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German Pages 143 [148] Year 1906
B e i d e m s e l b e n Uerleger erarhlenen u o n
Professor Uralter Kinkel Geschichte der Philosophie als Einleitung in das System der Philosophie I. Teil: U o n Thaies bis auf öle Sophisten Beh.
m. ß
-
1906
Q e b . (T).
7.-
,,Zu Lesern meines BuAes wünsche ich mir allt menschen, die inneres Interesse zur Philosophie hintrtlbt. (Uli mir s t l b s i Philosophie eine Befreierin und LebensfOhrerln geworden ist, mOditc Idi durdi dies UJerk ollen ein Helfer werden, die von Zweifeln und Ängsten des Daseins ergriffen s i n d . "
«lo die so den
loh. Fr. Herbart sein Leben und seine Philosophie Beh. m . 3 . -
1903
B e b . (T). 4 . -
(Ilir ist zur Zeit kein besseres Budi Ober Herbort bekannt. Lit. Handw.
Beiträge zur Erkenntniskritik Br.
8o
1900
m. -.80
Gedichte Beh. m . Z . -
1904
6 e b . (Tl. Z . 6 0
Die „Sonette der Freiheit" allein werden den Dichter als eine sympathische Ersdieinung hoch über den Chorus der soft- und kraftlosen modernen Überpoeten hinausheben. Wiesbadener Tageblatt.
L.
J
B e i demselben Uerleger s i n d erschienen:
Der ästhetische 6enuss uon
K a r l Qroos P r o f e s s o r der P h i l o s o p h i e a. ä. Universität B l e s s e n Seh.
m. 4 . B O
1QOZ
B e b . (Tl. 6 . -
6esundheit und Erziehung Eine Vorschule der Ehe uon
6eorg 5ticker
P r o f e s s o r der fTledlzln a. d. Universität B l e s s e n Beb.
Zweite vermehrte H u f l a g e
(Tl. 5.—
„Hier Ist tiefes Denken, Oberzeagenle Kraft 1er fluifOhrtingen mit edler Spradw and Originalität 1er Form uerknDpft." — „Ein gollnts Budi fOr EHtm und lange Leute, die eben Ins Leben treten."
mutier und Kind W i r man heikle Olnge mit Kindern behandeln hann
Nellie flthrleb'B holländisch 1 . B r l m m hat es verdeutscht H ü b s c h gebunden 7 5 Pfg.
rieruöse Kinder (IMIzInlsdie, pddagogfsdie und allgemeine Bemerkungen
von H. B o s m a B e h . (Tl. 1 . 6 0
HUB dem Holländischen
B e b . (Tl. Z . 3 0
Vom Sein und von der Seele o
a
o
Gedanken e i n e s Idealisten von
Walter Kinkel
Uns zwingt die enge Satzung Durch Leiden zu lernen. A e s c h y l o s („Agamemnon")
0 0
Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker) :: Gießen 1906
El
E
INHALTS-VERZEICHNIS Seile
Vom Sein und von der Seele 1—5 Über Liebe und Humor, HaO und Ironie 6—8 Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur 9—30 Über das Märchen 31—36 Über das Schaffen des künstlerischen Genies 37—47 Mensch, Kunst und Natur 48—52 Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum . . . . 53—66 Vom transzendentalen Scheine im Leben des Einzelnen und der Menschheit 67—81 Über Sünde, Liebe und Leid 82—86 Lebensführung und Charakter 87—107 Charaktere 108—116 Über Einsamkeit 117—122 Über die Freundschaft 123-133 Über die Macht der Idee und den Idealismus des Lebens 134—143
E2J
Vom Sein und von der Seele.
M
an kann unser ganzes Dasein auffassen als einen Kampf um die Wirklichkeit unserer Seele. Oft freilich handeln wir von der Peripherie unserer Innenwelt aus; das sind Taten, die weder von unserem Selbst ausgehen, noch zu ihm hinführen; in ihnen sind wir unwirklich. Wir sollten alle wirklicher werden. Alle Wünsche, Gefühle und Empfindungen, die durch unser Gemüt strömen oder schleichen, sind nur Probleme, die wir lösen, sind nur Schein-Realitäten, denen wir Existenz und Wirklichkeit verleihen sollen. Das können wir nicht, wenn wir nicht vom Zentrum unserer Persönlichkeit aus handeln, wenn wir nicht an jeder Tat völlig und ganz beteiligt sind. Allzuhäufig handeln die Ereignisse und Eindrücke, die Gefühle und Stimmungen aus uns heraus. Damit bereichern wir weder die Welt, noch uns selbst, und wir müssen uns solcher Taten leicht schämen und sie bereuen. Und auch dann sind wir unwirklich. Wenn die Leidenschaft unsere Seele beherrscht, wenn der Schmerz oder die Lust sie in Fesseln legt, leben wir wahrlich in einer Welt der Schatten und Träume. In solchen Momenten kann der gesamte Boden unserer Existenz erschüttert werden und selbst das ins Schwanken geraten, was wir schon zum festen Besitzstand unserer individuellen Wirklichkeit zählten. Aber wir sollen uns an den
•
Vom Sein und von der Seele
Gl
Freuden und Leiden des D a s e i n s befestigen, zu
unserem
vernünftigen,
sittlichen
Sein
indem
wir
durchdringen.
J e ärmer uns das Leben an Glück und Lust macht, desto reicher sollten wir an Lebensmut
werden.
W i r sollen wirklicher w e r d e n : sollen wahrhafter werden. andere. haft ist. dem
das heißt einmal, wir
Gegen uns selbst und gegen
Denn nichts kann wirklich sein, w a s nicht wahrUnseres L e b e n s Sinn
sittlichen
Menschheit.
Selbst,
das
da
ist
die Pilgerfahrt
wohnt
in
der
nach
Idee
sondern wir müssen es suchen und verwirklichen. gute Tat
der
E s wird uns nicht von der Natur g e s c h e n k t ,
ist ein
Baustein
zu unserem
sittlichen
Jede Selbst.
W i r aber lieben es, uns in eine S c h e i n w e l t einzuspinnen; wir hintergehen Lust
und suchen
uns mit Träumen des G l ü c k e s und der unser S e l b s t , w o wir
es
nicht finden
k ö n n e n : in der Isolierung, statt in der Gemeinschaft.
Die
Sophistik des Herzens ist die L o g i k der von der Leidenschaft beherrschten Vernunft.
W i r erdenken Trugschlüsse,
um das vergängliche Glück zu retten, dem sich die Wahrheit widersetzt; wir leihen unseren Taten den Schein der Realität, um sie s o in die objektive W e l t einzuschmuggeln. A b e r diese weigert sich, sie zu empfangen, denn Sein und Nichtsein können
sich
nie verbinden.
S o l l e n wir wirk-
licher werden, s o laßt uns wahrhaftiger werdenl
Das Sein
unserer S e e l e lebt in der Wahrheit. Wirklicher werden heißt auch:
nachsichtiger
werden.
D a s ist nur die F o l g e der Wahrhaftigkeit gegen uns selbst. W e r die Lücken in der eigenen Wirklichkeit sieht, kann die anderen nicht mehr verdammen. E s heißt endlich auch: sein S e l b s t im anderen
suchen.
Häufig scheut sich die S e e l e , das S e i n zu berühren: s i e wandelt wie schlafbefangen durch des L e b e n s Finsternisse und fürchtet, zu erwachen.
Absichtlich s o g a r ent-
El
Vom Sein und von der Seele .
•
kleidet sie zuweilen die Welt ihrer Realität, um sich ungestört im seligen Lande der Phantasie und der unbegriffenen Gefühle zu ergehen. Es ist wie eine süße, selige Dämmerung um sie: die Hoffnung flüstert leise, die Sehnsucht breitet ihre Arme aus und selbst das Leid geht wie ein guter Freund auf ihren Pfaden. Aber unsanft weckt das Leben die Träumendel Da kommen die Sorgen, die sie nicht angeschaut, und lachen ihr ins Antlitz und schneiden Fratzen und Gesichter; da bäumt sich der Kummer auf und der Gram führt bittere Streiche nach ihr. Die Leidenschaft zerreißt das Luftgebilde ihrer Träume, und die Wehrlose, die die Zügel verloren hat, steht am Abgrund des Nichtseins. Darum laßt uns wirklicher werden. Laßt uns standhaft die Leiden übernehmen, denen wir nicht zu entrinnen vermögen, damit wir die reinen Freuden retten können, denen das Schicksal nichts anzuhaben imstande ist, weil sie in der Wirklichkeit der Seele, im sittlichen Selbst wurzeln. Laßt uns die Gegenwart kennen und dennoch in der Zukunft leben; denn die Gegenwart ist nur das Kind der Zukunft, und was heute zukünftig ist, wird morgen gegenwärtig sein. Die Zukunft ist die tiefste Quelle der Wirklichkeit, aus der unser Wille das Sein schöpfen muß. Wollen wir wirklicher w e r d e n , so müssen wir der Zukunft ruhig und klar ins Auge sehen. Sie birgt Entsagung und Erfüllung. Dem kräftigen und reinen Willen ist die Zukunft wohlgesinnt. Wenn wir die Zukunft gestalten, so vertiefen wir die Wirklichkeit unserer Seele. Die reife Einsicht, daß die Wirklichkeit dem Individuum wie der Menschheit ein Problem und eine Aufgabe ist, lehrt die Seele Wachsamkeit. Allzugerne ruht der Mensch auf dem Faulbett der absoluten Gewißheit, und wer das absolute Sein zu besitzen glaubt, der hat es in Wahrheit
•
Vom Sein und von der Seele
S
verloren. Wie oft geht uns im Meere widerstreitender Gefühle ein Stück unserer mühsam erworbenen Innenwelt nach dem anderen verloren, und wie oft müssen wir vom Grund aus neu bauen. Es wäre eine fruchtbare Andacht und eine Zucht der Selbstüberwindung, wenn wir uns bei j e d e r Handlung und jedem Erlebnis fragen wollten: wieviel trägt es zu deiner Wirklichkeit bei? Was ist denn real, was bloßer Schein? Aber wir verschleudern die Geschenke des Schicksals, wenn wir uns den Freuden und Leiden hingeben wie das Tier. Ein großer Schmerz ist eine gütige Gabe des Lebens, die uns zur Menschenliebe erziehen soll: denn in dem individuellen Kummer spricht die Stimme der Menschheit zu uns, die mit uns leidet. Wir haben nur soviel individuelle Wirklichkeit, als wir von der Realität der Allheit aufzusaugen und darzustellen vermögen. Das sittliche Leiden, das Leiden, das uns besser macht, gebietet Ehrfurcht und erwirbt uns Freunde. Viele Unglückliche unter unseren Brüdern werden in eine Welt des Scheins hereingeboren; sie müssen kämpfen und dulden, wenn sie auch nur ein Fleckchen Wirklichkeit gewinnen wollen. Noch ist das Wissen und die Wissenschaft unserer Kultur nicht Allgemeingut g e w o r d e n ; viele stehen abseits und dürsten. Helfen wir ihnen, teilen wir unsere Schätze mit ihnen, s o bereichern wir uns selbst. Wir haben alle nur eine Heimat, zu der uns unsere Sehnsucht treibt: die Idee des Guten, welche zugleich die Idee der Menschheit ist. In ihr gibt es keine bevorrechteten Stände, keine Klassen- und Rassenunterschiede, keine Aristokraten und Plebejer. Wir machen uns selbst zu Fremden in der Welt und versperren uns den W e g zum ewigen Sein, wenn wir uns isolieren und Schranken errichten wider unsere Brüder. Die Fülle der Gefühle, mit der unser Herz begnadet sein könnte, der Reichtum des Empfindens, der
El
Vom Sein und von der Seele
B
unserer Seele bestimmt ist, stirbt und unsere Wirklichkeit wird arm und dürftig, wenn wir uns überheben und die Berührung mit den Verlassenen scheuen. Es ist kein menschliches Elend und Unglück, kein noch so enges Leben, in dem du nicht den ewigen Funken der Menschlichkeit leuchten siehst: und kein Mensch ist so klein, daß er dir nicht Schätze geben könnte, die dein Gemüt bereichern. Wer immer zurückgezogen lebt und sich ängstlich vor der Not und den Sorgen des Lebens versteckt, der weiß nicht, was Wirklichkeit ist. Wer nie schwere Stunden hatte, kennt auch keine frohen. Von der Seele zum Sein sind der Wege ungezählte; aber alle führen durch dorniges Gestrüpp zu fruchtbaren Auen. Laßt uns wirklicher w e r d e n !
tm
E S (3S) (55)
E S S S S S )
Ü b e r L i e b e und Humor, Haß und Ironie.
M
an muß nicht nur rechtschaffen lieben, sondern auch rechtschaffen hassen k ö n n e n : lieben das, was man
für wahrhaft, für gut und seiend hält; hassen, was man für nichtseiend, für hohl und falsch und schlecht hält.
Soll
man a b e r d i e M e n s c h e n hassen, an denen man s o e t w a s wie Falschheit und Schlechtigkeit wahrzunehmen
glaubt?
D a s dürfte man nur dann, wenn man an die Realität des B ö s e n glaubt, dem Schlechten eine gerade s o wahrhaftige E x i s t e n z zulegt, w i e dem Guten.
Wenn a b e r das Sein der
Idee, das wahrhaftige S e i n an sich (welches wir Menschen freilich immer nur als Ziel, als Aufgabe kennen)
zugleich
der Ausdruck und die Verwirklichung des Guten ist, dann kann
das B ö s e
kein S e i n ,
sondern
nur eine F o r m
des
Nichtseins, des P r o b l e m a t i s c h e n , Irrtümlichen, des ungelösten und unbesiegten C h a o s bedeuten. dann dürfen wir auch die Menschen
Ist dem a b e r so,
nicht h a s s e n :
denn
wahrlich, sie müßten aufgehört haben, Menschen zu sein, wenn
sie
nicht,
wenigstens, Reiche aber
ihrer
Bestimmung
und
Aufgabe
nach
d. h. in ihrer substantiellen Wesenheit, dem
der Wahrheit
und
des Guten
kein Mensch die Idee
zugehörten.
restlos in sich
Weil
verwirklicht,
weil wir alle arme, s c h w a c h e S ü n d e r sind, d. h. weil alle noch des P r o b l e m a t i s c h e n
wir
und Nichtseienden s o un-
endlich viel mit uns schleppen, s o daß unser wahrhaft sittliches
Selbst
und
also
auch
unsere wahrhafte
gleichsam nur wie ein a b g e w e h t e s Blatt auf dem
Realität Ozean
des Nichtseins schwimmt, deswegen regen sich in unserem El
6
—H
El
Uber Liebe und Humor, HaO und Ironie
H
gemeinsamen Verkehr die Gefühle des Hasses gegeneinander. Aber wir irren uns, wenn wir glauben, d e n M e n s c h e n im Menschen zu hassen; es ist gerade der N i c h t Mensch, der N o c h - N i c h t - M e n s c h , den wir h a s s e n , d. h. das, was in unserem Nächsten uns noch problematisch, nichtseiend, böse erscheint. Natürlich, wir können uns irren — und ein solcher Irrtum ist jeder HaO, der aus dem sogenannten Egoismus entspringt. Wir können uns ja auch in der Auffassung der Idee der Menschheit irren; je richtiger aber diese ist, d. h. j e tiefer wir in die Erkenntnis des Menschen und seiner Bestimmung eindringen, desto reiner, richtiger und gesunder wird unsere Liebe und unser Haß sein; wir werden auch dann den Irrtum ablegen, den M e n s c h e n im Menschen hassen zu können. Deshalb ist die einzig berechtigte Form, wie sich der Haß im Verkehr der Menschen untereinander äußern sollte, die Ironie oder die Satire. Denn die persönlichste Ironie bleibt im Grunde genommen doch unpersönlich. Die rechte und echte Ironie richtet sich immer gegen das Problematische, Nichtseiende im Menschen, gegen das, was er nur irrtümlich mit seinem Ich oder gar mit seinem sittlichen Selbst identifiziert. Indem sie mit diesem Irrtum scheinbar Ernst macht, enthüllt sie ihn in seiner ganzen Kläglichkeit. Wer mich ironisch behandelt, der zwingt mich, das, was er ironisiert, einmal völlig mit meinem Wesen in Eins zu sehen und mir darüber klarzuwerden: bin ich das wirklich? ist das mein Selbst? Und das Schmerzliche und Verletzende der Ironie gibt sich gerade in dem Gefühl kund, welches sich unser bemächtigt, wenn wir so gezwungen werden, ein Stück unseres Schein-Ichs fortzuwerfen. So hilft die echte Ironie zur Selbsterkenntnis und daher zur sittlichen Veredlung. Daher: je größer, je sittlicher ein Mensch ist, desto besser verträgt er die Ironie.
B
Ober Liebe und Humor, Haß und Ironie
Gl
Faust wächst und läutert sich an d e r Ironie d e s Mephisto. G o e t h e selbst hat in seinem Leben viel g e w o n n e n durch das F e g e f e u e r d e r Ironie (Herder in StraOburg, Merk usw.) — E s ist a b e r auch leicht begreiflich, w a r u m Liebende sogleich verletzen, w e n n sie sich ironisch b e h a n d e l n : „ E r sieht also nur das Nichtsein in m i r ? Positiv bin ich nichts?" D e r Liebe ist der H u m o r a n g e m e s s e n e r als die Ironie. E s liegt mir hier fern, eine T h e o r i e d e s H u m o r s zu geben, e b e n s o wie ich auch k e i n e T h e o r i e d e r Ironie geben wollte. Aber soviel darf man s a g e n : auch der H u m o r setzt ein Nichtseiendes gleichsam positiv; er unterscheidet sich a b e r dadurch von der Ironie, daß er s e i n e S c h w ä c h e frei eingesteht und nicht, wie die Ironie, verhehlt. Wenn ich mich über einen a n d e r n Menschen lustig mache, wenn ich ihn humoristisch behandle, s o setze ich immer gleichsam hinz u : ich weiß wohl, du bist nicht der, f ü r den ich dich jetzt zu halten v o r g e b e ; ich k e n n e dich besser. W a s sich liebt, das neckt sich, sagt d a s Volk. D e r Humor beruht auf der Liebe, wie die Ironie auf dem Hasse. Man muß lieben und hassen k ö n n e n , man muß sich mit Ironie und H u m o r ausrüsten, wenn man das Leben soll ertragen k ö n n e n . Die Ironie darf a b e r nie grausam sein; w o sie das ist, wurzelt sie in der Selbstüberhebung. Denn g r a u s a m wird die Ironie erst dann, wenn sie das g a n z e W e s e n des ironisch behandelten Menschen aufzuheben und in seiner Existenz zu leugnen sucht. W e r a b e r darf das bei seinem Mitmenschen? W e r e s tut, überhebt sich; nicht nur d a s : e r leugnet die Idee d e r Menschheit. D a h e r ist auch der Ironie der Humor näher verwandt, als es zuerst scheint. Ein Tropfen H u m o r muß sich der Ironie mischen. S o kann dem Haß auch der letzte S c h e i n des Persönlichen genommen werden. B
D i e Wirklichkeit d e s Individuums und der Kultur.
D
ie objektive Wirklichkeit eines Individuums ist immer nur ein Ausschnitt aus der objektiven Wirklichkeit der gesamten Menschheit; in keinem Moment seines Lebens ist das Individuum isoliert: seine theoretische und seine sittliche Welt wurzelt in der Kultur seiner Zeit und ist durch diese bedingt, wie es an seinem Teil, indem es seine eigene Wirklichkeit vertieft und erweitert, an der Kultur der gesamten Menschheit arbeitet. Aber die Kultur irgend einer Epoche stellt immer nur den unvollkommenen Versuch d a r , die Unendlichkeit des Seins in endlichen Formen des Geistes einzufangen. Das physikalische Sein in Begriffen der Wissenschaften, das sittliche Sein in Ideen. Die menschliche Wirklichkeit ist so immer nur wie ein kleiner, begrenzter Acker auf dem weiten Erdboden; wir müssen immer weiter und immer tiefer pflügen, und die Unendlichkeit des Seins, welche die Unendlichkeit der Probleme bedeutet, garantiert die Endlosigkeit des Forschens und Fortschreitens. In der relativen Welt seines Zeitalters ist der Mensch Herr; aber überall stößt er an die Probleme und an das Nichtsein, um stets von neuem daran erinnert zu werden, daß all unser Wissen und Wollen Stückwerk ist. Dabei ist leicht zu sehen, wie der Einzelne, das Individuum, um so sicherer und fester im Leben stehen muß, j e mehr er sich von der Kultur 9
•
ig
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
•
s e i n e r Zeit innerlichst zu eigen gemacht hat, und d a ß e r um s o s c h w ä c h e r und s c h w a n k e n d e r erscheint, j e m e h r er sich g e g e n s e i n e Mitwelt isoliert. A b e r s o e n g e r auch mit all seinem Tun, D e n k e n , Fühlen und Wollen an die G e samtheit g e b u n d e n ist, s o ist doch s e i n e Wirklichkeit n u r ein S t ü c k w e r k vom S t ü c k w e r k , n u r ein Ausschnitt a u s dem Ausschnitt d e s Seins, den wir Dasein n e n n e n . E r baut sich oft n u r an einer bescheidenen E c k e a n ; ja, e r gleicht dem Arbeiter, d e r an d e r großen Maschine n u r einen H a n d griff zu üben v e r m a g — d e r a b e r seinen b e s c h e i d e n e n Anteil um s o b e s s e r leisten w i r d , j e v o l l k o m m e n e r e r den S i n n d e s G a n z e n durchschaut und d u r c h d r i n g t . D e m Teile d e r objektiven Wirklichkeit a b e r , den sich d e r E i n z e l n e erobert hat, entspricht f ü r ihn eine subjektive Welt d e s Gefühls, d e r T r i e b e und E m p f i n d u n g e n , die mit den Begriffen d e r Vernunft v e r k n ü p f t sind, d e r e n U n t e r g r u n d und Begleiter sie bilden. S o steht d a s Individuum g e n a u g e n o m m e n einer doppelten Unendlichkeit problematischen S e i n s g e g e n ü b e r . E s ist nicht n u r die Unendlichkeit d e r objektiven P r o b l e m e , welche die Wissenschaft übrig läßt und die f ü r e s noch vermehrt w e r d e n durch die eigene U n w i s s e n h e i t und Isoliertheit g e g e n die Kultur, s o n d e r n eine subjektive U n e n d lichkeit d e s P r o b l e m a t i s c h e n verbindet sich j e n e r o b j e k tiven, und sie wurzelt in den Gefühlen, B e s t r e b u n g e n , Empfindungen usw., die sich dem Begriffe noch nicht anschmiegen und in d e r e n Nacht das Licht d e r V e r n u n f t noch nicht hineingeleuchtet hat. Mystische und s c h w ä r m e r i s c h e Naturen pflegen nach dieser Seite ihres S e e l e n l e b e n s den S c h w e r p u n k t ihres D a s e i n s zu v e r l e g e n : freilich zumeist nur, um mit unreifen und unzulänglichen Begriffen sich hier eine n e u e Welt zu e r b a u e n , die schon d e s w e g e n k e i n e n Anspruch auf w a h r e Realität erheben kann, weil j e n e Begriffe
• =
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
B
den Z u s a m m e n h a n g mit d e r W i s s e n s c h a f t scheuen. Das schließt natürlich nicht aus, d a ß s e h r oft die tiefsten W u r zeln d e s persönlichen E r l e b n i s s e s in j e n e R e g i o n g r e i f e n , w e n n d a s L e b e n s z e n t r u m d e s Einzelnen durch die T r a g i k d e s Schicksals erschüttert w i r d . D a s L e b e n s z e n t r u m d e s Einzelnen liegt a b e r zumeist bei k l a r e n und sittlich reinen Naturen in solchen B e g r i f f e n , die z u r E r k e n n t n i s und A u f r i c h t u n g d e r objektiven Wirklichkeit dienen, und in solchen G e f ü h l e n , die mit diesen B e g r i f f e n v e r b u n d e n s i n d ; vornehmlich a b e r in d e r b e s o n d e r e n S t e l l u n g zu den sittlichen Ideen s e i n e r Zeit. Innerhalb s e i n e r Wirklichkeit a b e r bildet sich d a s L e b e n s z e n t r u m d e s Individuums aus d e n j e n i g e n Begriffen, G e f ü h l e n und Ideen, mit welchen seine Existenz am unmittelbarsten verk n ü p f t ist, und z w a r nicht nur s e i n e physisch-tierische, s o n d e r n v o r allen Dingen s e i n e sittliche und auch ästhetische E x i s t e n z . Wie aber d e r Mensch durch j e d e n Begriff und j e d e Idee ü b e r sich selbst h i n a u s g e w i e s e n wird, s o besteht auch sein L e b e n s z e n t r u m j e w e i l s in d e r Relation s e i n e s Ichs zum a n d e r e n , zum Mitmenschen. D e r eine g e h t m e h r im Staat, d e r a n d e r e in d e r Familie auf; und selbst d e r einseitige F o r s c h e r , d e s s e n Beruf sein Interesse an d e r Unmittelbarkeit seiner menschlichen U m g e b u n g zu ersticken scheint, bezieht sich doch mit seinen Arbeiten in letzter h i n s i e h t auf die Menschheit. D i e s Eine, welches d e m Individuum Halt verleiht, diesen Mittelpunkt seiner Wirklichlichkeit und seines Daseins, diese Relation s e i n e s Ich zum a n d e r e n , n e n n e ich eben sein L e b e n s z e n t r u m . Dies ist d e r f e s t e P o r t , von dem aus e r seine Lebensfahrten untern i m m t und auf den er z u r ü c k k o m m t ; von hier a u s naht e r sich, bescheiden und zaghaft, o d e r kühn und v e r w e g e n , e h r e r b i e t i g und spöttisch und s i e g e s g e w i ß , an s e i n e m Teil d e r objektiven und subjektiven Unendlichkeit d e s Nichtseins,
• =
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur =
•
um ihm ein Stückchen Sein zu entreißen. Ein haltloser Mensch ist ein Mensch ohne solches Lebenszentrum. Glücklich, wem die Liebe sein Lebenszentrum erschuf. Der Liebende zieht den Geliebten so tief in seine Wirklichkeit hinein, macht ihn sich so völlig zu eigen, daß dadurch eine gewaltige Steigerung seiner Welt erfolgt; eine Ausweitung und Vertiefung seines ganzen Daseins. Die Tragik des Daseins aber offenbartsich, wenn das Ungewisse, Problematische des Lebens, kurz, das uns umgebende Nichtsein, seine Arme eben nach jener letzten, sicheren Burg unserer seelischen Existenz ausstreckt, wenn das, was uns als Wall und Schutz im Lebenskampf diente, selbst in diesen Kampf hereingezogen wird. Da tut sich auf einmal und erschreckend die intelligible Zufälligkeit der Welt vor uns auf. Daher der tiefe Schmerz des Patrioten, wenn die Freiheit seines Vaterlandes auf dem Spiele steht; das Herzweh des Liebenden, der die Geliebte zu verlieren befürchten muß usf. Doch kann die Erschütterung des Lebenszentrums auch nur eine scheinbare sein, eine spielende, wie in der tragischen Kunst. Wenn uns die Tragödie nach Aristoteles durch Furcht und Mitleid läutern soll, so wird diese Wirkung von hier aus verständlich. Die tragische Wirkung eines Dramas wird um so größer sein, je gewaltiger wir das Gefüge unseres Lebens in seinem Innersten erschüttert fühlen. Aber auch das Befreiende der tragischen Kunst kann man von hier aus begreifen: denn der tragische Held wird höchstens für Augenblicke an seinem inneren Halte irre, er stirbt für die Substanz und den Kern seiner sittlichen Wirklichkeit und bestätigt eben dadurch die Realität seines Lebenszentrums. Und das wirkt naturgemäß auf den Zuhörer zurück. Wir haben gesagt, daß jeder, der an der Vertiefung
0 r =
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur =
•
seiner individuellen Lebenswirklichkeit arbeitet, zugleich auch an der F ö r d e r u n g der menschlichen Kultur wirkt. Denn wie kann er sein Dasein vertiefen, als indem er zugleich den Kreis desjenigen erweitert, was seinen Lebenshait ausmacht, das Zentrum seiner Wirklichkeit? Von hier aus muß er ja, so sagten wir, sich dem Problematischen und dem Nichtsein nähern. Nun ist aber seine Gemeinschaft mit der übrigen Kultur um so fester, j e mehr er von dieser in den Mittelpunkt seines Lebens zieht und umgekehrt: j e reicher das ist, was er von seinem Lebenszentrum aus der Kultur zu geben vermag, desto inniger wird sein Anteil an der allgemeinen Kultur werden. Kleine Geister, welche unter den Schwächen und der Mangelhaftigkeit der bestehenden Wirklichkeit leiden, rächen sich an ihr, indem sie sich in ihrem Schmerz isolieren und so sich selbst dem Reiche des Nichtseins in die Arme werfen; für edle Menschen ist das Leid stets der Ansporn zur Tat. Wenn dem Tapferen der Halt seines Lebens erschüttert wird, so gräbt er tiefer, um einen neuen, besseren zu gewinnen. Das sind die schlimmsten Zeiten im Leben, wo die Seele sich neu befestigen muß in der Wirklichkeit. Und wer das Schwanken und den Zweifel, ja die zeitweilige Verzweiflung des Herzens nicht erlebt hat, welche mit diesem Streben nach Vertiefung und Neubegründung der Eigenwelt verbunden ist, der sollte nicht über seine Mitmenschen urteilen dürfen. Die schlimmsten Kämpfe, die der Mensch auf Erden zu bestehen hat, sind nicht die aus materiellen Sorgen, aus Krankheit oder äußeren Erlebnissen stammenden, sondern jene unaussprechliche innere Not, in welche das Gemüt verstrickt wird, wenn es die sicherste Stütze seiner seelischen Existenz erschüttert sieht und nach einer neuen Umschau hält. Es gibt daher aber auch keinen sichereren und nachhaltigeren Weg, die
• =
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
H
Freundschaft und die Liebe eines Menschen zu gewinnen, als den, ihm in der Befestigung seines Lebenszentrums beizustehen. Es kann wohl eine Freundschaft oder Liebe auch aus einer äußeren Tat entspringen, aus Dankbarkeit für eine geleistete materielle Hilfe, Mitleid mit der äußeren Not eines anderen usw. Aber wenn sich hernach zeigt, daß die Lebenszentren der beiden sich suchenden Menschen entgegengesetzt sind, welche inneren Kämpfe, welche Herzensnot pflegt dann zu entspringen? Ganz anders, wenn sich die freundschaftliche Gemeinschaft oder der Liebesbund entwickelt aus jener geheimen, oft kaum verstandenen und gleichsam unwillkürlichen Mitarbeit des einen am Lebenszweck des anderen. Da wachsen die Seelen gleichsam zusammen. Übrigens ist hier eine dauernde Vereinigung und nie endende Befriedigung auch nur dann möglich, wenn beide Teile geben und empfangen. Es gewährt wohl einen gewissen Reiz, eine fremde Seele nach der eigenen zu modeln; und auch umgekehrt kann der Schüler für Zeiten völlig und restlos in den Meister aufzugehen scheinen. Allein auf die Dauer kann dies Verhältnis beiden Teilen nicht genügen; denn jeder sucht schließlich im anderen eine Erweiterung und Vertiefung des eigenen Lebenszentrums: dies setzt voraus, daß erstens j e d e r schon etwas Eigenes mitbringt und zu geben hat, daß aber auch zweitens jeder bereit ist zu empfangen. Der Reiz, das Seelenleben eines Mitmenschen nach dem eigenen Bilde zu gestalten, ist mehr ein ästhetischer als ein rein sittlicher: denn der sittliche Zweck setzt immer die Anerkennung des Eigenwertes und die Achtung vor dem besonderen des Mitmenschen voraus. Im alltäglichen Verkehr pflegen die Menschen wechselseitig nicht bis zum Lebenszentrum jedes Einzelnen vorzu-
B
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
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d r i n g e n ; sie betasten gleichsam nur die O b e r f l ä c h e n d e r Seelen und finden sich auf den P u n k t e n d e r objektiven, allgemeinen Kulturwirklichkeit, die mit ihrer E x i s t e n z am wenigsten unmittelbar zusammenhängt. Solche Menschen k ö n n e n in e i n e m A u g e n b l i c k F r e u n d , im nächsten d i e bittersten F e i n d e sein. G e m e i n e Naturen glauben im V e r k e h r nur, w a s s i e s e h e n und hören und sich mit S i n n e n w a h r nehmen läßt. D a s L e b e n s z e n t r u m eines M e n s c h e n birgt a b e r s e i n e g e h e i m s t e n und tiefsten Wünsche, H o f f n u n g e n und G e f ü h l e , und ist d a h e r nur allenfalls den A u g e n d e s G e i s t e s sichtbar. D a h e r m ü s s e n L i e b e n d e und F r e u n d e a n e i n a n d e r g l a u b e n , sie müssen a u f e i n a n d e r v e r t r a u e n . D i e Oberflächlichkeit d e s konventionellen U m g a n g s sieht n u r auf die T a t e n , nicht auf die H a n d l u n g e n d e r M e n s c h e n . J e d e H a n d l u n g d e s M e n s c h e n drückt i n s o f e r n sein e i g e n tümlichstes W e s e n aus, a l s sie a u s s e i n e m L e b e n s z e n t r u m entspringt und in diesem wurzelt. Um d a h e r d i e H a n d l u n g eines Menschen s o w e i t zu v e r s t e h e n , als d a s ü b e r h a u p t möglich ist, muß man eine tiefe i n n e r e G e m e i n s c h a f t mit ihm haben, die nicht nur die Oberfläche, s o n d e r n d i e tiefste Tiefe d e r S e e l e berührt. D a h e r ist d e r Klatsch und Tratsch s o lieblos und ungerecht, d e r sich an die ä u ß e r e , s i c h t b a r e Tat, an das, w a s vor aller A u g e n liegt, hält und e s an den möglichst e n g h e r z i g und absolut gefaßten G e s e t z e n einer b e s t e h e n d e n , meist a b e r schon halb ü b e r w u n d e n e n Sittlichkeit mißt. W e r sein Leben an einen Irrtum hängt, d e r w a n d e l t wie ein Schatten unter den L e b e n d i g e n . Viele t r a g e n d a s Nichtsein im Herzen und ein W i n d s t o ß des S c h i c k s a l s genügt, die Realität ihrer Existenz völlig zu e r s c h ü t t e r n . Nun, die a b s o l u t e Wahrheit wird keinem zuteil, und auch der, w e l c h e r am kräftigsten und reinsten nach dem E w i g e n und Unendlichen strebt, schleppt die Last d e s Irrtums und d e s
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Wirrsals mit sich. Wenn sich die Liebe nun an das Positive, an den realen Halt des Lebenszentrums anschließt und ihn vertieft und verstärkt, so umgekehrt der HaO, der das Nichtsein in der Seele des Feindes aufsucht und unbarmherzig dem Tage preisgibt und so seine Schein-Existenz zerstört. Die berechtigte Form des Hasses, weil sie unpersönlich ist und nicht den M e n s c h e n , sondern die Sache betrifft, ist die Ironie; denn sie setzt (wie ich früher gezeigt habe) die Schein-Existenz der Seele einmal probeweise als das Positive, als die Substanz der Seele und enthüllt sie geradeso in ihrer Nichtigkeit. Es gibt aber auch eine Ironie des Schicksals, wo die äußeren Umstände oder die inneren Erlebnisse des Menschen selbst ihm die Negativität seines Lebenszentrums dadurch vor Augen führen, daß sie sein Lebenszentrum wirklich ironisch als ein Positives anerkennen, um es alsdann um so gründlicher zu zerstören und aufzulösen. Die scheinbare Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen, von der Schopenhauer metaphysisch orakelt hat, beruht in den meisten Fällen darauf, daß die Wirklichkeit des Lebenszentrums sich an der objektiven Wirklichkeit bewährt und ihre Realität gleichsam beglaubigt; dann scheinen die äußeren Umstände dem Wunsche oder dem wahren, wohlverstandenen Glücke des Individuums entgegenzukommen, während doch in Wahrheit nur sein Lebenshalt die P r o b e besteht. Es gibt aber keinen Mensch, dessen Gemüt allen Ereignissen gewachsen w ä r e : sondern j e d e r muß darauf jederzeit gefaßt sein, umzulernen. Nur der Dogmatiker hält das, was ihn durch das Leben führt, für absolut. Es gibt in diesem Sinne auch keinen angeborenen und unzerstörbaren Charakter, sondern der Charakter und das sittliche Selbst ist jederzeit eine Aufgabe des freien Willens. Nur die Richtung auf das Unendliche und Ewige soll der
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Mensch allezeit beibehalten, a b e r d e r Abglanz des E w i g e n in d e r S e e l e ist nicht unveränderlich. D i e R i c h t u n g auf das U n e n d l i c h e m u ß allerdings schließlich die G r u n d l a g e jedes L e b e n s z e n t r u m s bilden, und weil diese gleichsam a l s u n v e r ä n d e r l i c h e S u b s t a n z z u g r u n d e liegt, k ö n n e n die Akzidenzen, den jeweiligen Inhalt d e s L e b e n s z e n t r u m s n o t g e drungen wechseln. D i e glücklichsten Naturen sind es, w e l c h e ihr L e b e n s zentrum nicht s p r u n g w e i s e , s o n d e r n kontinuierlich vertiefen und a u s g e s t a l t e n . Z e r r i s s e n e C h a r a k t e r e , welche d e n n o c h sehr oft den F o r t g a n g d e r Kultur um J a h r h u n d e r t e f ö r d e r n und die objektive Wirklichkeit g e w a l t i g bereichern, w e r d e n häufig in den tiefsten G r ü n d e n i h r e r S e e l e erschüttert und ihr L e b e n s z e n t r u m und damit ihre g a n z e Existenz und W i r k lichkeit ist in einem unaufhörlichen F l u ß begriffen. A b e r sie b e w e i s e n ihre G r ö ß e auch d a d u r c h , d a ß sie ihrem Schicksal nicht a u s w e i c h e n , s o n d e r n es ü b e r w i n d e n . Man k a n n j a Verzweiflung, K u m m e r und S c h m e r z zeitweilig b e t ä u b e n und u n t e r d r ü c k e n , indem man „sich zerstreut". Man w e n det dann den geistigen Blick g e w a l t s a m ab von der Lücke in d e r eigenen Wirklichkeit und versucht, d a s L e b e n s z e n trum an die P e r i p h e r i e zu verlegen. D a s kann w o h l f ü r S t u n d e n , auch f ü r T a g e und W o c h e n gelingen — a b e r endlich bricht doch die E r k e n n t n i s sich B a h n , daß das alles u m s o n s t ist, d a ß das Leben unmöglich ist, s o l a n g e die R e a lität d e r E i g e n w e l t nicht w i e d e r g e s i c h e r t ist. Man muß schließlich j e d e s Erlebnis, auch d a s schmerzlichste, in die subjektive Wirklichkeit e i n o r d n e n und ihm in irgend e i n e r F o r m Dasein verleihen. Denn e s ist gefährlich, j a u n m ö g lich, auf die D a u e r im P r o b l e m a t i s c h e n d e s Leides s t e c k e n zu bleiben; man muß es sich vielmehr aneignen und s o einen L e b e n s g e w i n n daraus ziehen. D e r Künstler verlegt sein L e b e n s z e n t r u m in das Reich
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d e r S c h ö n h e i t . E r erlebt daher die g a n z e Welt gleichsam symbolisch, d e n n seine sittliche und seine natürliche Wirklichkeit dienen ihm nur als Kleid der ästhetischen Idee. E r hat d a s mit dem S c h w ä r m e r g e m e i n s a m , d a ß das Gefühl den Mittelpunkt und G r u n d s t o c k seiner S e e l e ausmacht — und man hat d a h e r auch seit alter Zeit den Dichter f ü r einen gotterfüllten S c h w ä r m e r a n g e s e h e n . A b e r von dem religiösen Mystiker und S c h w ä r m e r unterscheidet sich d e r K ü n s t l e r doch eben dadurch, daß er d e r Idee, die freilich n u r im Gefühl völlig zu ergreifen ist (weil sie d e r E r k e n n t n i s ein e w i g f e r n e s Ziel bleibt), einen A u s d r u c k in d e r Wirklichkeit zu geben unternimmt, w ä h r e n d d e r S c h w ä r m e r sich g e r a d e von d e r objektiven Wirklichkeit abkehrt und in d e r Unendlichkeit d e s G e f ü h l e s versinkt. D a h e r m u ß auch d e r rechte Künstler in d e r Natur zu H a u s e sein, und j e reicher und tiefer s e i n e E i g e n w e l t ist, d e s t o g r ö ß e r sind auch die Mittel, mit d e n e n er s e i n e A u f g a b e im K u n s t w e r k zu lösen imstande ist. Die G e f a h r der rein ästhetischen W e l t a n s c h a u u n g liegt also darin, daß d a s F u n d a m e n t d e r P e r s ö n l i c h k e i t lediglich im Gefühl, statt, wie es die sittliche A u f f a s s u n g mit sich führt, im klaren Bewußtsein d e r E r k e n n t n i s ruht. E s soll hier natürlich kein G e g e n s a t z und keine F e i n d s c h a f t zwischen Wirklichkeit und Kunst aufgestellt w e r d e n . W e r vermöchte o h n e K u n s t zu l e b e n ? Aber den Z w e c k und das Endziel d e s D a s e i n s muß d a s S i t t e n g e s e t z b e s t i m m e n : und dies richtet sich ja auch g a r nicht an den ästhetischen Zustand, s o n d e r n an die H a n d l u n g e n d e r Menschen. E s verlangt a b e r , d a ß wir die G e f ü h l e und T r i e b e mit Bewußtsein d u r c h d r i n g e n und so unser L e b e n s z e n t r u m mit dem Lichte d e r E r k e n n t n i s erleuchten. Diesem B e s t r e b e n , d a s L e b e n s z e n t r u m immer r e i n e r und tiefer zu entfalten, stellen sich oft Vorurteile in den
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W e g . Vorurteile sind immer dogmatisch v e r s t e i n e r t e Begriffe, durch w e l c h e die Wirklichkeit des Individuums in G e g e n s a t z z u r objektiven Wirklichkeit d e r Menschheit g e rät. D a ß es a b e r oft s o s c h w e r ist, sich von Vorurteilen zu b e f r e i e n , d a s hat seinen G r u n d d a r i n , daß j e n e vera l t e t e n , absolut gefaßten Begriffe s o tiefe Wurzel im G e fühlsleben d e s Menschen haben. D u r c h die B e g r i f f e o b j e k tivieren w i r j a u n s e r e E m p f i n d u n g e n und G e f ü h l e . D a h e r k o m m e n die Vorurteile d e r M e n s c h e n zumeist auch erst d a n n richtig ins S c h w a n k e n , w e n n die S e e l e durch neue, u n g e k a n n t e G e f ü h l e erschüttert und durchgerüttelt w i r d . D e n n s o klopft d a s e w i g P r o b l e m a t i s c h e vernehmlich an d a s B e w u ß t s e i n und zwingt d a s Gemüt, eine neue, reichere Wirklichkeit a u f z u b a u e n . W e r hat nicht schon an sich s e l b s t erlebt, d a ß e r z. B. einen Dichter b e s s e r versteht und d i e vom Dichter gezeichneten Situationen b e s s e r in sich nachzubilden i m s t a n d e ist, nachdem er die e n t s p r e c h e n d e n G e f ü h l e am e i g e n e n Leibe s o z u s a g e n k e n n e n gelernt h a t ? D a s Talent bildet sich in d e r Stille, d a s G e n i e im S t r o m d e r Welt. D e n n d a s Talent pflegt sich d e r Kunst von d e r logisch-begrifflichen Seite zu nähern, d a s G e n i e a b e r vom Z e n t r u m der K u n s t selbst aus, vom Gefühl. Man kann keinen M e n s c h e n zum Künstler m a c h e n , man kann nur den g e b o r e n e n K ü n s t l e r e r z i e h e n zur Kunst. D a n n freilich bedarf j e d e r Künstler, das G e n i e s o w o h l wie d a s Talent, d e r begrifflichen Klarheit. Denn es ist, wie Schiller g e s a g t hat, daß auch ein Dilettant von einer poetischen Idee g e r ü h r t w e r d e n kann, a b e r er v e r m a g sie nicht a u s sich herauszustellen und unterscheidet sich g e r a d e d a d u r c h vom echten K ü n s t l e r . Nun ist freilich j e d e r Mensch, n u r in verschied e n e m G r a d e , ein g e b o r e n e r Künstler, und insofern gibt e s wirklich eine E r z i e h u n g zur Kunst. A b e r beim g r o ß e n K ü n s t l e r tut doch d a s Leben das B e s t e : es macht ihn recht
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eigentlich zum S c h ö p f e r . Jedes echte Kunstwerk ist zugleich ein persönliches Bekenntnis, eine Beichte. Und es räumt immer zugleich mit tausend Vorurteilen auf, indem es, wenigstens dem verständnisvoll Genießenden, zeigt, wie gering ihr Gefühlswert ist. S o kann man die Erziehung des Menschengeschlechtes zwar nicht auf die Kunst aufbauen, wohl aber kann sie unterstützen und fördern. Der Künstler kann gewissermaßen das Experiment und die P r o b e darauf machen, ob denn in der Tat die Wirklichkeit, die sich das Individuum aus seinen dogmatischen Begriffen gezimmert hat, so tief in der Unendlichkeit seines Gefühls wurzelt, wie es vermeint. Indem das Kunstwerk die Gefühle reinster Menschlichkeit zu erwecken vermag, verschwindet vor seiner Kraft der Schein der Absolutheit, mit welchem die enge Welt des Einzelnen sich so leicht umkleidet. Statt dessen steigt die Ahnung einer höheren Art des Seins in uns auf, welche die Menschen verbindet und die Gegensätze und Besonderheiten der Individuen überbrückt. Vorurteile beengen wohl jeden Menschen; aber es gibt Dogniatiker des Lebens, welche ihr ganzes Lebenszentrum absolut setzen und versteinern lassen, ihre Wirklichkeit ist durchaus endlich und begrenzt: das Stückchen, was sie sich von der objektiven Kulturwirklichkeit zu eigen gemacht haben, halten sie für das Sein an sich. Man könnte Gruppen von solchen Menschen aufstellen: Den religiösen Fanatiker, den spießbürgerlichen Philister, den dogmatischen Forscher usw. Auch auf dem Gebiete der Kunst gibt es solche Dogmatiker. E s sind durchaus unglückliche Menschen, wenn sie auch ihre Ärmlichkeit und ihr Unglück nur selten spüren. In den seltenen Stunden, da auch durch ihre Brust die Schauer der Unendlichkeit wehen, fühlen sie sich nicht erhoben, sondern niederge-
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drückt und vernichtet. D o g m a t i k e r sind auch im G r u n d e gen o m m e n alle „ Ü b e r m e n s c h e n " und rücksichtslosen E g o i s t e n : weil sie gleichfalls ihre E i g e n w e l t f ü r absolut e r k l ä r e n , und statt die Einheit ihres L e b e n s z e n t r u m s mit d e r Kulturwelt zu e r s t r e b e n , vielmehr ihr b e s c h r ä n k t e s Ich an Stelle d e r Kultur setzen wollen. W i r h a b e n g e s e h e n , daß d a s Verhältnis d e r Eigenwelt zur K u l t u r w e l t ein w e c h s e l s e i t i g e s ist: die Einheit d e r Menschheit w ä r e e r s t dann e r r e i c h t , w e n n sich beide nie und n i r g e n d s mehr w i d e r s p r ä c h e n . Diesem Ziel uns anz u n ä h e r n , ist die A u f g a b e u n s e r e s Lebens. E s gibt a b e r s c h e i n b a r zwei W e g e , w e l c h e dorthin führen, die sich allerd i n g s bei n ä h e r e r B e t r a c h t u n g als lediglich psychologisch verschieden e r g e b e n . W i e ich in d e r Gleichung: y = x s z. B. e b e n s o w o h l y als F u n k t i o n von x, wie auch u m g e k e h r t x als F u n k t i o n von y auffassen k a n n : s o kann ich in g e w i s s e m S i n n e auch e b e n s o g u t meine individuelle Wirklichkeit als F u n k t i o n d e r allgemeinen Kulturwirklichkeit auff a s s e n , w i e u m g e k e h r t : denn beide bestimmen sich wechselseitig. J e n a c h d e m , w o ich eben nun den A u s g a n g s p u n k t d e r B e t r a c h t u n g wähle, erhalte ich ein g a n z a n d e r e s Weltbild, o h n e d a ß sich doch die Korrelativität b e i d e r G r ö ß e n v e r l ö r e . E s gibt Naturen, wie z. B. Goethe, Wilhelm v. Humboldt, die i m m e r gleichsam von innen nach außen, von ihrer E i g e n w e l t a u s z u r Kulturwirklichkeit v o r d r i n g e n . Scheinb a r ergreifen sie j e d e s E r e i g n i s und E r l e b n i s nur, um damit ihre E i g e n w e l t zu bereichern und zu vertiefen; aber indem sie dies tun, bereichern sie die objektive Wirklichkeit d e r Kultur. A n d e r e w i e d e r , wie z. B. Schiller, scheinen ihr g a n z e s L e b e n nur in den Dienst der Kultur d e r Menschheit zu s t e l l e n , vertiefen a b e r g e r a d e in dieser Wirksamkeit von außen nach innen ihr e i g e n e s L e b e n s z e n t r u m ins Unendliche. Mit den „ L e i d e n des j u n g e n W e r t h e r " z. B.
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hat G o e t h e sein Ich befreit, nach e i g e n e m G e s t ä n d n i s . Indem e r a b e r s o n u r an seiner eigenen Wirklichkeit zu arbeiten s c h i e n , g a b e r d e r objektiven Wirklichkeit einen W e r k von unvergänglichem Wert. Und w e n n Schiller sich's mit dem Studium d e r Kantischen P h i l o s o p h i e s a u e r w e r den ließ, w e n n e r d e r „ästhetischen E r z i e h u n g d e s M e n s c h e n g e s c h l e c h t e s " nachsann, s o hat ihm dies doch, nach seinem eigenen G e s t ä n d n i s , erst die Klarheit und Tiefe d e s L e b e n s z e n t r u m s g e g e b e n , welche ihn dann zur g r ö ß e r e n poetischen P r o d u k t i o n erst befähigte. Wir haben gesagt, daß die D o g m a t i k e r des L e b e n s ihre Wirklichkeit absolut s e t z e n ; i n d e m sie dies t u n , isolieren sie sich g e g e n die allgemeine Kulturwirklichkeit. D e n n s i e nehmen j a nicht teil an dem R i n g e n d e r Menschheit um V e r t i e f u n g d e s L e b e n s i n h a l t e s und am Fortschritt d e r Kultur. Damit nun freilich g e r a t e n sie in eine Welt d e s bloßen Scheines, d e s Nichtseins; ihre Wirklichkeit v e r w a n d e l t sich in eine Illusion, ein b l o ß e s P h a n t o m d e s D a s e i n s : denn j e d e echte E i g e n - R e a l i t ä t eines Individuums muß j a , w i e oben ausgeführt, in steter und l e b e n d i g e r W e c h s e l b e z i e h u n g z u r allgemeinen Kulturwelt stehen. Man kann in d e r Tat leicht den C h a r a k t e r d e s P r o b l e m a t i s c h e n , Nichtseienden an allen L e b e n s ä u ß e r u n g e n des D o g m a t i k e r s w a h r n e h m e n . S e i n e B e g r i f f e , die viel zu e n g e s i n d , um auch n u r den Teil des unendlichen S e i n s zu u m f a s s e n , w e l c h e r die allg e m e i n e Kulturwirklichkeit seiner Zeit bildet, g e b e n ihm nur S c h e i n - L ö s u n g e n , nur Schein-Wahrheit. J e d e r philos o p h i s c h e D o g m a t i k e r kann uns hiervon ü b e r z e u g e n . W e n n z. B. S c h o p e n h a u e r mit dem S c h l a g w o r t : Wille alle P r o bleme d e r Welt zu lösen v e r s u c h t , s o erstickt er sie vielm e h r in W a h r h e i t : eine Biologie auf S c h o p e n h a u e r s c h e r G r u n d l a g e ist eine Unmöglichkeit. O d e r man n e h m e einen N a t u r f o r s c h e r , der e i n e r T h e o r i e a n h ä n g t , die e r absolut
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setzt: e r m u ß t a u s e n d n e u e n E r s c h e i n u n g e n G e w a l t a n t u n , um sie u n t e r s e i n e B e g r i f f e zu z w i n g e n . A b e r auch d i e moralischen L e b e n s ä u ß e r u n g e n d e s D o g m a t i k e r s v e r r a t e n ihre Hohlheit und ihren Mangel an echter Realität auf Schritt und Tritt. D e r D o g m a t i k e r hält sich immer an die M a t e r i e , nicht an die F o r m d e r Sittlichkeit, d. h. e r hat bestimmte Einzelfälle d e s moralischen L e b e n s vor A u g e n , an denen e r n e u a u f t a u c h e n d e mißt, die doch immer g a n z n e u e B e d i n g u n g e n und V o r a u s s e t z u n g e n in sich t r a g e n . D a s S i t t e n g e s e t z ist a b e r , wie j e d e s echte Gesetz, f o r m a l , d . h . e s gibt n u r die M e t h o d e z u r B e u r t e i l u n g j e d e s Einzelfalles, nicht a b e r den Einzelfall selbst. J e e n g e r nun d e r Schatz d e r L e b e n s e r f a h r u n g ist, ü b e r den ein D o g m a t i k e r d e r Moral v e r f ü g t , d e s t o e n g h e r z i g e r wird e r in s e i n e n H a n d l u n g e n und Urteilen sein. S o versagen s e i n e sittlichen B e g r i f f e in d e r Welt d e r Wirklichkeit g e n a u s o , w i e s e i n e theoretischen B e g r i f f e an d e r objektiven N a t u r w i r k lichkeit. S e i n e H a n d l u n g e n , die e r f ü r sittlich hält, sind zumeist unsittlich, weil sie auf S c h e i n - V o r a u s s e t z u n g e n beruhen, die k e i n e w a h r e Existenz h a b e n . — S c h l i e ß l i c h k a n n man s o g a r sagen, d a ß auch die G e f ü h l e d e s D o g m a t i k e r s sich der R e a l i s i e r u n g durch die Vernunft entziehen. Hier d ü r f e n w i r nur auf d a s v e r w e i s e n , w a s oben ü b e r d i e Vorurteile und d a s Gefühl g e s a g t w u r d e . D e r Idealist ist im G e g e n s a t z zum D o g m a t i k e r d e r w a h r e Realist, d. h. d e r M e n s c h , w e l c h e r sich die meiste Realität e r o b e r t und zu eigen macht. D e n n der Idealist sucht die Einheit der Natur und Sittenwelt in d e r Einheit d e r V e r n u n f t und sieht sich s o überall schon kraft s e i n e s S t a n d p u n k t e s auf die Allgemeinheit, d a s allgemeine Sein h i n g e w i e s e n und ist d e m n a c h bestrebt, seine E i g e n w e l t in d e r allgemeinen Kulturwirklichkeit zu befestigen. D i e Vernunft vereinigt die M e n s c h e n , die ungezügelten G e f ü h l e ,
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E m p f i n d u n g e n und L e i d e n s c h a f t e n t r e n n e n sie. Hegel hat g e s a g t : w a s wirklich ist, ist v e r n ü n f t i g ; d e r Satz ist, richtig v e r s t a n d e n , zu h a l t e n ; e r s t die U m k e h r u n g ist fehlerhaft: alles V e r n ü n f t i g e ist wirklich. Freilich k o m m t d e r Vernunft Sein z u , a b e r nicht d u r c h a u s Dasein o d e r Wirklichkeit. E s hieße die P r o b l e m e , den Irrtum, die S ü n d e und d a s M a n g e l h a f t e d e r Welt leugnen, w e n n man sagen w o l l t e : alles V e r n ü n f t i g e sei b e r e i t s wirklich. Vielmehr, w i e die Kulturwirklichkeit e i n e r Z e i t , mit dem Ideal verglichen, i m m e r u n v o l l k o m m e n ist, s o ist auch i m m e r erst ein Teil d e s D a s e i e n d e n v e r n ü n f t i g ; ihm darf man auch nur d a s P r ä d i k a t „ w i r k l i c h " z u l e g e n . Ü b e r das V e r n ü n f t i g e sind die M e n s c h e n e i n i g ; w o s i e noch streiten, ist die Vernunft noch nicht rein i n s D a s e i n g e t r e t e n . S o bleibt freilich die Einheit d e s D a s e i e n d e n i m m e r noch problematisch. Die G e f ü h l e und L e i d e n s c h a f t e n sind es, welche uns daran eri n n e r n . Und doch ist g e r a d e d a s Gefühl d e r W e g , uns die Einheit d e s Ideals v o r s c h a u e n d empfinden zu lassen: in d e r K u n s t . Tiefe Naturen h a b e n fast ihr g a n z e s Leben mit Leidenschaften zu r i n g e n , die ihr L e b e n s z e n t r u m erschüttern. Die Leidenschaft ist die f o r d e r n d e S t i m m e der Zukunft, w e l c h e u n s die V e r g ä n g l i c h k e i t d e r G e g e n w a r t und d e r g e g e n w ä r t i g e n Wirklichkeit e m p f i n d e n läßt. Die Leidenschaft ist d a h e r auch an sich w e d e r schlecht noch g u t ; man k ö n n t e mit Hamlet s a g e n : das D e n k e n macht sie erst dazu. A b e r w a r u m , namentlich kleine Naturen, die Leidenschaften s o f ü r c h t e n und d i e P h i l i s t e r ihnen aus dem W e g e g e h e n , d a s ist b e g r ü n d e t durch d a s Ungestüm, mit dem im Z u s t a n d e d e r L e i d e n s c h a f t die S e e l e vom Nichtsein und vom P r o b l e m a t i s c h e n e r g r i f f e n w i r d . G e g e n eine rechte, tiefe Leidenschaft m u ß man alle Stützen d e s L e b e n s z e n t r u m s aufbieten, gelingt es a b e r , sie dem Nichtsein zu entreißen,
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Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
sie der Vernunft zu unterwerfen, so treibt sie das Gemüt mächtig dem Ideal entgegen. Dogmatiker kennen keine Leidenschaft, sondern nur Fanatismus: das ist nicht ein und dasselbe. Der Fanatiker erweckt und erregt sein Gefühl vom Begriff, und zwar vom dogmatischen Begriff aus, der leidenschaftlich erregte Mensch aber sucht erst den Begriff, geht vom Gefühl zum Begriff. Daher neigen viele große Idealisten zur Leidenschaft. Der Idealist lebt im Ideal, in der Zukunft: er versteht daher die Stimme der Leidenschaft. Wer aber im Leben viel unter seinen Leidenschaften gelitten hat, wer sehr oft ihnen unterlegen ist ( — und i m m e r wird ja selbst der Tüchtigste nicht seiner Leidenschaften Herr —), der kann dazu kommen, sie zu hassen oder zu fürchten. Denn jedesmal, wenn eine Leidenschaft so in ihm sich übermächtig bewies, fühlte er einen Teil seiner ureigensten Wirklichkeit ins Nichtsein versinken: er fürchtet also in der Leidenschaft um sich selbst. Solche Leute werden oft verschlossen oder erscheinen wenigstens so: es ist schwer an sie heranzukommen. Sie umgeben sich mit einem Mantel der Unnahbarkeit, sind häufig im Verkehr kühl und abstoßend — nur, weil sie sich nicht genügend trauen. Bei Gelegenheit bricht dann aber doch das innere Feuer durch die Schale durch. Freilich kann die scheinbare Verschlossenheit der Menschen, die scheinbare Isoliertheit ihrer Eigenwelt gegen die übrige Welt auch noch andere Gründe haben. Es kann z. B. ein unverwundener Schmerz sein, mit dem die Seele ringt, den einzugestehen und der Welt zu zeigen sie sich aber schämt. Es liegt etwas überaus Feines und Zartes in solchem Verhalten und ein tiefer sittlicher Kern: denn sie fürchten das M i t l e i d e n der Welt. Sie wollen der Welt nur das Gute, Beglückende g e b e n : sie wissen aber aus Er-
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f a h r u n g o d e r sie setzen e s voraus, d a ß ein g r o ß e r S c h m e r z bei g r o ß e n Herzen V e r s t ä n d n i s und Mitleiden findet. Dies wollen sie e r s p a r e n . S o l a n g e sie d a h e r innerlich noch nicht rein und ruhig g e w o r d e n sind, heucheln sie lieber einen G r o b i a n , als sich mit ihrem S c h m e r z e p r e i s z u g e b e n . W i e d e r a n d e r s ist die V e r s c h l o s s e n h e i t d e r j e n i g e n P e r s o n e n , denen es am nötigen S e l b s t v e r t r a u e n fehlt. Mancher gibt der Welt aus s e i n e m L e b e n s z e n t r u m h e r a u s s o unendlich viel, ist sich d e s s e n aber g a r nicht b e w u ß t , vielleicht, weil man j a die F o l g e n d e r g r ö ß t e n Taten fast nie unmittelbar w a h r n e h m e n k a n n . S o l c h e ängstliche Seelen, welche g a r nicht an sich glauben, s o n d e r n immer an sich zweifeln, eigentlich: v e r z w e i f e l n (denn zweifeln soll freilich j e d e r jederzeit an sich selbst), fürchten immer, wenn sie e t w a s von ihrem Tiefsten und E i g e n s t e n zeigen müssen, zu verletzen, zu irren o d e r zu s c h a d e n . Im Gegenteil gibt e s auch M e n s c h e n , die immer an sich glauben, sich überschätzen und ihre e i g e n e Wirklichkeit d e r Kulturwelt stets unbedingt ü b e r o r d n e n ; sie k ö n n e n auch g r o b , stolz und a b w e i s e n d , nie a b e r wirklich verschlossen s e i n : denn w o sich G e l e g e n h e i t gibt, ihr bißchen Wissen, Fühlen und Wollen zu o f f e n b a r e n , zwingt sie ihr d u m m e r Stolz und ihre Einbildung, sich v o r z u d r ä n g e n , und es ist d a h e r im G r u n d e nicht s c h w e r , ihnen b e i z u k o m m e n . Man muß ihnen nur Gelegenheit g e b e n , zu glänzen. Viel s c h w e r e r ist es, den wirklich V e r s c h l o s s e n e n , wie wir sie oben schilderten, n ä h e r z u t r e t e n ; doch gibt es immer einen W e g . Die erste Art M e n s c h e n , welche sich vor ihren Leidenschaften fürchtet, g e w i n n t man d a u e r n d und führt sie so d e r objektiven Wirklichkeit zu, w e n n man ihre Leidenschaften zu leiten und auf die rechten W e g e zu lenken versteht, s o daß sie s e h e n : ich verliere nicht, s o n d e r n ich g e w i n n e f ü r mich und mein L e b e n s z e n t r u m ,
Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
S
w e n n ich m e i n e Leidenschaften n u r in den D i e n s t d e s Guten stelle. Leute, w e l c h e v e r s c h l o s s e n sind, um ihren S c h m e r z zu v e r b e r g e n , g e w i n n t man durch u n b e d i n g t e Offenheit, indem man ihnen s e i n e eigenen Leiden ( — und w e r ist o h n e L e i d ? — ) enthüllt. Hat man noch d a s Glück, ihren S c h m e r z zu e r r a t e n und zu s e h e n , w o denn eigentlich d e r Quell ihres L e i d e n s ist, s o ist alles g e w o n n e n . Man sucht einfach d a s G e m e i n s a m e im Leiden d e s a n d e r e n und im eigenen Leid und stellt es j e n e m a n d e r e n nackt vor A u g e n . E r wird sicher alle Hüllen fallen lassen. W a r u m ? Weil e r m e r k t , d a ß hier zwei M e n s c h e n am selben P r o b l e m arbeiten, g e g e n d a s s e l b e Nichtsein a n k ä m p f e n . Endlich, die dritte Art d e r Verschlossenen a u s Mangel an S e l b s t v e r t r a u e n kann man d e r Welt retten, indem man ihnen möglichst oft G e l e g e n h e i t gibt, ihre Kräfte im D i e n s t e d e s Guten zu betätigen und sie dann unauffällig auf die F o l g e n ihres T u n s a u f m e r k s a m macht. J e d o c h g e h ö r t hierzu als e r s t e B e d i n g u n g , d a ß man ihrem G e f ü h l e nähertritt und ihnen selbst durch e i g e n e Leistungen Achtung a b g e w i n n t . D e n n s o n s t w e r d e n sie selbst die Folgen ihrer Taten nicht a n e r k e n n e n und v e r k e t z e r n ; a b e r sie tun dies nicht, wenn ein M e n s c h , den sie achten m ü s s e n , j e n e F o l g e n selbst a n e r k e n n t . — Mannigfach sind die Irrgänge d e s menschlichen H e r z e n s ! Oft nennt man a b e r auch Leute v e r s c h l o s s e n , welche u n t e r ihrer U m g e b u n g leiden. Es sind solche Naturen, welchen es an G e l e g e n h e i t fehlt, ihre b e s o n d e r e n Anlagen zu betätigen und die i n f o l g e d e s s e n für ihre B e m ü h u n g e n auch nie Lohn und A n e r k e n n u n g ernten. Sie sind aber g a r nicht v e r s c h l o s s e n : es muß sich nur ein Mensch finden, d e r ihnen innerlich nahe steht, sie versteht und ihre Ziele und B e s t r e b u n g e n teilt. An ihnen bewährt sich d e r S e g e n
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Die Wirklichkeit des Individuums und der Kultur
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der Freundschaft am allerstärksten. Für sie ist ein Freund geradezu eine Notwendigkeit. Wieviel Menschen leiden einfach daran, daß sie keinen Freund haben! Aber eben einen Freund im tiefsten Sinne des Wortes; d. h. einen Menschen, dessen Lebenszentrum dem ihrigen verwandt ist. Die Naturen, welche sich so leicht anschließen, sind gemeinhin auch nicht sehr tief: sie haben kein festes, gesichertes Lebenszentrum. Ihre individuelle Wirklichkeit ist wie ein loser Schleier, den der Wind bald hierhin, bald dorthin weht. Die Mannigfaltigkeit ihrer Interessen und die Beweglichkeit ihres Geistes erlaubt ihnen zwar, in jedem Menschen e t w a s von sich wiederzufinden, in keinem Menschen aber sich selber ganz. Wenn nun das Individuum stirbt, was verbleibt denn nun von allem, w a s seine Eigenwelt bildete? Vergeht etwa mit ihm ein Stück objektive Wirklichkeit völlig? Bekanntlich ist der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele weit verbreitet. Danach wird die Seele dem Körper als eine besondere Realität gegenübergestellt: der Körper ist vergänglich, das Lebensprinzip, die Seele nicht. Der philosophische Idealismus kennt weder einen derartigen Körper, noch eine selbständige Seele in diesem Sinne. Körper, Materie, das sind Begriffe des Geistes und aus dem allgemeinen KulturbewuQtsein der Menschheit entsprungen und erzeugt. Sie sind ersonnen, um die subjektiven Äußerungen des Bewußtseins, Empfindung, Gefühl, Vorstellung und Wille, zu objektivieren, die stets problematische Einheit, deren Zusammenhang im Ich eben die Seele ausmacht. Aber die Überzeugung von der Unvergänglichkeit der Seele hat auch einen guten und tiefen Sinn. Die wahrhafte Wirklichkeit des Individuums ist unvergänglich. Was in seiner Eigenwelt von wahren Gedanken, Entschlüssen, Willensakten und Gefühlen lebt, ist, weil
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real, auch unzerstörbar. Nicht z w a r der subjektive Schmerz und die subjektive Lust ist e w i g ; g o t t l o b , nein) Nicht das kleine „ I c h " mit seinen Leiden und F r e u d e n , seinen törichten Hoffnungen und ungeklärten Gefühlen bleibt bestehen, s o n d e r n nur das, w a s in s e i n e r Eigenwelt wirklich, d. h. w a h r , gut und schön war. In den g r o ß e n und w a h r e n G e d a n k e n , in den guten Handlungen, die wir in den S t r o m der Zeit w e r f e n , leben wir s e l b s t , u n s e r sittliches Selbst f o r t ; und der Künstler noch überdies in seinen Kunstwerken. A b e r die G e f ü h l e , von d e r e n F o r t d a u e r wir s p r a c h e n ? Nun, wenn die G e d a n k e n , Taten und W e r k e erhalten bleiben, s o bleiben eben damit auch die Gefühle, die sie begleiteten, erhalten: sie erwachen zu neuem Leben, s o oft j e n e G e d a n k e n von einem Menschen wiedergedacht, so oft sich die Folgen u n s e r e r W e r k e geltend machen usw. Freilich ist an Stelle u n s e r e s „Ich" ein a n d e r e s „Ich" get r e t e n : a b e r u n s e r sittliches Selbst lebt in jenem anderen fort. S o scheidet der Tod das E w i g e vom Vergänglichen. D a s ist die Majestät d e s T o d e s , daß e r zuerst rein und unv e r k e n n b a r d a s Sein im Menschen vom Nichtsein scheidet, alles P r o b l e m a t i s c h e , C h a o t i s c h e a b s o n d e r t und nur den rechten W e s e n s k e r n übrig läßt. W e r daher angesichts des T o d e s nicht ernst w e r d e n k a n n , an dem ist nicht viel dran. D e r Tod verklärt die Gestalten der Menschen, weil er von ihnen nur das übrig läßt, w a s Ewigkeitswert hat, w a s bestimmt ist, in der allgemeinen Kulturwirklichkeit fortzuleben. Auch w a s der Mensch unvollendet zurückläßt: seine berechtigten W ü n s c h e und Vorsätze, seine wahrhaftigen H o f f n u n g e n , sind nicht v e r l o r e n , s o n d e r n gehen in den Schatz der P r o b l e m e ein, welche die Zukunft der Menschheit in sich birgt. J e reicher und wahrhaftiger daher die Innenwelt ist, die sich ein Mensch erobert, desto mehr vermag er nach seinem T o d e der objektiven Wirklichkeit
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als sein Vermächtnis zu hinterlassen.
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Jeder, der sein Ich
im T o d e o p f e r t , beschenkt uns mit allen Schätzen seines L e b e n s ; wir, die w i r noch im L a n d e der Zeitlichkeit wandeln, w e r d e n
von ihm, der in die E w i g k e i t
ist, g e s e g n e t ; darum sagt man auch von benen:
Er hat das Zeitliche g e s e g n e t .
ES)
eingegangen
einem V e r s t o r -
Über das Märchen.
M
ärchen sind Kinderträume. Ach, und in dieser rauhen und unvollkommenen Wirklichkeit, da werden auch
wir E r w a c h s e n e gern noch einmal zu Kindern und träumen und träumen uns über alle Mängel und S o r g e n unseres Daseins hinweg.
D a s Märchen erbaut sich eine eigene Welt,
eine Welt des G l ü c k e s und der Wunder. W e r sich dort heimisch fühlen will, der muß wieder reinen Herzens werden w i e die K i n d e r : denen ist das g a n z e Leben noch ein Märc h e n ; sie träumen, bis das Schicksal sie weckt.
W i r Er-
wachsenen tragen s o viel S o r g e n und Mühen, s o viel unterdrückte und verlorene Wünsche, Vertrauen mit unsl
nung, Erwartung, V e r t r a u e n ! mal die S t u n d e
s o wenig Hoffnung und
A b e r die Kinder sind noch ganz HoffIm Leben scheitern wir zehn-
mit unseren Wünschen
und mit unserer
S e h n s u c h t : im Märchenland aber wohnt die Erfüllung. Schiller hat gesagt, die Aufgabe Idee der Menschheit
der P o e s i e sei, der
ihren vollkommensten
g e b e n ; das gilt auch für das Märchen.
Ausdruck
zu
A b e r durch welche
Eigentümlichkeiten zeichnet es sich von den anderen Gattungen der P o e s i e a u s ? — Die P o e s i e wurzelt im Mythos. D e r Mythos verdinglicht und versinnlicht die Begriffe der Natur und Sittlichkeit: er bevölkert die Welt mit Dämonen, die zwar Erzeugnisse des menschlichen,
mythenbildenden
Bewußtseins, aber diesem selbst doch fremd geworden sind und feindlich gegenüber treten können.
W a s lebt anderes
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Ober das Märchen
B
in jenen Dämonen als die Furcht und die Hoffnung, das Wissen und die Sehnsucht der Menschheit selbst? Aber dem Mythos ist es bitter Ernst mit seinen Geschöpfen: weil hier das Bewußtsein sich seiner eigenen Schöpferkraft nicht bewußt geworden ist und die Produkte seines eigenen Tuns als etwas von außen Gegebenes hinnimmt, bleibt es ganz in der Angst des Lebens befangen. Die Poesie aber erlöst uns von ihr. Auch in ihren Schöpfungen lebt die Menschheit, und Natur und Sittlichkeit sind nur der Stoff, mit dessen Hilfe der Poet der Idee der Menschheit sinnlichen Ausdruck im Worte verleiht. Aber der Poet schafft frei und ist sich seiner Schaffenskraft wohl bewußt. Seine Geschöpfe sind der bewußte Ausdruck seiner Sehnsucht nach dem Unendlichen. Aber der Dramatiker z. B. (ebenso aber auch der Epiker, Lyriker usw.) kann dieser Sehnsucht, kann der Idee Ausdruck verleihen für das Gefühl, obgleich er uns die bestehende, relative Wirklichkeit in ihrer ganzen Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit vor Augen führt. In der Tragödie unterliegt sehr häufig gerade der Tugendhafte dem äußeren Schicksal, er findet kein irdisches Glück, obgleich er gerade in seinem Untergang die Realität der Idee dem Gefühle begreiflich macht. Nicht so im Märchen 1 Zeigt mir das Märchen, in dem nicht die Tugend belohnt, das Laster bestraft oder durch Straie gebessert wirdl Das Märchen ist das Land der Erfüllung. Der Märchendichter leuchtet in unsere Herzen und sucht die geheimsten Wünsche und die tiefste Sehnsucht darin auf, und wenn er sie nur rein und lauter findet, so gibt er Gewährung. Das gefällt den Kindern, den kleinen und großen, so gut. Und wohl uns, daß wir alle, wenigstens für Stunden, noch Kinder werden können! Das Leben und die Wirklichkeit sind dem Märchen entgegengesetzt: nur soweit der Mensch durch Vernunft
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Über das Märchen
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und Willen die Welt und das Dasein zu beherrschen versteht, vermag er auf Erfüllung seiner Wünsche und Hoffnungen zu rechnen. Jeder Schritt zum Glück, zur Wahrheit und zum Guten muß hier dem Nichtsein im Kampfe abgerungen werden. Und darum ist des Lebens Losung zumeist: Entsagung. Aber das Märchen gibt Erfüllung! Da kann's freilich nicht „mit rechten Dingen" zugehen. Das Wunder ist im Märchen zu Hause. Aber das ist nur die notwendige Konsequenz, wenn wir versuchen, in dieser uns bekannten, von uns erschaffenen, unvollkommenen Wirklichkeit die Idee bereits verwirklicht zu denken: da müssen wir dem Wunder in die Arme fallen. Denn das Märchen behält j a scheinbar die tatsächliche Wirklichkeit beil O, auch im Märchen gibt es Gefahren und Schrecken, gibt es Leid und Kummerl Aber die Gefahren sind scheinbar, das Leid wird getröstet und belohnt. Das Leben ist grausam: wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um. Der Held des Märchens mag sich immer in Gefahr begeben: er wird nicht umkommen, wenn er reinen Herzens ist. Denn, wo die theoretischen Begriffe der Natur nicht mehr ausreichen, ihn vor dem Untergang zu schützen, da tritt das Wunder rettend ein. Es ist kein Märchen, das Lied von den zwei Königskindern, die einander so lieb hatten: sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tieft Im Märchen wär's anders ausgegangen, das Lied. Das Wunder ist nicht die Eigenart des Märchens, sondern nur eine Folge desselben. Auch der Dramatiker (z. B. die Geistererscheinungen bei Shakespeare) und Epiker (Liebestrank in Tristan und Isolde) bedient sich zuweilen des Wunders. Die Eigenart des Märchens besteht vielmehr darin, daß es die bestehende, unvollkommene Natur vom Standpunkt der Idee zu rechtfertigen sucht, sie gleichsam zur Idee erhebt; da kann es nicht ohne Wunder abgehen. Unsere mangelhafte Welt grenzt
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Über das Märchen
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doch überall ans Chaos, ans Nichtsein, an die noch nicht besiegte Unvernunft: sie birgt unendlich viel Probleme, die der Lösung harren. Noch wird auf Erden die Tugend nicht immer belohnt, das Laster nicht immer in seiner Nichtigkeit erkannt. Das Dasein ist lückenhaft, aber der Märchendichter verhüllt die Lücken mit dem Schleier d e s Wunders. Das Märchen ist das Land der Erfüllung. Der Hirtensohn freit die Königstochter, der Königssohn die Schäferin; das tapfere Schneiderlein tötet Sieben auf einen Schlag, und jeder tugendhafte Märchenprinz findet seine Prinzessin. Wer will nicht gerne einmal träumen wie die Kinderl Es ist aber noch eines, w a s das Märchen auszeichnet. Wir hängen uns alle an die vergänglichen Güter der Welt, der eine mehr, der andere weniger. Das ist der ewige Konflikt unseres Lebens, daß wir das Vergängliche vom Beständigen, das Endliche vom Unendlichen nicht zu sondern wissen. Und ob wir auch weise geworden sind und erkennen, daß die individuelle Lust und Unlust nicht der letzte Ausdruck der Menschheit und Sittlichkeit sind, s o leiden wir doch, wenn uns ein irdisches Glück genommen wird. Das Märchen aber adelt recht eigentlich das indi^ vidueile Glück. Was in der Wirklichkeit vergänglich ist, das wird hier ewig. Der Königssohn heiratet seine Prinzessin: und sie leben glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. Was sollte das Märchen noch von ihnen erzählen? Daß sich das Ewige in Menschen oft, ja fast immer nur im Kampf, im Leiden und in der Entsagung offenbart — davon weiß das Märchen nichts und braucht es nicht zu wissen. Das Vergängliche (die Jugend, die Schönheit, das Liebesglück usw.) wird so an das Ewige gefesselt, daß es gleichsam der Zeit entrissen und selbst unsterblich wird. Auch hierin ist das Märchen das Land der Erfüllung.
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Über das Märchen
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Das Märchen steht dem Mythos noch viel näher als jede andere Dichtungsgattung. Die Feen, Zauberer, guten und bösen Geister, das sind die Dämonen des Mythos. E s sind die verkörperten und versinnlichten Wünsche und Befürchtungen des menschlichen Herzens. Wer nur einmal recht tief im Unglück gesteckt hat, der wird, wenn er ehrlich ist, zugeben, daß es ihm vorgekommen ist wie den Kindern, daß er zu sich selbst sprach: möchte doch dies oder jenes jetzt geschehen — etwas ganz Unmögliches, Wunderbares, wie ihm seine eigene Vernunft sagte — und doch, der Wunsch drängte sich auf die Lippen! D a s Märchen ergreift den Wunsch und bildet daraus seine gütige Fee. Mit dem Dämonenglauben des ursprünglichen, mythenbildenden Bewußtseins hängt überhaupt der Geister- und Gespensterglaube des Volkes zusammen. Es ist die Form, wie sich auch heute noch die mythische Apperzeption vollzieht. Noch bei Homer finden sich sprachliche Spuren dafür, daß man das belebende Prinzip im Organismus selbst wieder sinnlich-dinghaft gedacht hat. Die Seele ist der Dämon, welcher den Leib beseelt. Der Leib zerfällt im Tode, der Dämon bleibt bestehen, wie er ja auch schon bei Lebzeiten z. B. im Traum oder in der Ohnmacht seinen Wohnsitz, den Körper, zeitweilig verlassen kann. Unsere Wünsche, Hoffnungen, Gefühle, Empfindungen, alle, sofern sie das rein Subjektive, das Vergängliche und rein Individuelle ausdrücken, sind im Seelendämon personifiziert. Wenn die Sage viel zu erzählen weiß von unruhigen Seelen der Gestorbenen, die so lange spuken gehen, bis sie ein im Leben begangenes Unrecht gebüßt haben, so spricht sich dann ferner hierin der naive Glaube an eine bereits völlig verwirklichte Weltgerechtigkeit aus. Diese wirkliche Welt muß schon durchaus sittlich regiert sein, es darf nichts Böses ungerächt, nichts Gutes unbelohnt bleiben. Die Sage
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Über das Märchen
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ist hier dem Märchen verschwistert, S a g e und Märchen aber beide nur der Ausdruck des naiven Kinderglaubens des Volkes. Wo sich der Dramatiker, w o sich überhaupt der Dichter der wunderbaren Geistererscheinung bedient, muß er diesem Glauben huldigen. Man denke an die Erscheinungen des Königs im Hamlet und des Geistes des erschlagenen Banquo im Macbeth. (Horatio zum Geist: „Und hast du aufgehäuft in deinem Leben erpreßte Schätze in der Erde Schoß, wofür ihr Geister, sagt man, oft im Tode umhergeht: sprich davonI . .") Es ist j a auch ein tiefer und wahrer Sinn in diesem Glauben an die Weltgerechtigkeit, nur darf man sie nicht in die Gegenwart verlegen, sondern in die Zukunft, und muß sie dem Bewußtsein und der Tat der Menschheit selbst anvertrauen. Man sieht aus allem, wie das Märchen dem Kindertraum der Menschheit entspricht. Was das Volksbewußtsein der jugendlichen Menschheit im Mythos erschuf, das erschafft der dichterische Genius im Märchen noch heute. Nur daß das Märchen gütiger und menschenfreundlicher ist als der Mythos. Dem primitiven Bewußtsein der Menschheit war es aber, wie schon gesagt, mit seinen mythischen Träumen bitterer Emst. Das wache Bewußtsein des gereiften Diclitergenius, wie es sich im Märchen ausspricht, spielt mit seinen Gestalten. Die Dämonen und Geister der Urzeit lasten auf dem Gemüt der Menschen zuweilen wie ein Alp, wie ein böser Traum, aus dem es kein Erwachen gibt. Die Helden des Märchens erwachen immer zur Freude und zum Glück. Das Märchen ist das Land der Erfüllung.
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Über das Schaffen des künstlerischen Genies.
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ie Wirklichkeit des Individuums, welche immer nur ein Teil und Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit der Kultur ist, besteht aus dem Ganzen seiner Begriffe, Vorstellungen, Willensbestrebungen und Gefühle. Diese sind aber nicht alle von gleicher Bedeutung für die Realität seines „Ich", und ich nenne den Teil derselben, welcher am tiefsten in seinem Gemüt wurzelt und am engsten mit seiner Existenz verknüpft ist, sein Lebenszentrum. Das Lebenszentrum wird also gebildet aus denjenigen sittlichen Ideen, theoretischen Begriffen und Gefühlen, welche gewissermaßen den Grund und Boden des individuellen Daseins bilden und mit denen zugleich der Einzelne sich selbst aufgeben würde. Sehr verschieden bei den einzelnen Individuen ist es nach ihrer Naturanlage, Charakterbildung und Erziehung, wohin sie diesen Schwerpunkt ihres Lebens verlegen. D e r Phantast, der Schwärmer, aber auch der rechte Künstler haben ihr Lebenszentrum meist vorwiegend im Gefühl. Aber der Phantast und Schwärmer unterscheidet sich vom rechten Künstler dadurch, daß seine Gefühle nicht von klaren Begriffen begleitet sind, während die Wirklichkeit des schaffenden Künstlers durchaus einer Summe von hellen und wahrhaften Begriffen, sowohl Naturbegriffen wie sittlicher Ideen, bedarf. Dazu kommt, daß im Künstler das Gefühl der Idee mächtig und vorwaltend EI •
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Ober das Schaffen des künstlerischen Qenies
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ist; denn die Kunst bedient sich der Natur und der Sittlichkeit, um mit ihrer Hilfe, indem sie diese in die Einheit harmonischen Gefühls verwebt, die Ahnung der Idee der Einheit der Menschheit bei uns wachzurufen. Das reine Gefühl des Ewigen und Unendlichen jener Idee muß die Betrachtung jedes rechten Kunstwerkes begleiten. S o bildet nun das Gefühl des Ewigen den innersten und tiefsten Halt im Leben des Künstlers. Das künstlerische Genie schafft von hier aus, von ihm, dem Unendlichkeitsgefühl, der Idee, belebt und in seinem Dienste seine Werke. Indem so das Genie aus den tiefsten Tiefen seines Gemütes heraus schafft, so ist jede seiner Leistungen zugleich eine Konfession und eine Vertiefung seiner individuellen Wirklichkeit. Freilich bleibt keinem Menschen, sofern er nicht aller Humanität bar ist, das Gefühl des Unendlichen völlig f r e m d ; aber was den Künstler auszeichnet, ist, daß er Werke zu schaffen vermag, die uns dieses Gefühl gleichsam aufzwingen. So trägt die wahrhafte Kunst zur Verbrüderung der Menschheit bei, denn vor ihren Erzeugnissen schweigen Feindschaft und Haß, und die Gewißheit der Einheit der Menschheit spricht laut zur Seele der Genießenden. D a s Genie, kann man sagen, schafft aus dem Lebenszentrum heraus, das bloße Talent von der Peripherie seiner Wirklichkeit her. Daher leidet das Genie an seinen Werken, indem es sich doch zugleich in der Arbeit von seiner Not befreit. Die größten Meisterwerke aller Kunst sind unter Schmerzen geboren: das reine Gefühl der Humanität drängte zum Ausdruck, weil das Lebenszentrum des schaffenden Künstlers im tiefsten Innern erschüttert und aufgewühlt war, sei es durch ein äußeres Ereignis oder ein seelisches Erlebnis, s o daß das Gleichgewicht seines Gemütes nicht anders wieder hergestellt werden konnte, als durch die künstlerische Tat. Der Theoretiker, besonders der Philo-
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Über das Schaffen des künstlerischen Genies
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soph, überwindet seine Leidenschaften und Gefühle durch den Begriff und die Vernunft, indem er sie anerkennend zergliedert und so reif wird zur sittlichen Handlung; der Künstler, das Genie durch den schöpferischen A k t W a s der Philosoph durch den Begriff erreicht, ist j a , daß e r den Gefühlen und Empfindungen ihre objektive Realität, ihren Platz in der individuellen Wirklichkeit anweist: der Künstler schafft s o seinem Gefühl im Kunstwerk die Realität des Reiches der Schönheit. Aber sein Gefühl ist j a auch das des Unendlichen, Ewigen, welches kein Begriff erschöpfen kann, dem gegenüber alle Natur und alle Sittlichkeit nur zum Stoff und Ausdrucksmittel herabsinkt. Warum der Künstler und das Genie so viel mehr am Leben leidet, aber auch s o viel größerer Freuden fähig ist wie wir anderen Menschen? Weil jedes Erlebnis in ihm j e n e s höchste Gefühl berührt, dessen der Mensch fähig ist, sei es nun, daß es jenem ureigensten Inhalt seines Bewußtseins widerspricht und ihn verletzt, oder indem es ihn steigert und vertieft. Wir sehen gerade die größten Künstler ihre bedeutendsten Werke in Zeiten äußerer Not, der Krankheit (Schiller z. B.) und Armut, ja selbst der herbsten Seelenqualen schaffen: weil hier ihr Lebenszentrum am stärksten erregt und in Aufruhr versetzt ist. Auch das Genie bedarf der Schulung und der Selbsterziehung, sowohl um das Technische seiner Kunst sich anzueignen, als auch um sein Gefühl bemeistern und beherrschen zu lernen. Dem gereiften Meister aber drängen sich dann die Formen zur Darstellung der Idee sozusagen von selbst zu: er entzündet seine Schaffenslust an diesem Seelenbrand der Leidenschaft und des Gefühles, das nach Ausdruck verlangt. Und so ist es schon richtig, wenn man sagt, daß jeder große Künstler in jedem seiner Werke ganz enthalten ist. E s ist gleichsam sein objektiviertes Lebenszentrum. Und
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Über das Schaffen des künstlerischen Oenies
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so gewinnt der Künstler durch seine Arbeit selbst Klarheit und Ruhe wieder, indem e r sich gleichsam sich selbst gegenübergestellt sieht und so Sein und Nichtsein in seinem Innern unterscheiden lernt. Während sich also das Genie von dem reinen Gefühl der Idee zur Arbeit gedrängt fühlt, so erwacht dem Talent dies Gefühl zumeist erst in der technischen Arbeit. Das Gefühl führt das Genie zur F o r m , die Form das Talent zum Gefühl. Das Talent wirkt daher auch zumeist von der Peripherie seiner individuellen Wirklichkeit aus. Eigentümlichkeiten und Besonderheiten seiner Eigenwelt, die seinen Schaffensdrang reizen, aber nicht mit der innersten Notwendigkeit seiner Existenz verknüpft sind, bilden den Vorwurf und das Thema seiner Werke. Das Genie wird von der ästhetischen Idee, die es ergriffen hat, zum P r o duzieren gezwungen, das Talent zwingt sich im Produzieren zu ästhetischen Ideen. Man weiß, wie Goethe, nach eigenem Bericht, oft einem Nachtwandler gleich um Mitternacht zum Schreibtisch eilte, um seine Verse dem ersten besten Blatt Papiere anzuvertrauen. — Das mittlere Talent sucht überall Anregungen, geht den Erlebnissen nach und findet doch häufig keine; es muß sich künstlich in den Rausch der Begeisterung und der Schaffensfreude versetzen; das Genie wird vom Leben mit großen Begebenheiten überschüttet, weil es das Große auch im Kleinen sieht. Wer einmal durch eine moderne Kunstausstellung gegangen ist, der konnte bemerken, wie die Talente zweiten G r a d e s überall entweder das Bizarre, Absonderliche, oder die ganz augenfällige Schönheit zum Motiv ihrer Bilder wählen: gesuchte, grelle Farbenkontraste, verzwickte Situationen aus dem Leben, oder eine mondbeglänzte Zaubernacht. Dem Genie genügt oft ein einzelner Baum, ein Stück Heideland usw., um das Größte zu sagen.
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Über das Schaffen des künstlerischen Oenies
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J e größer ein Künstler ist, desto besser vermag er den reichen Inhalt seiner individuellen Wirklichkeit in den Dienst der Idee zu stellen. Was er von Liebe und HaO, Leid und Buße erfahren, was e r selbst Gutes gewirkt, seine Sünden und Fehler — alles wird Mittel zum Ausdruck der Idee. Der Dramatiker z. B. muß gewissermaßen seine Seele zerreißen können; denn in j e d e r Figur, die er schafft, steckt ein Teil seines Ichs. Es ist kein Widerspruch hiergegen, wenn wir sehen, wie die größten und edelsten Dichternaturen uns in ihren Werken oft die Erscheinung vollendeter Bösewichter vor Augen führen. Auch die schlimmsten Wirrsale und Irrgänge des Herzens hängen doch irgendwie mit der Menschheit im Menschen zusammen, sind doch, wenn auch noch so versteckt, in Verbindung mit dem Streben nach dem Guten, darin nun einmal die Natur des Menschen gegründet ist. Das Böse ist nichts Reales, es ist ein Irrtum, ein Nichtsein. Man sagt wohl: alles begreifen heißt alles verzeihen. Es ist etwas Wahres und etwas Falsches in diesem Spruch. Eine Sünde begreifen, einen Fehler durchschauen, heißt nicht ihn b i l l i g e n . Die Erkenntnis scheidet nur hier, wie überall, das Sein vom Nichtsein, die Wahrheit vom Irrtum. Man begreift und verzeiht eine Sünde, wenn man die Fäden verfolgen k a n n , die ins innerste Lebenszentrum des Sünders zurückführen; d. h. wenn man den Trieb zur Wahrheit und zum Sein, der sich in der Sünde nur verirrt hat, erkannt hat. Wenn z. B. der Arme den Reichen erschlägt, um sich seines Geldes zu bemächtigen, so ist in dieser verwerflichen Tat ein Sein und ein Nichtsein enthalten; die Tat begreifen ( n i c h t billigen), heißt das Sein vom Nichtsein scheiden. Der Trieb zur Realität, der sich hier verirrt hat, liegt in der berechtigten sittlichen Forderung, daß kein Mensch darben und hungern sollte in dieser Welt. Aber dieser Trieb erreicht sein Sein
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Ober das Schaffen des künstlerischen Genies
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nicht, weil e r den rechten W e g verfehlt S o hängt eben j e d e Sünde im Menschenherzen irgendwie mit dem Guten und dem Sein zusammen. Kein Mensch ist frei von Sünde und Irrtum; ein großer Dichter n u n , der auch nur kleine Fehler auf seinem Lebensweg begangen, lernt diesen Zusammenhang und die Irrwege, die vom Sein zum Nichtsein führen, durchschauen, er lernt das W e s e n der Sünde ergründen, und weiß von hier aus auch die Gebrechen der Menschheit zu begreifen, die er nicht teilt. Und so steckt doch auch in den S ü n d e n , die er uns in seinem Werke vorführt, ein Teil seines Ich. Das mittlere Talent aber arbeitet auch hier gleichsam nur von außen nach innen, von der Peripherie zum Zentrum hin. Es ist nur ganz wenigen auserlesenen Geistern gegeben, auf den entgegengesetzten Gebieten des Tragischen und Humoristischen gleich Großes zu leisten. Begreiflich genug; denn es scheint doch zunächst, als ob kaum ein einzelnes Individuum dauernd so verschiedener Stimmungen und Gemütslagen fähig sein könnte, als z. B. Tragödie und Komödie beanspruchen im künstlerischen Schaffen. Der Humor mit seinen verschiedenen Spielarten verhält sich j a zur Welt so, daß er den Mängeln, dem rein Naturhaften und also Vergänglichen und Unvollkommenen dieser Wirklichkeit einmal scheinbar recht gibt und es scheinbar an Stelle der Idee setzt, die er dennoch endlich wieder zur Anerkennung bringt Wir fassen hier den Begriff des Humors s o weit, daß er alle Arten, wie Witz, Satire, Ironie usw. umfaßt und lassen uns nicht auf eine Untersuchung der unterscheidenden Merkmale der einzelnen Arten ein; es ist uns ja nur um die Schaffensart des Genies zu tun. Der Tragiker im Gegensatz zum Humoristen misst gerade umgekehrt die Idee an der Natur, weist die Mangelhaftigkeit der Wirklichkeit dadurch auf, daß er uns die Menschheit
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Über das Schaffen des künstlerischen Genies
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im Kampf um die Idee zeigt; er naht sich der Idee also von seiten der Sittlichkeit, der Humorist von Seiten der Natur. Der Tragiker leidet an der Welt, der Humorist verspottet sie; der erstere zeigt ihren Abstand vom Ideal, der letztere macht sie spöttisch selbst zum Ideal. Man könnte daher auf den Gedanken kommen, daß der Humor den leichtfertigen Naturen näher liege, die das Leben nicht schwer nehmen, deren Lebenszentrum nicht eben sonderlich tief gegründet ist und die keiner starken seelischen Erschütterungen fähig sind. In der Tat sehen wir ja auch, daß leichtlebige Personen häufig mit einer besonderen Begabung wenigstens zu einer, freilich der niedrigsten Art des Humors begabt sind, zum Wort-Witz. Aber man darf von einem E r n s t des Humors sprechen, wenn dies auch wie ein Widerspruch klingt, der nur ernsten und tiefen Naturen eigen ist; er kann sich wohl auch im Witz äußern, vornehmlich aber in der Ironie, in der Satire, Karikatur usw. Der wird verständlich, wenn wir bedenken, daß der rechte Humor auch aus den tiefsten Tiefen der individuellen Wirklichkeit hervorquellen muß. E r ist eine Befreiung von der Last und Bitterkeit des Lebens. Die scheinbare Nachgiebigkeit gegen die relative Wirklichkeit darf ja auch dem Humoristen nur dienen, das Gefühl der Humanität zu erwecken. Er erzeugt eine Schein-Wirklichkeit, baut eine Welt des Nichtseins auf, um uns durch sie, wie durch einen Schleier in das Reich der Wahrheit und Menschlichkeit blicken zu lassen. Der Humorist ist ebensowenig wie irgend ein anderer Künstler ein Sittenprediger: er braucht nicht ein fabula docet, eine moralische Bahn zu vermitteln, es genügt, wenn nur das reine Gefühl für die Idee nicht erstickt wird. Äußerlich mag immerhin die Unvollkommenheit, das Chaos recht behalten. Geradezu tollkühn ist in dieser Beziehung z. B. G. Hauptmann in seiner famosen
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Diebskomödie „ D e r Biberpelz" vorgegangen. Die größte Diebin erscheint zuletzt beinahe als die beste P e r s o n im Stück. Der Zuschauer freilich weiß es besser. Hier behält doch die Natur scheinbar völlig recht gegen die Idee. Es ist nur Schein. Wer die Komödie mit dem philiströsen Gefühl der Befriedigung verlassen würde: gottlob, die Schlauheit hat gesiegtI oder mit dem noch philiströseren: weh uns, es gibt keine poetische Gerechtigkeit mehr! der hätte wenig vom Humor dieses Stückes verstanden. Wie sich ein Erwachsener wohl im Spiel mit Absicht vom Kinde niederwerfen läßt, dem er an Kräften zehnfach überlegen ist — so kann eine tiefe Natur auch der Wirklichkeit einmal recht geben gegen die Idee. Wer nicht am Leben gelitten hat, der sollte das Leben auch nicht verspotten. Und so finden wir das Verständnis dafür, daß gerade z. B. die größten Dichter aller Zeiten, wie Shakespeare, Schiller, Goethe usw. dem Humor wie der Tragik gleich zugänglich waren. Man kann sich auf zwiefache Weise für Zeiten von den Sorgen und der Angst des Lebens künstlerisch befreien: indem man sie verspottet und indem man ihre Nichtigkeit dem Ewigen, der Idee gegenüber enthüllt. Seine Leiden überwindet der Künstler in der tragischen Kunst, indem er ihren Ewigkeitswert enthüllt und sie so objektiviert; er überwindet die Mängel seiner Zeit und seiner Wirklichkeit, indem er ihr Nichtsein, ihre innere Hohlheit und Vergänglichkeit im Humor vor Augen stellt. Die individuelle Wirklichkeit des künstlerischen Genies muß wenigstens im Moment des Schaffens immer die Wirklichkeit der Kultur, d. h. das, was bereits Gemeingut der Menschheit geworden ist, überragen, und je mehr das der Fall ist, desto mehr ist der Künstler imstande, sie, die Kultur, zu bereichern. Weil er selbst tiefe Gefühle ungestillter Sehnsucht in sich erweckt hat, vermag er sie in
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Über das Schaffen des künstlerischen Genies
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seinen Mitmenschen zu entzünden. Der Weg vom Sein zum Nichtsein ist gangbar für Menschen, nicht der vom Nichtsein zum Sein. Was in seinem Busen lebt, das vermag der Künstler als Gotteshauch seinen Geschöpfen einzuflößen: er kann Menschen bilden nach seinem Bilde, aber nicht über sich hinaus, ohne hohl und nichtssagend zu werden. Wenn man mit Recht sagt, daß der Künstler in der Stunde des Schaffens über sich selbst hinaus wächst, s o ist doch damit nur gemeint, daß er die Schätze hebt, die ihm selbst unbewußt in seiner Seele schliefen. S o wächst der Künstler freilich auch an seinem Werk, weil e r sich selbst darin erkennen lernt. Wir haben g e s a g t : das künstlerische Genie müsse, wenigstens im Moment des Schaffens, größer sein als seine Zeit; dies kann es, obgleich selbst ein Kind der Zeit. In seiner Seele sammeln sich wie in einem Brennpunkt die Strahlen der Leidenschaften, unverstandenen Gefühle, Hoffnungen und Bestrebungen seines Jahrhunderts: aber dort werden sie verdichtet, ihres vergänglichen Beiwerks entkleidet und das Ewige in ihnen befestigt. Nicht nur die Schauspielkunst hat, wie Hamlet sagt, den Zweck: „der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen". Die Tugend und die Schmach tragen zu allen Zeiten dieselben Züge, wie auch ihr zeitliches Gewand beschaffen sein mag. — Wer aber der Welt so den Spiegel vorhalten soll, der muß sie in sich bergen. Aus dem tiefsten Ursprungsgrunde seines Gemütes muß das Genie die Welt neu erzeugen und gebären und darf die Geburtswehen nicht scheuen. Es ist leicht begreiflich, daß das Genie zumeist verketzert und verkannt wird von seiner Zeit: es steht der Idee um tausend Schritt näher. So oft
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ist's im Leben süß, im Dunkeln zu wandeln: man verschleiert seine Gefühle, man w i l l sich nicht über sie klarwerden. Aber die Kunst des Genies z w i n g t uns dazu: es reinigt unser Gemüt und wirft das Vergängliche über B o r d , an das wir uns aus Irrtum klammerten. Wir heften uns an Bruchstücke des vergänglichen Oaseins, und wir achten nicht das Ewige im Strom der Zeit. Nicht, w a s wir just genießen, ist unser, sondern was wir außer uns stellen und schaffen und wirken im Geist und in der Tat. Jede individuelle Lust, j e d e s Herzeleid ist vergänglich; nicht so die großen Gefühle, welche die Wahrheit und die Schönheit begleiten. Das predigen die W e r k e des Genies. D a s Genie, kann man sagen, verfährt zumeist synthetisch und intuitiv; das Talent mehr analytisch und abstrakt. Den Inbegriff seiner Erlebnisse und seelischen Erfahrungen, die Menge der Leiden und die seltenen Freuden, die das Leben ihm schenkt, schaut das Genie gleichsam synthetisch in eine Einheit zusammen, die im Kunstwerk zum Ausdruck kommt. Das Genie analysiert nicht seine Innenwelt, sondern verdichtet sie; s o wird das Unbedeutende zum Bedeutenden, das Belanglose zum Keim des Ewigen. Der Ausdruck: intuitiv ist freilich durch den Mißbrauch, den viele Philosophen damit getrieben haben, mehr als zweideutig geworden. Gaben doch viele die Intuition als ein besonderes Erkenntnisvermögen neben oder gar über der Vernunft aus, dem sie auserlesene Offenbarungen zu verdanken hätten; oder man sprach gar von einer Intuition des Gefühls, als ob das unbegriffene, von der Vernunft noch nicht durchleuchtete Gefühl ein eigener Erkenntnisquell sei. In diesem Sinne nehme ich das Wort hier nicht. Ich verstehe vielmehr unter Intuition das mehr sinnliche Verfahren des künstlerischen Genies, welches seine Be-
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Über das Schaffen des künstlerischen Qenies
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griffe, Gefühle und Wünsche gleichsam unwillkürlich mit Empfindungen umkleidet, in denen sie sich dem Bewußtsein der Menschheit mitteilen. Der geniale Tonkünstler z. B., der zwar auch die Technik des Kontrapunktes und der Harmonie beherrschen muß, verfährt doch nicht bewußt nach diesen Regeln seiner Kunst, sondern sie sind ihm wie das Werkzeug, dessen Handhabung er s o beherrscht, daß er seine Aufmerksamkeit nicht mehr darauf zu konzentrieren braucht. Aber er h ö r t die Melodien und Harmonien, die er niederschreibt. Seine Gefühle gewinnen unmittelbar in ihnen Gestalt. Dadurch allein vermag er in seinen Nebenmenschen auch die tiefsten Gefühle zum Mitschwingen zu erwecken. Dadurch allein vermag er aber auch sein Kunstwerk synthetisch aufzubauen. E r braucht nicht das Bedeutende aus einer Summe des Unbedeutenden erst herauszuanalysieren. Das Triviale, Unschöne klingt nicht in ihm. Umgekehrt das Talent: aus der Mannigfaltigkeit seines seelischen Innenlebens sucht es durch Analyse das herauszuholen, was ihm der Idee zu dienen scheint. Man sieht wohl, wie es hierbei von der Peripherie ausgehen muß, weil es auch das Belanglose, Unbedeutende durchlaufen muß, was nicht mit seiner Existenz unmittelbar verknüpft ist. Und die Regeln der Technik seiner Kunst müssen ihm hierbei nur zu oft als Leitstern und Leitfaden dienen. Es verfährt abstrakt, mehr aussondernd, abstrahierend, als unmittelbar aufbauend und erzeugend. Die tiefsten Erlebnisse klingen in ihm nicht viel lauter als die nichtigen. Die wahre Kunst ist daher immer die Kunst des Genies, wie schon Kant sagte. Durch die Werke des künstlerischen Genies werden die Individuen und Völker dem Gefühle der Humanität gewonnen; und das ist die ewige Rechtfertigung der Kunst. B
Mensch, Kunst und Natur.
I
n den W e r k e n der Dichter und Künstler herrscht zumeist eine s c h ö n e Einigkeit zwischen den Stimmungen d e r Menschen und den S t i m m u n g e n der Natur. Mit den leiderfüllten Herzen trauert die Natur, mit den fröhlichen lacht der Himmel. S o erscheinen Mensch und Natur innig befreundet, und die S e e l e d e s Menschen vermag i m m e r T r o s t und F r e u d e zu finden, wenn er sich in Wald und Feld," in B e r g und Tal ergeht. E s ist, als o b die Natur antwortete auf die F r a g e n d e s Dichters, als o b s i e vertraute Z w i e s p r a c h e mit ihm hielte. Man denke an die g a n z e P o e s i e H. Heines. O d e r man nehme z. B . G o e t h e s : Über allen Gipfeln ist Ruh', in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vöglein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch. Ist e s doch, als o b die R u h e und der Frieden
der Natur
sich dem Qemüte des Dichters freundlich mitteilte! — B e i s p i e l e ließen sich leicht häufen. kennt
nicht
immer
Mensch und Natur.
dies innige
Die
D i e rauhe Wirklichkeit
Einverständnis
zwischen
W i e oft wandeln wir mit leiderfüllter
S e e l e durch die s o n n e n b e g l ä n z t e Frühlingslandschaft;
wie
häufig tragen wir ein fröhliches Herz dem Sturm und dem R e g e n entgegen.
Nun ist sicher, daß sich auch hier häufig
die Harmonie wiederherstellt.
Wem
ist
nicht
die Natur
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Mansch, Kunst und Natur
schon eine T r ö s t e r i n g e w o r d e n in seinen S c h m e r z e n I
Die
Waldeinsamkeit, w e n n tausend g e h e i m n i s v o l l e Stimmen aus dem R a u s c h e n der Blätter, dem S i n g e n der Vöglein, dem Murmeln der Quellen unserem
Ohre
und dem G e s u m m e der B i e n e n zu
dringen,
erfüllt
unser
Herz
mit
Ahnungen e i n e r leidlosen, e w i g e n S c h ö n h e i t .
seligen
D e r Anblick
g e w a l t i g e r G e b i r g s m a s s e n o d e r d e s sturmerregten O z e a n s gibt uns die Empfindung e i n e r E r h a b e n h e i t und Kraft, die uns die Nichtigkeit und V e r g ä n g l i c h k e i t u n s e r e r tierischen E x i s t e n z vor Augen führt und um s o lebhafter die S e h n sucht und die G e w i ß h e i t des E w i g e n , Unvergänglichen in uns e r w e c k t .
D o c h warum viele W o r t e m a c h e n ?
von uns kennt diese g e h e i m e n B e z i e h u n g e n s e r e m Herzen und der Natur.
Jeder
zwischen
un-
E s ist a b e r auch gewiß, daß
die Natur im höchsten G l ü c k e und im höchsten Leid ihre Macht verliert, wenn sie diesen Empfindungen in ihren Äußerungen widerspricht.
Ein j u g e n d l i c h ' Herz, das überquillt
vom heißen G l ü c k erster, erfüllter, g l ü c k s e l i g e r Liebe, kann g e r a d e z u der Natur zürnen, wenn s i e nicht mit ihm lacht und j a u c h z t ; er steht zum mindesten ihren Äußerungen, sofern s i e nicht in seinen J u b e l einstimmen, kalt und gleichgültig g e g e n ü b e r .
Und nun gar, wenn die S e e l e aufseufzt
in n a m e n l o s e m , nie g e k a n n t e m L e i d !
W e n n die süßesten
Hoffnungen zusammenstürzen, wenn der letzte Strahl des G l ü c k e s verloren geht und im G e m ü t e nichts zurückbleibt als der b o h r e n d e S t a c h e l e r z w u n g e n e r E n t s a g u n g ! — Dich grüßt freundlich von allen S e i t e n
eine üppige V e g e t a t i o n ;
s ü ß e Vogelstimmen dringen schmeichelnd an dein O h r ; die h o h e n , schroff aufragenden B e r g e glänzen
im funkelnden
F a r b e n s p i e l des A b e n d r o t e s , und der S e e fängt den bunten G l a n z in seinen Fluten auf.
A b e r du g e h s t achtlos und
o h n e Interesse durch all den Z a u b e r und all die Schönheit der Natur.
Der
tiefe G r a m
deines H e r z e n s
kehrt
dein
H
Mensch, Kunst und Natur
B
I n n e r e s ab von allem, w a s du siehst und h ö r s t . Du denkst n u r d e s einen, S c h m e r z l i c h e n , w a s du erlebt h a s t . — G e w i ß , die Natur k a n n leichte, s c h o n im A b k l i n g e n b e g r i f f e n e Gefühle umstimmen o d e r zum V e r s c h w i n d e n b r i n g e n . Vor dem bittersten Ernst d e s L e b e n s v e r s a g t ihre Macht. Wie a n d e r s die K u n s t I S i e v e r m a g auch in den schlimmsten S t u n d e n u n s e r e s L e b e n s ihre F r e u n d e s m a c h t a u s z u ü b e n und T r o s t , E r h e b u n g und B e r u h i g u n g uns i n s Herz zu gießen. Die v e r s c h i e d e n e V e r a n l a g u n g und die v e r s c h i e d e n a r t i g e E m p f ä n g l i c h k e i t d e r M e n s c h e n bedingt die S t e l l u n g d e r e i n z e l n e n Individuen zu den einzelnen K ü n s t e n : doch d ü r f t e sich d i e e r q u i c k e n d e und r e t t e n d e Macht d e r K u n s t schließlich in allen w a h r h a f t g r o ß e n Kunstw e r k e n , seien e s nun s o l c h e d e r M u s i k , P o e s i e , Bildnerei u s w . , äußern. J e a n P a u l s a g t e i n m a l : „ H a b e g r o ß und selig g e w e i n t , wie du n u r w i l l s t : die T o n k u n s t spricht dir dein H e r z nach und b r i n g t dir alle T r ä n e n w i e d e r . " A b e r nicht n u r das, s i e b e f r e i t u n s von u n s e r e m K u m m e r und gibt uns n e u g e s t ä r k t , n e u b e l e b t dem D a s e i n w i e d e r . „Musik ist ein r e i n e s G e s c h e n k und eine G a b e Gottes, sie vertreibt den T e u f e l , sie macht d i e Leute fröhlich und man vergißt ü b e r sie alle L a s t e r , " sagt M. L u t h e r ; und B e e t h o v e n : „ J e d e echte E r z e u g u n g d e r K u n s t ist unabhängig, mächtiger als d e r K ü n s t l e r selbst und kehrt durch ihre E r s c h e i n u n g zum Göttlichen zurück und hängt n u r darin mit dem M e n s c h e n z u s a m m e n , daß sie Z e u g n i s gibt von d e r Vermittlung d e s Göttlichen in ihm." Man kann g e r a d e z u s a g e n , daß sich die k l a s s i s c h e G r ö ß e eines K u n s t w e r k e s danach b e m e s s e n läßt, welche W i r k u n g es im höchsten Glück o d e r im h ö c h s t e n Leide auf uns ausü b t : alle Mittelware d e r K u n s t e r s c h e i n t u n s trivial, belanglos o d e r l a n g w e i l i g , w e n n d i e S t ü r m e des L e b e n s durch u n s e r e S e e l e f a h r e n . Die r e c h t e , tiefe K u n s t a b e r
Mensch, Kunst und Natur bewährt sich dann erst in ihrer ganzen Kraft. In aufgeregten, unklaren Seelenstimmungen vermag die Musik besonders viel über unser Gemüt. Die Musik leitet die regellosen Gefühle zur Regel zurück: sie zwingt sie in liebliche oder erhabene Formen. Kommt, ihr Mühseligen und Beladenenl Laßt euch von Beethoven oder Brahms t r ö s t e n ; lauscht mit Andacht der Eroica oder einem Brahms'schen Liede. Die Leiden eurer Seele werden verrauschen, die Sturmflut eurer Gefühle der milden Macht gehorchen, die euch zum Herzen spricht! Es ist aber nicht der Musik einzig gegeben, so wohltätig auf des Menschen Herz zu wirken. Muß ich erinnern an die beseligende Macht der Poesie, wie sie sich in den Versen Goethescher Lyrik ä u ß e r t ? Und wer hat nicht in tiefster Seele die Macht eines großen Bildwerkes, wie z. B. des Michel Angelo' Moses, e m p f u n d e n ? Wie erklärt sich nun diese verschiedene Stellung des Menschen zur Schönheit der Natur und Kunst? Es ist wohl einer der stärksten Beweise für den Idealismus. Die Natur ist nichts unabhängig vom menschlichen Geiste Existierendes, das ihm durch die Sinne fertig überliefert w ü r d e , so daß er nur gleichsam die Augen und Ohren zu öffnen brauchte, um die Welt in seine Seele hineinschlüpfen zu lassen. Die Natur ist das Erzeugnis unseres Bewußtseins. Die Sinne veranlassen uns nur, die Natur und ihr Sein im Denken zu gestalten. Wenn nun, die Empfindungen, die sich dem menschlichen Geiste aufdrängen und seine Erkenntnistätigkeit auslösen, ihrem Gefühlston nach mit der Stimmung seines eigenen Gemütes harmonieren: so wird der Erkenntnisakt selbst, durch den wir die Natur in unserem Bewußtsein erschaffen, noch die freudige oder traurige Verfassung unserer Seele selbst steigern und erhöhen. Wenn aber die auf uns einstürmen-
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Mensch, Kunst und Natur
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den Eindrücke und Empfindungen sich in vollem Gegensatz befinden zu der Stimmung unserer Innenwelt, so werden wir uns ihnen zu entziehen suchen, uns gleichgültig oder ablehnend gegen sie verhalten. Ganz anders gegenüber der Kunst I Der Kunst ist Natur und Sittlichkeit nur Stoff, den sie auflöst ins reine Gefühl der Idee. Der Künstler erschafft seine künstlerische Natur, wie sie sich uns im Kunstwerk zeigt, im Dienste der Idee, sie wird ihm der Ausdruck des Unendlichen, Ewigen, das die Menschen verbindet, der Einheit der Menschheit. Er läßt uns durch sie die Idee im Gefühle ergreifen. S o zwingt er das Herz des Genießenden in den Dienst des Unendlichen. Wollen wir das Kunstwerk mit dem Gefühle erfassen, so müssen wir unserem Geiste die Richtung auf die Idee geben, vor deren Macht und S t ä r k e das Vergängliche unseres subjektiven Leides oder Glücks in Rauch aufgeht und verschwindet. Der Künstler leitet uns aus der verrauschenden Zeit in das Land der Ewigkeit. Das Überindividuelle, das Allgemeinmenschliche der Kunst beruht auf dieser Macht der Idee. Im G r u n d e genommen ist es ja in unseren engen, persönlichen Schmerzen und Freuden auch nur ihr Verhältnis zum E w i g e n , zur Idee, was die Tiefe unserer Seele dauernd aufrührt und bewegt. So spricht der Künstler denn gleich zum Tiefsten in unserem tiefen Schmerz, zum Höchsten in unserem höchsten Glück. Er greift gleichsam in unser Lebenszentrum, in den Mittelpunkt unserer Eigenwelt und bemächtigt sich unserer Wünsche, Hoffnungen, Gedanken und Vorstellungen durch das Gefühl und weist sie auf die Ewigkeit des Unvergänglichen hin. Darauf beruht die Würde und Bedeutung der Kunst. S
Von H e r z e n s k ä m p f e n und vom stillen Heldentum.
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s gibt ein H e l d e n t u m , d a s sich nicht auf dem Schlachtfeld und vor aller Blicken, s o n d e r n in den H e r z e n s k a m m e r n e i n s a m e r M e n s c h e n a b s p i e l t : v e r b o r g e n e Leiden, u n a u s g e s p r o c h e n e Klagen und e r h e u c h e l t e r F r o h s i n n . Bei a n d e r e n M e n s c h e n s e h e n w i r j a nur die Ä u ß e r u n g e n ihres G e f ü h l s in ihren T a t e n ; die v e r b o r g e n e n Quellen d e s G e f ü h l s in ihren H e r z e n s e h e n w i r nicht. S o kommt's, daß w i r viele f ü r glücklich halten, die sich ihres K u m m e r s s c h ä m e n . Und doch b e d ü r f e n g e r a d e sie am meisten u n s e r e r L i e b e ! D o c h n e i d e ich d i e M e n s c h e n nicht, d e n e n d a s Schicksal s o s c h w e r e H e r z e n s k ä m p f e e r s p a r t hat. Ihre S e e l e ist zumeist s e i c h t , w i e ein Tümpel am W e g e ; da m a g d e r S t u r m k e i n e Wellen w e r f e n . Ich w ü n s c h e mir i m m e r g r o ß e G e f ü h l e und L e i d e n s c h a f t e n . Ein Gefühl o d e r eine Leidens c h a f t , die w i r noch nicht mit d e r V e r n u n f t d u r c h d r u n g e n h a b e n und d e r wir folglich noch w e h r l o s g e g e n ü b e r s t e h e n , hat freilich e t w a s D ä m o n i s c h e s . A b e r es liegt n u r an uns, den D ä m o n zum G o t t zu läutern. Scheidet d a s Nichtsein vom S e i n ! — 0 , es ist oft s o s c h w e r und schmerzlich, d a s R e i n e u n s e r e r G e f ü h l e h e r a u s z u s c h ä l e n und alles H a l b e , U n k l a r e f o r t z u w e r f e n ! Aber ich b e h a u p t e k ü h n : w e r d i e s e n Kampf d e r E n t s a g u n g noch nicht einmal voll und g a n z d u r c h g e k ä m p f t h a t , d e r hat noch nicht d a s r e i n s t e M e n s c h e n t u m e r r u n g e n . In j e n e m Kampf, d e r uns
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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das Selbstische, Unerlaubte unserer Wünsche verbannen hilft, lernen wir die wahre Tragödie der Menschheit kennen. Der schmale Pfad, der zum Sein, zur Wahrheit und Klarheit führt, hat so viele Nebengassen, die mit trauter Dämmerung und süßen Düften locken: Truggestalten irren die Seele, und ein vergänglicher Frühling gaukelt uns Seligkeiten vor; aber am Ende stehen wir vor dem Abgrund des Nichtseins — und die Umkehr ist so schwer! Aber nur mutig, Herz, wenn du den Dämon besiegt hast, wird der Gott um so mächtiger werden I Aber dieser Gott ist nicht der Gott des Quietismus, sondern er birgt den Kern und die Kraft der Leidenschaft in sich, nur das Ziel ist reiner und klarer erkannt. Eine Entsagung, die zur Weltabkehr führt, ist immer das Zeichen der Schwäche; eine wirklich geläuterte Leidenschaft glimmt, nein, glüht im Herzen weiter und wird die Triebfeder zu selbstlosen und guten Taten. Was es uns oft so schwer macht, uns in unseren Gefühlen zurechtzufinden, d a s ist, daß wir große Gefühle kleinen Pflichten opfern müssen. Es ist wohl leicht, einen Wunsch, eine Hoffnung zu unterdrücken, wenn neuere, tiefere Leidenschaften in uns emporsteigen. Aber reine, edle Gefühle bekämpfen, die unsere ganze Seele erfüllen, nur weil die Erbärmlichkeit des Alltagslebens ihre Ansprüche stellt, das wird auch dem Stärksten oft zu viel. Und doch kann gerade hier das Gemüt sich bewähren und an Reichtum gewinnen; denn je schwerer der Kampf, desto herrlicher der Sieg. Und dann müssen wir bedenken, daß wir die Wirklichkeit und selbst das Triviale, Alltägliche adeln, wenn wir sie mit großen Gefühlen erfüllen. Hölderlin sagt: „Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte, stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstünde."
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
W e n n u n s e r Herz dem j ä m m e r l i c h s t e n A r g w o h n bes c h r ä n k t e r S e e l e n a u s g e s e t z t ist; w e n n d a s Leben uns einspinnt in ein Netz von Niedrigkeit und G e h ä s s i g k e i t ; w e n n die lautersten G e f ü h l e und r e i n s t e n B e g e h r u n g e n unvers t a n d e n v e r r a u s c h e n — g e r a d e d a n n gilt e s , in d e r Tiefe d e r eigenen S e e l e K r ä f t e zu e r w e c k e n , damit w i r am Cdeln und E w i g e n nicht irre w e r d e n . Nicht kleinmütig zu w e r d e n , w e n n w i r von Kleinmut u m g e b e n s i n d ; im S u m p f e d e s M i ß t r a u e n s selbst V e r t r a u e n zu b e w a h r e n : d a s geziemt dem rechten I d e e n f r e u n d . Wir sollten nicht klagen, w e n n d a s Leben uns mit W i d e r w ä r t i g k e i t e n verfolgt: denn j e d e s n e u e L e i d , j e d e n e u e Mühsal ist w i e d e r ein A n l a ß , e i n e n e u e , g r ö ß e r e , s c h ö n e r e S e i t e u n s e r e r S e e l e zu entfalten. D i e unglücklichsten L e b e n s w e g e sind vielmehr die, w e l c h e i m m e r auf g e e b n e t e r S t r a ß e f ü h r e n : da wird alle Kraft unnütz o d e r g a r nicht v e r b r a u c h t ! — Wir sollten auch nie g l a u b e n , auf dem Gipfelpunkt u n s e r e r Leiden a n g e l a n g t zu s e i n ; d a s Leben ist erfinderisch, und w i r müssen stets g e rüstet s e i n ! W i r sind ergriffen, w e n n w i r g r o ß e M e n s c h e n im Leide s e h e n : durch ihre S t a n d h a f t i g k e i t scheinen Schuld, S ü n d e , Übel und Not ihre Kraft zu verlieren, und d e r P e s s i m i s m u s zeigt sich in s e i n e r kläglichen Torheit und S c h w a c h herzigkeit. S o sollten w i r denn auch s e h e n , in uns selbst j e n e Macht b e r e i t z u h a l t e n , die d i e Menschheit in ihrem Sein und W e s e n rechtfertigt. Und ist u n s doch auch die F r e u n d s c h a f t zum S t a b und z u r Stütze g e g e b e n . Die s t e r n e n l o s e n Nächte u n s e r e s Leb e n s , da das G e m ü t verfinstert ist durch die W o l k e d e r T r ü b s a l , erleuchte d a s Licht d e r F r e u n d s c h a f t ! Ach, w e n n man nur einen Menschen hat, d e r einen völlig und g a n z versteht, dem man sich r e s t l o s mitteilen kann, wieviel leichter erträgt sich alles! D i e s e u n s i c h t b a r e G e m e i n s c h a f t , die dem S k e p t i k e r und w e l t k l u g e n E g o i s t e n e w i g f r e m d bleibt,
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V o n H e r z e n s k ä m p f e n und vom stillen Heldentum
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ist es, die das L e b e n zuzeiten selbst glücklich macht. beseligende
du das
Gefühl
Welt nicht bewußten
reineren Innigkeit mit einem
Menschen kennen g e l e r n t ?
Hast
des G e h e i m n i s s e s e i n e r
der
edlen
Alles Tüchtige, alle g r o ß e n und
guten W e r k e , die dir gelingen und die du der Welt überlieferst, entspringen aus diesem S e e l e n b ü n d n i s s e ; a b e r ihre Quelle kennt nur du und dein F r e u n d : ihr tragt s i e wie ein heiliges Mysterium in eurem Gemüte. Zuweilen
gewinnt
auch
im
edelsten
Verwirrte, Unaufgeklärte, Chaotische, —
Menschen die
das
unlauteren
W ü n s c h e , Gefühle, Hoffnungen, — die Oberhand, daß e r auffeufzen m ö c h t e : w e r schützt mich vor mir s e l b s t ?
Wer
hilft mir über mich s e l b e r f o r t ? W i e wohltätig wirkt dann die G e g e n w a r t eines treugesinnten F r e u n d e s , der uns mit liebenden W o r t e n
über
uns selbst
aufklärt,
über
w a h r e s W e s e n , u n s e r e e w i g e n , unverlierbaren Z i e l e !
unser Ein
W o r t , das der F r e u n d spricht, das muß klingen, als käm's aus dem eigenen Innern. Darf man am F r e u n d e zweifeln? Nein! Ich weiß wohl, daß w i r
e s zuzeiten t u n ;
aber
das
sind
Demütigung, deren w i r uns später schämen. das unbedingte Vertrauen
Stunden
tiefer
Denn g e r a d e
bedingt den Wert der Freund-
schaft. R e i n e r e S t i m m u n g e n kennt g e w i ß das Herz nicht, als s i e aus der S e l b s t s i c h e r h e i t der Freundschaft entspringen. Man hat gut an s e i n e F r e u n d e glauben, s o l a n g e das G r o ß e und G u t e ihrer T a t e n offen am T a g e liegt, und s o l a n g e s i e von aller Welt g e l o b t w e r d e n ; aber wenn die Welt anfängt, s i e zu verdächtigen,
und S t e i n e auf s i e wirft,
dann
k ö n n e n wir unseren Glauben an sie und unsere schaft Freund
recht
bewähren.
zu verletzen,
F r e u n d zu v e r l i e r e n ! F r e u n d eigentlich nur
Wie
schmerzlich
ist
erst
Freund-
es,
einen
und wie ganz unerträglich,
einen
Verletzen freilich kann den rechten der Zweifel
an der
Freundschaft;
B
Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
E
alle h a r t e n W o r t e m a g er s o n s t v e r t r a g e n . Aber wir sollten d o c h einem F r e u n d e innerlich nie wirklich z ü r n e n , s o n d e r n b e d e n k e n , d a ß ein T a d e l a u s F r e u n d e s m u n d d o p pelt schmerzlich w i r k t . V e r l i e r e n k a n n man a b e r , richtig bedacht, e i n e n rechten F r e u n d nie a n d e r s als durch den T o d . Die b e s t e P r o b e f ü r zwei M e n s c h e n , o b ihre G e f ü h l e d e r F r e u n d s c h a f t und L i e b e f ü r e i n a n d e r s o rein und tief sind, w i e sie im A u g e n b l i c k e g l a u b e n , ist die, d a ß sie sich f ü r l ä n g e r e Zeit t r e n n e n . D e n n e s gibt kein t o t e s H e r z im l e b e n d i g e n K ö r p e r . W e n n a l s o n e u e E i n d r ü c k e n e u e Gefühle erwecken m ü s s e n , wenn diese aber dennoch die alten G e f ü h l e nicht zu v e r d r ä n g e n , s o n d e r n n u r zu vers t ä r k e n v e r m ö g e n , s o ist a l s o w o h l e t w a s E w i g e s und B e h a r r l i c h e s in ihrer S e e l e , d a s A c h t u n g und P f l e g e verdient. W e n n zwei M e n s c h e n , d i e sich lieben, um e i n a n d e r tief und schmerzlich gelitten h a b e n , s o h a b e n s i e sich dadurch ein Anrecht a u f e i n a n d e r e r w o r b e n , d a s die Welt nicht s t ö r e n sollte. D e n n d a s P o s i t i v e d e r L i e b e , die W a h r h e i t in ihr, hat den Kampf mit d e m Nichtsein siegreich b e s t a n d e n . D i e h e i ß e , r e i c h e , r e i n e L i e b e liefert den L i e b e n d e n d e m G e l i e b t e n völlig a u s . Ich m e i n e nicht die sinnliche Liebe, w e l c h e uns wohl auch im R a u s c h d e s A u g e n b l i c k e s f ü r k u r z e Frist dem G e g e n s t a n d e u n s e r e r L i e b e u n t e r w i r f t ; s o n d e r n ich meine d i e auf G e m e i n s a m k e i t d e r L e b e n s w e r k e b e r u h e n d e Liebe. D a r u m hat a b e r die L i e b e , j e heiliger und reiner sie ist, auch d e s t o h ö h e r e Verpflicht u n g e n im G e f o l g e : d e n n sie k a n n z e r s t ö r e n und aufe r b a u e n . D a s B e w u ß t s e i n , geliebt zu w e r d e n , soll uns die V e r a n t w o r t u n g klar m a c h e n , die w i r damit ü b e r n e h m e n : w e r u n s s e i n e S e e l e a n v e r t r a u t , den m ü s s e n w i r leiten. W i e v e r d i e n e n w i r u n s die F r e u n d s c h a f t g u t e r M e n s c h e n ? W i e a n d e r s , als indem w i r u n s s e l b s t g r o ß u n d gut z e i g e n ?
B
Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
H
Kleinliche S e e l e n w e r b e n um die F r e u n d s c h a f t durch Eitelk e i t , d. h. den S c h e i n d e r T a t e n und W a h r h e i t ; g r o ß e S e e l e n d u r c h W a h r h e i t und Tat. — Will denn überhaupt F r e u n d s c h a f t v e r d i e n t s e i n ? Ist sie nicht eine freiwillige G ö t t e r g a b e ? S o freilich mußt du d e i n e F r e u n d s c h a f t vers c h e n k e n , o h n e auf d i e V e r d i e n s t e d e i n e s F r e u n d e s hinzublicken. A b e r w e n n du s e l b s t nach F r e u n d s c h a f t Verlangen t r ä g s t , s o mußt du um sie w e r b e n und sie i m m e r neu gewinnen. D e n k d o c h , w i e s e h r dein H e r z v o r F r e u d e n schlägt, w e n n du G u t e s von d e i n e m F r e u n d e v e r n i m m s t ! S o schaff auch d i e s e m dies G l ü c k und e r w i r d dich i m m e r i n n i g e r , i m m e r t r e u e r lieben. — Und w i e k o m m t e s d e n n , d a ß w i r s o oft im höchsten G l ü c k e , w e n n w i r liebend L i e b e e n t z ü n d e t haben, e i n e Art S c h u l d b e w u ß t s e i n in u n s g e w a h r w e r d e n ? D a s ist w o h l ein r e i n e s und gutes G e f ü h l , w i r sollten s e i n e r nicht s p o t t e n ! Die Schatten d e r S e e l e r e g e n s i c h ; vom S t u r m e d e r L e i d e n s c h a f t sind die Z w e i g e d e s L e b e n s b a u m e s b e w e g t ; v e r g e s s e n e F e h l e r und S ü n d e n nahen d e r E r i n n e r u n g und d e r Z w e i f e l a n - d e r e i g e n e n W ü r d i g k e i t w i r d w a c h , d e n n , w o w i r eine S e e l e z u r L i e b e e n t f a c h e n , da r e g e n w i r T r ä u m e , H o f f n u n g e n , S e h n s u c h t auf, die u n s g e l t e n : d ü r f e n w i r u n s f ü r rein gen u g halten, d e m R e i n e n ein Ziel d e s V e r l a n g e n s zu w e r d e n ? — D a s ist a b e r d e r T r o s t und d e r V o r z u g der ents a g e n d e n L i e b e , d a ß sie ihre F l ü g e l rein erhält und sie nicht im S t a u b e d e s L e b e n s beflecken k a n n . In s e l i g e n A u g e n b l i c k e n r e i n s t e r und heiligster Liebe steht z u w e i l e n d a s Bild u n s e r e s sittlichen S e l b s t e s k l a r e r und deutlicher v o r u n s e r e m geistigen Auge. Wir s e h e n ü b e r alle F e h l e r und M ä n g e l w e g n u r auf d a s Positive, W a h r e und G u t e , w a s uns b e w e g t und w a s w i r e r s t r e b e n . D e n n , s o w i r die G e l i e b t e zur M i t b e t r a c h t e r i n , Z u s c h a u e r i n h e r b e i r u f e n , s e h e n w i r uns, w i e w i r sein m ö c h t e n , wie w i r
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Von Herzenskämpfen und vom slillen Heldentum
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sein sollten — nicht, wie w i r wirklich sind. D i e s e Täus c h u n g , w e l c h e Ideal und W i r k l i c h k e i t , S e i n und D a s e i n , in E i n s s e t z t , ist heilsam und f r u c h t b a r , w e n n w i r , e r w a c h e n d , d a s B e w u ß t s e i n u n s e r e r B e s t i m m u n g zu bewahren wissen. Ach, d e r e w i g e n Unrast d e s H e r z e n s , d a s s e i n e W e g e e i g e n s i n n i g g e h t und die V e r n u n f t nicht zu R a t e zieht! Welch s c h w e r e Konflikte e n t s p r i n g e n oft, w e n n w i r u n s e r e G e f ü h l e nicht zu deuten und mit B e w u ß t s e i n zu d u r c h d r i n g e n v e r m ö g e n ! Wir g e b e n u n s e r e L i e b e f ü r H a ß a u s und q u ä l e n uns im G e l i e b t e n ! D e s M e n s c h e n D ä m o n ist sein G e m ü t , sagt D e m o k r i t . D a s L e b e n m a g uns vom tiefsten Leid ins h ö c h s t e G l ü c k und vom höchsten G l ü c k w i e d e r ins tiefste Leid f ü h r e n : d a s ist n u r S c h i c k u n g ! Aber w a s wir werden und s i n d , liegt bei uns. Wir selbst h a b e n u n s bestimmt zu W ä c h t e r n und P i l g e r n d e r E w i g k e i t . Tierisch schuf u n s die Natur gleich a n d e r e n T i e r e n ; a b e r a u s d e r Tiefe u n s e r e s B e w u ß t s e i n s stieg die Idee und warf ihren G l a n z z u r ü c k in die G e m ü t e r d e r S t a u n e n d e n . Heimlich, u n t e r d e r M a s k e d e s G l ü c k e s , schleicht sich oft d a s Leid in u n s e r e H e r z e n s k a m m e r n , und hat sich's einmal d o r t e i n g e n i s t e t , so w e i s t kein noch s o s t a r k e r Wille ihm die T ü r e . A b e r nicht spielen sollen w i r mit ihm und e s hätscheln und pflegen w i e ein v e r w ö h n t e s Kind, s o n d e r n ihm i m m e r w i e d e r d i e S t i r n e bieten. W e r sich mit dem Leide brüstet, nimmt ihm s e i n e Heiligkeit. — Mit Recht sieht man d a s Lachen als Z e i c h e n d e r G e s u n d u n g d e s L e i d g e p r ü f t e n an. Dann erst, w e n n die Idee u n s wied e r e r s c h i e n e n ist und wir die V e r g ä n g l i c h k e i t d e s individ u e l l e n , subjektiven G l ü c k e s e r k a n n t h a b e n ; w e n n die Z u k u n f t durch die s a n f t e B e r ü h r u n g i h r e s Z a u b e r s t a b e s w i e d e r neue S e h n s u c h t , neue H o f f n u n g , n e u e Kraft in d e r
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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Seele erweckt hat, können wir wieder frei und aus vollem Herzen lachen. Vorher klingt's nur wie die Stimme des Hasses und der Verzweiflung. Erst wenn die S o n n e untergegangen ist, sprechen die Farben des Abendrotes vollleuchtend zu unserer Seele; erst wenn wir ein Glück verloren haben, fassen wir es ganz in der Tiefe unseres Gemütes auf. Wie verschieden aber wirken doch die erzwungenen Entbehrungen und Entsagungen in der Liebe auf die verschiedenen Menschen! Den zarten, schwachen Seelchen, die dem Leben nicht gewachsen sind, wird die Blutenknospe der Jugend wie von giftigen Würmern angefressen und alles Kräftige, Große, S c h ö n e an ihnen ertötet. Aber den starken Herzen dient's zum Heil: s o wie der G ä r t n e r den Bäumen und Sträuchern allzu üppig wuchernde Zweige abschneidet, damit der Stamm und die K r o n e um s o kräftiger emporstreben. Wie mancher S o n n e n u n t e r g a n g gleicht einer Morgenröte! Nein, es ist nicht nur ein Bild, ein Gleichnis: wo wir den tiefsten Schmerz erleben, da ist unser größtes Glück am nächsten. Keine Macht ist so stark, als die wir aus unseren Leiden schöpfen; und wenn uns erst das Leid die Augen geöffnet, wieviel Schönheit sehen wir außer uns und in uns, die wir früher nicht sahen. Wenn die Last deiner Sorgen dich drückt und das Bündel deiner Schmerzen zu schwer wird; wenn deine Knie wanken von der Mühsal des Lebens, die Füße bluten vom steinigen Pfade und die Seele bebt und seufzt unter den Rutenstreichen des Schicksals — bezwinge dein Herz! Siehe, die Stürme des Lebens fahren daher und dahin, und die Nacht und die Finsternis weichen der Sonne. Ach, nicht vom Fluge ins Land der Glückseligkeit sollst du träumen, aber auch nicht in der Resignation des Leids verharren. Es schlummern in dir tausend Kräfte ungenutzt; es strebt in dir et-
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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was e m p o r zum Ewigen! Rufe alles auf, was in dir ist, und kämpfe! Wer nun die Selbstsicherheit des tapferen Lebensstreiters gefunden hat, gereicht allen Menschen zum Segen. E r bringt dem Trostlosen Trost durch sein Beispiel, erhöht das Glück des Beglückten durch seine selbstlose Mitfreude Aber zu dieser SeelengröQe kann auch nur der durchdringen, der sich das Liebste gewonnen hat, indem er es verloren gab. Ach, des reinen Glückes kennt die Erde so wenig! Die heitersten Tage, die seligsten Stunden trübt uns die G e g e n w a r t eines Philisters, der unser Tun und Streben durch die Brille der Nützlichkeit und der konventionellen Schein - Sitte betrachtet. W o wir aus der Tiefe unserer Seele nach der Idee verlangen, w o wir die Flügel unseres Geistes weit ausspannen möchten, um ins Reich der Schönheit zu fliegen, sollen wir den trocknen Ton der gleichgültigen Gewohnheit anschlagen. Und doch ist jede Begeisterung, die man uns stiehlt, ein Raub an unserer Seele. Wir können nicht immer begeistert sein; aber dem Schicksal sollen wir danken f ü r jede S t u n d e , da sich die Seele erhebt zu seligem Enthusiasmus. Und wer immer gleichgültig und nüchtern bleibt, verrät wenig Menschenliebe. Der rechte Gelehrte muß, wie der rechte Künstler, aus Menschenliebe schaffen. Denn w a s ihren Werken Würde verleiht, ist endlich doch immer die Beziehung zur Idee. Der Gelehrte führt uns langsam einen Schritt ihr entgegen; der Künstler ergreift sie in reinem Gefühl. Wieviel zarte Keime, die im Mutterboden des Gemütes auf den Sonnenschein der Liebe und des Verständnisses harren, verstecken sich oder gehen zugrunde, wenn der eisige Hagelschauer des Hohnes und Unverstandes durch die Seele fährt. Deshalb sollen wir erst unsere Ideen an der S o n n e der Freundschaft und Liebe reifen: dann sind
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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sie stark genug, jedem Unwetter zu trotzen. Wenn man durch die Bekanntschaft mit dem Edlen sich gestärkt hat, braucht man die Berührung mit dem Gemeinen nicht mehr zu fürchten. Also ist der Umgang mit einem edlen Menschen ein Gesundbrunnen der Seele. Man sagt wohl, daß allzuviel Leiden verhärtet und abstumpft; aber das glaube ich nicht. Es lehrt uns nur unterscheiden. Was dem u n b e r ü h r t e n , unerfahrenen Herzen schon gewaltigen Kummer bewirkt, wenn es zum erstenmal vom Schicksal zerzaust wird, das mag der Leiderprobte gering achten, weil er tiefere Schmerzen erkannt hat. Wenn unsere Gefühle überall freien Lauf hätten, so müßten sie bald verflachen und verrauschen. Warum erhält sich häufig die Erinnerung an ausgestandene Leiden viel lebhafter als an g e n o s s e n e s Glück? Weil wir bei der Überwindung der Leiden zumeist mit allen Kräften unserer Seele beteiligt waren, so daß der Schmerz mit unserem ganzen seelischen Besitztum in Berührung kam. Das Glück trägt sich leichter und mit weniger Anstrengung. Und doch sollten wir jede glückliche Stunde so ausnutzen, daß das erlaubte Glück jeden Teil, jeden entferntesten Winkel unserer Eigenwelt durchleuchtet und unser ganzes Gemüt durchdringt, weil dann seine Erinnerung deutlicher bleibt und sein heller Sonnenschein viele Keime zum Blühen bringt, die sonst zugrunde gingen. Hast du einmal gesehen, wenn die Berge weithin leuchten im letzten Abendglanz? Die Sonne ist längst gesunken, aber nun hebt ein Erröten, Erglühen, Funkeln an, ein tausendfältig'Farbenspiel; und der S e e lacht dazu und spiegelt alles zu seiner Freude, und als wollte e r die Erinnerung festhalten, wieder. Aber dann kommen die Schatten der Nacht; alles stirbt, wird kalt und tot. Wie du aber alles verloren glaubst: siehe, s o hebt sich die liebliche
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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S c h e i b e d e s M o n d e s ü b e r j e n e n Gipfeln und ein mildes, r u h i g e r e s Licht deckt s a n f t , z a u b e r h a f t und e r q u i c k e n d G e b i r g und W a s s e r . D u lebst auf in d i e s e r r e i n e r e n , stilleren Natur! Und s o auch ist oft d a s Schicksal u n s e r e r S e e l e ! E i n e S o n n e d e s heißesten G l ü c k e s erlischt: t a u s e n d F a r b e n d e r L e i d e n s c h a f t , S e h n s u c h t und Liebe s p r ü h e n in u n s e r e m H e r z e n ; dann k o m m t die kalte Nacht d e r Verzweiflung. Aber siehe: die Gewißheit entsagender, ewiger F r e u n d s c h a f t , die nichts m e h r b e g e h r t , als zu s c h e n k e n , zu helfen, geht trostreich, w i e d e r M o n d , am Himmel d e s G e m ü t e s auf und hüllt dein L e b e n in eine selige, durchsichtige D ä m m e r u n g . Bei aller i n n i g e n , herzlichen L i e b e zur W e l t , die ich nie satt w e r d e zu p r e i s e n und zu üben, s a g e ich d o c h : e s ist gut, zuzeiten sich völlig von d e r Welt a b z u k e h r e n , o d e r vielmehr ü b e r sie w e g z u s e h e n w i e ü b e r e t w a s F r e m d e s , U n b e k a n n t e s . S i e muß einmal u n s e r e m G e m ü t e völlig abs t e r b e n , damit d i e s e r T o d in u n s d a s E w i g e vom V e r g ä n g liehen s o n d e r e , und d a s B e r e c h t i g t e d e r L i e b e und d e s H a s s e s h e r v o r t r e t e . A l s d a n n a b e r gilt e s , g e k r ä f t i g t und g e r e i n i g t zu ihr, d e r Welt, z u r ü c k z u k e h r e n . D e n n die S t u n d e n d e r S c h ö p f u n g , in d e n e n s i c h t b a r e G e s t a l t g e w i n n t , w a s sich s o lange im G e i s t e r e g t e und d r ä n g t e , sind die S e n d b o t e n d e s G o t t e s d e r Z u k u n f t . In ihnen entschleiert sich u n s e r s t die e i g e n e S e e l e , und es ist, als o b w i r V e r m ä h l u n g feiern sollten mit d e m T r a u m e u n s e r e r S e h n s u c h t . Heilige S c h ö p f e r f r e u d e , du F r i e d e n s engel u n s e r e s D a s e i n s , du t r o s t r e i c h e r Arzt v e r w u n d e t e r H e r z e n ! du bist reich an B a l s a m , der die S c h m e r z e n lind e r t ; du e r h e b s t den V e r z w e i f e l t e n , pflanzst n e u e H o f f n u n g , n e u e Liebe in die B r u s t d e s E r s c h ö p f t e n , Ü b e r w u n d e n e n . Du w e i g e r s t dich n i e m a n d e m : w e r dich nur innig, voll ehrfürchtigen V e r l a n g e n s s u c h t , d e r findet dich. D e m a r m e n
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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Taglöhner schenkst du Strahlen deiner Gnade, den Künstler erhebst du zum Gotte. Sag, w a s gibt dir solche Macht? — Wer sich s e i n e s Wirkens und Schaffens freut, der ist der Vergänglichkeit entsprungen und lebt der Zukunft. Ihm verblassen die irren Schatten des Tages und verstummen die Stimmen der Niedrigkeit. Keine Lust und kein Leid hält stand vor der tiefseligen Freude des Schaffens. Und doch! es ist ein Gefühl, das noch über der Schaffensfreude steht. Wer durch die Liebe zum inneren Leben und zur Schaffenskraft erwacht ist: der kennt ein Gefühl der Dankbarkeit, ein reines inniges Bewußtsein der Verpflichtung, das seinesgleichen nicht hat. Hast du nie die Angst und die Hast kennen gelernt, ein Erkanntes und Gewolltes ins Leben zu w e r f e n ? Das ist kein rechter Mensch, den's nicht drängt, seine Fähigkeiten und Kräfte an der Welt zu erproben. Aber manche lassen sich zurückscheuchen vom ersten Widerstand, statt dessen wir doch wachsen sollten im Ringen und Kämpfen! Wenn wir aber in der Welt keine rechte Aufgabe zur Betätigung zu finden glauben, so sollten wir uns doch fragen, ob das nicht vielleicht an uns liegt, an unserem Innern und unserer Seele, die kein rechtes Verlangen trägt. Es kann oft ein Erlebnis, ja ein Wort unser Gemüt erwecken, daß wir Wunden s e h n , die uns verborgen w a r e n , und Kräfte spüren, von denen wir nichts ahnten. Man muß zuerst das geistige Auge an den großen Umrissen des Lebens üben, erst dann kann man die feineren Abschattungen des Einzelnen auffassen und würdigen. Nur wer die Tiefe der Leidenschaft, des Leides, des Glückes durchgekostet hat, kann die Keime von alledem in anderen erkennen und helfen. S o oft, in Augenblicken der Schwäche, wenn wir einmal den rechten Weg nicht finden können, glauben wir die Kraft unseres Geistes erstorben: wir vermeinen weder die
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum ~ —
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S c h ö n h e i t e m p f i n d e n , noch die W a h r h e i t f ü r d e r b e g r e i f e n zu k ö n n e n . Und d a n n tritt u n s plötzlich die S c h ö n h e i t in r ü h r e n d e r , einfacher Gestalt e n t g e g e n ; o d e r ein S t ü c k S e i n und Wahrheit, d a s a n d e r e n v e r b o r g e n blieb, erschließt sich u n s : und siehe, die F l a m m e d e r B e g e i s t e r u n g schlägt hell auf aus den Tiefen u n s e r e s G e m ü t e s , und d a s v e r l o r e n e S e l b s t v e r t r a u e n k e h r t zurück. W e r k a n n von sich s a g e n : mein S i n n ist o h n e K l e i n m u t ? W e r zu sich s p r e c h e n : ich g l a u b e allezeit an m e i n e Z u k u n f t ? W e n n a b e r die Z w e i f e l an dir selbst zu mächtig w e r d e n , s o sieh zu, o b du g r o ß e r G e f ü h l e fähig bist. G e f ü h l e sind d e r s u b j e k t i v e A u s d r u c k e i n e s objektiven S e i n s . Ist d e i n e S e e l e g r o ß g e n u g , G l ü c k und Leid recht i n n i g a u s z u k o s t e n , s o t a u g s t du noch f ü r die Welt. E i n s müssen w i r lernen, u n s nicht v o r u n s e r e n E r i n n e r u n g e n zu f ü r c h t e n . S i e stellen sich oft u n s e r e n Taten und u n s e r e m Willen e n t g e g e n w i e h o h l e , n i c h t s w ü r d i g e G e s p e n s t e r und r a u b e n u n s allen Mut und alle E n t s c h l u ß f ä h i g keit. A b e r w i r sollen sie verlachen und v e r j a g e n : einem t a p f e r e n Herzen k ö n n e n die G e s p e n s t e r nichts a n h a b e n . W e n n du nun deine Ideale a u s s p r e c h e n willst und d e i n e S e h n s u c h t v e r w i r k l i c h e n , dann k o m m t die Welt und verkleinert dir beide. A b e r sind sie d a r u m g e r i n g e r , weil sie nicht r e s t l o s in die Wirklichkeit a u f g e h e n ? D a s L e b e n übt z w a r eine unerbittliche Z e n s u r an u n s e r e n W e r k e n und W ü n s c h e n ; a b e r man kann nicht s a g e n , d a ß es just d a s B e s t e stehen läßt; w e n i g s t e n s nicht die G e g e n w a r t : die Zukunft ist g e r e c h t e r . Du mußt nicht e r s c h r e c k e n und kleinmütig w e r d e n , w e n n du viel B ö s e s und g r o ß e Schlechtigkeit in d e r Welt w a h r n i m m s t ; s o n d e r n du sollst es in s e i n e r Kläglichkeit Hohlheit und S c h w ä c h e e r k e n n e n lernen und d a n n mutig zuf a s s e n . E s zerfällt g a r leicht, w e n n ' s k r ä f t i g a n g e p a c k t
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Von Herzenskämpfen und vom stillen Heldentum
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wird. Wir sollten die A u f g a b e u n s e r e s L e b e n s lieber zu hoch als zu niedrig s u c h e n ; d e n n , w i e w i r beim Schießen auf w e i t e E n t f e r n u n g e n auch zu hoch zielen m ü s s e n , um richtig zu t r e f f e n , s o m ü s s e n w i r auch die K r ä f t e u n s e r e s D a s e i n s möglichst s t a r k a n s p a n n e n , um nur e i n i g e r m a ß e n u n s e r e L e b e n s b e s t i m m u n g zu erfüllen. Immer bleibt ein Abstand vom Ideal, den w i r e n t w e d e r mit S c h w e r m u t und Melancholie empfinden o d e r mit Zuversicht und t r o t z i g e r Entschlossenheit. G e g e n Irrtum und S ü n d e kann man aber in d o p p e l t e r Art a n k ä m p f e n : e n t w e d e r , indem man die F e h l e r , die in ihnen stecken, selbst a u f w e i s t und ihr Nichtsein den Blicken d e r S e e l e preisgibt; o d e r indem man d a s W a h r e und G u t e ungescheut d a n e b e n stellt und d e r Welt zum Vergleich anbietet. S o wird d a s V e r g ä n g l i c h e d u r c h s E w i g e gerichtet w e r d e n . Ein g r o ß e r Mann wird immer durch die E r k e n n t nis eines Irrtums g e s t ä r k t , denn e r e r k e n n t ihn durch die Wahrheit. W e n n w i r alle u n s e r e S e e l e n k r ä f t e im D i e n s t e i n e r guten S a c h e a n g e s t r e n g t , u n s e r g a n z e s W e s e n f ü r sie eingesetzt — und doch u n s e r Ziel nicht erreicht h a b e n ; d a n n k o m m t wohl eine Abgespanntheit, Niedergeschlagenheit und Verzagtheit über uns, die uns schier verzweifeln läßt. A b e r d e r G e d a n k e sollte uns trösten, d a ß keine edle A n s t r e n g u n g d e r Welt völlig verloren geht. Ist denn auch kein E r f o l g in d e r ä u ß e r e n Welt zu b e m e r k e n , s o sind doch w i r s e l b s t im Innern b e s s e r g e w o r d e n . D e n n d e r Dienst am Guten veredelt. Und w e n n w i r nun s o r e i n e r und tiefer z u r Wirklichkeit z u r ü c k k e h r e n , s o b e s s e r n w i r auch diese. Die S t ü r m e d e r S e e l e , die K ä m p f e d e s H e r z e n s sind m a n n i g f a l t ; dem T a p f e r e n gereicht alles zum S e g e n ! 3
•
66
•
Vom transzendentalen Scheine im Leben d e s Einzelnen und der Menschheit.
Z
wei Irrtümer v e r w i r r e n u n s e r L e b e n : wir scheiden d a s E n d l i c h e nicht vom U n e n d l i c h e n , o d e r w i r glauben das U n e n d l i c h e g r e i f e n zu k ö n n e n . D a s Sein ist unendlich, d i e j e w e i l i g e Wirklichkeit ist endlich; d a s S e i n ist ewig, d i e Wirklichkeit vergänglich. D a s Sein ist d a s Ziel u n s e r e r W a n d e r s c h a f t und die u n e n d l i c h e , nie r e s t l o s zu l ö s e n d e A u f g a b e u n s e r e s G e i s t e s ; die Wirklichkeit ist d a s S y s t e m und die Einheit u n s e r e s zeitlichen W i s s e n s . Das Sein ist Idee, die Wirklichkeit Begriff. U n s e r e S e h n s u c h t treibt u n s d e r Unendlichkeit d e s S e i n s e n t g e g e n und unser i n b r ü n s t i g e s V e r l a n g e n täuscht uns mit d e r Möglichkeit, e s zu besitzen. W i r setzen e n t w e d e r d a s Endliche, die Wirklichkeit absolut als o b sie das Sein w ä r e ; o d e r wir r e d e n vom U n e n d l i c h e n , als o b e s endlich w ä r e . Kant n a n n t e das den t r a n s z e n d e n t a l e n Schein. D a s tiefe Leid d e r Menschheit liegt in ihm; und die G e s c h i c h t e d e r Kultur entlarvt ihn mehr und mehr, s o d a ß an s e i n e Stelle die H o f f n u n g und die Zuversicht d e r Z u k u n f t tritt, d e r G l a u b e an den endlichen S i e g d e s G u t e n . D a s Sein liegt nicht j e n s e i t s der Vernunft, a b e r die Vernunft muß es erst g e b ä r e n und e r z e u g e n ; die Vernunft, d a s will s a g e n : die W i s s e n s c h a f t und Sittlichkeit d e r Menschheit. S o ist d a s Sein die Wahrheit und d a s Gute. Wir suchen e s ; es enthüllt sich immer mehr. A b e r k e i n e s M e n s c h e n F u ß wird
•
V o m transzendentalen
•
Scheine
das gelobte Land b e t r e t e n , k e i n e r wird die volle Sittlichkeit verwirklichen, die g a n z e Wahrheit erblicken. sind
nur das Ziel
unserer B e m ü h u n g e n ,
unserer Wanderschaft.
S i e sind
unser e w i g e s W e s e n .
der
zugleich
Beide
Endpunkt
unser
wahres,
S o ist der Fortschritt der Kultur
zugleich die E n t d e c k u n g und Entfaltung
der
Menschheit.
D a s ist der G l a u b e des Idealismus. Aber reden.
ich wollte von
den
Irrtümern
unseres
Lebens
D e r transzendentale S c h e i n , welcher das Endliche
mit dem Unendlichen
verwechselt,
beherrscht
die
Seele
des einzelnen, wie den G e i s t der V ö l k e r und schädigt die Entwicklung der Kultur. des
Individuums
W i r wollen ihn zuerst im Gemüt
aufsuchen.
W i r verwechseln
das
End-
liche mit dem Unendlichen, wenn wir dem Menschen einen fertigen, g e s c h l o s s e n e n ,
unveränderlichen
Charakter
legen in irgend einem P u n k t e s e i n e s L e b e n s . mit verschließen Selbst
und
wir
zerstören
uns
die Einsicht
den
Begriff
in
der
Denn
sein
beida-
sittliches
Freiheit:
dieser
Irrtum ist es, der uns veranlaßt, von guten und schlechten Menschen zu reden statt von guten und schlechten Handlungen.
D a s sittliche S e l b s t ist
Problem.*
im Individuum jederzeit
W i r sollten immer die Menschheit im Menschen
achten. J e d e r E i n z e l n e trägt das Ziel, die Idee der Menschheit
der
Selbst
in
Anlage nach in s i c h ; und
er
erbaut
durch die Handlung,
sein
sittliches
a b e r diese ist kein
fertiges Ding, und die künftige Handlung rettet dem S e l b s t , w a s die g e g e n w ä r t i g e
ihm
Menschen
seine S e e l e zur Substanz
dann
zum D i n g ,
müssen wir
ungerecht
raubte. gegen
Wenn ihn
dies Ding, diese S u b s t a n z müßte nach
wir nun
werden.
den
machen, Denn
unveränderlichen,
ewigen Naturgesetzen w i r k e n : e s g ä b e keinen Fortschritt, * V e r g l . die s c h ö n e n Ausführungen reinen Willens. S . 3 0 7 ff.
in H. C o h e n s Ethik
des
• =
=
Vom transzendentalen Scheine =
=
•
k e i n e E n t w i c k l u n g d e s sittlichen Selbst, keine B e s s e r u n g , k e i n e E r z i e h u n g . D a h e r macht uns dieser G l a u b e nicht n u r u n g e r e c h t , s o n d e r n auch g r a u s a m , u n b a r m h e r z i g und intolerant gegen unsere Mitmenschen. Die Idee d e r Menschheit ist u n e n d l i c h , und unendlich ist d a h e r auch d i e S e e l e d e s M e n s c h e n . D e n falschen Begriff d e r Uns t e r b l i c h k e i t , w e l c h e r aus d i e s e r V e r w e c h s l u n g des E n d lichen mit dem Unendlichen h e r v o r g e h t , hat Kant in dem Abschnitt d e r Kritik d e r reinen V e r n u n f t , d e r von den P a r a l o g i s m e n d e r reinen V e r n u n f t handelt, in s e i n e r Hohlheit enthüllt. D a s ist die V o r s t e l l u n g d e s Mythos, daß die S e e l e w i e ein S t ü c k Holz durch den O z e a n d e r Zeit schwimmt. D i e s S e e l e n d i n g , wie es sich dem sinnlichen A u g e in den s i c h t b a r e n Taten o f f e n b a r t , mit allen F e h l e r n und T u g e n d e n , mit allen F r e u d e n und Leiden soll durch d i e E w i g k e i t w a n d e r n . U n b a r m h e r z i g ist d i e s e r Glaube, e r schließt die E w i g k e i t d e r Höllenqualen in sich. E r macht d a s B ö s e zu e i n e r Realität und stellt s o dem lieben G o t t den Teufel zur Seite. W o r a u s besteht denn dies e w i g e S e e l e n - E t w a s ? Wie w e r d e t ihr e u r e r S e e l e g e w i ß ? S i n d nicht die S c h m e r z e n und S o r g e n , die flüchtigen Lüste und G e n ü s s e d e s D a s e i n s s e i n e O f f e n b a r u n g e n ? Was bleibt von dem S e e l e n d i n g , w e n n ihr d i e n e h m t ? Und d i e sollten e w i g sein und u n s t e r b l i c h ? F ü r w a h r , es ist b e g r e i f l i c h , d a ß d e r Mythos dem Himmel die Hölle g e g e n ü b e r s t e l l t : d a s ist die E w i g k e i t d e r Lust und d e r S c h m e r z e n ! W e n n ihr doch sehen wolltet, daß die S e e l e liegt in dem G u t e n und W a h r e n , w a s d e r Mensch erschafft und d e n k t ! D a s ist d a s E w i g e im Menschen. Ist denn d i e Fähigkeit zu leiden und zu g e n i e ß e n des A u f b e w a h r e n s d u r c h die Zeiten w e r t ? D e r Glückliche m a g so d e n k e n , d e r nie im Leben g e l i t t e n , d e r nie zu entsagen brauchte, d e r stets genießt und s c h w e l g t ; und doch auch e r nicht:
•
Vom transzendentalen Scheine
Q
denn endlich wird seine Begierde abgestumpft, er verschmachtet im Genuß nach Begierde. — Diese verhängnisvolle Verwechslung macht uns nicht nur unseren Mitmenschen fremd, sie kehrt sich in ihren verhängnisvollen Folgen auch gegen uns selbst. Sie steigert die Überhebung des Übermütigen, und sie nimmt dem Zaghaften völlig den Mut. Der selbstgewisse Mensch, wenn er nicht aus Beschränktheit stolz ist, verdankt sein Selbstvertrauen zumeist dem Glück und einem gütigen Geschick. Weil's ihm dort und dann so gut gelungen; weil er sich in der Gefahr einmal tapfer, in der Ausübung seiner Kunst oder Wissenschaft einmal brauchbar gezeigt hat, so zweifelt er nicht mehr an sich. Er kennt ja seine Kräfte, und diese sind unwandelbar. Er hält seine Seele für endlich und vertraut sich so lange — bis er einmal Schiffbruch leidet an der Flut und dem Sturm der Leidenschaft, die in ihm ruhten, oder am äußeren Geschick, das er nicht bezwingen kann. Wie viele glauben an ihre eigene Tugend, nur weil die Versuchung der Sünde nicht an sie herangetreten ist. Wer ewig in sicherer Hut ist, hat der Gefahr gut spotten. Man soll die Tugend nie, am wenigsten die eigene, absolut setzen; sie ist eine unendliche, stets erneute Aufgabe und muß immer wieder erkämpft und errungen sein. In Beer Hofmanns Drama: „Der Graf von Charolais" sagt der kupplerische Wirt von sich: W a s wiOt ihr, wie ich bin? Weiß ich's selber denn? Ich weiß nur, wie ich war! Herr, ich w a r gut! nicht stolz! Nicht eitel, H e r r ! und sah, wie unterm Mieder den Frau'n der Busen immer höher flog, als müßt' er meiner Stimme nach, die auf sich s c h w a n g und schwoll und stieg und hoch sich wiegte! Kein Lüstling, H e r r ! usw.
•
Vom transzendentalen Scheine
•
es blies ein Wind, ein Frühlingswind und nahm die Stimme mir — und mit ihr alles! Wie ihr, halt' ich auch Ekel vor Gemeinem — und alles zerblies ein Wind in nichts! Wie bin ich? wie seid ihr? Wißt ihr's? seid ihr so sicher, daß kein Wind euch Lügen straft? Ja, d a s ist e s : ein W i n d s t o ß k a n n d i e s t o l z e T u g e n d der Philister knicken.
Wer aber seine Seele so verend-
licht, a l l z u s e h r an s e i n e n e i g e n e n t u g e n d h a f t e n C h a r a k t e r g l a u b t , d e r w i r d ein P h i l i s t e r d e r T u g e n d .
Man soll
so
k e i n e n M o m e n t s e i n e s L e b e n s an sich s e l b e r g l a u b e n , s o n d e r n sich m i ß t r a u e n u n d k ä m p f e n . A b e r auch d e m S c h w a chen und Mutlosen wird diese Verendlichung des eigenen Ichs z u m H e m m s c h u h . und
auch wohl
leicht b e k o m m t andern.
der
E s ist ihm e i n m a l f e h l g e s c h l a g e n ;
zweite Versuch
er seine
ist m i ß g l ü c k t ;
viel-
Mattherzigkeit vorgehalten
von
S o m u ß w o h l s e i n C h a r a k t e r sein V e r d e r b e n s e i n !
Weiß er doch nicht, daß er diesen selbst erst schafft! — Und was bleibt doch dem Menschen heit auf d i e s e m S t a n d p u n k t ?
noch für eine Frei-
E s gibt keine a n d e r e mehr
a l s die, nicht g e f a n g e n zu s e i n u n d nicht g e f e s s e l t .
Denn
d i e F r e i h e i t w i r d j a s e l b s t zu e i n e r s i n n l i c h e n K r a f t , e i n e r Eigenschaft der Seelensubstanz.
Die rechte Freiheit ruht
a b e r in d e r E r z e u g u n g d e s sittlichen S e l b s t e s .
D a h e r ist
F r e i h e i t nicht Z ü g e l l o s i g k e i t , s o n d e r n U n t e r o r d n u n g u n t e r die
Idee
der
obengenannten
Menschheit. Drama)
D e r Graf von C h a r o l a i s
will
sich
selbst
dem
(im
Gefängnis
ü b e r a n t w o r t e n , d a m i t e r die L e i c h e s e i n e s V a t e r s a u s d e n H ä n d e n s e i n e r G l ä u b i g e r lösen kann.
E r will a l s o s c h e i n -
b a r s e i n e F r e i h e i t a u f g e b e n , a b e r n u r um s e i n e w a h r e F r e i heit zu g e w i n n e n .
S o l a n g e die L e i c h e s e i n e s V a t e r s un-
b e e r d i g t im S c h u l d t u r m
liegt,
ist e r nicht f r e i , d e n n d i e
unerfüllte Gewissenspflicht fesselt seine Seele.
•
•
Vom transzendentalen Scheine Bin ich frei? Glaubt ihr, ich wär's, ich könnt' e s sein, solange e r noch Die Mauern, die um ihn sind, sind um mich! Das
ist im t i e f s t e n
Gewissensschuld
S i n n e wahr.
mit s i c h
Wer
herumträgt,
?
eine
unerfüllte
dessen
Gedanken,
d e s s e n G e f ü h l e , d e s s e n W i l l e n ist g e f e s s e l t . — A u c h Leid
und L u s t
unsere S e e l e
unfrei
Verwechslung des Endlichen
machen,
wenn
d a s ist e i n e
mit d e m U n e n d l i c h e n .
Zwar
d i e E i n s i c h t b e f r e i t u n s nicht von d i e s e m t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n , auch d i e G r ö ß t e n f a l l e n Je
größer
Leid,
aber der Mensch
desto weniger
der
Lust
hat e i n e n s i t t l i c h e n K e r n , an, w o eine L ü c k e
ihm z u z e i t e n
ist,
desto
Untertan.
Denn
Aber
dem Leid
E s zeigt
ein W e g zum
Sein
Gefühl,
sub-
verfehlt
worden
jektive
E m p f i n d u n g d e s L e i d e s ist d a s E w i g e ; und e b e n
h i e r liegt d e r F e h l e r .
nicht d a s
Opfer.
das
einen Ewigkeitswert.
im D a s e i n i s t , w o
ist.
zum
m e h r ist e r
S e t z t nur e u r e G e f ü h l e a b s o l u t
die Zeit wird euch b e l e h r e n ! dessen B o t e n
—
W e r die e n d l i c h e n , w a n d e l -
b a r e n G e f ü h l e für d a s U n e n d l i c h e Ewige,
die
sie sind.
hält,
der verkennt
das
S o ist in d e r g l ü c k l i c h c n
L i e b e nicht d a s s u b j e k t i v e G e f ü h l d e r Lust, w e l c h e s d e r B e s i t z g e w ä h r t , in d e r u n g l ü c k l i c h e n L i e b e nicht d a s S c h m e r z gefühl, w e l c h e s d e m E n t s a g e n e n t s p r i n g t , d a s
Unendliche;
s o n d e r n die g e m e i n s a m e A r b e i t am E w i g e n , d a s sich V e r stehen
oder
nicht V e r s t e h e n ,
der einträchtige Dienst
der
Idee der Menschheit. D o c h die M e n s c h e n g l a u b e n s o oft d e r I d e e zu d i e n e n und d i e n e n nur i h r e r u n v o l l k o m m e n e n
Erscheinung
oder
d e m m a n g e l h a f t e n B i l d , d a s s i e sich von ihr g e m a c h t h a b e n . A b e r hier m ö c h t e
man
sagen:
du s o l l s t dir kein
m a c h e n n o c h i r g e n d ein G l e i c h n i s .
Denn der
Bildnis
Fanatismus
d e s E i n z e l n e n , die G l a u b e n s k r i e g e d e r V ö l k e r und die V e r f o l g u n g e n d e r K i r c h e n und R e l i g i o n e n , auch
die S t r e i t i g -
• keifen
der Nationen
ruhen
auf d i e s e r V e r d i n g l i c h u n g
nur
•
Vom transzendentalen S c h e i n e
die
Leiden
und d i e G e g e n s ä t z e des
der E i n z e l s e e l e ,
der Rassen
Unendlichen.
sondern
auch
beNicht
die
der
Menschheit stammen aus diesem Grundirrtum des menschlichen B e w u ß t s e i n s .
E s w ü r d e ein l e h r r e i c h e s B u c h , d a s d i e
Einwirkung des transzendentalen geschichte verfolgte:
in K u n s t und W i s s e n s c h a f t . nur v o m w e i t e n
Scheines
in R e l i g i o n ,
in d e r
Sittlichkeit
W i r dürfen
Kultur-
und
Politik,
dies Thema
hier
berühren.
Wie einer ist, so ist sein Gott, Darum ward Gott s o oft zum Spott, sagt G o e t h e .
E s ist d i e t i e f s t e E i n s i c h t d e s r e i f s t e n I d e a l i s -
mus, d a ß G o t t die V e r w i r k l i c h u n g d e r I d e e d e s G u t e n , d e r Harmonie
von
Aufgabe,
Idee,
und
Natur und S i t t l i c h k e i t Problem
ist. *
und z u g l e i c h
notwendigste Voraussetzung
So
ist
Gott
doch die sicherste
der
Kultur.
Die
Sehn-
sucht u n s e r e s H e r z e n s t r e i b t u n s zu i h m , u n s e r W i l l e s u c h t das Unendliche.
A b e r w i r m ö c h t e n e s g r e i f e n und f a s s e n ,
w i r s p r e c h e n von ihm, a l s o b e s ein e n d l i c h e s D i n g w ä r e ; uns täuscht der t r a n s z e n d e n t a l e S c h e i n .
D e r naive M e n s c h
g l a u b t n u r an d a s s i n n l i c h W a h r n e h m b a r e .
E r denkt sich
d a h e r G o t t nach M e n s c h e n a r t , e r s c h a f f t G o t t n a c h eigenen
Bilde.
Der Widerstreit
g i o n e n und K o n f e s s i o n e n
der
seinem
verschiedenen
Reli-
läßt s i c h v o n h i e r a u s v e r s t e h e n ,
w e n n man b e d e n k t , d a ß s i e a l l e n u r e n d l i c h e , r e l a t i v e V e r s u c h e s i n d , s i c h d e r I d e e zu n ä h e r n . schafft ist G o t t
ihren
Dogmatismus.
das sinnliche A g e n s ,
Dem
D e r M y t h o s in ihnen primitiven
W i r k s a m k e i t in allen V o r g ä n g e n
in N a t u r und
D i e s ist die S t u f e d e s D ä m o n e n g l a u b e n s . * * * Vergl. wiederum
H. C o h e n s
Bewußtsein
die verdinglichte Kraft
Ethik
und
Sittlichkeit.
Allmählich regt
d e s reinen Willens.
* * V e r g l . h i e r z u B d . 1 m e i n e r „ G e s c h . d. P h i l o s . , a l s E i n l e i t u n g in d a s S y s t e m
der Philosophie",
Gießen,
A. T ö p e l m a n n ,
1906.
• r z = z =
Vom transzendentalen Scheine =
=
@
sich d e r p e r s ö n l i c h e G o t t a u s d i e s e r A l l b e s e e l u n g d e r Natur h e r a u s , o d e r v i e l m e h r : d i e persönlichen G ö t t e r . D e n n die E i n h e i t G o t t e s setzt b e r e i t s e i n e viel h ö h e r e S t u f e sittlicher E n t w i c k l u n g v o r a u s . I m m e r a b e r , auf den v e r s c h i e d e n s t e n S t u f e n r e l i g i ö s e r B e g r i f f s b i l d u n g , f i n d e n wir j e n e V e r e n d lichung d e s Unendlichen w i e d e r , die G o t t zu e i n e r W a h r heit d e r Wirklichkeit macht und ihn s o in d i e g a n z e Zufälligkeit d e s Wirklichen herabzieht. E s verrät sich schon ein h o h e r G r a d p h i l o s o p h i s c h e r B e s i n n u n g , w e n n man G o t t d a s P r ä d i k a t d e r T r a n s z e n d e n z , d e r J e n s e i t i g k e i t und AuOerweltlichkeit zuschreibt. D e n n wirklich ist d a s Une n d l i c h e , die Idee d e r j e w e i l i g e n zufälligen Natur in gew i s s e m S i n n e t r a n s z e n d e n t , s o w i e die Z u k u n f t d e r G e g e n w a r t . E s ist nicht t r a n s z e n d e n t in dem S i n n e , daß e s ein D i n g o d e r eine P e r s o n a u ß e r h a l b d e r Weit w ä r e , s o n d e r n e s ist die Z u k u n f t und als s o l c h e s die Q u e l l e d e s Seiend e n . D e n n die Z u k u n f t ist die Q u e l l e und d e r U r s p r u n g d e r G e g e n w a r t : w a s g e g e n w ä r t i g ist, w a r z u e r s t zukünftig. I n d e m nun a b e r die v e r s c h i e d e n e n R e l i g i o n e n und Konf e s s i o n e n die Idee d e s Guten s u b s t a n t i a l i s i e r e n und vere n d l i c h e n , g e r a t e n sie n o t w e n d i g in G e g e n s a t z z u e i n a n d e r ; d e n n d a s G u t e k a n n n u r e i n e s sein. W e r a b e r d a s G u t e b e s i t z t , das an sich und a b s o l u t G u t e , hat d e r nicht d i e Pflicht, s e i n e Mitmenschen zu ihm — und sei e s selbst mit G e w a l t — zu b e k e h r e n ? A b e r d e r F e h l e r ist eben d e r t r a n s z e n d e n t a l e Schein, als o b d a s G u t e ein endliches W e s e n w ä r e , d a s man völlig und g a n z besitzen k ö n n t e zu j e d e r Zeit und an j e d e m O r t ; e s ist a b e r e i n e unendliche A u f g a b e f ü r den Willen und f ü r die E r k e n n t n i s . D e r s e l b e t r a n s z e n d e n t a l e S c h e i n macht die G e g e n s ä t z e d e r V ö l k e r und R a s s e n begreiflich. Man verlacht und vers p o t t e t die Ideen d e r Freiheit und Gleichheit, weil man nicht e r k e n n t , daß sie Ideen, d. h. A u f g a b e n sind, weil man
El
=
Vom transzendentalen Scheine
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sie wie e n d l i c h e D i n g e d e n k t und in d e r zufälligen G e g e n w a r t — natürlich vergeblich — sucht. Die Einheit d e r Menschheit gilt als ein leerer W a h n , weil sie noch nicht und zu k e i n e m Z e i t p u n k t völlig verwirklicht ist; man spricht w e g w e r f e n d von H u m a n i t ä t s d u s e l e i , weil man nicht sieht, daß Humanität die h o h e A u f g a b e und d a s Z i e l d e r m e n s c h lichen Kultur ist. W e n n die M e n s c h e n f r e u n d e a u f t r e t e n und s a g e n : dies o d e r j e n e s s o l l t e sein, dies o d e r j e n e s w o l l e n w i r e r s t r e b e n , s o a n t w o r t e t man i m m e r und i m m e r wied e r mit kindischem T r o t z : es i s t a b e r nicht s o , seht euch um in d e r W i r k l i c h k e i t . Man setzt eben die e n d l i c h e Wirklichkeit an Stelle d e s U n e n d l i c h e n , man setzt sie abs o l u t , u n v e r ä n d e r l i c h , als o b sie d a s S e i n an sich w ä r e . Freilich w i r d die Idee j e d e r z e i t einen K o m p r o m i ß mit d e r Wirklichkeit schließen m ü s s e n , in d e r sie sich doch auss p r e c h e n , in d e r sie doch s o weit als möglich z u r Ers c h e i n u n g k o m m e n soll; a b e r indem sie dies tut, v e r b e s s e r t sie die Wirklichkeit, j a erschafft sie völlig neu. Man verlangt z. B. gleiches W i s s e n und gleiche G e i s t e s b i l d u n g f ü r alle M e n s c h e n ; die A n t w o r t lautet: die V e r a n l a g u n g , die sozialen V e r h ä l t n i s s e d e r Menschen e r l a u b e n e s nicht. S o ä n d e r t sie. D a s kann man nicht mit einem S c h l a g e . W e r verlangt d a s ? E s ist j a die F o r d e r u n g nur ein Ziel- und R i c h t p u n k t f ü r die B e m ü h u n g e n d e r Kultur. Ü b e r d a s Mögliche h i n a u s ist k e i n e r fähig zu h a n d e l n ; a b e r : den lieb' ich, d e r U n m ö g l i c h e s verlangt. — Die F r i e d e n s f r e u n d e , w e l c h e der Ungeheuerlichkeit d e s Krieges, d e s m o d e r n e n M a s s e n m o r d e s z w i s c h e n den Menschen, e n t g e g e n a r b e i t e n , w e r d e n verlacht. S e h t ihr nicht, daß die g a n z e Natur sich b e f e i n d e t ? W o sind die Tiere, die einträchtig miteinander l e b e n ? W o die M e n s c h e n , die durch ihre physische O r g a n i s a t i o n dem Tierreich a n g e h ö r e n ? S o weist man auf die b e s t e h e n d e , u n v o l l k o m m e n e Wirklichkeit gleichwie auf e t w a s Abso-
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Vom transzendentalen Scheine
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l u t e s , E w i g e s hin und d e g r a d i e r t den M e n s c h e n w i e d e r zum T i e r e . D i e Idee d e s e w i g e n F r i e d e n s ist e b e n — e i n e Idee. W e r a b e r nicht an d i e I d e e g l a u b t , d e r w i r d freilich e w i g in d e r Endlichkeit s e i n e r Zeit b e f a n g e n b l e i b e n . D e r R a s s e n - und N a t i o n a l i t ä t e n h a ß ist n u r e i n e F o l g e d e s t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n e s . D e r p h y s i o l o g i s c h e , empir i s c h e M e n s c h in s e i n e r sinnlichen G e g e b e n h e i t bildet d i e G r u n d l a g e d e r R a s s e n e i n h e i t ; und w e n n man auch nicht v e r k e n n e n k a n n , d a ß die Nation e i n e E i n h e i t h ö h e r e r , ideeller Art ist g e g e n ü b e r d e r R a s s e , s o k o m m t sie zu i h r e r ethischen G e s t a l t u n g doch e r s t im S t a a t . D e r S t a a t a b e r ist d e r freilich i m m e r u n v o l l k o m m e n e V e r s u c h d e r Realis i e r u n g d e r Idee d e r M e n s c h h e i t . E r bleibt somit s e l b s t i m m e r A u f g a b e , Idee, d e n n e r s t r e b t e i n e m unendlich f e r n e n Ziel zu. Ü b e r den e m p i r i s c h e n B e s o n d e r h e i t e n d e r R a s s e und d e s V o l k e s steht die E i n h e i t d e r Allheit d e r M e n s c h h e i t . D i e R a s s e n f a n a t i k e r a b e r und die V e r t r e t e r des Nationalit ä t e n h a s s e s b e g e h e n w i e d e r u m den F e h l e r , d a s E n d l i c h e f ü r d a s U n e n d l i c h e , die v e r g ä n g l i c h e Wirklichkeit f ü r d a s S e i n d e r Idee zu halten. S i e n e h m e n d i e R a s s e als e t w a s Absolutes. S i e v e r g e s s e n , d a ß die Sittlichkeit e n t w e d e r ein l e e r e r W a h n o d e r ein allgemein m e n s c h l i c h e s P r o b l e m ist. Im Kampf d e r R a s s e n und V ö l k e r w i e d e r h o l e n sich hier die F e h l e r , w e l c h e die V e r d i n g l i c h u n g und V e r e n d lichung d e s S e e l e n b e g r i f f e s im V e r k e h r d e r Individuen z u r F o l g e hat; sie w i e d e r h o l e n sich auch im Leben d e r Nation und d e s S t a a t e s selbst, w e n n d i e s e E i n h e i t e n in i h r e r empirischen Zufälligkeit a b s o l u t g e n o m m e n w e r d e n . D e r R a s s e n f a n a t i k e r setzt g e w i s s e zufällige, e m p i r i s c h e M e r k m a l e dem B e g r i f f e d e r M e n s c h h e i t gleich. E i n e v e r g ä n g l i c h e E r s c h e i n u n g , ein b l o ß e s Abbild d e s U r b i l d e s d e r Idee, gibt e r f ü r die Idee s e l b s t aus. Z u m e i s t sind h i e r f ü r auch dieselben Urs a c h e n m a ß g e b e n d , w i e f ü r die V e r d i n g l i c h u n g d e s S e e l e n -
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Vom transzendentalen Scheine
begriffes.
W i r sind im V e r k e h r von Mensch zu Mensch
häufig einfach durch des L e b e n s Notdurft g e z w u n g e n , unserem Mitmenschen einen bestimmten C h a r a k t e r zu vindizieren und in u n s e r e B e r e c h n u n g e n einzustellen.
Tun w i r
dies hypothetisch und unter vollem B e w u ß t s e i n d e s Mangelhaften, Unzureichenden u n s e r e s V e r f a h r e n s , s o begehen wir kein Unrecht; zumal wenn w i r den M e n s c h e n nicht ethisch einfach als b ö s e verurteilen.
S o muß auch der P o l i t i k e r
mit den empirischen G e g e b e n h e i t e n des V o l k e s gleichsam als mit einem festen C h a r a k t e r rechnen.
A b e r er hyposta-
siert diesen und verfällt dem transzendentalen
Schein.
D e r S t a a t ist das sittliche S e l b s t des V o l k e s und der Nation.
E r unterliegt daher auch denselben Gefahren w i e
das sittliche S e l b s t des Individuums.
D e r zufällige S t a a t
wird mit dem unendlichen v e r w e c h s e l t .
Hegel hat diese
V e r w e c h s l u n g geradezu zum P r i n z i p e r h o b e n .
D e r Teil-
nahme der Allgemeinheit am S t a a t setzt sich der transzendentale S c h e i n entgegen. tums, welcher e r k l ä r t : am offensichtlichsten.
D e r Absolutismus
des
König-
l'etat c'est moi, begeht den F e h l e r D a s endliche empirische Individuum
setzt sich an S t e l l e der Idee! A b e r auch die einseitige Intercssenherrschaft der K l a s s e n und S t ä n d e ist nur eine F o l g e des transzendentalen S c h e i n s .
Überhaupt wird die histo-
rische B e t r a c h t u n g s w e i s e der D i n g e durch ihn getrübt, und zwar im S i n n e Hegels, der das Wirkliche dem Vernünftigen gleichsetzt.
„ E s erben sich G e s e t z und R e c h t e w i e
eine
e w ' g e Krankheit f o r t " ! — W i e das persönliche, vergängliche Glück und Leid von uns im S e e l e n b e g r i f f hypostasiert wird, so hypostasieren die S t ä n d e und K l a s s e n
das Wohl
und
W e h e einer empirischen S o n d e r h e i t , als ob in ihr die Idee der Menschheit gleichsam eingefangen wäre. B e i diesen Andeutungen über d i e B e d e u t u n g d e s t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n e s im politischen Leben müssen wir e s hier genügen
lassen.
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Vom transzendentalen Scheine
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W i r sind alle G l ü c k s s u c h e r , und es bedarf vieler Entt ä u s c h u n g e n und E n t s a g u n g e n , bis w i r lernen, d a s G l ü c k nicht m e h r in u n s e r e m eigenen kleinen Ich, s o n d e r n im sittlichen S e l b s t , d. h. in d e r Allheit d e r Menschheit zu suchen. D e r F o r t s c h r i t t d e r Kultur ist d i e E r z i e h u n g d e r Individuen und d e r V ö l k e r zu d i e s e r S e l b s t e r k e n n t n i s . Wir müssen alle e r k e n n e n , daQ man die Lust d e s A u g e n b l i c k s verachten m u ß und in d e r Z u k u n f t leben soll. Die G e g e n w a r t ist die verwirklichte Z u k u n f t , und w i e w i r die Z u k u n f t g e s t a l t e n , s o wird die G e g e n w a r t einst sein. A b e r d e r t r a n s z e n d e n t a l e Schein spiegelt sich oft selbst in den beh e r r s c h e n d e n Ideen d e r vergänglichen K u l t u r e p o c h e n w i e d e r . S o z. B. ist d e r P e s s i m i s m u s , w e l c h e r sich oft g a n z e r Völk e r und Zeitalter bemächtigt — man d e n k e z. B. an die Zeit d e s n i e d e r g e h e n d e n G r i e c h e n t u m s und d e s Urchristent u m s — , n u r eine F o l g e d e s t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n e s . Man w u ß t e nichts m e h r von d e r Idee und dem Unendlichen, d i e b e s t e h e n d e , m a n g e l h a f t e Wirklichkeit w u r d e f ü r d a s Sein gehalten, und d i e s e w a r d a n n freilich unvollkommen und t r a u r i g g e n u g . Alle d o g m a t i s c h e n P h i l o s o p h e n , welche einen e i n z i g e n , endlichen Begriff zum A u s d r u c k d e s Unendlichen m a c h e n , wie z. B. S c h o p e n h a u e r den Willen, Hartmann d a s U n b e w u ß t e usw., sind O p f e r d e s transzendentalen S c h e i n e s . S e l b s t Hegel ist ihm nicht g a n z entg a n g e n , indem er die V e r n u n f t selbst verdinglichte. Übrig e n s ist auch H e g e l s P h i l o s o p h i e nicht g a n z frei von P e s s i m i s m u s ; und auch d e r beruht natürlich auf einer Hyp o s t a s i e r u n g d e s Endlichen zum Unendlichen. Dieser Teilschlüssel zu s e i n e m S y s t e m liegt in s e i n e m Begriff des „Anderssein". Man k a n n fast s a g e n , d a ß dieser Begriff d e r t r e i b e n d e F a k t o r in H e g e l s G e i s t ist: Die V e r s c h i e d e n h e i t ist d a s A n d e r s s e i n . D e r S c h m e r z und der Ernst d e s L e b e n s liegt f ü r ihn im „ A n d e r s s e i n " . Zwei Dinge
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Vom transzendentalen Scheine
E
sind v e r s c h i e d e n , d . h . sie w i d e r s t r e i t e n sich; d e r s e l b e B e griff, d a s s e l b e D i n g (so glaubt Hegel) ist a n d e r s zu v e r s c h i e d e n e n Zeiten und widerspricht sich selbst. Z w e i M e n schen sind v e r s c h i e d e n , sie sind a n d e r s , und dies A n d e r s s e i n ist mit ihrer Endlichkeit und Individualität unmittelbar g e g e b e n : d a r a u s resultiert a b e r , d a ß sie a n d e r e s s u c h e n , w ü n s c h e n , hoffen, lieben, h a s s e n . Nun ist d e r Begriff d e s A n d e r s s e i n s o g a r mit dem Begriffe d e r V e r n u n f t u n v e r meidlich v e r b u n d e n : schon d e r b l o ß e G e d a n k e d e s E i n e n , mit sich Identischen führt die V e r s c h i e d e n h e i t , d a s U n t e r scheiden mit sich, also das A n d e r s s e i n d e s Einen zum A n d e r e n . S o scheint d e r G e g e n s a t z , scheint d e r U r s p r u n g alles L e i d e s und aller D i s h a r m o n i e d e r Welt in d e r Vernunft selbst zu liegen. Man lese den f o l g e n d e n S a t z a u s der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Leben G o t t e s und d a s göttliche E r k e n n e n m a g also wohl a l s ein Spielen mit sich selbst a u s g e s p r o c h e n w e r d e n ; d i e s e Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur F a d h e i t herab, w e n n d e r E r n s t , d e r S c h m e r z , die G e d u l d und Arbeit d e s N e g a t i v e n darin fehlt. A n s i c h ist j e n e s Leben w o h l d i e u n g e t r ü b t e Gleichheit und Einheit mit sich s e l b s t , d e r es kein Ernst mit dem A n d e r s s e i n und d e r E n t f r e m d u n g , s o w i e mit dem Ü b e r w i n d e n dieser E n t f r e m d u n g ist . . ." (S. 15 d. G . W . Bd. 2). D e r Begriff ist auch f ü r H e g e l d e r Quell d e r Realität, und mit ihm ist d a s A n d e r s s e i n , a l s o auch die Verschiedenheit und d e r S c h m e r z d e s L e b e n s gesetzt. Aber die tiefere Identität, welche d a s A n d e r e mit dem Einen verbindet und welche das eigentliche C h a r a k teristikum d e s Begriffes ist, liegt auch in der V e r n u n f t . V e r n ü n f t i g sein heißt d a h e r auch: die Zwiespältigkeit und Z e r r i s s e n h e i t des D a s e i n s durch die Innerlichkeit d e r identischen Wahrheit zu ü b e r w i n d e n . G a n z a b g e s e h e n d a v o n , d a ß die Verschiedenheit noch nicht den G e g e n s a t z und
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Vom transzendentalen Scheine
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e r s t recht nicht den W i d e r s p r u c h b e d e u t e t , s o s i e h t man leicht, w i e d e r pessimistische Z u g dieser g a n z e n B e t r a c h t u n g s w e i s e d a h e r k o m m t , daß die endliche Wirklichkeit, d e r relative B e g r i f f , d e r unendlichen Idee g l e i c h g e s e t z t w i r d . Und w e n n die empirischen Menschen, die Individuen wirklich verschieden und selbst e n t g e g e n g e s e t z t s i n d , s o ist doch die Idee d e r Menschheit nur E i n e , und an ihr h a b e n alle teil. S i e lieben und h a s s e n , sie s u c h e n und v e r a b s c h e u e n im G r u n d e doch alle ein und d a s s e l b e : ihre S e h n s u c h t g e h t zum O u t e n , sie fliehen vor d e m B ö s e n , C h a o t i s c h e n . Und d e r S c h m e r z und d a s Weh d e r Wirklichkeit hat keinen B e s t a n d in d e r Idee und in d e r Z u k u n f t ; sie g e h ö r t dem Willen und d e r V e r n u n f t . Nichts liegt uns dabei f e r n e r , als d a s V o r h a n d e n s e i n und d a s D a s e i n d e s Leides und d e r S c h m e r z e n in d e r Wirklichkeit zu leugnen. S i e sind da, aber a l s t r e i b e n d e F a k t o r e n , die Idee zu suchen, zu lieben, zu v e r w i r k l i c h e n . Z u m E w i g e n , zum Unendlichen sollen w i r u n s e r e n Blick i m m e r e r h e b e n . A b e r freilich w o h l : w e r ist s o heilig, d a ß e r nicht g e g e n dies G e b o t zuzeiten verstieße, d a ß ihn d e r t r a n s z e n d e n t a l e Schein nicht ä f f t e ? W e r wird nicht zuweilen von d e r Endlichkeit ü b e r w ä l t i g t und an d e r G e g e n wart sozusagen erstickt? „Ein w e n i g Glück macht uns b e s s e r , a b e r immer nur Unglück macht uns zu W ö l f e n " , sagt S t r i n d b e r g in seinem „ T o t e n t a n z " . A b e r das ist nicht w a h r . D a s Leid, das Unglück kann w o h l auch den g r o ß e n Mann für Augenblicke ü b e r m a n n e n , es kann ihn selbst zu schlechten H a n d l u n g e n v e r f ü h r e n — a b e r völlig schlecht machen kann e s ihn nicht; er müßte j a a u f h ö r e n , Mensch zu sein. D e r Wille ist f r e i ; und auch d e r S c h w ä c h s t e k a n n sich immer w i e d e r a u s d e r Endlichkeit befreien und ins Reich des E w i g e n flüchten. Wohl uns, w e n n wir u n s e r e S e e l e offenhalten f ü r die S c h a u e r d e r Unendlichkeit und
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Vom transzendentalen Scheine
die Stimmen der E w i g k e i t !
Laßt uns einander helfen, den
W e g zur Idee zu suchen, laßt uns aufhören, uns zu befeinden, um v e r g ä n g l i c h e r B e s o n d e r h e i t willen.
Nicht der Zu-
fall der G e b u r t , nicht die Angehörigkeit zu e i n e r R a s s e , Nation o d e r K o n f e s s i o n uns ertöten.
soll die Idee der Menschheit
in
Laßt uns immer den Menschen im Menschen
lieben! W e r die G e f a h r e n
des transzendentalen
Scheines
er-
kannt hat; w e r g e s e h e n hat, wie wir auf Schritt und Tritt dem Irrtum ausgesetzt sind, der uns das Endliche mit dem Unendlichen
verwechseln
läßt, wird
V e r k e h r mit den Menschen.
BS
81
Nachsicht
üben
im
Über Sünde, Liebe und Leid.
S
ünde und Leid, L a s t e r und K u m m e r b e w i r k e n oft im menschlichen Antlitz ganz verwandte Z ü g e und einen
merkwürdig ähnlichen Ausdruck.
Nicht als ob j e d e s leid-
volle Antlitz auch an die S ü n d e g e m a h n t e : wohl a b e r kann man sagen, daß ein menschliches G e s i c h t , s o l a n g e e s überhaupt noch Spuren der Humanität aufweist, wenn die S ü n d e und das L a s t e r ihre Spuren darin abgedrückt haben, i m m e r auch den Stempel des Leides trägt. greifen?
W i e ist das zu be-
D e r Grund hierfür liegt nicht nur darin, daß der
Lasterhafte
unter seinem
Laster
leidet
und
der
Sünder
unter der S ü n d e ; sondern wirklich haben S ü n d e , und Leid etwas G e m e i n s a m e s .
Laster
Alle bedeuten einen Mangel
in der Wirklichkeit und Existenz d e s Individuums.
Aber
das Leid ist sich dieses Mangels bewußt, L a s t e r und S ü n d e nicht.
Die
letzteren
beiden sehen
vielmehr den
Mangel
als etwas Positives, als eine Art e c h t e r Realität an.
Die
S ü n d e ist der einmalige, das Laster der dauernde Versuch, ein Nichtsein zum S e i n zu proklamieren, eine Lücke in der Wirklichkeit als Wahrheit zu bestätigen. w e i t e r e r Unterschied
zwischen
E s ist noch ein
dem Leid
einerseits
der Sünde und dem L a s t e r andererseits vorhanden.
und Das
Leid e m p f i n d e t zumeist einen M a n g e l , der in der Natur des
allgemein
menschlichen
Problems
liegt
und der j e -
weiligen Kulturwirklichkeit gleichsam notwendig anhaftet; das Laster g e b i e r t einen Mangel, w o das P r o b l e m nicht
El
Über Sünde, Liebe und Leid
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m e h r zu sein b r a u c h t e . D a s Leid, d a s rechte, tiefe S e e l e n leid (nicht d e r e g o i s t i s c h e S c h m e r z , d e r immer auf e i n e m Irrtum beruht) ist d a h e r im tiefsten G r u n d e e m i n e n t sittlich: e s ist d a s G e f ü h l d e s Nichtseinsollenden, w e l c h e s m e n s c h liche K r a f t heute noch nicht zu b e w ä l t i g e n v e r m a g . G r o ß e Leiden k ö n n e n datier auch W e g w e i s e r d e r Z u k u n f t w e r d e n . D a s L a s t e r und die S ü n d e a b e r , als ein V e r s u c h , d e m Nichtsein Existenz zu v e r l e i h e n , rufen ihren B r u d e r , d a s Leid, herbei, und sind s o indirekt eine R e c h t f e r t i g u n g d e s Gottmenschen. E s gibt L e u t e , w e l c h e mit ihrem L e i d e k o k e t t i e r e n ; sie h a b e n einen spezifischen G e s i c h t s a u s d r u c k , d e r d e m L a s t e r h a f t e n einen g r o ß e n Schritt n ä h e r s t e h t a l s gewöhnlich. G r u n d : sie setzen auch einen M a n g e l a l s positiv, den Mangel, d e r dem Leid entspricht. E s ist auch w i r k l i c h lasterhaft, mit dem L e i d e zu k o k e t t i e r e n , weil damit d e r e i g e n e n sittlichen P e r s ö n l i c h k e i t ein S c h a d e n g e schieht: d a s S t r e b e n ü b e r den Mangel an Wirklichkeit hina u s , w e l c h e s d e m r e i n e n Leide immer i n n e w o h n t , g e h t hier w i e d e r v e r l o r e n , und die Nichtexistenz w i r d , w i e b e i m L a s t e r , als W a h r h e i t a n e r k a n n t . — W e n n nun s o Leid und S ü n d e d e s Nichtseins K i n d e r sind, d e r Mensch a b e r a u ß e r d e n positiven G e w a l t e n s e i n e r S e e l e immer auch Leid und S ü n d e in sich birgt, s o erklärt sich von hier a u s d a s G e fühl d e s P r o b l e m a t i s c h e n , U n s i c h e r e n , T r a u m h a f t e n , d a s den M e n s c h e n zuzeiten b e h e r r s c h t ( d a s Leben ein T r a u m ) . W e n n nämlich die S ü n d e o d e r d a s Leid zu s t a r k w e r d e n , w i r d gleichsam die i n n e r e seelische Existenz d e s Individ u u m s e r s c h ü t t e r t ; d a s Nichtsein scheint d a s Sein zu vers c h l i n g e n , und die Wirklichkeit verblaßt zu einer P h a n t a s m a g o r i c . D a s s e l b e kann a b e r auch aus e n t g e g e n g e s e t z t e m G r u n d e eintreten, w e n n die Liebe des Menschen H e r z regiert. D e n n die Liebe ist gleichsam d e r Affekt, durch den d a s Individuum eine h ö h e r e F o r m d e r Existenz e r g r e i f t ,
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Über Sünde, Liebe und Leid
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die noch nicht Wirklichkeit geworden ist.
J e s t ä r k e r da-
her ihre Macht in der S e e l e ist, desto g e r i n g e r die Geltung der zufälligen Wirklichkeit.
In der Liebe verstärken sich
die Existenzen der,Individuen
wechselseitig.
Denn
was
der eine dem andern in der L i e b e wirklich geben k a n n : das B e r e i c h e r n d e
und E r h ö h e n d e
der L i e b e
liegt darin,
daß die höhere Wirklichkeit, das Individuum der unbehinderten, freilich nie völlig erreichten Zukunft, welches in j e d e m Menschen schlummert, vom Liebenden end,
vorahnend,
wird;
indem
nach
diesem
a b e r auch
hilfreich
vorausschau-
erkannt und erfaßt
nun der L i e b e n d e den geliebten überwirklichen
Menschen
Gefühle behandelt und
ein-
schätzt, e r w e c k t er in j e n e m die Einsicht und das B e g r e i f e n s e i n e s Zukunfts-Selbst.
D a s mag wohl auch der Grund
des großen Leides einer unglücklichen Liebe sein, daß die Idee des Liebenden sich nicht erfüllt, weil der nicht darauf hinhört und sie nicht begreift.
Geliebte
D e r wahrhaft,
a b e r unglücklich L i e b e n d e kann daher nie Zorn oder Haß g e g e n den unempfindlichen Geliebten empfinden, weil er j a g a r nicht den zufällig wirklichen Menschen ihn
daher auch nicht kränken kann.
liebt, der
W o h e r dann
die Verwandtschaft von Liebe und H a ß !
aber
D e r Haß kann
nur entstehen, w o die L i e b e nicht nur unglücklich, sondern ein
offenbar g e w o r d e n e r
Irrtum
war.
Aber
zu
diesem
Irrtum bekehrt sich das Herz schwer, daher der Haß gern und leicht wieder in vermeintliche Liebe umschlägt. Methodik
der glücklichen
L i e b e besteht,
wenn
man
Die so
sagen darf, darin, daß neue Kategorien des S e i n s ersonnen werden, die freilich zuerst nur gefühlsmäßig ergriffen werden, mit deren Hilfe der L i e b e n d e aus dem Geliebten einen ganz neuen Menschen macht, obgleich er doch nur das, was im Geliebten noch lückenhaft und problematisch war, aus diesem selbst zu ergänzen sucht.
Auch der Lie-
•
Über Sünde, Liebe und Leid
•
b e n d e g e w i n n t , i n d e m e r sich dem G e l i e b t e n h i n g i b t : d i e A u f o p f e r u n g d e r L i e b e ist ein Sich-selbst-finden. Denn w i e d e r L i e b e n d e den G e l i e b t e n e r h ö h t , s o strebt e r ihm auch nach. E s gibt k e i n e tiefere S c h a m , als die S c h a m v o r dem G e l i e b t e n . W o r i n beruht d e n n die G e m e i n s c h a f t d e r L i e b e n d e n (die allein den d a u e r n d e n W u r z e l b o d e n d e r T r e u e a b g e b e n k a n n ) als in d e r Identität d e s sittlichen L e b e n s z i e l e s ? D a s g e h e i m e , u n m i t t e l b a r e Verstehen, d a s E r r a t e n d e r G e f ü h l e , G e d a n k e n und j e d e s W u n s c h e s ents p r i n g t z w i s c h e n L i e b e n d e n a u s d e r G e w i ß h e i t , d a ß die Realität d e s e i g e n e n sittlichen S e l b s t e s sich mit d e r d e s G e l i e b t e n deckt. D i e G e m e i n s c h a f t d e r reinsten L i e b e ist i m m e r d e r U r s p r u n g e i n e r neuen sittlichen W i r k l i c h k e i t ; d a r u m ist auch k e i n e S ü n d e g r ö ß e r als die g e g e n d i e L i e b e ; d e n n sie z e r s t ö r t nicht n u r ein W i r k l i c h e s und setzt an d e s s e n Stelle ein Nichtsein, s o n d e r n sie z e r s t ö r t eine Z u k u n f t s - W i r k l i c h k e i t . E s ist d a h e r auch nichts unsittlicher, als die T r e u e da e r z w i n g e n zu w o l l e n , w o die L i e b e g e f l o h e n ist. D e r E g o i s m u s ist immer d e r Irrtum d e r S u b s t a n t i a l i s i e r u n g und V e r d i n g l i c h u n g d e s eigenen Ich, w o b e i d a n n d e r n o t w e n d i g e B e z i e h u n g s p u n k t d e s sittlichen S e l b s t , d e r A n d e r e , a u s w e l c h e m d a s S e l b s t g e b o r e n wird, n e g i e r t w e r d e n soll. D e r s o g e n a n n t e E g o i s m u s d e r L i e b e (der a b e r kein B e s t a n d t e i l r e i n e r L i e b e ist) besteht d a h e r d a r i n , d a ß d a s Z u k u n f t s - S e l b s t d e s G e l i e b t e n n u r als Mittel, nicht als S e l b s t z w e c k a n e r k a n n t wird, weil die Identität d e s sittlichen S e l b s t e s f ü r L i e b e n d e n und G e l i e b t e n hier fehlt. S ü n d e , Leid und Liebe sind die w a h r e n E r z i e h e r d e r Menschheit. S ü n d e und Leid g e m a h n e n an d a s P r o b l e m a t i s c h e und M a n g e l h a f t e j e d e r Wirklichkeit und verhind e r n die E r s t a r r u n g d e s Ich. D e r M e n s c h , d e r nie die S c h a u e r d e r S ü n d e g e k o s t e t hat — es gibt a b e r k e i n e n solchen — w ü r d e h a r t h e r z i g o d e r ein Heiliger w e r d e n .
B
Über Sünde, Liebe und Leid
El
Wenn alles verstehen alles verzeihen heißt, so ist der Schlüssel zu diesem Verständnis die Sünde. Daß der Mensch nicht in der Sünde stecken bleibt, dafür sorgt die Liebe. Sie zeigt über der mangelhaften, problematischen Wirklichkeit dem Gefühl das Sein der Idee und der Zukunft. Leid und Liebe suchen sich, wie die Dichter sagen, von alter Zeit an. Und dennoch ist auch das ein köstliches Gut: an der Liebe zu leiden; denn hier wird das Leid selbst positiv schaffend, weil die Liebe die Ergänzung gibt.
(25)
86
C3SESC3S) B 0 B S
{ m
Lebensführung und Charakter.
E
s gibt k e i n e n a n g e b o r e n e n und u n z e r s t ö r b a r e n C h a r a k ter. S c h o p e n h a u e r hat uns z w a r d a s G e g e n t e i l lehren w o l l e n . S e i n e M e i n u n g , daß d e r C h a r a k t e r durch eine intelligible Tat u n v e r r ü c k b a r und f ü r alle Zeiten bestimmt sei, ist a b e r n u r e i n e j e n e r menschenfeindlichen K o n s e q u e n z e n s e i n e r antirationalistischen Lehre. V e r d a n k t doch d e r Int e l l e k t , die V e r n u n f t , das höchste Gut und die eigentliche W e s e n h e i t d e r M e n s c h h e i t , bei ihm s o z u s a g e n einem blind e n U n g e f ä h r , e i n e m Zufall die E x i s t e n z ; d e r u n v e r n ü n f t i g e Wille erschafft sie in s e i n e m dunklen D r a n g e . D i e s e r Wille w i r d sich freilich nicht belehren und erziehen lassen, dem die V e r n u n f t g l e i c h s a m n u r eine Akzidenz ist. Die Erz i e h u n g ist j a bei ihm nur ein Modeln am Ä u ß e r n . — D e r Idealismus d e r W i s s e n s c h a f t ist zugleich R a t i o n a l i s m u s . Die W a h r h e i t ist d a s S e i n . Und es gibt kein Sein, d a s j e n s e i t s d e r V e r n u n f t läge. A b e r d a s Sein, d a s a b s o l u t e Sein, ist Ziel und A u f g a b e d e r menschlichen V e r n u n f t ; w i r suchen es. U n s e r W i s s e n und Wollen ist immer relativ, obgleich auf d a s A b s o l u t e g e r i c h t e t . D a h e r kann es auch keinen C h a r a k t e r , d e r u n v e r ä n d e r l i c h w ä r e , g e b e n . D e r C h a r a k t e r ist vielmehr die E r s c h e i n u n g s w e i s e d e r Idee, d e r sittlichen Idee, im einzelnen, im Individuum. Die Idee erscheint a b e r nie und n i r g e n d s r e s t l o s ; j e d e s menschliche Leben ist in seinen H a n d l u n g e n n u r ein u n v o l l k o m m e n e r und m a n g e l h a f t e r Versuch, die Idee d e s G u t e n zur E r s c h e i n u n g zu b r i n g e n . Um den C h a r a k t e r e i n e s M e n s c h e n restlos zu e r k e n n e n , müßten
•
87
•
El
Lebensführung und Charakter
B
wir daher sein g a n z e s Leben überschauen können, in allen Handlungen und Vorsätzen. Der Charakter ist für den lebenden Menschen die A u f g a b e seines Daseins. Die sittliche Idee, das ist die Idee der Einheit der Menschheit. Ihre b e s o n d e r e Erscheinungsweise im Individuum ist sein Charakter. S o sieht man, wie freilich eine Erziehung als C h a r a k t e r b i l d u n g möglich ist. Nicht so, daß der Mensch seinen Charakter gleichsam von außen eingesetzt bekommen könnte. J e d e Erziehung ist nur die Erweckung zur Selbsttätigkeit des Willens und der Vernunft. Alles Lehren ist ein Appell an die Spontaneität des Bewußtseins des Lernenden, alle Willensbildung ein Aufruf zur Charakterbildung. Aber diese Bildung geschieht von innen aus, von der Seele des zu Bildenden selbst. Indessen wir wollen hier nicht von der bewußten und planmäßigen Erziehung durch Schule und Elternhaus reden, sondern von der Lebensführung des Individuums. Denn diese ist auch eine Erziehung. Das Leben und die Gesellschaft erziehen uns, rufen uns zur Charakterbildung auf. Wenn wir die Schule und das Elternhaus verlassen, dann erst pflegen diese neuen Lehrmeister recht eigentlich in ihre Funktion zu treten. Gefühle und Leidenschaften stürmen auf uns ein, Triebe und Empfindungen, die unser Denken und unsern Willen vor stets neue P r o b l e m e stellen. Und kein Mensch entwächst der Schule des Lebens bis zu seinem Tode; keiner ist j e fertig. Der Charakter des Einzelnen bestimmt sich nun danach, wie klar e r die Idee erkennt und wie nahe er ihr zu kommen vermag. Wenn aber in der Jugend Eltern und Lehrer unser Wollen und Denken auf die rechten Pfade lenken, die zur Idee hinführen, so müssen wir später im Leben unsere Wege selber suchen. Das ist freilich zum großen Teil immer unsere eigene Schuld. Denn so arm ist keines Menschen Herz, daß es nicht Freundschaft und Liebe
•
•
Lebensführung und Charakter
fände.
W e r freilich in beiden nur ein Mittel sieht, sich das
Leben a n g e n e h m e r zu gestalten, der w e i ß nicht, w a s F r e u n d schaft und L i e b e ist.
S i e sind g e g r ü n d e t auf die G e m e i n -
samkeit des S t r e b e n s nach der Idee.
S i e setzen a l s o wechsel-
seitiges B e l e h r e n und Erziehen voraus.
D a s braucht nicht
immer planmäßig und bewußt zu g e s c h e h e n .
S c h o n der ist
mein Freund, der ungewollt g r o ß e G e f ü h l e und G e d a n k e n in mir e r w e c k t ; die großen G e f ü h l e rufen die g r o ß e n G e danken
herbei.
W a s kann man vom Umgang mit einem
Menschen B e s s e r e s zu seinem L o b e s a g e n , als daß wir d a durch zu reinerem, tieferem D e n k e n , zu heißerem und doch klarem W o l l e n erwacht s i n d ? —
Eine große Liebesleiden-
schaft mag z w a r die S e e l e zuzeiten unsicher machen und von Grund auf aufwühlen — meister.
Denn
s i e ist doch ein g u t e r Lehr-
die Unendlichkeit der eigenen S e e l e däm-
mert in ihr auf.
S i e läßt uns tausend E r s c h e i n u n g e n
be-
greifen, die bis dahin unverstanden an unseren B l i c k e n vorü b e r z o g e n ; s i e erweitert den B l i c k für das W e l t g e s c h e h e n . —
W a s w i r alle lernen müssen
und worin wir doch alle
immer Lehrlinge b l e i b e n , das ist die K u n s t , dem G l ü c k zu entsagen.
eigenen
Und doch ist e s das Leid der E n t s a g u n g ,
welches die S e e l e erst weckt aus dem Traum, in den e i n e glückliche J u g e n d sie eingewiegt.
Kein Leid ist s o bitter
als das der Entsagung und k e i n e s s o wohltätig.
W i r sind
nicht e h e r reif f ü r s Leben, als bis w i r alle s e i n e Zuckungen und B e w e g u n g e n in tiefster S e e l e mitspüren; wir können uns nicht eher zu den J ü n g e r n der Zukunft rechnen, bis die G e g e n w a r t uns gezüchtigt hat. W i e es zumeist mehrere, v e r s c h i e d e n e W e g e zur L ö s u n g einer mathematischen Aufgabe g i b t , s o führen auch ungezählte W e g e ins Reich der einen, e w i g e n Idee.
W e n n Origi-
nalität die Fähigkeit zur E r z e u g u n g neuer Kulturwerte ist in W i s s e n s c h a f t ,
Kunst und L e b e n , s o gehört Originalität
EI
Lebensführung und Charakter =
=
=
•
zur Charakterbildung; denn der Charakter ist ja die bes o n d e r e Art, wie der einzelne die Idee zur Erscheinung zu bringen sucht. Eine gemachte Originalität dagegen ist Unsittlichkeit, denn sie täuscht uns das Gesetz vor, w o es nicht ist. Je energischer wir aber unsere wirkliche Originalität betonen, desto enger wird auch unser Zusammenhang mit der Allgemeinheit, weil jeder Schritt der Charakterbildung uns der Allheit, d. h. der Idee zuführt. Wie überhaupt d a s Sittliche kein Geschenk der Natur ist, so müssen wir insbesondere seine konkrete Ausprägung in u n s , das Individuelle, Besondere, w a s uns zugleich von anderen unterscheidet und mit ihnen verbindet, jeden Tag wieder von neuem behaupten und rechtfertigen; nämlich inwiefern in ihm wirklich das Allgemeine, Verbindende des G e s e t z e s enthalten ist, d. h. wir müssen es als einen einzelnen Fall des Gesetzes erweisen — das ist seine Rechtfertigung. Das Unterscheidende also, was den Charakter ausmacht, ist weder etwas G e g e b e n e s noch ein Gegensatz zum Allgemeinen, sondern muß gerade kraft des Allgemeinen existieren. Man hat das Wort geprägt: seine Individualität ausleben. Das ist kein gutes Wort, wenn man es als sittliches Prinzip aufstellen will; dagegen wird es berechtigt, wenn es dem Sittengesetz, d. h. der Idee, u n t e r g e o r d n e t wird. Die Individualität ist ein Problem. Man kann sich auf doppelte Art in der Welt zur Geltung bringen: entweder, indem man das Sein und den Bestand der eigenen Seele vermehrt; das ist die rechte Art; — oder, indem man den Wert der anderen zu verkürzen sucht. Das ergibt freilich nur eine Scheinexistenz, die vom ersten Windstoß des Schicksals zertrümmert wird. Es gibt Leute, welche alles und jedes bewitzeln und bespötteln; sie verdecken damit nur den Mangel an eigenem Gehalt, und es ist das Gefühl der eigenen Nichtigkeit, das sie dazu führt.
•
•
Lebensführung; und Charakter
A n d e r e r s e i t s gibt es auch L e u t e , welche s t e t s über sich selbst und ihr e i g e n e s Tun lachen. nur ein
künstlicher S c h u t z
A b e r d i e s Lachen ist
g e g e n das Lachen der W e l t .
Du dürftest sie nicht in ihrem Kämmerlein s e h e n , s i e sich allein g l a u b e n : s i e weinen da.
wenn
Ein wirklich R e i -
c h e r an der S e e l e kann einen Irrtum leicht
eingestehen:
e s bleibt ihm noch Wahrheit und E x i s t e n z g e n u g . Dem kleinen G e i s t e gehen auch die größten E r l e b n i s s e spurlos verloren nicht aus.
und er nützt die Erziehung d e s L e b e n s
Geschieht e s ,
daß ein E r e i g n i s an die T ü r e
s e i n e r S e e l e pocht, gleich einem W a n d e r e r , der H e r b e r g e verlangt:
s o öffnet
er z w a r
ein wenig die
Pforte,
um
nachzuschauen, w e r draußen ist; hat er a b e r das B i l d des W a n d e r e r s nur flüchtig aufgefaßt, heißt er ihn w e i t e r g e h e n . T i e f e r e G e m ü t e r öffnen weit die Pforten des G e i s t e s laden den Gottgesandten zum Eintritt ein.
und
E s ist die Art
g r o ß e r M e n s c h e n , alles A u ß e r e in sich zu ziehen und in das G e w e b e
ihrer G e d a n k e n und Gefühle
einzuspinnen.
B e i vielen Leuten dauert a b e r die Selbsttätigkeit der S e e l e nur g e r a d e solange, als die Berührung von außen, die dazu aufgefordert hat; schwindet diese, s o schwindet auch j e n e . D a s richtige ist e s aber, wenn j e d e s E r e i g n i s in uns nachw i r k t , wenn wir es uns nachgehen lassen.
J e d e r Anstoß
von außen soll uns l e h r e n , den B l i c k ins Innere zu w e n den.
W e n n wir den B l i c k ins Innere k e h r e n , s o kehren
wir ihn recht eigentlich nach außen. Denn im Innern liegen die Quellen des Äußeren. dieser
Hinsicht
auch
Dem tüchtigen Menschen ist in
das G e w ö h n l i c h s t e
das
denn er sieht nie zweimal dasselbe, sondern
Seltenste: immer den
C h a r a k t e r der E r e i g n i s s e . W a s kann uns das Leben anderes lehren, als daß w i r uns u n s e r e s S e l b s t e s bewußt w e r d e n ? J e d e s B e w u ß t w e r d e n ist a b e r ein Z u - s i c h - s e l b s t - k o m m e n ;
indem das
restlose
•
•
Lebensführung und Charakter
Bewußtsein zugleich die Verwirklichung des theoretischen und
praktischen
Selbstes
wäre,
weil
hier
alle
dungen und Gefühle bestimmt und mit dem der B e g r i f f e und G e s e t z e durchleuchtet,
oder,
s e l b e ist, an bestimmte B e g r i f f e und G e d a n k e n wären.
Weil j e d e s E r k e n n e n
Bestimmen
und B e s c h r ä n k e n
Empfin-
Bewußtsein was
und j e d e r Willensakt
und geben
uns
ein
des Unendlichen zum End-
lichen ist, s o scheuen wir uns oft vor der Klarheit Bewußtseins
das-
angeheftet
lieber der falschen
des
Unend-
lichkeit eines unbestimmten und v e r s c h w o m m e n e n Gefühls hin. W i r übersehen, daß j a die Funktion und Kraft unseres G e i s t e s , welche sich im E r k e n n e n und Wollen äußert, selbst unendlich ist, s o daß wir die wahrhafte Unendlichkeit nur mit unserem S e l b s t verlieren könnten.
F ü r den D o g m a -
tiker ist j e d e neue Erkenntnis ein S t ü c k v e r l o r e n e r K r a f t : s o w i e seine B e g r i f f e sogleich versteinern, so in ihnen die Vernunft.
F ü r den kritischen Kopf ist a b e r j e d e neue Er-
kenntnis ein E r w e r b neuer Kräfte: er ü b t s e i n e Vernunft. Unsere L e b e n s r e i s e gleicht einer Wanderschaft in eine bis dahin von uns noch nicht betretene G e g e n d , von
der
wir
un-
eine Karte
besitzen,
welche z w a r die Richtung
s e r e s Pfades erkennen läßt, auch die Distanz der Orte angibt, a b e r nur in der Luftlinie.
W e n n wir daher uns auf
den W e g machen, können wir nie w i s s e n , w i e lange wir von einer Station zur anderen gebrauchen werden und o b unsere Kräfte reichen.
Denn wir können auf B e r g e und
Täler, F l ü s s e und W ä l d e r stoßen, die die K a r t e nicht verzeichnet.
Soviel Unerkanntes, P r o b l e m a t i s c h e s
begegnet
uns auf der L e b e n s r e i s e . D e s w e g e n sollten wir denjenigen dankbar sein und sie hochschätzen, w e l c h e schon ein S t ü c k w e i t e r sind und uns belehren wollen. d a c h t des Lernens.
E s gibt eine A n -
J e d e s W i s s e n ist das Resultat eines
Kampfes g e g e n das C h a o s und das Nichtsein:
wenn uns
•
Lebensführung und Charakter
•
d a h e r j e m a n d d i e s e n Kampf erspart — s o w e i t er d a s k a n n : er zeigt u n s j a n u r den W e g , d e r zum S i e g e f ü h r t ; die T a t ist h e r n a c h doch u n s e r — , s o müssen w i r ihm d a n k b a r s e i n l J e d e Zeit hat ein S y s t e m von Begriffen, w e l c h e s ihre W a h r h e i t und Natur darstellt. A b e r d a s ist nicht ihre volle Wirklichkeit, d e n n d i e umschließt auch die P r o b l e m e . D i e P r o b l e m e b e r g e n a b e r die Natur d e r Zukunft. Die Z u k u n f t gleicht e i n e r J u n g f r a u , die einst Mutter w e r d e n soll. D a z u bedarf es d e s b e f r u c h t e n d e n Willens und d e r T a t . E s ist a b e r schon m a n c h e Z u k u n f t — alte J u n g f e r g e w o r d e n . D e r r e c h t e Affekt, d e r uns d u r c h s L e b e n leiten soll, ist d a h e r die H o f f n u n g und d e r G l a u b e an die Zukunft. E s ist j a auch viel leichter, eine E n t t ä u s c h u n g zu v e r s c h m e r z e n , als o h n e H o f f n u n g zu sein. Man darf s o g a r s a g e n , d a ß selbst j e d e r S e l b s t m ö r d e r in s e i n e r letzten S t u n d e eine g r o ß e H o f f n u n g und einen g r o ß e n G l a u b e n h a t ; und sei es auch nur d e r G l a u b e und die H o f f n u n g d e s Nihilismus. E r glaubt an einen e w i g e n S c h l u m m e r des Seins. D e n gibt es nicht und kann und soll es nicht g e b e n . In d e r Idee ruht d a s S e i n , und die k ö n n e n wir nur durch d a s s e l b s t t ä t i g e E r k e n n e n und H a n d e l n e r g r e i f e n . Man spricht von E p o c h e n d e r M e n s c h h e i t ; von E n t d e c k u n g e n , H a n d l u n g e n , w e l c h e E p o c h e m a c h e n : a b e r das ist immer nur d a s Aufleuchten d e r Idee in d e r Allgemeinheit, freilich immer in einer e n d l i c h e n , bestimmten und mangelhaften F o r m . Die E p o c h e n d e r Menschheit sind ebensoviel Schritte in d e r Vollziehung d e s S e l b s t b e w u ß t s e i n s d e r Menschheit. A b e r d a s Ziel ist unendlich f e r n , und d e r W e g dahin ist d o r n i g . „ D e r Unschuld u n b e f l e c k t e s Eigentum ist nicht das Teil d e s sterblichen M a n n e s . . .," sagt Pestalozzi, „er sieht sie in den b e i d e n G r e n z e n s e i n e s Daseins, und lebt in i h r e r Mitte, u m h e r g e t r i e b e n vom S t u r m e seiner Schuld."
EI
Lebensführung und Charakter
El
Weil wir nun einmal s o im R e i c h e d e r Schuld und S ü n d e leben, sollen w i r uns den Nutzen d e r Schuld zu eigen m a c h e n : d a s ist die Kraft d e s V e r z e i h e n s und V e r s t e h e n s . In d e r Idee w ä r e Schuld und S ü n d e ü b e r f l ü s s i g , d e n n es gibt nichts m e h r zu v e r z e i h e n ; w i r a b e r , w i r e n d l i c h e n Individuen k ö n n e n einen S e g e n d e r S ü n d e s p ü r e n . D a s Verzeihen muß a b e r e b e n wirklich a u s dem G e f ü h l e i g e n e r S ü n d h a f t i g k e i t e n t s p r i n g e n , s o n s t wird es leicht z u r Anm a ß u n g . D i e s e G e f a h r liegt bei den M e n s c h e n am nächs t e n , die sich s ü n d e n f r e i g l a u b e n . S o l c h e L e u t e verzeihen überall, w o auch g a r nichts zu verzeihen ist. Umg e k e h r t bei d e r e r h e u c h e l t e n D e m u t , die überall um Verz e i h u n g bittet. E s gibt dem G e f ü h l s l e b e n nach aktive und passive Naturen. Die passiven Naturen empfinden in j e d e r i h r e r H a n d l u n g e n viel m e h r die V e r ä n d e r u n g e n ihres S e l b s t als d e r U m g e b u n g , auf w e l c h e sie w i r k e n ; bei den aktiven Naturen ist es u m g e k e h r t . Die e r s t e r e n n e i g e n zum G r ü b e l n , zur S e l b s t b e t r a c h t u n g und endlich zum Mystizism u s ; die letzteren g e h e n leicht in bloßem Tun auf. Die e r s t e r e n haben auch zumeist ein viel s t ä r k e r a u s g e p r ä g t e s S c h u l d b e w u ß t s e i n und e m p f i n d e n d a s P r o b l e m a t i s c h e d e s L e b e n s richtiger. Überall, w o w i r auf d a s P r o b l e m a t i s c h e im Leben s t o ß e n , zeigt sich recht eigentlich, w a s w i r w e r t sind. M a r q u i s P o s a s a g t : „ U n d w a s ist Zufall a n d e r s a l s d e r r o h e S t e i n , d e r Leben a n n i m m t unter B i l d n e r s H a n d ? Den Zufall gibt die V o r s e h u n g — zum Z w e c k e muß ihn d e r Mensch g e s t a l t e n . " S o heißt e s bei Novalis: „ A l l e Zufälle u n s e r e s L e b e n s sind M a t e r i a l i e n , a u s d e n e n w i r machen k ö n n e n , w a s w i r w o l l e n . " S o stehen w i r dem C h a o t i s c h e n d e r ä u ß e r e n und i n n e r e n Welt g e g e n ü b e r : j e mehr w i r das P r o b l e m a t i s c h e besiegen und d a s C h a o s
E]
Lebensführung und Charakter
B
durch Begriffe und Handlungen entwirren, desto seltener wird der Zufall.
A b e r da das Sein unendlich
ist,
wird
d a s P r o b l e m a t i s c h e nie völlig aus d e r Welt verschwinden, u n d a l s o a u c h nicht d e r Z u f a l l . d e n Zufall im D i e n s t e
der
springen wir gleichsam
W e n n wir nun fähig sind,
Idee zu v e r w e r t e n , s o
über-
immer einige Zwischenglieder
in
d e r l o g i s c h e n S e l b s t e n t w i c k l u n g u n d im A u s b a u d e s S e l b s t bewußtseins. W i e d i e I d e e s e l b s t n i e v ö l l i g u n d rein sich
in
der
Wirklichkeit ausspricht, so kann es auch keinem Menschen gelingen,
die
Modifikation
der
Idee,
die
wir
seinen
C h a r a k t e r n e n n e n , g a n z rein z u r E r s c h e i n u n g zu b r i n g e n . Aber wenn
er
nur soviel
erreicht,
d a ß d i e Idee
seines
C h a r a k t e r s i n s Z e i t b e w u ß t s e i n ü b e r g e h t , s o ist i h r e F o r t wirksamkeit
und
damit
C h a r a k t e r s gesichert.
die
T o d e in t a u s e n d I n d i v i d u e n s p a l t e n u n d in Einzelbewußtsein untergehen.
seines
endliche Vollendung
M a g s i e sich i m m e r h i n nach s e i n e m
zum
Leben
erwachen,
tausendfachem sie kann
nicht
E s ist nicht w a h r , d a ß w i r g e s t o r b e n
sind,
w e n n u n s e r L e i b im G r a b e fault o d e r zu A s c h e v e r b r a n n t i s t : w e n i g s t e n s d a n n nicht, w e n n w i r auch n u r E i n e Idee, E i n W o r t , E i n e n S a t z o d e r E i n e T a t in d i e Welt g e w o r f e n h a b e n , d i e im R e i c h d e r G e i s t e r f o r t z e u g t und
fortwirkt.
E s ist e i n e t r i v i a l e W e i s h e i t : m a n s o l l e d i e G e g e n w a r t aus
der
Vergangenheit
verstehen
lernen;
viel
wichtiger
ist es, V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t von d e r Z u k u n f t a u s zu b e g r e i f e n . sucht
und
Man m u ß v e r s t e h e n l e r n e n , w o h i n die S e h n -
d e r Vi'ille d e r
sonderlichkeiten
Menschheit
und M ä n g e l ,
aber
zielt,
auch
u n d W a h r h e i t d e r G e g e n w a r t zu v e r s t e h e n .
um
um
die
die AbGröße
S o soll
man
auch dem einzelnen Individuum g e g e n ü b e r verfahren: man soll, w e n n m a n sich ein Bild von s e i n e m C h a r a k t e r m a c h e n will,
zuerst
darauf
achten, welche Hoffnungen,
Träume
EI
Lebensführung und Charakter
und Entwürfe sein Herz b e w e g e n ; und man kann hierbei oft einen Menschen besser verstehen als F r e u n d , als e r sich selbst versteht. Die Begehrungen und Bestrebungen seines Gemütes sind der eigentliche Quell- und Ursprungspunkt der Wirklichkeit seiner Seele. S o liegt auch der bleibende Gewinn, den die Erziehung durch das äußere Leben, durch Schicksalsschläge, Leiden und F r e u d e n , uns geben k a n n , in den veränderten Hoffnungen und Wünschen unseres Herzens. Je mehr sich diese von den isolierten Interessen unseres vergänglichen Individuums abkehren und der Allheit der Menschheit zuw e n d e n , desto weiter ist unsere sittliche Erziehung fortgeschritten. Wenn der Embryologe die Entwicklungsgeschichte des Individuums verfolgt, so muß er mit der Funktionsweise der einzelnen O r g a n e im f e r t i g e n Individuum bereits vertraut sein. S o stehen wir auch der Geschichte des sittlichen Menschen und der ganzen Menschheit gegenü b e r : j e klarer uns das Z i e l der menschlichen Kultur vor Augen steht, desto deutlicher und durchsichtiger werden uns die vergänglichen, relativen Bemühungen der einzelnen Lebens- und Zeitalter. Wenn wir nun zu der Einsicht gekommen sind, daß das Ziel der Kultur, aber auch das Ziel unseres eigenen sittlichen Selbstes, in der Idee der Menschheit liegt, s o w e r d e n wir j e d e s Ereignis und jede menschliche Handlung zuerst daraufhin zu betrachten lernen, w a s sie der Verwirklichung der Idee für Dienste leisten; und das heißt e b e n , sie von der Zukunft aus verstehen. Wir alle können der Zuchtrute des Schicksals nicht entgehen. Den einen trifft sie in Gestalt der Armut, Krankheit und äußerer S o r g e und Not, den andern als Herzenskummer und seelisches Leid. Wenn wir aber in
E
Lebensführung und Charakter
alledem immer n u r u n s s e l b s t , u n s e r v e r g ä n g l i c h e s , e m pirisches Ich f ü h l e n , s o ist u n s e r e E r z i e h u n g noch im A n f a n g s z u s t a n d . J e n e M a h n r u f e d e r N o t w e n d i g k e i t sollen uns n u r an d i e U n v o l l k o m m e n h e i t d e s g e g e n w ä r t i g e n Z u s t a n d e s d e r M e n s c h h e i t und an d i e M a n g e l h a f t i g k e i t d e r Wirklichkeit e r i n n e r n . W i r sollen a u ß e r uns w i r k e n ; denn n u r s o k ö n n e n w i r das, w a s in u n s s c h l u m m e r t , z u r Entfaltung bringen. E s ist die h ö c h s t e E r s c h e i n u n g s f o r m d e r Sittlichkeit, w e n n w i r in d e r höchsten e i g e n e n Not doch d e r f r e m d e n Not nicht v e r g e s s e n ; und w e n n uns d a s L e b e n täglich d a s U n v o l l k o m m e n e u n s e r e r B e m ü h u n g e n v o r A u g e n führt, s o soll d e r l e b e n d i g e G l a u b e an d i e Idee d e n n o c h nicht am endlichen S i e g d e s G u t e n verzweifeln. — Häufig sehen wir einen C h a r a k t e r dadurch verkümmern, d a ß e r in Einseitigkeiten verfällt. D e r lichte S c h i m m e r e i n e r W a h r h e i t hat ihn s o g e b l e n d e t , d a ß e r die D ä m m e r u n g d e r a n g r e n z e n d e n P r o b l e m e nicht m e h r zu d u r c h d r i n g e n v e r m a g . A b e r eine i s o l i e r t e W a h r h e i t hört i m m e r z u r Hälfte auf, Wahrheit zu s e i n , s o w i e ein isolierter M e n s c h a u f h ö r t , ein g a n z e r Mensch zu sein. D i e s gilt auch auf sittlichem G e b i e t e : die T u g e n d ist eine M e t h o d e und e i n e Kraft, niemals a b e r ein e i n z e l n e s D i n g . W i e m a n c h e G e l e h r t e ihr g a n z e s L e b e n lang z e h r e n von dem Einen B u c h , d a s sie g e s c h r i e b e n h a b e n , von d e r Einen E r k e n n t n i s , die sie g e w o n n e n h a b e n , — s o m a n c h e M e n s c h e n von der Einen T u g e n d , die sie begriffen h a b e n . A b e r u n s e r Verhältnis zu dem u n e n d l i c h e n P r o b l e m e d e s D a s e i n s v e r l a n g t eine s t e t s e r n e u t e T u g e n d und S e e l e n stärke. E s g e s c h i e h t auch, d a ß w i r u n s selbst v e r k e n n e n , ins o f e r n w i r die richtigen K r ä f t e u n s e r e r S e e l e nicht in B e w e g u n g s e t z e n , durch w e l c h e w i r d a s meiste in d e r Welt
B
Lebensführung und Charakter
B
vermöchten. Und nicht immer trifft sich's so gut, daß das Leben uns g e r a d e d i e P r o b l e m e stellt, die wir spielend zu lösen vermögen. Aber wenn unsere physische Existenz auch an der Schwere unserer besonderen Lebensaufgabe scheitern kann, so sind wir doch unter allen Umständen fähig, unsere sittliche Existenz und damit die Ewigkeit unseres W e s e n s zu retten. Es ist freilich nicht immer leicht, das Sittliche zu finden, sondern es setzt ein reines und tiefes Streben nach Erkenntnis voraus. Statt dessen bleiben wir oft haften an den problematischen Erscheinungsformen der Wirklichkeit, hinter denen sich die sittlichen Kräfte der Zukunft verbergen. Und so liegt die Gefahr nahe, daß schließlich die Seele aufgeht in jener Scheinwelt leerer G e b r ä u c h e , und daß eine Schale des Trugs uns selbst den göttlichen Kern unserer wahren Natur verdeckt. Es erfordert Entschlossenheit, im Strudel des Alltagslebens und unter den Fesseln der Sitte (die nicht immer Sittlichkeit ist), dem Unendlichen treu zu bleiben! Weil die Darstellung des eigenen Charakters auch beim tüchtigsten und stärksten Menschen immer unvollkommen ist, so muß g e r a d e der Getreuste die meisten Kämpfe ausfechten. Aber wie sie aus dem Geiste geboren sind, sollte er sie auch im Geiste bestehen. Die tiefsten Schmerzen, die der Künstler empfindet, wenn er, was sein Geist erschaut und seine Seele ergriffen hat, nicht rein aus sich herausstellen kann; die k r ä n k e n d e Beschämung, die unser Herz befällt, wenn wir die reine Darstellung der Idee in unserem Charakter nicht annähernd durchzuführen vermögen; die Verzweiflung, die den Forscher erfaßt, wenn er der Unendlichkeit des Seins kaum ein Stückchen Wirklichkeit abzuringen vermag, — kann dennoch nur die innige und unerschütterliche Liebe zur Idee besiegen. Gerade die
El
Lebensführung und Charakter
S
größten G e i s t e r f ü h l e n e s am s t ä r k s t e n , d a ß all u n s e r W o l l e n , W i s s e n und K ö n n e n S t ü c k w e r k ist. A b e r w i r dürfen n u r d e r Z u k u n f t v e r t r a u e n und ihr mit kindlichem G e m ü t u n s e r e r H ä n d e W e r k , u n s e r e s G e i s t e s Frucht anh e i m g e b e n : s o w i r d sie den Keim u n s e r e s W e s e n s z u r Entfaltung b r i n g e n , den die Wirklichkeit achtlos b e i s e i t e warf. Und w e n n n u r d e r E i n z e l n e v o r s c h a u e n d den Blick zur E w i g k e i t d e s W e r d e n s und W a c h s e n s d e r M e n s c h h e i t erhebt, s o k a n n e r sein s t e r b l i c h e s Individuum versetzen in jenes Reich der Unvergänglichkeit. W i e häufig a b e r g e h e n w i r im Nichtigen und P r o b l e matischen auf, i n d e m w i r u n s e r e b e s c h r ä n k t e Subjektivität falsch e i n s c h ä t z e n . W i r s u c h e n auf alle Art den S o r g e n und W i d e r w ä r t i g k e i t e n d e s D a s e i n s zu e n t g e h e n und stehlen uns selbst die k o s t b a r s t e n S t u n d e n d e r K r a f t und W i r k samkeit um e i n e s l e e r e n Z e i t v e r t r e i b s willen. „Zeitvert r e i b ! " es ist s c h o n r e c h t , w e n n w i r die Zeit durch d i e E w i g k e i t v e r t r e i b e n und an S t e l l e d e s V e r g ä n g l i c h e n d a s U n w a n d e l b a r e s e t z e n . A b e r leider v e r t r e i b t die Zeit zumeist u m g e k e h r t u n s s e l b s t . W i r h ä n g e n u n s an ihre R o c k s c h ö ß e und laufen mit ihr, bis w i r d i e w a h r e Heimat u n s e r e r S e e l e v e r l o r e n haben. A b e r , w o ist denn u n s e r e w a h r e Heimat, w e n n nicht in den Tiefen u n s e r e s e i g e n e n G e m ü t e s und in d e r Einheit d e r M e n s c h h e i t ? W a s die Natur nicht z e i g t , w a s die H a n d l u n g e n d e r M e n s c h e n s o selten v e r r a t e n , d a s ist d e n n o c h d a s g e m e i n s a m e B a n d d e r M e n s c h h e i t : die B e s t i m m u n g zum G u t e n . Und o b w i r gleich t a u s e n d m a l s ü n d i g e n und i r r e n : die W a h r h e i t und das S e i n sollen und w e r d e n w i r e r g r e i f e n . Die L i e b e z u r Idee ist zugleich i m m e r e i n e S e h n s u c h t nach e i n e r h ö h e r e n D a s e i n s f o r m voll r e i c h e r e r W a h r h e i t und r e i n e r e r Sittlichkeit. P l a t o und Plotin k o m m e n darin ü b e r e i n , den philosophischen E r o s zu c h a r a k t e r i s i e r e n als
B
Lebensführung und Charakter
H
das S t r e b e n , im Schönen zu zeugen, d. h. a b e r theoretische und praktische Ewigkeitswerte zu schaffen. Und s o wäre ja der philosophische Eros der Grundtrieb j e d e r reinen Lebensführung? S o verhält es sich wirklich. Wir bleiben alle bedürftig unser Leben lang; wir suchen und suchen, und jede Seele hat eine ihrer Natur gemäße Sehnsucht nach der Ewigkeit. In welche Daseinsformen wir auch treten, wir dürfen nie zum Augenblicke s a g e n : verweile doch, du bist s o s c h ö n ! Die Ausgestaltung des Charakters in der Lebensführung soll ein ewiges Zeugen in der eigenen Seele und eine ewige Geburt sein. Wenn die Welt und das Schicksal uns befruchten, so sollen wir das außer uns gebären in der Tat und in der Liebe. Und wenn uns das Schicksal zu Ideenfreunden erzieht, dann sind wir seiner Willkür entronnen. Denn den Ideenfreund kann die Natur nicht mehr zwingen, deren Relativität und Vergänglichkeit, deren Ursprung im eigenen Bewußtsein er erkannt hat; und alle Ereignisse und Erlebnisse seines Daseins schließen sich um jene eine, unwandelbare Einheit, die sein zerstreutes geistiges Besitztum wie mit Fesseln der Liebe verbindet. Auch nur auf diesem Wege können wir dazu gelangen, uns selbst zu besitzen. Zwar ist unser sinnliches Selbst in keinem Augenblicke unseres Lebens völlig abgeschlossen und vollendet; aber in der Entfaltung selbst unserer Kräfte und Anlagen in der Richtung auf jenes eine, unwandelbare Ziel können wir jene Selbsterkenntnis gewinnen, welche den rechten Besitz unseres geistigen Ichs ausmacht. Die höchste Kraft des Selbstbesitztums würde dann erreicht sein, wenn jede Empfindung und j e d e s Gefühl in uns das deutliche Bewußtsein unseres besonderen Charakters, d. h. unseres besonderen Verhältnisses zur allgemeinen, einheitlichen Idee, hervorbringt.
•
Lebensführung und Charakter Zumeist, wenn uns das S c h i c k s a l die Nichtigkeit alles
individuellen G l ü c k e s und aller selbstischen Lust vor Augen führt, dann erbauen wir uns das S c h e i n b i l d e i n e r überweltlichen, jenseitigen Wirklichkeit, die j e n e s Vergängliche, Zeitliche selbst gleichsam festhalten und verewigen
soll.
A b e r der Ideenfreund sucht sein J e n s e i t s in der Zukunft; e s liegt freilich häufig j e n s e i t s des sterblichen Individuums, a b e r nicht j e n s e i t s des sittlichen S e l b s t e s .
Und w e r an
die Idee glaubt, der soll auch für s i e leiden k ö n n e n . Menschheit
Die
ist ein ungläubiger T h o m a s und verlangt im-
m e r sichtbare Zeichen und W u n d e r . E s erscheint a b e r den Ideenverächtern, die noch im F i n s t e r n
wandeln, wie ein
Wunder, wenn das Individuum sich s e l b s t vergessen und leiden und K ü m m e r n i s s e des L e b e n s auf sich nehmen kann, um die Kraft der Idee zu b e k u n d e n . Segen
D a s ist der doppelte
des L e i d e s , daß es uns subjektiv vertieft, objektiv
a b e r rechtfertigen und unsere r e i n e r e Natur bezeugen kann. E s hat freilich auch Fanatiker des L e i d e n s g e g e b e n , welche, weil ihnen andere Zeugen fehlten, die Kraft der S c h m e r z e n anriefen, um durch sie die B e r e c h t i g u n g und Wahrheit ihrer L e h r e zu e r w e i s e n .
S o ist das Gefühl oft der Umweg, auf
welchem der G e d a n k e , und damit zugleich erst das obj e k t i v e S e i n , sich Anerkennung verschafft.
S c h o n wer für
s e i n e Freundschaft und L i e b e leidet, der leidet für die Idee. E s ist eine wohltuende und doch zugleich schmerzliche Erscheinung des S e e l e n l e b e n s , daß unser G e m ü t , j e reicher es an Gefühlen, Erkenntnissen und Willen wird, auch desto empfindlicher und empfänglicher wird.
B e i einem charakter-
vollen Menschen, der s e i n e s W e g e s sicher geht, hängt ohnehin die Gesamtheit s e i n e s seelischen B e s i t z e s s o eng zus a m m e n , daß man ihn angreifen m a g , wo man will, man hat immer den ganzen Menschen.
J e mehr sich nun die
Eigenwelt eines Individuums erweitert und vertieft,
desto
•
Lebensführung und Charakter
•
mehr Berührungspunkte gewinnt sie mit der Welt und desto leichter antwortet sie auf die Ansprache des Schicksals. Wohltätig ist diese Erscheinung, weil so der Fortschritt zu höheren Daseinsformen erleichtert wird, und die Seele immer mehr Mittel und Wege gewinnt, ihren eigentümlichen Charakter auszuprägen. Das Schmerzliche der Erscheinung liegt aber darin, daß nunmehr die Widerwärtigkeiten und Leiden des Lebens auch doppelt empfunden werden. Immer wieder werden wir an der Welt irre und in tiefster Seele erschüttert, wenn wir auf das Unvernünftige, Ungelöste des Daseins stoßen. Alle Versuche der Theod k e e entspringen jenem naiven Wirklichkeitsglauben, den man zuerst überwunden haben muß, ehe man auch nur von ferne einen Abglanz der Idee gewahren kann. Lust und Leid sind freilich in der Welt von heute nicht nach Recht und Billigkeit verteilt, aber sie anzurufen, um gleichsam statistisch (nach dem Überwiegen der Lust oder Unlust in der Wirklichkeit) die Berechtigung des Optimismus oder Pessimismus zu erweisen, ist eine Erfindung der Neuzeit, die ihr nicht zur Ehre gereicht. Die wahrhafte und einzig mögliche Theodicee soll der menschliche Wille vollziehen, indem er die Welt immer wahrer, immer sittlicher, immer schöner gestaltet. Es gibt noch so viel ungezähmte Kraft, soviel blinden Naturtrieb in uns und außer uns, den die Vernunft zum rechten Ziele lenken sollte; und dazu sollte das Leben uns vor allem erziehen, daß wir hier immer den Anfang bei uns selbst machen. Aber wir sehen den Splitter im Auge des Nächsten, und den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht; wir empfinden die Fehler unserer Brüder tiefer als unsere eigenen und beurteilen sie strenger; und doch sollte das Gegenteil der Fall sein. Denn unsere eigenen Fehler berühren näher unseren Anteil an der
•
Lebensführung und Charakter Zukunft
als die fremden.
E b e n s o bewerten wir zumeist
unsere eigenen W e r k e und Taten höher, wenn s i e sich als gehaltvoll erweisen und gut, denn die anderer Dies ist fast ein noch g r ö ß e r e r F e h l e r .
Menschen.
Denn alle guten
W e r k e , die von B e s t a n d sind, entspringen einer
inneren
Notwendigkeit des Handelnden, welche zugleich die h ö c h s t e Freiheit ist: indem s i e die Mittel und W e g e sind, u n s e r e Eigenwelt mit der allgemeinen Wirklichkeit in Zusammenhang zu bringen. Lücke in
unserem
W i r befreien uns durch sie von e i n e r Sein
unseres C h a r a k t e r s aus.
und sprechen
eine
neue
Seite
D a s e i g e n e Werk, sofern e s ein
sittliches und kulturförderndes ist, ist daher immer zugleich e i n e Wohltat g e g e n unsere e i g e n e S e e l e , eine B e f r i e d i g u n g eines uns drückenden P r o b l e m e s .
Dennoch kann sich in
ihnen nicht mehr aussprechen als unser Ich, soweit e s in dieser Stunde der G e b u r t gekommen war.
D i e fremden
Taten a b e r bringen Neues herzu, wecken Ungekanntes in unserem Gemüt und sind daher selbst für unsere eigenen, zukünftigen Taten befruchtender T a u ; indem wir s i e uns zu eigen machen, erweitern und vergrößern wir unser Ich. In
der Isolierung
würden
wir verkümmern.
Wir
daher eine g r ö ß e r e Pflicht der Dankbarkeit gegen wie gegen eigene Arbeit. wenn
wir
am
haben fremde
Auch zeigt e s von G e i s t e s g r ö ß e ,
fremden Wirken
immer das P o s i t i v e auf-
suchen und die F e h l e r möglichst übersehen.
Wir nützen
uns selbst damit. Vom S e g e n der Arbeit kann man überhaupt nicht hoch genug d e n k e n ; es darf nur keine mechanische Arbeit sein, sondern eine fruchtbare, fesselnde, welche das ganze S e l b s t des Menschen ergreift und in B e w e g u n g setzt.
E i n e rein
mechanische Arbeit, die wir mit Widerwillen oder wenigs t e n s ohne inneres Interesse verrichten, kann s o g a r u n s e r e sittliche E x i s t e n z gefährden.
Denn sie verführt uns, die
El
Lebensführung und Charakter
zi^B
W e s e n s k r ä f t e u n s e r e r S e e l e , die w i r auf d e m W e g zur Idee s o n ö t i g h a b e n , zu mißbrauchen, und e r t ö t e t die A c h t u n g v o r d e r Arbeit. E s gibt a b e r freilich k e i n e wertvolle Arbeit, die im s c h l i m m e n S i n n e mechanisch w ä r e : D e n n auch die auf d a s s c h e i n b a r b l o ß Nützliche gerichtete Tätigkeit hängt i r g e n d w i e mit dem sittlichen Endziel u n s e r e s L e b e n s z u s a m m e n und b e a n s p r u c h t insofern u n s e r Interesse. D i e s e n Z u s a m m e n h a n g gilt es n u r aufzusuchen. Wenn z. B. ein A r b e i t e r täglich und stündlich d e n s e l b e n einen, identischen Handgriff an e i n e r Maschine a u s ü b t und hierdurch innerlich v e r ö d e t und a b g e s t u m p f t wird g e g e n s e i n e A r b e i t : s o liegt d e r F e h l e r nicht eigentlich in d e m e w i g e n Einerlei, s o n d e r n darin, d a ß er, d e r Arbeiter, nicht fähig ist, d a s G a n z e d e r Maschine und ihren E n d z w e c k zu übers e h e n . Ü b r i g e n s : j e v o l l k o m m e n e r eine Maschine ist, d e s t o w e n i g e r , a b e r auch d e s t o g e b i l d e t e r e A r b e i t e r sind zu ihrer B e d i e n u n g e r f o r d e r l i c h . W i e ein Kapitän sein Schiff, ein Ingenieur die von ihm k o n s t r u i e r t e M a s c h i n e lieben kann, s o sollte j e d e s tote W e r k z e u g , d e s s e n w i r uns im Lebenskampf b e d i e n e n , gleichsam ein Teil u n s e r e s Ichs w e r d e n . Wir m ü s s e n ihm hierzu selbst B e d e u t u n g verleihen. D i e W e r k e , d e n e n w i r gleichgültig w e r d e n endlich i m m e r u n s e r e F e i n d e .
gegenüberstehen,
„Ach unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang," sagt F a u s t . D a s gilt z u e r s t von j e n e n Taten, d i e wir w i d e r willig a u s ü b e n und zu d e n e n wir uns nicht b e k e n n e n k ö n n e n . S i e liegen u n s überall in ihren F o l g e n wie S t e i n e d e s A n s t o ß e s im W e g e . Freilich kann ein W e r k auch noch im a n d e r e n S i n n e u n s e r F e i n d w e r d e n , s o g a r dann, w e n n w i r e s im M o m e n t e s e i n e r G e b u r t mit u n s e r e m vollen Selbst erfüllt hatten. Nämlich dann wird es u n s e r F e i n d , w e n n w i r d a r i n , statt d e n V e r s u c h zur V o l l e n d u n g , die Voll-
•
Lebensführung und Charakter
El
endung selbst sehen. Wie oft erlebt man es z. B., daß bedeutend talentierte Künstler durch den Erfolg eines Erstlingswerkes für i m m e r ruiniert werden. S i e werden Manieristen und kopieren in Zukunft sich selbst. Sie glauben eben, fertig zu sein. Aber die Abhängigkeit von den eigenen Werken ist noch nicht so gefährlich, wie die Abhängigkeit von der toten Natur. Denn im eigenen Werk wohnt immer noch ein Stück Selbst, ein Residuum der Seele. Zwar ist auch die Natur, ihrem Ursprung im Bewußtsein gemäß, keine uns fremde und feindliche Macht: aber wir s u c h e n in ihr nur die Notwendigkeit, und wer sich daher der Natur verschreibt und sie (nicht nur ästhetisch genießt, sondern) zum Richter seines Lebens nimmt, der muß das Bestehende, Wirkliche zum letzten Notwendigen machen und hindert den Fortschritt zur Idee. Die Idee soll sich in der Natur aussprechen, verwirklichen durch unseren Willen; aber eben deswegen muß der Wille (der die Erkenntnis und den Affekt in sich schließt) über die jeweilige Natur hinausgehen können, indem er sie wahrer macht und also erneuert. Das geschieht eben durch die Werke unseres Willens, die daher auch immer wie Stationen auf der Wallfahrt zur Idee sein müssen. Es bleibt das A und Q unseres Lebens, daß wir unsere ganze Existenz in deq Dienst der Idee stellen. Wer sich den Gefühlen und Stimmungen hingibt, zerreißt sein Dasein; wer nach dem Endlichen greift, muß in ihm versinken. Aber wir können auch die Idee anerkennen und dennoch vom Leben trennen; dann wird sie zur Illusion. Es ist gewissermaßen der entgegengesetzte Fehler: die Unendlichkeit soll das Endliche gebären, das Endliche ein Ausdruck des Unendlichen werden. Wer einseitig nur das Endliche oder Unendliche zu fassen trachtet, muß erliegen. Ob wir von der Einheit zur Mannigfaltigkeit (von der Idee zur Erschei-
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Lebensführung und Charakter
•
nung) oder von der Mannigfaltigkeit zur Einheit (von der Erscheinung zur Idee gehen): sofern wir nur beiden Teilen gerecht werden, können wir nicht verderben. Die verwirrende Menge der Interessen, durch welche Berufsleben, soziale Stellung, nationale Verschiedenheit und Verschiedenheit der Bildung die Menschen zu trennen versuchen, werden zu Freunden der Menschheit, wenn sie in ihrer Relativität erkannt und der Idee untergeordnet w e r d e n ; sie sind die schlimmsten Feinde des Menschengeschlechts, wenn sie absolut und an die Stelle der Idee gesetzt werden. Die verschiedenen Charaktere der Individuen und Völker sollen sich ausprägen, ohne der Einheit des Menschengeschlechts im W e g e zu stehen. Dieselben Kämpfe, welche heute noch aus Mißverstand die Völker trennen, trennen häufig den Menschen von sich selbst in den Kämpfen seiner Seele. Irgend ein Gefühl, sei es des Glückes oder des Leides, durchdringt seine ganze Eigenwelt und sucht alle Kräfte und Wünsche zu unterdrücken und zu fesseln — bis sich aus dem Lebenszentrum selbst heraus der vernünftige Wille gegen die vergängliche Macht aufbäumt und sie in ihre Schranken zurückweist. Kein endliches Gefühl hat Selbstzweck: wie es aus dem Endlichen entstand, durch Endliches hervorgerufen wurde, muß es die dienende Stellung des Endlichen gegen das Unendliche teilen. Das Gefühl der Liebe z. B. fesselt uns zuzeiten s o , daß wir in der Hingabe an es die hohe Aufgabe und Rechtfertigung der Liebe, die in dem Zeugen, im Schönen, d. h. in der Auferbauung der Idee in der Seele des Geliebten besteht, ganz aus dem Auge verlieren. Und e b e n s o der Schmerz der Entsagung, da doch die Entsagung, wenn sie gerechtfertigt ist, auch nur Mittel zum Zweck der Selbstläuterung sein sollte. Der philosophische Eros, die Liebe zur Idee, muß uns
•
Lebensführung und Charakter
•
auch Stütze sein, wenn der Tod kommt, in der letzten Stunde uns die Z w e i g e des Daseins aus der Hand zu winden, die gemach verdorrt sind, ohne daß wir's gewahr w u r d e n ; wenn der stille Wandersmann plötzlich aus der Dämmerung hervortritt — denn er folgt, ohne daß wir's merken, unsern Schritten seit unserem ersten Tag — und unseren Leib fordert, der ihm verfallen ist. Dann tritt das sittliche Selbst, rein und von den Schlacken der Endlichkeit befreit, seinen W e g in die Zukunft a n : unsere Taten, Gedanken und Gefühle, die der Idee geweihten, überleben uns.
tm
107
Charaktere.
I
n der S e e l e
eines großen Menschen
wird j e d e s
Wort
und j e d e s unscheinbare E r l e b n i s zu einem bedeutungs-
vollen Ereignis.
E s ist j a nichts klein und
nichtssagend
in der Welt, wenn wir nicht selbst klein und stumpf sind. J e tiefer das Gemüt e i n e s Menschen ist, desto kraftvoller antwortet es auf die Einflüsse
des L e b e n s .
Aber
nicht
j e d e r vermag seine Gefühle und G e d a n k e n unmittelbar in Taten
umzusetzen:
Erschütterungen
vielmehr
und
die
bewirken
inneren
die
Stürme
kämpfe bei vielen e i n e Veränderung
unsichtbaren und
Herzens-
der ganzen
Eigen-
welt, die sich nur dem tieferblickenden Auge d e s F r e u n d e s offenbart.
Es
gibt
grüblerische,
sinnende
Charaktere,
w e l c h e lange Zeit brauchen, um sich in j e d e m
einzelnen
F a l l e über sich selbst und ihre Stellung zur Welt
klarzu-
w e r d e n : s i e gehen, kann man sagen, immer von der Idee zur Wirklichkeit,
während
die ihnen
entgegengesetzten
Menschen von der Wirklichkeit zur Idee aufsteigen. Ideenfreunde
a l s o , welche
in
der Zukunft
leben,
Jene wenn
ihre S e e l e durch ein E r e i g n i s aufgewühlt wird, ruhen nicht eher, bis s i e den Zusammenhang mit der Idee gefunden haben und b e g r e i f e n , wie sich die neue, durch das
Er-
eignis bedingte Wirklichkeit dem Sinn und Z w e c k
ihres
ganzen Lebens, der für s i e unverrückbar feststeht,
unter-
ordnet.
Alles, was s i e in dieser Welt erfahren, wird hier
zu einem Ausdruck des ewigen S e i n s ; a b e r eben weil s i e
so im Unvergänglichen und Ewigen leben, finden sie sich nur schwer im Dasein und der Wirklichkeit zurecht. Sie können z. B. lange Zeit in scheinbar unmöglichen Situationen ausharren; sie sind vertrauensvoll und glauben an die Menschen bis zum äussersten. Sie leiden aber auch doppelt an der Welt, und jede Enttäuschung, j e d e erzwungene Entsagung, an denen ja die Erdenwanderschaft so reich ist, drückt sie über die Maßen nieder. Die Leute spotten über sie als über unpraktische Träumer; die Welt verlacht sie und die Menge geht roh und gleichgültig an ihnen vorüber. Und dennoch sind sie häufig Führer und Bahnbrecher der Menschheit, die, weil sie selbst s o viel gelitten, ihren kranken Brüdern die Hand reichen und ihnen helfen. Sie geben der Welt Gedanken, und die Zukunft gibt ihnen dafür — freilich oft erst, wenn sie das sterbliche Gewand ausgezogen haben — Taten. Weil sie immer von der Idee ausgehen, sehen sie die Wirklichkeit in zu rosigem Licht: sie erleben daher immerwährend Enttäuschungen. Aber sie können dennoch im tiefsten Innern nie völlig zugrunde gehen: sie sind sittliche Charaktere. Es ist viel beschämender, die Wirklichkeit und unsere Mitmenschen zu tief eingeschätzt zu haben als zu gut. Wer von einem Menschen niedrig gedacht hat und wird durch dessen Handlungen vom Irrtümlichen seiner Denkweise überzeugt, der lernt das schlimmste Gefühl der Scham kennen und verliert einen Teil seines sittlichen Selbstes. Wer aber von einem Menschen zu gut gedacht hat, der kann wohl Leid und Kummer, niemals aber Scham ernten. Die dummen weltklugen Leute freilich urteilen anders und schätzen den gewissenlosen Skeptiker höher als den reinen Toren. Die sittliche Kraft jener geschilderten Charaktere wird begreiflicher, wenn man bedenkt, wie der bloße Glaube ans Gute der Menschen Herzen
stärkt und sie gut macht. G l a u b t n u r an d i e M e n s c h e n und ihr b e s s e r t s i e ! D e n n die L i e b e zum G u t e n w o h n t auch im I r r e n d e n . Nehmt alle L a s t e r d e r W e l t und formt einen M e n s c h e n d a r a u s : e r wird d i e T u g e n d l i e b e n , die er nicht besitzt. — J e n e tiefen Naturen sind auch d e r reinsten L i e b e und F r e u n d s c h a f t f ä h i g , d e n n L i e b e und F r e u n d s c h a f t v e r l a n g e n Vertrauen und G l a u b e n . Ihnen e n t g e g e n g e s e t z t sind, w i e g e s a g t , d i e M e n s c h e n , w e l c h e von d e r Wirklichkeit zur I d e e g e h e n . S i e entd e c k e n d i e Idee g e w i s s e r m a ß e n i m m e r erst im Kampf mit d e r G e g e n w a r t , indem sie die Mängel d e r w i r k l i c h e n Welt gleichsam am e i g e n e n Leibe e m p f i n d e n . S i e leiden a b e r nicht halb s o viel d a r u n t e r , a l s die e r s t g e s c h i l d e r t e n : d e n n sie vergleichen nicht Ideal und Wirklichkeit, s o n d e r n eine A h n u n g d e s Ideals taucht erst in d e m A u g e n b l i c k in ihnen a u f , in w e l c h e m sie vom Nichtsein b e d r o h t w e r d e n . Sie w i r k e n u n m i t t e l b a r in d a s Leben, und ihre T a t e n liegen v o r allen Blicken offen. S i e lieben w e n i g e r die Menschheit als d i e einzelnen Individuen. W ä h r e n d j e n e von u n s z u e r s t betrachteten C h a r a k t e r e auch im F r e u n d und in d e r G e l i e b t e n immer d a s A l l g e m e i n - m e n s c h l i c h e s e h e n , schätzen und achten, s o sind die a n d e r e n , v o n d e n e n jetzt die R e d e ist, im einzelnen b e f a n g e n . D i e einen s e h e n auch in d e n V o r z ü g e n ihrer F r e u n d e n u r eine E i g e n s c h a f t , die dem B e g r i f f e Mensch e i n w o h n t ; die a n d e r e n s e h e n darin vielmehr g e r a d e d a s U n t e r s c h e i d e n d e , B e s o n d e r e d e s geliebten Individuums. In j e n e r S c h e i n w e l t d e r verr a u s c h e n d e n Zeit sind die letzteren b e s s e r gestellt: sie sind die S c h o ß k i n d e r d e s G l ü c k e s . Auch h a b e n sie s c h e i n b a r viel m e h r Kraft dem E n d l i c h e n , P r o b l e m a tischen d e s D a s e i n s g e g e n ü b e r als ihre B r ü d e r : d e n n sie greifen überall zu o h n e viel B e s i n n e n ; a b e r weil sie d a s Unendliche nicht zu Hilfe r u f e n , o d e r vielmehr ihm nur
gleichsam w i d e r Willen n a c h g e h e n , s o bleiben sie doch mehr im Endlichen s t e c k e n , als die Welt g l a u b t . D a s zeigt sich, w e n n sie einmal wirklich ins Unglück k o m m e n ; o b gleich f ü r seelische S c h m e r z e n u n e m p f i n d l i c h e r , s o g e h t ihnen doch d e r tiefe Halt ab, den die I d e e allein d e m H e r z e n verleihen kann. W e r von d e r Idee a u s die W e l t zu v e r s t e h e n s u c h t , d e r k a n n sich z w a r d e s L e i d e s und d e r S o r g e n d e s endlichen D a s e i n s im A u g e n b l i c k e nicht e r w e h r e n , wird a b e r endlich i m s t a n d e sein, durch p r o d u k tive A r b e i t sein S e l b s t zu retten. Leid und K u m m e r vertiefen i h n , er gibt d e r u n d a n k b a r e n Welt um s o mehr, j e m e h r sie ihm g e n o m m e n hat. W e r a b e r von d e r W i r k lichkeit zur Idee geht, d e r kann leicht z u g r u n d e g e h e n , weil ihm d a s Dasein doch die eigentliche Realität ist, die e r n u r n o t g e d r u n g e n durch Ideen ergänzt. E r möchte g e b e n , a b e r sein Quell versiegt allzu leicht, er w e i ß nicht, w o zu s c h ö p f e n . Jedoch k ö n n e n natürlich beide T y p e n an ihrem O r t d i e Menschheit f ö r d e r n . N u r , w e r d e r a r t von d e r Endlichkeit g e f a n g e n g e n o m m e n w i r d , daß ihm auch die A h n u n g d e r Idee verloren g e h t , ist ein völlig unnützes Glied d e r Menschheit. F r e i l i c h , s o l a n g e e i n e r eben noch Mensch ist, lebt auch d i e L i e b e zur Idee in ihm; i r g e n d w i e führt auch den Materialisten s e i n e S e h n s u c h t zum U n e n d l i c h e n . Den Irrtum, d a ß die u n m i t t e l b a r e , relative Wirklichkeit die h ö c h s t e F o r m d e s S e i n s w ä r e , k o r r i g i e r t d a s Schicksal uns allzubald. D a s unendliche S e i n d e r Idee, d. h. die V o l l e n d u n g und d e r Fortschritt zur V o l l e n d u n g der Kultur und Menschheit, ist freilich nicht mit Augen sichtbar und mit H ä n d e n g r e i f b a r , a b e r dennoch d e r eigentliche Q u e l l p u n k t aller Realität. Die I d e e n f r e u n d e also, w e l c h e in allem, w a s sie tun, auf die unendliche Idee blicken, leben in Wahrheit in e i n e r weit höheren Wirklichkeit, als sie den V e r e h r e r n
des Bestehenden zugänglich ist. Freilich ist auch der Stärkste zu schwach, sich immer in die Idee zu flüchten: wieviel Leiden und Kummer bliebe uns sonst erspart! Der Egoist ist ein Mensch, welcher dem Daseienden auch absoluten Wert erteilt, und zwar insbesondere seinem zufälligen, empirischen Ich. Cr sieht nicht, daß er eine Unendlichkeit des Seins opfert, um eine Scheinwelt zu retten, die der Zeit doch erliegt. Er weiß nicht, daß sein sittliches Selbst in der Allheit der Menschheit wurzelt und in der Isolierung sterben muß. Er hält überall die subjektiven Gefühle und Empfindungen, die seine Begriffe und Handlungen begleiten, für das letzte S e i n , während sie doch ihren Ewigkeitswert erst aus dem objektiven Begriff und der sittlichen Idee schöpfen. Der Egoist liebt nicht das S e i n , sondern das C h a o s , das Problem. Denn überall, w o wir das Chaos überwinden, das problematische Sein zur Wahrheit erlösen, sind wir über unser begrenztes Ich hinaus in der Allgemeinheit. Die Liebe offenbart sehr deutlich den Charakter des Menschen. Wer wahrhaft und rein liebt, der liebt im Anderen das Ewige, Seiende und strebt, dies zu vertiefen und zu erweitern. Die pathologische Liebe dagegen erstreckt sich gerade auf das Problematische, Nichtseiende im Nebenmenschen — physiologisch e b e n s o , wie psychisch. Die reine Liebe liebt im Anderen den Ausdruck der Idee der Menschheit. Daher ehrt und adelt uns auch die Liebe eines großen Mannes: denn j e mehr der Liebende der Wahrheit und des Seins in sich trägt, desto mehr vermag er solches im Geliebten zu erkennen. Durch seine Liebe gesteht er also zu, daß der Geliebte einen positiven Kern des sittlichen Seins in sich hat, und er hilft, diesen zu vertiefen. Aber fast noch mehr als die Liebe vermag die Gewiß-
heit des Todes den Charakter der Menschen zu enthüllen. Der Tod scheidet das Ewige im Menschen vom Vergänglichen: was wir im Leben von wahrhaftem Sein errungen haben, das bleibt der Kulturwelt erhalten, jeder wahre und große G e d a n k e , j e d e r sittliche Impuls und Willensentschluß — und durch beides, das in fremden Seelen fortlebt, auch j e d e s tiefe und edle Gefühl. Das Chaotische, Problematische in uns, das wir nicht aufzulösen vermochten, die bloß subjektiven Empfindungen und Gefühle dagegen sterben mit unserem empirischen Ich. Wer daher mit der Gewißheit über die Erde wandelt, daß seine Lebensstunden gezählt sind, der offenbart in jeder Handlung und jedem Wort das letzte Refugium seines Charakters. Wir wollen uns klarzumachen versuchen, wie sich die beiden Grundtypen von Charakteren, die wir aufgestellt haben, dem Tode gegenüber verhalten müssen. Der Ideenfreund wird den Tod weder fürchten noch unnütz suchen. Sein ganzes Leben ist ja eine Überwindung des Todes. Indem er auch bei den scheinbar gleichgültigsten Handlungen an die Idee denkt und in allem seinem Tun, Denken und Fühlen das Ewige sucht, ist ja jeder Schritt seines Lebens ein Stück Weges von der Vergänglichkeit fort, die wir doch einzig im Tode fürchten. Er wird aber den Tod auch nicht suchen, wenigstens so lange nicht, als er noch ein Mittel weiß und eine Kraft in sich spürt, Ewigkeitswerke zu schaffen und so sein sittliches Selbst zu vertiefen und zu vergrößern. Alle Menschen von Charakter werden im Angesicht des Todes ernst; aber es gibt, nach Lessings schönem Wort, auch ein ernsthaftes Lachen, einen Humor, der seine Wurzeln im tiefsten sittlichen Ernst hat. Und so kann der Ideenfreund dem Tode sogar mit ernsthaftem Humor entgegentreten. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen gesucht, wie der Humor
der Liebe verwandt ist, die Ironie aber dem Haß. Die Ironie wendet sich an das Problematische, Vergängliche, Nichtseiende im Menschen und setzt dieses scheinbar als seine wahrhafte Realität, um es so in seiner Kläglichkeit zu enthüllen. Der Humor tut dies zwar auch, setzt aber immer gleichsam im stillen hinzu: ich weiß ja, daß du das nicht bist, sondern überdem einen positiven, unvergänglichen Kern ewigen Seins in dir birgst. Nun, der Ideenfreund mag den ernsten Humor im Angesicht des Todes behalten. Er mag scherzend einmal dem Tode recht geben, der ja auch nur das Vergängliche, Problematische, Ungelöste der Seele zerstört, — weiß doch der Ideenfreund: das bin ich ja eigentlich gar nicht, sondern mein Selbst ist das Unvergängliche, das der Tod nicht berührt. Wieviel große Männer haben im Angesicht des Todes ihren Humor behalten und über ihren eigenen Zustand gescherzt! Zu dieser Freiheit des Geistes erhebt den Menschen der feste Glaube an die Idee.* Wehrloser steht der Wirklichkeitsmensch dem Tode gegenüber, weil er dem Irrtum mehr ausgesetzt ist, das unmittelbar Wahrnehmbare, die relative Wirklichkeit der Zeit für das Sein zu halten. Er wird daher fürchten, im Tode nicht nur sein Wirkungsfeld, sondern auch die Früchte seiner Arbeit zu verlieren. Er fürchtet im Tode um sein Selbst, weil er nicht weiß, daß der Tod gerade das sittliche Selbst des Menschen erst klar hervortreten läßt. Er ist daher auch nicht fähig, sich dem Tode gegenüber humoristisch zu verhalten, höchstens ironisch. Je größer freilich der Wirklichkeitsmensch ist, desto deutlicher wird angesichts des Todes die Idee vor ihm aufsteigen. Wer aber nie und nirgends zur Erkenntnis der Idee durchdringt, dem bleibt freilich dem * Die Liebe ist aber nur eine Art dieses Olaubens, auf das Individuum gerichtet.
Tode g e g e n ü b e r nur noch die Waffe der Ironie. So müßte sich der rechte Pessimist im Sterben zur Welt stellen. Denn zum Pessimisten wird ja der Mensch gerade dadurch, daß er nirgends das Ewige zu finden weiß, sondern durchaus im Problematischen, Vergänglichen, Nichtseienden stecken bleibt. Ihm muß die Welt zu einem Reiche des Scheines w e r d e n , das keinen tieferen Sinn, keinen Ewigkeitswert hat; er wird daher schon im Leben immer zur Ironie neigen, indem diese ihm erlaubt, die Nichtigkeit des Realen (oder dessen, w a s er so nennt) zu enthüllen. Es gehört freilich eine nicht zu verachtende Geistesgröße dazu, diese Ironie auch dem T o d e gegenüber zu bewahren: denn das heißt ja, die Nichtigkeit und völlige Vergänglichkeit des eigenen Selbstes frei eingestehen. Der Pessimist haßt, der rechte Ideenfreund liebt die Welt. Der Ideenfreund ist der Gefahr des Pessimismus viel weniger ausgesetzt. D e r Pessimismus könnte bei ihm nur entspringen aus der andauernden Erfahrung, daß seine Bemühungen, die Idee zu realisieren, immer wieder scheitern. Aber das braucht ihn dennoch nicht an der Idee irre zu machen. Viel näher liegt für ihn die Gefahr, ein wirklicher Träumer und „grundloser" Optimist zu werden, indem er die Brücke abbricht zwischen der relativen Wirklichkeit und dem Sein der Idee. Er flieht in ein erträumtes Reich der Idee, die so zur Illusion wird, und verzichtet auf weitere Anstrengungen im Dienste der Idee. Die Ideenfreunde sind auch für die Kunst empfänglicher als die Wirklichkeitsmenschen. So schwer sich oft der Ideenfreund in dem schwankenden Dasein dieser vergänglichen Wirklichkeit zurechtfindet, so leicht ist er in der Welt der Schönheit zu h a u s e . In der Kunst ist ja die Natur und die Sittlichkeit bereits in den Dienst der Idee getreten, die sich hier dem Gefühle unmittelbar offenbart. Der Wirk-
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Charaktere
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lichkeitsmensch dagegen ist in der Welt der Schönheit nicht in seiner wahren Heimat: denn hier ist ja alles gleichsam auf die Idee angelegt. In der relativen Wirklichkeit der Natur kann man allenfalls an dem Dasein zur Idee aufsteigen: in der Kunst ist das Gefühl für die Idee umgekehrt erst der Schlüssel für die dargestellte Wirklichkeit. — Wenn die Kunst die Natur und die Sittlichkeit in die Einheit des reinen Gefühles der Idee verschmelzen soll, so ist doch diese Harmonie selbst von verschiedenen Seiten erreichbar. Der eine Künstler geht mehr von der Natur, der andere mehr vom Reiche der Sittlichkeit aus. Es ist leicht einzusehen, daß der Wirklichkeitsmensch leichter für die Kunst zu gewinnen sein wird durch den Künstler, der von der Natur ausgeht.
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116
B
Über Einsamkeit.
E
i n s a m k e i t ! S i e ist d e s M e n s c h e n F r e u n d i n und T r ö sterin, sie ist s e i n e s L e b e n s ä r g s t e r F e i n d . D a s B e s t e w e c k t sie in ihm und d a s S c h l i m m s t e : die S e h n s u c h t , den G l a u b e n a n s E w i g e und Unendliche, den g u t e n V o r s a t z — a b e r auch d a s b ö s e H e r z , die V e r l a s s e n h e i t und Verz w e i f l u n g . Die Melancholie ist ihre F r e u n d i n und die E m p f i n d s a m k e i t ihre T o c h t e r . U n s e r e S e e l e bedarf d e r E i n s a m k e i t und v e r k ü m m e r t d o c h , w e n n sie sich ihr d a u e r n d übergibt. Laßt uns s e h e n , w a s sie uns antut, w a r u m w i r sie bald lieben, bald h a s s e n 1 D e r Mensch ist nichts o h n e den M e n s c h e n . Die G e m e i n s c h a f t mit u n s e r e s gleichen w e c k t u n s e r e Innenwelt. U n s e r G e m ü t e r w a c h t z u r L i e b e und zum Haß, zum Hoffen, B a n g e n und S t r e b e n , u n s e r G e i s t zum D e n k e n und B e g r e i f e n nur im innigen Z u s a m m e n h a n g und V e r k e h r mit u n s e r e n Mitmenschen. Die B e z i e h u n g zum a n d e r e n gebiert Lust und Leid, F r e u den und S c h m e r z e n meines Ichs. Die E i g e n a r t u n s e r e s C h a r a k t e r s bildet sich in d e r bald freundlichen, bald feindlichen B e r ü h r u n g mit a n d e r e n C h a r a k t e r e n . Nein, von H a u s e a u s sind w i r nicht f ü r die E i n s a m k e i t bestimmt, nicht f ü r sie g e b o r e n . Ein M e n s c h , d e r von G e b u r t an den V e r k e h r mit s e i n e r G a t t u n g missen müßte, d e r w ü r d e b e s t e n f a l l s — ein Tier. J a , auch d e r M e n s c h , d e s s e n S e e l e sich v o l l g e s o g e n hat im U m g a n g mit d e r Welt und
Über Einsamkeit
El
Gl
M e n s c h h e i t , kann doch dauernd die Einsamkeit nicht ertragen:
s e i n e S e e l e v e r k ü m m e r t , wenn
die Lichter
aus-
g e b r a n n t s i n d , die die Menschheit in ihm entzündet;
die
G e f ü h l e und Empfindungen e r s t e r b e n ; die E r i n n e r u n g verblaßt, hat.
die e r aus der Welt in s e i n e Einsamkeit Und
dennoch!
Zuzeiten
dürfen wir der E i n s a m k e i t !
lieben
wir,
gerettet
zuzeiten
be-
O b die Einsamkeit uns wohl
o d e r w e h e tut, das kommt darauf an, mit w e l c h e r G e m ü t s stimmung wir
ihr entgegentreten.
Wenn
unser
tiefstes
Lebenszentrum erschüttert ist, wenn die Hast und Unruhe des Alltagsdaseins unsere S e e l e verwirrt, dann rufen wir die Einsamkeit, damit sie uns S a m m l u n g und innere S i c h e r heit w i e d e r g e b e .
S i e zwingt uns dann zur Klarheit
der
Gefühle, s i e beschwichtigt den Sturm der Leidenschaft und läßt die erregten Wellen d e s Empfindungslebens abklingen. A b e r vergeblich versuchen wir uns von der Welt dauernd a b z u l ö s e n , s o l a n g e wir noch
hoffen
und wirklich
leben.
Z w a r ein starkes G e m ü t , das reichbestellt ist mit Gütern d e s G e i s t e s , vermag die Einsamkeit lange zu ertragen, a b e r nur der A s k e t , der nichts mehr wünscht und hofft, wählt s i e zu s e i n e r Lebensgefährtin.
F ü r Stunden a b e r
j e d e r Mensch
Zur Einsamkeit führt
die Sehnsucht.
der Einsamkeit.
bedarf uns
W e s s e n S e e l e sucht nach dem F e r n e n , Un-
e r r e i c h b a r e n : sei e s im Heimweh nach dem Vaterland, sei e s im Verlangen nach der fernen G e l i e b t e n ; der ist gern allein; denn die Einsamkeit erlaubt ihm, seinen G e d a n k e n nachzuhängen:
er
zaubert
sucht ungestört vor Augen. auch
die Einsamkeit
und
sich
die
Bilder
seiner
Sehn-
J a , die Sehnsucht schafft uns ruft sie
herbei:
einsam sein im Gewühl der M e n s c h e n l
o, man
kann
W e n n die S e h n -
sucht, wenn ein tiefer S c h m e r z deine S e e l e f e s s e l t , dann bist du einsam im lautesten S t r o m der Welt.
Du
kannst
immer nur dasselbe denken, du sagst d a s s e l b e Sprüchlein
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— Uber Einsamkeit
— •
tausend und abertausendmal vor dir auf: War' ich doch dort! o d e r : Wie kann das sein! Du bist in Gesellschaft; die Menschen reden dich an — aber du hast Mühe, den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Denn dein Geist ist mit eisernen Klammern wie an einen Punkt geheftet. Du siehst immer dasselbe. O , du bist einsam! Mögen die Lichte im Saale glänzen, mag die festlich geschmückte Tafel prangen, mag die Musik die Fröhlichen zum Tanze fordern: du siehst es nicht, du hörst es nicht. O d e r du gehst auf die Straße, und alle Menschen, die dir begegnen, sind dir im Wege; du siehst sie fast mit Haß und denkst bei j e d e m : Was will « r hier? Er sollte mich allein lassen. Gleichgültigen Leuten, die dir nie etwas zuleide getan, bist du gram. Denn sie wissen ja nichts von deinen Schmerzen und deiner Sehnsucht und gehen achtlos an dir vorbei, als wärst du einer der anderen Glücklichen! Wer das Gefühl nicht kennt, der weiß nicht, w a s Einsamkeit ist. J a , diese Einsamkeit ist gefährlich. Denn die Melancholie ist ihre Freundin. Sie zwingt dich, alles Schlimme, was du erlebt, alles Traurige, was du befürchtest, in den stillsten Winkeln deines Herzens aufzusuchen. Sie lehrt dich grübeln. Jedes W o r t , das dich einmal verletzt, ob es gleich harmlos gemeint w a r ; j e d e s unscheinbare Ereignis, das längst im S t r o m e der Zeit verrauscht ist, und das die Vergessenheit schon gütig in ihre Arme genommen hatte, wird wieder lebendig. Du suchst nach allem, was dich quält, und dein Glück, das Glück, was du genossen, und das Glück, das dir die Sehnsucht zeigt und du vielleicht nie gewinnst, spricht nun zu dir: ich bin nicht bei dir, du bist verlassen. Diese Einsamkeit bricht deinen Willen und raubt dir deinen Lebensmut. Und sie vergrößert alle Leiden. Der Kummer und die Sorgen schreiten wie Riesen durch deine Seele.
Über Einsamkeit Dieser Einsamkeit sollst du dich nicht e r g e b e n , ob sie sich dir gleich einer Freundin anbietet. Aber wie ihr entfliehen? Es ist ein Mittel wider sie, ein einziges, das heißt: Arbeit. Wirke, schaffei Aber manche Menschen sind ihr ganzes Leben einsam. Sie leben in einer Welt, die sie nicht versteht. Die reinsten und edelsten Kräfte ihrer S e e l e werden entweder nicht erkannt und darum nicht geachtet oder s o g a r verspottet. Sie verweben die Eindrücke des Daseins in das Gespinnst ihrer Innenwelt; wenn sie aber ihre Schätze, die sie gesammelt haben, austeilen wollen, ist niemand, der sie empfängt. Sie erbauen sich ihr Lebenszentrum aus Wünschen, und Hoffnungen, die sich nie erfüllen, aus Begriffen, die niemand versteht. Sie leben für die Kultur der Menschheit und fördern sie in sich; a b e r die Zeit und ihre Umgebung ist undankbar und nicht reif für sie. Man verschmäht sie. Die größeren Naturen leiden unter dieser Einsamkeit am meisten. Sie suchen das Ewige; ihre Interessen sind bei dem Unendlichen. Aber alles um sie lebt und webt im Endlichen und Vergänglichen. Und der Tod ist der Freund dieser Einsamen. Er durchbricht ihre Einsamkeit und befreit sie von ihrer Verlassenheit. Er nimmt die Schätze auf, die sie gesammelt und die die Zeit verschmähte, gibt sie der Zukunft, die sie mit reinen Händen in die Ewigkeit streut und der Menschheit ein Gut schenkt, das sie nicht gekannt. Wie mancher gilt in der Welt für glücklich, der völlig einsam seines W e g e s geht! Weib und Kind, Geld und Gut verbinden ihn nicht mit seiner Zeit, weil seine Seele im Zukünftigen lebt. Aber wenn die anderen einsam sein werden, im T o d e , der das Vergängliche zerstört, dann werden sie sich Freunde werben, dann beginnt ihr ewiges Leben. Dem Schuldbeladenen ist die Einsamkeit eine strenge
El
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Uber Einsamkeit
~ H
Richterin. Sie weckt das Gewissen. Die Stimme, die der Lärm des Tages und der Rausch des Augenblickes übertönte, wird laut. Drum flieht der Sünder die Einsamkeit. Aber g e r a d e sie ist seine beste Freundin. Denn sie weckt in ihm die Reue und den guten Vorsatz. Sie schenkt ihm die Selbstbesinnung. Edle Naturen, die gefehlt haben, suchen nicht die Vergessenheit des Rausches, sondern die Einsamkeit. Auch dem Künstler ist die Einsamkeit zuzeiten ein Bedürfnis und eine wahrhafte Freundin. Bist du einmal mit freiem und empfindsamem Herzen allein durch die Stille der Nacht g e g a n g e n ? Und hat die Einsamkeit zu dir gesprochen? O, ihre Stimme ist laut und vernehmlich! Über dir tausend und abertausend Sterne, die Augen der Unendlichkeit! Bei ihrem mildem Lichte erkennst du nur ungewiß die Umrisse der Berge und Bäume. Dringt irgend ein Geräusch an dein Ohr, so klingt es wie aus weiter, ungreifbarer F e r n e ! Der Wind erhebt sich. Die Äste der Bäume schlagen aneinander. Klingt es nicht wie das Seufzen der Nacht? Die Einsamkeit weckt d a s Gefühl des Ewigen. Sie lenkt den Geist zur Idee. Deshalb braucht der Künstler die Einsamkeit. Was er im Lärm der Welt erlauscht, was er erlebt und erlitten hat — alles, alles wird erst recht sein eigen, wenn er es in die Einsamkeit trägt. In ihren Armen erwacht es zu neuem Leben. Hier scheidet sich das Ewige vom Vergänglichen, das Sein vom Nichtsein. Ja, der Anblick des Erhabenen versetzt die empfängliche Seele von selbst in Einsamkeit. Der Anblick der Natur in ihren größten und gewaltigsten Äußerungen entführt uns gleichsam wider Willen dem lauten Treiben des Lebens. Die überwältigende Schönheit der Alpenwelt, die gewaltige Majestät des Meeres ziehen uns in ihren Bann und machen uns einsam vor den Leuten. S o auch
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— Über Einsamkeit
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die großen W e r k e der Kunst: wir versenken uns in sie. Aber diese Einsamkeit isoliert uns nicht und schwächt nicht die Seele. Sie entreißt uns nur dem Vergänglichen; sie tötet die Macht der Zeit und weckt die Kraft der Ewigkeit. Sie stimmt uns nicht feindlich, sondern freundlich gegen die Menschen. Denn die Idee der Menschheit ist durch sie in uns lebendig geworden. Einsamkeit! Sie ist des Menschen Freundin und Trösterin, sie ist seines Lebens ärgster Feind. Das Beste weckt sie in ihm und das Schlimmste: die Sehnsucht, den Glauben ans Ewige, Unendliche, den guten Vorsatz — und das böse Herz.
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Über die Freundschaft.
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ch glaube an die Freundschaft und ihre beseligende Kraft; und wenn ich aufhören müßte, an sie zu glauben, so möchte ich aufhören, zu leben. Die Freundschaft hält in uns das Gefühl und Bewußtsein unserer göttlichen Bestimmung wach; solange wir der Freundschaft fähig sind, glauben wir noch an die Menschheit. Die Identität der Lebenszentren, d. h. all dessen, um das sich die Innenwelt des Individuums anschließt wie der Kristall um seinen Kern, ist die Grundbedingung der Freundschaft. Die Freundschaft setzt nicht voraus, daß man in allen und jeden Einzelheiten gleichdenkt, wohl aber, daß man sich bemüht, gleichdenkend zu w e r d e n ; und das hat zur Voraussetzung die Gemeinsamkeit der Lebensziele. Wir suchen alle, bewußt oder unbewußt, die Idee der Menschheit zu erreichen. Und wenn wir nur in dem Verlangen nach ihr einig sind, so können uns die Differenzen des Alltags nicht trennen. Diese tiefe, innere Übereinstimmung in den höchsten Zwecken des Daseins e r m ö g l i c h t auch erst das Verständnis in den Einzelheiten des praktischen Lebens. Wir können ja von einer Vorstellung, einem Begriff oder Gefühl eigentlich erst dann sagen, daß wir uns sie recht zu eigen gemacht haben, wenn wir sie in ein bestimmtes Verhältnis zu dem Endzweck unserer vernünftigen Natur gesetzt und so zu einem Bestandteil unserer Eigenwelt gemacht haben. Von dieser verbindenden Einheit aus also empfangen wir alles, was der Freund
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Uber die Freundschaft
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uns gibt. Es ist ein edles Vorrecht der Freundschaft, das, was man erkannt und erlebt hat, dem Freunde mitzuteilen: denn man möchte mit und in dem Freunde wachsen. Jedes Wort, das der Freund zum Freunde spricht, ist eine Seelenbrücke, auf der die Gefühle hin und hergehen. Der Freund legt seine Gefühle und Gedanken in die Seele des Freundes und schöpft sie bereichert und verklärt daraus zurück. Der bloße Wille, im Freunde überall nur das Wahre und Gute zu sehen, leitet die Seele mit feinem Instinkt überall auf den Wahrheitskern, den selbst der Irrtum des Freundes immer enthält. S o ist wirklicher Freundesrat und aufrichtiges Freundeswort ein Läuterungsbrunnen des Gemütes. Auch sind alle unsere Werke eitel, wenn sie nicht in der Seele eines Freundes nachzittern: dort allein ist der wahre Probierstein ihrer Würdigkeit. Wir brauchen nicht blind zu sein gegen die Mängel unserer Freunde und müssen nicht schweigen zu ihren Fehlern; aber jedes Wort des Tadels, das wir an sie richten, muß durchdrungen sein von jenem Ton der Liebe, der da sagt: das ist alles nur dein Außenwerk, du selbst bist groß und gut. Es gibt daher auch keine besseren Lehrer als Freunde und Liebende: denn was sie unserem Verstände darbieten, ist unserem Herzen lieb und wert, weil es von ihnen kommt; so ergreifen wir's gern und leicht.* Eine Freundschaft, die nicht im tiefsten Grunde unseres Gewissens wurzelt, ist nicht rein. Die Achtung vor dem Freunde muß so groß sein, daß wir an ihm unser Tun und handeln prüfen können. Wenn wir etwas wünschen oder zu tun beabsichtigen, was wir dem Freunde verhehlen möchten, s o kann's nicht gut sein. Der Freund soll unsere Freuden und Leiden teilen, und es darf kein Winkelchen * „ L i e b e und Not sind doch die besten Meister" (Dichtung und Wahrheit, Qoethe).
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Über die Freundschaft
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unserer Seele geben, das ihm verborgen bliebe. Ein Freundeswort in der Not ist dem Gemüt ein Zauberschlüssel, der seine Tore weit auftut. Darum ist es eine der schlimmsten Sünden, Freundschaft zu heucheln, wo wir sie nicht empfinden. Denn wer dem Menschen seine Geheimnisse stiehlt, der stiehlt ihm sein Allerheiligstes. Die Freundschaft tastet sich immer von den Gefühlsäußerungen und Worten zu ihrem Ursprung: sie begnügt sich nie mit fertigen Resultaten, sondern sucht immer die Quellen und das Ziel. Daher können wir einen wahren Freund schwerlich über unsere verborgenen Gefühle und Gedanken täuschen. Nichts ist g e w i s s e r , als daß nur das Positive, das Wahre und Gute in den Menschen die Freundschaft begründet.* Wo die Freundschaft ihren Ursprung hat, da schöpft sie ihre Dauer her. Ist sie aus der Gemeinschaft kleinlicher Interessen entsprungen, so vergeht sie mit diesen; wurzelt sie in der Tiefe des Gemütes; so kann kein Wandel der Zeit ihr etwas anhaben. Die Freundschaft muß gleichsam die Substanz unseres Lebens sein: die Akzidenzien, die Eigenschaften und Inhalte der Seele mögen sich verwandeln und v e r ä n d e r n ; aber geruhig muß die Einheit beharren, welche die Freundschaft begründet. In der Freundschaft soll man sich nicht stören oder irren lassen durch fremdes Wort und Wille, durch böse Nachrede oder Wechselfälle des Lebens: ist sie doch das Heiligtum des Herzens. Menschen, die ihre Freundschaft aufgeben, sei es aus Menschenfurcht oder Eigennutz, das sind elende Wichte; sie berauben sich auch selbst der höchsten Güter des Lebens und des Anrechtes auf Achtung. Eine Freundschaft ist um so fester, je mehr sie * „ G e g e n g r o ß e Vorzüge eines Anderen gibt es kein Rettungsmittel als Liebe," Goethe, Wahlverwandtschaften.
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durch Leid erkauft und geweiht ist. Ich beklage die Menschen am meisten, denen das Leid ausweicht und die nie aus dem Becher der Sorgen und der Entsagung getrunken haben: denn sie wissen nicht, w a s in ihnen ist und was sie umgibt. Du sollst die Entsagung nicht hassen und die Schmerzen, die sie dir gebiert: denn, was deine Sehnsucht verlangte und was du nicht besitzen darfst, das trägst du fortan reiner und schöner im Gemüt. Die Entsagung nimmt allem, was sie uns raubt, das Unsichere, Chaotische, Unvollkommene und zeigt es uns in ruhiger Klarheit, göttergleich, fleckenlos. Hättest du nicht, was dir das Schicksal geschenkt, mit Lebensstaub und Kleinheit besudelt? Nun aber freue dich seiner lauteren Schöne! Wie die F e r n e mit zartem Duft die Natur verklärt, daß wir ihre Mängel und ihr Häßliches nicht wahrnehmen: so ist die Entsagung gleichsam die Ferne und Dämmerung unseres Gemütes. So ist die Freundschaft, die sich auf entsagende Liebe gründet, die reinste und edelste der Welt. — Aber nicht nur das Unglück ist ein Probierstein der Freundschaft, sondern auch das Glück. Wer das Glück in sich selbst genießen kann, ohne des Freundes zu gedenken, der weiß nicht, was Freundschaft ist. Der wahre Freund genießt sein Glück erst in der Freude des Freundes. — Die Freundschaft taucht alles in ein rosiges Licht: das Schwerste, dem Freunde zuliebe getan, wird leicht. Du willst nicht leiden? S o wirst du das Glück nie erblicken; denn das Haus der Schmerzen ist die Wohnung des Glückes. Es ist kein Leben um dich, wenn du nicht alles, was dich umgibt, mit Leben füllest. Ja, wenn du recht tief im Anderen lebst, dann lebst du erst in dir. Wir sollen also alles Gute in der Welt fördern und alle Menschen lieben: aber wie wir an irgend einem begrenzten Punkt mit der Verwirklichung des Guten beginnen müssen, s o auch mit der
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M e n s c h e n l i e b e ; das macht die F r e u n d s c h a f t so heilig. Die tiefen Gefühle, deren wir nur g e g e n einige w e n i g e F r e u n d e fähig sind, haben die M ä r t y r e r d e r Menschenliebe gegen die g a n z e Menschheit e m p f u n d e n : weil a b e r ihre F r e u n d e sich u n t e r e i n a n d e r nicht verstanden, sind sie selbst auch nicht v e r s t a n d e n w o r d e n . — Alle Menschen mußt du z w i n g e n o d e r bitten, die besten G a b e n deines Geistes anz u n e h m e n : nur der F r e u n d nimmt sie willig und ungefragt. Eifersucht ist d e r w a h r e n Freundschaft wie der reinen Liebe f r e m d : eine F r e u n d s c h a f t o d e r eine Liebe, die uns von d e r Welt isoliert, ist nicht tief g e n u g . W e r des Freund e s sicher ist, der braucht ihn der Welt nicht zu rauben. Man soll die G e g e n w a r t d e r F r e u n d e aufsuchen, soviel es das Leben und die U m s t ä n d e e r l a u b e n ; denn wie G o e t h e s a g t : „ E s ist g a r nichts nütze, daß man sich von denen e n t f e r n t , die man liebt; die Zeit geht hin und man findet keinen Ersatz." A b e r die E n t f e r n u n g soll die Freundschaft v e r s t ä r k e n , nicht abschwächen, denn die rechte Freundschaft beruht auf g e m e i n s a m e r Sehnsucht. E s ist leicht, sich alleine zurechtzufinden, s o l a n g e das helle Licht d e s T a g e s herniederflutet und alles leuchtend, klar und w o h l g e o r d n e t ist; a b e r w e n n die D ä m m e r u n g der S o r g e n und d a s tiefe D u n k e l der Schmerzen auf uns nieders i n k t , da bedürfen wir d e r leitenden F r e u n d e s h a n d . — Wenn die S t u n d e der Sehnsucht kommt, w o dein Herz aufwallt und glüht nach den goldenen Früchten d e s Lebens, w o dir alles nichtig scheint, w a s du bisher Freundliches auf deinem P f a d e gepflückt; w e n n die große, einzige Leidenschaft deine S e e l e erfüllt und dein Gemüt e r b e b t unter den S t ü r m e n eines u n g e k a n n t e n Gefühles, — dann scheint dir dein bisheriges Leben ein verlorenes, dein zukünftiges nur in d e m Einen, dem G e g e n g e n s t a n d deiner Sehnsucht und deines V e r l a n g e n s l e b e n s w e r t . Aber w i s s e : diese Flutwelle
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ist dir nicht gesandt, damit du glücklich seist, sondern damit du tapfer und reif wirst. Führt sie im SchoQe die Arznei der Schmerzen, so danke dem Geschick: es ist Zeit, daß du erwachest. Die großen Gefühle sollen deine Begeisterung entfachen: du sollst hinfort in einer reineren, edleren Welt leben. Die Begeisterung, die innerste Seele großer Taten, läßt traurig ihre Flügel sinken im Kreise argwöhnischer und kleinmütiger Seelen: sie fliegt auf bis zum Sternenzelt, wenn der Odem der Freundschaft und Liebe sie umwehet. O heiliger Rausch der Begeisterung, durchflute und durchzittere mein Herz! Fache an die heilige Flamme der Sehnsucht und trage mich ins Paradies der Menschenliebe! Ach, der armen Abgestorbenen, in deren Brust der Sonnenschein der Hilfsbereitschaft erloschen ist! Verweben und einbetten will ich mich in die Leiden meiner Brüder. Es ist viel Finsternis in d e r Z e i t ; so laßt uns unsere Seelen entzünden. Es ist viel Not und Elend in der Zeit; so ist der werktätigen Menschenliebe ein reiches Feld bereitet. Die friedlosen, zerrissenen Seelen, die das Schicksal zerzaust hat, kann nur die Freundschaft retten. Der Freund fesselt ihre Wünsche und Sorgen, ihre Freuden und Leiden, ihre G e d a n k e n , Gefühle und Leidenschaften mit goldenen Ketten der Liebe an sich und führt sie sicheren Zielen zu. Fremden Menschen gegenüber ist Nachsicht Pflicht: gegen den Freund Bedürfnis. Auch erzieht die Freundschaft zur Arbeit. Denn die Stetigkeit, welche die Seele der Freundschaft ist, gibt auch der Arbeit den Nährboden des Erfolges; und dann adelt die Freundschaft die Arbeit und macht sie leicht; die gleichgültigste Beschäftigung gewinnt Sinn und Bedeutung durch die F r a g e : was w ü r d e der Freund dazu s a g e n ? Wir tun alles f ü r ihn. Jedes W e r k , das wir aus uns herausstellen, enthüllt dem Freunde eine neue Seite
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d e s Charakters und einen Teil unserer Seele — und wollten wir uns vor ihm schämen müssen? Warum ist es s o unendlich süß, das Tun und Treiben des F r e u n d e s o d e r der Geliebten zu beobachten? Weil uns die Liebe den Schlüssel zu ihrem Wesen g e g e b e n hat und wir nun mit tausend Freuden d a s , was wir an ihnen lieben, in ihrem Wesen wiedererkennen. Die Frauen haben ein besonders zartes Gefühl für das Gute und R e i n e im Menschen: w e r daher von edlen Frauen geliebt w i r d , der kann nicht ganz schlecht sein. Die Freundschaft ist die einzig erlaubte Selbstsucht: sie sucht im Freunde das sittliche Selbst. D a s ist eine selbstlose Selbstsucht! Nein, wahrlich: echte Freundschaft ist selbstlos: sie begehrt nichts, s o n d e r n gibt und schenkt; und gerade dadurch gewinnt sie sich die köstlichsten G e g e n g a b e n : Dankbarkeit, Liebe und Vertrauen. W e r rechte Freundschaft genossen hat im Leben, der hat auch das höchste Glück erkannt: denn reinere Gefühle sind dem Menschen nicht gegeben, als das Bewußtsein, geliebt und verstanden zu werden.* Die Freundschaft ist auch eine rechte Gottsuche: wir suchen, achten und verehren im Freunde die Idee des Guten, d. i. die Idee der Menschheit. Menschenliebe ist, wir haben es schon gesagt, nur gesteigerte und erweiterte Freundschaft. Denn w e r an seinen Freund glaubt — und wie wäre Freundschaft ohne Vertrauen möglich? — , der bekennt damit als seine Überzeugung, daß der Freund aus allen Irr- undWirrsalen immer schließlich den W e g zum Guten finden w e r d e : so sind der F r e u n d e s - und der Menschheitsglaube nur der Ausdruck unserer göttlichen Bestimmung. * „Auf d i e s e m b e w e g l i c h e n Erdball ist doch nur in der wahren Liebe, der Wohltätigkeit und der Wissenschaft die einzige Freude und R u h e . " (Goethe an Frau von Stein 1781.)
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Solange da noch einen Freund hast, mußt du auch nie ohne Hoffnung sein, und wäre dein Freund so arm und elend wie du: denn wo ein Herz in der Einsamkeit dem Leiden nicht stand hält, da besiegt oft der Mut treugeeinter Seelen das schlimmste Elend. Ja, in der Freundschaft gesellen sich Glaube, Liebe und Hoffnung. Darum sollen wir immer daran denken, daß uns der Tod den Freund jeden Augenblick rauben kann: dann würden wir uns bemühen das Ewige in ihm zu entdecken, das uns die Zeit nicht nehmen darf. Wer kennt sich so genau, daß er in jedem kritischen Moment des Lebens seines moralischen Charakters sicher wäre? Wenn aber der Glaube des Freundes uns trägt, können wir nicht straucheln. Wer kann in Gegenwart des Freundes roh oder schlecht sein? Oft genug auch hat der Glaube der Freunde den mangelnden Beifall der Welt ersetzt: Künstler, Gelehrte usw. sind aus der Welt geschieden, ohne den verdienten Beifall zu finden, aber der feste Glaube der Freunde an ihr Talent und ihre Fähigkeit hat sie immer wieder aufgemuntert und angespornt; er hat ihnen auch die Substanz des Ruhmes ersetzt. Nicht jedem ist eine Wirkung in die Breite gegeben. Wer auch nur einem einzigen Menschen im Leben etwas gewesen ist, der hat nicht umsonst gelebt. Was die Freundschaft so liebenswürdig macht, ist, daß hier alles ohne Selbstdünkel und Überhebung geschieht: denn was wir dem Freunde geben, geben wir uns selbst. Daher ist die rechte Gesinnung gegen den Freund immer die Dankbarkeit Wer karg ist in der Freundschaft und dem Freunde sein Herz verschließt, der verliert den ganzen Segen der Freundschaft. Im selben MaQ du willst empfangen, mußt du geben; Willst du ein ganzes Herz, so gib ein ganzes Leben. (RQckert.)
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Komplimente und Redensarten verschwendet man an Menschen, denen man nichts zu sagen hat oder die einem gleichgültig sind: dem Freunde redet man zur Seele. Jedes Kompliment ist eigentlich beschämend und beleidigend für den, an welchen man es richtet; es zeigt, daß man sich ans Äußere hält, weil man nichts Innerliches zu entdecken wußte. Freilich fällt dieser Vorwurf leicht auf denjenigen zurück, der sich in Redensarten und Komplimenten bewegt: er mag nicht fähig gewesen sein, bis zum wahren Werte des Menschen durchzudringen. Wie kulturfördernd die Freundschaft ist, kann man an der Sünde bemerken: einer Sünde gegen den Freund schämt man sich doppelt, wenn die Freundschaft nur tief und echt ist. Würde nun unsere Liebe zur Allgemeinheit der Menschheit den Grad erreichen, den sie in der Freundschaft annimmt, wieviel reiner und besser wäre unser Lebenswandel I Jede echte Liebe und Freundschaft wirkt an sich schon veredelnd, weil sie uns Freude am Menschen gibt: sie führt unser Herz dahin, wohin es die Pflicht ruft. Wer in der Freundschaft nicht treu und ehrlich ist, der taugt auch im öffentlichen Leben nicht viel. Wie kannst du sagen, du seist dem Staate treu, den du nicht siehst, wenn du dem Freunde nicht treu bist, den du siehst. Es gibt keinen Menschen, von dem wir nichts lernen könnten. Wenn wir oft bei näherer Bekanntschaft von einem Menschen enttäuscht sind, so liegt es zumeist nur daran, daß wir etwas anderes, nicht aber etwas Größeres, bei ihm gesucht hatten; wir haben ihn auf dem einen Felde überschätzt und dafür die wahre Größe seiner Seele nicht gefunden. Der Freund nun, der im höchsten Lebenszweck mit uns identisch ist, muß uns in gewisser Hinsicht ergänzen. Es ist eine gütige Gabe des Schicksals, wenn wir uns der Schranken unseres Geistes an der höheren Vollendung des
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F r e u n d e s bewuQt werden: denn alsdann haben wir sie schon überwunden. Der Irrtum isoliert, die Wahrheit verbindet. Gemeinschaften, die durch den Irrtum begründet w e r d e n , sind vergänglich und zerfallen s o f o r t , wenn sich die Wahrheit blicken läßt. Die rechte Freundschaft, weil sie auf der Wahrheit beruht, ist daher dem Menschen s o wohltätig in seinem Irrtum: sie gibt ihm stets wieder den sicheren Ausgangspunkt, von dem aus er sich im Labyrinth d e s Lebens zurechtfinden kann. J e niedriger der Mensch steht, desto mehr wird er zur Eifersucht neigen: denn er hat ja um s o mehr seinesgleichen, die ihm den Freund rauben könnten. Auch ist Eifersucht immer ein Zeichen von Mißtrauen gegen sich selbst; w e r a n d e r e der Treulosigkeit für fähig hält, ist selbst im tiefsten Herzen nicht treu. Der Zweifel an der Menschheit beruht zumeist auch im Zweifel an uns selbst. Das Glück macht sich mit jedermann gemein: Leid und Kummer sind wählerisch. G e r a d e die tiefsten Seelen sind schamhaft im Leide: sie verbergen ihre Schmerzen vor der Welt und lassen nur auserlesene Herzen an ihrem Schicksal teilnehmen. Daher soll man es als einen Vorzug empfinden, mit dem Freunde leiden zu dürfen. Umgekehrt soll man aber auch selbst seine Seelenschmerzen nicht durch breite Öffentlichkeit profanieren: Menschen, die uns fremd sind, sehen doch nicht bis auf den Grund unseres Herzens und werden daher unsere tiefste Trauer nie begreifen. Nur der Freund kann verstehen, was uns kränkt, weil e r die feinsten Fäden kennt, die jedes Erlebnis mit allen Bestandteilen unserer Innenwelt verknüpfen. Die kalte Welt beurteilt unsere Leiden aus unserer Schuld: der Freund unsere Schuld nach unseren Leiden. Die Augen der Lebendigen sehen nur das Leben, und Vergängliches und Ewiges mischt sich ihren Blicken. Wenn
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aber die schwarzen Schatten der immerwährenden Nacht auf uns herabsinken; wenn sich der W e g ins Dunkle kehrt und der T o d seine Rechte geltend macht: dann scheiden die Freuden und Sorgen des Alltags; alles Ungelöste, Ungeklärte unserer Seele rauscht dahin mit unseren Fehlern und Irrtümern, und nur das E w i g e und Wahrhaftige bleibt der Zukunft erhalten. schnell im Strom
S o erlischt dein individuelles Bild
des geschäftigen Daseins: doch bleibt
ein Rest deiner Eigenart bewahrt im Gemüte des treuen Freundes, der ein Dein-Gedenken pflegt und die Dankbarkeit der Welt durch seine Liebe abträgt. Im Leben und im T o d e drum so ist die Freundschaft unsere Stütze, köstlichste Habe und lieblichste Pflicht. Der Mensch hat nichts so eigen, So wohl steht ihm nichts an, Als daß er Treu' erzeigen Und Freundschaft halten kann.
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BS BS BS BS BS BS BS BSBS Über die Macht der Idee und über den Idealismus des Lebens.
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n trüber Stunde spreche ich zu mir: „ E s ist nicht gut bestellt um uns Menschen!
Da draußen harrt eine Un-
endlichkeit des Seins, daß w i r ihre P r o b l e m e lösen sollen; in uns eine Unendlichkeit des Gefühls, die wir in unserer Endlichkeit sollenI"
als Sinnenwesen
beherrschen
und
erdulden,
In guter Stunde setze ich hinzu: „ A b e r uns ward
ein unendlicher Geist."
Im Dienste der Idee, im Suchen
und Streben nach der Idee liegt auch der Anteil, den der Einzelne an ihr gewinnen kann.
Nicht als ob irgend ein
Mensch zu irgend einer Zeit wirklich vollkommen w ä r e : das ist unmöglich. A b e r w o w i r die Menscheit durch unser Tun und Denken auch nur ein kleines Streckchen der Idee entgegenführen, da saugen wir gleichsam den Abglanz der Idee und ein Stückchen Ewigkeit in uns.
Das Sein der
Idee ist unendlich, unser Wissen aber immer nur endlich und relativ; daher ist des Problematischen,
Ungewissen,
Ungelösten so viel im Leben; daher müssen w i r so viel leiden und dulden.
A b e r ist es nicht dennoch töricht, im-
mer ins Dunkel zu sehen und uns am Chaos gleichsam festzusaugen? W i r sollten es nicht anerkennen!
Laßt uns
dahin blicken, w o Licht ist; und w o keines ist, dort wollen w i r es entzünden.
Schon w e r der Menschheit aus der Un-
endlichkeit der Probleme, die ihrer noch harrt, einige klar zum Bewußtsein bringt, fördert die Kultur gewaltig.
Man
sagt wohl oft: eine Wahrheit sei zu früh gekommen für El
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eine bestimmte Zeit; und man entschuldigt reaktionäre Handlungen und Lehren mit der Unreife der Zeit und Menschheit für das Wahre und B e s s e r e ; aber man sollte b e d e n k e n , daß die neue Wahrheit auch eine neue Wirklichkeit in sich birgt, welche das Hohle, Nichtige besiegen und die Welt umgestalten wird und muß. Wenn eine neue Wahrheit nicht allsogleich ins Bewußtsein der Menge aufgenommen wird, s o habt ihr dennoch nicht unrecht getan, sie auszusprechen; denn sie ist nun da, wirkt und schafft und kann auf die Dauer nicht umgangen werden. W a s nicht reif ist, wird ihr entgegenreifen. Und so ist es auch mit Institutionen. Überall, w o sich große Ideen zur Wirklichkeit durchringen, geht ein H a l b e s , Schein-Wirkliches zugrunde: der Reichtum ihres warmen Lebens muß das tote Bettelwerk der V e r w e s u n g abschütteln. Deshalb machen sie in ihrem ersten Erscheinen den Menschen s o oft den Eindruck einer bloß negativen Macht; denn unsere Augen sind so sehr im Blendwerk des Versinkenden gef a n g e n , daß wir das W e r d e n d e nicht erkennen können. D a ß sich aber die Menschen s o oft hartnäckig dem Besseren widersetzen, liegt daran, daß auch die unvollkomm e n e Wirklichkeit, an der sie hängen, einmal ein Besseres g e w e s e n ist, ein Fortschritt gegen eine noch unvollkommenere Welt. Und wenn man dann den Leuten die Idee zeigt und vom Sein spricht, so sagen sie: das ist alles nicht wahr! Sie meinen a b e r : das ist alles nicht wirklich! Und darin haben sie recht, aber es beweist nichts; denn man will ja g e r a d e , es soll wirklich werden. Wer dem Fortschritt entgegenwirkt und die Menschheit auf irgend eine, sei es noch so hohe Stufe der Kultur ein für allemal festlegen will, der soll wissen, daß er das Leben tötet. Denn gesundes Leben ist Fortschritt. Man sollte sich vielmehr bemühen, gegen die Vergangenheit zugleich s o
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konservativ u n d s o fortschrittlich wie möglich zu sein. Begriffe und Institutionen, welche sich auf einer niederen Stufe der Entwicklung d e s KulturbewuOtseins der Menschheit bewährt h a b e n , soll man auch den erweiterten P r o blemen g e g e n ü b e r zunächst auf ihre Brauchbarkeit, Tragweite und Kraft hin prüfen u n d , wenn sie sich bewähren, als alte F r e u n d e und Helfer in der Not hochschätzen. Wenn sie a b e r am neuen Sein versagen, soll man sie durch bessere zu ersetzen suchen. Man verkennt völlig die Realität der Ideen, und man macht sie zu Illusionen, wenn man in ihnen transzendente Mächte oder bloße Vorstellungen im Kopfe träumender S c h w ä r m e r sieht: w e s s e n S e e l e die Idee ergreift, wer die Macht der Idee und ihre Wahrheit anerkennt, dem wird sie zum Quellpunkt seines Daseins. Freilich kommt der Idee keine Sinnen-Wirklichkeit z u ; sie hat ihre Realität im Willen und in der Zukunft. Indem aber die Idee die Zukunft des Individuums oder der Menschheit f o r m t , so gebiert sie die zukünftige Wirklichkeit. Wir w o l l e n die Idee: und damit versenken wir gleichsam die Keime des Wachstums unserer Seele in ihren fruchtbaren Wurzelboden. Man muß sich das Verhältnis g e r a d e entgegengesetzt denken, wie Hegel es tut: nach diesem ist die immer weitergehende Verwirklichung der Idee des Guten durch die Vergangenheit mit Notwendigkeit bedingt; der dialektische P r o z e ß der Idee selbst erzeugt kraft der immanenten Vernünftigkeit die höheren und höheren Momente. Aber im Gegenteil: die Idee ist darum der Born d e s zukünftigen Guten, weil sie vom Willen ergriffen wird. Nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft verwirklicht die Idee. Die Philosophie der Geschichte, welche im Verg a n g e n e n , also auch im Vergänglichen, das Ewige aufsuchen soll, kann dies nicht finden, wenn sie glaubt,
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irgend Endliches, Vergängliches der Idee gleichsetzen zu können; auch die gesamte Vergangenheit (wenn dieser Begriff, weil eine abgeschlossene Unendlichkeit enthaltend, nicht widersprechend wäre) enthält nicht die Idee. Sondern das E w i g e kann hier nur erkannt werden in der R i c h t u n g d e s Vergänglichen auf die Idee, welche sich in den Handlungen und Institutionen vergangener Zeiten offenbart. Man hilft sich noch heute oft in manchen Lehrbüchern der Physik bei der Darstellung der Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität mit der Theorie der Fluida, obgleich die fortschreitende Forschung dieselbe längst verlassen hat; man w e n d e t im Recht und in der Verwaltung noch heute altehrwürdige Gesetze und Verordnungen a n , die dem RechtsbewuOtsein der Zeit längst widersprechen; im konventionellen Umgang der Menschen untereinander bedient man sich leerer F o r m e l n , die ihren Inhalt längst verloren haben usf. S o sehen wir überall eine versinkende Wirklichkeit innerhalb des rechten und echten Daseins. Beide zu erkennen und in seiner S e e l e zu s o n d e r n , ist die vornehmste Pflicht des Ideenfreundes. Er muß immer durch den Schleier der G e g e n w a r t in die Zukunft zu sehen trachten. Wie häufig lastet die Gegenwart nur deswegen so schwer auf unserer ermüdeten S e e l e , weil wir nur die a b s t e r b e n d e Wirklichkeit sehen. Wenn du den brennenden Schmerz der Unerreichbarkeit der Idee überwinden willst, so schreite ihr tapfer e n t g e g e n : in deinem Willen und deiner Sehnsucht wird sie lebendig sein. Die Aufgabe des Kulturfortschrittes ist vornehmlich eine doppelte: das bestehende Wissen zu vertiefen und die Idee des Guten und der Schönheit zu fördern, so also das Kulturbewußtsein der Menschheit an Wahrheit, Sein, Güte und Schönheit reicher zu machen — und sodann diesen Reichtum jedem Einzelnen als Inhalt seines be-
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sonderen Bewußtseins zuzuführen. Wie nun der Einzelne, indem er seine Kraft erprobt, auch an Kräften zunimmt, so auch die Menschheit Ihre Fähigkeit zu schaffen, zu leiden, zu kämpfen wächst, wenn dann auch das Resultat des Fortschrittes sich häufig der Wahrnehmung entzieht. Durch Kämpfen, Leiden und Wirken sollen wir groß werden, damit das Reich Gottes von dieser Welt werde. Die Geschichte, welche den Vorgang der Verwirklichung der Idee im Bewußtsein der Menschheit zu verfolgen hat, sollte uns nicht nur von der Relativität und folglich Unvollkommenheit jeder Wirklichkeit, sondern zugleich auch von der Heiligkeit und Größe der Idee selbst und von der Unendlichkeit der Vernunft überzeugen. Wir gewinnen die richtige Stellung zur Vergangenheit und Zukunft, wenn wir bedenken, daß die Wirklichkeit vergangener Jahrhunderte immer nur ein V e r s u c h zur Ergreifung der Idee war, wie die Zukunft für uns die stets erneute Aufgabe derartiger Versuche birgt. Also ist das Vergangene zwar heilig durch seine Beziehung zur Idee, aber durch seinen ewigen Abstand von ihr auch seines absoluten Wertes entkleidet. Die Zukunft aber wird zum Wecker unseres Gewissens, weil sie die Fehler und Irrtümer der Vergangenheit abstreifen soll. Es ist ein mühsames Wandern in der Welt! Kaum haben wir einen Hügel erklommen, so sehen wir einen Berg vor uns. Und dies gilt nicht nur für die Gesamtheit der Menschheit, sondern auch für den Einzelnen. Aber nur Mutl Unsere Last ist nie größer, als wir sie tragen können. Wir tragen Tag und Nacht in unserer Seele, Hölle und Himmel: und solange wir suchend und irrend auf Erden wandern, werden sich beide bekämpfen. Aber unsere tiefste Sehnsucht geht nach dem Licht, und das Licht wird endlich siegen. Denn nur die Wahrheit ist, und die Lüge hat keine
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Existenz. Wie groß ist der Mensch, der dem Tode entgegengehend dennoch unerschütterlich ans Leben glaubtI Es ist wahr, unser Ich lebt nicht ewig fort, sondern gehört dem Tode; a b e r das moralische Selbst ist ewig. Ja, nehmt nur den Gedanken recht in eure Seele auf, daß der Tod vergänglich und das Leben ewig ist. Denn das Leben ist die Arbeit und der schaffende Geist. Vertraut nur eure Werke und Gedanken der Ungewißheit der Zukunft: sie ist sicherer und w a h r e r als die Gegenwart. Wenn wir die Eindrücke der Welt leidend empfangen, statt sie bildend zu gestalten, werden wir bald im Sumpfe der Notwendigkeit untergehen. Wer die Dinge ¡und Ereignisse zu selbständigen Wesen macht, den erdrücken sie endlich. Seht doch zu, wie die Empfindungen eurer Sinne, wie Leiden und Freuden die Schaffenskraft eures Geistes aufrufen! Befestigt sie in dauernden Gedanken! Der Glaube an ein unerbittliches Schicksal zwingt uns in seine Macht; wer aber kühn an seine Freiheit glaubt, der ist frei. Willst du das Sein und die Seele mit dem Schöpfeimer ausschöpfen? Der Wille und der Geist sind unendlich. Wenn sich die Erde dreht, so ist ihr Mittelpunkt in Ruhe; so mag denn auch die Welt da draußen und das Besitztum unserer Seele wechseln, wenn nur der Mittelpunkt und gleichsam der Jungborn unseres Wesens unverändert bleibt: die Sehnsucht nach der Idee. Freilich, wir lechzen oft nach einer Wahrheit, die, wenn wir sie gewonnen, uns von uns selber scheidet und uns zwingt, das Liebste, was wir hatten, aus unserer Seele zu verbannen. Und doch! Sollten wir deshalb ewig im Finstern schreiten? Und wenn du es auch nicht gleich gewahr wirst: die neue, so schmerzliche Einsicht führt dir endlich ein neues Größeres zu, d a s dir den Verlust ersetzt. Wir sollten die Geburtswehen der Erkenntnis nicht scheuen.
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Gedanke des Todes für ein leidgequältes Herz so Verlockendes, Süßes, daß er sich gleichsam wider Willen immer wieder aufdrängt? Er nimmt uns alle Schmerzen und Sorgen, er nimmt uns die Erinnerungl — Ja, aber er raubt uns auch die Fähigkeit, zu wirken und zu schaffenI Das merke, armes Herz: so klein und gering ist keiner, der nicht der Welt noch ein Wort oder eine Tat zu geben hätte, die das Leben rechtfertigt. Und die letzte Ruhe kommt noch früh genug. Wir träumen uns oft ein Asyl, wo die Leiden und Schmerzen der Sehnsucht uns nicht mehr aufsuchen, wo wir in völliger Selbstgenügsamkeit dem Augenblick leben wollten. Aber abgesehen davon, daß mit unserer Sehnsucht der beste Teil unseres sittlichen Selbstes stürbe, so würde in solcher Ruhe und Abgeschiedenheit unser Gefühlsleben erlöschen und wir uns bald nach Kampf und Leiden sehnen. Denn der Mensch ist nicht geboren, um dem Leid zu entfliehen, sondern um es zu tragen und bekämpfen. Das Vergängliche, dem wir die größten Schmerzen und die flüchtigsten Freuden unseres Daseins verdanken, wird gleichsam geadelt und berechtigt durch die Schönheit. Denn die Schönheit sucht ihren Ausdruck im Vergänglichen, d. h. sie setzt es zur Idee in Beziehung und verleiht ihm so einen Schimmer der Ewigkeit und Unsterblichkeit. Ein schönheitstrunkenes Herz erblickt allüberall den Abglanz seiner Göttin. Aber dies innere Erlebnis drängt in kräftigen Gemütern auch zur Erscheinung: der Künstler will uns z e i g e n , wie er die Welt sieht. Man sagt wohl: ein Künstler müsse in seinen Werken enthalten sein; und das ist mehr als ein Bild. Denn die tiefste Sehnsucht und das heiligste Gefühl, was Begriffe und Worte nicht aussprechen können, spricht sich in seinem Kunstwerk aus. Was ihm der Schlüssel zum All-
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täglichsten und G e w a l t i g s t e n , zum Sein und W e s e n s e i n e r selbst und der Welt gibt. Im Mittelalter ist es s o n d e r b a r , w i e die Endlichkeit d e s sittlichen Ideals und d e r Natur auch eine Endlichkeit d e s ästhetischen Gefühls herbeigeführt hat. D i e spezifisch christliche Kunst zeigt u n s W e r k e , welche z w a r eine B e f r i e d i g u n g d e s Gefühles in sich t r a g e n , d e n e n a b e r d a s Gefühl der Unendlichkeit völlig f r e m d ist: sie erscheinen endlich, wie der Stoff, in dem sie sich a u s s p r e c h e n . Heimliche K ü n s t l e r s c h a f t , uns selbst vielleicht verb o r g e n , tragen wir alle im Gemüt. Nur der rechte Künstler a b e r flieht zur Schönheit, um sich g e g e n die Welt zu retten. S o l a n g e wir nur E r h o l u n g und Z e r s t r e u u n g bei der K u n s t s u c h e n , sind wir noch nicht in ihr Heiligtum e i n g e d r u n g e n . Eine S e h n s u c h t , wie nach d e r verlorenen H e i m a t , muß u n s der Schönheit zuführen. E s ist a b e r dann auch w i e ein liebliches W u n d e r , w e n n die S c h ä t z e der K u n s t in u n s zum Leben e r w a c h e n : als o b sich uns eine j u g e n d l i c h e , reine Menschenseele freiwillig e r s c h l ö s s e und ihre tiefsten Tiefen enthüllte. D a s e h e n w i r , daß der Alltag nicht recht hat, welcher uns d a s Bild d e r Menschheit verzerrt. M e n s c h e n , welche alle Arbeit nach ihrem Nutzen f ü r den Augenblick b e w e r t e n , stehen d e r Kunst meist völlig ratlos g e g e n ü b e r , die ein reines, i n t e r e s s e l o s e s Gefühl der Humanität verlangt. D e r K ü n s t l e r leiht s e i n e Sehnsucht zum Ewigen der Natur, und die erzählt sie nun in seinen W e r k e n weiter. S o sehen w i r , w i e die Idee der Leitstern u n s e r e s L e b e n s werden muß, in Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst. Alles setzen wir zu ihr in Beziehung; überall rufen wir nach ihr, suchen wir sie. Daher laßt uns I d e e n f r e u n d e werden! B
Druck von C . Q . R ö d e r G.m.b in Leipzig.