politik den Bezug auf das konkrete Verhalten beibehalten. Auf der gegenständlichen Seite der Geschichte und der Formen des Bewußtseins bleibt es keine Frage, daß sich die unterschiedlichen Momente zusammenfügen, wenn es auch der Geschichte schwerfällt, sie zu rekonstruieren. Um so notwendiger erscheint es, auch historisch die Bahnen zu verfolgen, in denen sich die Beziehungen realisieren, und die Felder aufzuschließen, in denen sich die unterschiedlichen Anregungen der Basis und des Überbaus zusammenfinden. Falsches und adäquates Bewußtsein wirken auf die Basis der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse unterschiedslos ein, und es handelt sich zunächst um die Feststellung, daß keines der diverses manifestations de la vie sociale par une analyse fondee sur ces faits sociaux" (I, 24). („Schon Marx hatte fundamentale Beziehungen zwischen der ökonomischen Tätigkeit und den diversen Manifestationen des sozialen Lebens im Verlaufe einer fundierten Analyse jener sozialen Sachverhalte dargestellt.")
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vorhandenen Elemente aus dem Strom der Entwicklung der Gesellschaft ausschert. Der Geschichte bleibt herauszufinden, welchen Einfluß die verschiedenen Disziplinen des Bewußtseins ausgeübt haben und. gegenwärtig ausüben. Schaltet sich eine Disziplin oder eine Form des Bewußtseins freiwillig aus dem Geflecht der Wechselwirkungen aus, dann hat auch diese Abstinenz einen Einfluß, der für die praktisch betriebene Geschichte, für Politik, Technik und Ökonomie, für die Position der verschiedenen Klassen ihre Bedeutung besitzt. In den zwei Kulturen, die Snow entdeckte, zeigt sich, wie weit gegenwärtig die technischen Disziplinen samt den Naturwissenschaften von den Gebieten der Literatur, der Dichtung und manchen der schönen Künste entfernt sind und die zwei Kulturen, die Lenin in den Klassenauseinandersetzungen feststellte, zum Teil überdecken.; In dem Denken von Marx gibt es die Trennung, die Snow anmerkte, nicht Die von Bacon und Descartes ausgehende Philosophie kannte den von Snow vermerkten Pessimismus ebensowenig. In Hegels Ästhetik zeigt sich, wie die Elemente der Bewußtseinsanalyse anwendbar sind, um bestimmte Erscheinungen zu deuten und in einen erweiterten Zusammenhang einzuordnen. Nicht zu vergessen ist aber, daß Hegel über das Verständnis der Arbeit und des Herr-Knecht-Verhältnisses zu den Gestalten der „Phänomenologie des Geistes" gekommen ist. In Bemerkungen zu der mit Shakespeare einsetzenden Literatur finden sich die Sätze: „Daß das Böse, die innere Zerrissenheit zur Anschauung gebracht wird, gehört mehr der modernen Zeit an, ist mehr moderne Gräßlichkeit. . . Vorzüglich jedoch ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden, und hat einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zu Wege gebracht, in der sich Theodor Hoffmann z. B. wohlgefiel."6 Die innere Zerrissenheit entspricht dem Gegensatz von Herrn und Knecht, der bis in die Kunst ausgetragen wird. Er wird zur Anschauung gebracht, und Hegel sieht ihn lieber in der Abstraktion der Philosophie als in der Kunst. Gegen die Idylle aber hat er gelegentlich einzuwenden, sie berücksichtige nicht den realen Zusammenhang. Schildert etwa Voß den sanften Duft des Kaffees, so vermerkt Hegel, es fehle der Hinweis oder die Erinnerung an den gesellschaftlichen Prozeß, durch den Kaffee überhaupt zugänglich werde. Nach Hotho erörterte Hegel, Voß habe in seiner „Luise" einen Landpastor, die Tabakspfeife, den Schlafrock, den Lehnsessel und den Kaffeetopf eine große Rolle spielen lassen, Kaffee und Zucker aber seien Produkte, welche in solchem Kreise nicht entstanden sein können. Sie verwiesen auf einen ganz andersartigen Zusammenhang, auf eine fremdartige Welt und deren mannigfaltige Verwicklungen des Handels, der Fabriken, überhaupt der modernen Industrie. Jener ländliche Kreis sei demnach durchaus nicht in sich geschlossen. In Goethes „Hermann und Dorothea" gab es zwar auch eine Idylle, die großen Interessen der Zeit seien aber 6 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Ed. Glockner, Bd. 12, S. 302.
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berücksichtigt: die Kämpfe der Französischen Revolution, die Verteidigung des Vaterlandes spielten höchst würdig und wichtig hinein. 7 Hegel verlangt, bei der Analyse von Kunst die gesellschaftlichen Bedingungen zu reflektieren, wie es seiner Geschichtsphilosophie entspricht. Die Klassengegensätze sind angedeutet. Die großen Gegenstände der Ökonomie erscheinen als Prüfstein der Darstellung von Verhältnissen, bei denen sich Schein und Wirklichkeit in extremer Weise verdecken und verstellen. Die Idylle empfindet Hegel als Verleugnung der Wirklichkeit, für die er Fabriken und Handel als signifikant ansieht. Die zwischen 1823 und 1826 entstandene große Industrie verlangt er auch für deutsche Verhältnisse zu berücksichtigen und mindestens in der Kunstkritik als Maßtstab anzulegen. Erscheint Hegel das Böse als die eine Seite der Wirklichkeit, in der sich ebenfalls Ansätze des Denkens zeigten, so gehört es ebenso zur Realität wie das Abbilden einer falschen Idylle. Jedenfalls bringt Hegel die Beziehung zu einer konkret aufgefaßten Ökonomie und den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die er als Gegenstand der Kunst würdigt und notwendig empfindet. Hier gilt der gleiche Grundsatz, daß das Berücksichtigen wie das Vernachlässigen von Erscheinungen gleichermaßen charakterisiert und der Hintergrund von Kunst stets mitschwingt, ob dem Leser oder Betrachter die betreffenden Beziehungen zur Kenntnis gebracht werden oder nicht. Hegel hält es für widrig, wenn in der Kunst die physische Not in einem Extrem dargestellt werde. 8 Als Mittelposition zwischen dem Naturzustand und der vollkommenen Verwicklung des bürgerlichen Lebens erscheint ihm die Kunst am geeignetsten, was auf Hegels eigene gesellschaftliche Mittelstellung hinweist. Für ebenso widrig hält er aber, wenn etwa zu den Kunstwerken der Antike reflektiert werde, wieviel Sklaven für den Preis des Mantels der Pallas Athene hätten losgekauft werden können. Der Kunst ist von Hegel eine gesellschaftliche Funktion zuerkannt, bei der es gerade den Staaten zur Ehre gereiche, wenn sie für die Künste und alles, was damit zusammenhängt. Schätze hingeben, die über alle Not der Wirklichkeit verschwenderisch hinausgehen. 9 Da Kunstwerke nicht mit Gesellschaftstheorie identisch sind, bedeutet Hegels Überlegung den Versuch, die Künste als gesellschaftliche Erscheinung zu würdigen und vorzuführen, daß sich in ihnen etwas anderes darstellt, als in ihnen zum Ausdruck kommt, wenn sie bloß für sich genommen werden. Ein l'art pour l'art kennt Hegel nicht. Seine Geschichtsphilosophie verweist anläßlich seiner Ästhetik deutlicher auf die gesellschaftlichen Strukturen als die „Phänomenologie des Geistes" und „Logik", obwohl stets die konkrete Lebenstätigkeit gegenwärtig ist, auch wenn sie in abstrakten Kategorien mehr verborgen als aufgedeckt wird. "Nahe liegt, an die Beziehung des Dessauer und Weimarer Bauhauses zur In7 Ebenda, S. 353/354. 8 Ebenda, S. 350/351. 9 Ebenda, S. 348/349.
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dustrie zu denken, an die Reaktion von Angehörigen des Bauhauses wie Georg Muche auf den ersten Weltkrieg, an die Funktion der damals neuen Stahltechnik f ü r die Gestalten des Bauens, für Wohnmaschine und industrielles Bauen mit vorfabrizierten Bauteilen und den Einfluß auf das Liquidieren der Architektur der Gründerjahre und ihre Nachfolger in späterer Zeit. Die Kunst, meint Hegel, könne des Endlichen nicht entbehren und habe es nicht als etwas nur Schlechtes zu behandeln. Die Kunst solle dieses Endliche versöhnt mit dem Wahrhaftigen zusammenschließen. Auch die besten Handlungen und Gesinnungen seien, nach ihrer Bestimmtheit genommen, beschränkt und daher endlich. 10 Mit einer derartigen Analyse vom Guten und Bösen begibt sich Hegel auf den Boden immanenter Kritik, die die Kunstwerke nimmt, wie sie sind, aber die Gloriole ebenso niedrig hängt wie sie das Darstellen des Bösen als Ausdruck der einen objektiven Realität auffaßt. Weder das Übertreiben nach der einen oder anderen Seite schließt die Assoziation des Betrachters aus, sich über die Position von Kunst zu verständigen und nicht vor dem Herstellen von Beziehungen zu den Zeitverhältnissen zurückzuschrecken. Den Künstlern ist nicht empfohlen, sich dementsprechend in ihrer künstlerischen Produktion zu verhalten. Hegel genügt es, die Kritik herauszufordern und die Bewertung nach den Beziehungen auf die Wirklichkeit vorzunehmen, wobei es ihm hinlänglich scheint, wenn Kunst nicht bloß nach ihrer Kunstfertigkeit gesehen wird. Zu wissen ist, unter welchen Bedingungen Kunst ihre verschiedenen Ausprägungen erfährt. In der Erinnerung des Gegensatzes von Kunstwerk und Wirklichkeit findet Hegel ebenso viele Aufschlüsse wie in denen, die exakt auf die großen Begebenheiten der Zeit verweisen. Sie gehören in die Archäologie des Gegenwärtigen und sind nach wie vor nicht ohne Inhalt, wenn entsprechende Analysen darauf verweisen. Das Aufschließen des Abstrusen und des Schrecklichen bleibt ebenso Gegenstand der Kunst und bezieht sich auf das Individuum wie die Gesellschaft. Insofern ist die Philosophie ein Kind ihrer Zeit wie die Kunst, und beide können nicht über sie hinaus. Die ästhetischen Demonstrationen Hegels verweisen unmittelbar auf die Beziehungen zwischen Basis und Überbau. Wenn sich die moderne Industrie der falschen Idylle konfrontiert sieht, so verweist Marx auf ihre innere Dialektik, die sich aus den verschiedenen Produktionen des Bewußtseins ablesen läßt, wie Hegel es bei der Kunst des Biedermeier, des Elisabethanischen Zeitalters, der deutschen Klassik oder den Holländern der Unabhängigkeitskriege erörterte. In der gleichen Vorlesung über Ästhetik ist im Anschluß an die Erwähnung des Handels und der Fabriken betont, der Mensch habe sich offensichtlich gegen die Natur gestellt und vermöge sie umzuschaffen, sie zu seiner Bestimmung zu machen. 11 Dies sei das eigentlich wesentliche Moment. Nicht die Natur, sondern 10 Ebenda, S. 346/347. 11 Ebenda, S. 345/346.
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die menschlichen Aktivitäten sind von Hegel hervorgehoben. Der Mensch helfe, die Unabhängigkeit von den Naturgegenständen herzustellen. Diese Prosa des Lebens mache das Bedürfnis zum Produkt der eigenen Tätigkeit. Als List der Vernunft und dialektisches Moment der Entwicklung der großen Industrie ist inzwischen das Erhalten der Natur als Kulturlandschaft eine Folge der Expansion der Produktion, bei der das Wasser nicht minder schutzbedürftig geworden ist wie die Luft und der Klimahaushalt ganzer Kontinente vielleicht in Gefahr geraten kann, wenn die Industrie beträchtliche Gebiete wie das Gebiet des Amazonas zu ergreifen beginnt. Hat die Kunst ihren Gegenstand in der Natur der Dinge und des Menschen, so bleibt in der Sphäre der Ökonomie ebenfalls die gesamte Wirklichkeit gegenwärtig, in die die Verhaltensweisen des Menschen bei der Produktion ebenso eingehen wie die Technik und die sie erzeugenden Denkakte, die sich als Erfahrung und Wissenschaft äußern. Deutete Hegel die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft bloß mit einigen Signalworten und allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten an, so trat bei Marx eine Analyse der Ökonomie an die Stelle, die Klasse und Persönlichkeit erfaßt, aus dem historischen Kontext zugleich die Umwälzungen der alten Geschichte mit der der neuesten in Verbindung bringt. Arbeitsteilung und Produktion von Tauschwert verfolgt Marx von der asiatischen Produktionsweise bis in die bürgerliche Gesellschaft und analysiert die Entwicklung des Verhältnisses von Masse und Persönlichkeit bis zur Herausbildung eine selbständigen Bewußtseins der Masse, das sie zur Emanzipation befähigt. Insofern hat Marx nicht die Konstruktion von Wissen und absoluter Idee nötig, die Hegel benutzt, um sich einen Abschluß seines philosophischen Systems zu verschaffen, der schließlich als letztes Wort, aber in Widerspruch zu seiner idealistischen Konzeption, die Natur vorbringt, wie Lenin anmerkte. Marx behandelt den Menschen als kollektives Individuum, das schließlich die Persönlichkeit massenhaft realisiert. Die Teilung der Arbeit in geistige und körperliche wird bei Marx zu einem Moment der Emanzipation, die sich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Jene Maschinen, die Hegel bereits erwähnt, sind in den „Grundrissen" von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns, vergegenständlichte Willenskraft.12 Der Entwicklung des fixen Kapitals ist zugeschrieben, bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form von Wissen, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis, des realen Lebensprozesses13, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen Produktivkraft geworden ist. Es zeigt an, wie weit die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Bedingungen des allgemeinen Intellekts gekommen und umgeschaffen worden sind.14 Mit diesem Kommentar apostrophiert Karl Marx eine englische Schrift aus dem Jahre 1821, „The Source 12 K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 594. 13 Ebenda.
14 Ebenda.
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and Remedy" etc., deren Verfasser unbekannt geblieben zu sein scheint und auf die zurückzukommen ist. Marx befaßt sich mit dem Bewußtsein der Gesellschaft und des Individuums zunächst indirekt. Im Verständnis des Marxschen Materialismus reflektiert er zunächst auf die konkreten Produkte der menschlichen Industrie. Sie sind als Produkte des Hirns verstanden. Das im Prozeß der Arbeit im Gehirn gespeicherte Wissen erzeugt die von der Hand geschaffenen Instrumente zunächst in der Idee. Das Gehirn schafft sich damit Organe, die ihrerseits Merkmal sind und eine Funktion ausüben, die sich schließlich als doppelt bemerkenswert erweisen. Sie kennzeichnen einen bestimmten Stand der Gesellschaft, sie wirken auf den Menschen zurück und bedingen einen bestimmten Entwicklungsstand. Ohne Rücksicht auf einen bestimmten Entwicklungsstand der Technik, also auch unabhängig selbstverständlich von einer besonderen momentan konstatierbaren Revolutionierung der Produktivkräfte, gelten sie als vergegenständlichte Wissenskraft und zur unmittelbaren Produktivkraft gewordenes Wissen. Dazu kommt noch, daß Marx von fixem Kapital spricht, also über Kriterien sich äußert, die nach seiner Ansicht schon unter kapitalistischen Bedingungen Geltung haben sollen. Die technische und technologische Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses gilt als ein objektiver Standard, der ein Urteil über die Menschen gestattet, die ihn zu verwirklichen verstanden haben. Da die kapitalistische Gesellschaft von Marx ausdrücklich als Ordnung der Ausbeuter bezeichnet wird, bezieht sich der allgemeine Intellekt, den die Maschinensysteme repräsentieren, auf die gesamte Gesellschaft, die sie zu produzieren verstanden hat. Zweifellos subsumiert Marx unter den allgemeinen Intellekt die Arbeitserfahrung, die naturwissenschaftliche und technisch wissenschaftliche Kenntnis zuzüglich alles betriebsorganisatorischen Wissens. Als objektiv aufgefaßt, gehört diese Art des Denkens nicht unter jene Momente des Bewußtseins, die etwa die Ideologiekritik unter Ideologie rechnen würde. Hingegen gehört dazu ein Teil von demjenigen Bestandteil des Überbaus im Verständnis von Marx, der als Selbstverständigung über die Konflikte der Entwicklung aufgefaßt werden kann, die sich auf die Bewältigung der Natur und der technischen Probleme beziehen. In dem herrschenden Bewußtsein des Kapitalismus befindet sich demnach gemäß der Theorie von Basis und Überbau jener allgemeine Intellekt, der den Hintergrund der materiellen Seite der Produktion darstellt und aus ihren Folgen entsteht, soweit die Technologie in Frage kommt. Marx betont aber ausdrücklich, daß damit auch charakterisiert werde, wie weit sich die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses unter Kontrolle befinden. Die vergegenständlichte Technik gilt demnach als ein Bereich des menschlichen Lebens, der von der Gesellschaft kontrolliert wird. Die Entfremdung untersuchenden Abschnitte der „Pariser Manuskripte" werden in der Vorarbeit zum „Kapital" zurückhaltender behandelt. Mindestens wird ausdrücklich abgegrenzt, welcher Bestandteil des Bewußtseins ein objektives Wachstum erfährt und eine Entwicklung erkennen läßt, die sich als unverlierbarer Bestand221
teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abzeichnet. Engels formuliert im „Anti-Dühring" ähnlich, wie Marx in den „Grundrissen" weiter ausführte: Innerhalb des Betriebes eine ausgezeichnete Organisation, außerhalb des Betriebes die Anarchie der Produktivkräfte, die aus jener Gesetzmäßigkeit folgt, die sich unter den Bedingungen kapitalistischen Eigentums aus den Bedingungen der einfachen und erweiterten Reproduktion ergibt. Das Verhältnis von Wissenschaft und Produktivkraft ist als typisches Kennzeichen der industriellen Produktion aufgefaßt, woraus sich auf die gegenwärtige beschleunigte Entwicklung wissenschaftlicher Technik in bemerkenswerter Weise schließen läßt. Als Illusion erweist sich bei sorgfältigem Lesen der „Grundrisse", bloß aus dem Maß der Übergangswahrscheinlichkeit in neuere Technik und Innovation eine solche Produktivkraft Wissenschaft abzuleiten. Für industrielle Produktion ist sie selbstverständlich und spielt je nach den Anforderungen eine Rolle, wie sie von Marx 1857/58 formuliert wurde. Das Maß ist nicht die Wissenschaft an sich, sondern ihre Transformation in produzierende Systeme, in denen sich der jeweilige Gebrauchswert der vergegenständlichten Wissenskraft ausweist. In den „Pariser Manuskripten" erwähnte Marx, daß auch innerhalb der durch das Privateigentum hervorgerufenen Entfremdung sich die menschlichen „Wesenskräfte" entfalten, um sich innerhalb einer nicht mehr entfremdeten Gesellschaft schneller entwickeln zu können. Da sich die Individuen einer solchen Ordnung nicht mehr dem Bildungsmonopol der bisherigen herrschenden Klasse gegenübersehen, vermögen sie sowohl in der Form von Wissen mehr gesellschaftliche Produktivkraft zu erzeugen als auch diese in unmittelbare Organe des gesellschaftlichen Lebensprozesses umzusetzen. Die Technik nimmt Marx in seiner allgemeinen Übersicht über einen Teil der Zusammenhänge aus der Entfremdung heraus, obwohl selbstverständlich die von Engels bei den Produkten der Technik vermerkte Ambivalenz ihre Geltung besitzt. Die aus der Arbeitsteilung hervorgehenden negativen Folgen für das Individuum sind im vorliegenden Fall aufgehoben und beeinträchtigen nicht das generalisierte Urteil über die Funktion des allgemeinen Intellekts, der vielleicht einen nicht unbeträchtlichen Teil des intellectus agens der progressiven materialistischen und pantheistischen Tradition darstellt. Zu der Kontrolle über die Produktionsmittel in technischem Sinne gehört im Verständnis von Marx außerdem die Kontrolle der gesamten gesellschaftlichen Zusammenhänge, die als weiteres gesellschaftliches Entwicklungsprodukt aus der Geschichte hervorgehen soll. Zur Ökonomie gehören allerdings nicht bloß der Einfluß der technischen Zusammensetzung der Fonds, sondern außerdem die wertmäßige Zusammensetzung und die aus beiden Gebieten der gesellschaftlichen Produktion resultierenden Gesetze. Die aus der kapitalistischen Gesetzmäßigkeit entstehende Entfremdung des Bewußtseins im Sinne von Marx besteht demnach neben jenem anderen Teil des Bewußtseins, der den technischen Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung adäquat ist und die Produktivkraft der Gesellschaft repräsentiert. Marx schließt aus dem Nebeneinander beider Faktoren, daß jener allgemeiner Intel222
lekt, der unmittelbare Produktivkraft ist, von dem entfremdeten Bewußtsein beeinträchtigt wird. Ein Aufheben des entfremdeten Bewußtseins müßte deshalb schon allein eine Beschleunigung der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte erzeugen, die durch den bewußten Einfluß der Gesellschaft noch gesteigert werden könnte. Nun knüpft aber Marx an jene Schrift von 1821 an, in der es heißt: „Wahrhaft reich eine Nation, wenn statt 12 Stunden 6 gearbeitet werden. Wealth ist nicht Kommando von Surplusarbeitszeit (realer Reichtum), sondern disposable time außer der in der unmittelbaren Produktion gebrauchten für jedes Individuum und die ganze Gesellschaft."15 Diese verfügbare Zeit des Individuums wird daran anschließend von Marx als der wirkliche Reichtum der Gesellschaft bezeichnet, weil davon die Entwicklung des Bewußtseins und des ganzen Menschen abhänge. Wendet man dagegen ein, die Folgen von Industrialisierung seien so schrecklich, daß man darauf verzichten müsse, so sei daran erinnert, daß Marx aus den Berichten der englischen Fabrikinspektoren die Zustände der beginnenden industriellen Revolution kannte und noch schärfer bewertete, als in den betreffenden Berichten zum Ausdruck kam. Über die Benutzung der Freizeit findet sich in den vorliegenden Texten von Marx keine ins Detail gehende Überlegung. Er nimmt an, daß auf jeden Fall die Vergrößerung der für das Individuum verfügbaren Zeit dem partikularen Individuum und der Gesellschaft zugute komme. Bestimmt nahm Marx nicht an, daß jedes Individuum künftig ein Wissenschaftler oder Ingenieur werden müsse oder solle. Soviel aber war ihm gegenwärtig, daß auch ein ausgedehnter kultureller Hintergrund die Persönlichkeit wachsen läßt, außerdem aber damit die unmittelbare Verhaftung an die Produktion aufgelöst werde, die Marx als Zwangsfolge sieht, obwohl sie in der Arbeit den Menschen selbst bilde. Entstehen daraus jene Folgen, die Foucault als surhomme bezeichnet und verwirft, so gehört jede derartige Erscheinung innerhalb der Marxschen Theorie zu den zu beseitigenden gesellschaftlichen Eigenschaften. In dieser Konzeption erweist sich als humanistisch, das Gegebene nicht als Endpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung hinzunehmen, sondern in jedem Falle als Ansatzpunkt zu weiterer gesellschaftlicher Aktivität, in der die Gesellschaft der Arbeiterklasse zu versuchen habe, dem Individuum und der Gesellschaft mehr Möglichkeiten zu geben. Indem Marx jene Bemerkungen der alten Schrift übernimmt, zeigt sich aber, daß auch für das Entwickeln des Individuums ein objektives Maß gesucht wird, um festzustellen, unter welchen äußeren Bedingungen sich erst eine Veränderung des Bewußtseins zu vollziehen vermöge, die sich als unmittelbare vergegenständlichte Produktivkraft äußert und in innere, dem Individuum zugehörige Bedürfnisse umsetzt. Als wirklicher Reichtum wird von Marx die entwickelte Produktivkraft aller Individuen16 bezeichnet. Als hätte Marx vorausgesehen, daß 15 Ebenda.
16 Ebenda, S. 596.
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die Apostel einer technotronischen Gesellschaft nicht wüßten, was das Individuum mit seiner Freizeit anzufangen wüßte, und etwa eine kleine Anzahl Technokraten bald einer ganzen Gesellschaft unbeschäftigter Individuen gegenüberzustellen zur verbreiteten Illusion würde, verweist er über eine solche Monopolisierung hinaus. Die gesamte Gesellschaft gilt als das Reservoir der entwikkelten Produktivkraft der Gesellschaft. Wie weit es zu erschließen ist, ergibt sich nach Marx aus der Entwicklungshöhe der Gesellschaft selbst. Dazu gehört indes die Organisation einer Gesellschaft, in der sich die Individuen in einem gesellschaftlichen Zusammenhange befinden, der Bestätigung und nicht Aufhebung ihrer Freiheit ist.17 Die „Grundrisse" analysieren das Entstehen des gesellschaftlichen Zusammenhangs seit den Stromkulturen. Zunächst entfaltet sich eine Arbeitsteilung, die sich auf früher Stufe administrativ wie bei den alten Ägyptern der Ramsiden durchsetzt. Im Gegensatz hierzu bedeutet die moderne Arbeitsteilung in der kapitalistischen Warengesellschaft einen Zusammenhang, der die Individuen voneinander trennt und trotzdem Strukturen entstehen läßt, die eine gesellschaftliche Produktion erzeugen, die sich als ökonomische Form einer bestimmten Weise der Teilung der Arbeit verwirklicht.18 Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit erscheint als gesellschaftliche Abhängigkeit, in der jedes Individuum nur als Glied des Zusammenhangs arbeitet. Marx unterscheidet davon die als Entwicklungsprodukt über die kapitalistische Gesellschaft verstandene Möglichkeit, den Zusammenhang der Gesellschaft bewußt zu organisieren, damit die Abhängigkeit von der Produktion aufhöre, Beseitigung der Freiheit der Entwicklung der Individuen zu sein. Hegels Entwicklung der Begriffe und der Ideen macht bei Marx der Entwicklung einer Realität Platz, die die Industrie ebenso betrifft wie das Individuum. Die Theorie der Klassen und Klassengesellschaft läßt bei Marx nicht eine Aufhebung der einzelnen Persönlichkeit entstehen. Da sie nach Marx bereits im Kapitalismus aufgehoben wird, obwohl die Atomisierung der Person im Tauschprozeß die Illusion der Individualität entstehen lasse, erfolgt der dialektische Umschlag in einer erst vollständigen Entfaltung des Individuums durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Sie ist bei Marx Entwicklung der Produktivkräfte durch die Entwicklung des Individuums. Bedeutet die Industrie für Marx die Wesenskräfte des Menschen, so ist sie grundsätzlich nicht als Schranke aufgefaßt, sondern gemäß einer der ältesten philosophischen Traditionen als Bedingung für die weitere Entwicklung der gesamten Kultur. Kultur, Industrie und Wissenschaft gelten für die dialektische materialistische Philosophie nicht als Gegensätze, sondern als Aufgaben, die von der Gesellschaft zu lösen sind, ohne einen der für die Individualität wichtigen Bestandteile dabei auszulassen. Dem jungen Marx erschien im Brief an seinen Vater Hegels Philosophie als groteske Felsen17 Ebenda, S. 911. 18 Ebenda, S. 910.
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melodie. Auch heute haben viele der Leser Hegels den gleichen Eindruck und verwerfen ihn deshalb. Marx hingegen entdeckte in der Methode Hegels und in vielen Einzelheiten der Werke einen Ansatz zu einer Analyse der gesellschaftlichen Realität. Sie ist verstanden als das große und weite Feld, in dem sich Kultur entwickeln kann, niemals aber ohne das Zutun der progressiven Klassen und ihrer Individuen. Setzen sich Gesetze hinter dem Rücken der Beteiligten durch, so sind sie für Marx gerade die Bedingungen möglicher Emanzipation. Für das Erarbeiten der Erkenntnis der objektiven Realität und der Strukturen des Bewußtseins resultiert aus dem Vergleich von Hegel und Marx eine Selbstverständigung über den grundlegenden Unterschied von Materialismus und Idealismus. Der Materialismus von Marx geht weit über den zuvor vorhandenen hinaus, obwohl die Anlagen zu der später erfolgten Entwicklung bereits in dem historisch relevant werdenden weltanschaulichen Konzept Demokrits und Epikurs vorliegen. Nicht zufällig befaßte sich Marx in seiner Doktordissertation mit deren Naturphilosophie und erarbeitete philologisch die philosophische These von der Selbsterzeugung der Natur, als er noch auf idealistischen Positionen stand. Da der Dualismus insofern schon aufgegeben war, standen die Weichen bereits auf Übergang zum Materialismus, wie in der Entwicklung der Aufklärung und des Atheismus zu belegen ist.19 Demokrit gab Kategorien wie Zufall und Notwendigkeit die Eigenschaft, objektive Prozesse abzubilden. Gefunden in dem dem Experiment zugänglichen gegenwärtigen Zeitintervall extrapolierte er ihre Geltung auf Vergangenheit und Zukunft. Entstand daraus die Vorstellung des Naturgesetzes, das in den Beobachtungen der Sterne der Milchstraße bereits als objektive Manifestation erkannt war, so ging der Entwurf staatlicher Regelungen nebenher, die vom geprägten Ritus der Stammesgesellschaften bis zum juristischen Gesetz ihre repressive Konstanz über längere Zeit zu bewahren wußten. Um Geschichte nach Gesetzen darzustellen, bedurfte es des Auffindens von Zusammenhängen im Nebeneinander und Nacheinander gesellschaftlicher Vorgänge, die sich durch ihre relative Dauer von den Einzelereignissen der Chronologie unterschieden. Gelang es Hegel nur unvollständig, sich des Dualismus von als real aufgefaßten Ideen und ihren materiellen Manifestationen zu entledigen, da er ausschließlich vom Primat des Bewußtseins ausging, so stieß Marx auf eine unerwartete Problematik, als er den Gesellschaftsformationen neben den sie allgemein durchdringenden auch spezielle Gesetze zuschrieb. Über die Funktion der Arbeit in der menschlichen Gesellschaft als dem bestimmenden Element in der Selbsterzeugung des Menschen gab es mit Hegel keine Differenz und zugleich den entscheidenden Gegensatz. Als geschichtsbildend erkannt, verwies die materialistische Analyse auf den begrifflich zu erfassenden konkreten Arbeitsprozeß. In den „Pariser Manuskripten" trifft Hegel der bekannte Vorwurf, bloß ab19 Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. I, II. 1 und 2, III. 1 und 2, Berlin 1966, 1970, 1971, 1978, 1980. 15
Leyf Bewußtsein
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strakte Arbeit berücksichtigt zu haben, die „abstrakte geistige Arbeit". 20 Marx schildert das Endresultat der „Phänomenologie" als Darstellung von Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und Aufhebung dieser Entäußerung. 21 Infolge des Ablösens der vorwiegend philosophischen durch die primär'ökonomische Analyse entsteht daraus die einfache Konfrontation von konkreter und abstrakter Arbeit. 22 Als abstrakte Arbeit ist überhaupt gesellschaftlich nützliche Arbeit bezeichnet, der eine Reihe Eigenschaften zugeordnet sind, die Marx in seinem „Kapital" ausführlich erörtert, obwohl er auf die Bezeichnung selten zurückkommt. Das Gleichsetzen von konkreter, abstrakter und gesellschaftlicher Arbeit und das Aufweisen ihrer Doppelseitigkeit besitzt indes seinen guten Grund. Begrifflich gehören konkret und abstrakt zueinander. Wie Marx den Begriff eines Gedanken-Konkretums kennt, so prägt er andeutungsweise den anderen eines materiell existierenden Abstraktums. Da gleiche Buchstabenfolgen unterschiedliche Begriffsbelegung zu erfahren vermögen, ist kaum verwunderlich, daß es sich im vorliegenden Falle ähnlich verhält. Mit der Einheit von konkreter und gesellschaftlicher Arbeit faßt Marx die Möglichkeit, Arbeit zu messen, zum anderen aber auch ihre übergreifende Funktion, die das Übertragen von Wert einbezieht, die Vergleichbarkeit von vergegenständlichter und lebendiger Arbeit anspricht, den Austausch bestimmen läßt, Geld als allgemeines Äquivalent zu erklären gestattet und die portionsweise Weitergabe von Produktionsmitteln an das Produkt als eine ihrer Grundlagen ansieht. Der geistigen Arbeit ist in den „Grundrissen" nicht Abstraktheit, sondern Allgemeinheit attestiert. Als Gegenpart besitzt sie die spezielle Arbeit. 23 Die Bedeutungsbelegung der Worte schwankt je nach dem Zusammenhang. So 20 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, a. a. O., S. 574. 21 Ebenda. 22 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, Nachwort zur zweiten Auflage, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 215: „Wäre die spezifische produktive Arbeit des Arbeiters nicht Spinnen, so würde er die Baumwolle nicht in Garn verwandeln, also auch die Werte von Baumwolle und Spindel nicht auf das Garn übertragen. Wechselt dagegen derselbe Arbeiter das Metier und wird Tischler, so wird er nach wie vor durch einen Arbeitstag seinem Material Wert zusetzen. Er setzt ihm also zu durch seine Arbeit, nicht soweit sie Spinnarbeit oder Tischlerarbeit, sondern soweit sie abstrakte, gesellschaftliche Arbeit überhaupt, und er setzt eine bestimmte Wertgröße zu, nicht weil seine Arbeit einen besondren nützlichen Inhalt hat, sondern weil sie eine bestimmte Zeit dauert. In ihrer abstrakten, allgemeinen Eigenschaft also, als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, setzt die Arbeit des Spinners den Werten von Baumwolle und Spindel Neuwert zu, und in ihrer konkreten, besondren, nützlichen Eigenschaft als Spinnprozeß, überträgt sie den Wert dieser Produktionsmittel auf das Produkt und erhält so ihren Wert im Produkt. Daher die Doppelseitigkeit ihres Resultats in demselben Zeitpunkt." (Hervorhebung von mir - H. L.; vgl. S. 59) 23 K. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 505, 587/588.
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viel indes läßt sich ohne weiteres ablesen: Die ökonomische Untersuchung des Sachverhalts erzeugt eine philosophische Problematik, die entsprechend reflektiert, den dialektischen Charakter sichtbar macht. Auf dem Weg von Hegel zu Marx entbirgt die Analyse geschichtlicher Entwicklung jene Doppelseitigkeit als dialektische Eigenschaft der Sachverhalte. In dem Begriff der Arbeit entschlüsselt und verschlüsselt sich der in der Mannigfaltigkeit der Dinge und Ideen vorhandene Widerspruch, den die formale Logik für unterschiedliche Standpunkte zuläßt, das Denken nacheinander abbildet, der konkrete Prozeß aber unterschiedslos synchronisch und diachronisch enthält, ohne daß die Möglichkeit des begrifflichen Auseinanderfaltens ohne weiteres sichtbar wäre. Eine der Beziehungen des Objekts auf sich selbst und andere entschlüsselte sich als die Einheit von Wesen und Erscheinung, auf die sich Widerspiegelung unterschiedslos bezieht. Mit der Beschreibung des einzelnen Faktums in der Geschichte ist wie bei Objekten anderer Gegenstandsbereiche bereits die Zuordnung zu einer bestimmten Klasse von Erscheinungen gegeben. Andererseits enthält das Aufdecken der sozialökonomischen Struktur und der Beziehung zu der einzelnen Erscheinung von Basis und Überbau den Umfang des Ereignisraums, in dem die einzelne Erscheinung zu erwarten ist oder von der aus auf ihre Grundlage als ihrem Ursprung in der gesellschaftlichen Arbeit zurückzuschließen wäre. Erst die ökonomische Untersuchung der Arbeit erschließt die erkenntnistheoretische Problematik, die in den dialektischen Materialismus eingegangen ist. In seine Theorie der Widerspiegelung münden in erster Linie die Strukturen ein, die sich als Beziehungen oder Relationen fassen lassen, aber zugleich stets ein Geflecht von Beziehungen repräsentieren. Sie stellen in der Widerspiegelung verbaler oder nicht verbaler Art den gesellschaftlichen Charakter heraus, den Marx unter anderem als abstrakte Arbeit bezeichnet. Soweit die konkrete Arbeit sich im einzelnen Fall als besondere manifestiert, läßt sie sich begrifflich ebenso wiedergeben wie die abstrakte. In der Deskription des Sachverhaltes wird indes sichtbar, daß im Übergang von der konkreten zur abstrakten Arbeit der gesellschaftliche Charakter menschlicher Tätigkeit hervortritt, damit aber auch erst verdeutlicht, wie konkrete Arbeit zu der Ausprägung gelangt, die Marx aus der Textilindustrie ableitet, in der zuerst die Maschine dominiert. Da die Arbeit nur als gesellschaftliche existiert, geht ihr als animalische Grundlage der Entstehung von Werkzeugen der biologisch fixierte Herdentrieb voraus, der sich bei Marx in der Wortbildung des Herdentiers oder Hammelbewußtseins findet. Diese materielle Entsprechung existiert, wie geschlossen werden kann, im genetischen Substrat. Soweit sich Werkzeuge ausbilden, entstehen Sozialstrukturen, die diese materielle Entsprechung nicht besitzen, sondern beliebige organisatorische Strukturen darstellen. Soweit sich Arbeitsteilung durchsetzt, die über die engen Grenzen der Naturalwirtschaft hinausreicht, sind es gewohnheitsmäßige Bahnen, in denen sich Austausch vollzieht. Die Möglichkeit beliebiger Regelmäßigkeiten im Herstellen konkreter Tauschakte steigert sich bis zu Weltverkehr und Welt15*
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handel.2/' Es sind Möglichkeiten, den alten Standpunkt aufzuheben, erörtert Marx. 25 So konkret sich die einzelnen Akte nach Ursache, Absicht und Effekt, unter anderem auch nach Kosten/Nutzen-Verhältnis bestimmen lassen, so abstrakt sind in Marxscher Sprache die Beziehungen, die als gesellschaftliche Strukturen Entwicklungsstufen hervorbringen, die zudem noch als Möglichkeiten künftiger gesellschaftlicher Entwicklung in den Bereich der Widerspiegelung gelangen. Widergespiegelt werden zu dem Zweck gesamtgesellschaftlicher oder mindestens Teilaspekte umgreifender Analyse nicht die Einzelakte, sondern das Bezugssystem, in dem diese mit einer bestimmten Frequenz vorzukommen pflegen. Soweit die Einzelakte Elemente einer statistischen Gesamtheit sind, und das sind sie immer potentiell, lassen sich Regelmäßigkeiten angeben, die auf eine Wahrscheinlichkeit von null bis eins verweisen. Entsprechende Abbildung erfolgt durch die von der angewandten Mathematik im Laufe fast eines halben Jahrtausends erarbeiteten Instrumentarien. Im philosophischen Begriff gelingt die Diagnose der betreffenden Gesamtheit von Erscheinungen. Die mathematische Struktur bezieht sich auf den qualitativen und quantitativen Aspekt, der wegen dieses Doppelcharakters ebenfalls dialektisch ist, weil die Art der Wahrscheinlichkeitsverteilung angebbar ist. 26 An dieser Darstellungsweise fällt einmal auf, daß Beziehungen und Möglichkeiten, nicht Substrat behandelt werden. Diesbezügliche Abbildung erfährt abstrahierend von Seiten des Bewußtseins oft hinreichende Verdichtung, wobei sich sagen läßt, daß es sich um eine Reduktion von Merkmalen in übertragenem Sinne handelt. Auch das Einteilen in logische Klassen scheint nicht unbedingt vordergründig zu sein, obwohl es an der Darstellung beteiligt ist. Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen haben ein empirisches Äquivalent in den Ergebnisfolgen des Werfens unverfälschter und gefälschter Würfel, deren Resultate dann ihrerseits in logische Klassen einteilbar sind. Reduktiv verfährt aber das Abbilden sowohl der konkreten als auch der abstrakten Arbeit. Unabhängig von der sozialökonomischen Analyse entwickelt sich das Vordringen des quantifizierenden Moments. Man sollte sich aber an diese Möglichkeit erinnern, da sich daraus die Tragweite der verbalen Behandlung ergibt, die durch Hegel und Marx eingeleitet wurde. Für beide Verfahrensweisen ist ein nicht zu vernachlässigendes Merkmal, sich unterschiedliche Domänen von Ereignissen zuzuordnen, ohne daß ihre Andersartigkeit stören würde. Zu subsumieren sind nicht nur materielle 24 Ebenda, S. 79: „Im Weltmarkt hat sich der Zusammenhang des Einzelnen mit Allen, aber auch zugleich die Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den Einzelnen selbst zu einer solchen Höhe entwickelt, daß seine Bildung daher zugleich schon die Übergangsbedingung aus ihm selbst enthält." 25 Ebenda. 26 Vgl. H. Ley/G. Hauck/P. Marnitz, Operationsforschung. Technik, Praxis, Philosophie, Berlin 1968, Wissenschaftliche Schriftenreihe der Humboldt-Universität zu Berlin.
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Sachverhalte mit Substratcharakter oder der Eigenschaft von Relationen, sondern außerdem die Effekte beliebiger Überbauerscheinungen. Als besondere Entdeckung erscheint nun neuerer spätbürgerlicher Kritik, daß überhaupt die Ereignisgruppen unterschiedlicher Erscheinungen der Natur und Gesellschaft auf einen gesamtgesellschaftlichen Nenner zu bringen seien. Die Polemik gegen das Anwenden der Analyse von Überbau und Basis auf konkrete gesellschaftliche Probleme, ihre Anwendung im Klassenkampf und in der Aufhellung und Schreibung von Geschichte bezieht sich immer auf das gleiche Thema: Ob es überhaupt erlaubt sei, wesensmäßig Verschiedenes in einen Wirkzusammenhang zu setzen, ohne dabei den Sachen Gewalt anzutun. Als besonders disqualifizierendes Faktum gilt für fälschlich einer neuen Entdeckung gleichgesetzte Sachverhalte, daß es ein solches Gleichsetzen in der Warensphäre gibt. Geld als allgemeines Äquivalent subsumiert alle Objekte und Leistungen, die in diesem allgemeinen Äquivalent darstellbar sind. Ohne Rücksicht aber auf die spezifisch kapitalistische Warengesellschaft ergibt sich das gleiche Problem, wenn Ungleiches einem Begriff untergeordnet wird, die Grenzen zwischen dem unterschiedlich Zugeordneten sich als fließend herausstellen, wenn die Sache auf den Begriff gebracht werden soll. Geld impliziert Wert, Preis, unmittelbar und mittelbar verausgabte Arbeitszeit, unterschiedliche menschliche Fähigkeit, effektive Arbeit und gleiche Betriebsorganisation oder gleiche Leistung bei ungleichen Bedingungen. Da sich aber Einzelnes immer voneinander durch irgendwelche Momente unterscheidet, wie die Blätter eines Baumes und selbst die Produkte der Massenfertigung oder identisch replizierter Zellen in den verschiedenen Klassen organischer Moleküle, so faßt Erkenntnis stets Ungleiches zusammen, und zwar auch dann, wenn nicht als Beispiel das Geld als allgemeines Äquivalent herangezogen wird. Es dient als Analogon in manchen theoretischen Bezirken und als effektives Vergleichsmittel in anderen Fällen, in denen es zur Bewertung von Unterschiedlichem ungleicher Distanzbereiche dient. In dem Verhältnis von Ökonomie und Bewußtsein liegt eine wirkliche, materiell fundierte Zusammengehörigkeit insofern vor, als einerseits Handlungen, die das Bewußtsein vermittelt, in den Gesamtbereich der Basis eingehen und Verhältnisse zwischen Menschen, die sich dadurch in unterschiedliche Klassen einteilen lassen, ohne Bewußtseinsfunktion nicht existieren. Von dem Zusammenhang mit den wesentlichen Beziehungsgefügen der Ökonomie keine Kenntnis zu besitzen, ist kein Grund, verfehlte Wechselbeziehung reduktiv zu abstrahieren. Soweit wesentliche Bereiche der Lebenstätigkeit nicht in die Darstellung von Gesetzmäßigkeiten einbezogen werden, besteht nach ihrer Entdeckung immer der Verdacht, daß auf sie absichtlich verzichtet wird, wenn das Fehlen einer Beziehung besondere Betonung findet. Andererseits grenzen sich die Wissenschaften gegeneinander in einer Weise ab, daß sie das Herstellen des Zusammenhangs auch interdisziplinärer Untersuchung zuordnen können und bloß je das behandeln, was in den unmittelbaren Forschungsbereich gehört, wobei dann nur die nächsten Randbedingungen herangezogen werden. Abgesehen von der formalen 229
Seite des Äquivalenzprinzips handelt es sich bei der wissenschaftlichen Darstellung von Beziehungen um Sachverhalte und Relationen entsprechend einer Theorie, die im vorliegenden Fall Hegel und Marx entsprechend ihrer andersartigen Ausgangsposition entwarfen. Im historischen Materialismus werden die in Basis und Überbau zu behandelnden Gebiete als von der sozialökonomischen Struktur abhängig begriffen, und deshalb gewinnt die Ökonomie eine Bedeutung, die über den zur praktischen Wirtschaft gehörigen Bezirk hinausgeht. Das Historische und das Logische vereinigen Empirie und Theorie ohne Rücksicht darauf, welche Funktion im einzelnen die mit dem Geld ausgedrückten Äquivalenzbeziehungen besitzen. Sonst läge es nahe, ähnlich dem von Luhmann eingeschlagenen Verfahren, Klassengesellschaften gemäß einem Binär-Code aufzulösen, weil sie sich unter anderem ihren Daten nach in Dualzahlen speichern lassen, wenn die Statistiken zur Verarbeitung gelangen. Als Gewährsperson eignet sich zum Ausschalten der Ansicht Luhmanns und ähnlicher Vermutungen Noam Chomsky. In seinen methodologischen Vorüberlegungen zur Syntax-Theorie behandelt er gelegentlich Bewertungsprozeduren von Grammatiken, um sie innerhalb einer generellen linguistischen Theorie zu vergleichen. 27 Hier interessiert das Betonen der empiristischen Grundlage des konkreten Objektbereiches von Sprachen und verschiedenen Hypothesen, die innerhalb einer bestimmten Theorie verglichen werden sollen, um ihre Leistungsfähigkeit zu testen. Den Maßstab aus einer Klasse von Theorien auf eine andere Klasse von Theorien anzuwenden, lehnt Chomsky ausdrücklich ab. In der Einheit von empirischer Untersuchung und Theorie wird auf die Funktion der durch Dezision und begründet gewählte Theorie erzeugten Struktur hingewiesen, um explanative Adäquatheit zu erreichen. Innerhalb der Linguistik gestattet es demnach eine Standpunktverschiebung nicht, den Maßstab des einen theoretischen Bereiches auf einen anderen zu übertragen. Um Adäquatheit zu erreichen, ge27 N. Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a. M. 1969 (übersetzt und ediert durch die Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik der Akademie der Wissenschaften der DDR, damals DAW, Berlin); S. 57: „. . . Ein vorgeschlagener Einfachheitsmafjstab konstituiert zusammen mit einer Spezifikation . . . eine Hypothese über die Natur eines solchen Mechanismus. Die Wahl eines vorgeschlagenen Einfachheitsmafjstabes (einer Einfachheitsmetrik) ist somit eine empirische Angelegenheit mit empirischen Konsequenzen . . . Es ist ebenso augenscheinlich, daß Bewertungskriterien von der Art, wie sie in der Literatur über generative Grammatik diskutiert worden sind, nicht benutzt werden können, um unterschiedliche Grammatik-Theorien zu vergleichen . . . Vielmehr ist ein Bewertungsmaßstab dieser Art wesentlich Teil einer bestimmten Grammatik-Theorie, die explanative Adäquatheit anstrebt . . . Was wir aber hier diskutiert haben ist keine generelle Frage, sondern eher das Problem, zwei Theorien über eine Sprache - also zwei Grammatiken dieser Sprache - innerhalb einer generellen linguistischen Theorie zu vergleichen."
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nügt nicht die von einem Aspekt ausgewiesene Gültigkeit, um in einem anderen diesen anzuwenden. Analogieüberlegungen führen weiter. Bemerkenswert ist daran, daß der von Marx erzielte Gesichtspunkt von abstrakter oder konkreter Arbeit innerhalb einer Theorie die Möglichkeit des Vergleiches gestattet, der auf einem anderen Gebiet auf Grund des in der Warengesellschaft ausgebildeten Äquivalentes zur Praktizierung gekommen ist. Das eine Mal, im Falle Chomskys und der generativen Grammatik, gelingt die Übertragung des Mafistabes nicht, obwohl es sich auch um ein Gebiet handelt, das zu den gesellschaftlichen Erscheinungen gehört. Das andere Mal gelingt das Gleichsetzen der gesellschaftlichen Erscheinungen als Moment der Arbeitstätigkeit, zu dem zweifellos die Betriebswirtschaft zu zählen ist. Im Falle gesamtgesellschaftlicher Theorie des historischen Materialismus erfolgt nur die Herstellung einer Beziehung auf die Lebenstätigkeit überhaupt, obwohl die Sondergesetzlichkeit der einzelnen Gebiete unangetastet bleibt. Soviel erscheint sicher, daß eine generelle Adäquatheitsbeziehung nicht ausgesprochen werden kann, sondern auf Grund der Theorie der empirischen Überprüfung unterliegt. Es hat eine Testung an der objektiven Realität zu erfolgen, die indes ein gewisses theoretisches Fundament voraussetzt. Da innerhalb des philosophierenden Strukturalismus an die Stelle der kontinuierlichen Folgen von Gesellschaftsformationen das Auseinanderbrechen in unzusammenhängende Strukturgesamtheiten erfolgt, verliert die Geschichte ihren Kontext. An die Stelle sozialökonomischer Beziehungen treten Schichtungen anderer Art, in der an die Stelle der Entwicklung von einer Stufe zur anderen eine unkoordinierte Folge kombinierter Elemente gesetzt wird. Nach Chomsky könnte man annehmen, dafi es sich um das Fehlen von Theorie handelt. Tatsächlich verweist Michel Foucault so etwas wie die allgemeine Grammatik in das 17. und 18. Jahrhundert. 2 8 Erkennt Chomsky in den grammatischen Arbeiten von Du Marsais und dem wahrscheinlich gleichnamigen Anonymus einen Vorläufer 29 wie nicht anders in der „Logik von Port Royal" 30 , so benutzt Foucault die Zugehörigkeit zu dem Intervall, in dem eine Reflexion über Preise und Geld erfolgt, Merkantilismus und John Law nachweisbar sind. Wie willkürlich aber das Abschalten der Beziehungen seitens Foucaults erfolgt, belegt dessen Strukturtabelle des 19. Jahrhunderts. Die Grammatik fehlt, obwohl sie nach Chomsky mindestens durch Wilhelm von Humboldt vertreten wäre 31 und Geldtheorie nicht bloß von den englischen Bankkrisen ausgelöst wird, die unter anderem auch Marx behandelte. Für das 19. Jahrhundert sind im erkenntnistheoretischen Feld Phonetik, vergleichende Anatomie und Analyse der Produktion parallelisiert. 32 Man hat
28 29 30 31 32
M. Foucault, Les mots et les choses, a. a. O., S. 225/Tafel. N. Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, a. a. O., S. 249 und 297. Ebenda, S. 248. Ebenda, S. 9, Vorwort. M. Foucault, Les mots et les choses, a. a. O., S. 225/Tafel.
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den Eindruck, an die Stelle von Geschichte solle das Verfahren der synoptischen Tabellen treten, die ihren Nutzen besitzen, aber nicht die Explikation ersetzen. Das annähernd gleichzeitige Auftreten, wobei Foucault mit der Länge der synchronischen Intervalle großzügig umgeht, braucht keineswegs inneren Zusammenhang anzudeuten, da Neues und Altes nebeneinander eine Zeitlang zu bestehen vermögen. Soweit Foucault nun von den Sachen gedrängt wird, solche ökonomischen Tatbestände wie den Austausch und das Verbreiten der WarenGeld-Beziehung zu erörtern, verfällt er auf den Hinweis, es sei eine bestimmte Praxis, die den Zusammenhang konstituiere. Geschlossen ist mit diesem auch mißdeutend zu verwendenden Begriff auf gesellschaftliche Tätigkeit, die gerade nicht behandelt wird. An die Stelle der Analyse eines Jahrhunderts tritt eine Bezeichnung, die es gerade in der bei Foucault vorliegenden Verwendung offenläßt, auf welchen gesellschaftlichen Bezug sie sich richtet, obwohl von Merkantilismus und Physiokratismus gehandelt wird. Mit diesem Verfahren gelingt Foucault der „Nachweis", an die Stelle der Fakten voriger Jahrhunderte seien nun Psychoanalyse und Ethnologie getre j ten 33 und hätten nun einen privilegierten Platz. Allerdings liegt darin eine Aufforderung, die Situation von bestimmtem spätbürgerlichem Bewußtsein unter dem Blickwinkel der Verdrängung zu untersuchen und zu behandeln. Von dem, was einer ist, und von dem, was einer sich vorstellt, läßt sich auf Absichten und Eigenschaften schließen. So ergeben die Tabellen Foucaults gerade angesichts der zweifellos kulturhistorischen Versiertheit und Komplexität des benutzten Materials den Aspekt, aktual vordergründige Themata und ihre Gegenstände auf einige ihrer Wurzeln in vergangenen Jahrhunderten zurückzuverfolgen, um sie in ihren umfangreicheren und entwickelteren oder auch vergehenden Manifestationen nicht mehr zu untersuchen. Angesichts der Syntax-Analyse und der französischen Linguistik erscheint es ein Abbild der bürgerlichen Konkurrenzsituation des vormonopolistischen Kapitalismus, sie schlicht in die Vergangenheit zu verweisen oder wenigstens verbal eine entsprechende Situation zu assoziieren. Das Austauschverhältnis kennt für Foucault nur zwei Ausnahmen. Es sind das die natürlichen Wesen und die Sprache. Sie hätten kein Äquivalent der merkantilistischen Operation nötig, während die Grammatik von Port Royal auf Grund einer bestimmten Praxis zu den sich plötzlich durch Mutation offenbarenden natürlichen Individuen gehöre. 34 Wie weit ernstlich an Sinnhaftigkeit dieser Art von Synchronie gedacht ist, mag dahingestellt bleiben. Merkwürdigerweise muß man indes konstatieren, daß Foucault sich angelegen sein läßt, in der Transformationsperiode des Ancien régime und der vorrevolutionären Epoche überhaupt das ökonomische Moment zu betonen. Da das Denken der Aufklärung in seinen antiklerikalen und gegen die herrschenden Institutionen gewendeten Attacken keine Erwähnung findet 33 Ebenda, S. 385. 34 Ebenda, S. 192.
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oder als naiv und platt heruntergespielt wird, sollte man von einem blanken Ökonomismus sprechen, um Foucaults Vorgehen zu kennzeichnen. Da Foucault nach Hegel keinerlei Philosophie mehr als möglich anzunehmen geneigt ist, hat diese Wissenschaftlichkeit des 20. Jahrhunderts die ausgesprochene Isolierung der Fakten zum Gegenstand. Für Marx bedeutet das Untersuchen von Basis und Überbau in der Geschichte stets Komplexität. Ist in einem Jahrhundert auf die Ökonomie zu verweisen, dann kann sie selbstverständlich auch genuiner Gegenstand für die Forschung sein. Ist aber auf die Geschichte das wissenschaftliche Interesse gerichtet, dann umfaßt Basis mehr als die Geldbeziehungen und die ökonomische Theorie. Das Produktionsverhältnis eröffnet auch den Zugang zu den aufkeimenden Klassen, auf die zum anderen auch von der Literatur, der Kunst und nicht zuletzt der Philosophie zu schließen wäre. Empfindet sich aber Foucault von der Schuldigkeit befreit, die verschiedenen Formen des Bewußtseins zu berücksichtigen, wenn er einzelne Erscheinungen der Ökonomie behandelt, dann ist weniger der von jenem Strukturalismus gern beschworene Bruch signalisiert, sondern vielmehr eine verfehlte Reduktion, die sich durch Inadäquatheit auszeichnet. Zu vermerken ist allerdings, daß Foucault sich nicht von den gleichen Bedenken leiten läßt, die Althusser veranlagten, eine Unüberschreitbarkeit von Gedankenkonkretum und konkretem Objekt und Prozeß anzunehmen. Kontinuität und Bruch verlangen dialektische Interpretation des empirischen Materials. Bleiben indes die Denkbestimmungen unelastisch und wenig geschmeidig, so müssen sie unbedingt die Prozesse in unkoordinierte Parameter der Realität aufsplittern, für die auch die Statistik nicht mehr als willkürliche Punktmengen liefert, zu denen keine Beziehung außer der des bloßen Nebeneinander und Nacheinander herzustellen ist, aus den Strukturen aber der Zusammenhang des möglicherweise Zusammengehörigen herausfällt. Für die Geschichte der Gesellschaft gilt dann das gleiche wie für die Naturgeschichte, die gemeinsam in die Jahrhunderte der Aufklärung verwiesen sind, von denen man sich brüstet, losgekommen zu sein. Diese Art Strukturalismus verfehlt außerhalb der Linguistik und der Ethnologie die hinreichende Einfühlung, um nicht zu sagen das Verständnis, wie sich Wissenschaften entwickeln, wenn schon Entwicklungsgedanken - selbst, soweit sie Natur und Gesellschaft betreffen - partiell in das falsche Bewußtsein verwiesen sind. Borkenaus Annahme, Manufakturproduktion verfälsche ebenso wie etwa Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation35, verfehlt die Intentionen der materialistischen Identitätsphilosophie von Marx nicht minder als die von Hegel. Das absolute Wachstum des objektiven Inhalts von widerspiegelnder und entwerfender Wissenschaft testet die menschliche Tätigkeit im weitesten Sinne. Es nimmt der Grad an Adäquatheit zu. Die Übereinstimmung von Begriff und Sache gilt als Prozeß, in dem überprüfbares wie überprüftes Bewußtsein mit falschem durch35 F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Zur Philosophie der Manufakturperiode, Einleitung, Paris 1934.
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setzt ist. Letzteres besitzt mindestens zwei Quellen: phantasmagorische und entfremdete Verschiebung von Objekt und Begriff, zum anderen aber erst später der Wissenschaft zugängliche und hypothetische Vorstellungen, die selbst ein Produkt fortschreitenden Wissens sind. Aus den sozialökonomischen Strukturen resultiert: - das Bedürfnis nach Entwicklung der Produktivkräfte oder nach Stagnation, - der gesellschaftliche und technische Horizont, von dem aus mit dem vorgefundenen Wissen Neues zum Erarbeiten ansteht, - der Grad der Produktionserfahrung, der in die gesamte vielschichtige Kultur der betreffenden Gesellschaft eingeht; nicht was, sondern ivie produziert und gedacht wird, - welche Probleme in der gesellschaftlichen Tätigkeit zu bewältigen sind und welche sich der Beherrschbarkeit verschließen, - wie weit sich der Kenntnisstand auszudehnen vermag, - welche Verzerrungen der Reflexion über die gesellschaftliche Tätigkeit und die Resultate des Handelns und Denkens von der antagonistischen Gesellschaftsformation gleichsam oktroyiert werden. Meint Foucault, dieser Katalog von Momenten lasse sich einfach der Praxis unterordnen, so ist der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit nur ein Teilaspekt zugestanden. Es fehlen alle jene Relationen, unter denen gesellschaftliche Arbeit allein möglich ist. Daher entsteht die Illusion, das Vorhandensein von WareGeld-Beziehungen präge einen methodischen Schlüssel, der jede Art von Erkenntnis als falsches und zeitgenössisches Bewußtsein bestimme und kein absolutes Zunehmen überprüfbarer Kenntnis in Natur und Gesellschaft zulasse. Auf der Grundlage einer Theorie der Gesellschaftsformationen und der Entwicklung bieten Untersuchungen von der Art Foucaults Anhaltspunkte, den kulturgeschichtlichen Horizont der Darstellung von Geschichte auszuweiten und auf die Gegenwart zu übertragen. Indes ist die Vorstellung unzutreffend, da ß die durch das philosophische Denken in die allgemeine Weltanschauung der einen oder anderen Klasse aufgenommenen Ergebnisse oder Verzerrungen entfielen, wenn dem diszipliniert einzelwissenschaftlichen Denken in der erweiterten Reproduktion größeres Gewicht zukommt. Haben das 17. und 18. Jahrhundert wirklich das Verdienst, die Ansätze von Entwicklungsideen wieder aufgenommen und gefördert zu haben, so erfolgt die weitere Revolutionierung des Bewußtseins und der gesamten Produktivkräfte durch das Übergreifen des buchstäblichen Nachweises auf immer neue Gebiete, die zuvor nicht vorauszusehen sind. Daß objektive Lösungen durch den Übergang zu einer höheren Ordnung und durch die Entwicklung der ideellen und materiellen Produktivkräfte heranreifen, belegt die neuere Geschichte. Die philosophische Idee der Entwicklung aber verliert ihren Einfluß, wie das 20. Jahrhundert erkennen läßt, auch dann nicht, wenn auf sie verzichtet wird und Ethnologie wie Psychoanalyse an deren Stelle treten sollen. Als Einbahnstraße erwies sich auch die Annahme, Fortschritt der Technik 234
geschehe bloß mit der mathematischen Beherrschung von Strukturen und etwa der Automatisierung, da die Gesellschaft schon lange viel komplexer geworden ist, als daß ein nicht so wichtiges Moment innerhalb der Gesamtheit der Produktivkräfte allein bestimmend wäre. Viele andere Disziplinen und Tätigkeiten unterliegen einem damit verbundenem Revolutionierungsvorgang neben dem, der programmgesteuerte Rechner und damit verbundene Möglichkeiten entstehen ließ. Das Ausgliedern der Technik aus der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint als die andere Seite der Einengung, die spätbürgerliches Bewußtsein kennzeichnet. Erst mit der Revolutionierung der Produktionsverhältnisse werden die gesellschaftlichen Kräfte freigesetzt, die unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer vom Marxismus-Leninismus geleiteten Partei die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu lenken gestatten. Die von Marx begründete Ökonomie erwies sich als das theoretische Mittel des Einblicks in den Entwicklungsprozeß, durch das die Arbeiterklasse zur Macht gelangen kann, und als entscheidendes Instrument, durch das die sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion neben dem ideellen auch das materielle Übergewicht ständig behaupten.
235
Namenregister*
Abälard, Peter 25 Adorno, Theodor 93 Albert, Hans 124 d'Alembert, Jean Baptiste le Rond 114, 183 Alexander von Hales 92 Al Farabi 90 Althusser, Louis 174-184, 188, 199, 211, 233 Anaxagoras 65, 74 Aristoteles 22, 25, 69, 84, 87, 92, 95, 123, 142 Aron, Raymond 26, 80, 81 Artaud 199 Äschylos 97 Augustin, Aurelius 101 Averroes 92 Bachelard, Gaston. 161, 198 Bacon, Francis 14, 217 Basedow, Johann Bernhard 155 Bataille 199 Bauch, Bruno 176 Baudelaire, Pierre-Charles 49 Bauer, Bruno 120, 206 Bayle, Pierre 75 Beaumont, Christophe de 58 Becker, Werner 93-96 Berg, Aksel' Ivanovic 182 Bergson, Henri 199 Bernstein, Eduard 8, 198 Berthollet, Claude L. 44 Bismarck, Otto von 176 Bloch, Ernst 115, 196
Boethius von Dacien 77 Bonaventura 92 Borges, Jorge Luis 99, 100 Borkenau, Franz 124, 233 Bosch, Carl 160 Brecht, Bertolt 100 Brzeszinski, Bzigniew 27 Buffon, G. L. Leclerc 25 Buhr, Manfred 109 Calvin, Johannes 189, 216 Carmichael, Peter A. 199 Cernjak, Jurij Il'ic 182 Chomsky, Noam 230, 231 Churchman, C. West 87 Clobert, Jean-Baptiste 216 Cousin, Victor 25, 72 Creuzer, Friedrich 138 Cromwell, Oliver 216 Davy, Humphry 44 Demokrit 48, 65, 68, 69, 82, 162, 210, 225 Derrida, Jacques 8, 22, 23, 55-66, 82. 84, 97, 181, 207 Descartes, René 14, 78, 83, 217 Diderot, Denis 14, 25, 48, 49, 63 Duesenberry, James S. 114 Du Marsais, César-Chesneau 231 Dürer, Albrecht 155 Durkheim, Emile 96 Eigen, Manfred Einstein, Albert
* Hegel und Marx werden nicht ausgewiesen
236
28 91, 96, 162
Engels, Friedrich 7, 9, 21, 25, 34, 35, 37, 38, 44, 45, 50, 58, 61, 65, 68, 70, 73, 76, 77, 78, 94, 104, 105, 113, 117, 119, 142, 149, 162, 164, 173, 176, 196, 202, 208, 210, 213, 216, 222 Enzensberger, Hans Magnus 158, 159 Epikur 225 Feuerbach, Ludwig 16, 24 Fichte, Johann Gottlieb 25, 83, 106, 107, 145, 199 Fischer, Franz 160 Foucault, Michel 8, 22, 27, 28, 51, 59, 80, 99, 100, 106, 176,186-188, 199, 211, 223, 231-234 Fourier, François Marie Charles 25,168, 170 Freud, Sigmund 165, 174 Friedmann, A. A. 162 Fromm, Gary 114 Galbraith, John Kenneth 52 Galilei, Galileo 85, 134 Gans, Eduard 138, 140, 142 Gehlen, Arnold 159 Gerlach, Walter 65 Gini, Corrado 215 Glockner, Hermann 16, 26, 73 Gnedenko, Boris Wladimirowitsch 182 Goethe, Johann Wolfgang v. 91, 155, 217 Gorz, André 158 Guihéneuf, Robert 215 Guizot, François Pierre Guillaume 70 Gutenberg, Johann 155 Gvisiani, Dzermen Michajlovic 182 Haber, Fritz 160 Habermas, Jürgen 75 Haller, Karl Ludwig v. 136, 137, 139 Harvey, William 124 Hauck, Günter 228 Heidegger, Martin 22 Heisenberg, Werner 85, 233 Heraklit 25 Herzen, Alexander 15
Hobbes, Thomas 215 Hoffmann, Theodor 217 Hoffmeister, Johannes 15, 138 Holbach, Paul Heinrich Dietrich 198 Horten, Max 92 Hotho, Heinrich Gustav 217 Houdebine, Jean-Louis 22, 23 Humboldt, Wilhelm von 231 Husserl, Edmund 199 Hyppolite, Jean 57, 138, 139, 141, 143, 190, 199, 211 Irrlitz, Gerd
109
Jacob, François
28
Jacobi, Friedrich Heinrich 110
106, 107,109,
Kafka, Franz 53 Kant, Immanuel 12-14, 25, 26, 28-30, 35, 47, 48, 76, 83, 88, 90, 93-95, 106, 107, 110, 139, 145, 179, 186, 187 Kaufmann, I. I. 126 Kepler, Johannes 135, 155 Keynes, John Maynard 195, 215 Kierkegaard, Sören 27, 49, 109, 199 Klein, Lawrence Robert 114 Koch, Claus 158 Kojève, Alexandre 26, 48, 71, 80-88, 105 bis 111 Kolmogorow, Andrei Nikolajewitsch 182 Kopernikus, Nikolaus 73, 135 Koyré, Alexandre 134 Krumpel, Heinz 109 Kugelmann, Ludwig 173 Kuh, Edwin 114 Lacan, Jacques 8 Lasson, Georg 120 Latouche 48 Law, John 231 Le Corbusier, Charles E. 79 Leibniz, Gottfried Wilhelm 197 Lenin, Wladimir Iljitsch 7, 9, 11, 13, 15, 17-19, 23, 25, 27, 58, 61, 63, 68, 69, 80, 84, 92, 104, 157, 174, 179, 182, 183, 192, 200, 208, 216
237
Leontief, Wassily 114 Lévi-Strauss, Claude 27, 55-58, 60, 64, 96, 97, 113, 117, 176-178 Ley, Hermann 109, 152, 179, 209, 225, 228 Liebig, Justus von 44 Locke, John 215 Luhmann, Niklas 209-211, 230 Lukâcs, Georg 122-124, 189, 198, 215 Lukrez 157 Luther, Martin 75, 189, 216 Lwoff, André 87 Mandeville, Bernard de 215 Mannheim, Karl 115, 122 Marcuse, Herbert 158, 159 Marnitz, P. 228 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 25, 96 Meadows, Dennis 160 Meadows, Donella H. 160 Mendel, Johann Gregor 28 Meyer-Abich, Adolf 87 Mignet, François Auguste Marie 70 Mirabeau, Comte de 114 Monod, Jacques 28, 65, 74, 161, 162, 165, 176 Montesquieu, Charles de 90 Moore, Samuel 173 Morgenstern, Oskar 215 Muche, Georg 219 Müller, Thomas 209 Napoleon I. 27, 71, 72, 91, 188 Necker, Jacques 100 Neumann, Julius von 215 Newton, Isaac 73, 85, 87 Nicolin, Friedhelm 119 Nietzsche, Friedrich 8, 23, 59-62, 186, 187, 199 Nikaido, Hukukane 114, 124 Owen, Robert
25
Palmade, Guy 215 Pareto, Vilfredo 215
238
Parmenides 82 Parsons, Talcott 215 Pascal, Blaise 65 Peirce, Charles Sanders 87 Petty, Sir William 70, 71, 89, 90, 216 Planck, Max 96 Piaton 22, 25, 28, 38, 63, 69, 82, 142, 180, 208, 209 Pöggeler, Otto 119 Popper, Sir Karl Raymund 94, 124 Proudhon, Pierre Joseph 140 Ptolemäus, Claudius 134 Pythagoras 123 Queneau, Raymond Quesnay, François
80 94, 100, 114, 124
Rabelais, François 155 Rauh, Hans-Christoph 109 Ricardo, D a v i s
132, 181, 189, 215
Rickert, Heinrich 124, 176, 198 Robespierre, M.-M.-I. de 187 Rostow, Walt Whitman 215 Rousseau, Jean-Jacques 14, 48, 49, 55, 58-60, 63-65, 101, 135, 136, 149, 150, 207-209 Roux, Henri Frédéric 43 Sachs, Karl (Sachs-Vilatte) 43 Sade, Marquis de 100, 101 Saint-Simon, Claude Henri 25 Samuelson, Paul A. 91 Sartre, Jean-Paul 26, 80, 81, 198 Say, Jean-Baptiste 189 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 25, 145 Schmidt, Raymund 186 Schmoller, Gustav 215 Senghaas, Dieter 158 Shakespeare, William 217 Siger von Brabant 77, 92 Smith, Adam 168, 169, 181, 189, 215 Snow, G. P. 52, 148, 217 Sohn-Rethel, Alfred 122-124, 126, 132, 133
Sokrates 208, 209 Sombart, Werner 215 Steuart, J a m e s 15, 189 Stiehler, Gottfried 179 Thierry, Alphonse 70 Thiers, Louis Adolphe 70 Thomas von Aquino 92 Topitsch, Ernst 111 Tropsch, Hans 160 Turgot, Anne-Robert-Jacques
Vico, Giambattista 89, 90, 127, 216 Virchow, Rudolf 94 Voltaire 75, 90 Vofj, Johann Heinrich 217 Vianicki, Pedrag 150-152, 154, 156
100
Watt, James 44, 45 Weber, Max 185, 215 Wegener, Alfred 96 Weizsäcker, Carl Friedrich von Wiener, Norbert 198
87
239