Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der Literatur überhaupt: Band 2 [Reprint 2019 ed.] 9783111610344, 9783111234892


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German Pages 383 [384] Year 1831

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Table of contents :
Inhalt des zweiten Bandes
1. Kurze Uebersicht der wichtigsten Veränderungen der Metaphysik seit Kant
2. Der veränderte Charakter der Geschichtsschreibung in der neuern und neuesten Zeit
3. Ueber das Steigen und Sinken der europäischen Völker und Staaten seit dem Ende des funfzehmen Jahrhunderts bis zum Ausbruche der französischen Revolution
4. Die demagogischen Umtriebe im Zeitalter der Kirchenverbesserung
5. Vorbedingungen zur neuen Gestaltung des Gewerbswesens
6. Daß der Geist der wahren Sittlichkeit die einzige sichere Stütze der Verfassung eines Volkes sey
7. Ueber den Geist der bessern Erziehung
8. Daß die fortdauernde Verjüngung eines Staates zunächst von der fortdauernden Veredelung der Erziehung abhange
9. Erinnerungen an die Hochschule zu Wittenberg
10. Die Hochschule zu Wittenberg m den Jahren 1813,1814 und 1815, bis zu ihrer Vereinigung mit der Universität Halle
11. Nekrolog des Professors Johann Samuel Ersch; geb. zu Groß-Glogau am 23. Jun. 1766, gest, zu Halle am 16. Jan. 1828
12. Nekrolog des Domherrn, Consistorialassessors, Professors der Theologie, und Superintendenten Dr. Heinrich Gottlieb Tzschirner; geb. zu Mitweida am 14. Nov. 1778; gest, zu Leipzig am 17. Febr. 1828
13. Andeutungen über den Charakter der neuesten geschichtlich - politischen Literatur bei Franzosen, Britten und Teutschen
14. Dichterische Versuche
15. Recensionen und Kritiken
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Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der Literatur überhaupt: Band 2 [Reprint 2019 ed.]
 9783111610344, 9783111234892

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Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der

Literatur überhaupt. Von

Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Kbn. Sächs. Hofrathe, Ritter des K. S. Civil «Verdienst-Ordens, und ordentlichem öffcntl. Lehrer der Staatswiffenschaften an der Universität zu Leipzig.

Zweiter Band.

Leipzig, bei Georg Joachim Göschen.

183 1.

Inhalt des zweiten Bandes. I. Kurze Uebersicht der wichtigsten Beränderunge« der Metaphysik seit Kant...................................................... S.

1

2. Der veränderte Charakter der Geschichtsschrei« düng in der neuern und neuesten Zeit...........................S.

48

3. Ueber das Steigen und Sinken der europäischen Völker und Staaten seit dem Ende des fünfzehn» ten Jahrhunderts bis zum Ausbruche der franzö­ sischen Revolution. Portugal. Spanien. Frankreich.

68

S.

4. Die demagogischen Umtriebe im Zeitalter der Kirchrnverbesseruug............................................................. • S.

80

L. Vorbedingungen zur tttum Gestaltung des Ge­ werbswesens................................................................................0. 117

6. Daß der Geist der wahren Sittlichkeit di« ein­ zige sichere Stütze der Berfassung eines BolkeS sey. (Rede.)..........................................................................S. 134 7. Ueber den Geist der bessern Erziehung.

(Rede.)

S. 139

8. Daß die fortdauernde Verjüngung eine- Staatezunächst von der fortdauemden Veredelung der Er­ ziehung abhänge. (Rede.)............................................... S. 149 9. Erinnerung an die Hochschule zu Wittenberg. .

S. ISS

10. Die Hochschule zu Wittenberg in den Jahren 1813, 1814 und 1815, bis zu ihrer Bereini­ gung mit der Universität zu Halle................................... S. 184 11. Nekrolog des Professors Er sch zu Halle. .

. .

S. 220

12. Nekrolog des Domherrn und Professor- Dr. Tzschirner zu Leipzig...................................................

S. 227



IV



13. Andeutungen über den Charakter der neuesten geschichtlich-politischen Literatur bei Franzosen, Brit­ ten und Teutschen................................................... S. 14. Dichterische Versuche. ....................................... S. 16. Recensionen und Kritiken...................................... S. A) Fr. Ancillon, über die Staatswissenschaft. Berl. 1820. 8. B) Heinr. Gottl. Tzfchirner, Predigten, 3 Bände. Leipj. 1828. 8........................... S.

261 272 288

346

1.

Kurze Uebersicht der wichtigsten Veränderungen der Metaphysik seit Kant. Eo lange von Menschen philosophlrt worden ist,

haben sich die philosophischen Systeme mit der £$• sung der großen Aufgabe beschäftigt: in welchem Verhältnisse die Sphäre der Dinge in uns zur Sphäre der Dinge außer uns stehe? Denn im Bewußtseyn werden zwei verschiedene Ordnungen der Dinge, eine innere und eine äußere wahrgenom­ men, welche in der wechselnden Terminologie der philosophischen Systeme zwar oft mit sehr verschie­ denartigen Ausdrücken bezeichnet worden sind, auf welche aber jeder philosophische Forscher nothwendig zurück kommen mußte, der über die höchsten Ange» legenheiten der Menschheit mit sich einig werden wollte. Abgesehen von den philosophischen Systemen des Alterthumes und Mittelalters, galten in der Vorkantischen Philosophie, zur Bezeichnung je. ner beiden Sphären, die Ausdrücke: Dinge an sich und Erscheinungen (die Noumena und Phänomens); Ausdrücke, welche Kant in seinen Vorträgen und Schriften beibehielk. Seit den Zei­ ten Kants sind aber von Fichte, Schelling und den meisten Neueren, statt jener Ausdrücke, die Wör­ ter: das Subjektive und Objective gebraucht worden, weshalb sie denn auch in der nachstehenden Pilitz twm. Schr. LH. 2. 1

2 Uebersicht, als die jetzt gangbare Terminologie, ge­ braucht worden. Je mehr nämlich der Mensch das Denkende, Fühlende und Wollende in sich von dem unterschied, was außer ihm vorging, und was er nicht zu sei­ ner Individualität rechnen konnte; desto mehr bot er die Kraft seines Nachdenkens auf, das Wesen, die Wirkungen, das gegenseitige Verhältniß, so wie den Zusammenhang zwischen dem Subjectiven und Ob­ jectiven zu erforschen. Betrachtet man aber aus diesem Standpuncte sämmtliche philosophische Sy­ steme näher, und versucht man eine allgemeine Classification derselben (abgesehen von den Schattirungen und Verschiedenheiten einzelner An­ sichten), wie sie unter Eine Hauptclasse gehören; so giebt es, streng genommen, nur drei Hauptsy­ steme der Metaphysik, unter welche alle einzelne Systeme der Vorwelt und Mitzeit g>bracht werden können. Entweder man objectivisirte dasSubjective- d. h. man nahm an, daß das Subjective ganz aus dem Objectiven hervorgegangen und in demselben enthalten sey (der Materialismus); oder man subjectivisirte das Objective, d.h^ man stellte das Objective dar als ganz enthalten in dem Subjectiven und begründet durch dasselbe (der Idealismus); oder man betrachtete das Objecti­ ve und Subjective als zwei von einander verschiedene Sphären (der Dualismus). Diese letzte Ansicht verstattete aber wieder zwei Hauptbezeichnungen: entweder man sagte aus, „zwi­ schen dem Objectiven und Subjectiven findet ein Causalzusammenhang statt" (der Dogmatismus), oder man „erklärte das Verhältniß zwischen dem Objectiven und

3 Subjektiven für unerforschlich und unauf­ lösbar^ (ber Kriticismus und, nach einer an­ dern Schattirüng, der Skepticismus). Wir führen diese Systeme, nach ihrer metaphy­ sischen Grundlage, auf folgende Formeln, im Cha­ rakter der neuern philosophischen Terminologie, zurück. j) Cs giebt kein von den Erscheinungen verschie­ denes Ding an sich, kein von dem Objectiven ver­ schiedenes Subjektives; vielmehr ist das Sub­ jektive begründet und enthalten im Wesen des Objectiven. — Dies ist der Materialismus, den man auch den physischen Realismus (im Gegensatze des rationalen) nennen kann, nach welchem eö keine von der sinnlichen Welt verschie­ dene intelligible Welt giebt. Vielmehr ist, nach diesem Systeme, alles, was wir geistige Verrich­ tungen und Thätigkeiten nennen, und was sich unter scheinbar von den sinnlichen Wahrnehmungen verschiedenen Modifikationen ankündigt, doch zu­ letzt Wirkung der Materie, deren inneres Wesen nur zu wenig bekannt ist, um mit Be­ stimmtheit darkhun zu können, wie und warum alles Geistige nichts weiter, als Wirkung der Kräf­ te der Materie ist. Unsere Erkenntniß hebt daher nicht nur mit der Erfahrung an, sondern sie ist auch einzig daraus entsprungen. — Der Materia­ lismus , in seiner gröbern Gestalt, behauptet: Seele ist ein leeres Wort, und alles, was wir Seelenwirkung nennen, ist Ergebniß materieller Kräfte; und in seiner mildern Form: Es giebt eine von dem Körper verschiedene Seele; sie ist aber materieller Natur.— In neuern Zeiten ist dieses System nur noch einmal von dem Freiherrn von Holbach, dem Verfasser des Systeme de

1*

4 Ja-nature in zwei Theilen, und von dem CanonicuS Riem in seinem System der Natur (wovon aber blos der erste Theil im Jahre 1792 erschien) zu stützen versucht worden.

2) Es giebt keiye Erscheinungen als vermittelst der Dinge an sich; das Objective ist enthalten in dem Subjektiven, und wird producirt durch daö Subjective. — Dies ist der Idealismus, dessen Spuren in der ältern Philosophie selten sind, bis der Bischoff Berkeley lehrte: unsere sinnlichen Vorstellungen seyen Abdrücke und Anschauungen von der in dem unendlichen Geiste bestehenden Idee einer materiellen Welt und ihrem Objecte ganz ähnlich. Von diesem Berkeleyschen Jdealismus ist aber der Fichte sch e wesentlich ver­ schieden, wie sich weiter unten ergeben wird. 3) Das dualistische System, welches zunächst auf der im Bewußtseyn sich ankündigenden V e r. schiedenheit des Objectiven und Sub­ jectiven beruht, hat in dem Geiste einzelner Forscher sehr verschiedenartig sich gestaltet. Wäh­ rend die Geschichte der Philosophie, be­ sonders aber die Geschichte der in neuerer Zeit in rascher Folge einander verdrängenden philosophischtn Systeme, den Charakter dieser Systeme ins Einzelne verfolgen muß, kann hier, wo es darauf ankommt, die Stellung des.Kantischen Systems zum Dogmatismus, unmittelbar von ihm und zu den darauf folgenden — größtentheils auf die Grundlage Kants, gebauten — Systemen, anzugebrn, nur von den Hauptverschiedenheiten des dualistischen Systems die Rede seyn. Es erscheint

5 a. als Dogmatismus, wenn es lehrt: das Sub/ective und Objective (die Dinge an sich und die Erscheinungen) sind beide wesentlich von ein­ ander verschieden, stehen /iber unter sich im Causalzusammenhange. Der Dogma­ tismus hat seinen Namen davon, daß er das Verhältniß zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen als einen 'CausalzusammenHang zu demonstriren, d. h dogmatisch festzusetzen, sich anmaßt; und behauptet: daß die Dinge an sich den Grund von allem enthalten, was wir an dem Menschen und in der Natur­ welt wahrnehmen. Er stehet in der Meinung, es sey ihm gelungen, nicht nur im Allgemei­ nen den Causalzusammenhang zwischen den Din­ gen an sich und den Erscheinungen anzugeben, sondern denselben auch im Einzelnen nachzu­ weisen. So giebt es, im Charakter dieses Sy­ stems, eine Metaphysik, welche in der Ontolo­ gie die Dinge an sich nach ihren Grundkräften und nach allen ihren Wirkungen und Beziehun­ gen kennen lehrt; die dann in der Kosmologie die letzten Gründe aller physischen Erscheinungen im Weltalle rationell demoklstrirt und den Zu­ sammenhang derselben unter sich erschöpfend ent­ wickelt; die darauf in der rationalen Psy­ chologie das ursprüngliche Wesen des mensch­ lichen Geistes, und — in demselben — den Grund aller Wirkungen und Erwartungen dieses Geistes für Gegenwart und Zukunft darstellt; und die endlich in der rationalen Theolo­ gie Gott selbst, nach seinem innern Wesen und nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen auf das Reich der moralischen und physischen

6 Kräfte, zu einem Objette der menschlichen Er­ kenntniß macht. — In der Vorkantischen Phi­ losophie war dieser Dogmatismus besonders von Christian Wolf mit strenger Befolgung der mathematischen Methode systematisch durch­ gebildet, und, nach ihm , von seinen Schülern: Meier, Baumgarten, Eberhard und an­ dern, mit gewissen Modifikationen, festgehalten wordenDoch trennten sich von der Strenge dieses Systems und der von Wolf festgehaltenen mathematischen Methode bald darauf die soge­ nannten Eklektiker, namentlich Moses Men­ delssohn, Tetens, Sulzer, Tiedemann, Feder, Platner, Garve u. a. b. als Kritici smus: das Subjektive und Ob­ jective sind wesentlich von einander verschieden; allein ihr Verhältniß gegen einander ist, nach vorhergegangener erschöpfender Kritik des mensch­ lichen Erkenntnißvermögens, unerklärbar. — Dies ist das große Ergebniß der Kritik, wodurch Kant die ganze Schulmetaphysik vor ihm stürzte, und der Begründer einer neuern Ordnung der Dinge in der Philosophie ward. Daß er dabei nicht als Idealist verfuhr, wie einige seiner Schü­ ler behaupteten, sondern daß er, im strengsten Sinne, Kritiker blieb, wird sogleich mit Haupt­ stellen aus seinen Schriften bewiesen werden. — Während mehrere, die ihm folgten, auch in diesem Grundcharakter des Kriticismus ihm treu blieben (z. B. Schulz in Königsberg, Jakob, Heydenreich, K. Christ. Erh. Schmid u. a.), versuchten Andere entweder zu demselben Ergebnisse auf einem andern Wege zu gelangen (wie z. B. Reinhold in seiner

Elementarphilosophie, bevor er zu Bardili'S Rationalismus überging; Fries, durch seine neue Kritik der Vernunft, 1807; Bouterwek, durch seine Apodiktik, 1799 u. a.); oder sie steigerten den Kriticismus zum Idealismus (so: Jacob SigiSm. Beck, Fichte, Schad u. a.); e. als Jdentitätösystem: das Subjektive und Objective sind im Absoluten identisch. — So steigerte Schelling wieder den Fichte'schen Ide­ alismus zu einer höher» Stufe, indem er das Absolute als den Jndifferenzpunct des Objecti­ ven und Subjektiven bezeichnete. Seitenli­ nien dieses Schellingischen Systems sind die von Joh. Jac. Wagner u. a. aufgestellten Ansichten; d. als rationaler Realismus: die absolute Identität ist weder Object noch Subject, noch die Identität von beiden, sondern die Mani­ festation Gottes an der Natur. Diese Steigerung der Schellingischen Jdentitätsphilosophie zum groben rationalen Dogmatismus ver­ suchte Bardili; ein Versuch, der nur durch Reinholds Uebertritt zu dieser Ansicht auf kurze Zeit mehr Aufmerksamkeit erregte, als er an sich in wissenschaftlicher Hinsicht verdiente; e. als Synthetismus: das Bewußtseyn selbst ist die ursprüngliche Synthesis des Subjektiven und Objectiven. — Krug gestaltete durch diesen Grundsaß den Kriticismus, von welchem er aber in den übrigen wesentlichsten Lehren nur wenig sich entfernte, zu einer neuen systematischen Form; f. als Glaubensphilosophie (noch fehlt für dieses System der völlig bezeichnende Ausdruck):

8 Die menschliche Erkenntniß ist, philosophisch ge­ ordnet, das Ergebniß des individuellen Glau­ bens, und dieser Glaube gehet hervor auS einem ursprünglichen Gefühle des Menschen- — Dies ist ungefähr die Grundlage der philosophischen und sehr geistreichen Ansicht des verewigten Fr. Heinr. I q c o b i, der zwar diese seine individuelle Ansicht nicht systematisch durchbildete, in der That aber einen eigenthümlichen Weg der philo­ sophischen Forschung betrat, auf welchem ihm, unter allen seinen Anhängern, Fr. Koppen mit dem meisten Geiste und Scharfsinne folgte; g. als Skepticismus (im neuern Sinne des Wortes): Das Verhältniß zwischen dem Subjecttoen und Objectiven kann nur subjectiv im Bewußtseyn wahrgenommen, nie aber nach sei­ nen letzten Gründen erklärt werden. Es kann mithin dieses Verhältniß weder bewiesen, noch geläugnet werden; cs beruhet vielmehr auf seiner völligen Unerklärbarkeit. Außer P l a k n e r, A dicht u. a- ist der wichtigste Repräsentant die­ ses neuern Skepticismus, in seiner wissenschaft­ lich durchgebildeten Form, Gottlob Ernst Schul­ ze, der schon früher in seiner Schrift: Aenesidemus, Reinholds Theorie des Vorstellungs­ vermögens mit siegreichen Gründen erschüttert Hatte.

Wenn diese Darstellung der wichtigsten metaphy­ sischen Systeme nur die Andeutung ihrer wesentlichen Verschiedenheit nach den Grundlagen derselben ent­ halten konnte; so kann auch die Fortsehung dieser furzen Uebersicht, über die Veränderungen her

9 Metaphysik durch und seit Kant, die eben aufge­ stellten allgemeinen Charaktere der metaphysischen Systeme nur mit treffenden Stellen aus den Schriften ihrer Stifter und Begründer selbst belegen, ohne in eine kritische.und polemische Prüfung der Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit deö einen oder des andern Systems einzugehen, und ohne sich onzumaßen, in einem solchen gedrängten Umrisse die ganze Eigenthümlichkeit jedes neuern metaphysischen Systems zu erforschen. Diese ausführliche Ent­ wickelung derselben gehört den größern Werken der Geschichte der Philosophie, z. B. von Tennemann, Buhle u. a. an; hier genügt es, die Verschieden­ heit der neuesten philosophischen Systeme in Hinsicht der Grund lehre der Metaphysik — des Ver­ hältnisses zwischen dem Subjectiven und Objectiven — anzugeben und zu belegen.

Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Grund­ charakter der vor Kant in Teutschland herrschenden Metaphysik dogmatisch war, und auf der versuch­ ten Demonstration des Causalzusammenhangee zwischen demSubjectiven undObjectiven beruhte; so erhellt schon daraus das un­ sterbliche und für alle künftige Zeiten gesicherte Ver­ dienst Kants um die Philosophie überhaupt imb um die Metaphysik, als philosophische Grundwissen­ schaft insbesondere: daß er, gestützt auf die kritische Ausmessung und Festsetzung der Grenzen und der gesetzmäßigen Wirksamkeit des menschlichen Erkennt­ nißvermögens, die Metaphysik zu dem großen Er­ gebnisse führte: das daß Verhältniß der Din­ ge an sich zu den Erscheinungen unerklär-

10 bar sey; ob er gleich an vielen Stellen bestimmt (und ziemlich dogmatisch) ausspcach: es gebe Din­ ge an sich; — es gebe Erscheinungen; — es gebe einen Zusammenhang zwischen beiden; nur für die Erkenntnißkräfte des Menschen sey die Einsicht dieses Zusam­ menhanges unmöglich, und mithin die Ent­ wickelung des Verhältnisses zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen unerklärbar. — Sollen wir, mit Rücksicht auf die sogleich an­ zuführenden Stellen, den Charakter des KriticiömuS in wenigen Sähen ausdrücken; so würden es folgende seyn: Nach strenger Kritik über unser Er­ kenntnißvermögen, und nach genauer Bestimmung der Functionen (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft) und Grenzen desselben, erkennen wir die Din­ ge nicht, wie sie an sich sind, sondern wie sie uns erscheinen. Wir können von den Din­ gen an sich, inwiefern sie den Erscheinungen zum Grunde liegen mögen, und inwiefern sie bewirken, daß dre Erscheinungen Eindrücke auf uns hervorbrin­ gen, nichts wissen, weil wir blos das erkennen, was durch die sinnliche Wahrnehmung zu unserer Erkenntniß gelangt. — War nun aber die Lehre von dem Causalzusammenhange zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen die Grundlage der dogmatischen Metaphysik; so mußte auch, nach Ge. winnung des aufgestellten Resultats, an die Stelle der Schulmetaphysik eine Kritik aller bisheri­ gen Metaphysik treten. — Denn die Erscheinun­ gen sind, im Geiste des kritischen Systems, nicht die Dinge an sich, sondern bilden für uns in unsern Vorstellungen daö Ganze der Erfahrung, in­ wiefern wir die Erscheinungen unter den Formen

11 der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, anschauen, und nach den Kategorieen, d. h. nach den reinen Ver­ standesformen, denken. Indem aber diese Formen blos in uns und zwar a priori (d. h. in der ur­ sprünglichen Einrichtung unsers Erkenntnißvermögens) vorhanden sind; so fängt zwar unsere Erkenntniß mit der Erfahrung an, ist aber nicht einzig in ihr enthalten, und die Form derselben (die Art, wie das Mannigfaltige in uns zur Einheit verbunden, und diese Einheit als Erkenntniß in uns wahrge­ nommen wird), ist ganz subjektiv, d. h. unab­ hängig von den erscheinenden Objecten. Es ist daher der Grundcharakter des Kriticiömus, diese erscheinenden Objecte (außer uns) als verschieden von unsern Vorstellungen von denselben, und von den ihnen zum Grunde liegenden, aber uns völlig unbekannten, Dingen an sich zu denken, so daß wir die Erscheinungen nicht anders denken, als nach der Ursprünglichen (apriorischen) Einrichtung unsers Erkenntnißvermögens. So unterscheidet der Kriticismus zwar zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen, und nimmt das Daseyn beider an; allein er läßt den Zusammenhang zwischen bei­ den als unerklärbar dahingestellt, weil wir die Er­ scheinungen blos nach den apriorischen Formen unsers Erkenntnißvermögenö denken können, und durchaus nicht wissen, ob diese Formen, und die durch sie an­ geschauten und gedachten Gegenstände den Dingen an sich entsprechen. Für diese Darstellung des Kriticismus in der metaphysischen Hauptlehre sprechen folgende Stellen Kants. — Er sagt in den Prolegomenen zu einer jeden künftigen Metaphysik (welche später als die Kritik der reinen Vernunft

12 erschien, und theils auf diese zurückwies, theils die­ selbe naher erörterte, theils deren Ergebnisse weiter fortführte) S. 104: „In der That, wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Er­ scheinungen ansehen; so gestehen wir hierdurch zu­ gleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, pb wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sey, sondern nur seinerErfcheinung', d. i. die Art, wie unsere Sinne von die­ sem unbekannten Etwas afsicirt werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erschei­ nungen annimmt, gesteht auch das Daseyn von Din­ gen an sich selbst zu, und sofern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sey. Un­ sere kritische Deduction schließt dergleichen Dinge (Noumena) auch keineöweges aus, sondern schränkt vielmehr die Grundsätze der Aesthetik dahin ein, daß sie sich ja nicht auf alle Dinge erstrecken sollen, wodurch alles in bloße Erscheinung ver­ wandelt werden würde, sondern daß sie nur von Gegenständen einer möglichen Erfahrung gelten sotten." — S. 169: ,/Dic Sinnenwelt ist nichts als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen; sie hat also kein Bestehen für sich; sie ist eigentlich nicht das Ding an sich selbst, und bezieht sich also nothwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht blos als Erscheinung, son­ dern als Dinge an sich selbst erkannt werden können. In der Erkenntniß derselben kann die Vernunft allein hoffen, ihr Verlangen nach Vollstän­ digkeit im Fortgänge vom Bedingten zu dessen Be-

13 dingllngen einmal befriedigt zu sehen." — S. 163: „Es würde eine große Ungereimtheit seyn, wenn wir gar keine Dinge an sich selbst ein­ räumen, oder unsere Erfahrung für die einzig mögliche Erkenntnißart der Dinge ausgeben wollten." — S- 165: „Es ist wahr, wir können über alle mögliche Erfahrung hinaus von dem, was Dinge an sich selbst seyn mögen, keinen bestimmten Begriff geben. Wir sind aber dennoch nicht frei von der Nachfrage nach diesen uns gänzlich zu enthalten; denn Erfahrung thut der Ver­ nunft niemals völlig Gnüge." — S. 147: „Wenn ich von Gegenständen in Zeit und Raume rede; so rede ich nicht von Dingen an sich selbst, darum, weil ich von diesen nichts weiß, sondern nur von Dingen in der Erscheinung, d. i. von der Er­ fahrung." — S. 139: „Daß unsern äußern Wahr­ nehmungen etwas Wirkliches außer uns nicht blos correspondire, sondern auch corre« spondiren müsse', kann niemals als Ver­ knüpfung der Dinge an sich selbst, wohl aber zum Behufe der Erfahrung bewiesen werden." — In demselben Charakter sprach Kant über diese metaphysische Grundlehre in der von Rink (1804) herausgegebenen (Kantischen) Beantwortung der Preisfrage: „welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphy­ sik seit Leibnihens und Wolfs Zeiten in Teutschland gemacht hat?" In derselben wirft sich Kant die Frage auf: „Ob das Object, wel­ ches wir außer uns sehen, nicht vielleicht immer in uns seyn könne," und antwortet darauf S.54: „Die Metaphysik würde dadurch, daß man diese Frage ganz unentschieden ließe, an ihren Fort-

14 schritten nichts verlieren; weil die Wahrnehmungen, aus denen wir nach Grundsätzen durch die Kategorieen Erfahrung machen, doch immer in unS seyn mögen, und ob ihnen auch etwas außer uns entspre­ che oder nicht, dies in der Erweiterung der Erkennt­ niß keine Aenderung macht, indem wir ohnedem uns deshalb nicht an die Objecte, sondern nur an un­ sere Wahrnehmung, die jederzeit in uns ist, halten können." Doch genug der Stellen aus Kants Schriften, um zu erweisen, daß Kant, nach seiner Metaphysik, eben so weit vom Dogmatismus, wie vom Idea­ lismus, sich entfernte; und daß Jqc. SigiömBeck in seinem, einzig möglichen Stand­ puncte, aus welchem die kritische Philoso­ phie betrachtet werden muß, (Halle, 1796;, so wie Fichte, so lange dieser sein System nur für einen anders gestalteten Kriticiömus ausgab (bis Kant selbst dieser Ansicht ernsthaft widersprach), Kanten mißverstanden, wenn sie ihn zum Ideali­ sten machen wotttem Allerdings war aber Beck aus der kritischen Schule der Erste, der in jenem Werke den Kriticismus zum Idealismus stei­ gerte, indem er ein ursprüngliches Vorstellen annahm, welches der ursprüngliche Verstandesge­ brauch sey, der in den Kategorieen bestehe, so daß die Darstellung derselben, als Postulaten, die Zergliederung des ursprünglichen Verstandeögebrauches ausmache. Er gründete also den Kriticiömus nicht auf die Stufenfolge von den Formen der An­ schauung (Raum und Zeit) zu den Kategorieen, son­ dern auf die ursprüngliche Synthesis im Verstände, welche man blos durch den Gebrauch desselben kennen lerne. Inwiefern nun alle Realität in der Er-

15

kenntniß auf unserm subjektiven ursprünglichen Vor­ stellen und den Gesetzen desselben beruhe; insofern könne auch (nach Beck) von dem wirklichen Daseyn der Dinge an sich außerhalb unsers Vorstel­ lungsvermögens gar nicht die Rede seyn. Es sey also kein Ding an sich außer uns vorhanden, son­ dern alles, was uns als außer uns erscheint, gründe sich nur auf unser Vorstellen und Denken, und be­ ruhe lediglich auf diesem und auf den Gesetzen des­ selben.

Gewissermaßen bildete dieser Beckische kritische Idealismus den Uebergang zu dem trans sc en dalen Idealismus, welchen Fichte aufstellte. Es würde hier zu weit führen, im Einzelnen nachzu­ weisen, wie Fichte diesen Idealismus, als System betrachtet, selbst mehrmals veränderte, und wie er namentlich in seinen letzter» Schriften denselben nicht mehr in der Reinheit und innern Folgerichtig­ keit festhielt, wie in seinen frühern, namentlich in sei­ ner Grundlehre der gesammten Wissen­ schaftslehre, (1794); in seinem sonnenklaren Berichte an das größere Publicum über das eigentliche Wesen der neuesten Philo­ sophie (1801); und in seinem Versuche einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, der in seinem und Niethammer'S philosophischen Journale, 1797, St. 1, S. 1 ff. erschien, wozu die zweite Einleitung in die Wissenschafts­ lehre, ebendaselbst, St. 4, S. 310 ff. und St. 5, S. 1 ff. gehört. — Entschieden ist Fichte's Idealismus, wenn man ihm das erste Axiom — das Setzen des Nicht-Ichs durch das Ich — zu-

16 gesteht, das konsequenteste und zugleich daö abstrac« teste System in der neuern Philosophie. Rach diesem Systeme entsteht das Objective durch die freie Thätigkeit des Subjektiven; denn der Charakter des Subjectiven ist Thätigkeit. Diese Thätigkeit ist ursprünglich, und kündigt sich, in der Resse.rion über das Bewußtseyn, als .Subject und Object zugleich, als sich setzend und durch sich gesetzt, an. Es ist daher außerhalb des Subjectiven kein von dem Subjecte verschiedenes und unabhängiges Objectives. Das Ich kann nämlich blos insofern thätig seyn, inwiefern es sich ursprüng­ lich ein Nicht-Ich entgegensetzt, das aber nicht außer uns, sondern in uns ist. Das Ich ist das Subjektive, das Nicht-Ich das Objective. Der Charakter des Ichs ist der: daß ein Handelndes und Eins, worauf gehandelt wird. Eins sey und dasselbe. Das Ich kann denken und wollen; das Gedachte und Gewollte muß aber von dem Ich verschieden seyn. Das denkende und wollende Wesen ist das Subject; das Gedachte und Gewollte ist das Object. Das Gedachte und Gewollte ist aber, als Object, in uns, und zwar wird durch die Thätigkeit des Ichs allezeit ein Seyn hervor­ gebracht : im ersten Falle das Seyn des Gedan­ kens, im zweiten das Seyn des Wollens und der Handlung. Das Seyn selbst kündigt sich unmittelbar im Bewußtseyn an; das Wissenaber kündigt sich allezeit im Bewußtseyn an als Object, weil ich nichts wissen kann, ohne Etwas zu wissen. Daß aber diese Einrichtung der Subjectivität des Objectiven ursprünglich ist, liegt in der Natur d e r E n d l i ch k e i t. Alle endliche Wesen können den­ ken; sie müssen aber, sobald und wann sie denken,

17 ein Object denken. Alles also, was in dem Kreise der menschlichen Thätigkeit liegen soll, muß durch das Verhältniß des Subjects zum Objecte, und des Objects zum Subjecte, bestimmt werden. Wei­ ter hinaus können endliche Wesen nicht, und was außer ihnen ist, wissen sie nicht, weil selbst das, was sie Erscheinung nennen, nur ein Begriff in ihnen ist, wo ihnen, sobald sie den Begriff weg­ denken, nichts Objectives übrig bleibk. '— Das reine Ich würde die. Unendlichkeit mit seiner ur­ sprünglichen Thätigkeit erreichen, wenn es nicht alle­ zeit an ein Object (an ein Nicht-Ich) mit seiner Wirksamkeit gebunden wäre. In diesem Objecte sind ihm, dem reinen Ich, die Grenzen seiner Thätigkeit gefegt; die Wahrnehmung der Begrenzt­ heit der Thätigkeit deß freien Ichs nennt aber Fichte das Gefühl. Es ist die blos unmittelbare Beziehung des Objectiven im Ich auf das Subjrctive desselben. In dieser Begrenztheit, die dem Ob­ jecte zukommt, liegt der Widerstand, welcher sich der bestimmten Thätigkeit deö Ichs entgegengesetzt, obgleich die Thätigkeit erst durch diesen Widerstand fixirt und zur bestimmten Thätigkeit wird. Der Widerstand der idealischen Thärigkeit ist also im Objecte (mithin im Ich selbst); daher von ihm selbst sich selbst entgegengesetzt. Daö Geschäft der Freiheit (der in dem reinen Ich enthaltenen Tendenz zum Absoluten) ist es, diesen Widerstand des Objects zu besiegen. Mithin muß die Freiheit im reinen Ich (Und nicht im Objecte) enthalten seyn, ihre Wirksamkeit aber an der Bearbeitung des Ob­ jectiven zeigen. „Das einzige Absolute (Sy­ stem der Sittenlehre, S. XVIl f.), worauf alles Bewußtseyn und alles Seyn sich gründet, ist T’fc 2, Q.

18 reine Thätigkeit. Diese erfolgt, zufolge der Gesetze des Bewußtseyns, und insbesondere zufolge seines Grundgesetzes: daß das Thätige nur als vereinig­ tes Subject und Object (als Ich) erblickt werden kann, als Wirksamkeit auf etwas außer mir. Alles, was in dieser Erscheinung ent­ halten ist, von dem mir absolut durch mich selbst gesetzten Zwecke an, an dem einen Ende, bis zum rohen Stoffe der Welt an dem andern, sind ver­ mittelnde Glieder der Erscheinung, sonach selbst auch nur Erscheinungen. Das einzige rein Wahre ist meine Selbstständigkeit." So wie bei Fichte die Idee des Absoluten in einer neuen Bedeutung vorkam, welche bald von dem ihm nachfolgenden Schelling wieder an­ ders gestaltet und an die Spitze der gesammttn Me­ taphysik gestellt ward; so gehört auch Fichten die Idee der intellectuellen Anschauung an, de­ ren Geltung bei Schelling gleichfalls gesteigert ward, so daß die intellektuelle Anschauung im Fichte'schen Systeme etwas anders ist, als im Schellingischen. Fichte gebrauchte die Idee der intellec­ tuellen Anschauung in folgendem Zusammenhänge. „Das Ich selbst ist nichts anders, als ein Handeln auf sich selbst, ein Zurückgehen in sich selbst. Ist es denn, vor diesem Zurückgehen und unabhängig von demselben, schon da für sich? Muß es nicht für sich schon da seyn, um sich zum Ziele eines Han­ delns machen zu können? Keineöwegeö! Erst durch diesen Act, und lediglich durch ihn, wird das Ich ursprünglich für sich selbst. Dieses Zurückgehen in sich selbst ist aber kein Begreifen. Dies wird es erst durch den Gegensatz eines Nichts Ichs, und durch die Bestimmung des Ichs in diesem Gegen-

19 siche; mithin ist es eine bloße (intellectuelle) Anschauung- Daß es ein solches Vermögen der in* tellectuellen Anschauung gehe, läßt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Be­ griffen entwickeln. Jeder muß es unmittelbar in sich selbst sinden, oder er wird es nie kennen lernen. Wohl aber läßt sich jedem in seiner Erfahrung nach­ weisen, daß diese intellectuelle Anschauüng in jedem Momente seines Bewußtseyns vorkommt. Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuß regen, ohne die intellectuelle Anschauung meines Selbstbe­ wußtseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, daß ich es thue; nur durch diese unterscheide ich mein Handeln, und in demsel­ ben mich von dem Objecte des Handelns- — Was für das ursprüngliche Ich Thathandlung ist, ist für die Philosophie Thatsache des Bewußtseyns. Der Begriff des Handelns, der nur durch die in­ tellectuelle Anschauung des selbstthätigen Ichs mög­ lich wird, ist der einzige, der beide Welten, die für uns da sind, vereiniget, die sinnliche und die intelligible. — Es ist aber nicht einerlei, o& die Philosophie von einer Thatsache ausgeht, oder von einer Thathandlung (d. i. von reiner Thätig­ keit, die kein Object voraussctzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das Handeln unmit­ telbar zur That wird.) Geht sie von der That­ sache aus; so stellt sie sich in die Welt des Seyns und der Endlichkeit, und es wird ihr schwer wer­ den, aus dieser einen Weg zum Unendlichen und Uebersinnlichen zu finden. Geht sie von der That­ handlung aus; so steht sie gerade auf dem Punc­

te, der beide Welten verknüpft, und von welchem aus sie mit freiem Blicke übersehen werden können." 2*

20 Unverkennbar ging seit der weitem "Verbreitung des Fichte'schen Systems die bis dahin übliche Ter­ minologie in der Metaphysik, in Hinsicht der Dinge an sich und der Erscheinungen, welche auch Kant noch beibehalten hatte, allmahlig in die Terminolo­ gie des Subjektiven und Objectiven über, und die Ideen der intellektuellen Anschauung Und des Absoluten erhielten durch ihn ein neues Ge­ präge in der philosophischen Sprache. — Daß Fichte aber, bevor sein System in voller Eigen­ thümlichkeit hervortrat, auch noch des Dinges an sich gedachte, belegt eine Stelle aus einer seiner er» ften Schriften: über den Begriff der Wissen­ schaftslehre (1794), wo er das Ding an. sich noch nicht völlig aus der Philosophie verwies. Er schrieb S. IV: „Der eigentliche Streit (der ver­ schiedenen philosophischen Parteien) dürfte wohl der über den Zusammenhang unserer Erkenntniß mit einem Dinge an sich seyn, und dieser Streit dürfte durch eine künftige Wissenschafts­ lehre wohl dahin entschieden werden: daß unsere Er­ kenntniß zwar nicht unmittelbar, durch die Vorstel­ lung, aber wohl-mittelbar durch das Gefühl mit dem Dinge an sich Zusammenhänge; daß die Dinge allerdings blos als Erscheinungen vor­ gestellt, daß sie aber als Dinge an sich ge­ fühlt werden; daß ohne Gefühl gar keine Vorstellung möglich seyn würde; daß aber die Dinge an sich nur subjektiv, d. i. nur in wie­ fern sie auf unser Gefühl wirken, erkannt werden.^

So wie Fichte den Kriticismus zum trans­ scendentalen Idealismus gesteigert hatte; so

21 steigerte Schelling den transscendentalen Idealis­ mus zur Jdentitätsphilosophie. So wie Fichte, so hat auch Schelling zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Schriften über einzelne seiner Leh­ ren sich verschiedenartig ausgesprochen; allein hieher gehört zunächst seine eigenthümliche Ansicht über das Verhältniß des Subjectiven zum Objectiven gegen ein­ ander, wobei folgende Schriften von ihm besonders zu berücksichtigen sind: Von der Weltseele (Hamb. 1798; N. A. 1809); Erster Entwurf der Na­ turphilosophie (Jena, 1799); System des transscendentalen Idealismus (Tüb. 1800); Zeitschrift für specu lative Physik (LTHle.; Jena, 1800 ff.); Bruno, oder über das gött­ liche und natürliche Princip der Dinge (Berlin, 1802); Philosophie und Religion (Tüb. 1804); Philosophische Schriften (lr Theil, Landsh. 1809). — Schelling steigerte zunächst dadurch den Fichte'schen Idealismus, daß er die von Fichte aufgestellte ursprüngliche Productivität des menschlichen Geistes, dessen sogenann­ tes reines Ich, als ein gleichfalls Ableitbares betrachtete,, und der Fichte'schen reinen Subjektivität eine eben so hohe Objektivität mit gleicher Geltung gegen über stellte, und für beide ein Hö­ heres, als gemeinsame Quelle, aufsuchte. So ent­ standen bei ihm die beiden einzigen philosophischen Wissenschaften: die Naturphilosophie und die Transscendentalphilosophie; denn nach ihm sind nur zwei Fälle möglich. Entweder das Subjrctive wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist: wie ein Objectives hinzukommt, das mit ihm übereinstimmt? Diese Aufgabe beantwortet die Transscendentalphilosophie. Oder das Ob-

22 jective wird zum Ersten gemacht, und gefragt: wie ein Subjeclives zu ihm hinzukommt, das mit ihm übereinstimmt? Diese Aufgabe beantwortet die Na» turphilosophie. Jene geht vom Ich abwärts zur Natur; diese von der Natur aufwärts zum Ich, so weit sie gehen kann; und beiden liegt der Saß zum Grunde: die Naturgesetze müßen sich un­ mittelbar im Bewußlfeyn als Gesetze des Bewußt­ seyns — und umgekehrt: die Gesetze des Bewußt­ seyns müßen sich unmittelbar in der objectiven Na­ tur als Naturgesetze nachweisen laßen. Beide Wis­ senschaften würden aber unerklärbar seyn, weil es unbegreiflich bleibt, wie aus der Einheit des Ichs die Mehrheit hervorgehe, und wie im Gegentheile wieder in der Mehrheit diejenige Einheit gefunden werden soll, welche die Mehrheit in sich schließt; wenn nicht die Entzweiung des Ichs und NichtJchs aufgehoben würde durch die Identität des Subjectiven und Objectiven im Absolu­ ten. Diese absolute Identität ist kein Compositum aus dem Subjectiven und Objectiven, sondern die Einheit derselben, - so daß diese in ihr nicht sowohl vereinigt, als vielmehr Eins, nicht sowohl verschie­ den, als vielmehr gar nicht getrennt sind. Das Einzelne existirt nur, insofern die absolute Identität in ihm ist, oder insofern es die absolute Identität unter einer bestimmten Form des Seyns ausdrückt. Alle Gegensätze des Denkens und Seyns, des Idea­ len und Realen, des Subjects und Objects, alle Dinge, alle Erscheinungen, die uns als verschie­ den erscheinen, sind nicht wahrhaft verschieden, son­ dern realiter Eins. Die ganze objective Welt, Na­ tur, Geschichte, Universum im gewöhnlichen Sinne, selbst unser eigenes empirisches Ich gehört nur zur



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ErschemungSwelt, und ist zwar Ausdruck, Bild, Offenbahrung der absoluten Identität; aber, so wie e- uns erscheint, und nach den Gesetzen des Vcr, standes gedacht wird, nichts an sich, nichts Reelles. Diese Gesetze selbst, das Gesetz der Causalität, so gar der Satz des Widerspruchs, gelten nur für die reslectirte Welt. Das Höchste oder Absolute, das beseelende Princip des Universums, ist die Weltseele, indem es, das Eine und immer Das? selbe, sich nur in der Sphäre der Erscheinung als ein zweifaches (als Duplicität), als ein Ideelles und Reelles zugleich ankündigt, die aber beide sich in unendlichen Abwechselungen durchdringen, und dadurch die Mannigfaltigkeit dec einzelnen inbu viduellen Erscheinungen hervorbringen. — Das wahre Wißen, die Erkenntniß der Dinge an sich, ist daher eine absolute, ist Erkenntniß der Dinge, wie sie im Absoluten, in der Identität, als der all­ gemeine» Seele sind; ist die Ansicht der Dinge, nach welcher keine Erscheinung der andern wahrhafte Ursache, sondern jede in dem Absoluten auf gleiche Weise gegründet ist. Es giebt also kein einzel­ nes Seyn,' kein einzelnes Ding an sich. Jedes einzelne Seyn ist, als solches, eine bestimmte Form des Seyns der absoluten Totalität, nicht aber ihr Seyn selbst, welches nur in der Tota­ lität ist. Das Einzelne ist nur, insofern die ab­ solute Identität in ihm ist, oder insofern es die ab­ solute Totalität unter einer bestimmten Form des Seyns ausdrückt. Auch ist Alles, was an sich ist, mithin das wahre Universum, dem Seyn nach, nicht entstanden, und kann nicht vernichtet wer­ den,^. h. es ist ewig; denn die absolute Identität ist schlechthin außer aller Zeit gesetzt, d. i. ewig.—»

24 DaS Absolute, oder die absolute Identität ist sich selbst auf ewige (außerzeitliche) Weise Subject und Object, d. h. schaut an, oder erkennt sich selbst durch die intellectuelle Anschauung. Eine intellectuelle Anschauung ist nämlich eine solche, wel­ che überhaupt frei producirt, und in welcher das Producirende mit dem Producirten Eins und dasselbe ist, statt daß die sinnliche Anschau­ ung ihr Object nicht hervorbringt, sondern empfängt. Eine solche Anschauung kann nicht demonstrirt, son­ dern nur gefordert werden, und das Ich ist eine solche Anschauung, inwiefern dasselbe sein eigenes Product, Producirendes zugleich und Producirtes, ist. Daö Ich ist nämlich ursprünglich eine Thätig­ keit, und zwar eine unendliche Thätigkeit, und wird blos dadurch begrenzt, daß es sich selbst an­ schaut, und dadurch zum Objecte macht, welches jedesmal den Begriff eines Begrenzten und Be­ schränkten einschließt. Die ursprüngliche Thätigkeit des Ichs richtet sich gegen diese Begrenzung und Schranke, und liegt, als ursprüngliche Thätig­ keit, jenseits des Bewußtseyns, ist mithin ideell, während die Schranke, gegen welche sie ankämpft, reell ist. Betrachten wir nur diese ideelle Thä­ tigkeit, so denken wir uns die Schranke blos durch das Ich gesetzt; so entsteht der Idealis­ mus. Verweilen wir nur bei der Schranke, und denken wir dieselbe als unabhängig vom Ich; so entsteht der Realismus. Resiectiren wir auf beide zugleich; so entsteht der Ideal-Realie, mus. In ihm werden die Transscendentalund die Naturphilosophie, gleichsam als die zwei Erscheinungsweisen des Absoluten, einander ge­ gen über gestellt, und wissenschaftlich construirt.

25 Zu dieser systematischen Gestaltung der JdentitätSphilosophie fügte Schelling in der Schrift: Philosophie und Religion, welche durch Eschenmayers Einwürfe veranlaßt ward, folgen­ de Lehre hinzu, welche der frühern Begründung sei­ nes Systems fremd war. — Der Grund der Wirklichkeit der endlichen Dinge liegt iy einer Entfernung, in einem Abfalle vom Ab­ soluten; denn vom Absoluten zum Wirklichen giebt eö keinen stetigen Uebergang; der Ursprung der Sin­ nenwelt ist nur als ein absolutes Abbrechen von dem einzig realen Absoluten durch einen Sprung denkbar. Die Seelen steigen aus der Jntellcctualwelt in die Sinnenwelt herab, wo sie zur Strafe ihrer Selbstheit, und einer, diesem Leben der Idee, nicht der Zeit nach, vorhergegangenen, Schuld an den Leib, wie an einen Kerker, sich gefesselt fin­ den; und zwar die Erinnerung des Einklanges und der Harmonie des wahren Universums mit sich brin­ gen, aber sie in dem Sinnengerausche der ihnen vor­ schwebenden Welt nur gestört durch Mißklang ver­ nehmen; so wie sie die Wahrheit nicht in dem, was ist, oder zu seyn scheint, sondern in dem, was für sie war, und zu dem sie zurückstrebcn müssen, dem intelligiblen Leben, zu erkennen vermögen. Die Seele kann die Urbileer nicht in ihrer wahren, sondern nur in einer durch die Materie getrübten Gestalt erken­ nen. Gleichwohl erkennt sie auch so in ihnen die Urwesen, zwar differenziirt und außer einander, aber nicht blos als abhängig, sondern zugleich als selbst­ ständig. Die Erscheinungswelt ist für die Seele die Ruine der göttlichen oder absoluten Welt. — Das Absolute, die absolute Vernunft, Identität, Einheit, daö absolute Erkennen, absolute Ich — ist

26 Apr. 1547). Mochten immer — was viel sagen will — die in­ dividuellen Schwächen Karls seiner politischen Macht gleich kommen; so überragte er doch — wenn man die drei letzten trüben Jahre seines Lebens abrechnet — alle seine Nachfolger auf dem Throne Spaniens weit an -geistiger Kenntniß und Kraft, an Sicherheit des politischen Blickes, und an fester Haltung seiner persönlichen Würde und seiner tiefreichenden Plane, Die Corteö Spaniens, die Stände Burgunds dau­ erten unter ihm fort; daß seit 50 Jahren in seinem Innern aufgewühlte Italien brachte er im Jahre 1530 durch seinen Herrscherwillen in Ordnung; die römischen Bischöffe seiner Zeit fürchteten, nach dem für Rom verhängnißvollen Jahre 1527, wohl ihn, aber er nicht sie; sein Nachbar Franz 1. von Frank­ reich zog, in vier Kriegen mit ihm, jedesmal den Kürzern; das Bündniß mit Heinrich 8. von Eng­ land knüpfte und lösete Karl abwechselnd, als Ne­ benpartie in seiner Staatskunst; in Teutschland be­ kämpfte er nicht sowohl den Protestantismus, als den schmalkaldischen Bund, ob er gleich auf seinem ersten Reichstage über Luthern die Reichsacht aus­ sprach; denn das weltliche Oberhaupt der Chri­ stenheit, der Kaiser, durchschaute sehr gut die hohe Bedeutsamkeit der von Wittenberg ausgegangenen Opposition gegen das geistliche Oberhaupt der Christenheit, für das Interesse der weltlichen Gewalt. Er wußte wohl, daß Gregors 7. Bescheidenheit seine



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Macht mit der Sonne, die Macht des Kaisers mit dem Monde verglichen hatte. Europa fühlte unter Karl dem 5, das Wirken eines mächtigen Geistes, dessen Spuren weit durchgreifender in die Folgezeit hinüber gereicht haben würden, wenn nicht persön­ liche Leidenschaften und Schwächen, fehlerhafte Staatswirthfchaft, und die Vereinzelung seiner poli­ tischen Kraft zu Kämpfen in Italien, Ungarn, Teutsch­ land und Frankreich, die Erreichung eines festen Ziel­ puncts verhindert hätten. Dazu kam, auf dem Throne Spaniens, ein so engherziger Nachfolger, wie sein Sohn Philipp. Ein Fürst, der über seiner Zeit stehen will, muß den Geist seiner Zeit verstehen; sonst wird er nie denselben leiten, sondern rühmlos untergehen in dem zweideutigen Kampfe mit demselben. So Philipp 2. Der Grundcha­ rakter seiner langen Negierung war: Reaction im Kirchen- und Bürgerthume. So viele Mit­ tel ihm auch für diesen Zweck zu Gebote standen; es ist ihm doch nicht gelungen, ihn zu verwirklichen. Er hatte sich überlebt, als er starb; denn als er un­ betrauert in die öde Gruft des Escurialö gebracht ward, war Spanien entvölkert und verarmt, das Niederland frei, kräftig und reich, und das ihm vom Papste geschenkte England, unter der Königin Elisabeth, die dem königlichen Wittwer zu Madrid den Korb gegeben hatte, zu einem früher nicht ge­ kannten Wohlstände emporgestiegen. Das langge­ fürchtete Spanien war in der Meinung der Kabi­ nette des Erdtheils gesunken; . denn die Corteöverfassung war erschüttert, der Nationalbankerott unver­ meidlich; nur die Inquisition blühte, nicht aber der Feldbau, der Gewerbssteiß, der Bergbau, der Han­ del und der Weltverkehr in den unzähligen Häfen,

78 die Spanien auf der Halbinsel, in Italien, in Ame­ rika und auf der Masse seiner insularischen Kolonie«« besaß. Dieser tiefe Stand der Staatekraft Spa­ niens dauerte fort, zugleich mit dem Systeme der Reaction, unter Philipps Nachfolgern, bis mit dem schwachen Karl 2. sein Mannöstamm erlosch. — Die neue Dynastie Bourbon, die, nach einem zwei­ deutigen dreizehnjährigen Kampfe, in Spanien, doch mit dem Verluste der europäischen Nebenländer, sich behauptete, entwickelte allerdings - mehr europäische Staatskunst, als die abgelebte Nachkommenschaft des zweiten Philipps; allein was Elisabeth von Parma und Alberoni wollten, war nicht Ver­ jüngung des innern Staatölebens der Monarchie, sondern die Länderausstattung ihrer Sühne aus ih­ rer Ehe mit Philipp 5. Als, nach dem Tode sei­ ner Halbbrüder, der älteste derselben Karl 3. (1759) zum Throne gelangte, gab Spanien unter Ministern, wie Aranda, Campomanes und Florida Bianca, frische Lebenszeichen; denn die Vertrei­ bung der Jesuiten, die Beschränkung der Inquisi­ tion, und ein nicht unrühmlich geführter Seekrieg (1779) mit England verkündigte das allmählige Er­ wachen des Volkes aus einer gefährlichen Asthenie. Schon galt Spaniens Wort von neuem im Rathe der Könige. Als aber, bald nach Karls 3. Tode (1788), Godoi die Leitung Spaniens überkam; da wußte dieser unfähige Emporkömmling schon da­ für zu sorgen, daß Spaniens innere Kraft in ihrer begonnenen Entwickelung durch das System der Reaction niedergehalten, und, als unmittelbare Folge desselben, auch dessen äußere Ankündigung im Staatensysteme Europas auf dessen vorige Unbe­ deutenheit zurückgebracht ward! —



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Noch mehr aber, als die beiden Staaten der pyrenäifchen Halbinsel, bezeugt die politische Ankün­ digung Frankreichs, in dem Zeitraume seit dem ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderte bis zum Aus­ bruche der Revolution, das Steigen der Völker durch das System zweckmäßiger Reformen, und ihr Sinken durch das System der Reaction. Frank­ reich ward von der Natur ausgestattet, wie wenige andere europäische Länder. Die Höhen und Eng­ pässe der Pyrenäen machen Spanien zu einten we­ nig gefährlichen Nachbar; die Fortdauer und mög­ lichste Steigerung der politischen Zerrissenheit Teutschlands lag Jahrhunderte lang in allen Berechnungen der französischen Staatskunst; das gestimmte Nieder­ land konnte, selbst mit mehr als 5 Millionen Bevöl­ kerung, nicht allein mit Frankreich sich messen. Denn diesem Staate gehört eine Volkszahl, die schon vor Jahrhunderten über 20 Millionen stieg. Hätte nicht der Feudalzwang und die Priestermacht auf seinem Boden geruht; welcher Wohlstand und Reichthum würde schon vor drei Jahrhunderten das frische, le­ benskräftige, geistig aufgeregte Volk dieses herrlichen Landes beglückt, und eben so seine innere Kraft, wie seine äußere Ankündigung, gesteigert haben! Das Weltmeer umfluthet seine westlichen Küsten; herrliche Ströme durchschneiden seinen Boden; Korn, Gemüse, Obst, Weinbau, Viehzucht, Mineralien, Manufacturen, Fabriken, Handel, Kunst und Wis­ senschaft— kurz, alles, was durch die physische Ar­ beit zum reinen Ertrage und durch die Kraft des Geistes zum höhern Genusse des L bens, zum fröh­ lichsten Anbaue der Künste, zur klaren, wenn auch nicht immer tiefen, Behandlung der Wissenschaften führt, ward, von den Mündungen der Rhone bis

80 zu den Mündungen der Loire, dem Volke Frankreichs als reiche Bedingung seiner innern Entwickelung ge­ geben. Dieses von der Natur gesegnete Volk be­ durfte aber, als zweite Grundbedingung seines Steigens und Fortschreitens, einer Regie­ rung, welche die an sich leichte Kunst verstand, die rechte Zeit, die rechte Art, das rechte Maas und den rechten Strebepunct des Fortschreitens ihres Vol­ kes zu verstehen. Darum zeigt auch kein europäi­ sches Reich, in den letzten drei Jahrhunderten, das abwechselnde Steigen und Sinken des Volkes so häufig, als Frankreich. Das Volk war immer, was seine Könige aus ihm machten. Es folgte Karl dem achten, Ludwig dem zwölften und Franz dem ersten auf ihren Zügen nach Italien, um jenseits' der Al­ pen ein.französisches Nebenreich zu gründen. Unter Franz 1. war Frankreich die einzige europäische Macht, die, obgleich mehrmals besiegt, doch mit bald wieder erstarkter Kraft dem spanischen Principate kühn in den Weg trat, und einen Ersaß für das, was ihm Karl 5. in Italien verweigerte, in drei lothringischen Bisthümern auf Kosten Teutschlands fand; eine Erfahrung, die für die Staatökunst Frankreichs nicht verloren ging, nachdem die Gräuel des Reactionösystems unter Heinrich 2, Karl 9. und Heinrich 3, durch den ersten Bourbon auf dem Throne Frankreichs, durch Heinrich 4, für 20 Jahre gehoben wurden. So lang es eine Weltgeschichte giebt, wird der Bartholomäusnacht des Jahres 1572, des furchtbaren Todeskampfes ihres Urhebers, des Königs Karl 9, der sittlichen Verworfenheit Heinrichs 3. und seiner schauderhaften Ermordung im Hauptquartiere zu St. Cloud durch Clement, zugleich aber auch, neben des in damaliger

81 Zeit auf Frankreichs Boden im wilden Bürgerkriege verströmten Blutes, der traurigen politischen Unbe« deutenheit dieses Staates unter den Einflüssen des Reactionssystems gedacht werden. Allein wie bald genas Frankreich von seinen in­ nern Wunden, und wie hoch stieg seine äußere Geltung im europäischen Staatensysteme, als Hein­ rich von Navarra, mit einer neuen Dynastie ein neues politisches System auf den Thron brachte! Nach wenigen Jahren waren die Parteien beruhigt, die bis dahin das Innere des Staates zerfleischt hatten; das Edict von Nantes sicherte den Hugenotten die Gleichheit der bürgerlichen Rechte; der weise Sully ordnete die zerrütteten Finanzen, verminderte die durch den Bürgerkrieg und durch die vorhergegqngene elen­ de Verwaltung gesteigerte Schuldenmasse, erhob den Feldbau zu der ihm in jedem gutgestalteten Staate gebührenden Wichtigkeit, und verschaffte, ohne Druck der verschiedenen Volksklassen, seinem königlichen Freunde die finanziellen Mittel, der äußern Stel­ lung Frankreichs in Europa die Bedeutsamkeit zu geben, welche diesem Staate nach seiner geographi­ schen Lage, nach seiner Volkezahl, und nach der er­ reichten Stufe der Cultur und des Wohlstandes seiner Bevölkerung gebührte. —- Denn zunächst auf die Machtbeschränkung der beiden Habsburgischen Linien in Spanien und Oestreich war Heinrichs 4. kühner Plan einer aus 15 gleichmäßigen Staaten bestehenden europäischen christlichen Repu­ blik berechnet, deren Verwirklichung allerdings auch dann noch sehr problematisch geblieben wäre, wenn Nicht das, vielleicht im Auslande, wahrscheinlicher noch in Heinrichs unmittelbarer Nähe, geschliffene Messer RavaillacS den König Heinrich den vierten Pölitz »erm. Schr. Lh. 2. 6

82 zu früh für Frankreichs Wohl und Größe getroffen hätte. Mit diesem Königsmorde am 14. Mai des Jah­ res 1610 begann von neuem in Frankreich das System der Reaction. Unter der Regentschaft der Wittwe Heinrichs 4, der Maria von Medici, konnte ein Mann, wie Sully, nicht fortwirkem Er zog sich zurück; denn von neuem wogten die kirchlichen und politischen Parteien auf, und schnell sank mit dem bisherigen Frieden im Innern, mit dem Wohlstände der Bürger, und mit der Ordnung in den Finanzen, die kaum begonnene kräftige Stel­ lung Frankreichs gegen das Ausland. Mit dem tiefgesunkenen Spanien ward ein unpolitisches Bündniß und eine nachtheilige Doppelheirath verabredet; die Stände Frankreichs, im Oct. 1614 zu einem großen Reichstage zusammeyberufen, wurden plötzlich entlassen, und ruhten — bis zum Mai 1789. Unwürdige Günstlinge, und die von Italienern be­ herrschte Königin Mutter, leiteten den schwachen König, der auf dem Vogelheerde sich besser, als beim Regieren gefiel. Zum Glücke des Reiches trat(1624) der Kardinal Richelieu in den Staatsrath. Ec regierte Frankreich achtzehn Jahre. Die Grundsätze seines Lebens und Wirkens taugen freilich nicht zur Unterlage eines Systems der Sittenlehre; denn diesem Priesterfürsten galten alle Mittel zum Zwecke. Allein das Verdienst gehört ihm, daß er das Parteiengewühl in Frankreich niederhielt, daß er den Hof von üblichen und kirchlichen Ränkema­ chern reinigte, daß er Ordnung in die innere Staats­ verwaltung brachte, und daß er das politische Sy­ stem Heinrichs 4. von neuem und im Großen auf­ faßte: Frankreichs politisches Gewicht im europäischen

83 Staatensysteme auf die Machtverminderung der Habsburger in Spanien und Oestreich zu gründen. Daher sein Bündniß mit Gustav Adolph von Schwe­ den, und, nach dessen Tode, mit Oxcnstierna und Bernhard von Weimar; daher der von ihm vorbe­ reitete Erwerb des Elsasses, ob er gleich die großen Ergebnisse des westphälischen Friedens nicht selbst erlebte. Doch leitete sein Zögling, der Kardinal Mazarin, die auswärtigen Verhältnisse in Richelieu's Geiste, wenn er gleich, während Ludwigs 14. Minderjährigkeit, die Hofparteien nicht so niederzu­ halten verstand, wie Richelieu. Ohne MazarinS politisches Schwanken und höfische Geschmeidigkeit hätte die Fronde nie eine politische Wichtigkeit er­ halten können; und deshalb bleibt die Geschichte der Fronde ein warnender Spiegel für jeden PremierMinister. Die Regierung Ludwigs 14. bildet zwei große Abschnitte; den vor seiner Krankheit, den zweiten nach derselben. Zwar zieht sich durch beide die unbeschränkte Willkühr eines Königs, dessen Wahlspruch war: L’ötat c’est moi, der ohne Reichs­ stände regierte, dem das Bewußtseyn und die Be­ hauptung seiner Würde und selbst des äußern An­ standes in einer 60jährigen Regierung nicht abge­ sprochen werden kann, der Frankreichs Grenzen auf Kosten seiner schwachen Nachbarn, Spaniens und Teutschlands, erweiterte, und der im Glanze des Hoflebens, wie in den Lobpreisungen der Gelehrten sich gefiel, die er, zunächst zu seiner eigenen Ver­ herrlichung , in Akademieen vereinigte. Allein der Ludwig 14, der vor seiner Krankheit, im Bunde mit Cromwell, Spaniens Macht zu erschüttern, im Pyrenäen-Frieden reiche spanische Provinzen, und 6»

84 die Tochter seines beraubten Schwiegervaters als Gemahlin zu erwerben verstand, der, nach Mazarins Tode, den großen Colbert erkannte und an den rechten Platz stellte, so daß der Gewerbssteiß, der Handel, die Marine und das Kolonialsystem Frank­ reichs zu ihrer Blüthe gelangten, und daß Ludwig in dem höher» Wohlstände Frankreichs zugleich die finanziellen Mittel für seine ununterbrochenen Kriege fand: — dieser Ludwig kam, nach seiner lebens­ gefährlichen Krankheit, der Folge vieljähriger sinnli­ cher Ueberreizung, in die Hände seines Beichtvaters la Chaise, seiner Maitresse der Maintenon, und seines bereits frühern Günstlings LouvoiS. Ein geschwächter Körper führt, besonders in den höhern Kreisen der Gesellschaft, sehr leicht zur Fröm­ melei, und trübt den Hellen Blick der Regierenden. Dem körperlich erschöpften und allmahlig alternden Ludwig fehlte es, auch nach seiner Krankheit, nicht an lichtvollen Augenblicken, wo er, namentlich in Beziehung auf die auswärtigen Angelegenheiten, mit Umsicht und Festigkeit sich ankündigte; dies zeigte besonders die Friedensunterhandlung zu Ryßwick, und Harcourts Sendung nach Madrid, als es darauf ankam, dem Enkel Ludwigs, Philipp von Anjou, testamentarisch die ganze reiche Erbschaft Spaniens zuzuwenden, während Ludwig gleichzeitig mit Wilhelm 3. von England zwei TheilungSvertrüge der spanischen Monarchie abschloß. Allein die Aufhebung des Edicts von Nantes; die tiefe Zerrüttung der Finanzen nach Colberks Tode, die traurigen Erfahrungen auf den Schlachtfeldern im spanischen Erbfolgekriege, als Maitressengünstlinge den Marschallsstab erhielten; die Hofränke, zum Theile veranlaßt durch Ludwigs natürliche Söhne,

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die Günstlinge der allmächtigen Maintenon, und die, neben den zügellosesten Hofausschweifungen, immer zunehmende äußere Hoffrömmigkeit, welche Telliers Schlauheit wohl zu benutzen verstand: — dies alles' sind die Schattenseiten der spätern Regie­ rungsjahre Ludwigs 14. nach seiner Krankheit. Zwar ward, nach dem unerwarteten Tode des teut­ schen Kaisers Joseph 1, und nach dem eben so überraschenden Ministerwechsel zu London, der Utrech­ ter Friede für Frankreichs Ehre vortheilhafter ge­ schlossen, als der Erfolg der letzten Kriegsjahre hatte erwarten lassen. Allein der königliche Greis stieg mit schmerzlichen Erfahrungen und mit düstern Ah­ nungen für Frankreichs Zukunft in die Gruft; denn er hatte zu viel und zu lange selbst regiert, um nicht zu fühlen, welche Zerrüttung durch frühzeitige Todesfälle und Hofränke in seine Familie, welche Erschöpfung durch eine Schuld von 2500 Millionen Livres über sein Volk gekommen, und welches Sin­ ken des äußern Gewichts seines Reiches in der po­ litischen Wagschale Europa's durch die Mißgriffe und falschen Berechnungen seiner Staatskunst in den lehten 15 Jahren seiner Regierung verschuldet wor­ den war! So rächt sich das System der Reaction an Fürsten und Völkern zugleich! So untergräbt die scheinbar unbeschränkte Gewalt, die keine Stände neben sich dulden will, wohl aber von Weibern, Priestern und Höflingen sich leiten läßt, den Lebens­ keim im Innern der Staaten! Frankreichs Macht, — das erkannte Europa schon nach der Schlacht bei Malplaquet (11. Sept. 1709), — war im Sinken, weil König und Volk einander ent­ fremdet und die edelsten Kräfte des letzten an ein politisches Principat gesetzt worden waren, mit wel-

86 chem Ludwigs Stolz nach den Friedensschlüssen von Aachen, Nimwegen und Ryßwick sich schmeichelte. Und dieses im Innern und nach außen politisch gesunkene Frankreich ward, nach Ludwigs 14. Tode, weder durch den charakterlosen und ausschweifenden Herzog-Regenten, noch durch Ludwig 15. selbst von neuem emporgehoben. Mit Ausnahme der Mini­ sterschaft des besonnenen Kardinals Fleury, ward in der langen Zeit von 1715 bis 1774 das Reactionssystem in Frankreich beinahe methodisch geübt. Die Schwäche und Sinneslust des Königs; Maitreffen , wie die Pompadour und Dubarry; Höf­ linge, die nur in Genüssen schwelgten; Minister, die, selbst bei gutem Willen, durch Hofränke, Weiber­ macht und Finanzzerrüttung in ihren Planen sich ge­ hemmt sahen, und Feldherren, die auf den Schlacht­ feldern des siebenjährigen Krieges bald verächtlich, bald sogar lächerlich wurden; dazu ein Volk, das unter dem Drucke der Generalpachter, unter der Last der Abgaben, unter dem Hohne und den Anmaßun­ gen der bevorrechteten Stände erlag, und einem Hofe entfremdet, der selbst die Grundpfeiler der Regentenwürde — persönliche Sittlichkeit auf dem Throne, und unerschütterliche Gerechtigkeit gegen alle — immer mehr untergrub: wie hätte, bei diesem Fluche des Reactionssystems, der so lange auf Frank­ reich gelastet hatte, der edle Ludwig 16, nach seiner Thronbesteigung, die in alle Puncte des Volk­ lebens, in alle Fugen des Staatsorganismus ein­ gedrungenen Gifte der Reaction auf einmal besei­ tigen können! So führte das, ein Jahrhundert hindurch fast ohne Ausnahme geübte, System der Reaction in Frankreich zur Revolution, weil ein Extrem daö andere vorbereitet. Zwar gab ein un-

87 gedecktes und undeckbares jährliches Deficit von 140 Millionen Livres in den Finanzen zuletzt auf ähn­ liche Weife den Ausschlag zur Revolution, wie die im Blitze ausströmende Elektricität zündet; allein die Anhäufung der elektrischen Masse bildet, nach einem Gesetze in der physischen Welt, die Gewitter, wie, nach einem Gesetze in der sittlichen Ordnung der Dinge, die Ccntnerlast der Reaction in den Gewit­ terstürmen der Revolutionen sich entladet! Darum gab es auch, nach dem Zeugnisse der Geschichte, nirgends eine Revolution, wo nicht ein mit Strenge gehandhabtes System der Reaction in der bürgerlichen Gesellschaft vorherging. Bei dem Systeme zeitgemäßer Reformen wird jede Revolution im Voraus unmöglich gemacht. Auch sinken die Völker und Staaten nur durch die Reaction im in­ nern und äußern Staatsleben; nie aber durch das System des allmähligenFortschreitens. Denn Por­ tugal, Spanien und Frankreich verkündigen in den einzelnen Zeitabschnitten der abgelaufenen drei letzten Jahrhunderte durch unwiderlegbare That­ sachen, daß die Kraft der Völker und Staaten stieg, sobald Männer, wie Pombal, wie Timenes, Aranda, Florida Blanca, Sully, Colbert, und andere, an der Spitze der Verwal­ tung standen, und Könige, wie Emanuel, Karl 5, Ludwig 12. und Heinrich 4. den Geist ihres Volkes und ihrer Zeit begriffen; daß aber unter Sebastian von Portugal, unter dem zweiten, dritten und vierten Philipp, unter Karl dem zweiten, unter Philipp dem fünften und Ferdinand dem sechsten in Spanien, untsrHein­ rich 2, Karl 9, Heinrich 3, und unter Lud­ wig 14. in seinem Alter, so wie unter dessen Ur-

83 enkel Ludwig 15. in Frankreich, die Völker und Staaten unaufhaltbar sinken. Es ist wahr, der Faden der Geschichte läuft zunächst fort an einzelnen Thatsachen; allem diese Thatsachen sind Wirkungen der Menschen, und ge­ stalten sich nach den Handlungen derselben. • Und wie die Individuen, nach dem Charakter und Werthe ihrer Handlungen, steigen oder sinken; so auch die Völker und Staaten. Dies zu erforschen, und die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären, die Zukunft nach den Thatsachen der Gegenwart vorherzusehen und zu berechnen: für diesen Zweck spricht die beschichte eben so warnend, als trostvoll; warnend vor der Reaction, unter welcher die Völ­ ker sinken; trostvoll aber für alle, die im Gewis­ sen das Bewußtseyn tragen, daß die Völker, an deren Spitze sie stehen/ fröhlich aufsteigen zum Lichte der Wissenschaft; zur geregelten Freiheit int Bürgerthume, und zum Wohlstände in allen For« men und Verzweigungen des bürgerlichen Berufs.

4. Die demagogischen Umtriebe im Zeitalter der Kirchenverbesserung. Es tritt keine großartige, geisterhebende Idee ins öffentliche Staatöleben ohne Kampf mit denen, wel­ che ihrer weitern Verbreitung sich entgegen sehen, und ohne vielfache Verirrungen von der Mehrheit derer, die zwar für dieselbe sich erklären, die aber den eigentlichen Sinn dieser Idee weder verstandennoch deren wahre Bestimmung erkannt haben. Denn nicht blos die Gebildeten und die Gereiften unter den verschiedenen Ständen des Volkes ergreifen mit hoher Theilnahme eine neue ins öffentliche Leben ein­ tretende Idee; auch Eigennühige, Schwächlinge, lei­ denschaftlich Aufgeregte, Schwärmer und Nachtreter fremder Meinungen werfen sich zu Vertheidigern und Verbreitern derselben auf, ohne die Reinheit, die Bedeutung und die Kraft der Idee selbst zu be­ greifen. So geschah es im Zeitalter dec Kirchen­ verbesserung, als die große Idee der reli­ giösen und kirchlichen Freiheit — im Gegensahe des seit dem Ende des eilften Jahrhunderte in der abendländischen Christenheit bestandenen Systems der Hierarchie — ins öffentliche Leben eintrat; und unter ähnlichen Kämpfen und Verirrungen erfolgte in unserm Zeitalter der Eintritt der Idee der

00 bürgerlichen und politischen, Freiheit ins Staatsleben. Kennt man die Menschen und die Völker nach den unwiderlegbaren Thatsachen der Geschichte im wirklichen Leben, und nicht blos aus der Bücherwelt; so finden wir in allen Zeitaltern, selbst in denen, die im Allgemeinen durch einen höhern Grad geisti­ ger Bildung und sittlicher Reife sich auszeichnen, daß nur der kleinere Theil der Völker die Gebilde­ ten und Gereiften umschließt, welche durch tiefere Einsichten und gründliche Kenntnisse, so wie durch die zur Stärke und Festigkeit entwickelte Kraft des sittlich guten Willens, auf dm Eintritt einer groß­ artigen Idee in den Kreis der Wirklichkeit hinrei­ chend vorbereitet und dadurch fähig geworden sind, diese Idee in ihrer Reinheit aufzufassen, und die Verwirklichung derselben mit dec ganzen Wärme und Kraft der gewonnenen bessern Ueberzeugung, zugleich aber auch mit der richtigen Würdigung der bestehen­ den Verhältnisse, und mit der gerechten Schonung der Andersdenkenden zu befördern, wodurch der ge­ waltsame Uebergang von dem Veralteten zu dem er­ rungenen Bessern vermieden, und doch der endliche Sieg der Wahrheit und des Lichtes für die Zukunft entschieden wird. Auf solche Weise trat vor acht­ zehn Jahrhunderten das Christenthum in die Kreise der Weltgeschichte. Ausgehend von der mosaischen Religion, beabsichtigte und bewirkte es die Fortführung der Menschheit zu dem hohen Ziele ei­ ner richtigern und geläuterten Erkenntniß Gottes, einer reinern Tugend nach dem Vorbild« seines gött­ lichen Stifters, und der trostvollsten Erwartung ein§6 künftigen bessern Lebens. Nicht durch blutige Bekämpfung der Feinde dieses Glaubens, wie Ma-

01 homed sechs Jahrhunderte spater, den Islam in die Welt einführte; nur durch die innere Kraft seiner Wahrheit, und diese versiegelt durch den Tod seines Stifters und seiner ersten Lehrer und Bekenner, trat das Christenthum ins öffentliche Leben, und verbrei­ tete sich belehrend, segnend und tröstend, allmählig über die gesitteten Völker der jungem Menschheit. Allein anders, als auf den kleinern Theil der Gebildeten und Gereiften in der Mitte eines Volkes, wirkt der Eintritt einer neuen Idee in die Wirklich­ keit auf die größere Masse desselben. Bald ist eS der Reiz der Neuheit dieser Idee; bald der Ei­ gennutz, der seine Erwartungen an die Verwirkli­ chung derselben knüpft; bald das Halbdunkel, in wel­ chem dem minder Gebildeten das Licht der neuer­ strebten Wahrheit erscheint; bald die ungeregelte Lei­ denschaft, welche eö nicht zu begreifen und zu dul­ den vermag, daß Andere anders denken; und bald die Schwärmerei, die in dunkeln Gefühlen sich ge­ fällt, unter welchen sie die neu eintretende Idee aus­ schließend lieb gewann, — was die größere Masse des Volkes dem neuen Lichte zuwendet. Kann es da wohl anders geschehen, als daß, durch solche dunkle Begriffe und Gefühle, durch solche eigennützi­ ge Hoffnungen, durch solche mächtige Aufregungen der Leidenschaften, die kaum ins Leben eingetretene Idee in ihrer Reinheit und Würde verkannt, und eben durch die sich ankündigendl n Verirrungen, Miß­ brauche und Entstellungen bei Vielen verdächtig wird, die noch schwankten, ob sie das anerkannt Veraltete, nach dem argumentum a tuto, beibehalten, oder dem Neuen, das auf Fortschritt zum Bessern hin­ deutet, sich anschließen sollen! Ohne daher die allgemeine Vervollkommwungs-

L2 fähigkeit der menschlichen Natur in jedem Wesen unsrer Gattung zu läugnen, und ohne die Bestim­ mung der Menschheit für die allmählig weiter fort­ schreitende — d. h- eine immer größere Mehrheit der Individuen umschließende — Verbreitung geläu­ terter Begriffe und gereinigter Wahrheiten zu ver­ kennen oder zu verdächtigen, steht doch die geschicht­ liche Thatsache fest, daß die eigentliche Masse des Volkes nie zur sittlichen und politi­ schen Mündigkeit gelangt, und folglich nie selbst' den Ausschlag bei dem Eintritte einer neuen Idee in die Wirklichkeit geben darf; daß vielmehr das als Zeitbedürfniß sich ankündigende und aner­ kannte Bessere nur von oben her und unter Mit­ wirkung der gebildetsten, gereiftesten und besonnenssen Männer, in die Mitte des Volkes gebracht werden darf. In diesem Sinne gilt der staatsrecht­ liche und politische Grundsatz: „Alles für das Volk, nichts durch daö Volk!" Mit diesem Grundsätze steht aber ein zweites Axiom in noth­ wendiger Verbindung: daß nie die moralisch und po­ litisch Unmündigen, sondern nur die moralisch und politisch Mündigen — sie mögen sich nun in den sogenannten höhern, oder mittlern, oder niedern Clas­ sen des Bürgerthumes finden, — zum Antheile an der Volksvertretung, und zur Uebernahme der Staats und Regierungsämter berufen werden dürfen. Denn wie kann ein Blinder — ein sittlich und politisch Unmündiger — dem andern den Weg zeigen! — So wenig man im Staate die physisch Unmündigen zur Ausübung bürgerlicher Rechte zuläßt; so wenig dürfen auch die sittlich Unmündigen — Menschen ohne, tiefe und gründliche Kenntnisse, ohne Charakter­ festigkeit, und ohne reines sittliches Wollen für die

93 Herrschaft deß Rechts und die Erhaltung der allge­ meinen Wohlfahrt — zur Leitung und Bevormun­ dung des Volkes angestellt werden. Wenn denn nun aber von der einen Seite das.Volk, als Masse, keinen Antheil an der, eigentlichen Regierungsrechten erhalten darf; so darf doch auch, von der andern Seite, das System der Negierung nicht einer poli­ tischen Stereotype gleichen, weil die Bürger des Staates, als vernünftige und mit Freiheit des Wil­ lens auögestattete Wesen, entweder fortschreitcn odssr rückwärts schreiten. Es giebt kein Drittes. Einen eigentlichen Stillstand kennt weder die Natur, noch die sittliche Ordnung der Dinge. Soll daher nichts durch das Volk, wohl aber alles für dasselbe gesche­ hen; so bleibt die einfache Aufgabe der Regierung, das allmählige aber ununterbrochene Fortschreiten des Volkes zu befördern, und das Nückwärtsschreiten zu verhindern. An diesen höchsten Maasstab der Re­ gierungskunst muß man jedes einzelne Gesetz, jede einzelne politische MaaSregel halten, um theils über ihre Rechtmäßigkeit, theils über ihre Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Jedes Gesetz, jede Maasregel, welche auf das Fortschreiten des Volkes in feiner Entwicke­ lung zur Reife und Wohlfahrt berechnet ist und die­ ses Fortschreiten befördert, entspricht dir ersten'und wesentlichen Bedingung der kräftigen Ankündigung deS innern Staatslebens; jedes Gesetz hingegen und jede Maasregel, welche hemmend auf das Fortschrei­ ten des Volkes einwirken oder dasselbe zum Rück­ wärtsschreiten von der bereits erreichten Stufe der geistigen Bildung und physischen Wohlfahrt nöthigen will, zerstört — wie eine gefährliche Arznei — die Grundlage der innern Lebenskraft des Volkes, und führt, in ihrer fortgesetzten Anwendung, zur Aufhe-

94 büng des innern nothwendigen Gleichgewichts der im Volke liegenden Kräfte, so wie am Ende entweder zum politischen Tode und zum Untergange der Völ­ ker und Reiche, oder zur Revolution, sobald das durch den Druck des Reactionssystems erbitterte Volk in Masse anfsteht, die verlornen Rechte reclamirt, und das Wagestück der politischen Verjüngung durch seine ungeregelte Kraft auszuführen versucht. Wo aber, zur Zeit des Eintritts einer neuen Idee in die Wirklichkeit, die Leidenschaften und Bestrebun­ gen der großen Masse des Volkes sich aufgeregt an­ kündigen, und dem gebildeten und besonnenen Theile desselben die Leitung der sittlich-unmündigen Masse entweder durch das Zusammentreffen der Umstände, oder durch die. von dieser Masse angemaßte physische Gewalt entrissen wird; da treten auch diejenigen Erscheinungen ein, welche die Sprache der neuern Staatskunst demagogische Umtriebe nennt. Denn was sind diese Umtriebe anders, als mehr oder weniger umsichtig berechnete, mehr oder weniger gewaltsam unternommene, mehr oder weniger gelun­ gene Versuche einzelner Männer, welche durch daö aufregende Wort oder durch die kühn begonnene und durchgeführte That, auf die große Masse des Volkes so entscheidend einwirken, daß diese — geleitet von dem blendenden Ansehen solcher Wortführer — den­ selben blindlings als Werkzeug ihrer Absichten sich hingiebt, sobald diese Demagogen nur die armselige Kunst verstehen, deö Aberglaubens, der Schwärme­ rei, des Eigennutzes, der dunkeln Gefühle und der Leidenschaften der großea Masse sich zu bemächtigen. Wie oft ward unter solchen Einflüssen der OstraciemuS in Griechenland geübt! Was war Rom seit den gracchischen Unruhen bis auf Octavian! —

95 Wie? oder gehören nicht im Zeitalter der KirchenVerbesserung ein Nicolaus Storch, ein Karl, stadt, ein Thomas Münzer, ein Johann von Leiden, ein Knipperdolling, — und im Zeitalter der französischen Revolution die Marat, die Danton, die Robespierre und alle die Blutmenschen seit den Septembrisirern vom Jahre 1792 bis zum 28. Juli 1794 unter die Kategorie solcher Demagogen? Doch soll, neben dieser gerechten Rüge der Re­ volutionsmänner, — sie mögen unter religiösen oder politischen Formen erscheinen, — keineSweges geläugnet werden, daß nicht selten die Partei des SystemS der politischen Stereotypen, die starr und steif am Alten hängt und jeder Reform das öffentliche Leben verschließen will, so wie die Anhänger des Reactionssysteme, welche das bereits ins Leben ge­ tretene Bessere aus demselben wieder verdrängen und, um jeden Preis und durch jedes Mittel, das Ver­ altete und Untergegangene an dessen Stelle sehen wollen, den Begriff der Demagogen und der dema­ gogischen Umtriebe bisweilen in einer Ausdehnung genommen und auf Männer übergetragen haben, wo­ durch selbst den Edelsten und Besten unter den Völ­ kern Absichten unterlegt wurden, von welchen ihr Kopf und ihr Herz rein und frei war. Denn hat nicht die Leidenschaft ihrer Gegner sogar die edelsten und kraftvollsten Reformatoren, die Luther, Melanthon, Zwingli u. a. der religiösen Demago­ gie verdächtigt und mit einem Thomas Münzer oder Johann von Leiden auf gleiche Linie gestellt? Wirft nicht die Heftigkeit der ReactionShelden unsrer Zeit die gemäßigten Vertheidiger der bürgerlichen und po­ litischen Freiheit, und die offenen Bekenner der

96 RechtlichkeitMd Zweckmäßigkeit constitutioneller Staatsformen, die allerdings nicht dem Absolutis­ mus huldigen, — werfen sie jene.nicht, vielleicht selbst einen Georg Canning, einen Huskisson, einen Grey, Ruffel, Brougham u. a., in die Klasse der Demagogen!

Doch unsere Absicht ist nicht, die demagogischen Umtriebe der neuern Zeit seit den Tagen der fran­ zösischen Revolution zu schildern, sondern blos in kurzen Umrissen nachzuweisen, es habe auch im Zeitalter der Kirchenverbesserung bereits demagogische Umtriebe in dem Sinne des Wor­ tes gegeben, der in den vorhergehenden Sähen aufgestellt ward. Wir rechnen dahin die Bestrebun­ gen des Nicolaus Storch und seiner Anhänger; die Thaten dec Urheber des Bauernkrieges, und namentlich des Thomas Münzer; so wie die Ab­ sichten und Unternehmungen der Wiedertäufer zu Münster. Wären die demagogischen Umtriebe der beiden zuerst genannten nicht sogleich in ihrem Entstehen von Luthers richtigem Tacte und hohem Ernste als das, was sie waren, bezeichnet und von ihm desavouirt, wären sie nicht mit Kraft, und Nach­ druck von den gleichzeitigen Fürsten — obgleich mehrere derselben die treuesten Bekenner des gereinig­ ten Lehrbegriffs und die wärmsten Vertheidiger der Reformatoren waren — öffentlich bekämpft worden: welche Erschütterungen würden sie über Teutschland gebracht, wie sehr würden sie das Daseyn, das Be­ stehen und die weitere Verbreitung dec Kirchenver­ besserung, und der mit ihr inö öffentliche Leben ein­ getretenen Idee der religiösen und kirchlichen Freiheit



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selbst gefährdet haben! Welche Ströme von Blut würden geflossen seyn, wenn nicht der Tag bei Frankenhausen über die Beendigung des Bau­ ernkrieges entschieden hätte! Denn kaum hatte Luther in Wittenberg den gro­ ßen Zweck der Wiederherstellung der heiligen Schrift gegen die Entstellungen durch die päpstliche Hierar­ chie, das Bedürfniß der Reinigung der Kirche von verjährten Mißbräuchen, den biblischen Beweis der Usurpation der Macht und Gewalt eines sichtbaren Oberhauptes der Kirche, und das große Wort der wahren religiösen und kirchlichen Freiheit ausgespro­ chen; kaum hatte dieser Mann des felsenfesten Glau­ bens zu Worms sein Leben selbst an das offene Be­ kenntniß der von ihm erkannten Wahrheit gesetzt, als, bei der weitern Verbreitung der gereinigten Lehre unter die niedern Stände des Volkes, auch sogleich demagogische Umtriebe sich zeigten, die auf dem Miß­ verstehen und dem Mißbrauche der von den Refor­ matoren ausgesprochenen Wahrheiten beruhten. Noch saß Luther auf der Wartburg, wohin ihn die Um­ sicht seines Landesherrn, des Churfürsten Friedrichs.des Weisen von Sachsen, auf Luthers Rückwege von Worms nach Wittenberg, bringen ließ, um ihn den Blicken seiner Feinde und her Vollziehung der über ihn ausgesprochenen Reichöacht zu entziehen, als von Zwickau aus mehrere Schwär­ mer nach Wittenberg zogen, und mit ihren kühnen Behauptungen den schüchternen Melanthon, an den sie sich wandten, in Verlegenheit setzten. Es waren die Tuchmacher Nicolaus Storch und Marcus Thomä von Zwickau, welche mit Marous Stübner und Thomas Münzer, die kurz zuvor in Wittenberg studirt und die Lehren der Reformatoren Pölitz verm. Schr. Th. 2. 7

98 nur theilweise und höchst einseitig aufgefaßt hatten, in Wittenberg erschienen, nachdem der Stadtrath zu Zwickau mehrere dieser Schwärmer mit Gefängniß­ strafe belegt, und der dasige Prediger Nicolaus Hausmann öffentlich gegen sie gepredigt hatte. Sie rühmten sich unmittelbarer göttlicher Offenba­ rungen; sie deuteten viele Stellen der Schrift nach ihrer Weise; hauptsächlich beabsichtigten sie die Wie­ dertaufe, und erklärten sich gegen die Taufe der Kin­ der; auch verkündigten sie die Stiftung eines welt­ lichen Reiches Christi auf Erden. — Diese Schwärmer erschienen in Wittenberg in den lehten Tagen des Monats December 1521, wo gleichzeitig, während Luthers Aufenthalte auf der Wartburg, der College desselben, der Professor An­ dreas Bodenstein aus Karlstadt (deshalb ge­ wöhnlich Karlstadt genannt), in Verbindung mit mehrer» Studirenden und Bürgern der Stadt eine gewaltsame Veränderung des äußern kirchlichen Cul­ tus begonnen, die Bilder aus den Kirchen gewor­ fen, mehrere Altäre zerstört, das Abendmahl ohne Beichte und unter beiderlei Gestalt gehalten, und Mönche und Geistliche, die ihm entgegen wirkten, bedroht hatte. Karlstadt war einer von den Män­ nern, welche, bei vielseitigen Kenntnissen, der Reife des Urtheils und der Besonnenheit im Handeln er­ mangeln, weil eine kühn aufgeregte Einbildungskraft sie zu übereilten Schritten fortreißt, und die Eitel­ keit, eine ausgezeichnete Rolle zu spielen, dabei im Hintergründe liegt. — Selbst Melanthon *), bei *) So, und nicht Melanchthon, unterschrieb er sich' als Professor in den Votis, die in den Acten der philosophischen Facultät zu Wittenberg aufbewahrt wurden, zu welcher er als

99 welchem Stübner im Hause wohnte, war in Ver­ legenheit, wie er sich gegen Storch und dessen An­ hänger betragen sollte. Er schrieb deshalb an den Churfürsten Friedrich, und bat ihn um Luthers Zu­ rückberufung, weil dieser allein darüber entscheiden könne. Der Churfürst aber fand Luthers Zurückbe­ rufung noch nicht an der Zeit, und rieth dem Melanthon und dessen Collegen Amsdorf- mit Vor­ sicht zu verfahren, und die Disputationen mit den Storchiten zu vermeiden. In ähnlichem Sinne ant­ wortete Luther selbst von der Wartburg seinen Amtsgenossen Melanthon und Amsdorf, die deshalb ihn befragt hatten. Als er aber erkannte, daß durch die in Wittenberg eingekretene Gährung die begonnene Reform der Kirche in eine Revolution verwandelt werden, und dadurch zu unübersehbaren Stürmen und Folgen führen möchte, verließ er — ungeachtet der Warnung des Churfürsten — sein Asyl auf der Wartburg, und erschien im März 1522 wieder zu Wittenberg, nachdem er diesen Schritt dem Churfürsten im Voraus angezeigt und diesem geschrieben hatte, „daß der Satan in seine Hürden gefallen sey, und ihm etliche Stücke zugerichtet habe, die er schriftlich nicht stillen könne; er müsse also selbst gegenwärtig seyn, und mit Mund und Ohren handeln." Sein persönliches Erscheinen und seine achttägi­ gen Predigten zu Wittenberg bewirkten denn auch sogleich die Wiederherstellung der Ordnung und der Ruhe. Er dämpfte die begonnene Aufregung dec Professor der griechischen Sprache gehörte. Diese Acten wa­ ren, während meines eilfjährigen Lehramtes in Wittenberg, ost in meinen Handen,

100 Gemüther, ohne die Mißbräuche beim öffentlichen Gottesdienste zu verkennen. „Doch darf, „so lehrte er," nicht jeder alles thun, wozu er ein Recht hat; er muß vielmehr darauf sehen, was seinem Bruder nützlich ist, und sich nach seines Nächstm schwachem Glauben richten." Kurz darauf verließen Storch und seine Anhänger Wittenberg, und zerstreuten sich in verschiedene Gegenden. Ernsthafter und drohender, als diese Bewegun­ gen, trat bald darauf der Bauernkrieg in den Kreis der gleichzeitigen Weltbegebenheiten. Bereits in der Zeit vor dem Anfänge der Kirchenverbesse­ rung waren einzelne Aufstände der Bauern gegen den Druck ihrer Zwingherren erfolgt; so im Jahre 1491 in Schwaben und im Niederlande; im Jahre 1503 im Bisthume Speyer; im Jahre 1514 im Herzogthume Würtemberg, und im Jahre 1515 in Kärnthen. Die beginnende Kirchenverbesserling war also keinesweges der 'erste und nächste Grund des erneuerten Bauernaufstandes; wohl aber mischten sich demselben bald religiöse Meinungen und Trieb­ federn bei, als mehrere sogenannte Prä-icanten die niedern Volksklassen durch ihre Predigten zu ge­ waltsamen Veränderungen im bürgerlichen Leben auf­ regten. So standen im Jahre 1524 die Bauern in Schwaben auf; bald aber verbreitete sich dieser Aufstand in die Gegenden am Rheine, über Lothringen, Franken, Thüringen und Sachsen. Ob er gleich am stärksten in den Ländern der geistlichen Reichsfürsten und der unmittelbaren Reichsritter sich ankündigte, und, mit einer Mischung von neuen, aus den Lehren der Reformatoren hervorgegangenen, religiösen Ansich­ ten, die nachdrücklichsten Erklärungen gegen den Druck der Leibeigenschaft und der gesteigerten Ab-

101 gaben verband; so erhielt doch dieser Aufstand seinen eigentlichen politischen Charakter durch ein unter dem Namen „der zwölf Artikel der Bauern­ schaft" öffentlich erlassenes Manifest, und durch den öffentlichen Kampf, der im Frühjahre 1525 in Thüringen erfolgte. Sie verlangten, nach diesen Ar­ tikeln, das Recht, daß jede christliche Gemeinde ihre christlichen Lehrer selbst bestellen und absehen dürfe; die Abschaffung des Viehzehnten, und die Anwen­ dung des Getreidezehnten zur Besoldung der neu an­ gestellten Prediger, so wie zu andern nützlichen Anstalten; sie wollten fortan nicht als Sklaven und Leibeigene gehalten werden, weil Christus sie alle durch sein Blut erlöset habe; sie forderten Antheil an Jagd, Fischfang und Benutzung der Gehölze zum Brennen und Bauen, und die Abstellung der Jagd­ schäden auf den Feldern; doch sollte über dies alles gütlich gehandelt werden, ohne jemandem sein recht­ mäßig erworbenes Eigenthum zu schmälern. Weiter wollten sie Abgaben, Frohnen und Pacht­ gelder auf bpn alten Fuß zurückgeführt wissen ; man sollte auch den Gang der Gerechtigkeitspfiege nicht so häufig, wie bisher, verändern. Sie forderten endlich die Güter zurück, welche ehemals ganzen Ge­ meinden gehört hätten, und die theils durch Unge­ rechtigkeit, theils durch Kauf und Vertrag in andere Hande übergegangen wären, in welchem letztern Falle sie gütlich und christlich mit dem jetzigen Inhaber derselben sich vergleichen wollten; auch verlangten sie die gänzliche Abschaffung des Todesfalles, weil die Beraubung der Wittwen und Waisen gegen die Ge­ setze der Schrift und der Natur wäre. Am Schlüsse dieses Manifestes erboten sie sich, alle diese Puncte einzeln oder im Ganzen aufzugeben, sobald man

102 ihnen aus der Schrift bewiese, daß sie unrecht wären *). Die Häupter des Bauernaufstandes schickten das Manifest an Luther, gewiß unter der Voraueftßung, daß er dasselbe billigen würde. Luthers richtiger Blick und Tact wollte aber sein begonnenes Werk nicht in die Hände deö'Volkes geben; eü sollte vielmehr die Reform von oben herab durch die Fürsten und den Adel geschehen. Dies zeigte be­ reits seine kräftige Flugschrift vom Jahre 1520: „An den christlichen Adel teutscher Na­ tion." In diesem Sinne schrieb er seine „Ver­ mahnung, beides an Fürsten, Adel und Bauern," womit er den von ihm veranstalteten Abdruck der zwölf Artikel begleitete. Sein Gerech­ tigkeitssinn verhehlte keinesweges den auf den untern Volksklassen lastenden Druck; daher die ihm eigene Kraftsprache gegen die Mächtigen unter den Welt­ lichen und Geistlichen- Allein eben so wenig billigte er den von den Wortführern der Bauern eingeschla­ genen Weg. — In Beziehung auf jene schrieb er: „Erstlich mögen wir Niemand auf Erden danken solches Unraths und Aufruhrs, denn euch Fürsten und Herren, sonderlich euch blinden Bischöffen, tol­ len Pfaffen und Mönchen, die ihr, noch heutiges Tages verstockt, nicht aufhört zu toben und wüthen wider das heilige Evangelium, ob ihr gleich wisset, daß es recht ist, und auch nicht widerlegen könnet. Dazu in weltlichem Regiment ihr nicht mehr thut, denn daß ihr schindet und schaßt, euere Pracht und

*) Geo. Sartorius, Geschichte des teutschen Bauern­ krieges, ®. 112.

103 euer» Hochmuth zu führen, bis der arme gemeine Mann nicht kann noch mag länger ertrage^ Das Schwert ist euch auf dem Halse. Denn das sollt ihr wissen, lieben Herren, Gott schaffet es also, daß man nicht kann, noch will, noch soll eure Wütherei länger dulden. Ihr müßt anders werden, und Gottes Worte weichen. Thut ihrs nicht durch freundliche willige Weise; so müßt ihr eö thun durch gewaltige

und verderbliche Unweise. Thun'ö die Bauern nicht; so müssen es Andere thun. Und ob ihr sie alle schlagt; so sind sie noch ungeschlagen; Gott wird

Andere erwecken. Ihr wißt nicht, wo das Ende bleiben wird. Suchts zuvor gütlich, auf daß nicht ein Funken angehe und ganz Teutschland anzünde, das Niemand löschen könne." — Den Bauern aber antwortete er, daß sie nicht einen christlichen oder evangelischen Haufen sich nennen, d.h. die Religion nicht zur Rechtfertigung ihrer weltlichen Forderungen gebrauchen sollten. Gott verbiete allen Aufstand, und sie wären dadurch nicht entschuldigt, daß die Obrig­ keit böse und ungerecht sey; denn Empörung sey gegen christliches, göttliches und natürliches Recht. ,,Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert um­ kommen; die Rache ist mein, ich will vergelten; ihr sehet den Splitter in der Obrigkeit Augen, nicht aber den Balken in euern eigenen." Es sey unziem­ lich für einen Christen, ja es sey ihm nach christli­ chen Rechten unerlaubt, der Macht sich entgegen zu stemmen. „Wer dich zwingt, eine Meile Weges zu gehen, mit dem gehe zwei Meilen; und wer dir den Mantel nimmt, dem lasse auch den Rock; und wer dich auf den einen Backen schlägt, dem halte den andern auch dar." Sie sollten aufhören, sich einen christlichen Haufen zu nennen; denn der Christ

104 empfehle sich Gott, und lasse alles mit sich anfangen. Er wolle ihr Recht oder Unrecht dahin gestellt seyn lassen; nur seyen sie kein christlicher Haufe. UebrigenS wisse er wohl, woher ihr Aufstand komme; „es sey der leidige Teufel, der diese Mordpropheten und Rottengeister ausgesandt habe; hiermit wolle der Teufel ihn Luthern zu vertilgen und aufzufressen suchen. Nun er fresse mich denn; cs soll ihm der Bauch enge genug darnach werden." Darauf fuhr Luther an die Bauern fort, daß, obgleich ihre Artikel natürlich recht und billig wären, sie doch da­ durch alles verdorben hätten, „daß sie durch eigene Schuld, und Frevel ihre Forderungen der Obrigkeit abdringen wollten. Was sind mir Das für Christen, die um des Evangeliums willen Räuber, Diebe und Schälke werden, und sagen darnach, sie seyen evan­ gelisch? Sie verfügten ja bereits über die Zehn­ ten, da sie doch nicht ihre wären, gleich als wären sie schon Herren im Lande! Die Erlösung Christi und sein vergossenes Blut habe nicht die Leibeigen­ schaft aufgehoben; denn dies gelte nur vom geistli­ chen, nicht vom weltlichen Reiche. Die übrigen Ar­ tikel überlasse er den Rechtsgelehrten; nur zieme es auf keinen Fall einem Christen, daß er darum zanke." Erklärungen dieser Art beweisen, daß der Re­ formator kein Revolutionair war; daß er Reformen wollte, nicht aber eine Revolution; daß er es erkannte und mit Ossenheit aussprach, es könne nicht alles beim Alten bleiben, es müsse verändert, verbessert, aber nur von oben her geholfen werden, wenn der Zustand des Volkes erleichtert werden sollte; daß aber das Volk nicht selbst sich helfen dürfe, um die erwünschte Verbesserung seiner Verhältnisse herbei zu führen. Es ist der sichere Tact Luthers darin

105 nicht zu verkennen, der um so verdienstlicher war, weil ihm in seiner Klosterzelle die Kenntniß der wirk­ lichen Welt und der Politik mangelte. — Unter den Demagogen dieser Zeit war Thomas Münzer einer der kühnsten und aufgeregtesten. Er hatte, nach seinem Weggange von Wittenberg im Frühjahre 1522, durch seine Beredsamkeit auf die Bauern gewirkt; er rühmte sich besonderer Eingebun­ gen des heiligen Geistes, und betrachtete sich als das göttliche Werkzeug zur Einführung einer neuen bürgerlichen Ordnung der Dinge. Er stellte sich über den Papst, und über Luther. Für kurze Zeit war er Prediger zu Alstädt in Thüringen. Hier sprach er nicht nur gegen die kirchlichen Ceremonieen und für häufige Kasteiungen des Körpers; er em­ pfahl auch, sich den Bart wachsen zu lasten (wie die Jncroyables der neuern Zeit), auf Träume zu achten, durch welche Gott seinen Willen offenbare (eine Art intellectueller Anschauung), und der welt­ lichen Obrigkeit die Gewalt zu entreißen; denn die Zeit der Erlösung sey da, und das Reich Gottes hebe an! Da befahl ihm Churfürst Friedrich der Weise, das Land zu verlassen. Ebenso ver­ trieb ihn der Magistrat der Reichsstadt Nürnberg ; allein in der Reichsstadt Mühlhausen fand er Bei­ fall und Zulauf, obgleich Luther an die Mühlhäuser schrieb, und sie „vor dem Aufrührer Münzer" warnte. Der von dem Demagogen aufgeregte-Pöbel entsetzte den Magistrat. Münzer trat an die Spitze des neuernannten Magistrats. Er beabsichtigte die Ein­ führung der allgemeinen Gütergemeinschaft, wodurch er den Wünschen der niedern Volksclassen entsprach. Gegen Luther, von dem Münzer wohl wußte, daß er aller Selbsthülfe des Volkes, aller Empörung

106 abgeneigt war, schrieb Münzer eine Flugschrift, wel­ che ganz die Farbe des Zeitalters und der Grund­ sätze der damaligen Demagogen trug. Diese Schrift ist selten geworden. Sie erschien im Jahre 1524 im Quartformat (33 unpaginirte Seiten) unter dem Titel: „Hoch verursachte Schutzrede vnd antwort, wider das gaistloße Sanfft le­ bende fleysch zu Wittenberg, welches mit ver­ klarter weyse, durch den Diepstal der heiligen Schrift die erbermdliche Christenheit, also ganz jämmerlichen besudelt hat. Thomas Münzer Alstedter." Es sey erlaubt, aus dieser Flugschrift eine einzige Stelle auszuheben, welche hinreichend belegen wird, wel­ che Sprache Münzer gegen Luther sich erlaubte. „Vber deinem rhümen möchte einer woll endtschlaffen, vor deiner vnsynnigen torheyt. Daß du zu Worms vorm Reich gestanden pist, danck hab der Teutsch adel, dem du daz maul also wohl bestrichen hast, vnd Honig gegeben, dann er wenethe (wähnte) nit anderst, du würdest mit deinem predigen beheymische geschenk geben, Clöster vnd Stifft. Welche du yßt den Fürsten verheyßest. So du zu Worms hettest gewanckt, werest du erstochen vom Adel wor­ den. Du darffst warlich dir nit zu schreiben, du woltest dann noch einmal dein Edels blut, wie du dich rhümest, darumb wagen. Wer sich auf deyne schalckheyt nit verstünde, schwür woll zun heyliegen, du wärest ein stummer Mertin. Schlaff sanfft lie­ bes fleisch. Ich röche dich lieber gepraten in deinem trotz durch gotes grymm im topff peym fewr. Dann in deinem aygen (eigenen) sötlein gekocht, solle dich der Teufel fressen. Du pist ein Eselisch fleisch, du würdest langsam gar werden, vnd ein zähs gerichte werden deinen milchmeulern."

107 Je weiter der Bauernaufstand über die Rhein­ gegenden, den Rheingau, Franken, Hessen und Thü­ ringen sich-verbreitete; desto nachdrücklicher erklärte sich Luther, der früher den Bauern glimpflich geant­ wortet hatte, gegen denselben. In seiner Schrift: „wider die räuberischen und mörderischen Bauern" sagte er ihnen, daß sie ihr Versprechen nicht erfüllt hätten, sich unterrichten zu lassen, daß sie vielmehr wie die rasenden Hunde tobten und drei­ erlei grobe Sünden begangen hätten: erstlich, indem sie der Obrigkeit geschworne Treue muthwillig gebro­ chen hätten; denn, daß sie Aufrührer, Räuber und Mörder geworden wären; und endlich, daß sie diese Verbrechen mit dem Evangelium bedeckten. Die Fürsten erkannten, daß dem Aufstande blos durch Gewalt gesteuert werden könnte. Zwar wünschte der Churfürst Friedrich derWeise eine gütliche Aus­ gleichung; allein sein Bruder, Johann, der Be­ ständige, und der Landgraf Philipp von Hessen, zwei warme Bekenner des gereinigten Lehrbegriffs, so wie die streng katholischen Fürsten, der Herzog Geprg der Bärtige von Sachsen und .der Herzog Heinrich von Braunschweig, vereinigten sich mit ihren Heerestheilen in Thüringen, und zersprengten bei Frankenhausen am 15. Mai 1525 achttau­ send Bauern und Landstreicher, welchen die Fürsten, auf die Bedingung, sich zu ergeben, Begnadigung angeboren hatten. Allein Münzer erhitzte ihre Gemüther durch eine angekündigte wundervolle Un­ terstützung, des Engels Gabriel, so daß sie mit dem Gesänge: Komm, heiliger Geist! sich aufstellten. Kaum aber schlugen die Kugeln in ihre Reihen, als sie sich zerstreuten und viele getödtet wurden. Mün­ zer selbst siel in Gefangenschaft, und ward enthaup-



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tet. So endigten die demagogischen Umtriebe des Bauernkrieges! Dke Lehre der Wiedertäufer hatte aber un­ ter den niedern Ständen des Volkes in verschiedenen Theilen Teutschlands- tiefe Wurzel geschlagen. Be­ reits auf dem Reichstage zu Speyer im Jahre 1529 fand man nöthig, den Beschluß zu fassen, die Wie­ dertäufer und Wiedergetauften mit Feuer oder Schwert hinzurichten, sobald sie den Widerruf ihrer Lehre verweigern würdenAuf dem Reichstage zu Augs­ burg ward im Jahre 1530 dieser Beschluß bestätigt. Die Strenge, mit welcher er vollzogen ward, be­ wirkte , daß die Secte der Wiedertäufer in Teutsch­ land sich minderte. Doch wandte sich ein Rest der­ selben nach den Niederlanden, von wo aus seine Emissaire nach Teutschland zogen, um Proselyten zu machen. So wirkte Melchior Hoffmann, ein Kürschner aus Schwaben, in Holland und Ostfries­ land für die Lehre des Wiedertaufens. Als er von da nach Strasburg ging, ernannte 'er den Johann Trypmaak.er zu seinem Nachfolger. Dieser aber ertheilte dem -Bäcker Johann Matthiesen zu Haarlem die Macht, durch Auflegung der Hände Apostel zu weihen, welche jedesmal zwei und zwei in die Gränzländer zogenZwei derselben, Johann Bockold*), ein Schnei­ der aus Leiden, und der Buchbinder Gerhard ka­ men nach Münster, wo bereits die Kirchenverbesse­ rung Eingang gefunden hatte, und die Lehre des

*) Aug. Ludw. Schlözer, Geschichte des Schneiderkönigs, Jan von Leyden. Gött. 1784. 12. — H. Jochmus, Geschichte der Kirchenreformation in Münster und ihres Unter­ ganges durch die Wiedertäufer. Münster 1825. 8.

109 Evangeliums neben dem Katholicismus öffentlich sich behauptete. Bald fanden die Wiedertäufer unter der niedern Volksclasse Eingang. Sie hielten mit ihren Anhängern nächtliche Zusammenkünfte bei ver­ schlossenen Thüren, wo sie lehrten und die Erwach­ senen tauften. Der Magistrat zu Münster befahl ihre Entfernung aus der Stadt; sie wurden vertrie­ ben, kehrten aber durch ein anderes Thor wieder zurück, und erklärten: „sie hätten des (himmlischen) Vaters Zeugniß, daß sie nicht weichen, sondern in Münster bleiben und ihre Sache ausführen sollten." Selbst evangelische Prediger zu Münster traten auf ihre Seite; die Masse des Pöbels hing ihnen an. Bald fand sich in dem schlauen und bemittelten Krämer, Bernhard Knipperdolling, der früher von dem Magistrate aus Münster entfernt und dar­ auf aus Schweden, wo er als Wiedertäufer auf­ trat, fortgeschickt und wieder nach Münster zurück­ gekehrt war „ der Mann, der die aufgeregte stürmi­ sche Volksmasse für seine Zwecke zu leiten verstand. Sie bemächtigte sich des Rathhauses und des Arse­ nals; das Geschütz fiel in ihre Hände. Die Klöster und Reichen wurden geplündert; die bemittelten Bürger stüchteten aus der Stadt; dagegen strömten Pö­ belhaufen aus der Nähe und Ferne zur Verstärkung der Wiedertäufer dahin. „Es sollte das Reich Chri­ sti, ein irdisches Zion, das neue Jerusalem, errich­ tet werden!" Dies geschah im Frühjahre 1534. Es ward ein neuer Magistrat ernannt, und Knipperdolling als Bürgermeister an dessen SpiHe ge­ stellt. Die erhitzten Massen, mit Büchsen, Helle­ barden, Spießen und Stangen bewaffnet, durchzo­ gen die Stadt, raubten und plünderten, und theil­ ten dann den Raub unter sich. Mehrere Gebäude

110 in und vor der Stadt gingen im Feuer auf. Der aus Haarlem angekommene Bäcker, Johann Matthiesen, leitete, als angeblicher Prophet, das Ganze. Er rühmte sich unmittelbarer göttlicher Öffenbahrun-

gen, und behauptete, was er beföhle, das beföhle Gott, und müsse bei Strafe des göttlichen Zorns und des leiblichen Todes vollzogen werden. Er trat oft als Prediger auf, und ließ jedesmal durch einen Kanonenschuß die Versammlung zusammenbe­ rufen. Auf seinen Befehl mußten alle Einwohner bei Todesstrafe Gold, Silber und ihre übrige Habe in ein öffentliches Haus ausliefern. Selbst alle Bücher, mit Ausnahme der Bibel, wurden ver­ brannt. Sämmtliches Vermögen sollte, wegen der eingeführten Gütergemeinschaft, für den allgemeinen Gebrauch verwaltet werden. Man wagte es nicht, die Ablieferung zu verweigern, bei welcher Matthiesen zwei Mädchen zur Empfangnahme angestellt und von diesen versichert hatte, daß ihnen ein Geist einwohne, der sogleich anzeigte, wenn irgend jemand sein Eigenthum verheimlichte. Gegen diese Demagogen zog der Bischoff Franz von Münster im März 1534, und belagerte die Stadt. Der erste Ausfall der Belagerten, von Matthiesen geführt, war günstig für die Wiedertäu­ fer. Ansehnliche Beute fiel in ihre Hände, und Matthiesen erschien als Prophet verherrlicht. Allein bei einem zweiten Ausfälle ward Matthiesen von den Belagerern erstochen. Seine Leiche ward nach Münster gebracht, und vier Tage harrte das Volk vergeblich auf die Wiederbelebung des Propheten. Als diese nicht erfolgte, trat der Schneider Johann Bockold von. Leiden auf, und versicherte, daß MatthiesenS Tod ihm längst vom Geiste verkündet

111 worden und er bestimmt sey, an seine Stelle zu treten und Matthiesens junge Wittwe zu heirathcn. Darauf lief in der Osterwoche Knipperdolling nackend durch die Straßen, und rief: das Königreich Zion habe begonnen; alles Hohe solle erniedrigt und das Niedrige erhöht werden. Bei diesem Worte faßte ihn Johann von Leiden, gab ihm das Richt­ schwert und ernannte ihn zum Scharfrichter. Knip­ perdolling willigte einDie Kirchthürme wurden abgeworfen, die Kirchen zerstört, — und dies alles geschah im Namen Gottes! Nach einem dreitägigen prophetischen Schlafe, in den er verfallen war, verlangte Johann — der angeblich die Sprache verloren hatte — Papier, worauf er — als Folge der im Schlafe erhaltenen Inspiration — zwölf Namen seiner Anhänger schrieb, welche, wie bei den zwölf Stämmen Israels, die zwölf Aeltesten im Münsterschen Israel, ihm aber unterworfen und gehorsam seyn sollten. Er führte die Vielweiberei ein, und nahm selbst mehrere Wei­ ber. — Erbittert über diese Gräuel, versicherte sich ein kleiner Theil besonnener Bürger in der Stadt Münster, während der Nacht, des Schneiders,» des Knipperdollingö und einiger ihnen ergebenen Predi­ ger. Allein am andern Tage befreite der Pöbel die vermeinten Propheten, und gegen fünfzig der Bür­ ger, die jene Verhaftung vollzogen hatten, wurden auf die empörendste Weise hingerichtet. Einige wur­ den an Bäume gebunden und durchschossen, Andern hieb Knipperdolling den Kopf ab, oder sie mitten entzwei; wieder andere wurden zusammengebunden, zwischen die Pfeiler des Doms gebracht, und hier erschossen. Der Schneider Bockold glaubte nun, es sey

112 die Zeit gekommen, sein Werk zu vollenden. Ein Anhänger von ihm, gleichfalls ein Prophet, der Goldschmidt Tausentschuer aus Wahrendorf, er­ schien am Johannistage zu Münster*). Dieser ver­ sammelte das Volk auf dem Marktplatze und ver­ kündigte: „der Vater aus dem Himmel habe ihm gesagt, daß Johann von Leiden, der heilige Pro­ phet, ein König seyn solle über den ganzen Erdbo­ den, über alle Kaiser, Könige, Fürsten, Herren und Gewaltige; er allein solle über alles herrschen, und .Niemand über ihn. Er solle das Reich einnehmen und den Stuhl seines Vaters David besitzen, so lange bis Gott der Vater das Reich wieder von ihm fordern würde. Er solle mit einem Heere ausziehen, alle Könige und Fürsten tobten, und nur das gemeine Volk verschonen." — Ein AehnlicheS wollten drittehalbhundert Jahre später die Jacobiner Frankreichs, als sie „Krieg den Palästen, Friede den Hütten" verkündigten. — Die Demagogen zu Münster mischten religiöse Meinungen bei, die Demagogen an der Seine die mißverstandenen Lehren deö contrat social. — Kaum hatte der Wahren­ dorfer Prophet geendigt, als Johann von Lei­ den auf seine Knie fiel, und auörief: ,,O Vater, liebe Brüder und Schwestern! Das habe ich schon seit vierzehn Tagen gewußt, es aber nicht sagen dürfen; denn der Vater wollte, daß es ein Anderer offenbahren sollte, damit ihr es desto fester glaub­ tet!" — So ward ein Schneider von 26 Jahren vom Volke als „König des ganzen Erdbodens" aus­ gerufen.

*) Schlözer, S. 75.

113 Der neue König entsetzte sogleich die von ihm kurz vorher erwählten zwölf Aeltesten, und bildete einen Hofstaat. Sein Freund Knipperdolling ward sein Statthalter,-sein alter Ego. Andere seiner Anhänger erhielten die Würden von geheimen Räthen, Kanzlern, Obcrhauptleuten, Mundschenken, Vorschneidern, Hofschustern u. s. w. Mehr als hundert Titel enthielt der Hofschematismus des vor­ maligen Leidner Schneiders. Er hielt eine Garde von 28 Trabanten; das übrige Volk theilte er in zwei Heereshaufen. Sein Wappen ward die von einem Schwerte durchstochene Weltkugel mit einem darauf gestellten Kreuze. Er ließ zwei Kronen, eine Degenscheide, eine Halskette und zwei Sporen von Gold verfertigen; sein Scepter ward mit drei golde­ nen Bändern beschlagen. Nicht vergeblich hatte der Goldschmidt von Wahrendorf dem Schneider zur Königswürde verhelfen. Selbst goldene und silberne Münzen ließ Johann schlagen, und wenn er öffent­ lich sich zeigte, so erschien er mit einem großen Ge­ folge seiner Hosbeamten. Von seinem, auf dem Marktplatze errichteten, Throne entschied er die Streitigkeiten des Volkes. Er hielt sich 16 Weiber, welche Königinnen hießen ®). Mit ihnen überließ er sich den zügellosesten Ausschweifungen eines orienta­ lischen Sultans. Einem seiner Weiber hieb er selbst den Kopf ab, und tanzte mit den Umstehenden um den blutenden Körper. Wenn er zu Gericht saß; so wurden Ehescheidungen in Menge ausgesprochen. Selbst seinen Statthalter, Knipperdolling, der einst zu lange vor ihm auf öffentlichem Platze tanzte, und sich, nachdem der König aus Verdruß weggeritten Schlizer hat S. 88. ihre Name». Mitz verm. Echr. Th. 2.

114 war, auf den königlichen Stuhl setzte, ließ er deß­ halb drei Tage gefangen setzen. Den Papst und Luthern erklärte er für gleich falsche Propheten. Er selbst hatte die Kühnheit, auf offenem Platze das Abendmahl zu halten, wo er dem Volke die Hostie, und die Königin den Wein in einem Glase reichte. Darauf sandte er 28 von ihm gewählte Apostel aus, die neue Lehre „der ganzen Welt" zu verkün­ digen, 27 von ihnen wurden ergriffen und hinge­ richtet. Endlich nachdem der Bischoff Franz von Mün­ ster, bei der Belagerung der Stadt, durch Geld, Truppen und Geschütz von dem Churfürsten von Cölln und dem Herzoge von Cleve unterstützt worden war, und längst schon Mangel an Lebensmitteln in der Stadt herrschte, ward in der Nacht zum 24. Juni 1535 die Stadt erstürmt, nachdem ein von den Belagerern gefangen genommener Wiedertäufer einem Theile der bischöfflichen Truppen den Weg durch den Festungsgraben auf den Wall gezeigt hatte. Noch kämpften die Wiedertäufer auf dem Marktplatze mit dem Muthe der Verzweisiung. Als aber Johann, Knipperdolling und Krechting gefangen ge­ nommen worden waren, baten die übrigen um Gna­ de , die ihnen bewilliget ward. Die drei Gefangenen wurden, unter militärischer Bedeckung, bei mehrern Reichsfürsten zur Schau herumgeführt. Mehrere hessische Theologen wollten sie von ihren Irrthümern überführen; allein ohne Erfolg; nur Johann von Leiden erklärte, daß er und seine Propheten sich geirrt und die Schrift falsch verstanden hätten. Zurückgebracht nach Münster, erfolgte am 23. Jan. 1538 ihre Hinrichtung. Die drei Schwär­ mer wurden an Pfähle gebunden, mit glühenden

115 Zangen gezwickt und zerfleischt, und dann durch einen Dolchstich in die Brust getödtet. Ihre Körper wür­ ben in drei eisernen Käfichen auf dem Lambertusthurme aufgehängt! So endigte das Königreich Zion zu Münster und die Macht der Wiedertäufer auf teut­ schem Boden! Es waren die letzten demagogischen Umtriebe in dem Zeitalter der Kirchenverbesserung; mit ihrer Vernichtung ward die Pöbelherrschaft ge­ brochen. Hätte man früher zu Münster so kraftvoll und schnell, wie bei Frankenhausen, gehandelt; so würden die Gräuel- und Blutsccnen des letzten Jah­ res im irdischen Zion erspart worden seyn. — Fast sind dreihundert Jahre seit diesen Verir­ rungen verflossen; allein warnend für jede Zeit, wo der Pöbel sich der Gewalt zu bemächtigen sucht, bleibt die Geschichte des Bauernkrieges und der Wie­ dertäufer zu Münster in den Jahrbüchern der Ge­ schichte. Denn, wenn auch die von den Demagogen des damaligen Zeitalters mißverstandene und gemißbrauchte Idee der religiösen und kirchlichen Freiheit wohl schwerlich wieder zu ähnlichen Verirrungen führen dürfte; so hat doch die französische Revolu­ tion in den Blutscenen vom Herbste 1792 biß zum Sturze des Robespierre und seiner Anhänger bewie­ sen, wie auf ähnliche Weise die ins Leben getretene Idee der bürgerlichen und politischen Freiheit ver­ kannt und gemißbraucht werden konnte, bis auch der Terrorismus seinen Höhepunct erreicht hatte. Beide Zeitalter haben übrigens gezeigt, daß die Herrschaft des Pöbels nicht von Dauer ist, und daß, nach der Berührung der Extreme, wieder zum Mit­ telwege eingelenkt wird. Allein wie viele tausend unschuldige Opfer fielen der religiösen Schwärmerei 8»



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des sechszehnten und der politischen Raserei des aus­ gehenden achtzehnten Jahrhunderts! Es ist geschicht­ lich erwiesen, daß die Pöbelherrschaft nur durch Gewalt bezwungen werden kann; doch eben so gewiß bleibt es, daß durch Reformen, von oben herab zur rechten Zeit eingeleitet und mit Umsicht durchgeführt, jeder Gährung, die zu demagogischen Umtrieben führen könnte, am sichersten vorge beugt wird. — Gelangt man zu dieser Ueberzeugung; so hat man nicht vergebens im Buche der Geschichte gelesen.

5.

Vorbedingungen zur neuen Gestaltung des Ge­ werbswesens. Wenn gleich die ausgezeichnetsten Lehrer und Schrift­

steller im Kreise der Staatswirthschaft darüber ein­ verstanden sind, daß die, aus dem Mittelalter stam­ menden, Verhältnisse deö Gewerbswesens, nach der Stellung desselben zu den Fortschritten und Umge­ staltungen des innern Staatslebens in unserm Zeit­ alter, nicht länger in ihrem frühern Zustande blei­ ben können, ohne hindernd und hemmend auf die übrigen verjüngten Formen des Bürgerthums und des Verkehrs einzuwirken; so theilen sich doch jene Lehrer und Schriftsteller, in Hinsicht auf die, als dringend nöthig erkannte, neue Gestaltung des GewerböwefenS, in zwei Hauptclaffen, wovon die eine für die völlige Auflösung des bestehen­ den Zunft- und Jnnungsverbandeö und für die unbedingte Freigebung der Gewerbe, die andere hingegen blos für die zeitgemäße Reform des Gewerbswesens sich erklärt. AnderSpiße der sachkundigen Männer, welche die erste Ansicht durchführen, stehen die gefeierten Namen des gehei­ men Conferenzrathes Löß und des verewigten Eschenmayer; die zweite Ansicht dagegen ward von dem verewigten StaatSrathe v. Jakob und von dem Grafen von Soden aufgestellt und vertheidigt.

118 Ohne nun hier in die tiefere wissenschaftliche Be­ gründung und erschöpfende Durchführung beider An­ sichten eingehen zu können; so behauptet doch die Frage: welche von beiden Ansichten die an­ wendbarste und nach ihren Folgen die wohlthätigste im Staatsleben sey, ein hohes practischeS Interesse. Der Beantwortung dieser politi­ schen Frage sind die nachfolgenden Andeutungen ge­ widmet, welche einige Vorbedingungen entwickeln sollen, die, nach meiner Ueberzeugung, entweder der völligen Auflösung, oder der Reform der bestehenden Gewerbsverhältnisse vorausgehen müssen. Bei der Beantwortung der aufgestellten Frage wird zuvörderst, als allgemein zugestandene Prämisse, vorauSgeseht: daß die gesammte materielle und technische Thätigkeit im innern Staatsleben (we­ sentlich verschieden von der geistigen Thätigkeit in den Kreisen der Wissenschaften und Künste) auf der Landwirthschaft im weitesten Sinne des Wor­ tes, auf dem Gewerböwesen nach Manufakturen und Fabriken, und auf dem Handel, nach allen seinen mannigfaltigen Verzweigungen, beruhe, und daß die Fortschritte der Landwirthschaft, des Ge­ werbswesens und des Handels einander gegenseitig bedingen. Allein dies ist nur dann der Fall, wenn einestheils alle drei, nach ihren innern Verhältnissen, gleichmäßig zur Entwickelung und Blüthe gelan­ gen; wenn die Regierung alle drei gleichmäßig behandelt, ohne, im Geiste des Merkantilsystems, vorzugsweise das Gewerbswesen und den Handel zu begünstigen, oder, im Geiste des Physiokratiömus, über der ausschließenden Beförderung der Landwirth­ schaft die Interessen der Industrie und des Handels zu vernachlässigen; und wenn anderntheils die, auS

119 dem reinen Ettrage von der Landwirthschaft entstan­ denen Capitalien die Unterlage deö ausgebreitetern und höhern inländischen Betriebes der Manufakturen und Fabriken bilden. Deshalb wird der Zustand der lehsern in allen den Staaten nothwendig kränkeln und nur auf die Deckung des inländischen Bedarfs, nicht auf die Theilnahme an dem europäischen Ver­ kehre und an dem Welthandel, sich beziehen, wo noch keine bedeutenden Capitalien aus den verschie­ denen Zweigen der Landwirthschaft sich ergaben, und, in ihrer Anwendung, auf die Erweiterung des in­ ländischen Gewerbewesens übergingen. Aus demsel­ ben Grunde werden aber auch die Gewerbe selbst in den Staaten zu keiner höhern Blüthe gelangen, wo die Regierungen, in wohlgemeinter Absicht, entwe­ der durch bedeutende Vorschüsse, oder durch Patente, Monopole und Steuerbefreiungen, oder durch Ein­ fuhr- und Ausfuhrverbote und ähnliche Hülfsmittel, im Geiste des Merkantilsystems bald die Begrün­ dung, bald die Aufnahme der Fabriken und Manufacturen zu unterstühen versuchen. Man erinnere sich nur daran, daß selbst Friedrich dem zwei­ ten nach dem siebenjährigen Kriege dies nicht in dem Grade gelang, wie er es beabsichtigt hatte. Die erste Bedingung des Aufblühens und Fort­ schreitens des Gewerbswesens im Staate liegt daher weder in der unveränderten Beibehaltung des, aus dem Mittelalter stammenden, Zunft- und Innungs­ wesens, noch in der völligen Aufhebung, noch in der zeitgemäßen Umgestaltung desselben, sondern in der Masse der, aus der vervollkommneten inländischen Landwirthschaft hervorgegangenen, Capitalien, die, weil sie noch einen Ueberschuß über den Bedarf für die Verbesserung der landwirthschaftlichen Geschäfte

120 darbieten, di« Gewerbe suchen, und durch ihre An« Wendung auf dieselben, frisches Leben und höhere Entfaltung in die einzelnen Zweige der Manufactu« ren und Fabriken bringen. Allein, nächst dieser er­ sten Bedingung, verlangt die Blüthe und daS Fort­ schreiten des Gewerbswesens eine zeitgemäße Gestal­ tung deS letztem, entweder auf dem Wege der Reform, oder durch völlige Auflösung des bestehen­ den Gewerbsverbandeö. Für das letztere spricht allerdings theils das Ideal der Nationalökonomie, das nicht blos jedem Individuum die unbeschränkteste Anwendung seiner physischen und geistigen Kräfte und die freieste Wahl seines Berufes im Staate, sondern auch den unge­

hinderten Wechsel und den Uebergang von einem Zweige der Betriebsamkeit zu dem andern zusichert; theils die Geschichte derjenigen Staaten, wo, im Sturme politischer Revolutionen, das früher bestan­ dene Zunft- und Jnnungswesen mit Einem Schlage in Trümmern sank; wie z. B- in Frankreich, Nie­ derland, und in den teutschen Rheinländern,.welche fast ein Vierteljahrhundert zu Frankreich gehörten. Wer diese Gegenden und Länder bereisete und in ih­ rem innern Haushalte kennen lernte, wird wohl die Ueberzeugung gewonnen haben, daß, innerhalb der­ selben, die Herstellung des Zunft - und Innungs­ wesens mit eben so großen Schwierigkeiten, Reibun­ gen und lauten Aeußerungen des Mißvergnügens verbunden seyn würde, als die Abschaffung der Frie­ densrichter , des mündlichen Verfahrens und der Ge­ schwornengerichte, wo diese einmal in dem ganzen Volksleben tiefe Wurzeln geschlagen haben. So gewiß eö also gegen die richtigen Grundsätze der Staatskunst seyn würde, durch Reaction die

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Zünfte und Annüngrn da wieder herzustellen, wo die Macht der Zeitverhältnisse sie vernichtete, und wo das neue, auf diesen Trümmern aufgeführte, in­ nere Staatsgebäude bereits die Dauer eines Vierteljahrbunderts für sich gewann; so folgt doch kei«eSwegeS aus dem Beispiele dieser Reiche und Län­ der, daß in andern Staaten, wo die frühern Ver­ hältnisse des bürgerlichen Lebens ohne gewaltsame Erschütterung fortdauerten, die Zünfte und Innun­ gen auf einmal völlig aufgelöset werden müßten. Revolutionen, wie die französische, zerstören die ganze geschichtliche Unterlage des SkaatSlebens; mit ihnen beginnt ein neues Daseyn, ein neuer Staat, der von seiner Vergangenheit völ­ lig getrennt, und für welchen seine frühere Geschichte nur noch in Büchern, nicht im Volksleben getroffen wird. Wo aber die geschichtliche Unterlage des gesammten Staatslebens sich erhielt; da widerstreitet der revvlutionaire — d. h. der Has bisher Beste­ hende in seinen innern Fugen und nach allen seinen Begründungen, Verhältnissen und Verzweigungen zerstörende — Charakter dem ganzen Geiste des innern Staatslebens. Wo also ein Staat auf seiner geschichtlichen Unterlage, d. h. auf einer Vergangen­ heit beruhet, aus welcher seine Verfassungs-, Regierungs- und Verwaltungsformen stammen; da kann daö, was innerhalb dieser drei Formen des innern Staatslebens, als veraltet sich ankündigt, nur auf dem Wege der Reformen beseitigt, verän­ dert, umgebildet und neu gestaltet werden. Denn das System der Reformen — das nie von unten (von dem Volke), sondern von oben (von der Regierung) ausgeht.— seht eine feste, rechtlich be­ gründete Unterlage des innern Staatölcbens voraus,

122 die man, wie die Wurzel und den Stamm eines lebenskräftigen Baumes, schützend und schonend bei* behält, während die morsch gewordenen und veral­ teten Aeste und Zweige entfernt werden, um nicht den inwohnenden frischen Trieb der Lebenskraft, durch das verlängerte Belbehalten des Abgestorbenen, in seinem Streben und Wirken zu hemmen und Af­ tererzeugnissen zu nöthigen. So wurzelt in den meisten gesitteten Staaten unsers Erdtheils, die nicht durch die Feuertaufe ei­ ner Revolution gingen, das Bürgerthum und der Verkehr arss den drei Grundsäulen der Landwirth­ schaft, des GewerböwesenS und des Handels, und darnach gestalteten sich, vor Jahrhunderten, die bür­ gerlichen Geschäfte und die verschiedenen Stände der Gesellschaft. Im Geiste des Systems der Reformen müssen diese Stände bleiben; doch muß alles orientalisch oder ägyptisch Kastenartige in ihrer eige­ nen Mitte und in ihrer gegenseitigen Stellung ver­ schwinden. So wie die Leibeigenschaft, die Eigen­ hörigkeit, der Dienstzwang und die ungemessenen Frohnen aufhören müssen, wenn die Landwirthschaft gedeihen soll; so müssen im Gewerbö- und Handels­ stande die g e sch l offen en Zünfte, Gilden und Corporationen erlöschen, weil jede geschlossene Zunft und Gilde, nach nationalökonomischen Begriffen, nichts weiter ist als ein Monopol, dessen Verderblichkeit für die Gesellschaft nicht erst bewiesen werden darf. So wie aber die geschlossenen Zünfte, Gilden und Corporationen gelöset werden müssen; so sollte auch die herkömmliche Jsolirung der verwandten Berufsarten beseitigt werden. Warum könnten nicht Kaufleute und Kramer, — Schlosser, Büchsen­ macher, Büchsenschäfter, Sporer und Schmiede,—

123 Tischler und Instrumentenmacher, — Kupferstecher und Kupferdrucke?, — Tuchbereiter uud Tuchscheerer rc. zu Einem Bande vereinigt, und dadurch die häustgen Reibungen zwischen denselben gehoben

werden? — Bevor aber, im Geiste des Systems der Re­ formen die Wiedergeburt und zeitgemäße Gestalt des Gewerbswesens versucht wird, müssen gewisse Vorbedingungen berücksicht werden, welche der Einführung einer neuen Ordnung der Dinge voraus­ gehen müssen. Denn die, am nachtheiligsten wirken­ den, Gebrechen des bis jeßk bestehenden Zunft- und Jnnungswesenö liegen theils in der gegenwärtigen Annahme und Behandlung der Lehrlinge; theils in den bisherigen Formen des Aufsteigens von den. Lehr­ lingen zu den Gehülfen, und von diesen zu den Meistern; theils in dem Wandern der Handwerks­ gesellen. Das eigene Interesse des Staates verlangt, daß jeder Jüngling dasjenige Gewerbe erler­ ne, wozu ihn einwohnende Neigung, körperliche Kraft, geistiges Talent und die allgemeinste Vorbe­ reitung durch Erziehung und Unterricht hinführt, ohne daß der Staat in diese Richtung der individuellen Neigung hemmend eingreife, außer in dem einzigen Falle, wenn durch das unverkennbare Drängen der Jugend der Landleute zu den städtischen Gewerben — das gewöhnlich nicht auf innerm Drange, sondern auf dem dunkeln Streben nach größerer Freiheit und scheinbar genußvollerm Leben für die Zukunft be­ ruht — ein fühlbarer Mangel an Arbeitern in den verschiedenen Zweigen der Landwirthschafk, und eine Ueberfüllung der Lehrstuben der Manufacturisten und

124 Fabrikanten entstände. Denn nie darf der Staats« mann vergessen, daß. in einem gutgeordneten Staats­ leben, wo alle wirksame Kräfte wohlthätig in einan­ der eingreifen sollen, die Landwirthschaft die erste, das Gewerbswesen die zweite 'Stelle einnimmt. — In Hinsicht der Lehrzeit darf aber die Zahl der Lehr­ jahre nicht von dem bezahlten Lehrgelde der Bemit­ telten und Reichen, oder von dem sogenannten Um­ sonstlernen der Armen abhängig gemacht werden. Es sollten vielmehr, — wie bei den Zöglingen der An­ stalten für Erlernung der Künste und der polytechni­ schen Institute geschieht, — alle Zöglinge der Ge, werbe einer jährlichen Prüfung von geschwornen Meistern und Gewerbsvorstehern unterwor­ fen werden; so wie die Hauptprüfung derselben von solchen Geschwornen der Aufnahme der Lehr­ linge unter die Gehülfen — ohne daß der Lehrmeister dabei entscheiden darf — kvorausgehen muß. Die gewöhnliche Dienstleistung der Lehrlinge für den Lehrherrn, außerhalb des zu erlernenden Geschäfts, — z. B. zu bloßen Wirthschaftsgegen­ ständen des Meisters, zum Wassertragen, Holzspal­ ten u. s. w. — müßte beseitigt, auf strenge Ange, wöhnung zum Arbeiten unerbittlich gehalten, und die Disciplin mit Ernst, aber nicht nach Laune und Willkühr, geübt werden. Die Buttermilchserziehung der neuesten Zeit versiacht eben so den jugendlichen Charakter, wie ihn die launenhafte Bestrafung, ohne zureichen­ de Ursache, verdirbt. Hauptsächlich steuere man den häufigen, besonders sonn- und festtägigen, Vergnü­ gungen der Handwerkslehrlinge, ihren Zusammen­ künften an öffentlichen Oertern, ihrer Tanz-, Spielund Genußsucht, die, bei der Macht der Verführung, auf noch unerfahrne und charakterlose Knaben in dem

125 Lebensalter von 14—18 Jahren, einen bleibenden Einfluß für das ganze Leben behauptet. Wird aber das Aufrücken vom Lehrlinge zum Gehülfen, und vom Gehülfen zum Meister an die, durch die strengste Prüfung erprobte, Fertigkeit und Tüchtigkeit geknüpft; so muß das Freisprechen der Lehrlinge und die Erwerbung des Mristerrechts mit den möglichst geringsten Kosten verbunden seyn. Die dabei gewöhnlichen Zunftschmäufe und abgeschmackten Feierlichkeiten sollten im neunzehnten Jahrhundert für immer aufhören. Die bedenklichste Zeit der Zunftgenosten ist aber die Zeit des Gesellenstandes. Der losgespro­ chene Lehrling tritt in den Besitz einer großem per­ sönlichen Freiheit, als er bis dahin hatte, und wird der bisherigen Disciplin entbunden; er steht, als Geselle, wenn er nicht durch seine Handlungen der Polizei oder Justiz in die Hände fällt, unter gar keiner Controlle. Das wahre, höhere Ehrge­ fühl, welches die größere Zahl der Studirenden in gleichen Lebensjahren vor grobem Verirrungen be­ wahrt, regt sich selten auf dieselbe Weise im Ge­ werbsstande, weil es durch den Zunftstolz und Gildenhochmuth sehr leicht verdunkelt wird. Hier also, in diesem Mittelzustande zwi­ schen dem Lehrlinge und dem Meister, fehlt theils die Disciplin, unter welcher der Lehrling im Hause des Lehrherrn, theils die Controlle des Staa­ tes, unter welcher der Meister als angesessener Bür­ ger, und dies doch gewöhnlich bereite in reifern Jah­ ren, steht, wo die wilden Aufbrausungen und Gährungen der Leidenschaften, so wie der Leichtsinn der, sich selbst und der Verführung ihrer Kameraden über­ lassenen, Jünglinge durch die abkühlenden Formen

126 des wirklichen Bürgerlebens, des Ehestandes und der Nahrungssorgen sich ausgeglichen haben. Läge nicht die Ursache dieser übergroßen und vom Staate viel zu wenig beaufsichtigten Freiheit in der Lebensweise der Handwerksgehülfen in den aus dem Mittelalter stammenden Formen der Zünfte und In­ nungen ; so würde man es sich kaum erklären können, wie ein solches Nomadenleben der Gesellen in der Mitte gutgeordneter Staaten sich erhalten konnte. Denn während der Heranwachsende Landmann von seinen Ortsgerichten genau beobachte^ und controllirt, her Soldat durch die Strenge der Subordination vor groben Verirrungen bewahrt, der angehende Ge­ lehrte, im Falle er dem Ehrgefühle, das die Wissen­ schaften einflößen, ungetreu wird, mit Carcer, Re­ legation und andern, oft auf seine ganze Zukunft einfiußreichen, Ahndungen von Seiten des Staates behandelt, ja selbst der Staatsdiener von seinen Vorgesehten scharf im Auge behalten und, bei den klein­ sten Verirrungen und Nachlässigkeiten, bestraft wird, — behaupten blos die Handwerksgesellen in der Mitte der Staaten eine Unabhängigkeit, die ans Noma­ denleben grenzt. An kein Eigenthum, an keinen Wohnort, an kein Familienband gebunden, wechseln sie, oft wöchentlich oder monatlich, die Meister, bei welchen sie arbeiten, und die Oerter, in welche sie einwandern. Das, für unsere Zeit höchst überflüssige und höchst verderbliche, Wandern der Handwerker ist aber nichts weiter, als ein Freibrief für die Un­ gebundenheit, die in die, von den Meistern beabsich­ tigte, Ordnung einer geregelten Arbeit und in die festen Formen des bürgerlichen Lebens sich nicht fügen will; ein zweckloses Herumstreifen aus einem Lande ins andere, ohne an ein Vaterland und stetiges

127 Leben gebunden zu seyn; und, in vielen Fällen, eine Anweisung auf die, bei einem solchen Leben noth, wendig gewordenen, Arbeitshäuser und Krankenan­ stalten. Man durchreise Teutschland, und frage sich, ob eine Viertelstunde auf den größer» Landstraßen vergeht, ohne daß die Kutschen der Reisenden durch die bettelnden Handwerksgehülfen aufgehalten werden, welche, durch diesen entehrenden Erwerb und durch die sogenannten Handw^rksgeschenke von ihren Zunft­ genossen, oft in den Stand gesetzt werden, Wochen und Monate lang ohne Arbeit in der Welt herum­ zustreifen, während allerdings nur die wenigen, auf solche Reisen zweckmäßig vorbereiteten, Jüng­ linge durch das Wandern in ihrem Geschäfte sich vervollkommnen und ihren geistigen Gesichtskreis er­ weitern. Man frage in den Arbeitshäusern nach, ob nicht die größte Zahl ihrer Bevölkerung aus sol­ chen herumstreifenden Gesellen besteht? Man schlage die Geburtslisten auf, ob nicht zwei Drittheile der unehelichen Geburten auf die Rechnung solcher leicht­ sinnigen und heimathslosen Nomaden kommen! Man frage in den Krankenhäusern, Lazarethen rc. nach, mit welchen zerstörenden und ansteckenden Krankhei­ ten behaftet, solche Handwerker in dieselben ausge­ nommen werden! Man forsche nach dem Grunde, weshalb Ordnung, Sparsamkeit, tüchtige Arbeitsam­ keit und reiner Ertrag der Arbeit weit häufiger bei dem Landmanne, als bei den Gewerbetreibenden sich findet; und man wird sich überzeugen, daß die end­ lich ansässig gewordenen Handwerker unter dem fort­ dauernden Einstusse der Rückfälle in ihre vorige Le­ bensweise als wandernder Gesellen stehen, daß sie, wenn der morgende Tag gedeckt ist, die Nachmittage dein Vergnügen, dem Spiele und Trünke widmen.

128 nicht selten in den unzufriedensten Ehen leben, und, in Hinsicht der sittlichen Grundsätze, die schlimmsten Latitudinarier sind. Wozu also dieses Wandern, das so^oft nur als wochenlanges Bettelgehen betrachtet werden muß, und wobei doch der anmaßendste Zunftstolz nicht sel­ ten getroffen wird? — Wie gegenwärtig der Stand­ punct der Gewerbe in den meisten gebildeten Staa­ ten ist; so bedarf es nicht des Wanderns ins Aus­ land, um in seinem Gewerbe sich zu vervollkomm­ nen. Man wandere im Jnlande, wo in dem Eingebohrnen das Gefühl der Heimath und des Va­ terlandes, und die Furcht, daß seine Entartung und Lüderlichkeit den ©einigen bekannt werden könnte, erhalten, und über sein Betragen die Controlle des Staates erleichtert wird. Wie viele Tausende von Studirenden, und andern im Staate ausgelernten, Lehrlingen müssen auf Reisen ins Ausland verzich­ ten, die ihnen, bei dem erworbenen höhern Grade ihrer Kenntnisse, gewiß viel nützlicher seyn würden, als den Handwerkern. Man beschränke daher das Wandern der Gesellen jährlich entweder nur auf eine gewisse Zahl (wie man ja auch in mehrern Staaten nur eine gewisse Anzahl von Männern jährlich zur Advocatur und zu andern Geschäften zuläßt) , oder, besser noch, man verstatte das Wandern nur sol­ chen, die, theils durch ihre Talente und erworbene Tüchtigkeit, im Auslande sich wirklich vervoll­ kommnen können; theils solchen, welche bis jdahin durch Sittlichkeit sich auszeichneten, und einiges Vermögen zum Wandern besitzen. Sittlichkeit und einiges Vermögen, beides zusammen, werden den wandernden Jüngling nicht blos vor der Macht der Verführung, wenigstens theilweise, bewahren, sondern

129 auch verhüten, daß er nicht den Verforgungsanstal« ten und Arbeitshäusern zur Last fällt. — Wie sehr würden sich die beträchtlichen Kosten für solche Ar­ beitshäuser vermindern, wenn man die Hauptursache ihrer Ueberzahl — das Wandern der Handwerker und die damit so häufig verbundene Entsittlichung und Lüderlichkeit derselben — beseitigte! Endlich müßten die sogenannten Herbergen der Handwer­ ker der strengsten Aufsicht unterworfen werden; denn hier treffen die Zugvögel aus allen Himmelsgegenden zusammen, und lernen von einander; hier verweilen alle die, welche arbeitslos im Aufenthaltsorte ge­ worden sind, bis sie entweder wieder unterkommen, oder weiter wandern; hier sind die täglichen Zusam­ menkünfte und Gelage, besonders aber an Sonnund Festtagen, wo nicht selten einer den andern gegen die Meister aufwiegelt, wo Verabredungen unter sich über zu erzwingenden höher» Lohn genom­ men, wo die, bei dem Wandern gemachten, Erfah­ rungen ausgetauscht, dem noch Unerfahrnen mitge­ theilt, die lehren guten Grundsätze aus der frühern Erziehung im Umgänge mit feilen Dirnen und mit lüderlichen Kameraden erschüttert, wo unter den gröb­ sten sinnlichen Freuden, Gesundheit und Zukunft auf­ geopfert, und höchstens die Geldbeutel der Herbergs­ väter gefüllt werden *). — Warum sollte nicht die *) Bereits war dieser Aufsatz geschrieben, als ich, im Allg. Anz. der Teutschen 1830. St. 41. die „Worte über den Gewerbszwang, die Gewerbsfreiheit und Arbeitsfrier der Handwerker" las. Der ano­ nyme Derf. stimmt ganz mit mir in der wesentlichsten Vorbe­ dingung zur Gewerbefreiheit überein, wenn er (S. 523) sagt: „Man hebe für die Classe der Handwerker die bisher übliche und in ihren Folgen so nachtheilige Feier des sogenannten Pölitz verm. Schr. Th. 2. 9

130 Regierung, mit größtem Ernste, alle Zusammenkünfte der Gesellen an Wochentagen verbieten, und die an Sonn - und Festtagen blos auf die Zeit von 3—10 Uhr Nachmittags beschränken können! Die meisten Gesellen würden, wo ein solches Verbot bestände, nur selten sich zu Gängen von einigen Stunden auf die entferntem Dorfschenken entschließen, sobald diese von der Gerichtöobrigkeit und den Genöd'armen scharf beaufsichtigt würden! Bei dieser Beschränkung wür­ de gleichzeitig das, den landwirthschaftlichcn Geschäf­ ten so nachtheilige, Drängen der Landjugend zu den

blauen Montags auf, und gestatte es den Gesellen und Lehr­ lingen nur einzig und allein, an Sonn- und Festtagen sich herumzutreiben. Gelingt es durch diese Maasregel, des Hand­ werkers Arbeitstage zu vermehren; so wird er auch mehr Geld verdienen, und zur Zeit etwas davon zur Erwerbung der Mei­ sterschaft und zur Bestreitung der ersten Einrichtung bei Seile legt« können, statt daß er bisher durch vermehrte Gelage seinen Arbeitslohn schamlos vergeudete und seiner Gesundheit Abbruch that." — Völlig trete ich übrigens dem Verf. bei, wo er die Bedenklichkeit beseitigt, daß, in der Beschränkung der Gesellen in Hinsicht ihrer Vergnügen, die Handwerker einen Eingriff in ihre Freiheit erblicken, und die Gesellen gegen ihre Meister und die städtische Obrigkeit sich auflehnen würden. Immer würden die Gährungen der Gesellen darüber nur in größer» Städten vorkommen, und hier durch Polizei, Gensd'arme», und nöthigenfalls durch das Militair, sogleich gedämpft werden können. Die Hauptsache bliebe immer, durch strenge polizeiliche Thätigkeit die Schenkwirthe beaufsichtigen zu lasten, daß sie gegen den Befehl der Regierung, Gesellen und Lehrlinge blos Sonn- und Festtagszeit zuzulassen, nicht handeln. — Mangel an Arbeitern könnte, wenn die fremden Gesellen dieser Verfü­ gung sich nicht unterwerfen und weiter wandern wollten, höch­ stens vielleicht auf einige Tage entstehen, weil die eingebohrnen Gesellen schon durch die Conscriptionsgesetze am Fortgehen ins Ausland gehindert, und, wenn sie leben wollen — zur Arbeit genöthigt werden. —

131 städtischen Gewerben von selbst bei allen denen sich vermindern, die nicht innerer Drang und ausgezeich. neteS Talent, sondern blos die Aussicht auf ein in Zukunft genußreicheres Leben — nach einmal über­ standener Lehrzeit — den Handwerkern der Städte zuführt. Fällt jene Aussicht auf ein freieres und scheinbar genußreicheres Leben hinweg; so fehlt bei Hunderten der Antrieb, die Unzahl der Handwerks­ lehrlinge zu vermehren. Je mehr Quellen der Ver­ suchung aber verstopft werden; desto mehr wird für geregeltes Leben und für Sparsamkeit gewirkt. Be­ sonders gehören dahin auch die Ernte- und Kirch­ weihfeste. Sie sind sehr feierliche religiöse Tage, deren Feier aber durch die, damit verbundenen, sinn­ lichen Freuden fast ganz zerstört wird. Wie viele Thorheit, Verschwendung und Regellosigkeit würde beseitigt werden, wenn diese beiden Feste — wie viele andere kleinere Feste und selbst die Bußtage — von der Regierung auf einen einzigen Sonn­ tag im ganzen Staate verlegt würden. Der Haupt­ zweck jener beiden Feste, der religiöse Dank nach oben für den Segen der Ernte, und das erneuerte Andenken an die Stiftung einer christlichen Kirche in der Mitte der einzelnen Ortschaften und Gemein­ den, würde dadurch gewiß vollkommen erreicht. Selbst der Nebenzweck der Freuden und Vergnügungen an beiden Festen soll keinesweges verkümmert, aber nicht auf das ganze Vierteljahr vom Monate August an bis zum Advent ausgedehnt werden. Es würde, nach einigen Jahren, wenn man an diese neue Ein­ richtung sich gewöhnt hätte, eine Summe von mehrern hunderttausend Thalern in einem, nur mäßig großen, Staate, durch die Verlegung der Ernte und Kirchweihfeste auf einen'einzigen Sonntag, er9*

132 spart, und bald den Sparkassen, bald der Verbesse­ rung der Betriebsamkeit und des Verkehrs zugewandt werden. Man stehe übrigens nicht in der Meinung, als ob die Aufhebung des Wanderns der Hand­ werksgehülfen ins Ausland, die Beschränkung der im Jnlande ausgelernten Lehrlinge auf das Wan­ dern im Vaterlande, und die Zurückweisung aller wandernden fremden Gesellen (außer für die bloße Durchreise) von den Landesgrenzen, störend auf die inländischen Gewerbe einwirken dürften. Wer hätte wohl, zur Zeit des siebenjährigen Krieges, gedacht, daß ein großes Heer ohne zahlreich angewor­ bene Ausländer bestehen, und blos aus der Mitte der inländischen Jünglinge genommen und ergänzt werden könnte? Dennoch hat es die Erfahrung be­ währt, und zwar auf eine Art und Weise, die kein Staatsmann vor 50 Jahren für möglich gehalten hätte, wenn man nämlich die bedeutende Steigerung der stehenden Heere in unserm Zeitalter mit der Min­ derzahl derselben vor einem halben Jahrhunderte zu­ sammenhält. — Kann aber das inländische Heer ausschließend durch eingebohrne Jünglinge gebildet, vollzählig erhalten und ergänzt werden; warum sollte dies nicht — und zwar weit leichter — bei dem Gewerbswesen möglich seyn, wohin die eigene Nei­ gung die Jünglinge führt, während die Aushebung zum Soldatenstande gewöhnlich nur durch gesetzlichen Zwang bewirkt werden kann! — Gewiß nach weni­ gen Jahren würde diese Beschränkung des Gewerbs­ wesens zunächst auf inländische Jünglinge, mit Aus­ schließung der Fremden, sich eben so practisch aus­ führbar und höchst nützlich bewähren, wie die Aus­ schließung der Ausländer von dem Eintritte in den inländischen Militairdienst. — Von selbst versteht

133 es sich dabei, daß die Regierung — besonders in der ersten Zeit — die Magistrate der eigentlichen Manufaktur- und Fabrikörter berechtigen könne, als Ausnahme, für den augenblicklich eintretenden Be­ darf, ausländische Gehülfen zuzulasscn, — Dies wären, nach unserer Ansicht, die Vor­ bedingungen, welche der neuen Gestaltung des Zunft- und JnnungswesenS im Geiste unserer Zeit vorausgehen müßten, weil, bevor man die Hand an die Reform desselben legt, der ganze Geist der Zunftgenossen reformirt, d. h. eine andere und zeitgemäße Richtung bekommen muß. Würden aber diese Vorbedingungen in einem Zeitabschnitte von fünf Jahren verwirklicht; so dürfte sodann die durchgreifende Veränderung des Zunft- und Innungs­ wesens, als Folge dieser Vorbedingungen, weit ge­ ringern Schwierigkeiten unterworfen seyn, als wenn die Gewerbsrefprm auf einmal und plötzlich durch­ geführt würde. Nach einem Jahrzehent aber würde die, auf die angegebene Weise vorbereitete, vollstän­ dige Umbildung des Gewerbswesens mit allen höhe, ren Interessen des Staates aufs innigste verschmol­ zen seyn,

6.

Daß der Geist der wahren Sittlichkeit die einzige sichere Stütze der Verfassung eines Volkes sey. (Rede in dem adl. Cadetenhause zu Dresden am 11. Oct. 1799 gehalten *).

Durchlauchtigster Churfürst, Gnädigster Herr; Ä8enn die Größe

seiner Eroberungen,

wenn die

Masse seiner Provinzen, wenn der äußere Glanz sei­ ner Bewohner ein sicherer Beweis von dem wahren Wohlstände und der unerschütterlichen Verfassung eines Volkes wäre; so müßte das römische Reich unter seinen Imperatoren uns das, in der Weltge­ schichte sonst noch nie so gesehene, Schauspiel bar­ bieten , daß ein unermeßlicher äußerer Umfang und eine scheinbar im Innern unerschütterlich fest begrün­ dete Macht, allein schon hinreiche, die Dauer der Verfassung eines Reiches auf immer zu sichern. Allein so ungeheuer groß auch die Ausdehnung des römi­ schen Reiches war, dessen Grenzen eben so den at­ lantischen Ocean, wie den Euphrat, den Nil, wie *) Der Churfürst, feit 1806 König von Sachsen, be­ suchte jährlich im Herbste das adeliche Cadetenhaus, um den Prüfungen der 122 Zöglinge beizuwohnen. Mir, als damali­ gem ersten Lehrer de« Instituts, stand es zu, am Schluffe der Prüfungen das Institut, in einer kurzen Rede, dem fortdauernden Schutze und der Gnade des Regenten zu em­ pfehlen.

135 den Rhein und die Donau berührten; so fehlte ihm doch die innere Festigkeit, und rohen, nomadischen Horden ward es nicht schwer, nach dem Kampfe ei­ niger Jahrhunderte, zuerst alle entfernte Provinzen von dem Mutterlande loszureißen, und zuletzt in Rom selbst die ganze ehemalige Verfassung aufzulösen. Diese merkwürdige Erscheinung würde sich nicht erklären lassen, wenn die zuverlässige Stütze der Verfassung eines Volkes in erweiterter Macht, in äußerm Glanze, in erhöhtem Lupus, in der Blüthe der Künste, in dem Reichthums seiner Individuen bestände. Diese zuverlässige, diese einzig sichere Stütze muß nothwendig in etwas anderem bestehen, das aber in Rom fehlte, und dies kann nichts an­ ders seyn, als der Geist der wahren Sittlich­ keit. Wundern darf es uns also nicht, daß Rom und alle andere kolossalische Reiche des Alterthums bald nach ihrem Entstehen sanken, da ein weit um sich greifendes Sittenverderben jene Zeiträume der. Geschichte bezeichnete, wenn es entschieden ist, was ich zu beweisen suche: Daß der Geist der wahren Sittlich­ keit die einzige fichereStütze der Ver­ fassung eines Volkes sey.

1. Wo dieser Geist der Sittlichkeit sich zeigt; da zeigt er sich als ein Geist der Weisheit. Richtige Einsicht in das Verhältniß der letzten Zwecke der Menschheit zu den Individuen selbst; genaue Kenntniß der wirksamsten Mittel, diese Zwecke zu erreichen und zu verfolgen, muß dem Geiste der Tugend vorausgehen, der in den Handlungen der Individuen sichtbar werden soll, in welchen die wahre

136 Sittlichkeit sich ausgebildet hat. Das Gute zu thun, weil es das Gute ist, die niedrigen Triebfedern zu beherrschen, die aus zügellosen Leidenschaften hervor­ gehen, und dadurch zu einer Reinheit des Sinnes sich zu erheben, die in allen öffentlichen und häusli­ chen Angelegenheiten sich ankündigt; daö ist der Geist der wahren Sittlichkeit. Wo sein alles bele­ bender Odem weht; da herrscht Wohlstand, Ord­ nung und Zufriedenheit in den Familien; da schlägt frühzeitig das Herz des emporstrebenden Jünglings für alles Gute und Große; da sind die Stände ei­ nes Volkes durch Eintracht und gegenseitige Anhäng­ lichkeit unter sich verbunden, und alles schreitet gleichmäßig zu einer Hähern Stufe Her Vollkommenheit und Glückseligkeit fort. Nothwendig zeigt sich dann der Geist der Sittlichkeit auch als ein Geist der V aterlandsliebe; denn wo könnte diese umschließen­ de Ordnung, diese beseligende Harmonie, diese Ein­ tracht, dieser innere friedliche Verkehr der Bürger, dieser stille Fortschritt des Ganzen mehr getroffen werden, als bei einem Volke, das der Geist der wah­ ren Sittlichkeit beseelt? Wo könnte sich das Indi­ viduum glücklicher fühlen, wo freier und leichter zur Vollkommenheit gelangen, wo mit weniger Beschwer­ den des Lebens kämpfen, als in seinem Vaterlande, wo der Geist der wahren Sittlichkeit herrscht? L.

Gewiß ist aber dieser Geist der wahren Sitt­ lichkeit die einzige sichere Stühe der Ver­ fassung eines Volkes. Wenn alle andere Verhältnisse der Individuen, wenn ihr Vermögen, ihre Verbindungen mit dem Auslande, ihre Ver­ gnügungen, unter dem Einflüsse des Zufalls stehen

137 und ihnen entrissen werden können;' so ist der in­ nere Geist der Sittlichkeit ein unverlierbares Eigen­ thum. Er gehört dem edlem, bessern Theile des Menschen, seinem Verstände und seinem Herzen, an, und blos, der Tod kann diese schöne Pflanze der Sittlichkeit in eine bessere Melk versehen. Keine irdische Macht vermag das Gefühl des Rechts und der Pflicht in dem Menschen zu er­ sticken; keine äußern Verhältnisse können den be­ währten Mann von der Bahn der Tugend entfer­ nen. Und wenn dann ein Volk in der Mehrheit seiner Individuen sich zu diesem Geiste erhoben hat; wenn er alle Stände desselben durchdringt; wenn sein Einfluß überall merkbar wird: wer wollte wohl einem solchen Volke die Verfassung rauben, die sein Stolz und sein theuerstes Kleinod ist, und die durch das edelste und beste in dem Menschen, durch seine Sittlichkeit, verbürgt wird! Gewiß, wo wahre Sitt­ lichkeit herrscht; da kann ein Volk dem Sturme der Zeit rings um sich her mit Ruhe zusehen; es ist z u reif und zu gut, als daß es von dem Gifte ver­ derblicher Meinungen berührt werden könnte, weil durch das Uebergewicht dec guten Menschen sogleich die Bestrebungen der bösen und verdorbenen in sich selbst unschädlich gemacht werden.

Diese beruhigende Ueberzeugung ist aber auch der Stolz und das erhabene Kleinod desVolkes, das zu Ihnen, Durchlauchtigster Churfürst, mit tiefer Rührung und festem Vertrauen, als zu seinem Vater und Herrn aufblickt! In dem großen und guten Herzen dieses Vaters, das für die reinste Sittlichkeit erwärmt ist, und das die höhere Reife der Tugend überall zu verbreiten sucht, liegt daher

138 der Fortschritt unsers Vaterlandes, sein Wohlstand und die Dauer seiner Verfassung verbürgt. So wenig je sich dieses Vaterherz von dem Gefühle der erhabensten Tugenden trennen kann; so wenig wird je das Volk, das diesen Vater verehrt, in seiner wohlthätigen Verfassung erschüttert werden können. Dieser feste Glaube herrscht aber nicht allein in dem ganzen Lande, das der Segnungen Ihrer Re/ gierung, Durchlauchtigster Churfürst, sich erfreuet; er herrscht auch in der Mitte unsers Instituts. Auch hier wird auf Hoffnung der Same der wah­ ren Sittlichkeit in die Brust der edlen Jünglinge gesenkt, die unsrer Leitung anvertraut sind. Auch hier soll die Ueberzeugung genährt und bis zur Ge­ wißheit erhoben werden, daß nur dann das Vater­ land in unerschütterlichem Wohlstände blüht, wenn der Geist der Sittlichkeit seine Individuen immer mehr durchdringt. Deshalb stehet jede Cultur, zu welcher der Verstand unserer Zöglinge sicher hebt, mit der Cultur des Herzens in Verbindung; des­ halb geht der ganze Zweck unserer Erziehung von der Sittlichkeit aus, ohne welche der Mensch, und wenn er noch so cultivirt in anderer Hinsicht wird, doch weder der Gesellschaft nützlich werden, noch mit sich selbst zur Einigkeit kommen kann. — Gön­ nen Sie uns daher, gnädigster Herr, dieses erhabe­ nen Zweckes wegen, auch für die Zukunft Ihre Gnade und Ihre Unterstützung; gewähren Sie uns das hohe Glück, die edlen Jünglinge, die aus die­ sem Institute zum Dienste des Staates hervorgehen, immer mehr zu einer Sittlichkeit zu bilden, welche die sicherste Stütze der Verfassung unsers theuern Vaterlandes ist.

7.

Ueber den Geist der bessern Erziehung. (Rede, am 27. Nov. 1800 bei der Prämienvertheilung dem adelichen Cadetenhause zu Dresden gehalten.)

m

Di- Zeit der Jugend ist die schönste Zeit im mensch­ lichen Leben. Alle Kräfte zeigen sich da in ihrem ersten Erwachen; ein unbegrenztes Ziel dehnt sich vor dem Jünglinge in grauer Ferne; nichts liegt ihm zu weit, nichts scheint ihm zu schwer, daö er nicht zu erreichen und zu vollenden sich getrauen sollte. Mit Zutrauen und Liebe schließt er sich an die Men­ schen an; denn die Welt hat ihn noch nicht getäuscht. Seine Hoffnungen, seine Wißbegierde, sein Ehrtrieb sind in Thätigkeit gesetzt, und Liebe, Beifall, Ach­ tung und Belohnung sind im Stande, dieser Thä­ tigkeit eine ümschließendere und ausgezeichnete Rich­ tung zu ertheilen. Diese erwachenden Kräfte mit Weisheit zu lei­ ten; keine derselben, so verschiedenartig sie auch im­ mer sich ankündigen mögen, zu unterdrücken; jede auf den Punct hinzuführen, durch dessen Erreichung die Reife und Vollendung des Menschen bedingt wird; sie vor Verirrungen zu bewahren, ohne doch den natürlichen Gang ihrer freien Enwickelung auf­ zuhalten, und, ohne mechanische Abrichtung und äu­ ßern Zwang, sie an Disciplin und gesetzmäßige Ordnung zu gewöhnen: — überhaupt die ganze ju-

140 -endliche Thätigkeit allmählig und unvermerkt zu dem höchsten Standpuncke des Lebens, zur Erlan­ gung einer reinen Güte des Herzens in Verbindung mit einem Hellen und aufge­ klärten Verstände hinzuführen; das ist die große Aufgabe für die bessere Erziehung. — Das Fest, zu dessen Feier wir heute uns ver­ sammelt haben, ist ein Fest, das nur die bessere Erziehung anordnen konnte. Es ist das Fest der Sittlichkeit, der entwickelten Talente und des be­ währten Fleißes; es ist das Fest, wo der, welcher sich auszeichnet, öffentlich anerkannt und durch den Ausspruch der Gerechtigkeit belohnt wird; es ist das Fest, das selbst die kaum bemerkbare Thätigkeit des stillen Fleißes ans Licht führt; es ist daö Fest, das allen Zöglingen dieses Instituts, durch die Be­ lebung des Nacheifers und durch die in ihrer Mitte »ertheilten Belohnungen, die frohesten Aussichten in die Zukunft eröffnet und ihnen die Grundsätze für immer gewährleistet, nach welchen sie behandelt werden. So weit ist das Feld, das die verbesserte Er­ ziehung umschließt; so erwärmend und wohlthätig ist ihr Geist! Welcher Gegenstand könnte uns wohl am Eingänge einer Feierlichkeit, die den Geist der bessern Erziehung athmet, näher liegen, als eine kurze Schilderung des Geistes der bessern Erziehung selbst?

1. Der Geist der bessern Erziehung beab­ sichtigt zunächst die Sittlichkeit. Ein großer Unterschied findet statt zwischen den äußern Sit-

141 ten und bei* Sittlichkeit. Man kann die erstem in hohem Grade und mit einer gewissen Sicherheit und Gewandtheit sich zu eigen gemacht, ja dadurch sogar den Schein von Sittlichkeit, wenigstnes von guter Aufführung, sich verschafft haben, ohne daß die wahre Sittlichkeit unser Herz erfüllt. Nur der, welcher das Gute deshalb übt, weil es daS Gute ist; nur der, der sich der guten, von der Vernunft gebilligten, Gründe seiner Handlungen in jedem Augenblicke seines Lebens bewußt ist; nur der, dessen Temperament und Leidenschaften unter der strengen Leitung der Vernunft stehen; nur der kann der Sittlichkeit sich rühmen. Die andern gehö­ ren unter die Classe derer, die blos Sitten ha­ ben, ohne Sittlichkeit. — Diesen Unterschied aber in dem Unterrichte der Sittenlehre zu entwickeln; diesen Unterschied in der Behandlung der Zög­ linge, und also in der Beurtheilung ihrer guten Sei­ ten und ihrer Verirrungen festzuhalten, und die Zög­ linge dadurch auf die richtige Beurtheilung ihrer eigenen Handlungen und der Triebfedern derselben hinzuleiten; — das ist das erste Kennzeichen, daß der Geist der bessern Erziehung in einem Institute weht. :

2. Dieser Geist weckt zugleich den Fleiß und giebt ihm seine wahre wissenschaft­ liche Richtung. Es ist nicht genug, daß man lernt, sondern es kommt alles darauf an, wie man lernt. Der mechanische Fleiß, der blos eine Masse unzusammenhängender Materialien ins Ge­ dächtniß pfroft, ist dem Zöglinge mehr nachtheilig, als vvrtheilhaft. Es ist daher der Charakter,ber

142 bessern Erziehung, daß alles das, dessen der Fleiß des Zöglings sich bemächtigt, ganz sein werde; daß er jeden Begriff, den er denkt, nach seinen Gründen verstehen und in seinem wissenschaftlichen Zusammenhänge übersehen lerne; daß er mit Selbst­ denken dem Gange der Wissenschaften folge; daß er den Lehrer über Dunkelheiten und Schwierigkei­ ten, die ihm geblieben sind, befrage, und daß er nicht unter und neben der Wissenschaft stehen bleibe, sondern allmählig zur Uebersicht über die­ selbe sich erhebe. Wenn nun aber der Fleiß auf diese Art sich zeigen soll; so darf ihn kein Zwang von außen, son­ dern eö muß ihn der Sporn der Nacheiferung, die Macht des Beispiels der reifern Zöglinge, das Be­ dürfniß für die wissenschaftliche Nahrung selbst, und der Drang nach eigener rastloser Vervollkommnung wecken. Mögen dann immer noch in der Erkennt­ niß des Zöglings Lücken bleiben, die erst die Zu­ kunft und sein fortgesehter Fleiß ausfüllen; so hat doch dieser Fleiß die einzige vortheilhafte Richtung genommen, und diese wird sich dadurch ankündi­ gen, daß ihn eigener Antrieb zu den Wissenschaften leitet, und daß er in ihnen alles Kleinlichen und Einseitigen sich entschlägt, das nur den Geist lähmt und niederdrückt.

3. Der Geist der bessern Erziehung be­ richtigt aber auch den Ehrtrieb und die thätige Nacheiferung, und bringt das wahre Selbstgefühl in die genaueste Ver­ bindung mit der strengsten Selbstkenntniß. Es ist nichts ekelhafter, als ein anmaßender, ein-

143 gebildeter, eitler Jüngling; er zeigt dadurch, daß er die Wissenschaften nicht ihrer selbst wegen er­ lernt, sondern um mit ihnen Geräusch zu machen, und daß er sie nicht versteht, weil sie ihn nicht bescheiden gemacht und an die Grenzen seiner Kenntnisse erinnert haben. Es giebt aber auch eine heuchlerische Demuth und eine angenom­ mene Bescheidenheit, hinter welcher sich der unbe­ grenzteste Stolz versteckt. Gegen beide- kämpft der Geist der bessern Erziehung. Er verkümmert nicht das edle Selbstgefühl, das in der Brust des mukhig vorwärts strebenden und seine Pflicht erfüllenden Jünglings schlägt; er ver­ stattet gern jedem die Befriedigung, die er aus sei­ nem eigenen Fleiße schöpft; er führt aber auch alle zur richtigen Selbsterkenntniß, damit jeder das Maas seiner Kräfte mit seinem Fleiße, mit dem erreichten Grade seiner Cultur vergleiche, und immer die Lücken und Mängel lebhaft fühle, die er noch auszufüllen hat. — Dieser Geist der bessern Erziehung rechnet viel auf den in der Brust des Zöglings sich regen­ den Ehrtrieb; allein nie darf ein Stolz daraus werden, der seine Gefährten auf der Bahn zur Ehre gering schäht, und blos sein kleines Ich und seine Verdienste sieht, während er die andern verachtet. Der Ehrtrieb ist überhaupt blos so lange für die Erziehung der mächtige Sporn der jugendlichen Thä­ tigkeit, bis der Geist deö Jünglings so reif und mündig geworden ist, daß er die Wissenschaften um ihrer selbst willen erlernt, und das Gute um seiner selbst willen, auch ohne Aussicht auf Belohnung und Auszeichnung, auöübt. Denn der Ehr­ trieb ist im Ganzen nur ein unsicheres Mittel zum Ziele; er bleibt aber immer das erste, das an-

144 gewandt werden muß, bevor noch der jugendliche Geist sich zur sittlichen Kraft und zur Uebersicht der Wissenschaften erhoben hat, um eine höhere Richtung zu nchmen und ein festeres Ziel zu verfolgen. — Besonders ist in einem militärischen Institute der weisen Leitung des Ehrtriebes die größte Auf­ merksamkeit zu schenken, damit er nie ausarte, nie ver­ mindert werde, und doch zuletzt nur höhern Zwecken vorarbeite und in edlere Triebfedern verschmelze. 4. Der Geist der bessern Erziehung be­ schränkt ferner keine thätige Kraft des Zöglings in ihrer Aeußerung, so lange sie nicht dem Individuum und dem Ganzen nachtheilig wirdEs ist noch kein Sterblicher zum Ziele gelangt, der nicht einzelne Verirrungen sich hätte zu Schulden kommen lassen; es erreicht aber auch kein endliches Wesen sein Ziel, das seine Kräfte einseitig ausbildet, das sich selbst und an­ dere, durch den Mißbrauch derselben, aufhält, und, ohne gesetzmäßige Ordnung und Disciplin, diesen Kräften den willkührlichsten und wildesten Spielraum verstattet. Der Geist der bessern Erziehung geht also die Mittelstraße der Weisheit und Ordnung. Er bemerkt die jugendlichen Uebereilungen der In­ dividuen; er erinnert sie aber blos deshalb, damit sie der Jüngling selbst bemerke und ablege, ehe sie zu Fehlern und Gewohnheiten werden. Er verzeiht dem Strauchelnden, leitet ihn durch Gründe, die er mit Wohlwollen ihm entwickelt, auf den rech­ ten Weg zurück, und bietet ihm willig die Hand. Nie wird in seiner Behandlung die Spur einer Leidenschaft kennbar, als die Spur der reinen

145 Freude über den bemexkten Forkschrltt des Ganzen. Selbst wenn ihm Strafen abgedrungen werden; so zeigt er, daß er nicht gern straft, daß er blos der Besserung des Individuums wegen straft, und daß die Strafe sogleich aufhört, sobald die Spuren der Besserung nicht zu verkennen sind. So dienen auch die Strafen, in ihrer bessern­ den Natur, zum Zwecke des Ganzen, und so be­ schränken sie, nach einer richtigen Abstufung in sich selbst, und nach der genauesten psychologischen Kenntniß des Zöglings, die Kräfte blos dann, wenn Muthwille, Uebereilung, oder — doch immer nur selten — auch die Bosheit in ihre Aeußerung sich mischen wollen.

5. Der Geist der bessern Erziehung ver­ einigt aber auch die reifen und guten Zög­ linge eines Instituts durch Auszeichnung und Belohnung zu Einem Ganzen. Was begeisterte in der Vorzeit die griechischen Jünglinge zum gemeinschaftlichen Tode für's Vaterland, als der Heldenmuth in ihrer Brust, der sich durch ihre gegenseitige Freundschaft und durch den Bruderbund ihrer Herzen auf Leben und Tod bildete? Woher rühren noch jetzt alle die großen Erfolge, welche edle Menschen, zu Einem Zweck vereinigt, vollbrin­ gen, und welche die Mitzeit und Nachwelt in Be­ wunderung setzen, als von dem schönen Bunde, der sie aufs innigste verknüpft? Wie mag auch wohl eine irdische Kraft etwas Großes allein vollenden können! So sicher wir von dem Umgänge unh der Freund­ schaft eines Menschen auf seine Cultur, auf seinen

Mitz verm. Schr. Th. 2.

10

146 Kopf und auf sein Herz zu schließen im Stande sind; so sicher finden sich auch, durch ein unsichtbares Band angezogen, die guten Menschen überall zusam­ men. Sie schließen einen Bund, der auf gleicher Güte deö Herzens, auf gleichen Kenntnissen, auf gleichem Vorwärtsstreben zur Vortreffiichkeit beruht, und ihre Freundschaft, in der schönen, sorgenlosen Zeit der Jugend geschlossen, hält gewöhnlich wieder durch ihr ganzes Leben. Zu diesem kräftigen Stamme der angehenden edelsten Jünglinge gehören denn alle die, welche, durch Belohnung ihrer wissenschaftlichen Thätigkeit, in gleiche Verhältnisse der Auszeichnung gegen einander gesetzt werden. Die Gerechtigkeit der bessern Erzie­ hung ertheilt ihnen daher die verdiente Belohnung, und sagt dadurch öffentlich aus, wen sie gewohnt ist, als den Kern der ausgezeichneten Jünglinge zu denken, die unter ihrer Leitung stehen; ja es ist eben die große Absicht der öffentlichen Belohnung, diese Ausgezeichneten selbst immer näher dadurch zusammen zu führen, weil zunächst von diesem edlen Stamme die innere Vollendung und Fortbildung eines Instituts abhängt.

6. Der Geist der bessern Erziehung erhält sich endlich in seinen Spuren noch in den reifern Jahren des Zöglings, wenn er be­ reits das Institut verlassen hat, in wel­ chem er seine Bildung erhielt. Die Erziehung soll nicht blos mechanisch folgsame und abgerichtet gelehrige Geschöpfe auf einige Jahre bilden, die den Augenblick mit Sehnsucht erwarten, der sie aus dem Institute führt; sie soll vielmehr

147 in's ganze künftige Leben eingreifen, ja in ihren Fol­ gen noch bis über Tod und Grab hinaus rei­ chen. Die Grundsätze der Wahrheit und Tugend, die das jugendliche Herz auffaßte; die wissenschaft­ lichen Kenntnisse, zu welchen der Verstand frühzeitig sich erhob, sollen die Unterlage der ganzen geistigen und sittlichen Reife des Menschen werden, die nur durch ebenmäßigen Fortschritt in allen Zeitabschnitten sei­ nes Daseyns erreicht werden kann, und zu welcher die wissenschaftliche Bildung in der Jugend die stcherste Grundlage enthält. Deßhalb wird auch der Geist der bessern Erziehung sich am sichtbarsten an denen bewähren, welche die Institute verlassen, wo sie ihre Bildung erhielten, welche gern an die vorigen Verhältnisse sich erinnern, welche immer mit den Wissenschaften fortschreiken, und welche in ihrem höhern Wirkungskreise alles das fortsetzen und practisch anwenden, was jener Geist in ihnen, in Hinsicht auf Ordnung, Kenntnisse, Fleiß, Wirthschaftlichkeit, Disciplin und Charaktergüte, entwickelte und bildete. —

O möge doch auch unser Institut, das heute einen Tag verlebt, der den Geist, der in seiner Mitte weht, am sichersten, entweder zu seinem Vor­ theile oder zu seinem Nachtheile, bezeichnen muß; — o möge doch auch dieses Institut immer die Spuren des wohlthätigen Geistes an sich tragen, in welchem die bessere Erziehung sich ankündigt. Möge dieser Geist unö allen, die wir mit diesem Institute durch die glücklichsten Verhältnisse verbunden sind, immer gegenwärtig seyn und uns bei unserm Unterrichte und bei der Behandlung unserer Zöglinge 10*



148



leiten! Dann werden seine Spuren sichtbar bleiben in denen, die von hier aus in das vaterländische Heer zu einem höhern Wirkungskreise übergehen, und nie wird unter uns ein edler Stamm erlöschen, dessen Fleiß in jedem Jahre nach einer Belohnung strebt, die ihm die Gerechtigkeit zuspricht, und wo, wie an dem heutigen Tage, Freund­ schaft, Wohlwollen und Achtung den Genuß der erreichten Belohnung voll herzlicher Rührung mit ihnen theilen! —

8. Daß die fortdauernde Verjüngung eines Staates zunächst von der fortdauernden Veredelung der

Erziehung abhange.

(Rede am 5. MLrz 1799 vor den versammelnden LandstLndm des Churfürstenthums Sachsen gehalten, als diese daS ad» liche Cadetenhaus besuchten.) Veraltende Völker geben einen traurigen Anblick in der Geschichte, und doch hat jeder Zeitraum dersel­ ben mehrere aufzuweisen. Dies zeigt uns ein ernster Blick auf den Gang, den unser Geschlecht bei seiner Entwickelung nahm. Immer ist jedes Zeitalter Zeuge von Ereignissen gewesen, bei welchen der denkende Menschenfreund mit Beklommenheit fragt: welches Ergebniß am Ende aus der großen Gährung der streitenden Kräfte hervorgehen ^werde? Doch dieses Ergebniß, die allmähligeVerwirk­ lichung des Planes der Vorsehung mit unserm Ge­ schlechte, liegt nicht innerhalb des Gesichtskreises des endlichen Wesens. Wichtiger für uns, hinter denen alle die uner­ meßlichen Erfahrungen liegen, welche J)te verstossenen Jahrtausende der Geschichte, welche die Völker der Vorwelt uns, ihren fernsten Nachkommen, hinter­ ließen, ist die sich uns überall aufdringende Erschei­ nung : daß, wenn ein Staat, er sey klein oder groß, schwach oder mächtig, seine Blüthe verlebt und seine

150 höchste Cultur erreicht hat, er allmählig und unauf­ haltbar veraltet, untergeht, und zu einer neuen Verfassung in veränderten Verhältnissen umgebildet wird. Da sehen wir uns denn, mit erschütterter Empfindung, nach einem Mittel um, durch welches, nach dem Zeugnisse der Geschichte, jenes unauf­ haltbare Veralten der Völker vermieden werden könne? — Dieses Mittel könnte kein anderes seyn, als eine, in dem Staate selbst begründete, fortdauernde Ver­ jüngung seiner einzelnen Theile; ein Streben der Kraft von innen heraus; ein Beseitigen der veral­ tenden und abgestorbenen Glieder; ein Fortführen des Ganzen zu dem wohlthuenden Zwecke der gren­ zenlosen Vervollkommnung aller Theile des innern Staatslebens. Allein wo, wo sollen wir es finden, dieses mäch, tige, alles umschließende Mittel? Wo ist der Staat in der Wirklichkeit zu treffen, der im Besitze dieses Geheimnisses wäre, der von innen heraus, durch eigene, selbstständige Kraft sich verjüngte, und dadurch eben so den innern Zerstörungen, wie den Stürmen von außen, vorzubeugen wüßte? — Lassen Sie uns, ehrwürdige Stände un­ sers theuern Vaterlandes, lassen Sie uns, als Sachsen, mit dem gerechten Stolze auf un­ sere Verfassung, mit der reinsten Liebe für diesen Boden, der die schönsten Blüthen der Cultur seit Jahrhunderten trieb; lassen Sie uns, mit der wärm­ sten Anhänglichkeit an einen Fürsten, der unter den Regenten unserer Zeit mit den erhabenen Eigen­ schaften der strengsten Gerechtigkeit und Unparteilich­ keit die innigste Sorgfalt für alles verbindet, was unser Land zur Cultur führen und sein Veralten

151 verhüten kann; lassen Sie uns, in diesen feierlichen Augenblicken, wo ein blühendes Institut die segnende Nähe der Stellvertreter unseret ganzen Nation em­ pfindet, einen Versuch wagen, jenes Mittel auf­ zufinden, und kürzlich beweisen: daß die fortdauernde Verjüngung ei­ nes Staates zunächst von der fort­ schreitenden Veredelung der Erzie­ hung abhänge.

1. Fragen wir zuerst: worin die fortdauernde Verjüngung eines Staates bestehe.; so dür­ fen wir nur bei dein Bilde eines veralteten Staates, wie es uns die Geschichte vorhält, einen Augenblick verweilen. In einem veralteten Staate hat seine Verfassung fich überlebt; seine Gesetze stam­ men aus einem längst verschwundenen Zeitalter und sind nicht, in dem Verfolge besserer Zeiten, fortgeführt worden zu den veredelten Bedürfnissen dec Nation; feine Religion ist mehr Sache des Cere­ moniels, als des Geistes und der festen, wohlthuenden Ueberzeugung; seine Finanzverwaltung ist zerrüt­ tet; das Eigenthum des Individuums ist ohne hin­ reichenden Schutz und Sicherheit; eine einseitige Po­ litik hat die edelsten Jünglinge für fremdes Interesse hingeopfert; niedrige Vergrößerungsplane des Landes haben eine innere Erschöpfung nach sich gezogen, und alle Kräfte des Staates nach außen geleitet; ein geheimer Groll, eine alles bewachende Eifersucht herrscht unter den verschiedenen Ständen, die nicht selten durch Stolz, Anmaßungen und Furcht von einander sich trennen; die Wissenschaften werden blos als die Beschäftigung einiger müßigen Köpfe ange-

122 sehen und haben keinen Einfluß aufs Leben; die Künste stehen im Dienste des Luxus, und steigern nur das herrschende Sittenverderben; das Zutrauen zwischen Regenten und Unterthanen ist aufgelöset, und jeder Bürger verfolgt die niedern Triebfedern feines Eigennutzes, um blos für sich zu leben, sey es auch, daß das Ganze darüber zu Grunde gehe. —

Unter diesem Bilde erscheint uns, nach der gro­ ßen Theilung des Römerreiches, das morgenländische Kaiserthum; dieser Ursache wegen sank die Majestät und Herrlichkeit des Westreiches unter den wieder­ holten Schlägen der Teutschen; darum vernichtete die Schlacht bei Arbela das große persische Reich; deshalb konnte das arabische Chalifat sich nicht behaupten; deshalb fielen, nach dem Tode Attila's, Dschingiskans und TamerlanS, ihre unsinnigen Ero­ berungen wieder in die Hände fremder Stämme, und wurden vereinzelt, weil kein Band da war, wel­ ches das aus so widerstrebenden Theilen bestehende Ganze zusammen gehalten hätte. —

Dagegen besteht die fortdauernde Verjüngung eines Staates in der Angemessenheit der ganzen Ver­ fassung zu den jedesmaligen Bedürfnissen und zu der jedesmal erreichten Stufe der Cultur seiner Bürger. Da werden, mit dem milden Geiste einer jungem Zeit die Gesetze gerechter und milder; (so mußte einst Solon, bald auf den Drako, die Gesetze Athens mildern und verbessern;) da weht in der Religion des Volkes ein Geist der Frömmigkeit und Tugend, der sich in Bekämpfung des Sitkenverderbens und in Erhebung des Ver­ standes und Herzens zum Genusse einfacher, ewig befriedigender Wahrheiten ankündigt; da jeigen sich

153 überall Eintracht, Ordnung und Ruhe, wo ander­ wärts Mißtrauen, Eifersucht und Furcht die allmählige Zerrüttung des Ganzen drohen; da nähern sich die verschiedenen Stände eines Volkes einander mit Liebe und Zutrauen, denn sie wissen, daß vor dem Richterstuhle der Gerechtigkeit und Gesetze sie alle gleich gehalten werden; da maßt sich keiner mehr an, als ihm zukommt; da blühen die Wissenschaf­ ten z da weht ihr erquickender Geist in den Städten und ein sanfter Nachhall von ihnen ertönt im gan­ zen Lmde; da erhöht der Flor der Künste den angebohrnen Sinn fürs Schöne; da entfalten sich Wahrheit und Tugend; da entsteht ein Wetteifer in guten Thaten; da erglüht der Jüngling für die Ideale seiner Zukunft; der Mann wirkt den Tag seines Lebens voll Kraft und Muth, und der Greis verläßt die Erde mit der Ueberzeugung, daß es, nach seinem Weggänge von der Erde, immer besser unter seinen Mitbürgern werden müsse. Mit einem Worte: e6 herrscht ein Gemeingeist durch das Ganze des Staates in jedem Individuum, der jedem An­ griffe von außen trotzt, der sein eigenes Wohl in dem Bestehen deö Ganzen findet, und der entschlos­ sen genug ist, sein Leben, sein häusliches Glück und sein Vermögen aufzuopfern, wenn das Ganze be­ droht wird, um mit seiner Individualität zu ver­ schmelzen in der Glückseligkeit und Vollendung des Ganzen. — Wo dieser Geist herrscht; da verlebt ein Staat die Zeit seiner Verjüngung. — Allein wodurch soll dieser Geist geweckt, wodurch gepstegt und unter­ halten werden? Ich antworte mit meinem obenauf­ gestellten Satze:

154

2. durch die fortschreitende Veredelung seiner Erziehung. — So wie in der Natur die Fruchtbarkeit des Sommers und Herbstes an die schöne Blüthe des Frühlings gebunden ist; so ist in der Gcisterwelt die höhere Reife der Zukunft an die sorgfältige Pstege des jedesmal aufblühenden Ge­ schlechts geknüpft. Warum sank der römische Koloß, als er den höchsten Gipfel seiner Macht erreicht zu haben schien? — weil Roms Erziehung verweichlich­ te, weil griechische Sklaven und Sklavinnen seine Jugend erzogen, und ihr einen Sklavensinn, eine frühzeitige Entkräftung mittheilten, die der jugend­ lichen Uebermacht der teutschen Völker nicht wider­ stehen konnte. In welchem elenden Zustande war, nach dem Zeugnisse der Geschichte, die Erziehung bei allen den Völkern, die als vorübergehende Er­ scheinungen in der Geschichte auf Augenblicke ge­ glänzt haben? — Was zeichnete hingegen die größ­ ten Regenten der Vorwelt und der neuen Zeit aus, als ihre Sorge für die Erziehung und für die Wis­ senschaften? So ein Karl der Große, so ein Al Mamum, so ein Friedrich der Große, so unter den Regenten unsers Vaterlandes ein Friedrich der Weise, Morih, August, und Friedrich August der Dritte. — Nur dann, wenn von Jugend auf Vaterlands­ gefühl And Vaterlandsliebe durch feste Ueberzeugung in die Brust des emporstrebenden Jünglings gelegt wird; wenn ihm, bei der Erzählung der Thaten der Vorzeit, die Thräne der Rührung im Auge glänzt; wenn der Drang nach hohen Idealen die Ruhe von seinem Lager scheucht; wenn das innere Feuer in ihin emporglüht für Tugend, Sittlichkeit und Wahr­ heit; wenn er in den Wissenschaften nicht das Mit-

155 tel des künftigen Broderwerbs, sondern den einzigen Grund der eigenen Vervollkommnung und der fort­ schreitenden Cultur des Ganzen findet; wenn er der edelsten Entsagungen und Aufopferungen fähig wird, und er anspruchloö, doch mit dem Bewußtseyn sei­ ner Kraft, in die hohem Verhältnisse des Staates übergeht: dann Heil der Nation, Heil dir, mein Vaterland, wenn du viese solcher Jünglinge er­ hältst; nie kann, nie wird deine Verfassung unter­ gehen! Jedes aufblühende Geschlecht wird dich ver­ jüngen; nie wird eö dir an einem Gememgeiste, an einem Kraftgefühle fehlen, der Sachsen zu einer immer höhern Stufe der Reife und Vollendung nach allen seinen Ständen und staatsbürgerlichen Interes­ sen fortführen wird. —

Ja, Heil unserm Vaterlande, daß die Sorge für die Veredelung der Erziehung des aufblühenden Geschlechts der erhabene Gegenstand der Berathschlagungen unsers theuersten Churfürsten und seiner Mi­ nister und Stände geworden ist! Heil unserm Va­ terlande, daß auch in diesen, für unser ganzes Volk wichtigen, Tagen daß erhabene Geschäft der Erzie­ hung, von welchem daö Bestehen und die Blüthe unsers Staates für die Zukunft zunächst abhängt, ein Theil der Berathschlagungen der ehrwürdigen Stände geworden ist, die sich seht in der Nähe un­ sers Fürsten versammelt haben, um mit Ihm gemein­ schaftlich unser Volk zu einer höhern Bildung und Reife fortzuführen und über die Mittel sich zu be­ rathen, durch welche die anerkannte Empfänglich­ keit unsers guten Volkes für diese Cultur weise geleitet werden muß! Ja, der erhabene Anblick die-

156 fei* ehrwürdigen Versammlung, die auch unsers Instituts mit so vieler Theilnahme sich annimmt, und welche die Erziehung, die hier der Blüthe des sächsischen Adels gegeben wird, mit so regem Inter­ esse umschließt, verbürgt es uns', daß die unter uns seit Kurzem begonnene Verjüngung des Erziehungs­ geschäfts *) immer weiter fortgesetzt und immer mehr veredelt werde. Mit hoher Freudigkeit sagen wir eö daher Ih­ nen, verehrte Stände, daß wir hier auf Hoffnung den Samen der Wissenschaften und der Tugend aus­ streuen, damit die Nachwelt einst an ihrer Kraft und Blüthe genese. Mit Freudigkeit gestehen wir es Ihnen, daß wir, nächst dem dankbaren Blicke auf unsern Durchlauchtigsten Churfürsten, der alles für ,uns thut, was väterliche Vorsorge und Pstege nur immer thun kann, mit dem festen Vertrauen auf Sie, ehrwürdige hier versammelte Stände, Hin­ sehen, daß Sie die angefangene Verjüngung unsers, dem Vaterlande so wichtigen und für seine Verthei­ digung so nöthigen, Instituts, so unterstützen werden, daß nie unser Vaterland in Gefahr komme, in sei­ ner Verfassung zu veralten. Doch kann ich, bei dem frohen, herzlichen Gefühle, das meine Seele ergreift, wenn mir das Bild der gegenwärtigen, seit der Mitte des vorigen Jah­ res begonnenen, Verjüngung unsers Instituts vor­ schwebt, unmöglich die Rührung in mir verschließen, die wir alle der Asche eines Mannes schuldig sind. *) Das Cadetenhaus hatte im Jahre 1798 in dem Ober­ sten von Christi ani einen neuen Commandanten erhalte», durch dessen rastlose Thätigkeit das Institut eine neue Organi­ sation erhielt.

157 den jeder Sachse noch nach Jahrhunderten segnen wird, und den jeder kennt, wenn ich den Namen: Gutschmid^) nenne, dessen große, rastlos für die Blüthe unsers Vaterlandes thätige Seele vor kur­ zem zu ihrem ewigen Lohne eingegangen ist. — Wer so, wie er, die Bedürfnisse der Menschen kannte; so frei von Vorurtheilen oller Art, so an­ spruchslos und so im höchsten Grade human war; wer hinter sich eine solche reiche Saat von wohlthä­ tigen Anstalten, von glücklichen Verbesserungen läßt; wer so für die Fortbildung der Erziehung erwärmt war, wie er, wobei auch unser Institut seinen wohl­ thuenden Einfluß empfand; der bedarf keiner Grabschrift auf seiner Ruhestätte. Schwö­ ren wollen wir aber bei diesem Grabeshügel, daß Treue und grenzenlose Verehrung gegen den Fürsten, den uns Gott gab, und den er uns lange erhalten wolle, uns immerdar durchdringe; daß Vaterlands­ liebe uns alle zu Einem großen, schönen Ganzen verbinde; daß bürgerliche Tugend in unserer Mitte nie erschlaffe, das Andenken guter Menschen in un­ sern Herzen nie erlösche, und der Entschluß, auch an unserm Theile, das künftige Geschlecht auf eine hö­ here Cultur vorzubereiten, nie eher in uns ersterben soll, als bis unser Auge zur langen Nacht des Gra­ bes bricht! — *) Der Kabinetsminister von Gutschmid starb den 30. December 1798, kurz vor der Eröffnung des Landtages. Was er dem Lande war, hat sich im Andenken der Nachwelt erhalten.

9. Erinnerungen an die Hochschule zu Wittenberg. Die schönsten, kräftigsten und einflußreichsten

eilf

Jahre meines Lebens verlebte ich als öffentlicher Lehrer der sächsischen Hochschule zu Wittenberg von 1804 — 1815, Amtspflicht, eigene Neigung, und später ein ehrenvoller Auftrag der höchsten Behör­ den veranlaßten mich zur genauern Kenntniß der Verfassung und Verwaltung derselben, die zwar bei­ de im sechszehnten Jahrhunderte entstanden, die aber bei aller ihrer ursprüngliche vielseitigen Zweckmäßig­ keit, doch in den beiden folgenden Jahrhunderten — gestützt auf ihre frühere Unterlage — theils durch eigene Anträge des akademischen Senats an die höch­ sten Behörden, theils durch die Veranlassungen und Entscheidungen der letzter«, zeitgemäß fortgebildet worden waren. Thatsachen und Urkunden sprechen bestimmter und sicherer, als Räsonnement; deshalb enthält der nachstehende Aufsatz nichts, was nicht durchUrkunden aus denArchiven der Hoch­ schule Wittenberg belegt wäre, die ich amtlich nach ihrem ganzen Umfange, kennen lernte, als ich im Jahre 1814 zu der, für die Begutachtung des damaligen Zustandes der Universität Wittenberg und für die der höchsten Entscheidung vorzulegende Plane zur neuen zeitgemäßen Gestaltung derselben, von den

159 höchsten sächsischen Behörden ernannten, Commission (aus der theologischen Facultät Prof. D. Weber, jetzt in Halle, — aus der juridischen der, im Jahre 1828 zu Dresden verstorbene, Hofrath D. Skü­ bel, aus der medicinischen der jetzige Hof-und Medicinalrath D. Seiler 'zu Dresden) als Mitglied der philosophischen Facultät, und als Concipient des entworfenen Berichts gehörte. —

So wie bei den Staaten die Zweckmäßigkeit und zeitgemäße Gestaltung der Verfassung Und Ver­ waltung über das innere kräftige Leben derselben und deren äußere Ankündigung entscheidet; so hängt auch von der Verfassung und Verwaltung einer Hoch­ schule die Ankündigung deö innern und äußern Le­ bens derselben ab, und deshalb ist es lehrreich, — wie bei den Staaten — so auch bei den Hochschu­ len, den Einstuß ihrer Verfassung und Verwaltung auf das öffentliche Leben und die Wirksamkeit dersel­ ben auszumitteln. Die Verfassung der Hochschule Witten­ berg— die am 18. Octbr. 1502 eingeweiht ward — beruhte:

1) auf der Stiftungsurkunde des Churfürsten Fried­ rich des Weisen vom 11. Nvbr. 1506, und den Statuten vom Jahre 1508; 2) auf der Bestatigungsurkunde des Kaisers Maxi­ milian 1, prid. Non. Jul. 1502; so wie auf der Bulle des Papstes Julius 2. vom 12. Jul. 1507. 3) auf der „ersten Fundation" des Churfürsten Johann Friedrich, Sonnab. nach praesent.

160 Mariae 1530, und auf der „zweiten Fundation" desselben, Dom. Miseric. Domini (7. Mai) 1536; und —, nach dem Wechsel der Dynastie im Be­ sitze der sächsischen Churwürde: 4) auf der Fundation des neuen Churfürsten Mo­ ritz vom 7. Januar 1548. (welche alle vorige Stiftungen, Rechte, Besoldungen und Schenkun­ gen confirmirte und vermehrte); 5) auf der ersten „Fundation" des Churfürsten August vom 23. Oct. 1555, so wie auf der zweiten „Fundation und Confirmation" dessel­ ben vom 3. April 1569; (Diese zweite war, nächst der Stiftungsurkunde Friedrichs, die wichtigste von allen, und galt, bis zur Vereinigung der Hochschule Wittenberg mit Halle, als die Unterlage der ganzen Ver­ fassung und Verwaltung.) 6) auf der „Reformationsordnung" Christians 1, wodurch die bisherigen Reformatoren der Hoch­ schule — als immerwährende Commissarien — abgeschafft wurden, und die Regierung der Uni­ versität auöschließend auf den Rector und den aka­ demischen Senat überging. Durch spätere landesherrliche Rescripte, so wie durch die (bis 1748 gewöhnlichen) Visitationen und Visitalionsdecrete, wurden einzelne Veränderungen und Fortbildungen in der Verfassung und Verwal­ tung festgesetzt. 1) Der Rector. Der von dem akademischen Senate (von den 22 ordentlichen Professoren alter Stiftung) gewählte Rector war das Oberhaupt der Universität auf em halbes Jahr. Im akademischen Senate war er

16t primus Later pares, weil er blos die Initiative der Deliberandorum, nur bei stehenden Stimmen ein Votum decisivum, und blos in schleunigen Fäl, len daü Recht hatte, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Von ihm hing die Ansetzung der Tage und Stunden der akademischen Convente ab, doch daß vorher allen Mitgliedern des Senats, in einem Um­ läufe, die in dem angesetzten Convente vorkommen­ den Publicanda und Deliberanda mitgetheilt wer­ den mußten, und über nichts berathschlagt werden durfte, „was nicht in capsula gewesen war." Der Rector ernannte außerdem die Deputirten zu einzel­ nen Geschäften; allein die wichtigern Deputatio­ nen wurden durch Stimmenmehrheit im Senate er­ nannt. Ungefähr in den letzten 250 Jahren des Beste­ hens der Universität war es Observanz, daß die Rectoren nach den vier Facultäten wechsel­ ten. Dies ward in Friedriche des Weisen Fundamenkalstatute vorgeschlagen, aber nicht befoh­ len, auch in der ersten Zeit der Universität nicht genau befolgt, und in keinem Statute derselben förm­ lich angeordnet. Als Belege dienen folgende Stellen aus dem Fundamentalstatute Friedrichs des Weisen. Cap. V. de electione Rectoris, ejus gualitate et jurejurando: „In die sanctorum Philippi et Jacobi (1. Maj.) et Sancti Lucae (18. Oct), convocatis Patribus, i. e. Gymnasii Senatoribus, per scrutinium eligatur Rector, is. quem quisque ma~ gi« crediderit expedire Univ ersituti, hoc obaervato, quod nulla facultas praetereatur, sed, si commode fieri potest, de facultate in facultatem Rectoratus detur. — Jurent eligenPilitz »ernt. Schr. LH. 2.

11

162 tes, non spernere aliquant facultatem, sed eum eligere, quem quisque magis crediderit conducere reipublicae literariae.“ Cap. VL „Rectofis muneris esto, commodo et incremento Universitatis cum summa dili­ gentia prospicere, incommoda cavere, privilegia et statuta conservare, querelas benigne audire, juste judicare, unicuique quod suum est celeriter reddere, advenientes intitulare, mandata publica affigere, Patres convocare, negotia proponere, ex pluritate votorum conclüdere, conclusa executioni mandare, poenas. exigere, absque Decanis nullas literas signare, hospites Honorare, omnia in suo magistratu acta memoratu digna accurate in monumenta publica referre.“ Visitationsdecret vom 29. Novbr. 1614. Der Rector „ muß alle res fisci arduas, welche über 20 st. betragen, desgleichen alle der Universität Jura, privilegia, immunitates, bona, actienes et nomina betreffende Dinge an das ganze corpus academicum gelangen lassen, und alle churfürstl. Decrete, bei erster Zusammenkunft, der ganzen Uni­ versität vortragen, ablesen, expediren, registriren, und in dem per majora gemachten Beschlusse nichts andern oder glossiren lassen." Churfürstl. Rescript vom 19. Aug. 1668: „Der Rector soll, nebenst der Akademie Syndico, mit Zuziehung deö Notarii, die schlechten Sachen expediren, in etwas wichtigern die Decanos dazu ziehen, und wann in Disciplin-, Fiscal- oder an­ dern Sachen schwere casus vorfallen, oder es sonst die Nothdurft erfordert, vor sämmtliche Professores bringen."

163 Der politische Rang des Rectors zu Witten­ berg war unbestimmt; denn er fehlte in den fünf Classen- der Hofrangoi-dnung vom Jahre 17G4 und

1785. Als Personen steuer ward aber, ex fisco fundationis, halbjährig 10 Thlr. für ihn bezahlt.

2) Das Decanak. In allen rechtlichen und polizeilichen Angelegen­ heiten (die schlechten d. t. geringfügigen Sachen aus­ genommen) versammelte der Rector die Decane der vier Facultäten, und bildete mit ihnen das akade­ mische Gericht, in welchem ebenfalls die Stimmen­ mehrheit entschied. In diesem Decanate hatte der juridische Decan (der Stellvertreter eines besondern Syndikus der Hochschule), was die Verhandlung der Civil- und Criminalsachen betraf, das Directorium und den Vortrag. Ec vernahm die Jnculpaten und hörte die Zeugen ab. Der ProtonotariuS (ein Titel für den expedirenden Aktuarius der Uni­ versität) protocolkirte und expedirte die Sachen. Reformationsordnung Christians 1. vom 24. Aug. 1588: „Als thun wir die In­ spektion und Verrichtung der Universität Händel dem Rectori, neben den Decanis der 4 Facultäten hier.' mitt aufftragen, vnd befehlen, daß sie Macht haben sollen, die verfallenden streitigen Sachen zu entschei­ den, vnd bei denselben auch die Verbrecher in gebürliche Straffe zu nehmen. Da aber etwas son­ ders wichtiges vnd bedenkliches vorfallen wirdt; so soll es, vermöge der altten ordnungen, vor alle professores gebracht, vnd also zu gemeiner Berathschlagung gebracht werden."

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3) Das Novemvirak-

Es bestand aus dem Rector, den vier Decanen, und den vier Senioren der vier Facultäten. Sie unterschrieben die Berichte an den Kirchenrath und das geheime Consilium. Nach dem am 7. Jun. 1790 höchsten Orts approbirten Vertrage der Uni­ versität vom 4. Mai 1790 traten die vier Senio­ ren mit dem Rector und den Decanen nur zusammen in Angelegenheiten der fiscorum, oder solcher Din­ ge, die nicht ohne Nachtheil bis zum nächsten Profestorium ausgesetzt werden konnten, so wie zur Vor­ bereitung der condusa der Universität in pleno.“ 4) Des

Seniorats,

wo der Rector mit den Senioren der vier Facultäten besonders berathschlagte, ward in allen oben ge­ nannten Fundamentalstatuten Friedrichs des Weisen, Johann Friedrichs, Moritzenö und Augusts, mit kei­ ner Sylbe gedacht. Es bestand also in den ersten 103 Jahren der Hochschule nicht; denn erst am 20. Febr. 1605 ward, durch ein Reseript Christians 2, den Senioren die „cura fisci“ übertragen, wofür jeder Senior jährlich 25 Gülden ex fisco fundationis erhalten sollte. Seit dieser Zeit verhandelte der Rector die administrativen Geschäfte zunächst mit den Decanen und Senioren (Novemvirak). Doch schon am 3. Aug. 1674 befahl Johann Georg 2, „daß die Senioren ihre Rechte nicht weiter aus­ dehnen, wöchentlich wenigstens einmal zusammen­ kommen, die Administration wöchentlich untersuchen, den Verwalter zu schuldigem Fleiße und gebühren, der Beobachtung seines Amtes anhalten, die ein­ kommenden Gelder sofort wöchentlich vertheilen oder

165 verwahrlich beilegen, und wenn von den andern Pro­ fessoren deshalb Nachricht begehrt würde, solche wil­ lig ertheilen, auch alle wichtige Sachen ad consistorium Professorinn zur Erörterung verweisen sollten. — Noch bestimmter entschied die höchste Behörde am 7. Jun. 1790, daß in dem Conventu Seniorum „blos die geringern Fifti-Sachen abge­ than" werden sollten. 5) Der akademische Senat. Cr bestand aus allen 22 ordentlichen Professoren alter Stiftung (4 Theologen, 5 Juristen, 3 Medicinern und 10 Philosophen). Zum Geschäftskreise desselben gehörten alle gemeinschaftliche Angelegen­ heiten der Universität. In ihm wurden die Publicanda mitgetheilt, alle Professoren verpflichtet, alle Denominationen zu erledigten Stellen vorgenommen, die von der Universität zu besetzenden Pfarr- und Schulämter *) und alle akademische Stipendien (75) ertheilt, so wie die Stellen der akademischen Officianten besetzt. Außerdem wurden alle wichtige Verfassungs-, Fisci- und Justizangelegenheiten in dem­ selben verhandelt. Fun da mentalstatut Friedrichs des Wei­ sen, Caput IV: de senatu cogendo et forma suffragandi. — „Si res fuerit ardua, roget *) Die Pcopsteien zu Kemberg und Schlieben, die Superintendentur zu Jessen, die Pastorate zu Schmiedeberg, Schö­ newalde, Zeuden, Apollnsdorf, Pratau, Eutzsch, Dabrun, Rackith, Malitzschkendorf, Hohenbucko, Eollochau, Wiederau, Arensnesta, das Diaconat zu Schlieben, die Rektorate zu Schließen und Jessen, und die Schullehrerstellen in allen ge­ nannten Dörfern.

166 Rector senatum Universum. Senatus autem babeatur loco et liora et die congruis, ita ut nihil negligatur, ad quem Patres nomine Pecto­ ris per schedulam cum insertione negotii tractandi invitentur. Coacto senatu cum omni maturitate Rector proponat negotium ventilandum, et subdat votum stnun. Deinde roget Patrum sententias secundum illorum ordinenp Ex votorum pluralitate concludat. Potest ta­ rnen aliquis, proposito negotiö, ex gratia Pe­ ctoris de meritis causae Collegas informare, et etiam rogare, et tandem poscente ordine votum suiim dare, hoc observato, quod ubi quis seine! fecit finem dicendi, amplius nil addat, nisi in sine ex gratia, neque Rector replicet, sed sequentem subito roget. Absentis nulla ratio habeatur; puste tarnen impeditus, votum suum delegare possit. Revelans Senatusconsultum, sit a senatu perpetuo remotus.“ Reformationsordnung Christians 1. vom 24. Aug. 1588: „Wir wollen der Universi­ tät mit Ernst auferleget vnd befohlen haben, daß sie sich den alten Ordnungen allenthalben gemäß ver­ halte, niemand aus sonderlichen Zuneigungen vnd Affeeten diesfalls etwas handle, auch die ansehnlich­ sten den vntersten nichts vorschreiben, vnd nicht ih­ rer zween oder drei zusammenkommen, vnd etwas allein schließen, sondern das alles in offenem Rathe, ohne Parteilichkeit, vnd einiges Vorurtheil fürgenom­ men vnd gehandelt werden soll." Visitationsdecret vom 12. Jul. 1665; „Die Professoren sollen in den Conventibus sich aller Coilegialischen Freundschaft, auch in Ablegung

167 der Votorum möglichster Kürze und aller Be­ scheidenheit befleißigen, und durchaus nichts vorneh­ men, dadurch einem oder dem andern sein Votum liberum gehindert, oder genommen, viel weniger daß er dabei interpelliret, cavilliret, oder beschimpfet werde."

Rescript vom 19; Aug. 1668: „Es müssen die Professoren ex consilio abtreten, sobald die Deliberationen sie selbst, ihre Anverwandten und Tisch­ gänger angehet, um durch ihre Präsenz der votorum libertatem nicht zu hindern."

6) Politischer

Rang der Hochschule.

Die Hochschule Wittenberg war Land stand des Königreiches Sachsen, und hatte ihren Sitz unter den Prälaten. Sie beschickte die Landtage durch Abgeordnete nach der Folge der vier Facultäten. — Sie hatte in Wittenberg den Rang vor dem könig­ lichen Kreisamte und Magistrate, und bildete, in Verbindung mit beiden, das vereinigte Stadtregi­ ment, besonders in Hinsicht der Polizei. — Sämmt­ liche Professoren hatten, in den Refcripten der Chur­ fürsten, von dem Jahre 1530 an bis zum Anfänge des siebenzehnten Jahrhunderts (wo' diese Benennung wegfiel), den Titel und Rang von churfürstlichen Räthen. Alle Reftripte aus dieser Zeit heben an: „Nachdem wir den Ehrwürdigen, Würdigen und Hochgelahrten, Unsern lieben, Andächtigen Räthen und getreuen Rectorn, Magistern und Doctoren Un­ serer Universität zu W,, so jetzund seind und künfti­ ger Zeit seyn werden rc."

168 7) Jurisdiction der Hochschule in tenberg.

Wit­

Die Jurisdiction der Hochschule erstreckte sich auf alle Civil-und Criminalsachen, ohne Unterschied der Ober- und Untergerichtsbarkeit, und rührte davon her, daß zur Zeit der Stiftung der Hochschule alle Professoren Clerici waren, und Churfürst Frie­ drich der Weise beim Papste Julius 2. (1507) bewirkte, daß die Präposituren, Canonicate und Prä­ benden zu Kemberg, Clöden, Schlieben, Schmiede­ berg, Liebenwerda, Orlamünde, Eisfeld u. a. mit allen ihren Einkommen und Rechten zur Stiftskirche geschlagen und ihr incorporirt wurden. Diese Präbenden wurden den Professoren conferirt, und diese davon besoldet und unterhalten; doch wurden die Stellen selbst durch Vicarien der Professoren ver­ waltet. Nur erst nach der Kirchenverbesserung ward dies verändert. — Als Geistliche Hatten daher die Professoren, schon nach dem jure canonico, einen priviligirten Gerichtsstand. In diesem Geiste lautet die Bestätigungsbulle Julius 2, und Maximi­ lians 1. Bestätigungsurkunde (1502). Er ertheilte der Universität: „jurisdictionem in scholasticos citandi, judicandi, puniendi, et omnes alios actus judicis Ordinarii exercendi, eximentes Doctores et Scholares a jurisdictione et supe-. rioritate cujuscunqtie potestatis aut judicis Or­ dinarii, sive cujuscunque alterius, praeterquam a Nostra (hnperatoris), et fundatoris, ac successorum suorum.“ Wer dagegen handelte, sollte 100 Mark löthiges Gold, halb dem kaiserl. Fiöcus, halb der Universität entrichten. Durch Rescript vom 17. Decbr. 1614 ward entschieden: „ 1) Incorporati sind alle, die aus

169 dem fiscus fundationis bezahlt werden, deren Witt­ wen und Kinder. Sie sollten von allen oneribus, wie sie Namen haben mögen, in genere et specie durchaus befreiet seyn. 2) Immatriculati sind alle und jede Doctores, Licentiati et Magistri, so bei der Universität sich aufhalten, und ihre er­ langte scientiam practicando eperciren, besonders die adjuncti omnium facultatum, so wie Hofge­ richts - und Consistorial-Advocaten." — Alle Jmmatriculirte gehörten nach ihrer Person, und nach persönlichen Klagen vor die Universität. Rescript vom 8. Ian. 1641: „Der Rath darf der Jmmatriculirten Wohnung, bei 200 Gül­ den Strafe, nicht visitiren lassen, außer bei Ein­ sammlung der Almosen, und Verzeichnung des Bie­ res und Malzes, und bei Besichtigung der Feuer­ stätten." Schon Churfürst Johann der Beständige be­ fahl am Tatze Hedwig 1525: Alle Professoren, die Lectores und Pedelle sollen nach ihren Häusern von allen persönlichen Pflichten und Bürden befreit seyn; sie müssen aber Schoß-, Tisch - und Bachgeld, und vom Hause 3 gr. Wächtergeld geben; das Schoßre­ gister des Raths muß der Universität communicirt werden. Ab oneribus personalibus sind auch die frei, welche Häuser miethen, sobald sie nicht bürger­ liche Nahrung treiben; dafern aber Privilegirte meh­ rere Häuser besitzen, soll nur eins von oneribus per­ sonalibus frei seyn.

8) Jurisdiction über die Dorfschaften der Universität.

Der Stiftskirche zu Wittenberg gehörten acht Dörfer (Apollnödorf, Dietrichsdorf, Eutzsch, Köpnik,



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Melzwig, PiesteriH, Reuden, Teuchel) und die Mark Absdorf. Diese gingen, mit der Stiftskirche, an die Universität über, und Churfürst Johann der Beständige bestätigte (1530) diese Schenkung zu» gleich mit den Erbgerichten über Jbiefe Dörfer (wozu das LehnSrechk, das Jagdrecht, Fischerei u. s. w.) gehörten. Doch behielt er sich das jus territoriale vor.

9) DenominatSrecht zu erledigten fessuren.

Pro­

Fundation Johann Friedrichs vom.Mseric. 1536: „Wir wollen, daß unsere Universität, und die Personen, so bishero zu derselben Regiment gehört haben, wie andere Personen, die sie zu der verledigten Lection, und welche sie darunter für die tügligsten, geschicktesten und gelehrtesten achten. Uns und Unsern Erben benennen und nominiren sol­ len, daraus Wir und Unsere Erben alsdann eine derselben Personen zu solcher Lection bestettigen und confirmiren wollen-^ Rescript Christians 2. vom 15. Juni 1607. Denominirt soll werden „sechs Wochen nach eingetretener Vacanz, und nicht nach Gunst und ge­ schöpftem Favor." In den Rescripten vom 14. Jul. und 17. Novbr- 1713 unter August 2, ward näher erörtert und (als schon bestandene Sitte) bestätigt, daß „jede Facultät, wo eine Vacanz ist, erst in ihrem Probuleumate tüchtige Männer denominiren, sodann das Probuleuma dem Rector zusenden solle, damit dar­ auf die ganze Universität denominire." Durch Rescript vom 9. Jun. 1732 ward be­ fohlen: „zu dem Aiyte, so vaciret, blos solche Per-

171 fönen zu denominiren, die die erforderliche genüg­ same Geschicklichkeit haben; immaßen denn nicht al­ lein hierbei auf diejenigen, welche darum ansu­ chen, sondern vornämlich auf solche Subjecta zu reflectiren, welche bereits famain vor sich haben, und von ihrer guten Gelehrsamkeit und Ge­ schicklichkeit hinlängliche Proben zu Tage geleget; und wie nicht weniger eine so große Anzahl Perso­ nen, als bisher jezuweilen geschehen, vorS Künftige nicht in die Denomination zu bringen; also werden Wir wider dieses Alles keine etwa zu allegirende Observanz oder Gewohnheit statt finden lassen." Noch bestimmter verordnete das Rescript vom 23. Jul. 1783: „daß hinkünftig bei Besetzung der ordentlichen Professorstellen unter mehrcrn Competenten von gleicher Geschicklichkeit auf denjenigen, welcher ein wohlaufgenommenes Haupt­ buch von derjenigen Wissenschaft, deren Profession er suchet, oder einer damit ver­ wandtem, geschrieben hat, vorzüglich Rücksicht genommen, auch hinführo, bei jedesmaliger Vacanz einer ordentlichen Professur, in dem Denominations­ berichte eines jeden Competenten Schriften, mit Beifügung eines gegründeten Urtheils darüber, angezeigt werden sollen."

10) Censurrecht und Aufsicht über die Buchdruckereien. Dieses Recht ward zuerst erwähnt in der Fundation des Churfürsten Moritz vom 3. Jan. 1548, und sodann in der Fundation Augusts vom 3. Apr. 1569, wo zugleich der neuen Zeitungen gedacht wird, ;,bie ohne Censur der Universität nicht ausge­ hen sollen." Bestätigt und erweitert ward dieses

Recht in der Reformationsordnung Christians 1. vom 24. Aug. 1588, und wiederhohlt durch Rescript vom 19. Aug. 1668, wo die Aufsicht über die Druckereien auch dahin gehen soll, „damit nicht allein ein schöner Typus und besser Papier, als bis­ her geschehen, die Correctur recht verrichtet, und in keiner Facultät ohne Censur derselben nichts in Druck gegeben werde."

11) Befreiung von der Einquartierung. Schon Churfürst Morih befahl am 10. März 1552: „vnd sollen Kirchen vnd Schuldiener, auch die in Unsrer Universität zu Wittenberg lesen vnd Professores seynd, auch Wittwen und Waisen befreyet seyn, daß sie in ihren Häusern keine Knechte einnehmen dürfen, sondern damit gnädiglich verschont bleiben sollen." Dieß bestätigte Churfürst August am 23.Oct. 1555.— Später (im dreißigjährigen Kriege) verordnete Johann Georg 1. am24. Jan. 1636: „daß weil die Professoren, bei 3} Stab und 31 Compagnieen Fußvolk Einquartierung in Wittenberg, diese allgemeinen Drangsale ihrer Mitchristen haben tragen helfen, ihnen oder ihren Nachkommen dieß zu keiner Schmälerung noch Aufhebung der gnädigsten Privilegien gedeutet, und sie ferner nicht belegt wer­ den sollen." In demselben Kriege wiederhohlte ein Rescript vom 9. Jul. 1641: „und seind I. Churf. Durchl. gemeinst, daß kein Professor von seinem eigenthümlichen Hause, darinnen er wohnet") mit Einquartierung und Contribution bedrängt werden solle." —

♦) geschweige also ein Miethsmann.

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Zu weit würde es übrigens führen, wenn hier noch vieler anderer, den Professoren ertheilten. Rechte und Befreiungen gedacht werden sollte, z. B. der Braugerechtigkeit, der Tranksteuerbefreiung von 3500 Faß Bier (welche im Jahre 1736 in Geld, das Faß zu 1 Thlr. gerechnet, verwandelt ward), der Accisfreiheit, der Fleischsteuerbefreiung, des Rechts, fremde Weine und Biere frei einzulegen (durch Rescript vom 20. Febr. 1683 in Hinsicht des Weins für jeden ordentlichen Professor auf 6 Eimer be­ schränkt), der Freiheit vom Führ- und Brückengelde über die Elbe rc. 12) Die Besoldung und Einkünfte der Professoren. Viel hatte bereits Friedrich der Weise, der Stifter der Universität, für dieselbe durch Schenkung der acht Dorfschaften und anderer Anweisungen auf Geleite, milde Stiftungen, Aemter und churfürstliche Einkünfte gethan. In demselben Geiste wirkte sein Bruder Johann der Beständige fort, und des­ sen Sohn, Johann Friedrich, erklärte in seiner Fundation Dom. Miser. 1536 in der Einleitung: diese Fundation geschehe nach den Vorschriften des T e st a M e n t.6 seines Vaters. Er empfiehlt die Uni­ versität seinen Nachfolgern: „so lieb ihnen Gottes Will, ernstlichen Gottes Zorn, des Ungehorsams halber gegen Ihme, auch Uns, als dem Ahnherrn, zu vermeiden." — Er erklärte ferner: er wolle d!ese Universität so fundiren, „damit Wir durch Gottes Hülff, bey Unsern Erben und Nachkommen künftiger Zeit durch Anbringen und Anhalten ungeschickter Leuthe keine Zerrüttung, aus Mangel der Be. soldung oder andern Ursachen, daran zu besorgen

174 haben." — Deshalb ernannte schon er 3 Theo­ logen und den Wittenbergischen Pfarrer, 4 Juristen, 3 Mediciner und 10 Philosophen zu Professoren. Er bestätigte in dieser Fundation die Schenkung der Stiftskirche und ihrer Dörfer mit allem „einckommen an Geld, Gedreidicht, Hünern, Gänsen, Gehülzen vnd andern Nuzungen," und hob zugleich in der­ selben Fundation das bisherige Capitelbei der Stiftskirche auf, und schenkte die Einkünfte der­ selben der Universität. „Wir wollen unter berühr­ tem einckommen der Stiftskirche auch das einckom­ men gemeint haben, so etliche Canonicken, Vicarien, Caplanen und andere, die noch zur Zeit am Leben seyn, haben, und dasselbige ihr Lebenlang ferner ha­ ben und gebrauchen sollen; Wir wollen auch hiermit die Tittel und Namen der Dignitäten und Canonicate, nach berührter Personen abgang, gänzlich ausgeleschet und extinguiret haben." Von den folgenden Schenkungen der Churfürsten an die Universität mögen nur einige der wichtigste« hier ihre Stelle finden. So wies August der Universität am 3. Apr. 1569 892 Thl. 12 gr. jährlich aus der Procuratur Meißen, an demselben Tage 30,000 Gülden Ca­ pital zu Stipendien, Christian 1. (1589) der Universität 210 Thlr. jährlich aus dem Amte und Kloster Freiberg an. Johann Georg 1. verfügte am 19. März 1652 durch Rescript an die Landesregie­ rung, „um die Universität in Aufnahme zu bringen, daß sie von den ersten Lehns, oder Rittergütern, so apert werden, und Uns als Lehnsherren anheim fal­ len, 15,000 Thlr. geeignet, und zu ihrer freien Dis­ position abgefolget werden sollen;" auch wurden durch Rescript vom 18. März 1652, der Universität 5000

175 Thlr. Strafgelder aus dem Hofgerichte zugesichert, „um dieselben auszuleihen." Am 25. Sptr. 1695 erhielt die Universität, abschlägig auf die aus erle­ digten Lehen versprochenen 15,000 Thlr., die „Blüh, mischen Lehnsstücke und Zinsen," und wegen der verbliebenen Rückstände^ am 18. März 1786 das Gut Roitzsch geschenkt, doch'mit der Bedingung, dasselbe zu verkaufen. Sie bekam am 18. Sept. 1787 10,000 Thlr. dafür, und bildete daraus ein besonderes, dem fisco fundationis zugewiesenes, Capital. — Außerdem schenkte Johann Georg 2. am 20. Dec. 1656 der Universität eine Steuerver­ schreibung über 8000 Gülden Capital, und 1679 eine Steuerobligation von 2000 Gülden, so wie bereits-am 27. Apr. 1675 ein Steuercapktal von 10,000 Gülden „zu besserer Unterhaltung und rich. tiger Besoldung der Professoren." In der neuesten Zeit (16. Sept- 1811) ward der Universität auch ein Antheil an dem Ertrage der erledigten teut­ schen Ordensgüter der vormaligen Ballei Thü­ ringen zugesichert. Die erste Spur, durch persönliche Zulagen, oder sogenannte Pensionen die Professoren zu un­ terstützen, findet sich in der Fundation Johann Frie­ drichs -Dom. Mis. 1536: „Da wir eins oder meh­ rer sonderlichen.guten Fleiß, der mit Lesen und Disputiren bei Unsrer Universität beschche, vermer­ ken würden, daß wir vnd Unsere Erben sollen und wollen Macht haben, dem oder denselben aus Un­ se rnGestifften und verordneten Uebermaaß des jährlichen Einkommens, über die ausgesäßten ordentlichen Besoldungen, eine jährliche Zulage thun."

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Die Universität besaß acht verschiedeneFiscoS, deren Einkünfte und Capitalien, wie sie im Jahre 1814 waren, folgende Uebersicht gaben: 1) Der fiscus fundationis besaß 146,668 Rthlr. 4 gr. 1 Pf. baares Gesammtcapikal, unter welchem 32,471 Thlr. alte unverlosbare Steuercapitalien waren, die von churfürstl. Schenkungen vom 12. Juni 1567, 3. Apr- 1569,20. Dec. 1656, Leipz. Mich. M. 1670, 27. Apr. 1675, und Leipz. Mich. M> 1679 herrührten. — Dieser Fiscus verwaltete, außer den Zinsen dieser Capitalien, 2603 Thlr. geistliche Stiftungs - und Erbzinsen, ungefähr 600 Thlr. baareö Einkommen aus den acht Dörfern (an Hufen-, Dienst-, Jagd-, Neudienst- und GedingeGeld), ungefähr 8—900 Thlr. Zinsen von Grund­ stücken, und zugleich 1605 Scheffel Korn, 10 Schef­ fel Walzen, 91 Scheffel Gerste, 866 Scheffel Ha­ fer rc. (Jeder ordentliche Professor alter Stiftung hatte jährlich 50 Scheffel Korn und 24 Scheffel Hafer. Außerdem erhielten auch der Protonotarius, der Universitätsverwalter, die Pedelle, der Cantor und Organist der Universitätskirche u. a. Getreide­ deputate. Die andern Deputate bestanden in Holz, Wildpret, Hühnern, Gänsen rc. von den Dörfern der Universität.) Aus diesem Fiscus stossen die ur-sprünglichen Besoldungen der 22 ordentlichen Pro­ fessoren, des Protonotars, des Universitätsverwal­ ters, der Pedelle, Gerichtsdiener rc., u. a.

2) Der fiscus stipendiorum academicorum mit 74,404 Thlr. 13 gr. 1 pf. Capital, für 75 Stipendiaten, welche, mit wenigen Ausnahmen, von der Gesammtheit des akademischen Senats, nach der Mehrheit der Stimmen, ernannt wurden.

177 3) Der fiscus Viduarum mit 23,605 Thlr. 22 gr. 6 pf. Capital. Er ward am 16, Oct. 1696 gestiftet, und erhielt seine Begründung und Unter* Haltung durch jährliche Beiträge der Professoren und angerviejene Summen auf die andern Fiscos. (Die philosophische Facultät hatte noch außerdem einen besondern WittwenstscuS mit 1200 Thlr. Capital, imd jährlichen Geld • und Kornbeiträgen von den zehn Mitgliedern der Facultät.) 4) Der fiscus Promotionis mlt 3055 Thlr. Capital. — Da die Quellen dieses FiscuS aus zu­ fälligen Einkünften von Promotionen, Jnscriptionen, Miethszinsen aus akademischen Gebäuden und aus dem Verkaufe von unbrauchbarem Bauholze stossen, und doch aus demselben die akademischen Gebäude in gangbarem Zustande erhalten, so wie die ge­ wöhnlichen Reparaturen und Unterhaltungskosten bestritten werden mußten; so reichten weder die Zin­ sen seines Capitals, noch die genannten jährlichen Zuschüsse aus. Er war der einzige Fiscus der Wittenberger Hochschule, welcher Passiva hatte, so daß seine Bedürfnisse fortdauernd aus Vorschüs­ sen des fisci fundatioiiis gedeckt werden mußten. 5) Der fiscus' Nosocomii mit 10,220 Thlr6 gr. 6 pf. Capital, und einigen jährlichen Zuschüs­ sen aus der Procuratur Meißen, aus Antheilen an Strafgeldern, aus der Bezahlung des Leichenwa­ gens rc. Die Universität hatte zu den Zeiten des Churfürsten August zwei Hospitäler, eins vor, eins in der Stadt. Der Churfürst bestätigte am 3. Apr. 1569 die Einkünfte und Privilegien beider. Sie waren theils auf die Aufnahme erkrankter Studenten und akademischer Personen überhaupt, theils auf die damals nicht selten ausbrechende Pest berechnet, Pölitz «erm. Schr. Th. 2. 12

178 weshalb auch ein besonderer Diaconus pestilentiarius besoldet ward. Das Hospital vor dem Schloß« thore ward aber im Kriegsjahre 1636 zerstört, so daß, seit dieser Zeit, blos das zweite in der Stadt übrig blieb, zu dessen Erbauung im Jahre 1563 Churfürst August 1000 Thaler geschenkt hatte. Der Fond des iisci Nosocomii rührte von 23 einzelnen milden Stiftungen her (besonders für Begräbnißplätze in der Universitätskirche, wo die Gräber Frie­ drichs des Weifen, Johanns des Beständigen, Lu­ thers und Melanthons sich befanden). Aus den Einkünften desselben wurden die Arzenei und War­ tung erkrankter Studenten bezahlt, und diese nicht selten auch mit Geld unterstützt. 6) Der fiscus Bibliothecae hatte 5100 Thlr. Capital, aus dessen Zinsen, so wie aus den Zuschüs­ sen des iisci fundationis, und aus den Einkünften von Inskriptionen, Promotionen und Auktionen, die nothdürftige Ergänzung der Universitätsbibliothek bestritten ward. — Die erste, vom Churfürsten Friedrich dem Weisen zum Theile aus Klosterbiblio­ theken gestiftete, Bibliothek, von welcher Spalatin Bibliothekar war, ward — nach dem Dynastiewech­ sel in der Churwürde — im Jahre 1548 (3132 Bände stark) nach Jena abgeführt. Sie hatte, nach derFundation Johann Friedrichs Miseric. 1536 ihr Locale auf dem Schlosse zu Wittenberg „in den obern großen Hofstuben," und jährlich 100 Gülden vom Churfürsten. — Die neue Bibliothek, ohne solche Unterstützung, ward theils aus Schenkungen, theils aus den genannten Zuschüssen gebildet. Die Schenkungen bestanden in der Krausischen, Haasischen, Dassovischen (im Jahre 1721, ungefähr 3000 Bände), Kretschmar'schen (ungefähr 600 Bände,

179 medicinische, physikalische und botamsche, im Jahre 1774 geschenkt), Nürnberger'schen (.646 medicinische Bände, im Jahre 1795 geschenkt), von Brinken'schen (ungefähr 1000 Bände geschichtlich-geogra­ phisch» belletristischer Schriften im Jahre 1800 ge­ schenkt), Titius'schen (mehr als 4000 Bände für Mathematik, Physik, Chemie, Anatomie, Physiolo­ gie, Naturgeschichte, Oekonomie und Technologie, im Jahre 1801 geschenkt), und in der v. P onikauischen Bibliothek (welche 12,000 Bände zur Geschichte Sachsens und 4000 Bände Miscellan. enthielt). Mit Einschluß dieser letzten trefflichen, im Jahre 1802 geschenkten Sammlung, zu welcher auch ein Capital von 3000 Thlr. gehörte, aus des­ sen Zinsen der Bibliothekar derselben jährlich 50 Thlr. erhalten, und von den übrigen die sächsische Geschichtsliteratur ergänzt werden sollte, umschloß die ganze Bibliothek etwas über 40,000 Bände; außer vielen Seltenheiten und Autographis aus der Zeit der Kirchenverbesserung von Luther, Melanthon, Bugenhagen, fürstl. Briefen u. a. 7) Der fiscus Convictorii mit 10,375 Thlr. 22 gr. 2 pf. Capital, außer 2400 Scheffel Korn aus dem Wittenbergischen Rentamts, mehrern Pacht­ geldern und Zuschüssen aus dem fisco fimdationis (68 Thlr. 12 gr.), dem Königl. StipcndiatenfiScuS (175 Thlr.), den Promotionen, so wie aus der Generalaccise (120 Thlr.), der Fleischsteuer (80 Thlr.) u. a. Des ConvictoriumS ward (zum erstenmale urkundlich), bereits in der Fundation Johann Friedrichs (1536) als einer bestehenden Anstalt gedacht, und von ihm seinen Erben und Nachkom­ men empfohlen. Gewöhnlich speiseten 180 Studen­ ten in demselben, bis im Jahre 1806 die Natu12»

180 ralspeisung höchst zweckmäßig in ein Geld­ äquivalent verwandelt ward, das der vorma­ lige Locator (Inspektor des ConvictS) wöchentlich an die Speisewirthe bezahlte, welche die Studenten sich selbst zur Beköstigung wählen konnten. Dadurch ward die Bezahlung bei den Speisewirthen gedeckt, und alle Verwaltungskosten (für den Oekonom, das Gesinde, für Reparaturen, so wie der Erlös aus dem verkauften Inventarium, Holze rc.) gingen den Studirenden zu gute. 8) Der fiscus stipendiorum regiorum mit 79,728 Thl. 18 gr. Capital. Aus den Einkünften dieses Fiscus wurden zwei theologische Ephori (jeder mit 101 Thlr. 1 gr.) und ein philosophischer EphoruS (mit 149 Thlr. 4 gr.) besoldet, und 93—100 Stipendien ausgezahlt. Unter diesen waren zwei hohe theologische Stipendia a 90 Gülden, und zwei ä 50 Fl., 2 juridische a 100 Fl. und 1 medicinisches ä 100 Fl-, sämmtlich für Privatdoccnten, und 20—22 zu 40 Fl., so wie 70—73 zu 30 Fl. für Studirende aller Facultäten. — Dieser Fiscus war der einzige, der nicht vom^ Universitätsverwal­ ter, sondern von dem Ephorus aus der philosophi­ schen Facultät verwaltet, und dessen Rechnung zur Justification an das geheime Finanzcollegium nach Dresden eingeftndet ward. Die Gefammtfumme der Capitale aller 8Fiscorum betrug im Jahre 1814 354,358 Thlr. 14 gr. 4 pf., ohne die vielen Pachtgelder, Zinsen, Miethen aus akademischen Gebäuden, Lieferungen u. s. w., welche, auf ein Capital zurückgeführt, den Capitalwerth des Universitätsbesitzes auf eine Hal­ be Million steigerten. Die ersten sieben FiSci wurden seit 1587 von

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einem Universitätsverwalter verwaltet, wel­ chem zugleich die Administration der Grundstücke, Gebäude und Dorfschaften, mit Einschluß der Ge­ richtsbarkeit auf denselben, zustand. Nach dem Rescripte vom 29. Nov- 1614 mußten die Rech­ nungen jährlich in Gegenwart des Novemvirats ab­ genommen, dann dem ganzen akademischen Senate acht Tage vorgelegt, und „in pleno consessu ap­ probier" werden. Dies ward durch Rescript vom 29; Aug. 1668 dahin modificirt, daß die Rechnung jährlich zu Martini geschlossen, erst den Decanen und Senioren, dann allen Professoren zur Durch­ sicht vorgelegt, und die Justification in Gegenwart aller Professoren vorgenommen ward. — Zur Ausleihung der zurückgezahlten oder neuge­ sammelten Capitale bestand eine bleibende Commission aus drei Professoren der Rechte, deren Vorschläge aber dem Senate mitgetheilt werden mußten. An Gebäuden besaß die Universität: 1) die Universitäts» oder Schloßkirche (deren neuer Bau, nach der Einäscherung im Bombardement vpm 13. Oct. 1760, 70,146 Thlr. 20 gr. 11 pf. gekostet hatte, wozu der Churfürst ein Aversionakquantum von 24,000 Thlrn. gab); 2) das Fridericianum (eine Schenkung Friedrichs des Weifen); 3) das Augusteum (früher Augustiner Kloster, im Jahr 1527 von Johann dem Beständigen Huthern ge­ schenkt, und von dessen Erben für die Universität am 27. Sept. 1564 erkauft); 4) das Hospital; 5) die Orgelbauerwohnung; 6) die Gerichtödienerwoh* nung; 7) das Vorwerk des Convictoriums; 8) das Entbmdungshaus (aus landständischem Fond er­ kauft), und 9) die Brandstätte des (1760 eingeäschorten, und nicht wieder erbaueten) Eonsistoriums.



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An Grundstücken, welche die Hochschule theils durch Schenkung, theils durch Ankauf erworben hat­ te, gehörten ihr 1) die Bluhmischen Lehnsstücke (13£ Hufen) im Jahr 1809 für 1075 Thlr. 6 gr. ti pf. verpachtet; 2) die Großische Hufe, für 120 Thlr. 14 gr. verpachtet; 3) die beiden Crellischen Hufen für 221 Thlr. 8 gr. verpachtet; 4) die Neumannischen Wiesen, für 124 Thlr. 10 gr. 8 pf. verpachtet; 5) die sogenannte nosocomische halbe Hu­ fe, für 106 Thlr. 9 gr. verpachtet; 6) der ApollenSberg mit geringem Ertrage; 7) die Silberman­ nische Wiese, von welcher wegen der Elbzerstörungen, 1814 nur noch £ Morgen bestand; 8) die Convictorien - Grundstücke, in Feld und Wiesen be­ stehend, mit der Hutung im Friedholze, im Jahre 1814 für 350 Thlr. verpachtet. Die Verwaltung der Hochschule Wittenberg war übrigens so zweckmäßig organisirt, und ward so pünktlich geleitet, daß nicht nur — nach dem Rescripte vom 20. Febr. 1605 — aus den gewonne­ nen Ueberschüssen beim fiscus fundationis den gesummten 22 ordentlichen Professoren, so wie dem ProtonokariuS, dem Verwalter, den Pedellen und andern Officianten, mehrmals bedeutende jährliche Zulagen an baarem Gelde, und an Getreide gemacht werden konnten, sondern daß man auch im Jahre 1814 den jährlichen reinen Ueberschuß von 7 FiScis (mit Ausnahme des fisci promotionis) zu ungefähr 1500 Thalern berechnete.

Möge dieser kurze Umriß der Verfassung und Verwaltung der Hochschule zu Wittenberg dazu die­ nen, daS Andenken an diese Bildungsanstalt bei



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denjenigen zu erneue w., welche theils ihres Lehram­ tes auf dieser Hochschule noch im vorgerückten Alker sich erfreuen, theils dort als aufblühende Jünglinge den wissenschaftlichen Grund zu ihrer künftigen se­ gensreichen Wirksamkeit für Staat und Kirche leg­ ten! Dann ist der Zweck dieser Mittheilung voll­ kommen erreicht!

10. Die Hochschule zu Wittenberg m den Jahren

1813,1814 und 1815, bis zu ihrer Vereinigung mit der Universität Halle. Aür Protestanten und Nicht-Protestanten hat die

Universität Wittenberg ein hohes Interesse; sie ist in den Jahrbüchern der europäischen Cultur von welt­ geschichtlicher Wichtigkeit. Daß in der Sierra Morena, wie in Kasan, das Licht der Kirchen­ verbesserung leuchten, daß Albrecht von Branden­ burg — welcher Luthern in seiner Klosterzelle zu Wittenberg besuchte — das Land des teutschen Or­ dens secularisiren, und in dem Herzogthume Preußen den Grund zu Preußens Größe und zu dessen universalhistorischem Gewichte legen konnte: das alles bereiteten die Helden des Glaubens und der Wissenschaft in dem ersten Viertheile des sech­ zehnten Jahrhunderts an den sandigen Gestaden der Mittel-Elbe in Wittenberg vor, welche Stadt da­ mals auch als Residenz der sächsischen Churfürsten von politischer Wichtigkeit war. Hat das pro­ testantische Europa ein Heiligthum mit würdigen Reliquien; so ist es Wittenberg. Hier ist noch, im Augusteum, Luthers Stube in.der Einrichtung vorhanden, die sie damals hatte, als der mit der Reichsacht und mit dem Banne belegte Luther sie bewohnte, der im Vertrauen auf Gott and hje ihm

185 einwohnende hohe Kraft, feilt großes Werk begann und fortführte. In dieser Stube huldigte Peter der Großem durch Einzeichnung seines Namens in russischer Sprache, dem Schatten eines ihm ver­ wandten großen Mannes; in dem Buche, das auf Luthers von Würmern benagtem Arbeitstische liegt, stehen viele Tausend Namen, voll Ruhm und Wich­ tigkeit. Es ist entschieden das interessanteste Stammbuch in ganz Europa. Noch am 1. Juni 1812 besuchte der König Friedrich Wilhelm 3. von Preußen mit seinem Kronprinzen diese Stube, wo wahrscheinlich einst ihr Ahnherr den ersten Ge­ danken zur Secularisation Preußens faßte, oder we­ nigstens darin bestärkt ward; nur Napoleon, ob er gleich mehrmals in Wittenberg war, sah diese heilige Stätte nicht. In der Universitätsbibliothek, die, bis zu Napoleons Entfernungsbefehle, im Vor­ dergebäude des Augusteums stand, ward noch man­ ches schätzbare Denkmal, mancher interessante Ueber« rest aus der Zeit der Kirchenverbesserung vorgezeigt. Eben fo steht noch das Haus, in welchem Melanthsn lebte, obgleich sein ehemaliges Auditorium in der Folge der Zeit eine andere Bestimmung erhielt. Nur die Schloß- oder Universitätskirche, wo Luther und Melanthon, und in ihrer Nähe Frie­ drich der Weise und sein Bruder Johann der Beständige, die Stifter der Universität und die thätigen Beförderer der guten Sache der Kirchen­ verbesserung, von der Arbeit eines heißen Tages ruhen; wo die Denkmäler dieser beiden Churfürsten und die Gemälde der Reformatoren an eine Zeit erinnerten, in welcher Teutschlands damalige Wie­ dergeburt begann; nur diese Kirche, die Mutterkirche des Protestantismus, sank durch das Bombardement

186 im Jahre 1760 — und zum zweiten male durch das Bombardement vom 27. Sept. 1813 in Trümmern. Doch ward sie durch das letztere nicht ganz zer­ stört; allein ihr Thurm, von einer Brandrakete ge­ troffen, stürzte zusammen, und, nachdem eine Räu­ berhand die Metallplatte von Luthers Grabe gerissen und das zugemauerte Archiv (das selbst dem Bom­ bardement 1760 widerstand) erbrochen und geplündert hakte, wurden zwei Roßmühlen auf den Gräbern der beiden Churfürsten und der Reformatoren im Innern des, erst im Jahre 1-770 neu eingerichteten, einfach schönen Tempels angelegt. Wenn im Mittelalter durch die Befestigung einer Stadt die Sicherheit derselben befördert ward; so stieg in neuern Zeiten die Gefahr derselben durch dieses zweideutige Geschenk nur um so höher. Wit­ tenberg war schon im vierzehnten Jahrhunderte mit Mauer und Wall umgeben, welche, nach alten Nach­ richten, in der Folge mehrmals verbessert wurden, bis der Churfürst Johann Friedrich der Groß­ müthige, bei der Aussicht auf einen Krieg mit dem Kaiser und den katholischen Fürsten in Teutschland, die Festungswerke seiner damaligen Hauptstadt nicht nur erneuerte, sondern auch beträchtlich erweiterte. Mehrere Gebäude in - und außerhalb der Stadt wur­ den deshalb abgebrochen. Als nun nach der Sch la ch t bei Mühlberg am 24. April 1547 die Gefangennehmung des Churfürsten das Schicksal dieses Fürsten und seiner Länder entschied; so mußte die Festung Wittenberg dem siegreichen Karl 5. ihre Thore, auf eigenen Befehl deö gefangenen Churfür­ sten, öffnen, weil der Kaiser die über denselben aus­ gesprochene Todesstrafe nur durch die Bedingungen der am 19. Mai 1547 unterzeichneten Capitula-

187 tio|t hsr Festung Witite-nberg milderte. Die Stadt litt nicht bei dieser Belagerung, und Karl, so wie fein Bruder, der römische König Ferdinand, besuchten dieselbe nach der- Capitulation. Der Her­ zog Moritz von der Albertinischen Linie, auf wel­ chen damals die Churwürde und der größte Theil der Länder seines gefangenen Vetters übergingen, stellte sogleich die zersprengte Universität wieder her, ob er gleich in seinen Erblanden die früher gestiftete Universität Leipzig besaß. Nur wenige Professoren, unter diesen Bugen ha gen, Pastor an der Stadt­ kirche, Creuziger, der Propst an der Schloßkirche, und M. P. Eberus Hütten die Belagerung in der Stadt ausgehalten. Die Ausgewanderten wurden, auf die Bitte der Landstande und der Stadt bei dem Churfürsten, zurückgerufen; Moritz theilte Korn unter die Bedürftigen, und Holz unter die aus, welche in der Vorstadt ihre Häuser verloren hatten, und vermehrte die Einkünfte der Universität. So gewann dieses Institut am Ende einer Katastrophe, die ihr Vernichtung zu drohen- schien! Schon vor­ her war diese Universität dreimal wegen der Pest verlegt worden; im Jahre 1506, unter Petr. Lupinus Rektorate, nach Herzberg; 1527, unter Hein­ rich Stagkmanns Rectorate, nach Jena; und 1535, unter Seb. Münsterers Rectorate, zum zweitenmale wegen der Pest nach Jena, wodurch wohl die erste Veranlassung znr spätern Begründung der Universität Jena gegeben worden war. Noch einmal ward sie in der Folge, im Jahre 1552, unter Laue. Lindemanns Rectorate, nach Torgau wegen der Pest verlegt; seit dieser Zeit aber nicht wieder. Die ersten Zeiträume des dreißigjährigen Krieges wirkten nicht nachtheilig auf die Frequenz

188 — der Universität. Gustav Adolph, der Held der teutschen Glaubensfreiheit aus dem Norden, sprach freundliche und trostvolle Worte zu den Wittenberger Studenten, als sie ihn im Herbste 1631 in sei­ nem Lager besuchten, und nur die letzten Jahre jenes vnderblichen Krieges, seit Johann Georg 1. mit Oestreich gegen die Schweden sich' verbunden hatte, erschütterten die Ordnung und die Ruhe der Universität. Doch gab ihr Torstcnson, nach der Schlacht bei Leipzig im Jahre 1612, einen Schutz­ brief, wie er seit dieser Zeit wohl von keinem Reichs­ marschalle wieder ausgestellt worden ist, und nach dem Kriege erhielt die Universität Entschädigung für ihre Verluste. So hatte sie sich von den Stürmen des sieben­ zehnten Jahrhunderts erhöhst, als das Bombarde­ ment am 13. Ootbr. 1760 die denkwürdige Univer­ sitätskirche und mehrere öffentliche Gebäude und Häuser innerhalb der Stadt zerstörte. Doch wirkte auch der siebenjährige Krieg nicht so nachtheilig auf Wittenberg, wie die neuesten Ereignisse; theile weil die Preußen in der dasigen Universität ein wissen­ schaftliches Institut und den Entstehungspunct des Protestantismus achteten, theils weil der Sturm des Krieges gewöhnlich schnell von diesen Gegenden hin­ wegzog, und damals noch nicht so große Truppen­ massen aufgeboten, auch diese noch nicht auf Kosten der Einwohner verpflegt wurden, wie in unsern Tagen. Dies alles hatte sich geändert, als der Sturm des Krieges im October 1806 bie Wittenberger Gegend erreichte. Als Freunde waren im Septem­ ber dieses Jahres viele tausend Preußen durchgezo­ gen, und der ehrwürdige Kalkreuth, der als Ad--

189 jutant des Pvinzen Heinrich im siebenjährigen Kriege

bereits in Wittenberg gewesen roar,, sprach seine Theilnahme an der Universität gegen ältere und jün­ gere Docenten mit der ihm eigenen Herzlichkeit ans. Noch besuchte er, in Begleitung einiger Professoren, die Universitätsbibliothek und das Langguthifche Natvraliencabinet vor seiner Abreise nach Thüringen. Allein wenige Tage nach der Doppelschlacht bei Jena und Auerstädt, bereits ^am 20. Octbr. 1806 besetzte Marschall Davoust Wittenberg, und zwei Tage darauf hatte Napoleon selbst sein Hauptquartier in dieser Stadt. Die Universitätskirche ward in einen Pferdestall, das Fridericianum und Augusteum wurden in Lazarethe verwandelt, und drückende Einquartirung zerrüttete die häusliche Ordnung und den Wohlstand der Professoren, die, nach dreihundert­ jährigem Vorrechte, bisher diese, mit ihrem Berufe völlig unvereinbare, Bequartirung und Verpflegung der Soldaten nicht gekannt hatten. Doch damals, bei dem Andrange großer Heeresmassen, gebot die Noth eine Ausnahme von dem bestehenden Gesetze, und jeder duldete gern mit seinen Mitbürgern, weil der Sturm nicht zu lange anhielt. Schon zum Frie­ densfeste am 8. Febr. 1807 konnte der erste Gottes­ dienst in der Universitätskirche wieder gehalten wer­ den, und, nach dem Frieden von Tilsit, ward auch, von den dazu bewilligten Geldern, ein Theil der bei­ den Universitätsgebäude für die ursprünglichen Zwecke derselben wieder hergestellk. Doch alle Leiden der Jahre 1806 und 1807, so wie dje Gefahren, welche der Stadt Wittenberg am Isten Mai 1809, bei Schills unerwartetem Erscheinen vor ihren Thoren, drohten, waren nicht mit dem zu vergleichen, waö die Stadt und Univer-



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sität im Jahre 1813 erfuhren. Zwar hatte schon im Jahre 1764 die Stadt, durch churfürstliche Er­ klärung, aufgehört, eine Festung zu seyn; allein Saumseligkeit und Streitigkeiten unter den Behörden über die Rechte auf den Wall- und Stadtgraben ließen beide, zum Nachtheile der Gesundheit^ bis zum Jahre 1806 stehen, wo Napoleon die Er­ neuerung der Festungswerke befahl. Doch wurden die Arbeiten, nach seinem Vordringen über die Weich­ sel, und nachdem die Ueberschwemmungen der Elbe im Decbr. J8O6 bedeutenden Schaden in den kaum angelegten Schanzen und Brückenköpfen angerichtet hatten, wieder abbesiellt. Im Jahre 1810, als Torgau zur Landesfestung bestimmt worden war, kam die Erklärung des Königs von Sachsen, Wittenbexg sey keine Festung mehr. Allein die ehemaligen Ursachen verhinderten auch diesmal die Zerstörung der Festungswerke. So erfolgte denn endlich der Rückzug der Franzosen aus Rußland. Der Marschall Victor erklärte im Febr. 1813 Wittenberg für einen wichtigen militärischen Punct, und bewirkte bei dem Kaiser die Erneuerung der Ar­ beiten in den Umgebungen der Stadt. Ununterbro­ chene drückende Einquartirukig lastete seit dem 12. Januar 1813 auf den Professoren, welche ihre Gäste reglementsmäßig verpflegen, oder um hohen Preis verdingen mußten. Viele der zur Miethe wohnen­ den Professoren erhielten in dieser Zeit stehende Einquartirung von zwei und mehrer» Offlcieren mit ihren Bedienten, wo für jeden Officier täglich 2 Rthlr. 16 Gr. und für jeden Bedienten desselben täglich 16 Gr. bei verdingter Kost derselben bezahlt werden mußte. Ein allerhöchstes Rescript befreite zwar schon vom l.Mai 1813 . diejenigen Professoren, welche Wittenberg ver-

191 lassen hätten oder verlassen würden, von der Natu­ ralverpflegung der Einquartirung; allein dieses milde Rescript gelangte erst zwei Monate später, am 1. Iuly, zur Gültigkeit. Als in den ersten Tagen des Märzes 1813 die Festungswerke erneuert und erweitert, und die Wälle mit Kanonen beseht wurden; da eilten die meisten Docenten, ihre Vorlesungen in verdoppelten und ver­ dreifachten Lehrstunden für dieses Halbjahr zu been­ digen, weil die Studenten, deren Anzahl damals bis gegen 400 stieg, in bedeutenden Massen eine Stadt verließen, in welcher der aus Polen zurück­ kehrende Vicekönig von Italien nur zwei Tage ver­ weilte, dem dann Grenier, nach einigen hartnäcki­ gen Gefechten mit den nachrückenden Russen und Preußen zwischen Potsdam und Wittenberg, nach­ folgte, worauf die Kosaken bereits vor der geschloffe­ nen Stadt erschienen. Damals hätte Wittenberg in Einem kühnen Angriffe genommen werden kön­ nen; denn schwach war die Garnison, und unvollen­ det der neu begonnene Bau an den Schanzen und Brückenköpfen. Noch war der Wall nicht verpalli» sadirt, und der Graben um den Wall nicht vertieft. Für dies alles ward aber von den Franzosen, beson­ ders seit der Ankunft des neuen Generalgouverneurs, Baronö La Paype, und des thätigen Chefs des Gcniecorps T ressart, gesorgt. Von den drei Tho­ ren der Stadt blieb blos das Elbthor offen; das Schloß- und Elsterthor wurden verschüttet und Grä­ ben davor gezogen. Der Wall, Anfangs höchstens mit 30 Kanonen beseht, erhielt während des Waffenstillstandes, nach den Schlachten bei Lühen und Budissin, einen Zuwachs bis auf 82 Kanonen.

192 Die Garnison bestand aus Polen, Franzosen und Italienern, höchstens 4000 Mann. Die Umgebungen der Stadt hatten in der glück­ lichen Zeit, welche Nordteutschland seit dem Hubertöburger Frieden genoß, viel gewonnen. Jetzt wurden die von den würdigen Bürgermeistern Bauer und Thomä angelegten neuen Alleen, zusammt den altern auf den Dämmen, die zur Stadt füh­ ren, nicdergehauen; die Stadt, von welcher vor drei­ hundert Jahren der Frühling der Geister ausging, sollte auf lange Zeit hin m ihrer Nahe keinen Früh­ ling sehen! Am 6. April ließ der Gouverneur die Vorstädte, mid am 9. Apr. die entfernter liegenden Weinbergshäuser, zusammen über 210 Häuser, nieverbrennen, wodurch über 1400 Menschen ihres Ei­ genthums beraubt, und namentlich einige sehr schöne Gebäude und Gartenanlagen (die beiden Gasthöfe: der Stern und die Gans, das Erdmannsdorfische, bas Jmhofische Haus, des verewigten Oberhofpre­ digers Remhards ehemalige Sommerwohnung zur Zeit seines Lehramtes in Wittenberg f. w.) zer­ stört wurden. Das ganz in der Nähe des Schloß­ thors gelegene Stadtkrankenhaus ward in ein Block­ haus verwandelt. In der Folge wurden noch dis in der sogenannten langen Reihe (einer entfernten Vorstadt vor dem Elsterthore, auf dem Wege nach dem Lutheröbrunnen) stehen gebliebenen Häuser, und einige ebenfalls nach Norden zu in weiter Entfer­ nung gelegene Gebäude niedergerißen. Di« Bewoh­ ner der Vorstädte hatten, bei der Eile des Räu­ mens, manches von ihrem- Eigenthume in feuerfeste Keller geflüchtet; diese wurden, nach dem Brande, von der Habsucht der Soldaten erbrochen und ge­ plündert, Die Verzäunungen der Gärten wurden

193 niedergerissen, und viele tausend Obstbäume umge» schlagen. Selbst der Kirchhof verlor seine Bestimmutig einer rtchigen Todtenwohnung; die Mauern wurden zerstört, die Grabgewölbe niedergebrannt. Langsam brannten die Särge aus. Keine Linde und Aeazie sagt mehr, wo die Männer schlafen, die einst die Ehre und der Stolz der Universität waren, und welchen Armuth und Dankbarkeit keine besseren Denk­ mäler hgete setzen können. Das Augusteum ward rin Lazareth; aus dem Fridericianum wurden die BewoHner binnen zwei Stunden vertrieben, um die Krätzigen von der Garnison unterzubringen; das große Auditorium der Universität, für alle Festlich­ keiten, (Disputationen, Promotionen, Antrittsreden rc. bestimmt,) ward in einen Ochsen- und Pferdestall, und die erst, (seit der Requisition im März 1812,) im Sommer 1812, mit einem Aufwande von 1400 Rchlr. ex fisco academiae hergestellte Schloßkirche in ein Heu- und Futtermagazin verwandelt. Ueberall fehlte es in der Stadt an Lebensmitteln, die wäh­ rend der Einschließung zu einer bedeutenden Höhe des Preises stiegen. Mehrere der akademischen Lehrer hatten theils vor, theils während der Blokade Witten­ berg verlassen, nachdem sie ihre Bücher in dauerhaften Kellern vermauert, und mit dem letzten Reste ihrer Baarschaft für die in ihrer Abwesenheit auf sie fal­ lende Einquartirung gesorgt hatten; denn was blieb ihnen anders übrig, als der Gouverneur am 9. April befahl: „daß jeder die Stadt verlassen solle, btt sich nicht auf drei Monate verproviantiren könne." Zum Glücke waren die auf dem linken Elbufer stehendm Preußen so menschenfreundlich, die Auswan­ demden durch die Vorposten zu lassen. Piltz vrrm. Schr. LH. 2. 13

1U4 Nur den Alliirkcn ist es zu verdanken, daß Wit» tenberg nicht ganz ein Aschenhaufen ward. Mit großer Schonung ward, nach einem am 17. Apr. zurückgewiesenen Ausfälle der Garnison, am 18. Apr. (am ersten Ostertage) während des Frühgottesdienstes von 8 — 1 Uhr Wittenberg auf Wittgensteins Befehl von dem Corps des preußischen Generals Kleist be­ schossen. Ob es gleich an mehrern Orten der Stadt brannte; so ward doch eigentlich nur Ein Gebäude ganz von den Flammen verzehrt, und nur Ein Bcwohner gefährlich verwundet. Am zweiten Feiertage wanderten, aus Furcht vor Erneuerung des Bom­ bardements, gegen 500 Personen aus Wittenberg in die benachbarten Orte. Die Schlacht bei Lühen wirkte bald auf Wit­ tenberg zurück, fo daß es deblokirt ward; allein statt daß die in der Stadt für die Einwohner getroffenen militärischen Maasregeln während des Waffenstill­ standes hätten gemildert werden sollen, wurden die­ selben in dieser Zwischenzeit nur vermehrt und ver­ stärkt» Täglich geschahen neue Anforderungen an Stadt und Universität; allein die Einzelnheiten die­ ser stets wiederkehrenden Bedrückungen würde hier zu weit führen. Doch als Napoleon selbst am 11. Juli die Wittenberg. Festungswerke besichtigte, und eine Deputation der Universität vor ihm erschien; so erklärte er dieser bestimmt: „die Universität könne nicht länger in Wittenberg blei­ ben.^ Dieser Beschluß war in demselben Geiste gegeben, in welchem die Universität Halle im Laufe desselben Monats aufgehoben, und Leipzigs De­ putation mit Bitterkeit behandelt, so wie die dasige Universität in mehreren ihrer Rechte beschränkt wor­ den war. Die unmittelbare Folge der kaiserlichen

195 Erklärung, bevor noch eine nähere Entscheidung der höchsten sächsischen Behörden über daS Schicksal der Universität eintreffen konnte, war der Befehl des franjösischen Gouverneurs, den letzten Rest der aka­ demischen Gebäude schleunigst zu räumen, wo denn auch, in stürmischer Eil, die Universitätsbibliothek in Körben ausgepackt und in ein benachbartes Ge­ bäude geworfen werden mußte, bis sie in Kisten ge­ packt werden konnte. Sie sollte auf der Elbe nach Dresden, und daselbst in die Souterains der Kreuz­ kirche gebracht werden; ihr Transport aber ward bis nach dem Abläufe des Waffenstillstandes verspätigt, so daß sie nur bis in die Gegend von Meißen kam, und, nach mancherlei Schicksalen, in dem Schlosse zu Seuselitz aufbewahrt ward. Schon vor Napoleons Entfernungsbefehle der Universität auS Wittenberg hatte dieselbe — einge­ denk der unzähligen Leiden, die sie in de» letzten sie­ ben Jahren empfunden hatte, wo besonders durch die beständig wiederkehrende lästige Etnquarkirung thr Privatwohlstand fast aller Mitglieder der Universität vom Grunde aus erschüttert worden war — vor den höchsten sächsischen Behörden den Wunsch einer blei­ benden Verlegung von Wittenberg in eine andere, für die Wissenschaften besser gelegene, Stadt des Kö­ nigreiches ausgesprochen. Von der, den akademi­ schen Lehrern zu Wittenberg im Mai 1813 ertheil­ ten Erlaubniß, einstweilen in Leipzig, wohin sich die meisten Wittenberger Studenten nothwendig wenden mußten, Vorlesungen zu halten, konnte aus ökono­ mischen Gründen kein Gebrauch gemacht werden. Denn nicht nur, daß eine fünfinonakliche stehende Einquartirung Mark rmd Bein verzehrt hatte; nicht nur, daß die acht Dörfer der Universität, aus 13*

196 welchen ein großer Theil ihrer Einkünfte floß, durch den Sturm des Krieges verwüstet worden waren; die akademischen Lehrer — von denen mehrere durch die Last der Einquartirung in Schulden gefallen wa­ ren — vermochten nicht, den Transport, auch nur der nöthigsten Bücher und ihrer häuslichen Einrich­ tung, nach Leipzig zu bestreiten. Sie wählten da­ her, mit tiefem Kummer über ihr trauriges Geschick, ohne ihre Schuld in literärische Unthätigkeit verseht zu seyn, die zweite ihnen ebenfalls ertheilte Erlaub­ niß , an einem andern Orte des Königreichs Sachsen einstweilen sich aufzuhalten. Mehrere wählten zum einstweiligen Aufenthalte solche Städte, wo sie Ver­ wandte und Freunde hatten; oder schlössen sich an die Juristenfacultät an, welche zur Fortsetzung ihrer Arbeiten, als Spruch collegium, mit höchster Erlaubniß in das freundliche — fünf Stunden von Wittenberg entfernte — Landstädtchen Schmiedeberg sich gewendet hatte. Von da aus, wo.sich der Rector und die Decane der Universität seitdem 1. Splbr. 1813 aufhielten, ward mit höch­ ster Genehmigung die Administration der Universität fortgesetzt. Durch dieses traurige Loos der Universität im Sommer 1813 ist freilich mancher brave Jüngling in seinen Studien unterbrochen, manche Privatbiblio ­ thek von den Professoren, die einzige Lebensfreude ihrer Besitzer, entweder in Keller vermauert, oder mit vielen Kosten auswärts gebracht, und der Pri­ vatwohlstand der meisten Lehrer auf Jahrzehnte hin untergraben und erschüttert worden. Doch hatten die, welche aus Wittenberg gewandert waren, wohl­ gethan. Denn zu den Folgen der Schlacht von Dennewitz (6. Sept, 1813) gehörte die erneuerte

197 Einschließung Wittenbergs auf dem rechten Elbufer; auf dem linken Elbufer war diefö Blokade deshalb noch unausführbar, weil der Marschall Ney mit den Resten der bei Dennewiß geschlagenen Heeres­ theile seit der zweiten Halste des Septembers zwi­ schen der Elbe und Mulde, in der Gegend Zwischen Torgau und Dessau, hin- und Herzog, und nament­ lich wahrend des zweiten Bombardements der Stadt Wittenberg in und bei Kemberg stand, ohne etwqs zur Unterstützung der leidenden Stadt zu thun, Dieses Bombardement ward vom preußischen ©e* nerale von Thümen geleitet, der zum Bülow'schen ArmeecorpS gehörte. Zum ersten male wurden hier die Congrevischen Brandraketen, von deren Wirkung der Kronprinz von Schweden (Bernadotte^ am 22. Sptbr. bei dem Manoeuvre bei Zerbst sich überzeugt hatte, auf teutschem Boden gebraucht; die von dreihundert Engländern bediente Batterie der­ selben stand vor dem Elsterthore. Dieses zweite Bombardement der Stadt begann am 25. Sptbr. Abends um 8 Uhr und dauerte bis um 1 Uhr. In dieser Nacht brannten blos zwei Häuser innerhalb der Stadt nieder; doch wurden viele durch die Kugeln beschädigt, die zu Tausenden in die Stadt fie­ len. Mit großer Heftigkeit ward dieses Beschießen am 27. Sptbr. Abends nach 8 Uhr erneuert und bis früh um 4 Uhr fortgesetzt. Diese Nacht war die schrecklichste und zerstörendstc für Wittenberg. Die Brandraketen und Granaten bildeten in der ^uft ein

wahres Feuermeer, die Belagerten antworteten vom Walle in einem ununterbrochenen Kanonendonner, Der Thurm der Univcrfitatskirchc, von einer Brand-? rakete entzündet, stürzte am Morgen bis auf das Ge­ länder, brennend mit den geschmolzenen Glocken auf

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das nächste Haus; mehrere der besten Häuser brann­ ten am Markte und auf der Schloßgasse in dieser; Nacht nieder, unter diesen die Häuser der Professo­ ren Langguth, Schleusner, und das Hinterge­ bäude des Wohnhauses des HofgerichtSraths und Professors D. Klügel, so wie die akademische Reit­ bahn im Posthause, der Marstall u. a Das ei­ gentliche Schloßgebäude, die Stadtkirche und andere Häuser wurden durch die einschlagenden Kugeln theilweise beschädigt. Das Feuer wüthete die folgenden Tage verheerend fort, und mehr als tausend Ein­ wohner retteten sich aus der brennenden Stadt. Sie flüchteten theils auf die nächsten Dörfer, theils in die Landstädtchen Ke in berg, PreHsch und Schmiedeberg. Von der Universität blieb blos der Prof. Langguth und der akademische ProtonotariuS Lechel in Wittenberg zurück. — Die zweimali­ gen Versuche der Belagerer, die Elbbrücke durch Brander anzuzündcn, gelangen nicht; doch brannte in der Nacht vom 29. Sptbr. eine durch Granaten angezündete Schiffsmühle auf. Kaum hatte das Be­ schießen der Stadt zwei Tage geruht, als in der Nacht vom 1. zum 2. Octbc. von neuem Brandra­ keten stogen, wodurch sieben Häuser auf der Collegiengasse in Brand gesteckt wurden. Viele der aka­ demischen Lehrer haben in diesen Tagen bedeutend von ihrem Eigenthume verloren! — Nachdem aber das Blücher'sche Heer, bei welchem die russischen Corps von Sacken und Langeron standen, gegen das schwache B c rtrand'sche Corpö (ungefähr 18,000 Mann) im Kampfe bei Wartenburg am Mor­ gen des 3. Octbr. siegreich gewesen und auf das linke Elbufer übergegangen war, befahl der Kronprinz von Schweden, mit dem Bombardement Wittenbergs

199 einzuhalten. Seine Schweden, und das schlesische Heer standen seit diesem Tage auf dein linken Elbufer. Die Demonstration eines französischen Corps am 11. und 12. Octbr., welches bei Wittenberg über die Elbe ging und westlich bis Roßlau vor­ dräng, war blos vorübergehend; bei Leipzig ward £ 16. und 18. Oct.) das Schicksal Sachsens und

Temschlands entschieden, und Wittenberg bereits am 28. Octbr. wieder auf beiden Elbufern eingeschlossen. Unter dem Oberbefehle des Generals Tauenzien, dec in Dommitzsch sein Hauptquartier hatte, stand die Belagerung von Torgau und Wirtenberg. Während Torgau mit Macht angegriffen und zur (Kapitulation genöthigt ward, leitete der General Dobschütz von Nud.rsdorf aus (auf dem rechten Elbufer) die Blokade von Wittenberg, und beunru­ higte sehr oft, während der langen Winternächte, durch eingeworfene Granaten die schwache Garnison in der Festung, bis er, nach der Capitulation von Torgau, das eigentliche schwere Belagerungsgeschütz erhielt. Nun verlegte auch der General von Tauenzien am 28. Dcbr. 1813 sein Hauptquartier in die Anhaltische Stadt Koswig, zwei Stunden von Wit­ tenberg. Während der 'Gouverneur Lapoype die Ein­ wohner der Stadt immer härter seine eiserne Hand empfinden ließ, und die ihm gemachten Aufforderun­ gen ablehnte, rückten die Arbeiten der Belagerer, unter dem Feuer der Franzosen von den Wällen, der Stadt immer näher. Doch schonten die Preußen bei dem Beschießen der Festungswerke während einer vierzehntägigen Belagerung d'e Stadt selbst so sehr, daß in dieser Zeit blos am 9. Januar 1814 ei­ nig« Hauser in der Koswiger Gasse niederbrannten 3m Ganzen hat die Stadt durch das Bombarde-

200 ment 32 Häuser, die Vorstädte haben 220 bis 30 verloren; allein in der Stadt wurden sehr viele Häu­ ser durch die eingefallenen Kugeln auf längere Zeit völlig unbewohnbar. Endlich kam in der Nacht vom 12. zum 13. Januar 1814 die Stunde der Erlö­ sung für die geängstigte Stadt. Zu gleicher Zeit wurden der Wall, der Brückenkopf bei Pratau und die Brücke mit wenigem Verluste erstürmt. Ver­ geblich war der Widerstand der Franzosen auf dem Markte aus dem vom Gouverneur befestigten Rath­ hause. Per Gouverneur selbst ward in dem Keller, nach einigem Suchen, gefunden, in welchem er schon bei den frühern Bombardements seine Person gesi­ chert hatte. Die Mißhandlungen, welche er von mehrern gereizten Einwohnern erduldete, waren eine sehr natürliche Entladung des Unwillens über zehnmonqtliche Kränkungen und Plagen, über mannig­ faltige willkührliche Erpressungen, und über das Nie­ derbrennen und Zerstören so vieler Häuser und Gär­ ten. Die Garnison ward abgeführt, und mit ihr verschwand der letzte Franzose von sächsischem Boden.

So allgemein der Jubel über diese Errettung war; so mischte sich doch freilich manche traurige Erinnerung an die nächste Vergangenheit, und man­ cher trübe Blick in die Zukunft in die Freude der Einwohner Wittenbergs. Namentlich blieb das Schicksal der Universität, welche Napoleons Macht­ gebot aus Wittenberg vertrieben hatte, während der Fortdauer des Kampfes auf dem Boden Frankreichs, und während der Zeit des Wiener Congresses un­ entschieden. Noch nie harte sie erduldet, was im Jahr 1813 über sie erging, Im Schmalkaldisch?n

201 Krieg« rettete die Capikulation die Stadt vor der Zerstörung; der dreißigjährige Krieg wirkte zwar sehr nach­ theilig auf die Universität zurück, er bedrohte aber nicht das Daseyn des Ganzen; er vertrieb nicht die Profes­ soren und die Universitätsbibliothek; der 13. Oct. 1760 war ein einziger harter Tag, und die Stürme im Spatjahre 1806 gleichen schnell vorüber ziehenden Ge­ wittern. Dies alles gestaltete sich anders im Jahre 1814 nach der Erstürmung Wittenbergs. Der einst­ weilige Zustand der slniversität dauerte fort, bis in dem, zwischen Preußen und Sachsen zu Wien ab­ geschlossenen, Frieden, mit den übrigen Länderab­ tretungen von Sachsen an Preußen (f des ganzen Königreiches Sachsen nach der Bevölkerungszahl) auch die Stadt und Universität Wittenberg an Preußen überging. In -er Zwischenzeit vom Juni 1813 bis zu Michaelis 1815, wo bereits die Vereinigung der Universität Wittenberg mit der zu Halle erfolgte, obgleich der König von Preußen das deshalb erlas­ sene Rescript erst am 12. April 1817 unterzeichnete, befand sich die Universität in der, fünf Stunden von Wittenberg entfernten, Provinzialstadt Schmie» debergf wo sie ihre Thätigkeit fortseßte, so weit es unter den damaligen Verhältnissen möglich war. Die Juvistenfacultät und der Schöppenstuhl hielten daselbst ihre regelmäßigen Sitzungen; eben so hielt der akademische Senat, unter dem Vorsitze der in Schmiedeberg anwesenden und halbjährig wechselnden Rectoren, Pfotenhauer, Kletten, Klohsch, Winzer und Klien bis zum September 1815, seine Versammlungen; mehrere Studirende, besonders der juristischen und medicinischen Facultät, be­ ten hehrer beinahe vollzählig in Schmiehebepg wq-

202 ren, vollendeten dort in Privatlectionen ihren Cursus und bestanden die Examina; so wie auch die juri­ stischen, medicinischen und philosophischen. Doctorpromoktonen daselbst gehalten wurden. In Schmiedebcrg befanden sich von den akademischen Lehrern: aus der theologischen Facultät Dr. Weber (seit dem October 1 813) und Dr. Winzer (seit dem Octob. 1814, wo er das Rectorat übernahm, nachdem er, auf höhere Veranlassung, im Sommerhalbjahre 1814 in Leipzig theologische Vorlesungen gehalten hatte); aus der juristischen Facultät der Ordinarius ApellationSr. Dr. Wiesand, Hofr. Dr. Stübel, die HofgerichtSräthe Dr. Pfotenhauer, Dr. Klien, Dr. Schumann (der im Jahre 1815 als Apellationör. nach Dresden verseht ward), die ordentlichen Beisiher der Juristenfacultät Dr. Francke und Prof. Dr. Andreä (im Jahre 1815 nach Jena berufen-, und die außerordentlichen Beisitzer derselben Dr. Gründler und Dr. Schmidt; aus der medicini­ schen Facultät die Professoren Dr. Kletten, Dr. Seiler (doch war derselbe längere Zeit wegen der Organisation der neuen chirurgischen Militärakademie in Dresden abwesend, wohin er im Jahre 1815 als Director derselben berufen ward), und Dr. Schreger; auö der philosophischen Facultät die Professoren Henrici, Klotz sch, Raabe, Steinhäuser, Pölitz. Die Professoren Generalsup. Dr. Nißsch, Propst Dr. Schleußner, HGR. Dr. Klügel und Aßmann kehrten, bald nach der Einnahme Wittenbergs von den Preußen, in diese Stadt zu­ rück; Prof. Gruber lebte in Leipzig; doch nahm er an den Sitzungen des akadem. Senats in Schmie­ deberg mehrmals Antheil, und besorgte für die in Leipzig ihre Studien fortsetzenden Wittenberger die

203 Auszahlung der königlichen und der vom akademi­ schen Senate dahin conferirten Stipendien - und Convict-Gelder; Prof. Anton starb im Jahre 1814 in Dresden, Prof. Langguth in demselben Jahre in Wittenberg; die Professur der Moral und Poli­ tik endlich war, seit Dr. Winzers Einrücken in die theologische Facultät, während der Stürme des Jahres 1813 nicht wieder besetzt worden. Außerdem befanden sich der akademische Proto­ notar Lechel und der Universitätsverwalter Kunze in Schmicdeberg, die aber beide kurz hinter einan­ der im Frühjahre 1814 am Nervenfieber starben. Mit großen Schwierigkeiten war die Verwaltung des, in der vorigen Abhandlung im Einzelnen aufgeführten, ansehnlichen, und seinen verschiedenen Fonds nach verwickelten Vermögens verbunden, besonders in den Jahren 1813— 18)5; doch ist alles von diesem Vermögen, nach Documenten und nach dem Ertrage, durch die rastlose Thätigkeit der Professoren gerettet und erhalten worden, obgleich Schmie­ deberg ein offener Ort war, in der Mitte zwischen den beiden belagerten Festungen Wittenberg und Torgau lag, und nach der Schlacht bei Wartenburg l3. Oct. 1813) die beiden russischen Corps von Sacken und Langeron acht Tage in und bei dieser Stadt bivouacquirten. Zur Ausmittelung der Ue­ bersicht des Finanzzustandes der Universität, und zur Einreichung von Vorschlägen für die künftige Reorganisation derselben, ward am 6. Jul. 1814 vom Kirchenrathe zu Dresden eine Commission aus den vier Facultäten in den Professoren Weber, Stübel, Seiler und Pölitz ernannt, welche im Anfänge deö Jahres 1815 das Ergebniß ihrer Arbeiten zuerst den höchsten Dresdener, und, nach

204 der Abtretung Wittenbergs an Preußen, den höch­ sten Berliner Behörden auf 68 Bogen (durchgehends mit allen Belegen ausgeftattet) vorlegte, und dadurch ein vollständiges statistisch-finanzielles Bild von dem damaligen Zustande der Universität vermittelte, wo­ mit sie die Vorschläge zur zeitgemäßen neuen Orga­ nisation derselben verband. Als nun am 18. Mai.1815 im Wiener Ver­ trage zwischen Sachsen 'und Preußen die Universität Wittenberg an Preußen abgetreten ward, versam­ melte sich der akademische Senat zu Schmiedeberg in 14 ordentlichen Professoren (3 Stellen waren er­ ledigt.; 4 in Wittenberg lebende Professoren folgten der Einladung zu diesem Convente nicht; ein Mit­ glied des Senats war verreiset), nm über die zu er­ greifenden Maasregeln zu berathschlagen. Das Er­ gebniß dieser Sitzung am 2. Juni 1815 war, zwei Leputirte in den Professoren Seiler und Pölitz nach Berlin *) mit folgenden, von der großen Mehr­ heit des akademischen Senats beschlossenen, Anträgen zu senden, die deshalb hier ihren Platz finden, weil das größere Publicum über die Ansichten des in Schmiedeberg verhandelnden akademischen Senats nicht immer aus den reinsten Quellen unterrichtet worden ist. Er trug an: „1) auf die. Wieder­ herstellung der Selbstständigkeit derUniversität in einer andern, im neuen Herzogthume Sachsen gelegenen und für die

*) Diese beiden Deputieren befanden sich jm Juni 181$ drei Wochen lang in Bcrlm. Nachdem beide im August den Ruf nach Sachsen angenommen hatten, gingen an deren Stelle die Professoren Kletten und Gruber als Deputme der Universität nach Berlin.

205 Begründung einer Universität geeigneten Stadt. Je unverschuldeter und drückender im Allgemeinen das Loos derer bleibt, welche mediatisirt werden; je län­ ger übrigens die Universität Wittenberg selbst nach den Stürmen des schmalkalvifchen, des dreißigjähri­ gen und -es siebenjährigen Krieges — ihre Selbst­ ständigkeit in der Reihe der höchsten Bildungsanstallen Teutschlands behauptete; je aufmerksamer und theilnehmender die Protestanten aller Länder auf diese Wiege der geistigen Aufklärung und auf diesen Stammsitz religiöser Freiheit und Veredelung Hin­ blicken; und je mehr die neueste Zeit sich davon überzeugt hat, daß namentlich von den kleineren Universitäten ein wohlthätiger wissenschaftlicher Geist ausging, und Teutschlands literarisches Uebergewicht über alle' europäischen Reiche zunächst auf der Menge und auf den edlen Bestrebungen seiner Universitäten beruhte: desto getroster wagt es die Universität Wit­ tenberg, die Bitte um die Wiederherstellung ihrer Selbstständigkeit an die Spitze aller anderen Vor­ schläge zu stellen. Zwar dürfte die geographische Lage und die militärische Bestimmung der Stade Wittenberg die Wiederherstellung der Universität in­ nerhalb der Mauern dieser Stadt verhindern?); *) Das infamlum rcnovare dolorem wäre hier nicht am rechten Orte. Die Leidenschaften müssen nach überstandenen Stürmen schweigen. Allein eine Stadt, welche durch die Ab­ tretung an Preußen zur Vormauer von Berlin bestimmt war, seit dem März 1813 ununterbrochen sehr bedeutend befestigt ward, und gegen drittehalbhundert Häuser verloren hattet toO die öffentlichen Institute, wie die letzten Jahre bewiesen hat­ ten, bei ausbrechenden Kriegen, nie sicher waren; wo die Einquartierung seit 1806 die häuslichen Verhältnisse der ^"fefforen auf das furchtbarst« erschüttert, ihre öffentliche Thätigkeit stets vermindert und sie — bei der Ueberzeugung,

206 auch ist es der bestimmte Wunsch der entschiedenen Mehrheit des akademischen Senats, daß die Univer­ sität in dieser Stadt nicht wieder hergestellt werde; allein der akademische Senat, durchdrungen von sei­ ner Verpstichtung für die Erhaltung der Selbststän­ digkeit dec Universität alles zu thun, was ihm möglich ist, glaubt allerdings, daß in dem Herzogthume Sachsen mehrere Städte dazu geeignet seyn dürften, die Universität Wittenberg ven Neuem zu einem selbstständigen Daseyn zu erheben; und dann würde derselbe für die innere und äußere Reorgani­ sation der Universität ans alle diejenigen Vor­ schläge sich beziehen, welche in dem beigelegten Com­ missionsberichte für diesen Zweck aufgestellt worden sind. — Däfern aber die höchsten preußischen Be­ hörden die Wiederherstellung der Selbstständigkeit der Universität Wittenberg mit den Verhältnißen derselben zu den übrigen schon bestehenden preußi­ schen Universitäten unvereinbar finden sollten, er­ klärt sich der akademische Senat 2) für die eh­ renvolle Vereinigung der Universität Wittenberg mit der Universität Halle, unter dem Namen der vereinigten Univer­ sität Halle-Wittenberg*). Die Universität eS sey ihnen zu viel geschehen — mit anderen Wittenbergischen Behörden in die unausgleichbarste Spannung gebracht hatte: eine-solche Stadt schien zur Wiederherstellung der Universität in derselben nicht geeignet zu seyn. Festung oder Universität; nicht: Festung und Universität war die Prämisse. Deshalb hatte der akadem. Senar bereits im Jahre 1813 bei den höch­ sten Behörden in Dresden entweder auf die Verlegung nach Dresden, Meißen oder Freiberg, oder auf die ehren­ volle Bereinigung mit Leipzig angctragen. *) Sollte nämlich die Universität Wittenberg ihre Selbst-

207 Halle liegt nämlich so nahe an den Grenzen des neuen Herzogthums Sachsen, daß die Vereinigung Wittenbergs mit dieser Universität verhaltnißmäßrg die wenigsten Schivierigkeiten in Hinsicht des Personals, des akademischen Privatvermögens, und der öffentlichen Effecten und Sammlungen haben, und daß wahrscheinlich zu Halle der größte Theil der aus dem Herzogthume Sachsen |hibttenben Jünglinge um seinen Wlttenbergischen LehrerkreiS bald wieder sich versammeln würde- — Weil aber an Witten­ bergs Namen große Erinnerungen in der Welt- und Cultur-Geschichte geknüpft sind, und weil die Pro­ testanten aller Erdtheile und aller Staaten Witten­ berg, und namentlich die dortige Universitätskirche, als den Anfangspunkt des Hähern geistigen Lebens betrachten; so hält sich die Universität, selbst nach ihrer Entfernung aus dieser Stadt, für verpflichtet, 3) für die Erhaltung der vier Denkmäler Friedrichs des Weisen, Johanns des Beständigen, Luthers und Melar»thons in der UniyersitätSkirche zu Wittenberg, und für die Erhaltung von Luthers Stube im Augusteum in ihrem bis­ herigen Zustande, ausdrücklich zu bitten, und diese Gegenstände, welchen Sr. Maj. der König von Preußen selbst Ihre höchste Theilnahme geschenkt

ständigkeil verlieren; so schien, aus den folgenden, im Texte kur; angedeutcten, Gründen die Vereinigung mit Halle der Vereinigung mit Berlin oder Breslau, oder der Zersplitterung ihrer Fonds zwischen mehrere Universitäten vorzuziehen zu seyn, besonder- da der Senat, dem seit 313 Jahren das Recht ber eigenen Administration zustand, so lange dieses Verhältniß «ristute, die entschiedene Verpflichtung hatte, auf die Erhaltuna der Fonds in ihrer Integrität anzutragen, und dieser Jinegrilät lieber persönliche Opfer zu bringen.



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habens, vem hohen Departement dringend zu ent» pfehlen.^ Die folgenden Anträge des akademischen Senats in feinem ersten Schreiben an das Departement des Cultus und öffentlichen Unterrichts in Berlin betra­ fen: die Beibehaltung des Namens „Wittenber­ ger Stiftung" für das nach Halle versetzte Leh­ rerpersonale, und für die , sämmtlichen bishe­ rigen Wittenberger Fonds, nach allen 8 Fiscis der Universität, damit diese, als ein zusammenhängendes Ganzes in der Administration, unvermin­ dert, und nach ihrer westntlichen Bestimmung un­ verändert blieben;" die, durch Absterben allmählig herbeizuführende Verminderung der 22 ordentlichen Lehrerstellen auf die Normal zahl von 10 Pro­ fessuren Wittenberger Stiftung zu Halle, welche man aus den erledigten Stellen zeitgemäß dotiren könnte; die Beibehaltung der Naturalien an Korn und Holz; die Beibehaltung aller akademischen Benesicien; die Entschädigung für den Transport; die angemeffene Pensionirung derjenigen Lehrer, wel­ che sich in einen ehrenvollen Ruhestand zurückzuzie­ hen wünschten u. s. w." In kürzerem Umfange wurden dieselben Anträge, durch die Deputirten der Universität, in Berlin des Königs Maj. selbst, und dem Staatskanzler, Fürsten von Hardenberg, vorgelegt. Ob nun gleich das hohe Departement des Cultus und öffentlichen Un­ terrichts, an dessen Spitze damals der einsichtsvolle und thätige Minister des Innern von Schuck­ mann stand, weder die Herstellung der Universität

*) Zm Jahre 1812, wo der König von Dresden über Meißen, Wittenberg und Wörlitz nach Berlin Mückkehrle-

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in der Stadt Wittenberg selbst, noch, die Herstel­ lung derselben in einer anderen Stadt des HerzogthumS Preußen, wegen der Nähe der preußischen Universitäten Halle, Berlin und Breslau, dem wis­ senschaftlichen Interesse des preußischen Staates an­ gemessen fand; so ward doch die Vereinigung mit Halle unter ehrenvollen Bedingungen im Vor­ aus mit vieler Liberalität zugesichert, und jeder Wittenbergische Lehrer berechtigt, sogleich zu Michaelis 1815 in Halle seine Vorlesungen zu eröffnen. Die wohlwollende Absicht Sr. Maj., des Königs von Preußen, die Stadt Wittenberg für den Verlust der Universität zu entschädigen, und die Zwischenanträge einiger in Wittenberg lebender akademischer Lehrer, die Universität nach Wittenberg zurück zu ver­ sehen, so wie die, in derselben Absicht, von Wit­ tenberg aus nach Berlin gesandten Depukirten der Wittenberger Kreisstände, des Magistrats und der Bürgerschaft, verzögerten allerdings einige Zeit die definitive Entscheidung des Schicksals der Uni­ versität bis zum 12, April 1817; doch wandten sich bereits int Sept, und Oct. 1815 und spater folgen­ de akademische Lehrer nach Haller die Professoren Dr. Weber, Hofgerichtsrath Dr. Pfotenhauer (erst in Merseburg beim Generalgouvernement ange­ stellt), Dr. Kletten, Dr. Schreger, Dr. Med. Nihsch, Raabe, Steinhäuser, Gruber, und die Privatdocenten Ger lach (welcher 1817 zum Professor zu Halle ernannt ward) und Cra­ mer (welcher zu Ostern 1817 dem Rufe als vierter ordentlicher Professor der Theologie nach Rostock und 1819 nach Leipzig folgte). Ehrenvolle Erwäh­ nung verdient es, daß das treffliche Lehrerpersonale der Universität Halle die neuen Ankömmlinge mit Pölitz »ernt. Schr. Th. 2. 14

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ausgezeichneter Eollegialität und Freundschaft auf­ nahm, und daß nur äußerst selten ein so vollzähliges und ruhmvoll bekanntes Corpus academicum, wie das zu Halle, auf andern Universitäten mit den neuankommenden Lehrern einer fremden Universität so friedlich und freundlich verschmelzen dürfte. Die­ ser treffliche Sinn und Geist im akademischen Se­ nate zu Halle bewährte sich nicht nur dadurch, daß bereits am 21. Jun. 1817 ein Wittenberger Pro­ fessor, Gruber, zum Prorector der vereinigten Uni­ versität Halle-Wittenberg durch Mehrheit der Stim­ men gewählt ward ; er wirkte auch höchst wohlthätig auf die studirenden Jünglinge, welche anderwärts bei den Eifersüchteleien und Entzweiungen unter den akademischen Lehrern in wissenschaftlicher Hinsicht eben so viel verlieren, als die Lehrer selbst in Hin­ sicht des öffentlichen Rufs wegen ihres persönlichen Charakters. — Von den übrigen Wittenbergischen Lehrern folgten einige dem an sie aus Sachsen ergangenen Rufe; einige wurden, nach ihrem Wunsche, ehrenvoll pensionirt; einige bei dem neugestifteten Predigerseminarium in Witten­ berg angestellt. Nach Sachsen wurden beru­ fen als ordentliche Professoren der Rechte auf der Universität Leipzig: der Hofrath Or. Stäbel mit 1200. Rthlr. (der aber zu Mich. 1815 nach Dresden als Mitglied dec Commission für das neue für Sachsen zu entwerfende Eriminalgesehbuch ging, und dem seit Ostern 1816 der Vortrag der Rechts­ wissenschaften für die beiden Söhne des Prinzen Maximilians, die Prinzen Friedrich und Johann, anvertrauk, und welchem später, nach seiner Ernen­ nung zum Hof- und Justizrathe in der Landesregie­ rung, die Bearbeitung des Entwurfes zu einem neuen

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Criminalgesehbuche für das Königreich Sachsen auf­ getragen ward); der Hofgerichtsrath Dr. Pforenhauer, dec aber diesen Ruf ablehnte; der Hofge­ richtsrath Dr. Klien mit 1000 Rthlr. (welcher im Jahre 1816 zugleich ordentlicher Beisiher der Leip­ ziger Juristenfaculkät ward); der Hofrath Dr. Sei­ ler, als Director und Professor an der von ihm neuorganisirten medicinisch-chirurgischen Militäraka­ demie zu Dresden; der Prof. Dr. Winzer, wel­ cher die in Leipzig, durch Rosenmüllers Tod, erledigte vierte ordentliche theologische Professur mit 300 Rthlr. Zulage erhielt; und der Prof. Pölitz, welcher zum ordentlichen Professor der sächsischen Ge­ schichte und Statistik zu Leipzig mit 1000 Rthlr. Gehalt, im Jahre 1820 aber zum ordentlichen Pro­ fessor der Staatswissenschaftrn, ernannt ward. — In Ruhestand wurden verseht: der Ordina­ rius der Juristenfaculkät, Director des (aufgelöseten) Wittenbergischen Consistoriumö, Appellationsrath Dr. Wiesand mit 1550 Rthlr. (er privatisirte bis zu feinem Tode in Halle); der HGR. Dr. Klügel mit 1200 Rthlr. (privatisirte in Hemsendorf-; der Prof. Dr. Kletten mit 600 Rthlr. (privatisirte in Wien); die Professoren Aßmann mit 800Rthlr., Henrici mit 700 Rthlr., und Klohsch mit 650 Rthlr. (privatisirten in Wittenberg)*). — Bei dem, in Wittenberg mit einem Fond mit mehr als 7000 Rthlr. aus dem bisherigen Universitätsvermögeu gegründeten, und im Augusteum eröffneten, Predi-

*) Diese Pensionen wurden nicht auf den Wittenberger Fundationsfond, sondem auf preußische Staatscasten angewiesen; eben so die Kosten für die Wiederherstellung der Wittenberger UniverstlätSkirche.

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212 gersemingrium wurden, mlt erhöhtem Gehalte, als Directoren angestellt: der Generalsuperint. Dr. Nihsch, der Prof. Dr. Schleusner, der Prof, und Diac. Heubner, und der Diac. M. NiHsch. Ein solcher Fond und die Theilnahme junger Män­ ner, die bereits über die Studentenjahre hinaus sind, ließ Viel von der neuen Anstalt erwarten. — Selbst das von dem Wittenbergischen Magistrate abhängende Ly'ceumzuWittenberg erhielt jähr­ lich 2200 Rthlr. aus dem Universitäcöfond zu seiner bessern Einrichtung. Die Besoldungen des Rectors und Conrectors des nunmehrigen Gymnasiums wurden dadurch erhöht; eine Subrectorstelle neu gegründet, pnd der mathematische Unterricht mit der­ selben verbunden; das Uebrige ward zur besseren Besoldung der Hülfslehrer und zu Stipendien für Studirende bestimmt. Von den nach Halle versetz­ ten Professoren erhielt der ehemalige außerordentliche, nun ordentliche Professor der Natürgeschichte Dr. Nihsch 800 Rthlr.; der Hofgerichtsr. Prof. Dr. Pfotenhauer (der zugleich Mitglied der Iuristenfacultät ward) bekam 1300 Rthlr., und von den Professoren Weber, Schreger, Raabe und Gruber jeder 1000 Rthlr. Besoldung, so wie den Fortgenuß ihrer Wittenbergischen Korn-, Haferund Holz-Deputate. Nirgends ward etwas von dem, was die Lehrer vorher erhalten hatten, ge­ schmälert oder eingezogen. Auch behielten die.Professoren Weber und Gruber die Einkünfte, welche mit den Ephoraten der königlichen Stipendiaten bis dahin verknüpft waren. Die Universitätökirche in Wittenberg, mit ihren Denkmälern des Prote­ stantismus, ward hergestellt, und Luthers Stube erhalten.

213 Nach allen diesen vorläufigen Bestimmungen er­ folgte endlich am 12, April 1817 die definitive Ent­ scheidung des Schicksals der Univerfität Wittenberg in einem vom Könige eigenhändig vollzogenen Cabinetsbefehle- Sie ward nicht, wie die zu Erfurt, aufgelöfet, sondern mit Halle vereiniget. Der Name Wittenberg ging nicht unter in den Jahrbüchern der Cultur; er ward vielmehr ehrenvoll mit dem berühmten Namen der Universität Halle verbunden. Dieser Cabinetsbefehl, dessen Anfang also lautet: „Wir Friedrich Wilhelm u. s. w. verordnen hie­ durch, nachdem die Universität durch den Krieg aus Wittenberg vertrieben worden, und die Ver­ hältnisse deren Wiederherstellung in dieser Festung nicht verstatten. Wir aber diese, um die Refor­ mation und die Wissenschaften so verdiente, An­ stalt erhalten wollen, Folgendes:" enthält nachstehende Bestimmungen: 1) Die Uni­ versitäten Halle und Wittenberg werden in Ansehung der Lehrer und ihrer wissenschaftlichen Anstalten un­ ter dem Namen der vereinigten Universität von Halle und Wittenberg zu Einem Ganzen verbunden. 2) Sämmtliche von Wittenberg nach Halle übergegangene Professores Ordinarii bilden mit den bereits in Halle angestellten Professoribus ordinariis das Corpus academicum, oder den akademischen Senat. 3) In ihren Facultäten rangiren sie mit dem Halle'schen Personale nach dem Datum ihrer Anstellung als Professores Or­ dinarii in Wittenberg. 4) In Ansehung der Rechte und Verbindlichkeiten eines ordentlichen Professors überhaupt, und was die Wahlfähigkeit zum Rectorate, die Gelangung zum Decanate, und die Facul-

214 tätSarbeiten, nebst den damit verbundenen Einkünf­ ten insbesondere betrifft, ist kein Unterschied zwischen den in Halle bereits angestellten und den von Wit­ tenberg dahin abgegangenen Professoren. 5) Die vereinte Universität steht in Allem, was daS Perso­ nale der Lehrer, die wissenschaftlichen Anstalten, die Verwaltung des akademischen Fonds, die Unterstützung der Studirendcn, und die akademische Disciplin be­ trifft, unmittelbar unter der zweiten Abtheilung des Ministerii des Innern, welches zur Besorgung der Localgeschäfte einen besonderen EommissariuS in Halle ernennt. 6) Von der Universitätsbibliothek zu Wit­ tenberg bleibt der theologische und philologi­ sche Theil zum Gebrauche des daselbst zg errichtenden Predigersemlnarii und des be­ reits vorhandenen Lycei in Wittenberg zurück. Der übrige Theil dieser Bibliothek hingegen, so wie alle andere, der Universität Wittenberg gehörige wis­ senschaftliche Sammlungen und Apparate werden nach Halle gebracht, und mit den dortigen Sammlungen und Apparaten, insoweit nicht besondere Stiftungen eine Absonderung nothwendig machen, vereinigt. 7) Das g e sä mmte Vermögen der Uni­ versität Wittenberg wird, unter der Benennung „die Wittenberger Fundation" in Wittenberg be­ sonders verwaltet. Die Administration ist einem Rendanten, jetzt dem seitherigen Universitätsverwal­ ter Tiemann, welchem ein Controlleur und Caleulator beigesetzt wird, unter Aufsicht der Directoren des Wittenberger Predigerseminarii übertragen. Diese Directoren stehen auch in Ansehung der ökonomischen Geschäfte unmittelbar unter der zweiten Abtheilung des Ministerii des Innern. Ueber die Bestimmung der einzelnen fiscorum, aus welchen das Witten-

215 Herger Universitätsvermögen besteht, nämlich des fisti iuiidationis und promptionis, de6 fisci stipendiorum regiorum, des fisci stipendiorum academicorum, des fisci convictorii, des fisci bibliothecae, des fisci nosocomii, des fisci viduaruin acad. und des Zuschusses aus dem Steuerärario, wird Folgendes festgesetzt. 8) Es sollen daraus zunächst die darauf angewiesenen Zahlungen für das Predigerseminarium und für das Ly* ceum zu Wittenberg, so wie für die dortige Uni* versitätsverwaltung, bestritten werden. Der Ueberschuß stießt demnächst in die Universitatscasse nach Halles zur Besoldung der da« hin gegangenen Wittenberger Professoren, und zur Unterhaltung der gemeinschaftlichen Universitätsinstitute. Hienach sollen der Etat für die Verwaltung iy Wittenberg und der gemeinschaftliche Etat für die combinirte Universität in Halle gefertigt, und letz, rerm der Ueberschuß des erster« in Einnahme, und die Wittenberger Gehalte und die Kosten der ge­ meinschaftlichen Institute in Ausgabe gebracht wer­ den, und soll i« der Folge hej Gehaltsverleihungen und Verbesserungen der Lehrer an der cvmbinirten Universität blos auf Verdienst gesehen werden, und zwischen Halle'schen und Wittenberger Professoren darin kein Unterschied seyn, sondern diese mit jenen gleiche Ansprüche haben. 9) Aus dem fisco stipendiorum regiorum werden 2000 Rthlr-l, und aus dem fisco Convictorii 2400 Rthlr. jährlich

*) Schon vorher war der Universität Halle aus diesem Fond die Summe von 4000 Rthlr. (nicht von 7000 Rthlr., wie der Ns. eines Aufsatzes in der 33sten Beilage der Allg. 3eit. v. I. 1817 behauptete) angewiesen worden, Vergl. Allg. Zeit, 1817. Beilage 67, S. 271.

216 zu Fonds des Predigerseminarii in Wittenberg ab­ gegeben/ von deri übrigen Einnahme dieser fiscorum aber in der Regel unbemittelte Studenten in Halle, in nöthigen Fällen aber auch dessen bedürftige Seminaristen in Wittenberg unterstützt. Die Vertheilung dieser Beneficien geschieht halbjäh­ rig von der zweiten Abtheilung des Ministern des Innern den Stiftungen gemäß, nachdem jedesmal vorher die Qualifikation der um Unterstützung bitten­ den Studenten von einer besonders hiezu verordneten, aus einigen Professoren bestehenden, Commission ge­ prüft, und darüber gutachtliche Anzeige erstattet wor­ den. 10) Der fiscus stipendiorum academicomm wird, nach Vorschrift der darüber vorhandenen Stiftungen, jedoch dergestalt verwaltet: a) daß die auf der vereinten Universität studirenden Jünglinge, auch insofern die Stiftungen es gestatten, die in das Seminar zu Wittenberg aufgenommenen Candidaten, für qualificirt zu den für Wittenberger Stu­ denten gestifteten Beneficien geachtet werden und b) die Collatur derjenigen Beneficien, welche seither in Gemäßheit der Stiftung, theils von dem akad. Se­ nate, theils von dem Rector entweder allein, oder mit Zuziehung einiger Professoren in Wittenberg ver­ geben wurden, jetzt von 6 Professoren, die von W. nach Halle gegangen sind, ausgeübt wird; und nach Abgänge eines derselben hat das Ministerium ihnen jedesmal einen andern als Wittenberger Collator stipendiorum zuzuordnen. Es haben jedoch die Collatoren der Wittenberger Stipendienfundationen über die Vertheilung der akad. Beneficien halbjähri­ ge Anzeige an das Ministerium des Innern zu er­ statten. 11) Zu den Professoren der Wittenberger Fundation gehört künftig jedesmal, sowie für jetzt.

L17 ein Professor der Theologie, ein Professor der Rechte, ein Professor der Arzneiwiffenschaft, und drei Pro­ fessoren der philosophischen Facultät °). 12) Aus dem fisco bibliothecae werden zuvörderst die Besol­ dungen bestritten, welche der Director unfr die Cusioden der Bibliothek in W. seither erhalten haben; die übrige Einnahme dieses fisci aber dient zur An­ schaffung von Büchern für die vereinigte Bibliothek in Halle. 13) Von dem fisco nocosomii werden 350 Rthlr. an die klinische Anstalt in Halle, beson­ ders zur Verpflegung kranker Studirender, abgege­ ben. Der übrig bleibende Theil der Einnahme ist, nach Vorschrift der darüber vorhandenen Stiftungen, zu verwenden. 14) Zur Pereeption aus dem fisco viduarum gelangen nur a) diejenigen Wittwen, welche seither aus diesem Flsco unterstützt worden sind; b) die Wittwen derjenigen, von welchen dieser Fiscus statutenmäßige Beiträge erhalten har, und c) die künftigen Wittwen sämmtlicher ordentl. Professo­ ren der Wittenberger Fundation, welche ebenfalls zu diesem Fiseo die statutenmäßigen Beiträge leisten. 15) Von dem jährlichen Zuschüsse von 3500 Rthlr» aus dem Steuerärario sind zuvörderst die auf diese Gelder angewiesenen seitherigen Percipienten ferner zu befriedigen, sodann 1500 Rthlr. an daö Predi­ gerseminar zu W., und 150 Rthlr. an die klinische Anstalt in Halle abzugeben, und von dem noch übrig bleibenden Theile dieser Einnahme unbemittelte Studirende zu unterstützen, oder die Freitische zu ver­ mehren. 16) Das der Universität W. seither zu*) Diese 6 Professoren waren im Jahre 1817: Dr. We­ ber, HGR. Dr. Pfotenhauer, Dr. Schreger, Raabe, Steinhäuser, Gruber.

218 gestandene Collaturrecht verschiedener geistlicher Stel­ len wird künftig von dem Directorio des Predigerseminarii in Wittenberg ausgeübt." In Angemessenheit zu diesem Cabinetsbefehle er­ folgte am 21. Jun. zu Halle, in einem Generalcondlium der Universität, die feierliche Aufnahme der Professoren Weber, Pfotenhauer, i^chreger,

Raabe, Steinhäuser, Gruber und Nitzsch in den akademischen Senat der vereinigten Uni­ versität Halle-Wittenberg, welchen Namen sie seit diesem Tage in allen öffentlichen Schriften führte. Nicht ohne Grund bemerkte der Kanzler Niemeyer in dem von ihm geschriebenen Aufsatze im Hallischen Wochenblatte (1817, 2s Quar­ tal, 26. «Ltück vom 28. Juni): ,, Vereinigung der Universität Wittenberg mit der Universität Halle," daß diese vereinigte Universität nun in einer doppel­ ten Beziehung den Namen Fridericiana führe, weil der Stifter von Wittenberg Friedrich der Weise Churfürst von Sachsen, der Stifter von Halle der Churfürst Friedrich 3. von Brandenburg war. Auch hatte Wittenberg mit der Stadt Halle in der Reformationsperiode in einem engen Zusammenhän­ ge gestanden. Von Wittenberg kam dahin der erste evangelische Prediger D. Justus Jonaö, dessen Andenken der C. R. D. Knapp (1817) in einem Programme zum Reformationöjubilaum erneuerte; und in Halle war Luther selbst wenige Wochen vor seinem Tode freundlich empfangen, und feine Leiche in der Sacristey der Marienkirche, auf dem Wege von Eisleben nach Wittenberg, eine Nacht aüfbewahrt worden. Der Niemeyer'sche Aufsatz ist zugleich ein Beweis, mit welcher Zuoorkommenheit die vormaligen Wittenberger Lehrer in Halle aufge-

219 nommen wurden, so wie an demselben 21. Jun. die bereits angeführte Wahl des Prof. Gruber zum Prorector der vereinigten Universität, als erster öf­ fentlicher Act der Vereinigung, erfolgte. Durch diese Entscheidungen sind nun zugleich die verschiedenen, im Publicum laut gewordenen Stim­ men über das Schicksal der Universität Wittenberg berichtiget worden. Eine der stärksten ließ sich in der Beilage No. 33. der Allgem. Zeitung vom Jahre 1817 für die Wiederherstellung der Univer­ sität innerhalb der Festung Wittenberg ver­ nehmen. Wenn aber der Concipient dieses Aufsatzes, unter den von ihm bunt durch einander geworfenen Namen berühmter Männer der Univ. W., wo meh­ rere sehr geachtete aus früherer und späterer Zeit gänzlich fehlen (aus welchem Grunde,'da er 41 aufführt?), unter andern auch Chladni und Schkuhr nennt; so muß dieß dahin berichtiget wer­ den, daß der in Wittenberg gebohrne, und seine Ge­ burtsstadt durch seine Entdeckungen und Schriften ehrende, Chladni nie akademische Vorlesungen ge­ halten hat, und Schkuhr noch weniger, weil die­ ser nie studirt hatte und bloß Universitätsmechanicus war, ob er gleich in seinen Schriften seltene Einsich­ ten entwickelte; auch sind einige Privatdocenten da­ selbst aufgeführt, welche höchstens nur em Jahr hin­ durch gelesen haben.

11. Nekrolog des Professors Johann Samuel Ersch;

geb. zu Groß-Glogau am 23. Jun. 1766, gest, zu Halle am 16. Jan. 1828. Wenige gelehrte Männer unserer Zeit besaßen solche encyklopädische Kenntnisse, wie der verewigte Ersch; wenige waren und sind, in dem umfassend­ sten Sinne des Wortes, Literatoren, wie Er; wenige widmeten ein ganzes reiches Menschenleben ausschließend der Wissenschaft, wie Er; und wenige waren in ganz Teutschland, und selbst im Auslande, so bekannt, und mit so ungetheilter Achtung genannt, wie Ersch. Gründlichkeit und Brauchbar­ keit sind die beiden Haupteigenschaften seiner Schrift ten. Man kann sich auf seine Angaben durchgehends verlassen, und sein logisches Talent, sein practischer Geschäftssinn erleichterten, durch die architektonische Anlegung und die lichtvolle Ausführung der einzelnen Theile, den Gebrauch seiner Werke. — Tausende von Gelehrten werden in diesen Tagen das ernste Wortsich wiederhohlen: Ersch ist ge­ schieden, und in Tausenden wird sein Andenken fortleben, weil er rastlos thätig, höchst uneigennützig, dienstfertig für Andere, selbst mit großen Opfern an Zeit, Geld und Kraftanstrengungen, und mit einer Anspruchslosigkeit wirkte, die es selbst nicht fühlte, welche Masse von Kenntnissen ihm einwohnte, wie

221 viel sein nie gebrochenes Wort, wie viel seine, oft sehr gemißbraucht«, Bereitwilligkeit, Andere zu be­ rathen und zu unterstützen, wie viel sein Ansehen, als Literator, durch alle Gauen Teutschlands galt. Denn das ist eben der schönste Kranz auf sei­ nem Leichenhügel, daß er als Mensch eben so hoch stand, wie als Gelehrter. So vielseitig gebil­ det sein Geist war; so rein war auch fein Herz; so treu war er bept erprobten Freunde; so gewissen­ haft in der Erfüllung jeder übernommenen Ver­ pflichtung; so verschwiegen bei allem, was ihm auf Mannswort anvertraut ward; so heiter im Kreise der Freunde und Bekannten, selbst wenn ihn häufiger Anlauf mitten in den dringendsten Arbeiten unter­ brach, und wenn sein allgemein bekanntes Wohlwol­ len gegen Alle, die ihm sich näherten, nicht selten gemißbraucht ward. Man darf an seinem Grabe geradehin es aussprechen: Er sch hatte keinen Feind; denn er trat Keinem in den Weg; er war streng­ gerecht gegen jedes fremde Verdienst; er war scho­ nend und nachsichtig — oft zu seinem eigenen Nach­ theile — gegen Zudringliche und Anmaßende im Kreise der Wissenschaft und im Kreise des gewöhn/ lichen Lebens. Sein Briefwechsel war so außer­ ordentlich ausgedehnt, daß wohl nur wenige jetzt le­ bende Gelehrte in jedem Jahre so viele Briefe em­ pfangen, und so viele Briefe schreiben, als Er. Und wie pünktlich war er im Beantworten aller Briefe, die entweder für die Wissenschaft, oder zunächst für den Empfänger Interesse hatten l. Bisweilen fühlte er wohl es selbst, daß seine große Bereitwilligkeit, Andern zu dienen, gemißbraucht ward; er lächelte aber mit reinem Wohlwollen, als einst sein Freund Lafontaine, welchen Ersch und ich auf seinem

222 Landhause besuchten, bei der Berührung dieses Ge­ genstandes, mit echt brittischem Humor sagte: „Es muß aber eben solche gutmüthige Menschen geben, wie Erfch, damit sie gemißbraucht werden können!" Es lag viel Wahrheit, in Beziehung auf Er sch, in diesem psychologisch richtigen Ausspruche. Er sch war, als Encyctopädist, keiner gelehrten Sprache und keiner Wissenschaft ganz fremd; doch war er vertrauter mit dem Geiste der neuern abend­ ländischen Sprachen, als mit den Sprachen des Al­ terthums. Unter den Wissenschaften war seine Haupt­ stärke in der allgemeinen Literärgeschichte, in der Sta­ tistik und Geographie, in den Staatswissenschaften, so wie in der allgemeinen und Specialgeschichte, be­ sonders aber in der neuern und neuesten. Ein sehr glückliches, nnd durch ununterbrochene Uebung höchst reiches und vielseitiges, Gedächtniß unterstühte seine schriftstellecischen Arbeiten und seine mündlichen Un­ terhaltungen. Er war freisinnig in der Politik, da­ bei aber sehr gemäßigt. Ein Mann von seiner viel­ fachen Geschichts-, Welt- und Menschenkenntniß, von seinem geläuterten Urtheile über Staats- und Menschenleben, und von der Milde seines Charak­ ters, konnte keinen Geschmack an den Extremen un­ sers Zeitalters finden, so daß der einzige Unwille, der ihn bisweilen ergriff, den unreifen und überreiz­ ten Schwärmern galt, welche, namentlich den höher» Ständen, die an sich gute Sache des Lichts und der Aufklärung nicht selten verleiden. Er hat weder als Redacteur der neuen Hamburger Zeitung, noch auf dem akademischen Lehrstuhle, noch als Mitredacteur der allgemeinen Literaturzeitung, noch in sei­ nen übrigen Schriften, der Wahrheit und der heili­ gen Angelegenheit des Fortschreitens der Menschheit

223 je etwas vergeben; allein überall, wohin seine weit­ verbreitete literärische Wirksamkeit reichte, suchte und fand er den Mittelweg zwischen den Extremen. Dabei haßte er die wortreiche Breite in Abhandlungen und Recensionen, und vielen der letztem, d!e durch seine Hände gingen, hat er, durch Zurückfüh­ rung ihrer langen Rede auf den kurzen Sinn, einen wahren Dienst geleistet. — Sein eigener Styl war bestimmt, klar und grammatisch richtig; auch liebte er an Andern die höhere Fülle, Ründung und Kraft der stylistischen Darstellung, ohne sie doch selbst sich angeeignet zu haben. — Höchst genügsam und ein­ fach in seiner Lebensweise, war er ein guter Wirth, und in feinen häuslichen Finanzen geordnet, obgleich dieselben durch die Stürme der Kriege mehrmals be­ droht und erschüttert, und selbst außerdem vielfach in Anspruch genommen wurden. Seine Schriftstellerei war allerdings ergiebig; doch verstand er die-Kunst nicht, den Ertrag derselben, im Verhältnisse mit der Vermehrung seines literärischen Rufes, zu steigern. Seit dem Jahre 1806, wo er den Verfasser dieses Nekrologs in Wittenberg zum erstenmale be­ suchte, bestand zwischen uns ein ununterbrochener literärischer Verkehr. Unvergeßlich blieb mir seine freundliche Aufnahme in Halle im Juli 1815, das damals der Hof- und Medicinalrath D. Seiler und ich, als Deputirte der an Preußen im Wiener Frieden vom 18. Mai 1815 übergegangenen Uni­ versität Wittenberg, besuchten, nachdem im Monate Juni, bei unsrer dreiwöchentlichen Anwesenheit in Berlin, die provisorische Vereinigung der Hochschule Halle - Wittenberg beschlossen worden war. Selbst als ich im Herbste desselben Jahres dem Rufe auf die vaterländische Hochschule zu Leipzig folgte, be-



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stand fortwährend zwischen uns die vertraulichste Verbindung, die, während meines mehrwöchentlichen Ge­ brauches der Halle'schen Bäder im Sommer 1817, durch seinen fast täglichen Verkehr mit dem leiden­ den Freunde, erhöht und gesteigert ward. .In diesen Wochen war es, wo ich die Tiefe und Vielseitigkeit seiner Kenntnisse, die Unerschütterlichkeit seiner ge­ prüften Grundsätze als Redacteur und Schriftsteller, und die Anspruchslosigkeit, Reinheit und völlige Un­ eigennützigkeit seines Herzens in ihrem Umfange genau kennen, und ihn für immer achten und lieben lernte. Eine Folge davon war, daß, — als ich mit dem Jahre 1819 die Redaction der Werke aus den Gebieten der Geschichte, der Staaten-und Erd­ kunde, der Staatswissenschaften, der Erziehungs­ wissenschaft, der teutschen Sprache u. a. in der Leip­ ziger Literaturzeitung übernahm, — bei der nicht unbedeutenden Anzahl geachteter Mitarbeiter an bei­ den Instituten, wir beide jährlich einigemale mit einander über die Vertheilung der wichtigsten gelehr­ ten Erscheinungen an unsere Mitarbeiter unö be­ sprachen, um, mit strenger Gewissenhaftigkeit, zu verhüten, daß nicht ein und dasselbe Werk von uns, zufällig, Einem und demselben Gelehrten zugetheilt, und dadurch entweder die Stimme eines Einzelnen doppelt abgegeben, oder ein unabsichtlicher Aufent­ halt, durch die Ablehnung des dem Recensenten er­ theilten Auftrages an eines der beiden Institute, be­ wirkt würde. Ich kann, bei diesem neunjährigen, selbst für die Kritik nicht unwichtigen, Verkehre jetzt, nach seinem Tode, auf Manneswort bezeugen, daß er, bei seinen Vertheilungen kein anderes Interesse, als das reinwissenschastliche festhielt, und daß er eben so die literärischen Gevatterschaften, wie die, aus per-

225 sönllcher Abneigung der Recensenten gegen die Schrift­ steller nicht selten hervorgehenden, absprechendcn und leidenschaftlichen Beurtheilungen — so weit nämlich die persönlichen Verhältnisse zwischen den Schrift­ stellern und ihren auezuwählenden Recensenten zu unsrer Kenntniß gekommen waren — im Voraus zu beseitigen suchte. Doch entfiel ihm, bei solchen Gelegenheiten, freilich auch mancher Seufzer über die Masse des Mittelgutes, die mit jedem neuen Meßcataloge immer mehr anschwoll. Von seinen Lebensverhältnissen und von dem Gange seiner Schicksale, besonders in Hamburg, Jena und Halle, wird wahrscheinlich ein ausführli­ cher Nekrolog in der Lkteraturzeitung berichten, de­ ren Gehalt er, in Verbindung mit seinem Freunde, dem ehrwürdigen Veteran Schütz, nicht blos zu sichern, sondern auch zu erhöhen, und zeitgemäß fort­ zuführen verstand. Von seinen Schriften aber werden ihn seine höchst mühsam und gewissenhaft bearbeiteten drei Repertoria der Literatur für die 15 Jahre von 1785—1800, sein gelehr­ tes Frankreich (mit den beiden Nachträgen), sein treffliches Handbuch der teutschen Literatur seit der Mitte des achtzehnten Jahrhun­ derts in 4 Bänden (dessen zweite Auflage sehr vermehrt und vervollkommnet, von ihm selbst aber nicht ganz beendigt ward), seine Revision der (Lindnerschen) Fortsetzung von Meusels gelehrtem Teutschland, seine (im Jahre 1813 zur Antiquität gewordene) sehr sorgsam zusammengestellte Stati­ stik des Königreiches Westphalen, vor allem aber, seine in Verbindung mit Gruber begonnene, allgemeine Encyklopädie der Wissenschaf­ ten und Künste in alphabetischer Folge — Pili- verm. tzchr, Th. 2. 15



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dies Riesen- und Ehrenwerk teutscher Gründlichkeit und teutschen Fleißes — überleben. Wer, nach ei­ nem so reichen, dem Dienste der Wissenschaft und der Menschheit gewidmeten, Leben mit einem so ruhmvollen Namen auf die Nachwelt übergeht, wie E r sch; dessen Hinscheiden kann zwar von seinen Freunden lang und tief gefühlt werden, allein seinen Ehrenplatz in den Jahrbüchern der teutschen Litera­ tur kann keine Folgezeit ihm verkümmern.

12.

Nekrolog des Domherrn, Consistorialassessors, Professors der Theologie, und Superintenden­

ten Dr. Heinrich Gottlieb Tzschirner;

geb. zu

Mitweida am 14. Nov. 1778; gest, zu

Leipzig am 17. Febr. 1828. Bei der allgemeinen Trauer, welche Tzschirnerunerwarteter Tod nicht blos in Leipzig und Sachsen, sondern in ganz Teutschland bereitete, ist es wichtig, theils die entferntere, theils die nächste und unmit­ telbare Ursache seines frühzeitigen Hintritts genau zu kennen. Ich folge deshalb, bei der nachstehen­ den Mittheilung, der Ansicht des Hof- und Medicinalraths v. Claruö, der bereits vor einigen Jah­ ren, wo sich die ersten bedenklichen Symptome der chronischen Leiden TzschirnerS ankündigten, die Ur­ sache derselben weder in einer Vereiterung der Lun­ gen, noch in Brustwassersucht, sondern in einer Ver­ engung der Luftröhre und ihrer Aestesuchte. Diese Ansicht ward durch die Section bestätigt, wo zu beiden Seiten der Luftröhre, bei ihrem Eintritte in die Brusthöhle, zwei Balggeschwülste, eine von der Größe eines Borstorfer Apfels, die andere von der Größe eines Gänseei's, gefunden wurden, zwi­ schen welchen die Luftröhre, von ihrer geraden Rich­ tung nach rechts beträchtlich abweichend, Herabstieg, 15 •

228 und durch welche sie seitwärts zusammengedrückt und verengt ward» Diese Verengung der Luftröhre und ihrer Aeste ward übrigens noch beträchtlich vermehrt durch eine Verdickung der Schleimhaut dieses Kanals, eine Folge häufiger und chronischer Katar­ rhe. — Die letzte Krankheit Tzschi rnerö war eine katarrhalische Lungenentzündung (Bronchitis), deren regelmäßiger Verlauf und Krisis durch die angeführ­ ten organischen Uebel gestört oder unterbrochen ward, und zuletzt in ein nervöses Fieber überging. Der Tod selbst erfolgte durch Lungenlähmung und Steckfiuß. Es bleibe dem Nekrologe der Teutschen und an­ dern Blättern überlassen, über das äußere Leben des Verewigten ausführlich zu berichten; in diesen Nekrolog gehört zunächst die Andeutung dessen, was er als Gelehrter, als protestantischer Leh­ rer auf dem Katheder und der Kanzel, und als Schriftsteller war.

Tzschirner ward am 14. Nov. 1778 zu Mitweida, einer nicht unbedeutenden Gewerbsstadt im Leipziger Kreise des Königreiches Sachsen, gcbohren. Sein Vater, Anfangs Diaconus daselbst, rückte in der Folge in die Oberpredigerstelle auf. Noch schwebt dem Verfasser dieses Nekrologs das Bild dieses Man­ nes vor, der zu den vorzüglichern Kanzelrednern Sachsens in der damaligen Zeit gehörte; denn als solcher galt er, wenn er die in Sachsen gewöhnlichen Circularpredigten in der Hauptkirche zu Chemnitz vor seinem Ephorus, dem dasigen Superintendenten, D. Merkel, hielt. Von diesem Vater, und seiner Mutter, der er besonders viel verdankte, erhielt

229 Tzschirner die ersten Anregungm seines Geistes, so wie den ersten vorbereitenden Unterricht. Nach zurückgelegtem dreizehnten Jahre ward er in die gelehrte Schule zu Chemnitz ausgenommen. In dieser Stadt war es, wo er mit Bretsch neid er, Winzer, Neander (in Berlin), Facilideö (jetzt Sup. in Rochlitz) und andern aufblühcnden Jüng­ lingen in vertrauter Freundschaft lebte; auch schlossen er und ich, am 17. Trinitatissonntage 1794, wo er mich von Chemnitz aus in meinem Geburtsorte Ernst­ thal besucht hatte, den Bund der Freundschaft für die Dauer unsers Lebens. An der Spitze des Ly­ ceums zu Chemnitz stand damälö der Rector Rothe, ein Mann, der weniger durch die Lehrstunden, die er hielt, als durch den sichern Tact des Erziehers auf seine Zöglinge wirkte, nach welchem er ihren Geist aufzuregen, das erwachende Talent zu leiten und fortzubilden, die verschiedenen Ankündigungen desselben zu begünstigen, und es doch vor der Rich­ tung auf Extreme zu bewahren verstand. Der da­ malige Conrector Lessing — der jüngere Bruder eines Gelehrten, welchen Sachsen und Teutschland mit Stolz zu den ersten vaterländischen Schriftstel­ lern rechnet, — ermangelte zwar dieses pädagogi­ schen Tactes seines Collegen, blieb aber durch seine Kenntnisse, und durch seine wohlwollende Annähe­ rung an diejenigen Jünglinge, die sich auszeichneten, nicht ohne Einfluß auf die selbstthätige Entwickelung ihres Geistes. Dazu kam ein Ephorus der Schule, der Sup. D. Merkel, der in seiner Zeit zu den ausgezeichnetsten sächsischen Kanzelrednern gehörte, dessen Predigten nie von uns versäumt wurden, und der durch die Gediegenheit seiner Ausarbeitung, so wie durch die Vortrefflichkeit seiner Declamation

230 (einer Folge seiner tiefen Kenntniß der Tonkunst) frühzeitig in den studirenden Jünglingen den Sinn für stylistische und rednerische Darstellung aufregte. Eben so erregend und aufmunternd war sein Er­ scheinen als Ephorus in den beiden obern Klassen der gelehrten Schule. — Nächst den beiden ge­ nannten Lehrern erwarb sich auch der damals in Chemnitz als Hauslehrer lebende, und später als Rector und Professor an der Landschule zu Meißen angestillte, König, ein gründlicher und geschmack­ voller Philolog, durch seinen Unterricht Verdienst» um den verewigten Tzschirner. Mit dieser gründlichen Vorbereitung ausgestattet und für höheres geistiges Leben vielfach aufgeregt/ ward Tzschirner zu Ostern 1796 akademischer Bürger zu Leipzig. Beck und Hermann wurden in der Philologie, Wenck, Beck und Wieland in der Geschichte, Platner, Heydenreich, Cäsar und Carus in der Philosophie, Kühn öl und Rosenmüllev (der Orientalist) in den morgenlän­ dischen Sprachen, Keil, Rosenmüller (der Va­ ter), Tittmann, Beck und Burscher in der Theologie seine Lehrer. Zugleich nahm er an den philologischen Gesellschaften Becks, Tittmanns und Brehms Theil. Im Jahre 1799 bestand Tzschirner zu Dres­ den das theologische Candidatenepamen mit so vieler Auszeichnung, daß der Oberhofprediger Reinhard, welcher aufblühende Talente richtig zu würdigen ver­ stand, ihn veranlaßte, der akademischen Laufbahn — und namentlich in Wittenberg — sich zu widmen, wo der Kreis jüngerer Lehrer damals nicht so zahl­ reich war, wie in Leipzig. TzschirnerS eigene Neigung sprach für diesen Wirkungskreis. Er habi-

231 litirte sich daher im Februar 1800 zu Wittenberg, und erwarb sich, bald darauf, durch eine zweite Disputation, die Rechte eines AdjunctS der philoso­ phischen Facultät (der zu Wittenberg bestehenden Mittelstufe zwischen einem Privatdocenten und einem außerordentlichen Professor der Philosophie). Der Titel dieser Disputationen war: observationes Pauli Apostoli, epistolarum scriptoris, Ingenium concernentes. Vit. 1800. 4. Seine beginnenden aka­ demischen Vorträge, besonders über empirische Psy­ chologie, eine Wissenschaft, die ihn zu jener Zeit vorzugsweise beschäftigte, blieben nicht ohne Beifall, und damals schloß er, mit dem gleichzeitigen Adjuncce der philosophischen Facultät, Krug, der in der Folge nach Frankfurt an der Oder, Königsberg und Leipzig berufen ward, das Band inniger Freund­ schaft. Allein seine kaum begonnene Laufbahn als akademischer Lehrer ward durch die lebensgefährliche Erkrankung seines Vaters unterbrochen. Dieser wünschte vom Kirchenrache zu Dresden seinen Sohn als Amtsgehülfen, und erhielt ihn nach Ostern 1801. Als aber der Vater kurz darauf starb, ward Tzschirner zum Diaconus zu Mitweida ernannt. Vier Jahre verwaltete er dieses kirchliche Amt in der Mitte seiner Geburtsstadt; doch verband er damit das fortgesetzte Studium der Hähern theologischen Wissenschaften, wie seine damals erscheinende „Ge­ schichte der Apologetik" bewies, zu welcher der unvergeßliche Reinhard eine Vorrede schrieb, durch welche er Tzschirnern in den Kreis der gelehr­ ten Theologen einführte. In dem Jahre, wo dieses Werk erschien, starb in Wittenberg der Professor der Theologie, 1>. Dreöde, wodurch die vierte Lehrerstelle in der theologi-

232 schen Facuktät erledigt ward. Diese Facultät, und die Universität Wittenberg denominirten Tzschirnern, mit drei andern (Wunder, Manitius und Krause —• der letzte lebte damals in Naumburg) zum erledigten Amte, und Tzschirner ward in Dresden ernannt. Er hielt am 24. Trinitatiösonntage 1805, nach herkömmlicher Weise, die Liren» tiaten • Predigt in der Stadtkirche zu Wittenberg, colloquirte mit der theologischen Facultät, vertheidigte öffentlich seine Inauguraldiöputation: de dignitate hominis per religionem christi an am adserta et declarata, und erhielt am 2. Dec. 1805 (deky Tage der Schlacht bei Austerlitz) in der Universitäts­ kirche, mit der damals gewöhnlichen öffentlichen Feier­ lichkeit, die theologische Doctorwürde. — Das Pro­ gramm, womit er zur Antrittsrede seines Lehramtes einlud, handelte: de virtutum et vitiorum inter se cognatione in doctrina morum diligenthis explicanda. Diesen Stoff führte er später in einem besondern Werke aus. — Vier Jahre (bis Michaelis 1809) bekleidete er das Lehramt zu Wittenberg, wo er durch seine zahlreich besuchten Vorträge über philo­ sophische Religionslehre, Dogmatik, Kirchengeschichte u. a., so wie durch seine Disputatoria und andere Privatübungen, segensreich wirkte, und als Prediger gern gehört ward. Als aber im Jahre 1809, durch den Tod des Professors v. Wolf, in Leipzig die vierte theologi­ sche Lehrerstelle zur Erledigung kam, entsprach es seinen Wünschen, in die Reihe der Lehrer derjenigen Hochschule ausgenommen zu werden, welcher er seine frühere Bildung verdankte. Er gelangte, durch die Denomination der theologischen Facultät in Leipzig

233 und durch die Ernennung der höchsten Behörden zu Dresden, zu diesem Lehramts. Als disputatio proloco schrieb und vertheidigte er im Sept. 1809: de formis doctrinae theologorum evangelicorum dogmaticae distinguendis rite et aestimandis. — Durch die, zur Vorbereitung auf die Jubelfeier der Universität am 4. Dec. ihm übertra­ gene, Predigt am Tage vor dieser Feier in der Uni­ versitätskirche kündigte er sich als ausgezeichneter Kanzelredner an, so daß seine, seit dieser Zeit in der Univcrsitätekirche gehaltenen, Predigten sehr zahl­ reich besucht wurden. Dies war die Veranlassung, daß ihm — der bereits früher zum außerordentlichen Assessor im Consistonum zu Leipzig ernannt worden war, — von dem Magistrate (1814) das erledigte Archidiaconat an der Thomaskirche übertragen würd, das er am 3. Osterkage 1815 antrat. Allein noch in demselben Jahre folgte er dem (im März) ver­ ewigten Rosenmüller in den Aemtern als Pastor zu St. Thomas, als Superintendent der Leipziger Ephorie, und bald darauf auch als wirklicher Asses­ sor des Consistoriums. Durch das Aufrücken in die dritte theologische Professur ward er (1815) Canonicuö zu Zeitz, und nach Keile Tode (1818), bei dem Aufrücken in die zweite Lehrstelle seiner Facultät, Domherr zu Meißen. Schon seit seinem Ein­ tritte in das vierte theologische Lehramt war er zwei­ ter theologischer Ephoruö der königlichen Stipen­ diaten. Zwei, kurz nach seiner Versetzung nach Leipzig, erhaltene ehrenvolle Rufe nach Berlin und Jena lehnte er ab. — Im Jahre 1826 beehrte ihn der König von Dänemark mit dem Danebrogorden. — Vermählt war er zweimal. Seine erste Gattin, eine geborne Klotzsch aus Adelwitz, verlor

234 er nach elfjähriger Ehe, am zweiten Tage des Re­ formationsjubiläums im Jahre 1817. Seine zweite Gattin, eine gebohrne Schlemm aus Leipzig, be­ trauert, mit vier Kindern aus ihrer Ehe mit ihm (drei Töchtern und einem Sohne), den frühzeitigen

Verlust eines trefstichen Gatten und Vaters ihrer Kinder.

Viel verdankte Tzschirner der reichen Ausstat­ tung der Natur; viel seiner sorgfältigen häuslichen Erziehung; das meiste aber — wie bei allen aus, gezeichneten Männern — seiner eigenen selbstständigen Entwickelung und Fortbildung. In glücklichem Ebenmaaße standen bei ihm ein Heller leicht auffaffender, der schwierigsten und ver­ schiedenartigsten Stoffe schnell sich bemächtigender Verstand; eine lebendige, scharf unterscheidende Ur­ theilskraft , welche ihm die oft in Disputationen und Schriften von ihm gehandhabte Dialektrk erleichterte; eine, die höchsten metaphysischen Ideen mit reinem Interesse umschließende, Vernunft; ein sehr treues, und vielfach geübtes, Wort - und Sachgedächtniß, und eine, an sich schon reiche, aber durch das sorg­ fältigste Studium der classischen Dichter und Red­ ner alter und neuer Zeit zweckmäßig veredelte Ein­ bildungskraft, die ihn sehr frühzeitig zu mannigfal­ tigen Versuchen in der Dichtkunst veranlaßte. Nur aus dieser gleichmäßigen Bildung der verschiede­ nen Seelenkräfte läßt es sich erklären, wie Tzschir­ ner, in der Zeit seiner männlichen Gediegenheit und Reife, als Philolog, als Philosoph, als Geschichts­ forscher und Geschichtsschreiber, als geistlicher Red­ ner und als Stylist, gleichmäßig sich auszeichnete.

235 Schon kn den Jünglingsjahren war er den Elassi. kern der alten Welt innig befreundet; sein eigener Styl in der römischen Sprache trug nicht blos das Gepräge der Correctheit, sondern auch der Schön­ heit, weil Wohlklang der Rede, Gleichförmigkeit und Ründung des Periodenbaues, und selbst stylistischer Glanz von ihm, in römischer und teut­ scher Sprache, mit großer Sorgfalt berücksichtigt wurden. Denn nicht ohne wesentlichen Ein stuß auf seine geistige Richtung hatte er frühzeitig, neben den Classikern der Griechen und Römer, die classischen Dichter und Redner derTeutschen gelesen. Nach seiner Ueberzeugung bedurfte der richtige Begr iff und die großartige Idee auch einer schönen Hülle und einer nicht blos correcten, sondern zugleich eine r an­ sprechenden äußern Form der Darstellung. Die Schriften, die er schrieb, und namentlich die spä­ tern, wodurch er so mächtig auf seine Zeitgenossen wirkte, verdanken hauptsächlich dieser gediegenen und sorgfältig berechneten Form der Darstellung den tie­ fen Eindruck, den sie nicht blos auf den Gelehrtem, sondern auf alle gebildete Leser machten. Allein, nächst de/n frühern und gründlichen An­ baue der classischen Philologie, eröffnete sich sein Geist, in der vollkräftigen Zeit des akademischen Jugendlebens, dem Lichte der Philosophie. Viel hatten seine Lehrer in der Philosophie, Heyden­ reich und Platner, auf ihn gewirkt; Carus aber gab ihm die besondere Anregung für empiri­ sche Psychologie. Diese Wissenschaft war es, die ihn hauptsächlich als angehenden akademischen Lehrer in Wittenberg ansprach. Eine Folge der vielfachen Beschäftigung mit derselben waren: da­ neue Repertorium für empirische Psycho-

236 logte, das er, — damals in Mitweida lebend,— mit Mauchart herausgab; die (anonyme) Schrft: Leben und Ende merkwürdiger Selbstmör­ der, und seine gleichzeitigen Beiträge zum „Bio­ graph," der in Halle erschien, so roi'e mehrere an­ dere Abhandlungen in Zeitschriften. Selbst nach seiner Rückkehr nach Wittenberg (1805) blieb in ihm, während der ersten Zeit, diese vorherrschende Richtung, wie die beiden Schriften belegen: über den moralischen Jndifferentismuö, und über Die Verwandtschaft der Tugenden und L aster. Doch trat allmählig bei ihm die Psychologie et­ was 'in den Hintergrund, ob er ihr gleich als kirch­ licher Redner nie ganz untreu ward, als die Ge­ schichte in ihrer weitesten Bedeutung die Kraft seim.'S Geistes in Anspruch nahm. Bei Beck, unseri/r gemeinschaftlichen Lehrer, hatte er in der Welt-, K'wchen - und Dogmen - Geschichte die gründliche Vorschule der wichtigsten Theile der geschichtlichen Studien gemacht. Die von ihm in Mitweida be­ gonnene Geschichte dec Apologetik bewies, daß er frühzeitig erkannte, welche Gegenstände der Geschichte noch einer Monographie bedürften. ES ist zu bedauern, daß dieses Werk von ihm nicht fortgesetzt, oder richtiger, daß es in späterer Zeit nicht neu von ihm bearbeitet ward. Noch immer besteht diese Lücke in der kirchengeschichtlichen Li­ teratur. — Was aber in Wittenberg den Ausschlag über die Richtung seines Geistes auf das Gesammtgebiet der geschichtlichen Wissenschaften gab, war, daß er zu Ostern 1806 — im zweiten Halbjahre seines akademischen Wirkens — die Kirchenge­ schichte vorzutragen anfing, weil der ehrwürdige

237 Schröckh, dem sie bis dahin beinahe als Monopol in Wittenberg gehörte, damals bereits 73 Jahr alt war, und an Körperkraft alterte, während sein Geist die Frische behielt, das Hauptwerk seines rei­ chen Lebens, die christliche Kirchengeschichte in ihrer zweiten Abtheilung, welche die Kirchenge­ schichte seit der Reformation enthielt, bis zum Schlüsse des achten Bandes fortzusehen. Als darauf am 1. Aug. 1808 dieser Greis, nach einem langen, segensreichen und ruhmvollen Leben an den Folgen eines unglücklichen Schenkelbruches starb (ec stürzte von seiner Bücherluter am 25. Juli, dem Tage, wo er das 76ste Lebensjahr antrat, als er eben zum neunten Bande seiner Kirchengeschichte Elsners Geschichte der griechischen Kirche sich her­ ausgesucht hatte), war es Tzfchirner, der in Wittenberg mit großem Erfolge die geschichtlich­ theologischen Wissenschaften deckte, und in den bei­ den letzten Bänden (dem neunten und zehnten) der neuern Kirchengeschichte von Schröckh, sich selbst und dem hochverdienten Greise ein ehren­ volles Denkmal setzte. Denn mit Wahrheit und Treue schilderte Tzfchirner in der Zugabe zum zehnten Bande Schröckhs Verdienste als akade­ mischer Lehrer und als geschichtlicher Schriftsteller. Mit gleichmäßiger Berücksichtigung der Philo­ sophie, der Geschichte und der Schrifterklärung, hielt Tzfchirner bereits in Wittenberg vielbesuchte Vor­ träge über die christliche Dogmatik, in welcher er das Ergebniß seiner auf gründliche Philologie gestützten, exegetischen Untersuchungen (von den neuern Theologen biblische Theologie genannt), mit den sorgfältigsten geschichtlichen Forschungen über die Ausbildung des christlichen Lehrbegriffs in

238 den verschiedenen Jahrhunderten der christlichen Kir­ che, mit einer philosophischen Einleitung in die Wissenschaft selbst, und mit einer Epikrisis der dargestellten Dogmen verband. Wenn seine Vor­ träge über Dogmatik auf diesem Wege, ihrem Grund­ charakter nach, ein geschichtliches Gepräge er­ hielten; so bewahrte ihn zugleich diese Form des Vortrages eben so vor der Verirrung, wo mr, wie es der Verf. nennt, keines Vernunftrechks aus Begriffen. Sobald es sich aber um die Politik (Staatskunst) getheilt in die Verfassungs - und Ver-

305 «altungölehre, um das practische europäische Staats- und Völkerrecht, um die Staats­ wirthschaft, um die Finanz, und Polizei­ wissenschaft handelt; sobald hat der Vers, vollkommen Recht, daß diese Wissenschaften weder aus­ schließend aus Begriffen, noch ausschließend aus Thatsachen der Geschichte aufgeführt werden können. In allen diesen Theilen der Staatswissenschaft muß das Philosophische und Geschichtliche innig verbunden werden, und zwar so, daß in der Politik, in der Staatöwirthschaft, in der Finanz- und .Potizeiwissenschaft der Begriff das erste, und das geschicht­

liche das zweite (das Erläuternde, Versmstlichende), hingegen in dem praktischen europäischen' SkäatS« und Völkerrechte das Geschichtliche und Bestehende daS erste, und der Begriff das zweite ist. Mit Scharfsinn stellt darauf (S. 15.) der Verf. die Staatswissenschaft einzeln, zuerst aus den Thatsachen der Geschichte, sodann aus Vernunftgrundsähen, dar. Rec. kann, dä beide Wege vielfach von neuern Schriftstellern versucht worden sind, hier nicht in alles Einzelne des Vers, eingehen. Er findet alles, was der Verf. mit sieg­ reicher Gründlichkeit gegen v. Hallers „Restaura­ tion der Staatswissenschaft" aufstellt, sehr wahr, und wäre wohl begierig, zu vernehmen, was v. H a ller und seine Anhänger gegen die hier mit erschöpfender philosophischer Tiefe und mit ausgebreiteter geschichtlicher Sachkenntniß durchgeführte Widerlegung seiner irrigen Behauptungen vorbringen würden. Al­ lein mit gleicher Offenheit muß er sich gegen den Satz des Verf. erklären: „daß der Begriff des Staates den Begriff der Souverainetät vorausseHe, nämlich einer in allem, was die Pölitz verm. Schr. Lh. 2. 20

306 Erhaltung und Sicherstellung des Ganzen betrifft, gesetzgebenden und zwingenden Gewalt." Der Vcrf. hat schon in einer frühern Schrift geläugnet, daß der Staat, philosophisch betrachtet, auf Vertrag-beruhe, und wiederhohlt diesen Sah von neuem in der vorliegenden Schrift; er scheint sogar anzunehmen, als ob dieser politische Grundsatz erst von Rousseau herrühre. Es ist hier der Ort nicht, literärisch nachzuweisen, wie alt bereits dieser Saß in den Schriften der Staatsrechtslehrer sey; Henn sein Alter könnte nicht über seinen Werth entstWdstsn Eben so wenig stimmt Rec. mit Rouffean'-SvAmvendung dieses Satzes überein. Allein abusus non tvllit usuin. Wir fragen den Verf. als einen philosophischen Forscher: woher denn der begriff der Souverainetät stamme, wenn er beim Begriffe des Staats vorausgesetzt werde? Nach des Rec. Ansicht fetzt vielmehr der Begriff der Souverainetät den Begriff des Staates voraus; denn nur im Staate kann die Rede von Souverainetät seyn! Auß-erhalb des Staates — diesen entweder in der Idee, ober in der Wirklichkeit gedacht — ist Souverainetät ein Unding. Im Staate aber ist dem Rec. die Sou­ verainetät der In «begriff der gestimmten geisti­ gen und physischen Macht des Staatsvereins. Er ist nicht gemeint, damit der viel besprochenen, und viel gemißbrauchten, Idee der Volkssouverainetät das Wort zu reden; vielmehr ist, nach ihm, bei der vertragsmäßigen Entstehung des Staates, als eines Ganzen, in welchem die Herrschaft des Rechts, als der letzte Zweck desselben, und der gesetzlich (nicht willkührlich) vrganlsirte Zwang als das Mittel zur Erhaltung dieses Zweckes erscheint,

307 sogleich, km Augenblicke des Zusammentretens zum Staate, die Souverainetät vertragsmäßig in die Hand des Regenten niedergelegt, und dieser, als eine physische oder moralische Person gedacht, der Repräsentant (sinnliche Vertreter) der Svuverainetät des Staates, welchem, als solchem, Majestät zukommt. — Wie geschichtlich die Souverainetät entstanden sey, kann dabei nicht den Ausschlag geben; ohnedies ist der Begriff der Souverainetät um viele tausend Jahre jünger, als das erste Factum derselben in der Geschichte. Dazu kommt, daß, wenn man diesen Begriff ge­ schichtlich begründen will, die Geschichte sehr verschiedene Wege zeigt, auf welchen die Souverai­ netät gewonnen worden ist: Unterjochung und Ero­ berung, Usurpation u. s. w-, und nicht selten auch Vertrag. Da nun der Vers. selbst, als consequent philosophischer und geschichtlicher Forscher, die Eroberer und Usurpatoren, so wie alle durch Gewalt zur Souverainetät gelangte Herrscher in ihrem wah­ ren Lichte darstellt; so bleibt in der That, selbst geschichtlich, kein anderes rechtliches Mittel übrig, die Souverainetät zu erwerben, als Vertrag. Einen Geschichtskenner, wie den Vers., brauchen wir nicht an die tausend Thatsachen in der alten, mittleren und neueren Geschichte zu erinnern, wo die höchste Gewalt durch Wahl und Vertrag verliehen ward. Beruhte nicht selbst die erloschene Souverainetät eines römisch-teutschen Kaisers auf der feierlich beschwornen Wahlcapitulation? Wohin würde diese, wohin würden die pacta conventa der polnischen Könige, wohin die Thronbesteigungsacten in Ungarn, Böhmen und England u. s. w. gehören, als in die Reihe der Verträge? — Wäre der 20«

308 politische Lehrsatz falsch, daß die Souverainetät auf Vertrag beruhe; so müßten alle diese Kö­ nige und Kaiser illegitime Herrscher, folglich Usur­ patoren gewesen seyn. — Was aber die Geschichte in unzähligen Fällen lehrt und bestätigt, fordert auch das Vernunflrecht; ja selbst die eigene, so gründlich aufgestellte, Theorie des Vcrf. Jedem Vertrage gehen Zwangörechte und Zwangspflichten voraus; so auch dem Staatsvertrage. Mögen also auch, wie Rcc- nicht leugnet, sehr viele Staaten geschichtlich ohne Vertrag entstanden seyn; so bringt dies schon deshalb die Frage nicht zur Entscheidung, weil auch unzählige Staaten, und in ihnen die Souverainetät, wirklich auf Vertrag beruhten und noch beruhen. In der Vernunftidee ist nur der Vertrag die rechtliche Bedingung deö Staates und der Souverametät in demselben, und durch diese Idee werden alle Usurpatoren alter und neuer Zeit von dem Ge­ biete des Rechts ausgeschlossen. Auch meint Rec., daß die hohe Würde und Festigkeit der Souverai­ netät in den Augen edler Fürsten selbst am sichersten auf dem Vertrage beruhen müsse, der sie und ihr Volk unauflöslich verbindet, und das sittliche Band gegenseitiger Rechte und Pflichten ver­ mittelt. Wir wollen dabei den Verf. nicht an den von Friedrich 2. in seinen Schriften vielfach wiederhohlten Ausdruck: des gesellschaftlichen Vertrages, und an den, von diesem großen Kö­ nige (im -Theile 6. s. hinterl. Werke) selbst auf­ gestellten Ursprung der Souverainetät, wir wollen ihn nicht an die brittischen Grundverträge (bill of rights, und Act of Settlement), nicht an die vertragsmäßige Begründung mehrerer neuer Constitutionen, namentlich an die Würtembergt-

309 sche, Darmstädtische, Weimar'sche u. a. ec* innern. Allein fragen müssen wir 1) woher dec Vers, seine Theorie der Souverainetät entlehnt, wenn „der Begriff des Staats bereits den Begriff der Souverarnecät vorausseßt," und 2) wie seine Theorie sich zu allen, auf Verträgen beruhenden, Staatsformen und Souverainetätsrechten verhält?— Die Beantwortung dieser beiden Fragen hat Rec. in'der Schrift des Verf. vergeblich gesucht, und bevor er diese nicht befriedigend von dem Scharf­ sinne deö Verf. beantwortet findet, beharrt er bei feiner Ansicht, welche, — außer der Autorität der freisinnigsten Staatsrechtslehrer', •— die Conse­ quenz der Vernunft, und tausend Beispiele der al­ ten, mittlern und neuern Geschichte für sich hat. — Rec. würde bei diesem Gegenstände nicht so lan­ ge verweilt haben, wenn nicht der Verf. ein gründ­ licher philosophischer Forscher, und eben deshalb ein Mann wäre, dessen Lehren bald in die Systeme der Staatswissenschaft übergehen könnten. So viele Bestätigung und. selbst Bereicherung diese letzten durch den Verf. erhalten dürften, was Rec. am wenigsten bezweifelt; so geht doch eben auch daraus die Verpflichtung des Rec. hervor, da, wo er einen Saltus in concludendo, oder eine nicht begrün­ dete Prämisse wahrnahm, den V hören. — Daß aber der Wehrstand nicht beson­ ders vertreten werden könne, wie auch der Vers. (S. 103) lehrt, geht schon aus dem, in diesem Stande herrschenden, unbedingten Spbordinationsverhältniffe hervor. Uebrigens ist die von GörreS und Andern empfohlne Beschränkung der Standschast auf den sogenannten lehr-, Wehr, und Nähr­ stand, bei dem gegenwärtigen Zustande des innern politischen Lebens der Völker und Staaten, keiner ernsten Widerlegung werth. Die Stände des Vol­ kes nach d re fe m Sprachgebrauchs noch im neunzehnten Jahrhunderte einzutheilen, wäre eben dasselbe, als wenn man die Kochkunst und Feuerwerkkunst in der Aesthetik neben die Dichtkunst und Tonkunst stellen wollte! . Reo. erklärt es daher für einen folgenreichen po­ litischen Irrthum, wenn der Verf. (S- 104.) be­ hauptet: „Der Gekehrtenstand hat, wenn sei­ ne Mitglieder nicht Eigenthümer sind, kein Recht auf Ausübung politischer Rechte; ja es wäre in den meisten Fällen dem Ganzen nachtheilig, ihm solche einjtiräumen." Wie also, blos der Besitz einer gewissen Anzahl Aecker und Morgen

337 Landes, blos der Besitz einer großen Schafhecrde, blos der Besitz einer Fabrik, wo an hundert Tischen gearbeitet wird, blos der Besitz eines Gasthofes, wo zwanzig Kellner und dreißig wirkliche Dienstboten dem Hotelisten zu Geböte stehen ; blos diese geben das Recht auf Ausübung politischer Rechte? Wir dürfen einen Historiker, wie den Verf., an den erbärmlichen Zustand der europäischen Staaten seit dem dreißigjährigen Kriege bis zum Jahre 1740 wohl nicht erst erinnern, und ihm nachweisen, daß diese traurige Atonie des ganzen innern Volkslebens hauptsächlich in dem Drucke lag, der damals zu­ nächst auf dem dritten Stande und auf dem ge i-stigen Leben der Völker ruhte! Erst als mit Frie­ drichs 2. und Maria Theresia's Thronbestei­ gung das, bereits im Zeitalter der Kirchenverbefferung kräftig erwachte, dann aber, durch Ludwigs 14. fast über alle europäische Länder gebrachten Abso­ lutismus, unterdrückte, geistige Leben wieder aus seiner schmachvollen Erniedrigung gegen die Mitte des 1 Sten Jahrhunderts siegreich hervortrat; erst da begann von neuem der Wohlstand, die Kraft und das politische Gewicht der Staaten! — Mögen also auch einzelne überspannte und verirrte Mitglie­ der aus dem Kreise der Intelligenz, namentlich ein­ zelne überreizte und falsch geleitete Jünglinge (im Ganzen gewiß kaum Einer auf Tausend!) in neuern Zeiten den Widerwillen der Machthaber gegen die Intelligenz und die ängstliche Bewachung derselben bewirkt haben; so sollte man doch die Wenigen, welche entweder Mitleid und Verachtung, oder auch Ahndung verdienen, nicht für den ganzen ehrwürdi­ gen Stand selbst nehmen, welchem die Staaten Europa's ihre höhere Civilisation und ihren FortPölitz verm. Schr. Th. 2. 22

338 schritt in allen Theilen der Cultur verdanken, und ihn, auö kleinlicher Furcht, von der Standschaft aus­ schließen wollen. Vielmehr würde diese Exklusion den gelehrten und Beamten-Stand allmahlig ganz von den übrigen repräsentirten Ständen des Volkes trennen, und ihn nicht nur in eine völlig passive, sondern oft auch — weil unverdiente Zurück­ setzung nothwendig Kälte, Gleichgültigkeit und Erbit­ terung erregt, — in eine feindliche Stellung gegen die übrigen Stände des Volkes bringen. Oder be­ dürfen die Machthaber, so geistreich sie auch seyn mögen , der Intelligenz so wenig? Hoffen sie mit denFabrikanten und Bauern, wenn sie diese in ihre Rahe ziehen, weiter zu konmmen , und durch sie die Zwecke des Staates besser zu fördern, als durch die Intelligenz? Und doch konnte, der Verf. nur unter der Bedingung dem Gelehrten und Staatsdiener die Standschaft bewilligen wollen (S. 106), wenn er durch liegende Gründe selbststän; düg würde! Ein Philosoph, von dem Geiste des Verf, weiß von selbst, daß die geistige und sitt­ liche Selbstständigkeit des Staatsbürgers nicht ; an Hufe und hohe Steuerquote gebunden ist, und daß die Intelligenz für den Staat, besonders in entscheidenden Augenblicken, weit wichtiger wird, als die Besitzer von Feld, Viehstand, Häusern und Fa­ briken. Nicht selten haben eben diese, in den Au­ genblicken der Gefahr, dem fremden Sieger am schnellsten gehuldiget, um ihres Eigenthums sich zu versichern. Deshalb genügt es uns nicht, wenn wir es gleich mit Dank annehmen, daß der Verf. (S. 106) den Gelehrten „einen Einfluß und ein ssetes Einwirken auf die öffentliche Meinung durch die Gewalt der freien Schrift und der freien

339 Rede" zugesteht, das ihnen, bei der gegenwärtigen Einrichtung des Buchhandels, wohl nicht einmal ver­ kümmert, geschweige als ein Ersatz für die ihnen verweigerte, dagegen aber dem Rittergutsbesitzer, dem Manufacturisten und dem Bauer mit zuvorkom­ mender Freigebigkeit zugesprochene, Berechtigung zur Skandschaft betrachtet werden kann. Rec. glaubt fest, daß eine gerechte und zeitgemäße Regierung bes­ ser thue, mit der Intelligenz, als ohne sie zu regieren! Uebrigens mag die neueste Geschichte entscheiden, ob die großen politischen Veränderungen in Frankreich, in Polen und in andern europäischen Reichen zunächst von der Intelligenz, oder zunächst von den Capitalisten (wie in Frankreich), von dem Militair (wie in Spanien- Portugal, Neapel, Pie­ mont), oder von der Geistlichkeit (wie |tn Belgien) ausgegangen sind! Nach dem Rec. würde eine zeitgemäße Standschäft aus vier Classen bestehen: 1) aus den großen Grundeigenthümern, 2) aus den kleinen Grundeigenthümern oder dem Stande des Land­ mannes; 3) aus den Vertretern des städtischen Ge­ werbsfieißes und des Handels; 4) aus den Vertre­ tern des geistigen Lebens, inwiefem diese, sogar für die Freunde des historischen Rechts, nur als eine zeitgemäße Erweiterung der altteutfchen Vertretung der Prälaten und des geistlichen Stan­ des erscheinen würden. Auf diese Weise würde die Gegenwart gestützt auf die geschichtliche Unterlage des Staatölebens, an die Vergangenheit sich anschließen, und die neugestaltete Volksvertretung, wie der Derf. mit Recht verlangt, auf der geschicht­ lichen Unterlage der Vorzeit ruhen, weil in unsern Tagen nicht mehr, wie im Mittelalter, die 22*

340 Geistlichkeit allein im Besitze der Intelligenz steht, und alle selbstständige Interessen im Staate ihre besondere und eigenthümliche Vertretung verlangen. Erklärt doch der Vers, selbst (S. Hl), daß eine wahre Nationalvertretung nur da stattfinde, wo alte Interessen vertreten werden! Ueber das Prin­ cip und den Zweck der Vertretung wäre also Rec. mit ihm einig; nur in Hinsicht der Mittel denkt sich Rec. die materiellen und geistigen Interessen |m Staate in unzertrennlicher Verbindung und Wechselwirkung, und also auch gleichmäßig be­ rechtigt zur Vertretung! — Wie tief der politische Blick des Vers, das in­ nere Leben der Völker und die daraus hervorgehen­ den Bedürfnisse für eine zweckmäßige Repräsentation erforschte, erhellt, daraus (S. 112); daß er die Begründung von Städtegemeinden-und Pro­ vinzialständen, vor der Errichtung von Natio­ nalständen, verlangt. In dieser Hinsicht hat Rec. schon längst das Verdienstliche der neuen Constitu­ tion des Königreiches der Niederlande vom 24. Aug. 1815 anerkannt; und Bayern und Würtemberg ließen, ausgehend von demselben Gesichtspuncte, die neuen Verfassungen erst der vorher bekannt gemach­ ten neuen Gemeindeordnung folgen. So wie in der Natur keine Lücke, kein Sprung getroffen wird; so soll auch im Staatsorganismus von den untersten Elementen des gesellschaftlichen Lebens in der einzelnen Gemeinde, bis hinauf zur völlig aus­ gebildeten Nationalstandschaft, alles in nothwendiger Verbindung stehen. Wir stimmen daher dem Verf. bei, wenn ec sagt (S. 113): „Reichsstände, die nicht aus Provinzialständen hervorgingen, und nicht mit solchen zusammen hängen, würden nicht mehr

341 Bestand haben, als ein Baum ohne Wurzel." Nur müssen, wenn dies alles zweckmäßig in einander eingreifen soll, die Provinzialstände nach dem­ selben Maasstabe und politischen Grund­ charakter im Kleinen, wie die Nationalstände im Großen begründet werden. Das Ganze muß zu gleicher Zeit ins Leben treten; wenigstens muß der Plan einer neuen und allgemeinen Staats-Ver­ fassung die Provinzial- und Nationalstände, urtb ihr gegenseitiges Verhältniß, als nothwendige Theile Eines Ganzen gleichmäßig umschließen. Rec. kann von diesem wichtigen Theile des Wer­ kes sich nicht trennen, ohne mit Bedauern zu bemer­ ken, daß der Verf. einige sehr wichtige Gegenstände nicht berührte, über welchen wir wohl den Philo­ sophen und Historiker zugluch hätten hören mögen. Wir rechnen dahin: die bestimmt ausgesprochene Classification der Stände; das Wahlge­ setz; das Verhältniß der Zahl der Provinzial-und der Nationalstände zur Bevölkerung; den Umfang der Rechte der Provinzial - und Nationalstände, namentlich in Hinsicht des Antheils an der Ge­ setzgebung, und an der Besteuerung; die Unverletzlichkeit der Stände; die Zeit, Dauer und den Geschäftsgang bei ihrer Versammlung; die Stellung der Minister'und des Staats­ raths zu den Nationalständen; die Verantwort­ lichkeit aller Mitglieder der vollziehenden Behör­ den; die zeitgemäße Gestaltung der Gerechtig­ keitspflege, der Polizei, des Finanz- und Kriegswesens u. s. w. Man kann, nach Rec. Ermessen, unmöglich über die Formen des Staates in abstracto genügen, wenn man auch nicht in concreto die Anwendbarkeit der aufgestell-

342 ten politischen Grundsätze in den genannten Puncten bewährt! III. Ueber die bewegenden Principien deö Staates. Rec. kann bei der Darstellung und Prüfung diesis dritten Abschnittes kurz seyn. Denn ob er gleich versichern darf, daß auch hier philoso­ phischer Geist und geschichtliche Kunde vereinigt er­ scheinen, uüd daß einzelne Theile und Gegenstände den Leser unwitlkührlich ansprechen werden; so hatte er doch im Ganzen unter der bedeutungsvollen Auf­ schrift noch mehr erwartet, als er hier findet. Wie viel ließe sich, bei den bewegenden Principien des Staates, über das Verhältniß der Erziehung (welche ganz fehlt) der Religion, der Wissenschaft, der Kunst, der Gesetzgebung, der GerechtigkeiSpstege, der Polizei u. s. w. zur Entwickelung und Erkräftigung deö Nationalcharakters und des GemeingeisteS sagen; wie ließe sich hier so andringend die „Gewalt des freien Wortes und der freien Schrift" auf die öffentliche Meinung, mit belehrenden ge­ schichtlichen Winken über ihre Licht- und Schatten­ seite in fortschreitenden und in veralteten und sinken­ den Staaken, schildern! Wie reich ist doch die Geschichte, wenn man sie nach ihrem Geiste auf­ faßt, an Belegen und Beispielen für die bewegen­ den Principien im Staate! Allein der Verf. hebt wieder mit philosophischen Aphorismen an, welche an sich scharfsinnig gedacht und lesenöwerth sind, welche aber theils das schon Gesagte (z. B. über den Zweck des Saateö) wie­ derhohlen, theils fast von selbst aus den bereits aus­ gestellten Grundsätzen für jeden Hellen Kopf sich er­ geben; z. B. wenn er (S. 126) sagt: „daß der Geist einer Regierung durch die Maximen bestimmt

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werde, nach welchen sie in ihren öffentlichen Ver­ handlungen verfahre; daß das bewegende Princip des Staates von den Gesinnungen und Triebfedern (von diesen allein?) abhänge, die in einem Volke vorherrschen; daß die eingeführten Formen, nach welchen die Staatsgewalt getheilt und gestaltet ist, über die Natur der Verfassung entscheiden" u. s. w» Dann prüft er sehr ausführlich die geistvolle, aber allerdings einseitige, und seit der Praxis der letzten 30 Jahre hinreichend als mangelhaft erkannte, Lehre MonteSquieu'S, nach welcher dieser, mit Ueber« gehung der gemischten und zusammengesetz ­ ten Verfassungen, die demokratische, ari­ stokratische, monarchische und. despotische Verfassung und Regierungeform als die einzig- ge­ schichtlich bestehenden aufstellte, und jeder derselben in der Tugend, in der Mäßigung, in der Ehre und in der Furcht ein eigenthümliches bewegendes Princip gab. Rec. tritt, in dieser ausführlichen Erörterung, und besonders in der kräftigen Schil­ derung des Despotismus, welchen der Verf. (S. 133),,keine Staats form, sondern eine Krank­ heit des Staates" nennt, so wie in seinen sehe Hellen Urtheilen über die Fehlerhaftigkeit der haußgen Belohnungen im Staate (S. 135) unbe­ dingt dem Verf. bei, und unterschreibt den so leicht zu vergessenden Grundsatz (S. 137): „Mäßigung ist die Hauptpflicht aller Regierungen, die erste Bedingung ihrer Sicherheit und ihrer zweckmäßigen Wirksamkeit." Dieser Grund­ satz sollte in goldene Buchstaben in jedem Sitzungs­ saals hängen, wo man in dem raschen und in dem zu vielen Regieren die ganze Aufgabe der Regierung sucht, und, unbekannt mit dem Geiste des

344 Volkes, denselben durch Mangel an Mäßigung fich entfremdet. — Wenn aber (S. 139) der Vers, behauptet, daß alle monarchische Staaten Europas aus der Feudalverfassung Hervorgegangen wä­ ren; so hat er, im Augenblicke des Niederschreibens, den ursprünglichen Charakter der Slaven­ staaten vergessen! Nur von den Staaten germa­ nischen Stammes gilt im eigentlichen Sinne seine Behauptung! Daß er aber nicht vergeblich im )Duche der Ge­ schichte las, beweiset (S-142) der Ausspruch: ,,So lange die öffentliche Meinung sich von aller fremdartigen Mischung frei halt, und weder von den Leidenschaften getrübt, noch von den Lastern ver­ fälscht, noch durch Trugschlüsse des Verstandes von ihrer wahren Richtung gewichen ist, ist sie beinahe (warum nur beinahe? in dem Ausspruche: vox populi, vox Dei! liegt keine Restriktion!) der Ausspruch der Vernunft und der Gerechtigkeit selbst, mit ihnen gleichlautend und identisch." Gewiß, als .die öffentliche Meinung in Teutschland gegen Napo­ leons Zwingherrschaft sich erklärte, war sie mehr, als blos beinahe, der Ausspruch der Vernunft und der Gerechtigkeit! — Eben so ansprechend sind die Sähe (S. 144): „daß die Macht eines Staates nicht nach Areal, Bevölkerung und Staatseinkünf­ ten berechnet werden müsse (mens agitat moleml); (S. 145) daß es nur da einen Gemeinsinn ge­ be, wo es ein wirkliches Gemeinwesen giebt; und (S. 146) daß das Gemeinwesen nur da sich zeigen und ausbilden könne, wo Alles des Volkes wegen gedacht und gethan wird." — Gewiß wer­ ben ihm alle Preußen dafür danken, daß er (S. 147) in Beziehung auf die politische Tugend des Gemein-

345 firmes in diesem Staate ausdrücklich sagt; „wie kann* ten wir daran zweifeln, die in dm letzten Jahren die Wunder des Gemeinsinnes gesehen, getheilt, und der erstaunten Welt gezeigt haben!" nnd daß er (S. 148) durch eine „vernünftige Preß- und RedeFreiheit einem jeden erlaubt, über alle Gegenstände, die mit dem Gemeinsinne Zusammenhängen, sich be­ scheiden und besonnen, aber frei und unumwun­ den auszulassen!" Denn nach solchen Grundsätzen schuf Friedrich 2. das Gebäude der politischen Größe Preußens! dirs bezeugen sein Antimacchkavek, und seine hinterlassenen Werke. Noch empfiehlt Rec. seinen Lesern des Verf. scharfes und wahres Urtheil (S. 160) über Sparta's fehlerhafte Verfassung, die einen „glänzenden, aber sehr usurpirten Ruf" hat, und blos darauf berechnet war, ein „Soldatenvolk" zu bilden. — Stimmt gleich übrigens Rec. mit dem Verf. (S. 168), in Hinsicht der Stellung der Kirche zum Staate, nicht überein, wo der Verf. für das sogenannte Coordinations- oder CollegialSystem, Rec. aber, als Protestant, für das Territoriqlsystem sich erklärt; so achtet er doch die Worte der Weihe und der Kraft, welche der 83erf. über den Einfluß der Religion selbst auf die Ver­ edelung des gesammten Staatslebens ausspricht. Rec. trennt sich von dem Verf. mit erneuerter Anerkennung seiner schriftstellerischen Verdienste, und glaubt, in seiner Prüfung dieses, besonders in dem gegmwärtigen Zeitpuncte interessanten, Werkes einen reinen Beweis seiner Achtung gegen den Verf. ge­ geben zu haben. Denn die Wahrheit, nach der je­ der Forscher mit redlichem Bewußtseyn strebt, kann nur durch freie und besonnene Prüfung aufgestellter

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Lehren, verbunden mit der persönlichen Hochachtung gegen den Schriftsteller selbst, gewinnen, und na­ mentlich die Wahrheit in dem, noch viel zu wenig zur innern Einheit verbundenen, Gebiete der Staatöwissenschaft!

B) Predigten, gehalten von Heinrich Gott­ lieb Tzschirner, Dr. und Prof, der Theol. und Sup. zu Leipzig. Aus besten hinterlassenen Hand­ schriften herausgegeben von Johann David Goldhorn, Dr. und Prof, der Theol. und Archidiac. zu Leipzig. Erster Band. Die Jahre 1817-1819. XL u. 391 S. 1828. — Zwei­ ter Band. Die Jahre 1820 —1823. IV und 362 S. — Dritter Band. Die Jahre 1824—1828. IV u.434 S. gr. 8. Leipz., bei Hinrichs. Es giebt Männer,

an deren schriftstellerische Er­

zeugnisse man den höchsten Maaßstab legen kann, ohne daß man befürchten darf, sie würden dabei ver­ lieren. Dies sind die Classiker bei den gebildeten Völkern des Alterthums und der neuen Zeit. Zwar bleiben sie hinter dem Ideale, das die Theorie auf­ stellt, in demselben Sinne zurück, wie die Mensch­ heit selbst hinter dem Ideale der Sittlichkeit, welches die Vernunft in dem Sittengesehe für alle vernünf­ tig-sinnliche Wesen aufstellt; allein auch die Annä­ herung an das Ideal der Classicität hat Grade und Stufen, in Beziehung auf das Wie? und bis wie weit der Annäherung, noch abgesehen von dem ei­ genthümlichen Charakter der Classicität inderSpra-

*) erschien in der Hall e'schen Lil. Zeit. 1828.

347 che der Dichtkunst, der Prosa und der Be­ redsamkeit. Denn so gewiß alle Kenner der va­ terländischen Literatur darin übereinstimmcn, daß Klopstock, Lessing^Schlözer, Jerusalem, Engel, Garve, Spittler, Johannes v. Müller, Zollikofer, Fr. V. Reinhard, Schiller (um absichtlich keinen lebenden zu nennen), zu den Elassikern unserer Nation gehören; so sind doch die genannten Schriftsteller, theils als Dichter, Prosaiker imb Redner sehr bedeutend von einander verschieden, theils behauptete ihre Individualität ei­ nen entscheidenden Einstuß auf das Wie? ihrer Classtcität, d. h. auf die Art und Weise, wie sie dem von ihnen behandelten und gestalteten Stoffe in Hinsicht der Form das Gepräge der Clafsicität ertheilten. Doch geht Rec. in, diese Vorfragen nicht weiter ein, weil, namentlich, in Beziehung auf die Sprache der Beredsamkeit, ein Gelehrter, der selbst über diese Sprache gebietet, der Geh. Kirchen­ rath Schott in Jena, erst neuerlich diesen Gegen­ stand in s. Schrift: „die Theorie der redne­ rischen Schreibart und des äußern Vor­ trages, mit besonderer Hinsicht auf geist­ liche Reden, (Leipzig 1828)" meisterhaft behandelte und erschöpfend durchführte. Wer dieses gediegene Werk nach seinen Grundsätzen, und nach der An­ wendung dieser Grundsätze auf die geistliche Bered­ samkeit sorgfältig prüft, und dessen Lehren sich an­ eignet; der wird kein Bedenken finden, dem Rec. in seinen Urtheilen über Tzschirner'e homiletischen Nachlaß beizusiimmen. Denn mit voller Ueberzeu­ gung rechnet Rec. den verewigten Tzschirner zu den Elassikern unsrer Nation in der Sprache der geistlichen Beredsamkeit. Zwar wird Rec. es

348 nicht verhehlen, wo ev einzelne Unvollkommenheiten in den geistlichen Reden de- Verewigten aufgefun­ den zu haben glaubt. Wenn aber einzelne Flecken von der Classicität ausschließen sollten; wem möchte dann der Ehrenplatz in der Reihe der Clasfcker zu? gesprochen werden! Der Redner, der zu dem Bewußtseyn seiner hohen Bestimmung sich erhebt, weiß es, daß er nicht zunächst belehren soll, wie der Prosaiker; daß er aber auch nicht zunächst das Gefühlsvermögen be­ wegen und erschüttern und die Einbildungskraft in ein freies Spiel versetzen soll, wie der Dichter; daß er vielmehr an den Willen, an das Bestrebungs­ vermögen seiner Zuhörer sich wenden muß, um die­ ses zu Entschlüßen und zu Handlungen aufzuregen, bieder Redner beabsichtigt. Dies ist die große Aufgabe des geistlichen und des weltlichen Redners, wodurch aber keinesweges die Belehrung über den, dem Willen vorzuhaltcnden, Gegenstand, und die Belebung des Gefühlsvermögens und der Einbil­ dungskraft von der Aufgabe des Redners ausgeschlos­ sen wird. Denn nur das wird bei der Sprache der Beredsamkeit als der Punct der Entscheidung angenommen, daß jede geistliche oder weltliche Rede, die blos belehrt, oder die ausschließend auf die Gefühle berechnet wird, ohne den Willen anzure­ gen, und ohne Entschlüße und Handlungen vorzu­ bereiten und zu veranlaßen, wohl eine gutgeschrie­ bene prosaische Abhandlung, oder ein Abstecher aus der Rhetorik ins Gebiet der Dichtkunst, nicht aber ein Erzeugniß der eigenthümlichen und selbstständigen Sprache der Beredsamkeit seyn kann. — Es ist hier nicht der Ort, diese theoretischen Grundsätze weiter auszuführen; allein ihre Andeutung gehörte hieher.

349 weil — wie man 'auch die Grenze der Sprache der Beredsamkeit gegen die Sprache der Prosa und Dichtkunst - bestimmen mag — doch darüber kein Zweifel seyn kann, daß Demosthenes, Jsokrates, Cicero, Pitt, Burke, Fox, Sheridan, Canning, Massillon, Bourdaloue, Flechier, Tillotson, Saurin, Luther, Mosheim, Joh. Andr. Cramer, Zollikofer, Reinhard, Marez oll u. a. weder Prosaiker, noch Dichter,— sondern Redner waren. Es würde zu ive.t führen, wenn wir hier auf die große Verschiedenheit zwischen der geistlichen und weltlichen Beredsamkeit ein­ gehen wollten, obgleich beide, an sich betrachtet, nur die Untertheile Einer und derselben Form der Dar­ stellung sind; allein zwei Bemerkungen dürfen wir nicht übergehen, die wesentlich hieher gehören: die eine, daß der Redner nicht blos überreden, sondern überzeugen, nicht blos durch rednerische Künste täuschen oder glänzen, sondern daß er — selbst über­ zeugt und durchdrungen von der religiösen und poli­ tischen Wahrheit, die er vorträgt — den bleibendsten Eindruck auf den Willen der Zuhörer hervorbringcn soll; — die zweite, daß die Classicität in der Sprache der Beredsamkeit weit schwieri­ ger ist, als in der Sprache der Prosa und in der Sprache der Dichtkunst, weil sie die Gesammtheit der geistigen Vermögen in Anspruch nimmt; weil sie folglich bei dem Redner selbst die gleichmäßige Bildung der Gesammtheit seiner geistigen Vermö­ gen voraussetzt, und nicht, wie bei dem Prosaiker, zunächst die Bildung des Vorstellungsvermögens, oder, wie bei dem Dichter, die hervorstechende Bil­ dung des Gefühlsvermögens und der Einbildungs­ kraft verlangt, — und weil alle Erzeugnisse der

350 Sprache der Beredsamkeit zugleich auf mündli­ chen Vortrag — mithin auf eine, dem dargestell­ ten Stoffe angemessene Declamation und Gesticulation — berechnet sind. Wie schwer daher überhaupt die Aufgabe des Redners, wie eigenthümlich der Kreis seiner öffent­ lichen Wirksamkeit, wie ehrenvoll seine Bestimmung, und wie erfolgreich, ja selbst glänzend, die Ausübung seiner Kunst sey; das ergiebt sich aus den Forderun­ gen, die wir mit unnachlaßlicher Strenge an den wahren Redner machen. — Wir verlangen von ihm einen seltenen Reichthum der geistigen Anlagen und Kräfte, und namentlich eine gleich­ mäßige Entwickelung und Bildung des Vorstellungs-, des Gefühls- und des BestvebungSvermögenS, mit Einschluß des Wortund Sach-Gedächtnisses, so wie der Einbildungs­ kraft; wir verlangen ferner von dem Redner eine gründliche Bekanntschaft mit der Philoso­ phie, nicht nach dem Schulstaube dieses oder jenes Systems, sondern nach dem Eindringen in den Geist der wahren Philosophie, welche eben so zu den höch­ sten metaphysischen Ideen aufsteigt/ wie sie den wei­ ten Kreis der menschlichen Rechte und Pfiichten, und den noch weitern Kreis der individuellen Ankün­ digungen in der Wirklichkeit, nach den Grundsätzen einer geläuterten empirischen Psychologie, umschließt; wir verlangen weiter eine tiefe und vertraute Kennt­ niß der Geschichte, weil die Menschen, wie sie sind und seyn sollen, im Spiegel der Vergangenheit am bestimmtesten wahrgcnommen werden, und weil die Versinnlichung, welche die Geschichte für die Lehren, Forderungen, Warnungen, Zurechtweisungen, Ermunterungen und Tröstungen des wahren Redners

351 aufstellt, am tiefsten auf das Gemüth der Zuhörer wirkt; wir verlangen sodann ein sorgfältiges Stu« dium der classischen Redner des Alter­ thums, weil sie, wie in allem Classischen, so auch in der Sprache der Beredsamkeit, die ewig gelten­ den Muster der Nachahmung bleiben, so wesentlich verschieden auch in jeder andern Hinsicht die Welt der Gegenwart von der Welt des Alterthums sich ankündigt; wir verlangen weiter, daß der Redner des Gebietes und Geistes der Sprache, in welcher er spricht, völlig sich bemächtigt habe, wohin wir Kenntniß der Grammatik, der Theorie des Styls, des Periodenbaues, und selbst die Kenntniß der eigenthümlichen musikalischen Gesetze einer gegebenen Sprache, in Hinsicht auf die Aufeinander­ folge und Verbindung der einzelnen Wörter, Säße und Perioden, nach den Bedingungen des äußern Wohlklanges und der Declamatoin, rechnen; so wie wir endlich verlangen, daß der Redner die Classiker in seiner Sprache, die ihm den Weg bahnten, voll­ ständig kenne., deren Geist erfaßt und die Eigen­ thümlichkeit verstanden habe, wodurch ihnen von Mit­ zeit und Nachwelt die ehrenvolle Stelle in der Reihe der volksthümlichen Classiker angewiesen ward. Mit diesen Bedingungen fordern wir allerdings viel von dem Redner; allein wir können durchaus keine dieser Bedingungen abhandeln lassen, wenn von Classicität die Rede seyn soll. Es ist zwar wahr, daß, wenn wir den aufgestellten Maassiab mit kritischer Strenge an die Redner der teutschen Nation, und namentlich an die geistlichen Redner derselben, anlegen, der Kreis derselben kleiner wird, als mancher Homilet an seinem Schreibetische denkt, der durch die Gutmüthigkeit eines Verlegers einige

352 Bände sogenannter geistlicher Reden unter den Preß­ bengel und auf den literarischen Markt brachte^ doch geht durch die Verminderung der Zahl der clasfischen Redner für die gute Sache der Classicität selbst nichts verloren; es wird vielmehr für dieselbe gewonnen. Dabei sey überhaupt die Bemerkung erlaubt, daß — weil fast in keinem Gebiete schrift­ stellerischer Thätigkeit die Fruchtbarkeit größer ist, qls in dem homiletischen — die Kritik eben in diesem Fache mit weit mehr Strenge geübt wer­ den sollte, als bisher; theils weil die rationes niisericordiae nirgends am Unrechtem Orte angebracht werden, als hier; theils damit die große Masse des Mittelgutes in diesem Felde sich vermindere, und der gesunde und kräftige Sinn unsers Volkes zunächst an den wahren und entschtedenen Classikern der Teut­ schen sich aufrichte und erstarke, damit allmählig — wie Göthe, Schiller, Wieland, Lessing u. a. in die Hande aller Stände unsers Volkes überge­ gangen sind — auch geistliche Redner, wie Zollikofer, Reinhard, Marezoll, Tzschirner ü. a. in wohlfeilen Ausgaben die Ehre und der Stolz der gebildeten Classen unsers Volkes werden und bleiben mögen. Absichtlich hat Rec. keines noch lebenden teut­ schen Kanzelredners gedacht, so willig er auch die großen rednerischen Verdienste seiner Zeitgenossen— Ammon's, Bretschneider's, Röhr's, Schleiermacher's, SchmalH, Schott's, Schuderoff'S, Zimmermann'S u. a. — anerkennt. Ueber ihre Stelle in der Reihe der Clafsiker kann erst nach ih­ rem Tode entschieden werden; denn nemo ante mortem beatus. Von den ältern und ersten aus­ gezeichneten Kanzelrednern der Teutschen (z. B. von

353 Luther, Mosheim, Jerusalem, Cramer, Teller, Sack, Spaltung, Münte»/ Lavater, Löffker, Herder, Henke u. a.) dürfte aber nur eine Auswahl des Besten und Gediegensten aus ihren Predigten für den Bedarf unsers Zeital­ ters rathsam seyn; theils weil die vaterländische Sprache in ihrer Zeit verhältnißmäßig noch zu wenig durchgebildet, theils ihr Geist noch nicht ver­ mittelst der Philosophie und Geschichte zu d e m Grade der Reife gelangt war, daß sie vollgültig und durchgehends als Clafsiker aufgestellt werden könnten. So wie die Sprachen Griechenlands und Roms ihren Höhepunct hatten, auf welchem ihre Clafsiker erschienen, hie als Muster für alle Zeiten gelten; so auch — verhältnißmäßig — die neuern Sprachen. Denn bei allen Veränderungen, welchen die lebenden Sprachen eben so unterworfen find, wie die Völker, die fie sprechen, giebt es doch ein unveränderliches Gesetz der Form (wie für die freien Handlungen ein Sittengesetz), welches als fester Maasstab des Classischen gilt, und nach dessen For­ derungen an jedes styltstisches Erzeugniß der Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit entschieden werden kann, ob der Schriftsteller Anspruch auf den Ehrenplatz in der Reihe der volksthümlichen Clafsiker hat, oder nicht. — Hier gilt es nun der Frage: hat der frühzeitig verewigte Tzschirner das Recht auf eine Stelle unter den classischen Kanzelrednern des teutschen Vol­ kes? — Gelten die von dem Rec oben ausgestellten Bedingungen der Classicität; so kann über die Ant­ wort kein Zweifel vorwalten. Denn daß Tzschie­ ne r überhaupt einen seltenen Reichthum geistiger An­ lagen und Kräfte, so wie eine vielseitige und Pölitz verm. S^r. JV's 2, 23

354 gleichmäßige Bildung derselben besaß; das dürf­ ten wohl selbst seine Gegner nicht in Abrede stellen, und seine Schriften in den verschiedensten Gebieten und Zweigen des menschlichen Wissens sprechen da­ für. Dieselben Schriften zeugen, dafür, daß er die Philosophie nicht blos oberflächlich, oder nach der Einseitigkeit eines Modesystems kannte, sondern daß er ihren Geist ergründet, ihre Tiefe und Höhe erforscht, mit Logik, Metaphysik, empirischer Psy­ chologie, mit Rechts-, Pflichten- und Religionsleh­ re, ja selbst mit Staatskunst und Aesthetik innig sich befreundet, die wichtigsten ältern und neuern Philosophen gründlich gelesen, und sich, unabhängig von aller Nachbeterei und Sectirerei, sein eigenes phi­ losophisches Haussystem gebildet hatte, bei welchem aber, den wichtigsten metaphysischen und moralischen Grundsätzen nach, das System der kritischen Phi­ losophie die Grundlage ausmachte. Er philosophirte in seinen Schriften, ja selbst in seinen Kanzelvörträgen oft und gern; doch non scholae, sed vitae. Gleichmäßig aber wie die Philosophie, war die Geschichte.ihm theuer geworden, und in den letz­ ten zehn bis fünfzehn Jahren seines Lebens dürfte er, aus innerm Drange, im Ganzen mehr mit der Geschichte, als mit der Philosophie, im strengern Sinne des Wortes, sich beschäftigt haben. Wenn gleich kein wichtiges Feld der Geschichte ihm fremd war; so gehörte doch seine Hauptneigung der Kir­ chengeschichte, und der pragmatischen oder politischen Geschichte. So tief sein Quellenstu­ dium, namentlich in der Kirchengeschichte, war; so sprach ihn doch zunächst das in der Geschichte an, was die Fortschritte oder Rückschritte des menschli­ chen Geschlechts im Großen und Ganzen bezeichnet;

355 wo es entweder besser, oder schlechter ward in der Mitte der erloschenen oder bestehenden Völker; wo der Geist der Völker und ihrer Regierungen aus­ strebte zum Lichte der Wahrheit, zum Rechte und zur Sittlichkeit, zur Freiheit des Gedankens und des Wortes, zum Wohlstände, zum regen geistigen Ver­ kehre mit andern Völkern, und zur Erweiterung des Reiches der Wahrheit und, der Tugend. Wo er dies fand; da erhob sich seine Sprache; da wurden seine Darstellungen lebendig, warm und kräftig; ,da stand eine schöne, erntereiche Zukunft der Völker vor seinem innern Blicke. Wo er aber die Völker int Sinken wahrnahm; wo der Stecken der Treiber schwer auf ihnen ruhte; wo er die religiösen und po­ litischen Dunkel- und Reactionsmänner „an ihren Früchten" erkannte; da machte er auch das Wort des Herrn zu dem (einigen: „ Weichet von mir, ihr Uebelthäter." Er kannte keine Menschenfurcht,' wo es den heiligsten Angelegenheiten der Menschheit, Wahrheit, Freiheit, Recht und Sittlichkeit, galt; er zürnte bestimmt und stark den Rectionsmännern, sie mochten dem eilften, oder dem sechszehnten, oder dem neunzehnten Jahrhunderte angehören; doch ver­ leugnete, bei allem Ernste seines Wortes, seine Spra­ che nur selten die Würde, womit auch der Gegner behandelt werden muß; denn der, welcher der guten Sache und ihres Dienstes sich bewußt ist, muß selbst nach seiner Sprache höher stehen, als die Dunkel­ männer, so wie er an Geist, an Kenntniß, an rei­ nem Willen für das Heilige, und an Kraft und Muth für das, was der Menschheit wahrhaft noth ist, sie weit überragt. — Darin besteht eben die un­ berechenbare Wirkung der Geschichte in der geistli­ chen und weltlichen Beredsamkeit, daß, nach ihrem 23*

356 sechstausendjährigen Zeugnisse, das Licht doch zuletzt den Sieg behauptet über die Finsterniß, die Wahr­ heit über den Irrthum, die Tugend über das Laster, und daß der, dessen Rath oft wundcrbarlich ist, doch in der Geschichte der Menschheit sein Werk herrlich hinausführt. Wer so in der Geschichte liefet; dem fehlt es weder am Troste für sich, noch für die, welche ihn als Redner hören. Und deshalb wirkten Tzschirner's geschichtliche Predigten so gewaltig, töcil er selbst mächtig von den geschichtlichen Gegen­ ständen ergriffen war; weil sein Geist den Zusam­ menhang der einzelnen Thatsachen erforschte, und nicht blos an Namen und Zahlen hing; west er überall in der Geschichte das Nein-Menschliche auf­ suchte und hervorhob, und weil die Kämpfe unsers Geschlechts bei dem Vordringen zum Bessern die gei­ stigen Kräfte des Verewigten wunderbar aufregten. Diese tiefe Erforschung der Philosophie und der Geschichte ward aber beiTzschirner durch ein gründ­ liches Studium der Classiker des Alterthums unterstützt, zu welchem er von der frühesten Jugend an hingeführt ward, und demselben mit großer An­ hänglichkeit in reifern Jahren treu blieb, wie seine in der Sprache der Römer geschriebenen Disputa­ tionen und Programme beweisen. Besonders spre­ chen für seine anhaltende Beschäftigung mit den äl­ testen ^Rednern dec christlichen Kirche seine neun Programme: de claris veteris ecclesiae oratoribus. Doch hatte das Erforschen des Geistes der alten Classiker und die gewonnene Fertigkeit im classischen Ausdrucke der lateinischen Sprache ihn keineöweges gleichgültig gemacht gegen die Classicikät in der teut­ schen Sprache, wie so oft bei Philologen ge-

357 schiehk, die jeden Verstoß in den Sprachen des Al­ terthums 7— und zwar mit Recht -— an Andern rügen, dagegen aber selbst ein Teutsch sprechen und schreiben, als ob sie in den Zeiten des Niebelungenliedes die Muttersprache erlernt hätten. Anders bei Tzschirner. Er erkannte den hohen Werth und die mächtige Wirkung einer classischen Darstellung' in der teutschen Sprache auf der Kanzel, wie auf dem Katheder; sein richtiger Tact und seine innige' Neigung führten ihn frühzeitig zum Lesen der teut­ schen Clafsiker; besonders leuchtete ihm das, Beispiel eines Mannes vor, der mit gleicher Sicherheit und Fertigkeit über den Ausdruck in der römischen, wie in der teutschen Sprache gebot, — des unvergeßli­ chen Reinhards. Wenn die teutsche Kanzelbered­ samkeit, welche vor Reinhard im Ganzen doch nur den einzigen Zollikofer als eigentlich classi­ schen Schriftsteller aufstellen konnte, durch Rein­ hard zu ihrem Höhepuncte gebracht ward; so durfte auch die Erscheinung nicht befremden, daß Mehrere der trefflichsten Kanzelredner gleichzeitig und nach ihm, mehr oder weniger nach ihm sich bildeten, d. h. auf demselben Wege, und nach denselben Grund­ sätzen classisch werden wollten, wie Reinhard, nach Stoff und Form,. nach Erfindung, logischer Anordnung und gleichmäßiger Durchführung, nach Ebenmaaß in Behandlung der einzelnen Theile, nach dem Reichthums der Ideen, nach der Fülle, Rein­ heit und Lebendigkeit des Sprachbaues, und nach dem declamatorischen Wohlklange des Periodenbaues. Ohne dem eigenthümlichen Geiste dieser Männer und dem selbstständigen Gange ihrer rednerischen Aus­ bildung irgend ein wohlerworbenes Recht zu verküm­ mern, werden doch gewiß Schott, Bretschnei-



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der, Röhr, Schutze roff, Zimmermann, Schmalh, Böckel u.a. es willig zugestehen, daß ste dem Studium der Reinhardschen Predigten, bei ihrer eigenen homiletischen Bildung, viel zu ver­ danken haben. So auch Tzschirner. Man lese, was Sup. F a c i l i d e s in Rochlitz im zweiten Stücke von RLHr's Journale über Tzschirner's Predig­ ten, während seiner Amtsverwaltung zu Witweida von 1801 —1805, berichtet, um sich zu überzeugen, daß er in jener Zeit vorzüglich nach Reinhard fich bildete. Dasselbe leuchtete auch aus seinen „Brie­ fen, veranlaßt durch Reinhard's Geständ­ nisse" (Leipzig 1811) Hervor. In dieser Schrift erklärte er (S. 89) folgende Eigenschaften als das Eigenthümliche der Reinhardschen Kanzelberedsamkeit: ,, unerschöpfte Mannigfaltigkeit der Materie, bei ei­ nem seltenen Wechsel der Form; ebenmäßige Voll­ endung des Ganzen, bei einem seltenen Hervörtreten einzelner Theile; eine Besonnenheit, welche über der Thätigkeit der Kraft, aus deren Fülle das oratorische Leben kommt, mit unablässiger Strenge wachet und waltet; Kunst und Wahl, ohne gesuchten Schmuck und ängstliche Strenge; Reiz und Schmück, nicht Pracht und Glanz; mehr ernste Würde, als heitere Anmuth und zarte Weichheit; und endlich eine gleich­ mäßige Mischung von Klarheit, Fülle, Präcision und Stärke." — Ree. steht nicht an, diese Eigen­ schaften, welche Tzschirner Reinhard's Predigten beilegte, auch auf die seinigen überzutragen; denn jeder unbefangene Kenner der teutschen Kan­ zelberedsamkeit wird zugestehen, daß Tzschirner feinem großen Vorgänger und Vorbilde am nächsten steht. In Beziehung auf die logische Anordnung bei der Einteilung des Thema waren beide, Rein-

359 Hard und Tzschirner, in frühern Jahren stren­ ger, als späterhin. Dies zeigen Reinhard's Predigten, die er in Wittenberg hielt, wovon zwei Theile erschienen; dann seine Predigten über die Vorsehung, meistens aus dieser frühern Zeit, eben so die von Hacker und Kenzelmann herausge­ gebenen Sammlungen, und die Wittenbergischen Reformationspredigtcn in den dickbeleibten Bänden, welche Bertholdt und Engelhard in Sulzbach besorgten. Auf ähnliche Weise verhält eS sich mit Tzschirner's Predigten in den zwei, bei Vogel (1812 u. 1816) erschienenen, Bänden, wenn man die Eintheilung dieser Predigten mit der großen Mehr­ heit der, in der vorliegenden Sammlung enthaltenen, vergleicht. Neuheit in der Erfindung des Thema, gleich­ mäßige Durchführung der Theile, Würde, Kraft und Fülle der Sprache, haben beide Redner auf gleiche Weise; nur daß im Einzelnen, in der Enunciation des Thema bei Reinhard nicht selten mehr Klarheit herrscht, als bei Tzschirner, und bisweilen bei Tzschirner eine nicht völlig clas­ sische Stellung der Partikeln, ein Hinweg­ lassen der verba auxiliaria und ein zu großer LuxuS im Gebrauche der Figuren getroffen wird; Fehler, die man bei Reinhard nirgends findet. Dagegen übertrifft Tzschirner seinen Vorgänger in der tie­ fern Kenntniß, so wie in der häufigen und meist gelungenen Anwendung der Geschichte, wobei freilich auch die verhängnißvolle Zeit seit dem Jahre 1812 (in tdelchem Reinhard starb,) in Anschlag gebracht werden muß, deren wechselvolle Ereignisse in den meisten europäischen Staaten den religiösen Redner von selbst darauf hinführten, die Weltbege-

360 beizeiten im Lichte der Religion zu betrachten, und bald, durch Gründe des Evangeliums, den sinkenden Muth zu beleben, bald das Ungemach der Zeit aus einem hohem Standpuncte aufzufassen, und in eine bessere Zukunft hinzublicken. — Was endlich die Predigten am Feste der Kirchenverbefserung betrifft; so sind Reinhard und Tzschirner einander auch darin ähnlich, daß sie an diesem Tage fast ohne Ausnahme selbst predigten, daß sie den Religions­ vorträgen an diesem Feste einen besondern Fleiß wid­ meten, und daß die meisten derselben zu den vollen­ detsten Kanzelreden beider Männer gehören, weil beide von dem großen Gegenstände des Festes mäch­ tig ergriffen waren, und zu den einsichtsvollsten, wü­ thigsten und kräftigsten Vertheidigern der heiligen Rechte der evangelischen Freiheit und der selbststän­ digen protestantischen Kirche gehörten. — Uebrigens kannten beide Männer nicht blos den eigenthümlichen Charakter der Sprache der Beredsamkeit; sie wußten auch, daß die sogenannte mittlere Schreibart diejenige für die Form der Sprachdarsiellung sey, welche für die gebildeten Stände — zu welchen bei­ de sprachen — am meisten sich eigne. Bei beiden Rednern herrscht diese mittlere Schreibart vor, doch im Allgemeinen mit dem individuellen Unter­ schiede, daß Reinhard's Sprachform, in den ein­ zelnen Ausweichungen von der mittleren Schreibart mehr zur n-iedern (gcnns tenue), Tzschirner'ö Sprachform aber in solchen Fällen mehr zur hö. Hern (genas sublime) sich hinneigte. Daraus läßt sich auch erklären, daß, bei dem großen Reichthume an Stoff und Form in Reinhard's Predigten, doch bei diesem Redner durchaus keine Spur der Dicht er spräche, keine Anwendung von Bildern,

361 geschweige gar ein Luxus kn denselben, oder eine an­ geführte dichterische Strophe sich findet, während Tz schien er — bei seiner fortdauernden Vorliebe für die Dichtkunst und bei seinen eigenen Versuchen in derselben — nicht blos zum Schlüsse feiner Pre­ digten bisweilen dichterische Strophen wählte, son­ dern auch in der Mitte der Rede nicht selten in ei­ nem, meist glücklichen, Farbenspiele von Bildern und Gleichnissen sich gefiel. Beide Kanzelredner, Reinhard und Tzschirner, haben aber auch darin Aehnlichkeit, daß, ohne gerade in spätern Jahren an den Fortschritten der Menschheit zu verzweifeln und die Lichtseiten in den Ereignissen der neuesten Zeit zu verkennen, doch die Predigten aus ihren frühern Jahren mehr heitere Ansichten des Lebens und der Welt enthalten, als die aus den spätern, und daß — im Durchschnitte und nach der Mehrzahl genommen — die Predigten Reinhard's aus den Jahren 1796—»1800, so wie die von Tzschirner aus den Jahren 1816 — 1820, ihre übrigen aus früherer und späterer Zeit zu übertreffen scheinen; man mag nun dabei die Neu­ heit der Erfindung des Thema, oder die Kraft in der Behandlung,, oder die Fülle der Sprache, oder die Wärme an dem Gegenstände selbst, .oder die Ründung des Periodenbaues berücksichtigen. —Da übrigens beide Männer keine Kenner der Tonkunst, wohl aber Freunde derselben waren; so verdient es volle Anerkennung, daß sie — ohne tiefere Einwei­ hung in die Gesetze der Harmonie und Melodie, und des nothwendigen Zusammenhanges beider —■ doch ihrer Sprachform vielen Wohlklang gaben, das De­ clamatorische für den äußern Vortrag meistens glück­ lich berücksichtigten, und, bei dem mündlichen Vor-

362 trage der Predigten, selten gegen die Gesetze der Deklamation verstießen, wenn gleich beide in die­ sem letzten Verhältnisse den verewigten Hanstein nicht erreichten, wiewohl dieser in allen übri­ gen rednerischen Eigenschaften hinter beiden zurück­ blieb. — Nicht ohne Absicht hat Rec. bei diesen Vorbe­ griffen verweilt; theils weil sie den Maasstab seines Urtheils über die von Tzschirner nachgelassenen Predigten enthalten; theils weil es am rechten Orte zu seyn schien, bei der Recension der Erzeugnisse eines classischen Kanzelredners an die Grundsätze zu erinnern, von welchen alle Kanzelberedsamkeit auSgehen muß, so wie die Bedingungen aufzustellen, ohne welche keine Clafsicität in der Sprache der Be­ redsamkeit möglich ist. Mögen daher angehende Prediger, wenn sie Tzschirner's Nachlaß lesen, es sich vergegenwärtigen, wie viel nach Geist, Kenntniß und Sprachdarstcllung dazu gehört, classisch zu werden, und daß die einzige Nachahmung des Verewigten darin bestehen soll, ihm, wo mög­ lich, an geistiger Bildung, an Vielseitigkeit und am Reichthume der philosophischen und geschichtlichen Kenntnisse, an geläuterter Wärme für die heilige Sache des Evangeliums, und an Reinheit, Schön­ heit, Fülle und Kraft in der Sprache der Bered­ samkeit zu gleichen! Treten wir nun der vorliegenden Sammlung näher; so finden wir, nach einem Subscribentenverzeichnisse von 1207 Namen, das Vorwort des Herausgebers, eines Mannes, der bereits in einer Monographie seinem verklärten Freunde und Collegen ein würdiges Denkmal setzte. Das Vorwort ehrt den Verfasser, wie den Vollendeten; denn es ent-

363 hält nicht nur einen kurzen Abriß des Lebens des letztem, sondern auch sehr geistreiche, vielsagende Andeutungen über Tzfchirner'S homiletische Bil­ dung und Eigenthümlichkeit, nicht blos nach den Grundsätzen der Homiletik in Hinsicht auf Erfindung, Einteilung, Ausführung, Sprachform und Declamation, sondern auch über Tzfchirner'S Rationa­ lismus und über dessen Stimmung in Beziehung auf die politischen und kirchlichen Verhältnisse, die er erlebte. Der Verf. des Vorwortes schrieb dasselbe nicht blos mit der Klarheit der Begriffe und mit der Sicherheit des Urtheils, die überhaupt von einem Professor der Theologie erwartet werden mnß, sondern auch mit der Freimüthigkeit, die den Mann ehret, der es weiß, woran er glaubet, und mit dem richtigen Tacte, der, wenn er die Ver­ irrungen der Zeit berührt, nicht gemeint ist, etwas zu verhehlen, ohne doch die Männer von der entge­ gengesetzten Ansicht beleidigen zu wollen; so wie mit der stylistischen Fertigkeit und Gewandtheit, die ihm selbst, yach den nicht eben überhäufig bei den Ho­ mileten vorkommenden Eigenschaften eines gediegenen Styls, einen ehrenvollen Platz neben seinem vollen­ deten Collegen und Freunde sichert. Der Vorredner bezeichnet die Predigten Tzfchirner'S als Bei­ träge zur Erbauung, und erklärt sich darüber (S. XXIX.) in folgender trefflichen Stelle: „Wenn es erbaulich ist, des menschlichen Herzens innerste Tiefe aufzuschließen, den Entwickelungsgang seiner Gefühle und Bestrebungen zu enthüllen, und die

sittliche und religiöse Bedeutung der Anlagen und Regungen des menschlichen Gemüths nachzuweisen und hervorzuheben; wenn es erbaulich ist, die man­ nigfaltigen Verhältnisse und wechselseitigen Berüh-

364 rungen des Häuslichen, geselligen und bürgerlichen Lebens in khtem genauen Zusammenhänge mit dem Zwecke des menschlichen Daseyns bemerklich zu ma­ chen; wenn es erbaulich ist, die merkwürdigen Begebcnheiken der Vergangenheit und die erschütternden Ereignisse der Gegenwart in ihrer Verknüpfung mit dem göttlichen Walten und mit der Fortleitung un­ sers Geschlechts zu vollständigerer Entwickelung der Betrachtung vorzuhalten; wenn es erbaulich ist, die herrlichen Offenbarungen Gottes theils in den großen Werken der Natur, theils in dem Inhalte, wie in der Geschichte des Evangeliums und in dem Leben und (den) Schicksalen seines Stifters, immer aufs Neue in ein klares Licht zu stellen, und in ihnen die unerschöpflichen Quellen der höchsten Weisheit und der köstlichsten Beruhigung im Leben nachzuweisen; wenn es erbaul.ch ist, den Blick des forschenden und handelnden, des fröhlichen und des traurigen Men­ schen auf die Zukunft jenseits der Gräber warnend und erhebend hmzulenken: — fürwahr, so verdienen Tzschirner's Predigten das Zeugniß der Erbau­ lichkeit im ganzen Umfange und mit allem Rechte." —- Eben so richtig und treffend bezeichnet der Vor­ redner den Geist der Predigten des Verewigten (S. XXXIII): „Unleugbar war in der innern An­ gemessenheit seiner Vorträge zu ihrem Zwecke der hauptsächlichste Grund des Eindruckes zu suchen, den sie auf die Gemüther machten, so wie in der meist glücklichen Befolgung der Regeln für die Be­ redsamkeit, welche aus der Natur des menschlichen Denkens und Empfindens hervorgehen. Das Anzie­ hende in den Hauptsätzen, die Richtigkeit und die Schärfe in den Entwürfen, das Treffende in der Wahl der Beweise und Beispiele recht aus der

365 Mitte des Lebens und dem Innersten des Gemüths, das Würdige und Rührende in den Bildern und Vergleichungen, das schnelle Fortschreiten zum Ziele mit glücklicher Vermeidung aller ermüdenden Weitschwerfigkeit, das Schlagende, bisweilen Ueberrasichende in den eingeflochtenen Beobachtungen und Sentenzen (warum nicht: Sinnsprüchen? Rec.), die Reinheit, der Wohlklang, die Kraft der Sprache, das allmählige Aufsteigen zu immer höherer Leben­ digkeit, welche am Schlüsse der Rede bisweilen in wirklich dichterische Ergießungen überging (die dich­ terischen Ausgänge mehrerer Predigten sind sämmt­ lich*) eigene Arbeit): dies alles vereinigte sich in Tzsichirner's Vorträgen, um ihnen das Zeugniß der Beredsamkeit nicht nur t richtiger: um ihnen nicht nur daS Zeugniß der Beredsamkeit, Rec.', sondern auch den Lohn der Beredsamkeit, die allge. meinste Theilnahme, zu erwerben." — AuS den vorausgehenden Ansichten des Rec. von dem Wesen der wahren Kanzelberedsamkeit ergiebt sich von selbst seine völlige Uebereinstimmung mit diesir Schilderung des Vorredners. Eben so theilt Rec. die Ueberzeu­ gung desselben, daß „ein solcher Grad von Vollen­ dung nur die Frucht einer unausgeseßten Sorgfalt bei Tzschirner's Arbeiten habe seyn können;" denn Tzschirncr arbeitete nicht mit Leichtigkeit; auch machte er sich die Arbeiten nie leicht, wohl aber schrieb er stets mit klarer Besonnenheit und mit sorgfältig berechneter Gleichmäßigkeit in der Be. Handlung des Stoffes und der Form. Er extern *) Hier irrt der Herausgeber; denn Th. 2. S. 80 ist von Joh. Andr. Cramer, uud Th. 3. S. 264 von Gel­ lert.

366 porirte nie; denn er erkannte darin eine Verle­ tzung der eigenen Würde des religiösen Redners und der Würde seiner Gemeinde; ob er gleich, bei dem Reichthums seines Geistes, wohl glücklicher hätte ^extemporiern können, als manche, die im buchstäb­ lichsten Sinne „geistig arm" sind, und doch ihren Gemeinden zumuthen, die sonn- und festtägigen Zeu­ gen dieser Armuth zu seyn. Zunächst durch dieses Extemporsten sind in neuerer Zeit, namentlich in hochgebildeten Städten, die Kirchen leer geworden. Bei Reinhard und Tzschirner waren sie nie leer! Tzschirner memorirte aber auch scharf und genau im Einzelnen. — In allen diesen Gegen­ ständen tritt Rec. dem Vorredner völlig bei; weni­ ger (S. XXXIV) in der Entschuldigung des Un­ gewöhnlichen und von der, bei andern anerkannten Stylisten gebräuchlichen, Weise Abweichenden," weil die Gesetze des Styls, in Hinsicht auf Richtigkeit (Correctheit) und Schönheit, eben so fest und uner­ schütterlich sind, wie die Gesetze der allgemeinen und der besondern Sprachlehre in jeder wirklichen Sprache. Der Vorredner gesteht selbst zu, „daß es dem Ver­ ewigten vielleicht schwer geworden seyn möchte, jede seiner Eigenheiten gegen die strengen Sprachlehrer zu rechtfertigen." Wenn aber der Vorredner dar­ aus folgert, „daß gerade durch diese Besonderheiten der Tzschirner'schen Sprache eine eigene, der Kräftigkeit des Gedankens entsprechende, Kräftigkeit der Darstellung erreicht worden sey, welche, in Verbindung mit den übrigen Erfordernissen der in einem Werke der Beredsamkeit mit Recht gesuchten Schönheit der Rede, seine Vorträge zu bleibenden Mustern machte;" so muß Rec. dieser Aeußerung geradehin wider-

367 sprechen, weil die Eigenheiten eines übrigens treff, lichen Stylisten (man denke nur z. B- an Johan­ nes Müller, an Jean Paul u. a.) wohl aus ihrer Individualität erklärt und entschuldigt, nie aber als Mitwirken de Bedingungen betrachtet werden können, durch welche ihre Arbeiten „zu bleiben­ den Mustern" wurden. Desto williger unter­ schreibt Rec. die Schlußbemcrkung Goldhorn's über diesen Gegenstand: „Mögen nur aber alle die, welche nach ihm sich bilden wollen (und deren giebt es Hunderte), nicht vergessen, daß der Geist, der in seinen Vorträgen wehte, noch nicht über sie ausge­ gossen ist, wenn sie eine oder die andere seiner stylistischen Eigenheiten sich angeeignet haben." — Denn eben solcher unberufenen Nachahmer wegen verweilte Rec. länger bei.diesem Gegenstände, als es sonst die Grenzen einer Recension verstatten. Rec. glaubte aber überhaupt, es sey besser, bei der Anzeige die­ ses Tzschirner'schen Nachlasses, ein allgemeines, auf die höchsten Gesetze des Wahren und Schönen in der stylistischen Darstellung zurückgeführtes, Ur­ theil auszusprechen, als viele einzelne treffliche Stel­ len aus den vorliegenden Predigten aufzustellen. Für diese Aufgabe werden schon die homiletischen Zeit­ schriften sorgen; die Wissenschaft selbst aber kann nur dadurch gefördert werden, daß Tzschirnern, nach festen theoretischen Grundsätzen, sein Ehrenplatz in der Reihe der classischen Kanzelredner unsers Vol­ kes angewiesen und gesichert wird. Denn beinahe überflüssig dürfte die Versicherung seyn, daß auch keine einzige der hier mitgetheilten Predigten ohne mehrere Stellen ist, welche als musterhaft ausgeho-' ben und als Belege des, oben über diese Sammlung

368 ausgesprochenen allgemeinen, Urtheils in diese Re­ cension ausgenommen werden könnten. Weil übrigens Rec., bei bem übergroßen Reich­ thums dieser Sammlung in jeder Hinsicht, nicht in das Einzelne der einzelnen Predigten eingchen kann; so wird er zuerst eine Classification der Themata meh­ rerer der mitgetheilten Predigten, nach den dogma­ tischen, moralischen, psychologischen und geschichtli­ chen Stoffen versuchen, die sie behandeln, woraus als Ergebniß hervorgeht, daß Tzschirner eben so die Dogmen des Evangeliums, wie dessen sittliche Vorschriften, eben so das fruchtbare Gebiet der Menschenkunde, wie den religiösen Standpunct für die wichtigsten Ereignisse der Geschichte der Kirche und des politischen Lebens festhielt; bann aber wird er für die logische und stylistische Behandlung der Stoffe von dem Verewigten einige Beispiele mittheilen, und sein Urtheil darüber aussprechen. Tzschirner behandelte in den vorliegenden drei Bänden folgende wichtige dogmatische Stoffe: „daß die dunkelsten Stunden im Leben des Herrn die Stunden der herrlichsten Verklarung waren."—■ -,DaS Geburtöfest Jesu Christi ein Zeugniß von der Entwickelung großer Erfolge aus kleinen Anfan- • gen." — Wie die Zukunft des Herrn in dem Ge­ schlechte jeder Zeit sich erneue." — „WaS uns auffordere, die Aufnahme des Herrn in dem Ge­ schlechte dieser Zeit zu fördern." — „Die Macht, welche Jesus Christus, der Leidende, über die mensch­ lichen Gemüther übet." — „Die Fürbitte des Herrn für die Seinen." — „Der wahre Sinn und Grund der Erklärungen der Schrift: daß in Christo allein das Heil gefunden werde." — „Auch dem Ge­ schlechte dieser Zeit muß die christliche Lehre von

369 der Vergebung der Sünden verkündiget werben.'' —* „Der Herr als Sittenrichter seiner Zeit." — „Je­ sus auf seinem TodeSpfade, ein Gegenstand heilsa­ mer Trauer und tröstlicher Hoffnung." - Die sitt­ liche Kraft der christlichen Lehre von der Versöhnung des'Menschen mit Gott." — „Die Stiftung der christlichen Kirche ein Werk des Glaubens." — „Daß uns alle die heilsame Wirkung der Erschei­ nung Christi berührt." Als Belege, wie Tzschirner sittliche und psy­ chologische Stoffe auffaßte, mögen folgende The­ mata gelten: „DaS aufblühende Geschlecht ist die Freude und Hoffnung guter Menschen." — „Alle wahre Liebe erhebt sich über die irdische Schranke." — „Wie uns im Leidenskampfe daö Beispiel derer stärke, die wie wir gekämpfet und überwunden haben." — „Die Erfahrung, daß uns das Leiden öfter, als die Freude, zu Gott führe, und uns inniger mit ihm vereine." — „Die heilsame Wirkung des Ge­ dankens an den verborgenen Zusammenhang der Ge­ genwart mit der Zukunft." •— „Die uneigennützige Theilnahme an den menschlichen Dingen." — „Wie der Himmel in den schönsten Lebensaugenblicken sich uns öffne." — „Von dem Werthe freier Mitthei­ lung im vertrauten Umgänge der Freundschaft." — „Von der rechten Anwendung des Grundsatzes, daß das Unglück nicht der Maasstab der Verschuldung sey." — „Daß das Bewußtseyn unsrer Freiheit der Grund aller Weisheit und Tugend sey." — „Die Kraft des Gedankens, daß Gott unser Herz kenne." — „Was wir thun müssen, wenn wir er­ freuliche Erfahrungen von menschlicher Güte machen wollen." — „Die Liebe zu den künftigen Geschlechlern." — „Wie wir die Ungleichheit in dem Lohne Pölitz verm. Schr. Th. 2. 24

370 der Arbeit mit christlicher Weisheit betrachten sol­ len." — „Die Freude, welche zu Golt führet." — „Daß Gott zu den Menschen redet in den entschei­ denden Lebenssiunden." — „Vom Zorne ohne Sünde." •— „Daß Kampf und Schmerz das Loos der Meisten war, welche wir als große Männer verehren." — „Die Abhängigkeit der menschlichen Wahl in entscheidenden Lebensstunden von zufälligen Umständen." — „Die Erneuerung einer weisen Liebe zum Leben." — „Daß nur die sittliche Gesinnung der Geistesbildung den wahren Werth und die rechte Richtung gebe." — „Wie die Erinnerung an schmerzliche Erfahrungen Erweckung zum. Guten uns werde." — „Von den Versuchungen, welche durch einen unmerklichen, immer sich erneuerndem Einfluß zur Sünde uns reizen." — „Vom Unglauben des Herzens." — ,/£>ic heilsame Wirkung menschlicher Freude auf das menschliche Herz." — „Daß die Macht der Neigungen und der Verhältnisse stärker zu seyn pflege, als die Kraft des Willens." Und seine letzte Predigt: „Von der Theilnahme an den menschlichen Dingen, auch wenn die Weltkust und die Lebensliebe (die Liebe zum Leben) vergeht." Rec. wendet sich zu den geschichtlichen Stof­ fen, welche theils die Kirche Christi, theils die Kirchenverbesserung, theils die Zeitbegebcnheiten im Lichte der Religion darstellen. — „Der Sieg der Wahrheit in der Gründung und Vereinigung der Kirche." — „Das Bild des sächsischen Volkes im Zeitalter der Kirchenverbesserung." — „Die Kir­ chenverbesserung als eine Offenbarung der erziehenden Weltregierung Gottes." — „Wie die Geschichte der entstehenden Kirche den Kampf zwischen Licht und Finsterniß betrachten lehre." — „Die Reformation

als die Frucht ihrer Zeit." — „Erinnerung an die Stifter unsrer Kirche." — „Die Freiheit, welche unsere Kirche fordert und gewähret." —- „Wie wich­ tig es sey, ein Veränderliches und ein Bleibendes in der Kirche zu unterscheiden." — „Von der Be­ fehdung der evangelischen Kirche." — „Die Bedeu­ tung der segensreichen Wirksamkeit der Apostel des Herrn." — „Der Segen unserer friedlichcn und fruchtbaren Zeiten." — „Die Klage der Weisen über das Verderben ihrer Zeit." — „ Der sieg­ reiche Kampf des Evangeliums mit den irdischen Mächten." — „Von dem durch die neueste Zeit veränderten Verhältnisse der Kirchen unserer Lande." — „Von den Opfern, welche die Gründung der evangelischen Kirche der Welt gekostet hat." Zu dieser dritten Classe der geschichtlichen Vor­ träge gehört auch der Anhang deö dritten Theiles. Er enthält folgende: 1) Gebet am Geburtstage des Königs, den 23. Decbr. 1816. 2) Predigt am Jubelfeste der 50 jährigen Regierung des Königs Friedrich August, den 20. Septbr. 1818. 3) Pre­ digt am Jubelfeste der 50 jährigen Verbindung des königlichen Paares, den 17. Januar 1819. 4) Ge­ dächtnißpredigt bei der Todesfeier des Königs Frie­ drich August, den 18. Jun. 1827. 5) Predigt bei der Huldigung des Königs Anton, den 24. Oct. 1827. 6) Worte der Huldigung im Namen der Geistlichkeit des Leipziger Kreises, an demselben Tage. Nach der Aufführung dieser wichtigen und in­ teressanten, größtentheils neuen, Stoffe, welche Tzschirner behandelte, erlaubt sich Rec auch eini­ ge mitzutheilen, wo er theilweise im Ausdrucke des Thema Klarheit und Bestimmtheit vermißt: 24*

372 „Der Geist, wie er im Gefühle der fliehenden Zeit das Gelübde des weisen Lebenögebrauches erneuert?' — „Daß der Sieg über die Versuchung das Ge­ fühl der Nähe Gottes begleite/' — „Daß das Ge­ heimniß des Lebens im Tode der Gegenstand zwar fruchtloser Forschung, aber dennoch eines vernünfti­ gen Glaubens sey/' — „Wie in dem Gedanken an den Herrn über Leben und Tod die LebenSliebe er­ wache, und die Todesfurcht vergehe." — „Die Be­ trachtung des sterbenden Erlösers lehret auch in des Todes Zerstörung und Schmerze die ewige Weisheit und Güte uns ahnen." — „Der Herr wecket die Seele auf und führet sie dennoch zur Ruhe." — „Von der Feindschaft der Feinde des Herrn." — Es folge nun ein Wort über die Art, wie Tzschirner logisch disponirte und die aufgestellten Themata ausführte. Rec. wählt folgende Disposi­ tionen: „Das aufblühende Geschlecht ist die Freude und Hoffnung guter Menschen:" Denn in ihm 1) schauen sie die Entwickelung und daS rege Walten menschlicher Kräfte; 2) den Ausdruck glücklicher Unschuld und heiterer Fröhlich, feit; 3) die Erneuung und Wiedergeburt des Men­ schenlebens; 4) herrliche Keime künftiger Früchte, und 5) das Band, das ihr Daseyn und Wirken an die Nachwelt knüpft. „Wie der Himmel in den schönsten Le­ bensaugenblicken sich unS öffne/' 1) indem das Gefühl erfüllter Psticht, daS unsere Brust hebet, das Bewußtseyn der Kraft wecket, die uns mit Gottes ewigem Reiche verbindet; 2) indem die Liebe, die unsere Herzen beweget, zu einer Hoff­ nung uns führet, die über das Grab hinausgehet;

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3) indem die Freude an der Welt und an unserm Daseyn die Seligkeit uns ahnen läßt, die auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit unser wartet; 4) indem die Andacht, die zu Gott uns emportragt, mit dem Gedanken des ewigen Seyns und Lehens unsere Seele erfüllet. „Von der Freiheit, welche unsere Kirche fordert und gewähret." 1) Das Wesen dieser Freiheit: a) Unsre Kirche fordert: Unabhängigkeit von geistlicher Oberherrschaft, und eine von dem Staate anerkannte und unverletzte Selbstständigfett; b) Unsre Kirche gewährt: Freiheit des Glau­ bens durch das Allen zugestandene Recht eigener Forschung und ungehinderter Benutzung jedes Mittels der Belehrung und Freiheit des Gewis­ sens durch die Unterscheidung menschlicher Satzun­ gen von göttlichen Gesetzen. 2) Der Werth dieser Freiheit: a) Nur eine freie Kirche kann im Geiste des Evangeliums wirken; b) mit der Wissenschaft aufrichtig sich befreunden; c) die höhere Bildung der Völker fördern, und d) die Liebe zur bürgerlichen Freiheit pstegen und nähren. Doch völlig darf eine Recension, welche ihre Än-

sprüche an den Redner auf ein höchstes Gesetz des Styls zurückführt, und dieses Gesetz als höchsten Maasstab an die stylistischen Erzeugnisse des Red­ ners legt, die dem Verewigten eigenthümliche Form der stylistischen Darstellung nicht übergehen. Es mögen also auch dafür einige Beispiele hier stehen. Rec. hebt zuerst einige Beispiele aus, wo er

374 mit der bereits oben gemißbilligten Stellung der Wörter und der Construction sich nicht aussöhnen kann, weil er sie, nach den Gesehen des Styls, für eben so unrichtig hält, als wenn man, j. B. nach den Gesehen des Contrapuncts, den S 4 oder unvollkommenen Sexten - Accord üb