Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der Literatur überhaupt: Band 1 [Reprint 2020 ed.] 9783111579528, 9783111206929


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German Pages 424 Year 1831

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Vermischte Schriften aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der Literatur überhaupt: Band 1 [Reprint 2020 ed.]
 9783111579528, 9783111206929

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aus den Kreisen der Geschichte, der Staatskunst, und der

Literatur überhaupt.

Von

Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Kön. Sächs. Hosrathe, Ritter des K. S. Civil - Verdienst - Ordens,

und ordentlichem öffentl. Lehrer der Staatswissenschasten an der Universität zu Leipzig.

Erster

Band.

Leipzig, bei Georg Joachim Göschen.

183 1.

B o r w o r t. Andern ich dem Publicum eine Auswahl -meiner kleinen Schriften übergebe, will ich das Er­

scheinen derselben weniger durch die mehrfache Auf­ forderung geachteter Männer, als durch meinen ei­ genen Wunsch rechtfertigen, vor meinem Austritte

aus dem Kreise irdischer Wirksamkeit das in ein neues Ganzes zu vereinigen, was, nach meiner Ue­ berzeugung,

aus

meinen Beiträgen

zur teutschen

Journalistik seit dem Jahre 1794, wo ich mir im

April die Rechte eines Privatdocenten der Philoso­ phie auf der hiesigen Hochschule erwarb, noch jetzt einiges Interesse haben dürfte.

vielleicht Denn seit

jener Zeit ward ich, nach und nach, Mitarbeiter an

Jakobs philosophischen Annalen,

an

der ober­

teutschen Literaturzeitung (1794—1804), an der

IV

Erlanger (1799 — 1801) und Würzburger (1803) Literaturzeitung; an der Erfurter gelehr­

ten Zeitung; an denLiteraturzeitungen zu Leip­ zig (an dieser seit 1819 Mitredacteur), Halle und

Jena; an dem Hermes (in den ersten fünf Hef­

ten), und an mehreren andern kritischen Blättern;

so wie,

unter den Zeitschriften,

an v- Eggers

teutschem Magazine (1795 —1797).; an FeßlerS

Eunomia; an dem altern Freimüthigen (1803 —

1810); an den, von Grohmann und mir (1798) herausgegebenen „Beiträgen zur Geschichte der Phi­

losophie;" an StäudlinS „Beiträgen zur Reli­ gionsphilosophie;" an den „teutschen Blättern,"

die Brockhaus im October 1813 gründete; an dem „Conversationslexicon," an den „literärischen Conversationsblättern," und an den „Blättern für lite­

rarische Unterhaltung;" an dem „Reformationsal­ manache;" an den „Zeitgenossen;" noch ungerech­

net die einzelnen Beiträge in viele andere Tageund Zeitblätter (z. B. in die „Zeitung für die ele­ gante Welt," in den „Anzeiger der Teutschen," in den „Hesperus" :c.).

Außerdem redigirte ich, als

Professor zu Wittenberg, von 1805 —1814 das „Wittenberger Wochen blatt," und seit dem

Jahre 1828 die „Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst."

V Allerdings war die überwiegende Mehrzahl mei­

ner, seit dem Jahre 1794 in die genannten literäri-

schen Blätter und Zeitschriften gelieferten Abhand­ lungen, Recensionen und Aufsähe auf ein augenblick­

liches,

bald literärisches, bald politisches Interesse

berechnet.

Ob sie in dem Augenblicke ihres Erschei­

nens Einiges gewirkt haben, steht nicht mir zu, zu

bestimmen; allein gegenwärtig ist die Zeit vorüber, wo sie wirken konnten und sollten; ich habe deshalb

diese große Mehrzahl — im eigentlichen Sinne — in Ruhestand verseht. Dagegen schien der verhältnißmäßig kleinere Theil

aus der großen Zahl jener

Abhandlungen,

Aufsähe und kritischen Urtheile, namentlich aus der Zeit der beiden lehten Jahrzehnte, ein etwas besseres

Schicksal zu verdienen, als ihm, bei der gegenwärtigen Richtung unserer Journalistik, nothwendig zufallen mußte.

Denn die teutsche Journalistik hat,

nach dem

Vorgänge der brittischen und französischen, seit den

lehten Jahrzehnten nicht nur nach ihrem Umfange mächtig sich erweitert; sie hat auch, bei allem sich

eindrängenden Mittelgute, in Hinsicht des Ernstes

und der Würde in der Behandlung wissenschaftlicher Gegenstände

bedeutend gewonnen.

Mögen immer,

in unsern Tagen, die Zeitgeschichte und die politi-

VI schen Stoffe die nächsten und allgemeiner» Interessen

der gebildeten Leser in Anspruch nehmen; so ist doch auch die gesammte reinwissenschaftliche Literatur, unter

ansprechenden stylistischen Formen und der schwerfäl­ ligen Gerüste der Schulterminologie und Katheder­

polemik entkleidet, in den Bereich der Journalistik gezogen und dadurch die Verallgemeinerung der Hä­ hern wissenschaftlichen Kenntnisse vermittelt worden.

Namentlich hat sich das Interesse der gebildeten Stände unsers Zeitalters,

besonders in der Mitte

der konstitutionellen Staaten, als eine nothwendige Folge des höher gesteigerten politischen und constitu-

tionellen Lebens, mehr dem praktischen Wissen, als der abstrakten Theorie, zugewendet.

Allein mit der jährlichen Vermehrung der Zeitli­

teratur stand das schnelle Veralten und Vergessen des Bessern in derselben in nothwendiger Verbin­

dung; schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Zeitschriften und kritischen Blätter gewöhn­

lich oft aus sogenannten Museen oder Lesegesellschaften gelesen, und nur höchst selten in Privatbüchersamm­

lungen ausgenommen werden.

Deshalb wurden denn

auch die Sammlungen der einzelnen zerstreuten kleinen Schriften von Kant, Garve, Engel, Heeren, Manso,

Johann von Müller,

Ancillon,

Krug, Rotteck, Rehberg und vielen andern, so

VII

wie die akademischen Gelegenheitsschriften geachteter

Philologen, Theologen, Rechtsgelehrten rc. in ihren opusculis mit Theilnahme ausgenommen, weil auf diese Weise in mäßigen Sammlungen dasjenige zu«

sammengestellt und vereinigt ward, was in dem Ab­ laufe eines ganzen Menschenalters allmählig erschie­

nen, und oft im Buchhandel nicht mehr aufzufinden war.

Eine ähnliche Zusammenstellung enthält nun auch die vorliegende Sammlung, die für jetzt auf zwei Bände berechnet ward, an welche sich aber noch ein

dritter und letzter anschließen dürfte, wenn diese

Sammlung eine günstige Aufnahme finden sollte. Ich darf, bei der Masse des Stoffes, aus wel­

chem ich zu wählen hatte, versichern, daß ich mit

strenger Auswahl verfuhr, so weit nämlich von dem eigenen Vater die Handhabung der Strenge gegen

seine Kinder erwartet werdens kann.'

Die bei wei­

tem größere Zahl der von mir geschriebenen einzel­ nen Abhandlungen, Aussätze und Kritiken — beson­

ders aus der früheren Zeit — habe ich ganz bei

Seite gelegt;

die aufgenommenen aber sind theil-

weise neu gestaltet und umgearbeitet, bald abgekürzt, bald erweitert, bald im Sinne, und bald im stylistischen Ausdrucke berichtigt worden.

Mögen sie in

dieser veränderten Gestalt nicht verloren haben; denn

VIII

nicht immer ist, wie ich wohl fühle,

in das höhere Akter,

Urtheil, beim Eintritte klar,

das kritische so

so bestimmt und unbefangen, als in der ver­

schwundenen kräftigen Zeit des Mannesalters. In den politischen und geschichtlichen Ab­

handlungen wird man die Grundsähe wieder finden, zu welchen ich mich in meinen „Staatswissen-

schaften

im

Sammlung der

Lichte

unserer

Zeit,"

in

der

Constitutio­

„europäischen

nen" (4 Theile, Leipzig, bei Brockhaus seit 1816.),

und in meinen geschichtlichen Schriften seit den bei­ den letzten Jahrzehnten bekannt habe.

Mehrere die­

ser Dogmen wurden in den vorliegenden einzelnen Abhandlungen weiter ausgeführt und durchgebildet,

als es im Zusammenhänge des Systems verstattet war, und namentlich hat es mich innig gefreut, daß

der von mir gemachte Versuch,

politischen

Grundanfichten

auf die drei politischen

Systeme der Revolution, der

die vorherrschenden

der Reaction und

Reformen zurückzuführen,

die Zustimmung

mehrerer denkenden Männer erhielt.

Verzeihlich werden es übrigens die Leser dieser Sammlung finden, daß ich, mehrerer Nekrologe,

durch die Aufnahme

das Andenken sehr verdienter

Gelehrten, so wie durch die Abhandlungen, welche die während

eines Zeitraumes

von

313 Jahren

IX

selbstständig bestandene Universität

Wittenberg be­

treffen, die Erinnerung an diese für die geistige Ent­

wickelung der teutschen und europäischen Menschheit höchst wichtige Hochschule zu erneuern versucht habe.

Denn jene Männer,

deren Manen ich das Denk­

mal der Freundschaft und Achtung stiftete,

waren

größtentheils durch eine lange Reihe von Jahren mit mir verbunden, und zum Theile in denselben

wissenschaftlichen. Kreisen wirksam gewesen, welchen ich, aus innerer Neigung und aus amtlicher Pflicht, den größten und schönsten Theil meines Lebens ge­

widmet habe.

Was aber die Abhandlungen über

die, nun mit Halle ehrenvoll vereinigte, Universität

Wittenberg betrifft;

so dürfte ihre Aufnahme schon

deshalb entschuldigt werden, weil, seit der Auflösung

dieser Hochschule in ihrem Geburtsorte, keine beson­ dere Schrift zu ihrem Andenken (wie z. B. über Helmstädt und andere erloschene Hochschulen) erschien,

und weil namentlich über die Schicksale

dieser

Universität seit dem Jahre 1806 die Urtheile des

größer» Publikums noch keinesweges geschichtlich

berichtigt worden

sind.

Ich

darf wenigstens die

Wahrheit des in dieser Hinsicht Mitgetheilten ver­ bürgen, weil ich theils als Mitglied des akademischen

Senats im freien

Gebrauche der Archive

stand,

theils als Mitglied der, in den letzten Jahren der

Selbstständigkeit der Universität ernannten, Commis­ sionen und Deputationen

den größer» Theil

der

Commissions- und Deputationsarbeiten amtlich zu

bearbeiten hatte. Die wenigen,

dem zweiten Bande beigefügten,

dichterischen Versuche gelten in der That nur

als Nachklänge aus einer frühern, der Dichtkunst befreundeten Zeit,

und als Versuche im Skandi«

ren- —

Möge übrigens diese Sammlung die freundliche Aufnahme finden, welche mehrer« meiner Schriften im Kreise gebildeter Leser zu

Theil ward;

solche kleine Schriften sind,

int

des Wortes, gewöhnlich die „Kinder

denn

edlen Sinne der Liebe"

ihrer schriftstellerischen Väter.

Leipzig, den 16. Juni, 1831.

Pölitz.

Inhalt des ersten Bandes. 1. Die Ähnlichkeit des Kampfes um die bürgerliche und politische Freiheit in unserm Zeitalter mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der Kirchenverbesserung................................. S.

1

(Ei" akademischer Vortrag, gehalten zu Leipzig am 30. Oct. 1817.)

2. Die drei politischen Systeme der neuern Zeit . .

S.

29

3. Die drei politischen Systeme der neuern Zeit nach ihrer Verschiedenheit in den wichtigsten Dogmen deS Staatsrechts und der Staatskunst.................... S.

49

4. Die politischen Grundsätze der Bewegung und der Stabilität, nach ihrem Verhältnisse zu den drei politischen Systemen der Revolution, der Reaction und der Reformen.................................. S.

77

6. Geschichtliche Andeutungen über die Anwendung des Systems der Reformen in monarchischen und republikanischen Staaten......................................... S.

94

6. Die geschichtliche Unterlage des innern Staatsle­ bens............................................................................ ,souverainen Volkes" übergehen;

80 deshalb dürfe der Thatsache der Revolution selbst keine Grenze gesetzt werden; denn die Revolution sey eben eine, von Tag zu Tag fortgesetzte, Bewegung in allen Theilen -es innern Staatslebens bis zur erreichten völligen Verjüngung und Beseitigung sämmtlicher, bis jetzt noch historisch bestehender.

Formen. Jeder, der die Verschiedenheit des politi­ schen Charakters der Parteien erkanntes die in Frank­ reich seit dem letzten Halbjahre einander theoretisch und praktisch gegen über stehen, weiß, daß das Mi­ nisterium Peri er, so wie das linke Centrum der Deputirtenkammer, im Ganzen das System der Reformen festhält, während die äußerste Linke für das Princip der Bewegung sich erklärt, als dessen Chorführer besonders Lafayette sich an­ kündigt. Auf ähnliche Weise unterscheiden sich in Großbritannien die Mitglieder des gegenwärti­ gen Ministeriums, namentlich Grey, Lord Rüs­ sel, Brougham, Palmerston und andere, durch ihre offen ausgesprochene Anhänglichkeit an das Sy­ stem der Reformen, eben so von den sogenannten Radicalreformers, welche den allgemeinen Um­ sturz und die völlige Wiedergeburt der Grundlagen der brittischen Verfassung fordern, wie von dem Reactionssysteme des Ministeriums Wellington. Man kann in der That sagen, daß im gegenwärti­ gen Augenblicke, wo die Könige Wilhelm 4 und Ludwig Philipp offen für das System der Reformen sich erklären, dieses System legitim geworden sey. Was aber thatsächlich in der Wirklichkeit sich ankündigt, muß auch im Kreise der Wissen­ schaft eine bestimmte Stelle erhalten, weil überall die Theorie der Erfahrung folgen, und die Er­ scheinungen der letztern unter einen allgemeinen und

81 höher» Standpunct bringen, so wie die fehlcnden Mittelglieder in dem Baue des Systems ausfüllen und ergänzen muß. Es gelte daher dem Versuche, nachzuweisen, daß, nach der Grundverschiedenheit ihres staatsrecht­ lichen und politischen Charakters, allerdings nur drei politische Systeme, die bereits genannten Systeme der Revolution, der Reaction und der Refor­ men, denkbar sind; — daß aber die politischen Grundsätze (nicht: Systeme) der „Bewegung" und der „Stabilität" zwei wichtige Mit­ telglieder in der Theorie und Praxis der drei aufgestellten Systeme bilden, so daß der Grundsatz der „Bewegung" die Mitte zwischen dem Sy­ steme der Revolution und dem Systeme der Refor­ men, dagegen der Grundsatz der „Stabilität" die Mitte zwischen dem Systeme der Reaction und dem Systeme der Reformen hält.

Daß dem so sey, werden einige kurze Andeu­ tungen bestätigen. Das System der Revolu­ tion (und zwar in seiner bessern Bedeutung, wo man nichts den wilden Umsturz alles Bestehenden durch zügellose Pöbelherrschaft, durch Ausstoßung, Verfolgung und Hinrichtung der Andersdenkenden bewirken, sondern das höchste Ideal der Ver­ nunft für alle Rechtsverhältnisse in der Mitte der Völker und Staaten verwirkli­ chen will,) betrachtet alles Bestehende, alles im innern Staatsleben auf geschichtlicher Unterlage be­ ruhende, als unvollkommen, mangelhaft und veraltet. Es begnügt sich nicht damit, die verdorrten Blätter, Zweige und Aeste von der Kerneiche des Staa slePölitz vc-rm. Schr. LH. 1. Ö

82 bens zu trennen; es haut vielmehr den ganzen kräftigen Eichenwald selbst nieder, weil er, im Laufe der Zeit, ziemlich regellos Heraufwuchs, weil manche, vormals kräftige, Eiche bei'm eintretenden Alter hohl ward, und weil oft mehrere zu nahe stehende Eichen ein­ ander selbst Luft und Sonne nehmen. Diese, in die Augen springenden, Unvollkommenheiten auf ein­ mal und schnell zu beseitigen, steckt man den ganzen Eichenwald in Brand, und säet in die erloschene Holzkohle — neuen Eichensamen, damit im Laufe der Zeiten ein ganz neuer und regelmäßiger Eichen­ wald erwachse. Mit einem Worte: die Anhänger des Systems der Revolution wollen eine Ge­ genwart und Zukunft ohne Vergangenheit. Ihre glühende — oft für die höchsten Interessen der Menschheit und des Bürgerthums aufgeregte — Einbildungskraft hastet an dem Ideale eines Ver­ nunftstaates, der um jeden Preis auf den Trüm­ mern der Wirklichkeit errichtet werden soll. Die Männer dieses Systems sind die erklärtesten Gegner des geschichtlichen Rechts; denn alles, was seit Jahrhunderten im Staatsleben bestand, — es kündige sich noch frisch und lebensvoll, oder veraltet und abgestorben an, — erscheint ihnen, eben weil es auf geschichtlichem Grunde beruht, als unvollkom­ men, mangelhaft und der Verjüngung bedürftig. — Dies ist das System des Ideals, ohne Rück­ sicht auf Geschichte und Wirklichkeit! So lange es innerhalb dec Schranken der Theorie bleibt, ist der Ultraismus, der ihm einwohnt, nicht gefährlich; sobald es aber, durch die rohe Ge­ walt des souverain gewordenen Pöbels, verwirklicht werden soll, verliert es nicht nur den ätherischen Charakter eines theoretischen Ideals, sondern gleicht

83 dem Sturze des Thurmes zu Siloah, welcher Ge­ rechte und Ungerechte zugleich unter seinen Trümmern begrub! Diesem Systeme schroff gegen über steht das S y stem der Reaction. Alles, was im Laufe der Zeit und unter dem, in der Naturwelt wie in dem Reiche der Freiheit bestehenden, Einstusse der Verän­ derung, Fortbildung und allmähligen Verjüngung als neue Form ins innere Staatsleben, bald in Hinsicht auf Verfassung, bald in Hinsicht auf Regierung und Verwaltung, eintrat, ist den Anhängern der Reaction gleich verdächtig und verhaßt. Nur das, was war; nur das, was seine Stammtafel, —sie beruhe auf Perga­ ment, oder auf dem Herkommen, oder auf dem Miß­ brauche verjährter Rechte, — für ein Jahrtausend ins Mittelalter zurückzuführen vermag, wo der Prie­ ster und der Ritter allein im beginnenden Staate zählten, und über beiden ein, durch sie in seiner Macht oft sehr beschränkter, Fürst, so wie unter ihnen der Leibeigene, Eigenhörige, Herrendienstpstichtige (der glebae adscriptus) stand: — nur das ist, im Geiste des Systems der Reaction, recht und zeitgemäß. Blos das geschichtliche Recht (das aber freilich, nach dem Zeugnisse der Geschichte, auch irgend einmal einen Anfang hatte); blos, was, bei der Gründung der neueuropäischen Staaten, in dem Zeitalter der politischen Unmün­ digkeit der Völker in deren Mitte eingeführt, und in spätere Zeit mit dem römischen Rechte, von den 12 Tafeln an bis auf Justinian, nothdürftig amalgamirt ward: blos das soll gelten. Jedes Ideal des Staates ist, im Charakter dieses Sy­ stems, nicht die höchste — und in seinem Endpunkte allerdings unerreichbare — Idee der Vernunft, 6*

84 welchem die Menschheit, nach dem ewigen Gesetze der Freiheit, allmählig sich nähern soll, sondern das tauschende Trugbild einer kranken und zügellosen Einbildungskraft. — Wo also der Geist einer jun­ gem Zeit sein Recht geltend machte; wo bald mehr, bald weniger, wo bald durchgreifender, bald nur theilweise, die innere Gestaltung des Staatslebens, entweder durch neue Verfassungs * oder Verwaltungs­ formen , oder durch beide zugleich, verändert und fortgebildet ward: da bietet das System der Reac­ tion die ganze Kraft auf, welche dem geschichtlich Bestehenden — nach der, Jahrhunderte langen, Dauer des Besitzstandes — beiwohnt, das ins Staatsleben eingetretene Neue und Zeitgemäße aus demselben wieder zu verdrängen und zu vernichten, damit an dessen Stelle der verdorrte Stamm des Vorigen von neuem gepsianzt, und derselbe, wo mög­ lich, durch die Kunstmittel dec List, des Druckes und der Gewalt, zu einem nothdürftigen und küm­ merlichen Leben hergestellt werde. — Der Vernunft und ihrem Ideale völlig entfremdet, steht das System der Reaction einzig auf geschichtlichem Bo­ den. Seine Gegenwart und Zukunft soll nichts weiter seyn, als ein Gebäude auf dem verwitterten Roste der Vergangenheit. Seine Staatskunst schmeckt nach den Zeitaltern, wo das Lehnösystem und das System der kirchlichen Hierarchie begann; deshalb gilt ihm das Mitte kalt er als das Paradies, wo der Baum des Staats lebens Heraufwuchs, wobei man aber leider nur zu leicht vergißt, daß dem Pa­ radiese auch der Baum „der Erkenntniß des Guten und Bösen" angehörte. In der Mitte zwischen diesen beiden Syste­ men der Revolution und der Reaction — gleich-

85 mäßig beruhend auf philosophischer/ wie auf ge­ schichtlicher Unterlage — steht das System der Reformen. Ihm gilt das Ideal der Vernunft, als Ideal, d. h. als unerreichbar; nichts desto weNiger aber als der Endpunct, welchem allmählig das Individuum, wie die Menschheit selbst, zugebildet werden und sich annahern soll. Ihm gilt aber auch gleichmäßig die Geschichte, nach allem, was sie, auf fester Unterlage ruhend, als für die Gegen­ wart noch in voller Lebenskraft bestehend und als die Gewähr einer bessern Zukunft in sich tragend, aufstellt. Das System der Reformen kennt keine Gegenwart ohne Vergangenheit; es trennt das Kind nicht gewaltsam von der Mutter; es ent­ wickelt und fördert alles, was als anerkannt zeitge­ mäßes und rechtliches Bedürfniß sich ankündigt, auf die sichere Unterlage des Vorhandenen; es zerstört nicht die Eiche selbst, wegen der einzelnen verdorrten Blätter, Aeste und Zweige; es hebt aber und erkräftigt den jungen und frischen Lebenötrieb der Ge­ genwart, damit die Zukunft, reich an Blüthen und Früchten, aus der Gegenwart allmählig sich entfalte; damit der fortschreitenden Civilisation ihr Recht wiederfahre, dem vorgehaltenen Ideale sich zu nähern, ohne doch der Vergangenheit zu verges­ sen, in deren abgelaufenen Zeitaltern der gegenwär­ tige Höhepunct der Civilisation vorbereitet und all­ mählig herbeigeführt ward. — Das System der Re­ formen stützt sich daher gleichmäßig auf das Ideal, wie auf die Geschichte. Es verstattet keinen Sturm­ schritt zur plötzlichen Eroberung des Ideals; es tritt aber auch, mit gleichem Ernste und gleicher Festigkeit, der Reaction mit ihrem sogenannten „hi­ storischen Rechte" entgegen, sobald das letztere nicht

86 seinen innern Werth und seine fortdauernde Brauch­ barkeit für die Gegenwart, sondern blos sein Al­ ter, und seinen Stammbaum entweder in Rom und Byzanz, oder in den Capitularien der Karolinger, oder in den Pseudo - Jsidorischen Decretalen nachzu­ weisen vermag.

Als Systeme, d. h. als in sich abgeschlossene und zusammenhängende Theorieen, als scharf be­ grenzte und abgeründete Gebäude der menschlichen Erkenntniß, können daher in der That nur die drei genannten Systeme für Staatsrecht und Staats­ kunst aufgestellt und anerkannt werden. Allein in der Wirklichkeit gestaltet sich jede Theorie un­ ter den Formen verschiedener und mannigfaltiger Schattirungen. Es giebt, selbst zwischen den verschiedenartigsten Systemen, gewisse Mittelglie­ der, die nicht übersehen werden dürfen, weil sie oft den unmerklichen Uebergang von dem einen zu dem andern Systeme, so wie die Annäherung des einen Systems an das andere vermitteln. So ver> treten in der französischen Deputirtenkammer die bei­ den Centra die Systeme, die äußerste Rechte und Linke aber die Schattirungen derselben. Wir nannten bereits Eingangsweise das soge­ nannte Princip der Bewegung als das Mit­ telglied zwischen dem Systeme der Revolution und dem Systeme der Reformen. Das Princip der Bewegung seht eine vorhergegangene Revolu­ tion als Thatsache voraus, fordert aber, daß die dadurch bewirkte Umbildung des, bisher in einem Staate bestandenen, politischen Systems nicht blos bei jener Thatsache stehen bleibe, und die neue Ge-

87 staltung des Ganzen nicht blos auf Reformen sich beschränke, die mit Besonnenheit, Umsicht und Kraft allmählig ins innere Staatslebcn eintreten. Je­ nes Princip der Bewegung will vielmehr die that­ sächliche Revolution verewigen, und sie gleichsam in Permanenz erklären, damit durch fortge­ setzte Bewegung aller, durch die Revolution bis aufs höchste angeregten und gesteigerten, Kräfte die völlige „Wiedergeburt" des gesammten innern Staatslebens herbeigeführt werde. Dem Princip der Bewegung ist der besonnene Gang der Refor­ men zu lang und zu langweilig. Was im Sturme der Revolution, durch die eingetretene augenblickliche höchste Kraftäußerung, und gewöhnlich nicht ohne rasche Ueberschreitung der Grenzen des Rechts und der Sicherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, be­ wirkt ward, soll in demselben Geiste und durch dieselben Mittel — d. h. durch revolutionaire, wenn gleich nicht durch Wiedererneuerung der Schre­ ckensscenen des Convents, — und zwar ununterbro­ chen fortgeführt werden, wobei man oft selbst den Endpunck, bis wie weit dies möglich ist, nicht einmal sich bestimmt verdeutlicht. Deshalb, um nur Ein Dogma des Princips der Bewegung anzuführen, ist ihm die „Volkssouverainetät," und weder ein „Staatsgrundvertcag," wie das Sy­ stem der Reformen lehrt, noch daß „ex Dei gratia“ der Reaction, die Grundlage alles Staatslebens und aller Regentenmacht im Staate. Deshalb steht, nach dem Princip der Bewegung, das sogenannte Republikanische weit über dem Monarchischen; des­ halb erfand man den Begriff eines „monarchi­ schen Thrones mit republikanischen In­ stitutionen" und gefiel sich in diesem Begriffe;

öS und deshalb sollte sogar in die Theorie der Be« griff eines „Bürgerkönigs" übergetragen werden, dies aber nicht in dem Sinne, wie großartige und menschenfreundliche Regenten durch ihre Popularität diese ruhmvolle Benennung sich erwerben, sondern in dem Sinne der „Volkssouverainetät," so daß die souverainen Bürger sich selbst einen „Bürgerkönig" erwählen. Es ist nicht zu verkennen, daß eine nicht unbedeutende Anzahl von gebildeten Franzosen seit der Iuliwoche des Jahres 1830 in diesem „Princip der Bewegung" sich gefällt. Selbst die folgerichtige Theorie des Systems der Reformen wird diese Ultra's nicht heilen; dies vermag nur die uner­ schütterlich feste Praxis eines kräftigen Mini­ steriums, uud eines, mit demselben gemeinschaftlich und redlich wirkenden, linken Centrums, welche, beide im Einklänge, gleich stark und kräftig der Revolution und der fortdauernden revolutionären Bewegung, wie der, von Priestern, Emigranten und vormaligen Höflingen geleiteten, Reaction sich erwehren müssen. — Das „Princip der Bewegung," im politischen Charakter des Epätjahres 1830, gleicht dem Schnellschlage des Pulses eines Fieberkranken in der Zeit der beginnenden Reconvalescenz, wo, wegen der noch sichtbaren Schwäche des Kranken, dec Rückfall in die Ursache der Krankheit leicht mög­ lich bleibt. Ein solcher krankhafter Zustand darf aber nicht nach dem Brownischen Systeme behan­ delt werden, damit der.Rückfall des Fiebers nicht das Bewußtseyn des Reconvalescenten selbst verdun­ kele, und seine krankhafte Aeußerung zum Wahnsinne steigere. Denn nie darf man vergessen, daß zwar das System der Revolution mehr augenblickliche Kraft zeigt, als das System der Reformen, nie aber

89 den Wiederhalt, welchen dieses behauptet, sobald dessen Leitung und Behauptung nicht von politischen Schwächlingen und Freunden des Schaukelsystems, sondern von Männern gehandhabt wird, die mit deutlicher Erkenntniß, mit Kraft und persönlicher Ruhe wissen, was sie wollen, und die selbst, im äußersten Falle, mit dem Systeme persönlich fallen würden, das sie als wahr, zeitgemäß und wohlthä­ tig/ mit Hellem Blicke und reinem Willen erkann­ ten- — Deshalb keine Concession, weder dem Systeme der Revolution, noch dem Princip der Bewegung, wohl aber Nach sicht gegen das letz­ tere, sobald es blos theoretisch auf der Tribune und in Schriften verfochten wird, und nicht durch auf­ gefrischte Clubbö unter dem modernen Namen „pa­ triotischer Associationen" durch das ganze Land ver­ zweigt, und gleichsam verewigt werden soll; denn solche Vereine müssen sogleich in der Geburt unter­ drückt werden. Noch ist ein Wort über das Princip der Stabilität zu sagen, das, unter mannigfaltigen Schattirungen, als Mittelglied zwischen dem Systeme der Reaction und dem Systeme der Refor­ men erscheint. Nach dem eigenthümlichen Charakter des Principe der Stabilität, will dasselbe das gegenwärtig Bestehende verewigen. Seine ganze Thätigkeit beschränkt sich auf die Erfindung der Variationen für den behaglichen Chorgesang: „Ach, wenn es doch immer so wäre V Das Princip der Stabilität haftet nämlich an der Gegenwart, wie sie aus der Vergangenheit, mit allen ihren guten und schlechten Seiten, hervorging; denn „al­ les, was besteht, ist recht und gut!" (Bei­ läufig gesagt: so dachten auch die Pharisäer, als sie

90 Jesum vor den Pilatus stellten; und nach dem­ selben Grundsätze ward Huß zu Kostniß verbrannt, und Luther mit Kirchenbann und Reichsacht be­ legt!) Das Princip der Stabilität ist an sich nicht Reaction; denn eö hat das Eintreten des Neuen und Zeitgemäßen — entweder aus Furcht vor dem, wohin es führen könne , oder aus innerer (oft ganz persönlicher) Abneigung gegen jede neue Idee — verhindert, bedarf folglich auch keines Gewaltmittels, das Neue aus dem Staatsleben wieder zu verdrän­ gen und das Veraltete herzustellen. Man kann sich ja die Kanäle da ersparen, wo kein Wasser stießt! Das Princip der Stabilität kann aber der Reaction sich nähern und in sie übergehen, sobald, durch innere oder äußere Veranlassungen, im Staatsleben das Neue und Zeitgemäße versucht wird; denn dann bewaffnet eß sich für die Erhaltung des Be­ stehenden, und erscheint nicht selten, in solchem Falle, in der Wirklichkeit eben so streng und unversöhnbar, als die Reaction selbst. — Das Princip der Sta­ bilität, als Mittelglied zwischen Reaction und Reform, enthält sich aber auch der Annäherung an das System der Reformen, und der Befreundung mit demselben. Die mildern Anhänger dieses Princips sind, an sich, den Reformen im Einzelnen nicht abgeneigt; nur sollen sie nicht zu weit gehen, und nur immer als halbe, oder gar als Vier­ telsmaasregeln versucht werden. Man fühlt z. B. die Nothwendigkeit einer neuen bürgerlichen und Straf-Gesetzgebung. Wohin könnte aber ein völ­ lig neues Gesetzbuch führen? Man begnügt sich daher in jedem Jahre mit einem halben Dutzend neuer Mandate und Decrete. Man erkennt ferner die Nothwendigkeit einer gerechten und gleichmäßigen

91 Besteuerung; allein der Mäusethurm der Exemtio­ nen erhebt sich stolz und fest über die Wogen des Rheins. Man -will das Licht der Erkenntniß nicht geradezu unter den Scheffel sehen; man fürchtet sich aber vor dem vollen und reinen Lichte der Sonne, weil wohl Einzelne den Sonnenstich erlitten haben. Man ahnet das Lähmende und Beengende des Zunftund Jnnungswesens; allein man erhohlt sich an dem Gedanken, daß die teutsche Welt doch bereits tausend Jahre mit Zünften und Gilden bestand, und daß die nächsten tausend Jahre ebenfalls mit Zunftladen, Jnnungszwange und veralteten Förmlichkeiten (an­ geblichen Gerechtigkeiten) recht füglich ablaufen könne. Man hört nicht ohne mitleidige Wallungen des Ge­ fühls, daß übertriebene Mauthen und Zölle die Menschen entsittlichen, das Heer der Schwärzer vermehren und ermuthigen, und die, gegen sie aus­ geschickten, Gensd'armen und Grenzjäger in die wür­ digsten Nachfolger der spanischen Menschenjäger auf den Antillen in dem zweiten Viertheile des sechs­ zehnten Jahrhunderts verwandeln. Allein, was zu thun? Der Finanzetat verlangt jährlich eine be­ stimmte Summe in Millionen aus Mauthen und Zöllen; — und Alles bleibt beim Alten, bis die menschliche Freiheit, welcher die Hand Gottes das Ziel vorwärts steckte, die beengenden Feffeln der Stabilität zerbricht, die, nach dem Zeugnisse der Geschichte, nur bis zu einem gewissen Höhegrade angezogen werden können. Erscheinungen solcher Art werden aber erspart, wenn die Regierung selbst von dem Systeme allmähliger Reformen ausgeht, und den Faden derselben in ihrer Hand behält. — Das Princip der Bewegung scheint daher der Eilpost zu gleichen, welche den vorüber jagenden

92 Courier der Revolution einhohlen will, weil ihr Weg im Ganzen auch der Weg des leßtern ist, nur daß sie ihr Allegro nicht bis zum Presto steigert. Das Princip der Stabilität hingegen hat vielAehnliches mit dem Reisenden, der in einem Gasthause einkehrt, wo es ihm so wohlgefallt, daß er nicht ans Weiterreisen, oder gar ans Ziel der Reise denkt, und dessen Fuhrwerk vor dem Thorwege bald im Sonnenscheine, bald im Regensturme halten und an die Prädestination seines Schicksals sich gewöhnen muß. — Allerdings gleicht das Leben der Indivi­ duen und der Staaten einer Reise, und zwar einer langen und weilen Reise zum Ziele der politischen Mündigkeit und Reife. Gute Chausseen sind auf einer solchen Reise Bedürfniß, und diese bauet we­ der die Revolution, noch die Reaction, sondern blos die Reform, welche die schlechten uud ausgefahrnen Straßen der Vorzeit in gute und sichere verwan­ delt. Das Chaussüegeld zur Lcbensreise im Staate ist, nach allen drei Systemen, in neuerer Zeit ziem­ lich hoch gestellt; doch erheben es die Revolution, Reaction und die Stabilität, ohne die Chausseen davon zu bauen; denn nur das System der Refor­ men spricht den Grundsaß aus: daß das Chaussee­ geld blos zum Baue und zur Unterhaltung der Chausseen bestimmt sey und verwendet werde, — folglich auch der Gesammtertrag der Steuern und Abgaben aller Staatsbürger nur für die anerkann­ ten Bedürfnisse des Staates.

Europa gewährt in unserer Zeit das eigenthüm­ liche Schauspiel, daß alle drei politische Systeme, nebst ihren beiden Mittelgliedern, gleichzeitig, ja

93 oft sehr nahe neben einander, in der Mitte der Staa­ ten — gleichsam wie ein Collegium der Physik mit Experimenten — versucht und geübt werden. Das Schauspiel dieser Staatöpeaxis, im Ganzen genom­ men, ist interessant, und reich an mannigfaltigen und häufig wechselnden Formen; nur daß die Ein­ trittspreise zu diesem Schauspiele beim Systeme der Revolution und Reaction zu hoch gestellt sind, und die Eintrittscharten bisweilen sogar die Blutfarbe tragen. Beim Systeme der Reformen gilt aber unverrückt ein vertragsmäßig festgesetzter Ein­ trittspreis; und deshalb halten wir dafür, daß die Staaten, wo das System der Reformen gilt, siche-' rer und glücklicher dem Ziele sich nähern, als die andern.

5. Geschichtliche Andeutungen über die Anwendung

des Systems der Reformen in monarchischen und

republikanischen Staaten. unter dem „Systeme der Reformen," im Ge­ gensatze des „Systems der Revolution" und des „Systems der Reaction," zu verstehen sey, kann nach den vorstehenden Abhandlungen als bekannt voraus gesetzt werden. Allein noch ist kein Versuch geschehen, in den verflossenen Zeiträumen der allgemeinen Geschichte die thatsächliche Anwen­ dung des Systems der Reformen, sowohl nach seinem Eintritte und nach seiner Ankündigung, als nach seinen Wirkungen und Ergebnissen in dem po­ litischen Leben der einzelnen Völker und Staaten nachzuweisen. Demungeachtet ist dies nöthig, wenn die Ueberzeugung bewirkt werden soll: nur durch daß zur rechten Zeit gehandhabte System der Reformen werde auf gleiche Weise die durchgrei­ fende Erschütterung des innern Staatslebens der Völker und Reiche in dem Sturme einer ausbre­ chenden Revolution, so wie das unaufhaltbare Veralten und der politische Tod der Völker und Staaten durch die strenge Festhaltung des Sy­ stems der Reaction, vermieden.

95 So lehrreich und warnend dieses hochwichtige Er­ gebniß in allen Zeiträumen der Geschichte uns ent­ gegen tritt; so genügt es doch, für die Wahrheit und Bedeutsamkeit desselben, einige wichtige Beispiele hervorzuheben, wobei nicht übersehen wer­ den darf, daß — verhältnißmäßig — weit weniger in Republiken, als in monarchi­ schen Staaten das System der Reformen ange­ wandt, und, durch die weise und zweckmäßige An­ wendung desselben, das Veralten und der politische Tod der Staaten verhindert worden ist. Man sagt dem Kenner der Geschichte des Alter­ thums nichts Neues, wenn man nachweiset, daß Sparta, nachdem die Verfassung Lykurgs sich überlebt hatte, und man das innere Staatölcben nicht durch zweckmäßige Reformen der Lykurgischen Gesetze zeitgemäß umgestaltete, eben wegen des Veraltens seiner innern Verfassungs - und Verwaltungsformen unterging; daß auf ähnliche Weise, nach dem Ver­ alten und Erschütterung der Solonischen Verfassung, Athen seine Freiheit und politische Selbstständigkeit verlor, und später, aus gleichem Grunde, der achäische Bund. Auf ähnliche Weise stürzte das repu­ blikanische Staatögebäude Karthago's zusammen, als Hannibals großartiger Versuch, die Gebrechen der Verfassung seines Vaterlandes durch die Anwen­ dung des Systems der Reformen zu beseitigen und frisches Leben und neue Kraft in die veralteten ari­ stokratischen Formen des größten Handelsstaates der alten Welt zu bringen, unrettbar mißlang. Karthago unterlag den Römern, weil es in seinem ganzen in­ nern Staatöleben veraltet war, und weil, nach dem Zeugnisse der Geschichte, die Oligarchie am hart­ näckigsten dem Systeme der Reformen sich widersetzt.

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Der Untergang Karthago's aber, so wie mancher Staaten der neuen und neuesten Zeit, bezeugt es unwiderlegbar, daß die Reformen zur rechten Zeit und unter Anwendung der-zweckmäßigsten Mittel, eintreten, daß sie von innen ausgehcn, nicht von außen her kommen müssen, wenn nicht durch das zu späte oder einseitige und fehlerhafte Anwenden des Systems der Reformen das längst schon sich ankündigende völlige Veralten des gan­ zen innern Staatslebenö desto schneller zur Kenntniß aller übrigen gleichzeitigen Staaten 'gebracht, und der Eintritt des politischen Todes sogar dadurch be­ schleunigt werden soll. Als das Haus der Komnenen den Thron von Byzanz bestieg, war es noch möglich, dem tief gesunkenen oströmischen Reiche durch das System der Reformen eine neue Lebenskraft zu geben, so viel auch schon seit Jahrhunderten in diesem Reiche dem unaufhaltbaren Veralten und dem politischen Tode vorgearbeitet worden war. Als aber der legte Constantinus Paläologus über Byzanz herrschte, war der politische Tod unvermeidlich, und nur in dem Gange der Verhältnisse lag es, daß eben Mahomed 2 es war, welcher den halben Mond, statt des Kreuzes, auf die Sophienkirche in Konstantinopel pstanzte, so ruhmvoll auch der letzte griechische Kai­ ser am 29. Mai 1453, unter den Trümmern seines zusammenstürzenden Reiches, selbst fiel. Er gab dadurch ein Beispiel, das wenigstens für Stanis­ laus Augustus von Polen im Jahre 1795 verloren ging, als er, nach Praga's Erstürmung, mit einer Pensionirung von 200,000 Ducaten den Untergang seines Reiches und seines Thrones zu überleben vor­ zog. Doch unser Zeitalter selbst ist reich an ähn-

97 lichen Erscheinungen, wie Karthago, Athen und Ost­ rom darbieten, namentlich in Republiken. Das, mehr als tausendjährige, Staatsgebäude Venedigs fiel beim ersten äußern Stoße — ohne Schlacht und unbetrauert von der Mitwelt — im Jahre 1797 zusammen, weil die Verfassung dieses Freistaates längst veraltet war, und selten in einer Republik der Mann aufsteht, noch seltener mit seinen Ab­ fichten durchdringt, der die Zeit des wirklichen Veraltens und das Bedürfniß der Anwendung des Systems der politischen Reformen erkennt. Denn nie wird von herrschenden Corporationen, — sie mögen übrigens die Farbe der Aristokratie oder der Demokratie tragen, — das System der Re­ formen ausgehen. Es sind vielmehr, nach dem Zeugnisse der Geschichte, einzelne hervorragende Gei­ ster, — Fürsten, die zur rechten Zeit und auf der rechten Stelle erschienen, oder Minister, in der Nähe einsichtsvoller und wohlwollender Regenten — welche nach dem ihnen einwohnenden, ihr Volt und ihre Zeit überragenden, Geiste den Zeitpunct der nöthig gewordenen Verjüngung des innern Staatölebenö erkannten, und, mit weiser Berücksichtigung der Oertlichkeit, der erreichten Bildungsstufe ihres Volkes und seiner Stellung in der Mitte anderer Staaten, das System der Reformen handhabten. Durch solche zeitgemäße Reformen glänzen der Ostgothe Theoderich, Karl der Große, Alfred, Elisabeth von England und Heinrich der vierte in der Geschichte. So wie aber Venedig durch den veralteten Corporationsgeist in seiner Regierung, der jede Re/ form int innern Staatsleben mit blinder Hartnäckig­ keit von sich wies, beim ersten mächtigen Anstoße, Pölitz verm. Schr. Lh. 1. 7

98 der seine Grenzen berührte, unterging; eben so auch Genua und die übrigen Republiken N e u-J t a l i e n S; eben so die ehemaligen Reichsstädte Teutschlandö; eben so der Freistaat der vereinigten Nieder­ lande, welchem aber doch, aus einer frühern bessern Zeit, noch so viele Lebenskraft einwohnte, daß nicht zugleich mit der vorigen Verfassung der Republik die Selbstständigkeit des Staates selbst verloren ging. Denn nur auf drei Jahre (von 1810—1813) war der Name Hollands in der europäischen Staats­ geographie gestrichen. — Auf ähnliche Weife war die helvetische Eidsgenossenschaft am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, besonders die Macht des Berner Patri'ciatS, veraltet; nur daß die allgemei­ nen politischen Interessen des Erdtheils selbst weder den völligen Untergang dieses Freistaates, noch die Verpflanzung einer monarchischen Regierungsform in dessetr Mitte verstatteten; daß vielmehr auf der Un­ terlage des veralteten Bundes, ein neuer Bundes­ staat errichtet ward, in dessen Verfassung seit dem Jahre 1815 das, was die Mediationsacte vom 19. Februar 1803 versucht hatte, die Mischung des Al­ ten und des Neuen zu Einem Ganzen, größtentheils beseitigt, und das Meiste aus dem alten Systeme hergestellt ward. Nur zeigten die Erscheinungen des Spätjahres 1830 im ganzen Umfange des helveti­ schen Bundesstaates, daß es rathsamer gewesen wäre, im Jahre 1815 das System der Reformen zu befolgen, statt der Reaction sich zuzuwenden. Denn die allgemeinen Bewegungen im Umfange des hel­ vetischen Gebietes seit dem Herbste 1830 können nur durch zeitgemäße Verfassungs - und Verwaltungs­ formen nach ihren Ursachen gehoben werden. Allein am warnendsten spricht in der Geschichte

99 der neuesten Zeit das Schicksal Polens für die zeitgemäße Anwendung des Systems der Reformen. Zwar läßt sich nicht berechnen, ob für Polen, sich selbst überlassen, noch im Jahre 1788 die rechte Zeit war, das innere Staaksleben neu zu gestalten, und durch die Beseitigung der ent­ schiedensten Bedingungen seines Veraltens — des liberum Veto, des Wahlthrons, und der Leibeigen­ schaft — dem politischen Tode vorzubeugen; nur so viel ist geschichtlich begründet, daß, seit dem Erlö­ schen des Jagellonischen Mannsstammes, das innere Staatöleben Polens, bei der Unvollkommenheit der streitigen Königswahlen, bei der beschränkten Macht seiner Könige, und bei der Gesetzlosigkeit seiner Reichstage, aller festen Unterlage ermangelnd, un­ aufhaltbar veraltete, wenn gleich ein Reich von 14 Millionen Menschen nicht so plötzlich zusammenstürzt und aus der Staatsgeographie des Erdtheils ver­ schwindet, wie die Duodezstaaten, deren politische Lebenöflamme, höchstens von einigen patricischen Ge­ schlechtern kümmerlich genährt wird. — Hätte aber Polens anarchische Verfassung, 50 Jahre vor der Thronbesteigung Kakharina's der zweiten in Rußland, ja selbst noch nach Augusts 3. Tode am 5. October 1763, verstattet, dieser „Republik," mit einem Wahlkönige an der Spitze, nach dem Systeme der Reformen eine zeitgemäße Gestaltung, und mit der­ selben dem ganzen Volksleben einen neuen Auf­ schwung zu geben, wie es der reine und kräftige Wille Malachowski, der Stanislaus und Ignaz Potocki, der Sapieha, der Joseph Ponja­ towski, der Kosciusko und anderer, in einer verhängnißvollen Zeit — allein zu spät — beabsich­ tigte: schwerlich dürften die drei Theilungen dieses

100 veralteten Staates versucht worden seyn; schwerlich dürfte es in einem, zur rechten Zeit wiedergebornen, Staate eine Targowiczer Conföderation, und den schmachvollen Reichstag zu Grodno gegeben haben! Neben diesen Erscheinungen veralteter und dem politischen Tode unterliegender Staaten in der Ge­ schichte, ist es erfreulich und erquickend, zu sehen, wie andere Reiche und Staaten durch das System der Reformen zur rechten Zeit gerettet, empor­ gehoben und zu frischem Leben; erkräftigt wurden. Was war z. B. Schweden zur Zeit der Calmarischen Union, und was ward es durch seinen Gustav Wasa? Er brach die Fesseln, welche zu Calmar den skandinavischen Norden in Eine politische Masse warfen; er führte Schweden zur Selbstständig­ keit zurück; er gab seinem Volke die gereinigte Lehre; denn er erkannte, sein Volk sey für dieselbe reif geworden; er gab aber auch seinem Reiche eine eigenthümliche Verfassung, und war der Erste, der — in einer noch politisch dunkeln Zeit — vier Reichsstände berief, und, neben dem Adel, der Geist­ lichkeit und dem Bürgerstande, auch den Bauern­ stand unter die Reichöstände aufnahm. Wie viel dies wirkte; das lehrt die Vergleichung des freien Bauernstandes seit dem Jahre 1527 in Schweden, mit dem leibeigenen Bauernstande in Polen, bei wel­ chem, bis herab auf die neueste Zeit, kaum die Spu­ ren eines wahrhaft menschlichen Daseyns angetroffen wurden! Wie Gustav Wasa das System der Reformen in Schweden handhabte; so Peter der Große in Rußland, freilich im Geiste und nach dem Be­ dürfniß eines slavischen Volkes/und Friedrich 2. in Preußen, im Geiste und nach dem Bedürfnisse

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eines teutschen Volkes, und auf die trefflichen Un­ terlagen seines großen Ahnherrn, des unvergeßlichen Churfürsten Friedrich Wilhelms. Wer hätte wäh­ rend der Regierung des Alexei und Feodors 3. ahnen können, daß der Czar von Moskwa dreißig Jahre später über Liestand, Esthland und Inger­ manland, nach hundert Jahren über die Krimm und über die Länder am Dniefter, am Dnepr, an der Weichsel, und am Pruth herrschen, ja daß die sieg­ reichen Fahnen der russischen Kaiser, kein volles Jahr­ hundert nach Peters 1. Tode, in der Mitte von Paris, auf dem Kaukasus, sogar in Persien, so wie auf den Wällen von Varna und Adrianopel wehen würden?— So erstarken, die Völker und Reiche durch das System der Reformen zur rechten Zeit! Dasselbe gilt von Preußen. Als der zwanzig­ jährige Jüngling, welchem die Weltgeschichte den Ehrennamen des großen Churfürsten gab, im Jahre 1040 die Regierung des durch den dreißig­ jährigen Krieg verwüsteten Brandenburgs übernahm; wer konnte damals ahnen, daß 146 Jahre später einer seiner Nachfolger einen wohlgeründeten, und, was noch mehr sagt, einen, in seinem ganzen innern Leben neugeschaffenen, Staat von mehr als 5 Millionen Menschen hinterlassen, daß dieser Staat, gestützt auf solche Unterlage, am Ende des ersten Viertheils des neunzehnten Jahrhunderts, mehr als 12 Millionen Menschen umschließen, und im Asten an das russi­

sche Riesenreich, im Süden, durch das vom Hause Oestreich abgetretene Schlesien, an den östreichischen Kaiserstaat, so wie im Westen an Frankreich und Niederland grenzen würde? — Wäre im Jahre 1640 auf den schwachen Georg Wilhelm ein Sohn im Geiste des Vaters gefolgt; so gab es keine dreitägige

102 Schlacht bei Warschau, und keinen Vertrag von Welau, folglich auch keinen 18, Januar 1701. Und trat nicht ein Mann, wie Friedrich 2, am 31. Mai 1740 auf den Thron Preußens; so gab es keinen Berliner, Dresdner und Hubertsburger Frieden, kein Westpreußen, und keine von den, durch ihn geschaf­ fenen, Bedingungen der Cultur, der Intelligenz, des Wohlstandes und der Kraft in der Mitte seines Staates, ohne welche die entscheidenden Tage in den Jahren 1813—1815 unmöglich waren! Auf ähnliche Weise betrat Joseph 2. die Bahn des Reformators. Allein, bei allen unverkennbaren Wirkungen feiner Regierung für die kräftige Erhe­ bung des innern Volkslebens, war doch die Zeit

seiner Regierung zu kurz; der Widerstand, auf den er stieß, zu groß; er selbst, der Kaiser, in vielfacher Hinsicht zu rasch und zu wenig bei seinen wohlthäti­ gen Planen beharrlich, als daß er für das innere Staatsleben in der Gesammtheit seiner Reiche das hätte bewirken können, was sein großes Vorbild Friedrich 2. bewirkte. — Aus denselben Gründen konnten weder Pombal, noch Aranda, Campomanes, und Florida Blanca, das politische Veralten der innern Staatsformen auf der pyrenäischen Halbinsel verhindern; und namentlich war ein Mann, wie Godoi, ganz dazu geeignet, die unver­ kennbaren Spuren des politischen Veraltens in Spa­

nien zur allgemeinen Kunde des Erdtheils zu bringen. Was Frankreich betrifft; so dürfte wohl jeder unbefangene Staatsmann unsrer Zeit zu der Ueber­ zeugung gelangt seyn, daß durch das von oben herab gehandhabte System der Reformen zur Zeit der ersten Notabeln die Revolution ver­ hütet worden wäre» Allein weder früher Maure-

103 pas, noch später Calonne und der Graf von Brienne waren die Männer, welche erkannten, daß durch eine vom Könige ausgehende, der brittischen nachgebildete, Verfassung mit zwei Kammern, durch gleichmäßige Besteuerung der privilegirten Stände, durch Aufhebung der Leibeigenschaft, des Zunftzwan­ ges, der Finanzverpachtung, und der lähmenden Grenz­ sperre zwischen den einzelnen Provinzen eines und desselben Königreiches, den Bedürfnissen der Zeit und eines in seiner gesellschaftlichen Bildung mächtig fortgeschrittenen Volkes abgeholfen werden müsse. Was nach dem blutigen Kreisläufe der Revolution (der furchtbarsten und warnendsten Erscheinung in der ganzen bisherigen Weltgeschichte) aus den Stürmen derselben im innern Staaksleben Frankreichs sich er­ halten hat, — eine zeitgemäße Verfassung, gleicht Besteuerung, gleiche Berechtigung zum Staatsdienste, und Vernichtung der drückenden Fesseln, welche auf dem Landbaue, dem Gewerbswesen und dem Handel ruhten; — das alles hätte auf dem Wege der Reformen zur rechten Zeit gewonnen werden kön­ nen, und Tausende von Schkachtopfern wären nicht gefallen! Denn, Dank sey es dem Genius der Menschheit: alles, was der Revolution selbst, als politischem Extrem, angehörte, ist untergegangen in ihren eigenen zerstörenden Flammen: geblieben ist nur das, und hat selbst den Kaiserthron und die Kaisermacht Napoleons überlebt, was, als zeitge­ mäße Reform, mächtiger war, als die Wuth der Revolutionaire und der eiserne Wille des Korsen.— Am Schlüsse dieser Andeutungen sey es noch verstat­ tet, an Großbrittanien zu erinnern. Was würde dieser Staat in seinem Innern seyn, und was würde er im Staatensysteme Europa's gelten f wenn

104 das ReactionSfystem der Stuarts noch ein Jahrhundert in Großbrittanien bestanden hätte! Allein mit Wilhelm dem Oranier kam im Jahre 1688 bas System der Reformen auf die brittischen Eilande, und theils die richtige Einsicht in die Na­ tur dieses Systems, theils die Parlamentsacte, welche die Dynastie Hannover auf den brittischen Thron erhob, sicherten die Fortdauer dieses Systems für die Zukunft, und mit demselben die höher steigende Größe Englands! — Was aber, bei dem allgemei­ nen Schnellleben der gesitteten Völker unsers Erd­ theils auch in den Verfassungsformen Großbritan­ niens, seit der Thronbesteigung Wilhelms des Oraniers veraltete, wird unter Wilhelm 4. durch das System der Reformen beseitigt, und dadurch in das morsch gewordenS Gebäude des Parlaments ein»neuer StüHpunct gebracht werden! Zur rechten Zeit trat also das System der Re­ formen in Schweden, in Rußland, in Preußen und in Großbrittanien ins innere Staatsleben ein; in Frankreich ging es erst aus der Blut- und Feuer­ taufe der Revolution'hervor. Es erhob die Völker

zu neuem Leben; es befestigte die Fürstenstühle; es gab den Reichen, die es in sich aufnahmen, eine nachdrucksvolle Stellung in dem Staatensysteme des Erdtheils; es sicherte eine bedeutensvolle, thatenreiche, in ihren Folgen nicht zu ermessende, Zukunft! Da­ gegen erloschen die veralteten Staaten, welchen nicht daö Frühlingsleben wohlthätiger Reformen an­ brach. Deshalb ging Karthago in Flammen auf; deshalb wandert der Forscher des Alterthums auf Trümmern, wo ehemals Jerusalem und Athen stan­ den; deshalb stürzte Polenin drei Theilungen zu­ sammen; deshalb erlosch die Souveränetät der



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Hochmögenden in den Niederlanden; deshalb ver­ mählt sich kein Doge in Venedig mehr am Himmelfahrlöfeste mit dem adriatischen Meere; deshalb ward Genua Provinz, erst von Frankreich, dann von Sardinien. — So bestätigt es die Geschichte in tausend Thatsachen, was die Staatskunst theore­ tisch ausspricht: nicht durch Revolutionen, nicht durch Reactionen, sondern durch Reformen nähern sich Völker und Staaten ihrem großen Ziele!

6.

Die geschichtliche Unterlage des innern Staats­ lebens. ^edes Volk des Erdbodens, das aus dem Noma­

denleben heraustritt und nicht mehr in Hordenzügen, gleich denen im Zeitalter der Völkerwanderung, sich ankündigt, gelangt, als erste Bedingung seiner Ge­ sittung, zu einem Boden als Grundbesitz, und knüpft an den Anbau dieses Bodens allmählig die übrigen Bedingungen seiner physischen und geistigen Ent­ wickelung an. Allerdings vermögen Jahrhunderte, ja oft selbst Jahrtausende nicht, den frühern eigen­ thümlichen Stammcharakter der Völker, nach ihrer Abstammung von den verschiedenen Menschenracen, die über den Erdboden sich verbreitet haben, ganz zu verwischen. Denn noch immer tritt ein we­ sentlicher Unterschied zwischen den Juden und den Chinesen, zwischen den Teutschen und den Slaven, zwischen Magyaren, Osmanen, Griechen, Arabern und Negern hervor, selbst als, im Ablaufe der Jahr­ hunderte, die Nachkömmlinge der Germanen und Slaven in mehrer« europäischen Staaten (in Oest­ reich, in Preußen, in Sachsen) unter Einer Staats­ form verschmolzen; Magyaren und Oömanen seit

107 vlertelhalbhundert Jahren Nachbarn geworden, die Griechen den Osmanen auf einem und demselben Boden unterworfen, nnd Mauren und Neger in Afrika in häufige Grenzberührungen bereits seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gekommen sind. Allein, nächst dieser geschichtlich unverkennbaren Ankündigung des ursprünglichen Stammcharakters der einzelnen Völker, wirkt auch die Oertlichkeit des Bodens mächtig auf die Art und Weise der öffentlichen Ankündigung der Völker in ihrem innern und äußern Staatsleben ein. Anders ent­ wickelt sich ein Volk, unter diesen Einflüssen der Oertlichkeit und des Bodens, in der Nähe der hel­ vetischen und tyrolischen Alpen, als auf den Inseln Cuba und Hayti; anders an den Niederungen der Oder, der Pleiße, des Neckars, als an den Gesta­ den des atlantischen Meeres; anders in der Nähe des Aequators, als unter dem 60sten Grad nörd­ licher Breite. Schon also das Bleibende in dem ursprüng­ lichen Stammcharakter der Völker, was selbst spätere Zeiten und gewaltsame oder zufällige Ver­ schmelzung mit andern Stämmen nicht ganz zu ver­ wischen vermögen, so wie der Einfluß der Oert­ lichkeit des Bodens, welchen das rechtliche Besihthum der neben einander bestehenden Völker bil­ det, gehören zu den Vorbedingungen der ge­ schichtlichen Unterlage des innern Staats-

lebenö. Allein wesentlicher, als diese, sind die folgenden Bedingungen der geschichtlichen Unterlage der Staaten. Jedes Volk, das auf dem ihm rechtlich gehörenden Boden zum Staatsleben Zusammentritt, bildet, im Ablaufe der Jahrhunderte, in seiner Mitte

108 eine Verfassung, eine Regierung und eine, Verwaltung, die ihm ganz eigenthümlich angehören, und durch welche es sich — bei aller einzelnen Ähnlichkeit mit andern Völkern und Staa­ ten — von der Gesammtheit der mit ihm zugleich und neben ihm auf dem Erdboden bestehenden Völ­ ker und Staaten unterscheidet. — So wie die ein­ zelnen Glieder einer und derselben Familie durch wesentliche Verschiedenheiten von einander sich an­ kündigen, — das eine durch ungewöhnliche körper­ liche Gewandtheit und Stärke, das andere durch ein höchst kräftiges Gedächtniß, das dritte durch einen hervorragenden Kunstsinn, das vierte durch einen unverkennbaren Drang für diese oder jene Wissen­ schaft —; so auch die einzelnen Glieder der großen über dem Erdboden verbreiteten Familie unsers Ge­ schlechts, die wir Völker nennen. Denn unverkenn­ bar liegt viel Wahres in der — von der Beschäf­ tigung und bürgerlichen Richtung der großen Mehr­ heit der Individuen eines Volkes entlehnten — kur­ zen Bezeichnung, wenn man von ackerbauenden, gewerbsfleißigen, handeltreibenden, von wissenschaftlich gebildeten und politisch mündig gewordenen Völkern spricht. Diese wesentliche Verschiedenheit in der öffentlichen Ankün­ digung der großen Mehrzahl der Individuen eines Volkes bleibt nicht ohne bedeutende Rückwirkung auf die Gestaltung ihrer Verfassung, Regie­ rung und Verwaltung. Die Theokratie und Hierarchie behauptete sich bei den Völkern nur während der Zeit der geistigen Unmündigkeit; dies bestätigt, in der Geschichte der Vorzeit, Palästina vor der Regierung der Könige, Aegypten vor der Herrschaft der Lagiden, und noch bis jetzt der Thron

109 des Dalai Lama. Eben so besteht die unbedingte Autokratie (der eigentliche Sultanismus), wo entweder alle Grundgesetze im innern Staatsleben fehlen, oder nach ihrem Bestehen, nach ihrer Ver­ änderung, Verletzung und Aufhebung, der blinden Willkühr des Autokrators unbedingt unterworfen sind, blos in der Zeit der politischen Unmündigkeit der Völker. Dagegen steht eine Verfassung in der Mitte des innern Staatslebens, sobald nicht die Willkühr, sondern das Gesetz herrscht, und folglich alle Ver­ hältnisse des Bürgerthumö, des Kirchenthums, der Strafen und des gerichtlichen Verfahrens auf be­ stimmten Gesetzbüchern beruhen. Eine Verfas­ sung besteht, wenn rechtliche Stände, in der Nähe des Regenten, mitwirken bei allen neu zu ge­ benden Gesetzen, bei Abschaffung und Veränderung derselben, besonders aber bei den, dem Volke aufzu­ legenden, Steuern und Abgaben. Eine Verfas­ sung besteht, sobald die persönliche Freiheit gegen jeden Schritt der Willkühr, gegen geheime Anklage, und selbst gegen die öffentliche Beschuldigung, bis diese erwiesen wird, gesichert, — die Freiheit des Wortes und der Presse, — bei bestimmten Ge­ setzen für die Ahndung der dadurch möglichen Rechts­ verletzungen, — aufrecht erhalten, und jeder kirch­ liche Glaube gleichmäßig geschützt wird, der nicht neben sich die Rechte andrer Kirchen beeinträchtigen will. Mögen dies die allgemeinsten Bedingungen einer rechtlichen Verfassung im innern Staatsleben überhaupt seyn; wie groß ist die Verschiedenheit der einzelnen, nur in dem europäischen Staatensysteme entweder bereits seit Jahrhunderten bestandenen, oder

HO erst feit 40 Jahren neu gegebenen Verfassungen, so­ bald man sie als geschichtliche Unterlagen des innern StaatölebenS betrachtet! Wie, oder hat man über den politischen Stürmen, die feit einem Men­ schenalter den Erdtheil von Westen nach Osten durchbraufeten, vergessen, was die Cortes in Portugal auf dem berühmten Reichstage zu Lamego im Jahre 1181 auöfprachen? welche Rechte die casti« lifchen und aragonifchen Cortes, ihren Kö­ nigen gegen über, behaupteten? was in Frankreich, von den uralten Versammlungen auf dem März­ felde an, bis zum Jahre 1614, wo zum letztenmale vor der Revolution die Reichsstände zufammenberufen wurden, als ReichsgrundgefeH bestand? was in dem mächtigen Herzogthume Burgund, und, nach dessen Zersplitterung, die Stände in Bel­ gien, so wie die Hochmögenden in dem Freistaate der Niederlande galten? was in England, feit der magna charta vom Jahre 1215, den Geist­ lichen, Baronen und Städter als Recht zustand, und allmählig, nach der Gestaltung des Parlaments in zwei Kammern, zu einer unveränderlichen Staats­ form sich auspragte? Sollen wir an die Versamm­ lungen auf den roncalifchen Feldern in Italien, sollen wir an das politische Gewicht der Reichstage in Schweden, in Dänemark (bis 1660), in Böhmen, Ungarn und Polen, und an die, aus dem Mittelalter hervorgegangenen Ständeverfammlungen in den einzelnen teutschen Staaten erinnern? — Wo nun diese geschichtlichen Formen der Ver­ fassung, als die Mittel- und Schwerpuncte des innern Staatslebens, entweder beibehalten, oder, nach ihrer Jahrhundert langen Beseitigung, in neuerer

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Zeit, unter angemessenen Verhältnissen, wieder her­ gestellt, und, nach den Bedürfnissen mündig gewor­ dener Völker, zu einer höhern Stufe der Vollkom­ menheit fortgeführt wurden; da giebt es diejenige geschichtliche Unterlage der Verfassung, die wir meinen, und die nie ungestraft bei einem Volke, das zur Verjüngung seines innern Staatslebens ge­ bracht werden soll, völlig zerstört werden darf, um ein ganz neues Gebäude an dessen Stelle aufzufüh­ ren. Es war diese geschichtliche Unterlage, welche — nach dem unbetrauerten Untergange der vier ersten Verfassungen Frankreichs, in der Charte Ludwigs 18. größtentheils, doch mit Berücksich­ tigung der Fortschritte des Zeitalters und des Vol­ kes, mehr noch aber in der Revision dieser Charte am 7. August 1830, fest gehalten ward. Es war diese geschichtliche Unterlage, von welcher dec König Wilhelm 1. vom Niederlande in dem Grund­ gesetze vom 24. Aug. 1815 ausging. Es war diese geschichtliche Unterlage, welche die Regenten von Bayern, Würtemberg, Baden, von bei­ den Hessen, von Weimar, Nassau bei ihren neuen Verfassungsurkunden, und die Regenten von Hannover und Braunschweig bei ihren Fort­ bildungen der frühern Verfassungen, im Auge behiel­ ten. Es war diese geschichtliche Unterlage, von welcher die neue Gestaltung der Provinzialstände in der preußischen Monarchie, als Vorbedingung der im königlichen Decrete vom 22. Mai 1815 ver­ sprochenen Reichsverfassung, ausging. Es war diese geschichtliche Unterlage, was die einzelnen Pro­ vinzen des nordamerikanischen Bundesstaates bewog, entweder die frühern königlichen Freiheits­ briefe aus der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahr-

112 Hunderts als Verfassung beizubehalten, oder die Hauptbestimmungen derselben in ihre neubearbeiteten Verfassungsurkunden aufzunehmen. Aus diesen Beispielen dürfte deutlich werden, was unter der geschichtlichen Unterlage in Hinsicht der Verfassung der Staaten verstanden wird, besonders wenn man damit zusammen hält, daß die vier ersten Verfassungen Frankreichs von den Jahren 1791, 1793, 1795 und 1799, die drei ersten Verfassungen Hollands von den Jahren 1798, 1801 und 1805, die vielen Verfassungen der "wie­ der erloschenen italischen Staaten, Cisalpiniens, Li­ guriens, des republikanisirten Roms und der Kö­ nigreiche Italien und Neapel, so wie die soge­ nannten Cortesverfassungen in Spanien und Por­ tugal — entweder gar nicht, oder viel zu wenig, auf die geschichtliche Unterlage der frühern Verfas­ sungen dieser Völker und Staaten Rücksicht nahmen, und deshalb ein Gebäude, ohne Grund, aufsührten, das der erste heftige Sturm, der entweder im Innern selbst entstand, oder vom Auslande kam, in Trümmern warf. So wie die zu den Wolken aufstrebende Eiche tief in dem Boden wurzelt, dem sie seit Jahrhunderten angehört; so auch eine Staats­ verfassung, welche auf geschichtlicher Unterlage ruht. Mag man immer die verwelkten Zweige, die abgestorbenen Aeste, das gefallene Laub der Eiche von ihr trennen; sie selbst bleibt, und verjüngt sich, nach einem innern Princip des Lebens, für die Geschlechter der spätern Jahrhunderte, die bewun­ dernd an ihr vorübergehen. So die Verfassung ei­ nes Staates, die auf geschichtlicher Unterlage beruht. Was als verwelkt und abgestorben im Laufe der Jahrhunderte sich ankündigt, wird der besonnene

113 und erfahrene Staatsmann von ihr trennen; allein das Feste, Bleibende, das innere Lebensprincip, das ihr einwohnt, wird er nicht nur beibehalten, er wird auch die ihr nothwendige Verjüngung eben an dieses geschichtlich begründete LebenSprincip anknüpfen, und so auf dem Wege der Reformen in der Welt der Freiheit wirken, worin ihm die Natur in ihrem unermeßlichen Reiche der organischen Kräfte und Gestalten vorauSging.

Bei jedem Volke und in jedem Staate steht aber die Regierung und Verwaltung mit dee Verfassung in dem innigsten Zusammenhangs. Ver­ altet die Verfassung; so veralten auch die Formen bet* Regierung und Verwaltung. Wird die Verfas­ sung im Sturme einer Revolution umgestürzt; so stürzen — man denke an Frankreich, Italien, Niederland und die Schweiz — mit derselben auch die frühern Formen der Regierung und Verwaltung zu­ sammen. Wird der Fortschritt der Verfassung und des gestimmten innern Volkslebens, durch das me­ thodisch und folgerichtig angewandte System der Reaction, aufgehalten; so unterliegt auch die frü­ here rechtliche Verfassung des Staates dergestalt, daß entweder das innere Staatsleben unheilbar er­ krankt (wie in Spanien, in Portugal, in Polen vor dem Jahre 1788), oder zur Auflösung der ganzen Staatsform führt, wie im Freistaate Venedig, nach einer Dauer von mehr als dreizehn Jahrhunderten. — Aus diesen Ergebnissen, welche belehrend und war­ nend, eine so wichtige Stelle in den Jahrbüchern der neuern und neuesten Geschichte behaupten, erhellt, daß, wie die Verfassung, so auch die Regierung Pölitz verm. Sehr. Th. I. 8

114 und Verwaltung der Staaten auf einer geschichtlichen Unterlage beruht. Die beiden wesentlich verschiedenen Formen der Regierung der Staaten sind die monarchische und die republikanische; beide nach vielfachen Abstufungen und Schattirungen in ihrer Gestaltung und äußern Ankündigung. Geht man aber auf die geschichtliche Unterlage derselben zurück; so lehrt die Geschichte, dgß nicht ohne Schwierigkeit die republikanische Regierungsform eines Staates in die monarchische umgewandelt wird, hingegen der Versuch, im Sturme einer Revolution die republi­ kanische Regierungsform an die Stelle der bis da­ hin bestandenen monarchischen zu sehen, in sich selbst zerfällt. In Frankreich war die monarchische Regierungsform seit ChlodowigS Zeiten so fest mit dem ganzen innern Staatsleben verwachsen, daß der gefährliche und blutige Versuch, diese monarchische Regierungsform in eine republikanische zu verwan­ deln, selbst dem Namen nach, nur eilf Jahre sich erhielt. Ein gleiches geschah in England nach der Enthauptung Karls 1, auch nur auf eilf Jahre. Sogar, wo man während der letzten Jahrhunderte in europäischen Reichen die regierenden Dynastieen än­ derte, wie in Dänemark, Schweden, Portu­ gal, und in England im Jahre 1689, dachte man nicht daran, an die Stelle des monarchischen Princips das republikanische zu setzen. Eben so we­ nig geschah dies in den vormaligen Wahlreichen Polen, Böhmen und Ungarn; man wählte neue Könige, ohne an die Errichtung einer Repu­ blik zu denken. Wie vergänglich aber und wie schmach­ voll die Dauer der cisalpischen, römischen und parthenopeischen Republiken war; davon weiß das letzte

115 Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zu erzählen. — Mit einem Worte: auch die Regierung der Völ­ ker und Staaten hat eine geschichtliche Unter­ lage, an welche zwar — in Angemessenheit zu den Fortbildungen der Verfassung — manche Verände­ rungen — z. B> der Milderung dec unbeschränkten Macht in eine constitutionelle — angeknüpft werden können, die aber nie auf die Dauer in die völlig entgegengesetzte Regierungsform verwandelt werden kann und darf. So wenig wie am Manzanares und Tajo ein nordamerikanischer Congreß, mit einem auf vier Jahre gewählten Präsidenten, seine Sitzun­ gen halten wird; so wenig dürfte auch in Bern, in Corfu und in Washington das monarchische Prin­ cip an die Stelle der föderativ-republikanischen Re­ gier« ngsform zu setzen seyn. Man erkenne daher an, was auf geschichtli­ cher Unterlage beruht, und was, — selbst nach den furchtbarsten Blutströmen und durchgreifendsten Veränderungen, — doch zuletzt, nach einem ewigen Naturgesetze, zu seiner vormaligen geschichtlichen Begründung unaufhaltsam zurück­ kehrt. Man erwarte da keine republikanische Re­ gierung, wo die Monarchie seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden bestand; — folglich auch nicht in Griechenland, weil, selbst unter dem Drucke der Osmanen, die Nachwirkungen einer tausendjährigen monarchischen Regierung in Byzanz noch bis jetzt nicht ganz vertilgt worden sind. Wie hätten sonst die Griechen seit viertehalbhundert Jahren den Stamm Orchan, statt der Paläologen, über sich ertragen! Man rechne aber auch nicht darauf, daß dereinst an die Spitze der Bundesstaaten der Schweiz und Nordamerika's erbliche Könige treten dürften; denn 8*

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auch dazu fehlt die geschichtliche Unterlage. Doch vergesse man dabei nicht, daß vormalige Kolonieen — die mehrhundertjährigen Stiefkinder des Mutterlandes weit leichter zur republi­ kanischen, als zur monarchischen Regie­ rungsform sich hinneigen, eben weil in ihrer Mitte nie eine regierende Dynastie lebte und wirkte, nie mit der Kolonie so innig zu einem politischen Ganzen verwuchs, wie mit dem Stammlande, und folglich in den Kolonieen eben diejenige geschichtliche Unterlage fehlte, welche in den alten Monarchien Europa's für die feste Beibehaltung der monarchi­ schen Regierungsform entschied. Daß aber auch in einer bedeutenden, und Jahrhunderte hindurch unter dem Drucke gehaltenen, Kolonie, so bald ein regie­ rendes Geschlecht in deren Mitte einheimisch und allen Interessen derselben befreundet wird, die mon­ archische Regierungsform mit Leichtigkeit- gedeihen kann; dafür spricht das Kaiserthum Brasilien in der neuesten Geschichte. Entschieden wäre Bra­ silien, wie die spanischen Kolonieen jenseits des Welt­ meeres, für das monarchische Princip verloren ge­ wesen, wenn nicht die Regierung Johanns 6. theils die nothwendig gewordene Emancipation dieser Ko­ lonie im Jahre 1815 mit richtigem Blicke erkannt, theils, bei des Königs Abreise nach Europa das Zurückbleiben seines Erstgebohrnen in Brasilien als wesentliche Bedingung für die Erhaltung der neu begründeten monarchischen Regierungsform gefühlt hätte.

So wie aber die Verfassung und Regierung der Staaten; so ruht auch die Verwaltung derselben

117 auf einer geschichtlichen Unterlage, an welche die Veränderungen und Fortbildung» der vier Haupt­ formen der Verwaltung: der Gerechtigkeits­ pflege, der Polizei, der Finanzen und der bewaffneten Macht angeknüpst werden müssen, wenn Revolution und Reaction gleichmäßig beseitigt werden festen. Allerdings sind, nach dem Zeugnisse der Geschichte, die einzelnen Formen der Staats­ verwaltung weit häufigern Veränderungen ausgesetzt, als die Formen der Verfassung und Regie­ rung; doch auch in ihnen bildet das geschichtlich Bestehende einen festen und sichern Stützpunct, so daß die Völker weit leichter mit der Fortdauer eines langbestandenen unvollkommenen Justiz- Abgaben und Militär-Systems sich versöhnen, als mit dem häufigen .Experimentiren in demselben. Soll aber, nach dem Systeme der Reformen, in den Haupt­ zweigen der Verwaltung geändert werden; so ge­ schehe es mit steter Rücksicht auf die geschicht­ liche Unterlage bei jedem einzelnen Volke. Man knüpfe die neuen Einrichtungen an die bestandenen an; allein man helfe der bürgerlichen und der StrafGesetzgebung nach im Geiste einer jungem Zeit; man gebe dem gerichtlichen Verfahren Ordnung, Einheit und innern Zusammenhang; man beseitige den Krebs­ schaden der Patrimonialgerichtsbarkeit, die mehr, als vieles andere, die volle Kraft des monarchischen Princips beeinträchtigt; man gewöhne mündig ge­ wordene Völker allmählig an Friedensrichter (wie in Ostpreußen neuerlich versucht ward), an öffentliches Verfahren in Fällen des Strafrechts, und an Geschwornengecichte, wie sie die Eigenthümlichkeit des einzelnen Volkes verstattet. Die Polizei werde eine Wohlthat des Volkes, und nicht die Geisel

118 desselben. Im Hähern politischen Sinne — d. h. zur Aufrechthaltung des Rechts und der Ordnung im ganzen Staatsleben, — kann zwar eine ge­ heime Polizei nicht ganz fehlen, die eben so den Betrüger und den Glücksritter, wie den politischen Parteigänger und Hochverräther beobachtet und sei­ ner, im Augenblicke der Entscheidung, sich bemäch­ tigt; allein diejenige geheime Polizei, welche an die Stelle der von Priestern geleiteten Inquisition trat, und, ohne rechtlichen Spruch, die politischen Ketzer eben so zu Bastillen und ewigen Gefängnissen verurtheilt, wie die Inquisition die Ketzer zum Feuer­ tode, ist unvereinbar mit jeder magna charta der konstitutionellen Staaten. — Das Steuer- und Abgabe-System decke alle rechtmäßige und an­ erkannte Bedürfnisse des Staates, beruhe auf dem einzig rechtlichen Grundsätze des reinen Ertrags, und auf dec freien Prüfung und Bewilligung der rechtmäßigen Stände. Die bewaffnete Macht endlich stehe im Verhältnisse zur Gesammtbevölkerung und zu den finanziellen Hülfsquellen des Staa­ tes; sie verstatte wenige Ausnahmen von der Verpfiichtung zum Dienste; sie setze das Dienstalter auf das zurückgelegte zwanzigste Jahr, die Dienstzeit auf drei Jahre, die Entscheidung zur Dienstlei­ stung auf das Loos, und die Stellung eines freiwilligen Ersatzmannes für den, welcher an eine, unter öffentlicher Leitung und Bewirthschaftung stehende, Militärverwaltungskasse eine für immer festgesetzte, und nicht von der Willkühr des eintre­ tenden Ersatzmannes abhängige, Summe zahlt. — So viel aber auch der Gist einer jungem Zeit und die seit 30 Jahren vielfach veränderten Bedürf­ nisse der Staaten zu wesentlichen Veränderungen in

119 den vier einzelnen Verwaltungsformen, namentlich der Finanzen und der bewaffneten Macht, hingeführt haben; so werden doch diejenigen Völker am besten sich berathen fühlen, bei welchen diese Verän­ derungen in den Verwaltungsformen, so viel als möglich, auf die früher bestandene geschichtliche Unterlage derselben zurückgeführt, und die­ ser angenähert wurden. Denn mehr, als die kühnen Weltverbesserer ahnen, wohnt in der Mitte der gesttteten Völker das Princip der Stätigkeit (sehr verschieden von dem sogenannten Princip der Stabi­ lität); ein Princip von gleicher Wichtigkeit für das Bestehen und die Sicherheit der Throne, wie für die Festigkeit des innern Staatslebens, und für das Fortschreiten der Völker in der Gesittung, in der politischen Mündigkeit und in der Höhe ihres

Wohlstandes, weil eben die Festigkeit des Be­ stehenden dieses Fortschreiten aufs sicherste ver­ bürgt.

7.

Ueber Napoleons Ausspruch: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk." Soll der in der Aufschrift ausgesprochene Satz als

ein politisches Dogma entweder bewiesen oder bestrit­ ten werden; so muß man sich zunächst über den Begriff des Volkes in diesem Satze verstän­ digen. Versteht man, int weitern Sinne, unter dem Volke die Gesammtheit aller zu einem bürgerli­ chen Vereine verbundenen Individuen, die durch einen eigenthümlichen Volksnamen, durch den ihnen über einen Theil des Erdbodens rechtlich und aus­ schließend zustehenden Länderbesitz, und durch eine, zunächst diesem Volke und Staate zukommende, Verfassungs- und Regierungsform von allen andern Völ­ kern und Reichen des Erdbodens sich unterscheiden (wie z. B. die Teutschen von den Franzosen, die Franzosen von den Spaniern, die Russen von den Italienern u. a.); so kann, wie sich von selbst ver­ steht, der oben aufgestellte Satz nicht in Anwendung kommen. Allein im engern Sinne versteht man unter dem Volke in jedem einzelnen Staate und Reiche die große Mehrzahl von Individuen, welche, theils

121 nach ihrer Erziehung, theils nach ihrer bürgerlichen Beschäftigung, nicht zur politischen Mündigkeit, d. h. nicht zur deutlichen Einsicht in den Zweck des Staa­ tes, in den eigenthümlichen Geist seiner Versüssung, in die mannigfaltig verflochtenen Verhältnisse seiner Verwaltungsformen, und noch weniger in die, an so vielfache unsichtbare Fäden geknüpfte, Stellung des einheimischen Staates zu den übrigen europäischen Mächten, gelangen. Deshalb unterscheiden die be­ sonnenen Politiker genau zwischen der politischen Mündigkeit und Unmündigkeit der im Staate lebenden Bürger. Allerdings bleibt eö das höchste Ideal für das innere Staatsleben, daß, wo mög­ lich , alle im Staate lebende Individuen zur sittlichen und politischen Mündigkeit gelangen möchten. Aller­ dings unterscheiden sich auch, nach den Aussagen der Geschichte, die einzelnen Völker des Erdbodens sehr wesentlich von einander durch die von einer großen Zahl ihrer Staatsbürger bereits erreichten höhern Stufen der geistigen Bildung, der sittlichen Reife und der politischen Mündigkeit; man darf ja nur den Franzosen und den Türken, den Britten und den Chinesen, den Teutschen und den Aegypter gegen einander halten. Allein, bei einem .unbefangenen Blicke auf die Masse der zu der Gesammtheit eines Staates verbundenen Menschen, kann es keinem For­ scher der Geschichte und keinem Staatsmanne entge­ hen, daß überall nur der kleinere Theil der Volks­ masse zur sittlichen und politischen Mündigkeit ge­ langt, der größere Theil hingegen sittlich und politisch unmündig bleibt. Denn wer sittlich mündig geworden ist, handelt nach den zum deutlichen Be­ wußtseyn gebrachten Zwecken, die seine gebildete und gereifte Vernunft ihm vorhält, beherrscht seine Lei-

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denschaften und Launen durch die Kraft der Ver­ nunft, ist nie abhängig von der Leitung Anderer in seinen Meinungen und in seinen Bestrebungen, und bewährt in seiner öffentlichen Ankündigung durchge­ hends eine reinsittliche Gesinnung und einen festen gediegenen Charakter. Diese sittliche Mündig­ keit ist aber die Unterlage der politischen Mündigkeit. Denn wenn die politische Mündig­ keit vielseitige Uebung und Bildung des Geistes, Reichthum eigenthümlicher Ideen, sittliche Reinheit und Gediegenheit des Charakters, und Festigkeit des Willens in der Erstrebung eines vorgehaltenen Zweckes, als unnachläßliche Bedingung zur Theilnahme an der Leitung des Staates vorausseHt; so müssen nothwendig alle diejenigen von dieser Theil­ nahme ausgeschlossen werden, welche entweder nach ihrer mangelhaften Einsicht, oder nach der Schwäche ihres Willens, oder nach ihrer bürgerli­ chen Thätigkeit von Andern abhängen, und weder zur Selbstständigkeit des Urtheils und Willens, noch zur Selbstständigkeit des bürgerlichen Berufes ge­

langen. Mit diesem Verhältnisse der Politisch-Mündigen zu den Politisch-Unmündigen im innern Skaatsleben steht der wichtige Unterschied zwischen der bürger­

lichen und p oli tisch en Freiheit in genauester Ver­ bindung. Die bürgerliche Freiheit muß, ohne Ausnahme und Einschränkung, allen Staatsbürgern, den politisch-Mündigen und Politisch-Unmündigen, gleichmäßig zukommen; sie alle sollen, mit Aufhe­ bung der Sklaverei, der Leibeigenschaft und der Ei­ genhörigkeit, unter gleichen Gesehen stehen, gleiche Sicherheit der Rechte, des Lebens, und des Eigen­ thums genießen, von denselben Gerichtshöfen gerichtet

123 werden, zu allen Lasten des Staates gleichmäßig (namentlich zu den Abgaben im Staate nach dem Maasstabe ihres reinen Einkommens) beitragen, und die Berufsart ihres Lebens nach ihren individuellen Neigungen und Bildungsstufen wählen können. Allein die politische Freiheit steht nur denjenigen zu, welche, nach unverkennbaren Belegen ihrer sittlichen und politischen Mündigkeit, berufen werden können zur Theilnahme an der Leitung des Staates. Zu den Letztem gehören alle, welche als Vertreter des Volkes die Rechte desselben in der Nähe des Thrones, und in Verbindung mit der Regierung, stützen und sichern sollen; alle Staatsbeamte, vom ersten Minister an bis zu dem letzten Staats­ diener, der, mit eigner Verantwortlichkeit, durch seine öffentliche Thätigkeit einen besondern Zweck des Staa­ tes zu verwirklichen berufen ist; alle Lehrer der Hochschulen, der gelehrten und der Volksschulen; alle Prediger, alle Richter im Staate, und jeder, der, durch die ihm einwohnende geistige und sittliche Kraft, die heiligen Zwecke der Sittlichkeit, des Rechts und der Wohlfahrt im innern Staats­ leben zu verwirklichen fähig ist. — Glücklich daher das Volk, an dessen Verfassung, -Regierung und Verwaltung blos politisch-Mündige Theil nehmen; wehe aber dem Volke, wo entweder die PolitischUnmündigen im Sturme einer Revolution die Lei­ tung des Staatslebens an sich reißen, oder wo sie, durch Einsiitigkeit, Begünstigung und Mißgriffe der höchsten Behörden, zu den wichtigsten Staatsäm­ tern berufen werden! Die Geschichte unsers Erd­ theils ist reich an belehrenden und warnenden Bei­ spielen beider Art. Das Rump-Parlament in Groß­ britannien, der Wohlfahrtsausschuß in Frankreich,

124 und die polnischen Reichstage älterer Zeit verkündi« digen, als unvertilgbare Zeugen in den Jahrbüchern der Geschichte, wohin, durch die Mehrheit der po­ litischen Unmündigen an der Spitze, das innere und äußere Staatsleben gebracht wird. Dagegey ist noch keinem Sophisten beigekommen, Staatsmännern, wie Walpole, Lord Chatham, Pitt, Fox, Canning, Sulky, Richelieu, Mazarin, Colbert, Talleyrand, Pombal, Florida-Blanca, Aranda, de Witt, Heinsius, Hertzberg, Bernstorfs, Kaunitz, Washington,Adams, Jefferson, u. a. die politische Mündigkeit abzusprechen.

Nach dieser vorausgegangenen Entwickelung der Begriffe von politischer Mündigkeit und Unmündig­ keit ist es möglich, den eigentlichen Sinn und die Wahrheit in dem Ausspruchs Napoleons auszumitteln:

,,Alles für das Volk, nichts durch das Volk." Dieser Sah hält die Mitte zwischen zwei Extremen. Der Demagog, der in Revolutionen den großen Verjüngungsproceß der Staaten und Reiche sucht, befolgt den Grundsatz: „Alles durch das Volk und für das Volk."

Ihn leitet die dunkle Idee der sogenannten Volkssouverainetät, die, übergetragen auf die Wirklichkeit, die Herrschermacht in die Hände der Politisch-Unmün­ digen bringt; sie mögen nun die Weltverbesserung auf dem Wege eines Jan von Leyden und Knipperdolling, oder eines Masaniello, oder eines Robeöpierre, versuchen. Die politisch-Mündigcn

125 werden bei diesem Systeme nicht nur von der Lei­ tung des Staates verdrängt; sie unterliegen auch physisch, als die Minderzahl, Unter der Maste der Politisch-Unmündigen, wenn diesen die Laternenpfähle, die Guillotinen und die sogenannten republikanischen Heirathen zu Gebote stehen.

Allein von einer andern politischen Schule wird der Ausspruch dahin gestaltet:

„Nichts durch das Volk, und nichts für das Volk." Dies ist die Glaubenslehre des Sultanismus und der Reactionshelden. Für diese Politiker ist das Volk nichts, als eine Schafheerde, die gefüt­ tert und auf die Weide getrieben wird, um zuerst die Wolle, und später das Fell und Fleisch zu ge­ ben. Man gönnt, im Geiste dieses Systems, den untern Ständen nur Luft, Brod und Wasser, damit sie für die Bequemlichkeit und das Wohlleben.ihrer Führer arbeiten können, weit man, in Ermangelung solcher Lastthiere, selbst arbeiten müßte, was sich weder schicken, noch angenehm seyn dürfte. Man begreift nicht, wozu solcher Canaille das Licht des Geistes und eine höhere Bildung fromme; mit nothdürftigem Lesen, Rechnen und Schreiben ist alles bei Menschen abgethan, die schon durch ihre Geburt bestimmt sind, nicht für sich, sondern für Andere zu leben. — Zwischen diesen Extremen der Revolutions» und der ReactionSmänner liegt der oben aufgestellte Satz in der Mitte. Napoleon, der ihn aussprach, ob­ gleich nicht völlig frei von persönlichem Sultanis­ mus, erkannte doch das Verhältniß sehr klar und bestimmt, in welchem die Politisch-Unmündigen (das

126 sogenannte Volk) im Staate zu den politisch - Mündigen stehen. „Nichts durch das Volk alles für das Volk;" dies bedarf der Durchführung im Einzelnen. Das gesammte Leben des Staates zerfällt in das innere und äußere. Die Mittelpuncte des innern Staatslebens sind: Verfassung, Regierung und Verwaltung. Das äußere Staatsleben dage­ gen wird bedingt durch die Wechselwirkung und den Verkehr mit andern Staaten; theils vermittelst der zwischen ihnen bestehenden Verträge und Bündnisse, theils vermittelst der Gesandten. Im Geiste des eben aufgestellten Satzes behaupten wir nun zu­ erst: daß sowohl im innern, als im äußern Staats­ leben Alles für das Volk geschehen müsse. Es besteht kein Staat und keine Regierung ohne ein Volk, das im Staate lebt, und Has regiert wird. Damit aber der höchste Zweck der Mensch­ heit von jedem Wesen unsrer Gattung innerhalb des Staates erreicht werden könne; so muß alles in der innern Gestaltung desselben auf diesen Zweck be­ rechnet seyn. Jedes in und mit der menschlichen Natur gegebene Recht muß daher allen Bürgern des Staates durch die Verfassung desselben ge­ sichert und verbürgt werden: das Recht der persön­ lichen Freiheit, welches mit Sklaverei, Leibeigcnjchast und Eigcnhörigkeit unvereinbar ist; das Recht der Gleichheit vor dem Gesetze; das Recht des freien Wortes und der Presse, einzig beschränkt durch die im Staate bestehenden Gesetze gegen den Mißbrauch dieses Rechts zur Verletzung der Rechte Anderer und der Regierung; das Recht der Freiheit des Gewis­ sens in Hinsicht des kirchlichen Glaubens; das Recht

127 der freien Erwerbung und der unbeschränkten Benußung des rechtlich erworbenen Eigenthums; das Recht der unbedingten Sicherheit der Person und des Besitzthums; das Recht, Verträge jeder Art mit andern Staatsbürgern abzuschließen, und das Recht der gleichmäßigen Besteuerung, in Angemes­ senheit zu der Pflicht, gleichmäßig zu der Erhaltung und Fortdauer des Staates, so wie zu allen Be­ dürfnissen und Lasten desselben, nach der Höhe des reinen Ertrages, beizutragen, und denselben gegen innere und äußere Feinde zu vertheidigen. — In Angemessenheit zu diesen in der Verfassung klar und deutlich auszusprechenden Bestimmungen, soll die Regierung den Staat, für die Zwecke der Auf­ rechthaltung des Rechts und der Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt, leiten. Weder das Indi­ viduum, noch die Gesammtheit des Volkes, soll in irgend einem ursprünglichen oder erworbenen Rechte beeinträchtigt oder verkümmert, nie in dem rechtli­ chen Streben nach fester Begründung, Erhöhung und Steigerung der individuellen und allgemeinen Wohlfahrt gehindert, oder auch nur theilweise be­ schränkt werden. Damit aber diese Zwecke erstrebt werden können, müssen die vier Zweige der Staats­ verwaltung, die Gerechtigkeitspflege, die Polizei, die Finanzverwaltung und die Gestaltung der bewaff­ neten Macht, in der genauesten Angemessenheit zu den bestimmt ausgesprochenen Grundsätzen der Ver­ fassung eingerichtet und geleitet werden. — Denn nur in einem Staate, wo Verfassung, Regierung und Verwaltung ein in sich zusammenhängendes und unauflösliches Ganzes bilden, wo folglich jeder Theil des Staatsorganismus des andern Theils wegen da ist und mit und durch ihn besteht, kann der Zweck



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der Individuen mit dem Zwecke des Ganzen im Ebenmaaße stehen. Wo in dem Staate alles für das Volk ge­ schieht; da entsprechen die vorhandenen bürgerlichen. Straf- und Handelsgesetzbücher der erreichten Stufe der Cultur der großen Mehrheit deö Volkes; da wirken alle Anstalten, die von oben ausgehen, dar­ auf hin, das Volk allmählig zu sich herauf zu zie­ hen, und der ihm einwohnenden Bildsamkeit die rechte Bahn vorzuzeichnen; da ist für jedes aufblü­ hende Talent die Gelegenheit vorhanden, in dem Kreise, wohin die Ankündigung seiner Kräfte gehört, sich zweckmäßig zu entwickeln und unter dem Schutze milder Gesetze zur Reife und Gediegenheit zu gelan­ gen; da begünstigt man weder vorzugsweise den Feldbau vor dem Gewerbswesen, noch das Gewerbs­ wesen vor dem Feldbaue; da erschwert man weder den inländischen Handel durch drückende Einschrän­ kungen und Zölle, noch den ausländischen durch feh­ lerhafte Verbindungen und lästige Verträge mit den auswärtigen Mächten; da wird die Erziehung — der Mittelpunct und Träger alles fortschreitenden Volkslebens — von der Dorfschule bis zur Hoch­ schule, nicht nur lückenlos, durch die in nothwen­ diger Folge aussteigenden und einander nach ihrer Bestimmung ergänzenden Institute, eingerichtet, son­ dern auch als eine der wichtigsten Staatsangelegen­ heiten nachdrucksvoll unterstützt; da freut man sich des frischen Lebens in den Wissenschaften und Kün­ sten, deren praktische Bedeutsamkeit für die kräf­ tige Entwickelung des Volkes keinem gebildeten Staatsmanne entgeht; da hält man auf öffentliche Ordnung, Sittlichkeit und Sicherheit, ohne durch eine geheime Polizei jede einzelne unreife Aeußerung

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streng ausspüren zu lassen; da tragen alle Steuern und Abgaben den Charakter des entschiedenen Bedarfs für die anerkannten Zwecke des Staates, und wer­ den nur vom reinen Ertrage erhoben; da erkennt man den nothwendigen Zusammenhang zwischen den Fortschritten der geistigen Bildung und den Fort­ schritten des Wohlstandes und Reichthums des Vol­ kes. Es ist eine unläugbare Thatsache der Geschich­ te: gebildete Völker lassen sich leichter regieren, als ungebildete; auf ein gebildetes Volk kann, in jedem Augenblicke öffentlicher Noth und Gefahr, die Regierung mit Zuversicht rechnen, weil ein gebilde­ tes Volk das Bewußtseyn in sich trägt, wie viel es bei einer Veränderung seiner Verfassung und Re­ gierung verlieren würde; auch ist ein wohlhabendes und reiches Volk nicht blos in finanzieller Hinsicht von Wichtigkeit, es besitzt zugleich in dem jährlichen Zuwachse seiner Capitalien aus den, in den Händen der Bürger bleibenden, Ueberschüssen des reinen Er­ trages , in der gesicherten Anlegung dieser neuen Ca­ pitalien in neuen gut berechneten Unternehmungen, in dem ununterbrochenen Umläufe des baaren Gel­ des, und in der täglich sich vermehrenden Masse werthvoller Güter, die sichere Bürgschaft, daß sein Wohlstand im Steigen begriffen ist. Nie ist aber ein Volk unzufrieden, oder in Gährung zu bringen, wo der Wohlstand steigt; wo folglich die Arbeit des Individuums nicht blos nothdürftig nährt, sondern auch mit reinem Ertrage lohnt. Denn Arbeit, und zweckmäßige Theilung der Arbeit, sind die sichersten Unterlagen alles Wohlstandes. Nie wird der Arbeitsscheue, nie der herumschweifcnde und wö­ chentlich die Werkstätten wechselnde Handwerker, nie der, ohne bestimmten Beruf, auf bloßes gutes Glück, Pölitz venn. Schr. LH. 1.

9

130 für jeden Preis, für jedes Geschäft feile Arbeiter, zum Wohlstände gelangen. Deshalb verdient es die sorgfältigste Aufsicht der Regierung, daß jeder an­ gehende Jüngling einen bestimmten Beruf wähle, und daß er gründlich und tüchtig erlerne, was er beginnt. Man lüfte daher den Zwang und die Mißbräuche der technischen-und der gelehrten Innungen, laste aber auch keinen vom Lehrlinge zum Gesellen, vom Secundaner zum Primaner auf­ steigen, der nicht durch die erworbene Tauglichkeit zum Aufrücken sich eignet. Nie werde durch das bezahlte Lehrgeld die Lehrzeit des Handwerkers ab­ gekürzt, weil die zu erwerbende Geschicklichkeit und Fertigkeit weder von der Zahl der Lehrjahre, noch von der höher» Summe des Lehrgeldes abhängt. Eben so wenig werde der Faule und Kenntnißlose im Kreise der gelehrten Schulen zum Au'frücken be­ fördert, weil, nach demselben Grundsätze, der, wel­ cher nicht zur Versetzung in Prima taugt, eben so wenig dereinst, nach beendigtem Durchfluge durch das akademische Triennium, zur Versetzung in den Staatsdienst taugen wird. Die Arbeit, sie sey tech­ nisch oder geistig, — so verschieden auch der Maaß­ stab für beide, und der Ertrag von beiden ist, — bedingt die individuelle Bildung und Tauglichkeit, und diese Bildung und Tauglichkeit bedingt wieder die selbstständige Uebernahme eines bürgerlichen Be­ rufes und die ehrenvolle Anstellung im Staatsdienste. Nie dürfen die bloßen rationes misericordiae bei der Aufnahme eines Webers oder Schuhmachers als Meister in die Innung, und bei der Aufnahme ei­ nes Halbgelehrten in die Reihe der Staatödiener entscheiden. Damit aber, so weit dies von oben herab geschehen kann, aller Halbheit im technischen

131 und geistigen Leben des Staates entgegen gewirkt werde, sey jeder aufblühenden Kraft im Staate der weiteste Spielraum eröffnet; sey kein Beruf angeb­ lich ehrenvoller, als der andere; und nirgends fehle es an den zeitgemäß gestalteten vorbereitenden Un­ terrichts - und Bildungsanstalten, in welchen der Landmann, der Gewerbtreibende, der Forst- und Bergmann, der Künstler, der Prediger, der Arzt, der Rechtsgelehrte und der Diplomat die jugendliche Weihe zu seinem künftigen Berufe erhält.' In diesem Sinne nehmen wir das wichtige Wort: Alles für das Volk; und wahrlich das Volk wird dabei sich wohl befinden!

Allein eben so bedeutsam ist der zweite Sah: Nichts durch das Volk. Nach den, in der Einleitung aufgestellten, Be­ griffen kann mit diesem Sahe nicht gemeint seyn, als ob nicht Mitglieder der untern Stände und Klas­ sen des Volkes da, wo es die Verfassung des Staa­ tes ausgesprochen hat, zur ständischen Vertretung gelangen sollten. Es wird vielmehr rechtlich, zweck­ mäßig und wohlthätig seyn, wenn jedes besondere Standesinteresse im Staate, durch gewählte Mit­ glieder aus demselben Stande, in den landständi­ schen Berathungen vertreten wird. Denn jeder Stand kennt seine eigenen Interessen am genauesten, und eine weise Regierung wird, indem sie zur offen mit­ getheilten Kenntniß aller Bedürfnisse innerhalb des Staates gelangt, die verschiedenartigsten Interessen — ohne Reibung zwischen denselben — mit dem Zwecke des Staates auszugleichen verstehen, weil in einem gutgeordneten Staate nie eine absolute U»

132 Collision der politischen Interessen denkbar ist. Deshalb ist es ein Beleg hoher practischer Staats­ weisheit, daß mehrere teutsche Negierungen — nach dem ältern Vorgänge des Gustav Wasa in Schwe­ den — auch dem Stande des Landmannes einen verhältnißmäßigen Zutritt in die Reihen der Volks­ vertreter zugesichert haben. — Durch jenen ausge­ stellten Satz soll aber auch eben so wenig das aus den untern Volksklassen sich empor arbeitende Talent, und das unverkennbar sich ankündigende bürgerliche Verdienst von der Theilnahme an Staatsämtern und Staatswürden ausgeschlossen werden. Es ist vielmehr, nach dem Zeugnisse der Geschichte, er­ sprießlich, daß die Stände im Staate, weder nach der Kasteneinrichtung Indiens und Aegyptens, noch nach dem im Gewerbsleben beibehaltenen Innungs­ zwänge, so streng von einander gesondert bleiben, daß entweder gar kein Uebergang aus dem einen m den andern statt findet, oder doch sehr erschwert wird. Großbritannien hat bei dem entgegengesetzten Sy­ steme den Weg zu seiner Größe gefunden; und Pe­ ter der erste von Rußland, Friedrich 2. von Preußen, und Napoleon sahen, bei ihren Anstel­ lungen, nur auf den Mann, nicht auf den Stand. Kein Staatsmann wird diesen drei Fürsten es ab­ sprechen, daß sie in den meisten Fällen den rechten Mann für. den rechten Platz fanden. Nie aber gehe vom Volke, nach dem in der Einleitung aufgestellten Begriffe, eine Entscheidung über das aus, was unmittelbar zur Verfassung, Regierung und Verwaltung gehörtWohin die Urversammlungen in Frankreich ge­ führt haben, lehrt das Schicksal der drei ersten Ver­ fassungen dieses Reichs von den Jahren 1791, 1793

133 und 1795. Ein gleiches Ergebniß trat in der bei« gischen Republik und in allen Staaten ein, welche die Grundsätze der drei ersten Verfassungen Frank­ reichs nachahmten. Zwar darf keine Verfassung auf der Erde der Stereotypenschrift gleichen; denn der Geist des Menschen ist zu einem rastlosen Fort­ schreiten bestimmt, und jede Verfassung ist um so zweckmäßiger, je mehr sie dem erreichten Culturgra­ de eines Volkes in dem Zeitpuncte entspricht, wo sie ins Leben eintritt. Allein der ununterbrochene und jährliche Wechsel in den Kammern der Volks­ vertreter, die von den Launen des gemeinen Man­ nes abhängende Ernennung der Wähler für die Volks­ vertreter, die Wahl der Municipalitäten, der Rich­ ter und anderer Staatsbeamten von dem Volke, und die zu häufige Veränderung in dem Personale der Regierung, wie dies im Directorium der französi­ schen, cisalpinischen, batavischen und helvetischen Re­ publik geschah, ist unvereinbar mit der Festigkeit, welche das innere Staatsleben erhalten muß, wenn es gedeihen soll. Sehr wahr sagt Mignet (in der Gesch. der franz. Revolution. Th. L): „Die Idee der Volkssouverainetät machte rei­ ßende Fortschritte. Alle, die nicht zur Behörde sich zählten, vereinigten sich in Versammlungen und hiel­ ten Berathschlagungen; die Soldaten hielten die ih­ rigen im Oratorium; die Schneidergesellen in der Colonnade; die Perückenmacher in den elysäischen Feldern; die Bedienten im Louvre.^ Wie oft gährte es in den alten Duodezrepubliken Griechenlands, die nicht einmal unbedingt demokratisch waren! Und was erlaubte sich der Pariser Pöbel, als ihm — mit dem Begriffe der Volkssouverainetät im Kopfe — die Waffe in die Hand gegeben ward! Nie hätten

134 die grauenvollsten Blutscenen die Geschichte des leh­ ren Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts so entwei­ hen können, wie es geschah, wenn man in Frank­ reich seit 1774 alles waS zeitgemäß war, für das Volk gethan, dasselbe aber nicht durch die Revolu­ tion zum Schiedsrichter über die Verfassung, Regie­ rung und Verwaltung des Staates berufen hatte! Mit unreifen, halbverdauten Begriffen vom Staate drängten sich damals die sittlich Unmündigen zu den Stellen der Volksvertreter und Volkswortführer; Ehrsüchtige, die schnell aufsteigen wollten, schmei­ chelten Anfangs dem Pöbel, bis sie die eine Masse desselben gegen die andere bewaffneten, und ihn ent­ weder auf die Schlachtfelder des Bürgerkrieges, oder aus den Gefängnissen unter die Guillotine brachten. Erst nach der Aufhebung der Urversammlungen, kam Frankreich zur Ruhe und zu einer Verfassung, die, wenigstens unter mehrern Nachhülfen, von 1799 — 1814 wiederhielt. Aehnliche Verirrungen wurden seit dem Herbste 1830 in Frankreich und Belgien er­ neut, als der abstracte Begriff der Volkssouverainetät von neuem in den Köpfen der seit 1789 grau­ gewordenen Revolutionshelden auftauchte, und man die Massen des Volkes, ohne Ausnahme, zur Theilnahme an den Verhandlungen über die wichtig­ sten Interessen des Staates für befähigt hielt. Sobald aber aus den gewerbtreibenden und feld­ bauenden Klassen des Volkes Abgeordnete zu den ständischen Versammlungen berufen werden sollen; so binde das Wahlgesetz die Wahl nicht zunächst an die Höchstbesteuerten, sondern an die Höchstbegab­ ten. In jedem gesitteten und fortschreitenden Staate finden sich einzelne politisch-Mündige in der Klasse der Gewerbtreibenden und der Feldbauer. Auf diese

135 falle die Wahl in den beiden genannten Kreisen der staatsbürgerlichen Interessen; denn waö an der Unbehülflichkeit ihrer Darstellungsform ausgesetzt wer­ den dürfte, werden sie durch ein gesundes Urtheil und durch die Einfachheit und Unbefangenheit in ihrer Stimmenabgebung hinreichend ersetzen. — Eben so müssen die, welche in repräsentativen Staatsfor­ men, zu Geschwornen, Friedensrichtern oder Municipalverwaltungebeamten in den einzelnen Gemeinden aufgerufen werden, die öffentliche Meinung ihrer Mitbürger für sich haben, und nach ihrem politischen Blicke und Tacte (wozu nicht gerade politische Tiefe erfordert wird) höher stehen, als die Masse, auf die fie wirken sollen. — Nie wird aber die förmliche Handhabung der Gerechtigkeitspflege oder der Polizei den Männern aus der Mitte des Volkes übertragen werden können. Denn was im Staats­ dienste einer mehrjährigen wissenschaftlichen Vorbe­ reitung, und einer, blos durch die Praxis allmählig zu erlangenden, Fertigkeit bedarf; das kann nicht Männern anvertraut werden, welche darneben ein bürgerliches Gewerbe treiben, das sie mit andern Bürgern in mannigfaltige Berührungen bringt, von welchen dec Staatsbeamte, im eigentlichen Sinne des Wortes, völlig unabhängig seyn muß. So wie die Justiz und die Polizei über allen Ständen und Klassen im bürgerlichen Leben steht, damit die Gleichheit des Gesetzes im ganzen Umfange des Staates herrsche; so muß auch der Justiz- und der Polizei-Beamte höher stehen, als die mittlern und untern Stände des Volkes, welche die Polizei be­ obachten, und über welche die Justiz richten soll. Deshalb dürfen auch die Geschwornen blos über den Thatbestand, nie über die Anwendung des Gesetzes

136 auf den vorliegenden Fall urtheilen. Ihnen steht nicht das Amt des Richters zu, sondern einzig die Ausmittelung des Schuldig oder Unschuldig, nach ihrem natürlichen Verstände, nach ihrem Gewissen, nur nach der in der öffentlichen Meinung ihnen zu­ kommenden Unparteilichkeit. In Hinsicht der Finanzverwaltung versteht es sich von selbst, daß nie das Geistige in derselben (die Ausmittelung des reinen Ertrags, um darnach die Steuerquoten zu berechnen; — die Berechnung des Verhältnisses der direkten und indirekten Steu­ ern gegen einander; — die Uebersicht über die Bei­ ziehung der Ausländer zur Besteuerung durch Ein­ fuhr-, Grenz- und Durchgangszolle u. f. w.) den Männern aus dem Volke übertragen werden kann. Wohl aber können zu dem Mechanismus der Hand­ langerarbeit dabei, zum Erheben einzelner Abgaben, zum Berechnen der eingegangenen Summen, zum Controlliren, und zu ähnlichen technischen Geschäften fähige Köpfe aus der Mitte des Volkes entnommen werden, die bisweilen, im Talente zum Rechnen, die ersten Staatsmänner der Nation und die ausgezeich­ netsten Gelehrten übertreffen. Was endlich die Militärverwaltung be. trifft; so verhindert schon die strenge Subordination, auf welche der Stand der bewaffneten Macht im Staate gegründet ist und auf welcher er beruhen muß, wenn anders durch ihn die Zwecke des Staa­ tes nicht gestört werden sollen, daß in demselben sel­ ten Demagogen ihr Glück machen. Sind doch die bedenklichsten Versuche zu Militairrevolutionen in der neuesten Zeit, in Spanien, Neapel, Piemont und Rußland, entweder in der Geburt erstickt, oder doch in urigewöhnlich kurzer Zeit unterdrückt worden.

137 Nur dann wird dies letztere schwierig, wenn man die Völker in Masse aufruft, weil die ungere­ gelten Haufen, sobald man ihnen die Waffen selbst in die Hand giebt, zwar, als Massen, große Wir­ kungen hervorzubringen vermögen, aber nur mit vie­ ler Schonung und Umsicht, nach erreichtem Zwecke, in die vorige bürgerliche Ordnung zurückgebracht wer­ den können. Denn die Staaten des heutigen Eu­ ropa sollen nicht stehenden Feldlagern gleichen, wie die Horden der Hunnen, der Magyaren, und der Tataren im Mittelalter. Nicht Eroberung, sondern Bewahrung des Bürgerthums und des rechtlichen Besitzstandes der Staaten, — nicht Zerstörung, son­ dern Arbeit, und durch Arbeit höhere Cultur und fester Wohlstand: — das sind die Aufgaben des Rechts und der Staatskunst an die Regierungen des neunzehnten Jahrhunderts. Sie werden auch allmählig erreicht werden, diese Aufgaben, wenn jede Re­ gierung den Grundsatz festhalt: „Nichts durch das Volk, alles für das Volk."

8.

Andeutungen über politische und kirchliche Emancipationen. Emancipation der irländischen Katholiken, mag sie nun aus dem Standpuncte eines unveräußerlichen Menschenrechts gefaßt, oder nach dem Maasstabe der brittischen Kabinetspolitik betrachtet werden: in beiden Beziehungen gehört sie zu den wichtigsten und folgenreichsten politischen Thatsachen unsers Zeitalters. Sie ward nicht auf dem Wege der Revolution, nicht durch den förmlichen Aufstand des irländischen Vol­ kes, sondern auf dem Wege einer, von der Re­ gierung als zeitgemäß anerkannten, Reform be­ wirkt; ihre Einleitung, die Bestimmung ihres Um­ fanges, und die Art und Weise ihres Eintritts ins öffentliche Staatsleben blieb daher ebenfalls in den Händen der Regierung. Sie geschah also von oben nach unten; nicht, wie die Revolutionen, von unten nach oben, wo nie das Maas, der Um­ fang und die Folge einer durch Revolution bewirk­ ten politischen Veränderung zu übersehen und im Voraus zu berechnen ist. Wenn daher diese Eman­ cipation von der einen Seite ein glänzendes Beispiel der neuesten Zeit für die Handhabung des Sy­ stems der Reformen, — nach der Verschieden­ heit dieses politischen Systems von den Systemen der Revolution und der Reaction, — enthält; so

139 erinnert sie zugleich von der andern Seite an frü­ here Emancipationen in politischer und kirchlicher Hin­ sicht, die zwar in allen Abschnitten der allgemeinen Geschichte, am meisten aber in der neuern und neue­ sten Geschichte, angetroffen werden. Im allgemeinsten Sinne verstehen wir unter Emancipation die Beseitigung der in der Wirklrchkeit bestehenden Beschränkungen in der Ausübung gewisser bürgerlicher oder kirchlicher Rechte. Es ist Emancipation, wenn die Fesseln der Sklaverei, der Leibeigenschaft und der Eigenhörigkeit fallen; wenn der Sklavenhandel aufgehoben, und der glebae adscriptus ein freier Grundbesitzer wird; wenn un­ terjochte Völker von ihren Siegern die Herstellung der verlornen Menschenrechte und die vormalige ganze, oder doch wenigstens halbe, Selbstständigkeit erlan­ gen; wenn Kolonieen aus ihrem Abhängigkeitsver­ hältnisse zu dem Mutterlande heraustreten, wenn die ecclesiae pressae oder toleratae gleiche Rechte mit der in einem gegebenen Staate herrschenden Kirche erhalten. Die Geschichte ist reich an Beispielen solcher Emancipationen; nur mit dem Unterschiede, daß viele derselben auf dem Wege der Revolution versucht und unter furchtbaren Kämpfen errungen, andere dagegen auf dem Wege der Reformen durchgeführt wurden. Jeder Kenner der Geschichte des Alterthums weiß, in welchen Zustand des politischen Druckes die un­ terjochten Völker gegen ihre Sieger traten, und unter welchen Stürmen und Kämpfen die von den unterdrückten Völkern selbst versuchte Emancipation bald gelang, bald fehlschlug. Die ältesten Urkunden des Morgenlandes berichten, wie Moses sein Volk, nach mehrer» vergeblichen Versuchen am königlichen

140 Hofe, durch die Ausführung aus! Aegypten von dem harten Drucke seiner Treiber emancipirte; wie Cyrus, mit einem Hellern politischen Blicke, als man bei einem morgenländischen Eroberer zu suchen ge­ wohnt ist, die zur Gefangenschaft ins babylonische Reich abgeführten Hebräer emancipirte, und ihnen die Rückkehr ins Vaterland verstattete; und wie spä­ ter die Heldenfamilie der Makkabäer die Eman­ cipation ihres Volkes gegen den mächtigen KönigSstamm der Seleuciden, unter abwechselnden Erfolgen, durchführte. Aehnliche Erscheinungen bietet die Ge­ schichte Griechenlands und Roms dar. So schwer auch der römische Senat sich entschloß, den besiegten Völkern das römische Bürgerrecht zu ertheilen: es geschah doch allmählig, als seine Weis­ heit und Consequenz es erkannte, daß die Eman­ cipation länger, ohne Gefahr fürs Ganze, nicht vermieden werden könnte. Wem wäre übrigens in dec Geschichte des Bürgerthums und der Sitten Roms die unermeßliche Verkettung von Folgen ent­ gangen, welche sich an die Freilassung vieler tausend Sklaven anknüpften, und welchen Ein­ fluß diese Freigelassenen, namentlich die aus der Mitte der Griechen, auf die Erziehung der römischen Jugend, auf die Staatskunst der Senatoren und Imperatoren, so wie auf die spätern politischen Schicksale Roms behaupteten! Wirschlagen die Jahrbücher des Mittelalters auf! Ueberall, wo der Teutsche als Sieger auftrat, theilte der Besiegte das traurige Schicksal der Leib­ eigenschaft. Allein der Drang der Ereignisse und die Fortschritte der Gesittung lüfteten bald diese Fesseln durch theilweise oder völlige Emancipa­ tion. So wie in den europäischen West- und

141

Südsiaaten die Bürger der ehemaligen römischen Städte, bei der Eroberung des Landes durch West, gothen, Franken, Burgunder, Ostgothen und Lan­ gobarden, ihre persönliche Freiheit gerettet hatten, während das eroberte stäche Land, nach Eigenthum und Menschen, den Siegern, nach dem Maasstabe der gemachten Theilungsloose, zufiel; so wurden auch, bereits seit den Zeiten des teutschen Königs Hein­ rich 1., der mehrere Städte Mittelteutschlands mit Mauern umgab, alle Bürger der Städte als per­ sönlich frei anerkannt; und bereits unter den salischen Kaisern verkündigt die Geschichte Teutschlan'os die Macht, die Volkszahl und den Wohlstand der teutschen Städte als Folge der bürgerlichen und po­ litischen Freiheit. Später traten in Frankreich (un­ ter Philipp dem Schönen), in England und Teutsch­ land die Abgeordneten der Städte, wegen der den Städten abverlangten Geldbewilligungen, selbst in die Kreise der Land - und Reichsstände, und erhiel­ ten durch diese Emancipation wenigstens theilweise eine gleiche Berechtigung mit den bis dahin ausschließend bevorrechteten Ständen der Geistlich­ keit und des Adels. Schon in dem Decrete des rö­ mischen Königs Heinrichs 7. ward am 1. Mai 1231. auf dem Reichstage zu Worms, nach vorher­ gegangener Einwilligung der Reichsfürsten, festgesetzt, „daß weder die Fürsten, noch andere Territorialheeren, Gesetze oder neue Ordnungen machen dürften, wofern sie nicht vorher die Einwilligung der angesehenen Landsassen erhalten hätten*)." — Die Kreuzzüge,

*) Diese wichtige Urkunde machte aus dem Würzburgischen Archive zuerst bekannt: Schultes, in s. Coburgischen Landesgeschichte des Mittelalters. Coburg, 1814. 4. S. 135.

142 ihrer ursprünglichen Bestimmung nach auf ganz an­ dere Zwecke berechnet, führten doch in ihren Folgen zu bedeutenden Emancipationen. Fürsten und Ritter, belohnten treugeleistete Dienste anf den gefahrvollen Zügen in einem andern Erdtheile mit der Ertheilung der persönlichen Freiheit; die Verarmung unzähliger ritterlicher Kreuzfahrer führte zur Verkaufung der persönlichen Freiheit an ihre bisherigen Leibeigenen, noch abgesehen von den Folgen, welche das Erlöschen vieler adlichen Geschlechter in dieser Zeit auf die Emancipation ihrer bisherigen Unterthanen behauptete. Einige Jahrhunderte später begannen innerhalb des europäischen Staatensystems die größern Ver­ suche zur Emancipation in kirchlicher Hinsicht von den Fesseln des Systems der geistlichen Hierar­ chie. Ein kühner Mann, geschmückt mit der drei­ fachen Krone, beschloß im letzten Viertheile des eilften Jahrhunderts, die Kirche über den Staat zu stellen, die geistliche Macht von der weltlichen zu trennen, und die weltliche Gewalt der kirchlichen unterzuordnen. Die mächtigen Völkergährungen sei­ nes Zeitalters begünstigten eben so die Verwirklichung dieses riesenhaften Planes, wie die individuelle Schwä­ che der meisten gleichzeitigen Fürsten. Allein schon im nächstfolgenden Jahrhunderte erhob Arnold von Brescia seine ernste Stimme gegen dieses System in dem Geburtslande desselben, in Italien; die Waldenser suchten und fanden in der Schrift die Gegensätze der geistlichen Hierarchie, und durch Wicleff und Huß ward die Opposition gegen das System des römischen Bischoffs auf die Lehrkanzeln der brittischen und teutschen Hochschulen gebracht. Der Hussitenkrieg wäre vermieden, und Teutschland nicht in seinem Innern durch einen Kampf auf Le.-

143 ben und Tod zerfleischt worden, wenn Rom selbst und die gleichzeitigen Concilien den ersten besonnenen Schritt zur Emancipation der Hussiten von dem Systeme der geistlichen Hierarchie gethan hätten. Denn die bloße Zugestehung des Kelches im Abend­ mahle konnte nicht einmal als eine halbe Emancipa­ tion betrachtet werden. Allein was im fünfzehnten Jahrhundert vergeblich versucht ward, gelangte im sechszehnten zur Reife. Die Kirchenverbesse­ rung, gleichzeitig in der Hauptstadt des sächsischen Churstaates und in der Schweiz begonnen; was war sie anders, als die mit der unbesiegbaren Kraft der Wahrheit durchgeführte Emancipation von den Fesseln der geistlichen Hierarchie; unmittelbar aus­ gehend von dem in seiner Bildung rasch fortgeschrit­ tenen dritten Stande und von den gelehrtesten Männern der Hochschulen, unterstützt aber von den aufgeklärtesten Fürsten der damaligen Zeit, welche die Würde ihrer Kronen im Verhältnisse zur drei­ fachen Krone in Rom, und das politische Interesse, so wie die geistigen Bedürfnisse und Forderungen ihrer Völker verstanden und mit Einsicht würdigten! Diese kirchliche Emancipation erfolgte da, wo die Fürsten sich für dieselbe erklärten, ohne Kampf und Blutvergießen; so im sächsischen und branden­ burgischen Churstaate; im Lande des Landgrafen von Hessen, der Häuser Pfalz, Braunschweig, Anhalt, Mecklenburg und Pommern, im Herzogthume Würtemberg, in einem Theile der Markgrafschaft Baden, in vielen Reichsstädten, im geistlichen Ritterstaate Preußen, und in den drei nordischen Reichen, Schwe­ den, Dänemark und Norwegen. Nur wo die Kö­ nige der Kirchenverbesserung abgeneigt waren, floß Blut unter den Kämpfern für die kirchliche Emanci-

144 — pation; so in England und im Niederlande, bis in England die Königin Elisabeth den Thron ihrer kin­ derlosen Schwester Maria bestieg, und die Unab­ hängigkeit des Freistaates der Niederlande von den Königen Spaniens erkämpft ward. Anders freilich in Spanien, in Italien und in Frankreich, wo die Macht von oben die, von dem zur Freiheit des Glau­ bens mündig gewordenen Theile des Volkes ge­ wünschte, kirchliche Emancipation gewaltsam unter­ drückte. Doch gelang dies in Frankreich weniger, als in Spanien und Italien. Denn das Edict von Nantes, das Heinrich 4. gab, war eine förmliche Anerkennung dieser Emancipation von oben; nur daß Ludwig 14. sich für berechtigt hielt, aus königlicher Machtvollkommenheit den kirchlichen Freiheitsbrief des großen Begründers der bourbonischen Dynastie auf dem Throne Frankreichs wieder aufzuheben! Bei dem hartnäckigen Kampfe, welcher in Teutsch­ land zwischen dem in vielen Staaten emancipirten Protestantismus und dem Katholicismus fortdauerte, konnte es nicht befremden, daß, bei der gegenseiti­ gen halben Ausgleichung, in Ländern, wo beide kirchliche Glaubensfysteme neben einander bestanden,' der minder zahlreiche Theil blos zu der ecclesia tolerata gehörte. Erst im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts konnte, nach dem Untergange des teut­ schen Reiches, bei der Begründung des rheinischen und später des teutschen Bundes, das große Work der völligen bürgerlichen und politischen Gleichstellung der Protestanten und Katholiken innerhalb dieses Staatenbundes ausgesprochen, und dadurch die Eman­ cipation der Protestanten in katholischen Ländern, so wie der Katholiken in protestantischen Landern bewirkt werden, nachdem dies bereits früher in Frankreich

145 geschehen war, und vor zwei Jahren die brittische Aristokratie in der hohen Kirche und in der Pairskammer, aus politischen Gründen, nicht angemessen fand,, dieselbe Emancipation den Irländern länger zu verweigern. — Wenden wir uns aber von den religiösen und kirchlichen Emancipationen wieder zu den politi­ schen; so ist Vie neueste Zeit höchst reich an Ereig­ nissen dieser Art. Emancipation aus drückenden Kolonialverhältnissen war die Anerkennung der Selbst­ ständigkeit und Unabhängigkeit der 13 nordame­ rikanischen Staaten von Großbritannien im Pariser Frieden vom 3, Sept. 1783. Welche Fol­ gen diese Emancipation hatte, zeigt schon die einfache Gegeneinanderstellung der Bevölkerungszahl des nord­ amerikanischen Bundesstaates im Jahre 1783 mit höchstens 2 Millionen Menschen und im Jahre 1831 mit 13 Millionen; noch mehr aber die politische Stellung dieses Staates gegen die übrigen Staaten des vierten Erdtheils und gegen die Gesammtheit der europäischen Staaten und Reiche. — Unter Strömen von Blut emancipirte sich Hayti von den frühern Kolonialverhältnissen, bis Karl 10. von Frankreich durch sein königliches Wort am 17. Apr. 1825 diese Emancipation bestätigte. — Unter an­ dern politischen Verhältnissen erfolgte vom Könige Johann 6. von Portugal int Jahre 1815 die Emancipation Brasiliens aus den portugiestschen Kolonialverhältnissen; doch ahnete der alternde Kö­ nig damals, als er Brasilien zwischen Portugal und Algarbien in der Rangordnung seiner Königreiche stellte, schwerlich, daß die vormalige Kolonie sieben Jahre später als erstes Kaiserthum im vierten ErdPLlitz vcrm. Schr. Th. l. 10

146 theile ausgesprochen werden und, als solches, sich behaupten würde! Nur Ferdinand 7. verweigerte fortdauernd die Anerkennung der thatsächlich bewirk­ ten Emancipation der vormaligen spanischen Kolonieen auf dem Festlande von Süd -, Mittel - und Nordamerika! Allein der kühnste unter allen in neuern Zeiten gelungenen Versuchen politischer Emancipation war die französische Revolution. Es gehört nicht hierher, die vorbereitenden Ursachen derselben zu er­ örtern, die Fehler und Mißgriffe des Hofes und der Großen in der damaligen verhängnißvollen Zeit nachzuweisen, oder in die Frage über die Rechtmä­ ßigkeit oder Unrechtmäßigkeit derselben einzugehen. Hier gilt einzig die T h a t sa ch e selbst. Diese That­ sache war die Emancipation des dritten Standes in Frankreich von allen Beschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte desselben, die aus der Zeit der Begründung des Lehnssystems in Frankreich herstammten. Die völlige Ver­ nichtung der Leibeigenschaft, der Eigenhöuigkeit, der Frohnen, der Vorrechte der privilegirten Stände in Hinsicht auf besondern Gerichtsstand und Befreiung von Steuern und Abgaben; die gleiche Berechtigung des dritten Standes zu allen Aemtern und Würden im Staate; die Begründung der neuen Stellung der gallikanischen Kirche gegen Rom und gegen den Thron vermittelst des Concordats, und ein Gesetz­ buch, auf diese neugeschaffenen Verhältnisse durch­ gehends berechnet; dies waren die Thatsachen, auf welchen die Emancipation des dritten Standes in Frankreich gegenwärtig beruht. Eine Folge dieser Thatsachen war nicht blos die Riesenmacht, zu wel­ cher — freilich nur vorübergehend — Napoleon das

147 im Mittelpuncte seiner Föderativstaaten stehende Frankreich steigerte, sondern auch, was von größerer politischer Bedeutung ist, daß dasselbe Königreich Frankreich, welches, vor der Revolution 25 Millio­ nen Menschen umschloß, jeßt — nach den furcht­ baren Kämpfen eines Vierteljahrhunderts — 32 Millionen auf demselben Flächenraume zählt, und daß eben dieses Frankreich jehr über eine Milliarde Franken jährlich an Abgaben aufbringt, während es vor der Revolution durch die Hälfte dieser Abgaben zum unheilbarsten Deficit und zum Nationalbanke­ rotte gebracht ward. — Doch nicht überall erfolgte diese politische Eman­ cipation unter Blutscenen, wie auf dem Boden des schönen Frankreichs. Schon Gustav Wasa, dieser großartige Fürst des sechszehnten Jahrhunderts, der weit über seinem Zeitalter stand, emancipirte bereits in jener Zeit den dritten und vierten Stand seines Volkes, als er die Stände seines Reiches aus dem Adel, der Geistlichkeit, dem Bürger- und dem Bauernstande bildete. — Was aber in neuester Zeit für diese Emancipation geschah, braucht kaum dm Zeitgenossen wiederhohlt zu werden. Durch neue schriftliche Verfassungsurkunden er­ folgte — freilich unter mannigfaltigen Schattirungen, je nachdem von dem Lehnssysteme, der aus dem Mittelalter stammenden Unterlage alles Staats­ lebens in den von Germanen gestifteten Reichen, mehr oder weniger beibehalten ward, — dieselbe Emancipation des dritten Standes im Königreiche der Niederlande, in Norwegen, in Bayern, Würtemberg, Baden, Darmstadt, Churhessen, Nassau und in andern constitutionellen Staaten, und —

10»

148 selbst ohne schriftliche Verfassungsurkunden — in mehrer« Reichen durch Thathandlungen der Souve­ räne, wodurch die gleiche Berechtigung aller Staats­ bürger zum Staatsdienste, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung nach der Höhe des reinen Ertrags, und die Aufnahme neuer Mitglieder aus dem dritten Stande in die Reihe der ältern ständischen Abgeord­ neten versucht ward. So weit der Erfolg dieser Thatsachen bis jetzt berechnet werden kann; so dürfte noch kein Regent diese von ihm bestätigte Emancipation bereuet haben. Sie hat die Kräfte der Völker gehoben, die Arbeit­ samkeit, und mit ihr die Theilung der Arbeit, so wie mit dieser die Theilung des großen Grundeigen­ thums befördert; sie hat Capitalien da in die Mitte des Verkehrs gebracht, wo sonst der öffentliche Cre­ dit fehlte; sie hat die Summen des Einkommens der Regierungen gesteigert, ohne die Steuern und Ab­ gaben durch willkührliche Tarife zu erzwingen; sie hat die Schulden der Staaten unter die sicherste Ge­ währleistung gebracht, unter den höher steigenden Wohlstand des gestimmten Volkes; sie hat — was unzertrennlich mit dieser Emancipation verbunden ist — die geistigen Kräfte geweckt, die ver­ schiedenen Volksklassen und Stände einander ange­ nähert, die politische Mündigkeit vorbereitet, und mit ihr, allen demagogischen Umtrieben am sichersten entgegen gewirkt, weil demagogische Umtriebe, nach dem Zeugnisse der Geschichte, unmöglich sind, wo geistige und bürgerliche Freiheit, Zufriedenheit aller Staatsbürger wegen der rechtlich gesicherten Gleich­ heit ihrer Berechtigungen, Wohlstand und reges Leben im häuslichen und öffentlichen Verkehr, und rastloser Fortschritt in allen Hauptbedingungen der

149 Cultur herrschen. Nur da, wo die politische Eng­ herzigkeit den Charakter und das eingetretene Bedürf­ niß der kirchlichen und politischen Emancipation ver­ kennt, oder — noch schlimmer — wo das System der Reaction die bereits bewilligten Emancipationen, bald durch förmliche Gewaltschritte zurücknimmt, bald durch beschränkende Formen und geheime An­ stalten in ihren Wirkungen lähmt und verkümmert: Nur da öffnen und häufen sich die Staatsgefängnisse; nur da übernehmen die kirchlichen und politischen Inquisitoren die Handhabung der geistigen Mauthlinien und der Grenzsperrsysteme der Cultur; nur da entvölkert die Gewalt ihre eignen Provinzen durch die errichteten Galgen und Schaffotte, und nur da sucht sie durch Vermögensconfiscationen das Deficit in den Finanzen zu decken! Oder könnte es in der That einen Europäer geben, der lieber in Spanien und Portugal zu leben wünschte, als in Frankreich, in England und Teutschland? Könnte irgend ein Staatsmann das große geschichtliche Ergebniß zu verkennen im Stande seyn, was Großbritannien seit 1688, Nordamerika seit 1783, und Frankreich seit 1789 durch die politische Emancipation geworden ist? Wie? sollte das neunzehnte Jahrhundert nicht endlich von dem sechzehnten Jahrhunderte gelernt haben, daß da, wo weise und großartige Fürsten durch das System der; Reformen, die von ihnen ausgingen, und die nach ihrem Charakter und Umfange in ihrer Hand blieben, die zeitgemäßen Emancipationen selbst ertheilten, jede Revolution, sie sey kirchlich oder politisch, unbedingt verhütet ward; und daß die Reaction gegen bereits ins öf­ fentliche Staatsleben eingetretene Emancipationen dem Messer des Selbstmörders gleicht, das in den



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eigenen Eingeweiden wüthet? — Deshalb erkenne man die Zeichen der Zeit! Die reifenden, die gebildeten, die wohlhabenden Völker bedürfen der Reformen, und diese Reformen beruhen auf weife berechneten und allmählig zugestandenen Eman­ cipationen !

9. Die Emancipation des dritten Standes. „Sehet an den Feigenbaum, und alle Bäume. Wenn sie jetzt ausschlagen; so sehet ihrs an ihnen, und merket, daß der Sommer nahe ist." Luc. 21, 29. 30.

Mittelalter, für die südlichen, westlichen und mitteleuropäischen Völker anhebend mit dem Unter­ gänge des römischen Reiches im Abendlands im Jahre 476, und endigend mit der Entdeckung des vierten Erdtheils im Jahre 1492, sah für die bei­ den größten Angelegenheiten unsers Geschlechts — für Bürgerthum und Kirchenthum — zwei Syst eme entstehen und allmählig sich ausbilden: das Lehnssystem und das System der päpst­ lichen Hierarchie. Das erste ward für alle Völkerschaften und Reiche germanischen Ursprungs die Unterlage des bürgerlichen und öffentlichen Le­ bens; das zweite die Unterlage des religiösen und kirchlichen Lebens. Doch reicht der Ursprung des ersten weiter in die Vergangenheit zurück, als das Entstehen und die Begründung des zweiten. Denn das Lehnssystem war zunächst die unmittelbare Folge der Eroberung der vormaligen Provinzen des römi­ schen Westreiches und der Unterwerfung ihrer Be­ wohner; minder drückend in den Städten Galliens und Italiens, wo die Ueberreste römischer Municipalverfaffung, selbst unter der Oberherrschaft der

152 Sieger, sich erhielten, als in den, in der Folge von den fränkischen Königen eroberten, teutschen und sla­ vischen Ländern, seit sie ihre Siege bis an die Eider, bis an und über, die Elbe, und bis an den Raabfiuß in Ungarn trugen. So ward das Lehnssystem bereits seit dem Ende des fünften christli­ chen Jahrhunderts die Grundlage der bürgerli­ chen und staatsrechtlichen Verhältnisse der, in Eu­ ropa durch die Siege der Germanen neugestifteten, Reiche in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Teutschland, England, Dänemark, Schweden und Norwegen. Dagegen erhielt das System der päpst-^ lichenHierarchie erst gegen das Ende des elis­ ten Jahrhunderts, als Gregor 7. die Würde des römischen Bischoffs bekleidete, seine feste Be­ gründung und Ausbildung. Diesem kühnen Priester gelang es in einem Zeitalter, wo in Teutschland die mächtigsten Vasallen und die kräftigsten Völkerschaf­ ten gegen ihren König Heinrich 4. aufgestanden wa­ ren, die bis dahin aristokratische Verfassung der Kirche in eine streng monarchische, und — durch der Unterordnung der ganzen abendländischen Geist­ lichkeit unter den römischen Bischoff, vermittelst des durchgksehten Cölibats der Geistlichkeit, so wie durch die Aufstellung des furchtbaren Dogma: die geistliche Gewalt sey über der weltlichen — die ganze bisherige Stellung der Regenten zu dem römischen Bischoffe umzuwandeln. Von nun an galt in der abendländischen Chri­ stenheit das kirchlich-politische Dogma: der römische Bischoff sey der Statthalter Christi auf Erden; alle weltliche Macht sey ein Ausfluß der geistlichen; jedes christliche Reich gehe bei Rom zum Lehen; der Papst aber könne über seine Lehnsleute verfügen, Kronen

153 verleihen und Kronen nehmen, Länder nach Gut­ dünken verschenken, die Unterthanen des Eides der Treue gegen Könige und Fürsten entbinden, und die gesammte Christenheit für das Interesse des aposto­ lischen Stuhles besteuern. Die Mönchsorden, die päpstlichen Legaten und die Beichtväter an den Hö­ fen, die Inquisition und die Ketzergerichte wachten für die Aufrechthaltung dieses Systems. Allein be­ reits im zwölften Jahrhunderte erhob sich die Stim­ me des Arnolds von Brescia (1143) gegen dasselbe; vierzig Jahre nach ihm (1180) lasen und erklärten die Waldenser die Bibel in französischer Sprache; hundert und achtzig Jahre später (1360) erhob Wicliff zu Oxford die Stimme eines freien Forschers der Schrift voll Kraft und Macht, die bald zu Prag (1400) in Hussens Lehren wieder­ tönte. Der Flammentod des letztem zu Kostnitz (1415) wirkte mehr, als jedes andere Mittel, für die wei­ tere Verbreitung seiner Lehre in der Mitte der teut­ schen Gauen, bis am 31. Oct. 1517. der Tag kam, wo Luther den ersten öffentlichen Schritt zur Kir­ chenverbesserung that, der zur Trennung der prote­ stantischen Christenheit von Rom führte, und daö System der geistlichen Hierarchie in der ganzen pro­ testantischen Welt vom Rheine bis zur Ostsee, von den Schweizeralpen bis 'Zu den Eisgebirgen Schwe­ dens und Norwegens erschütterte. Der Sieg des Protestantismus ward entschieden durch die that­ sächliche Emancipation des Glaubens und der Gewissen von der Uebermacht der geistlichen Hierarchie im Passauer Vertrage (1552) und im Augeburgischen Neligionsfricden (1555). Zwar misch­ ten sich in das erste Aufstreben des Protestantismus gegen Rom die revolutionairen Ultra's des sechszehn-

154 ten Jahrhunderts, die bald mit dem Zwickauer Tuch-« macher Storch die Wiedertaufe der Erwachsenen forderten; bald als Prädicanten — unter ihnen besonders der unreife Zögling Wittenbergs, der rohe Demagog Thomas Münzer — die Landleute im Herzen Teutschlands zum sogenannten Bauern­ kriege aufregten, der mit Gewalt der Waffen bei Frankenhausen 'beendigt werden mußte; und bald, wie Knipperdolling und Johann von Lei­ den, zu Münster die Stiftung eines irdischen Zions versuchten. Allein das Wahre, Edle und Große, das im Wesen der begonnenen kirchlichen Reform lag, überdauerte die vorübergehenden Stürme der Revolutionaire des sechszehnten Jahrhunderts, und weise Fürsten, wie Friedrich von Sachsen, Philipp von Hessen, und andere, die ihnen glichen, wußten die Grenzlinie zwischen kirchlicher Reform und kirchlicher Revolution mit sicherm Tacte festzuhalten. Sie gehörten der ersten an, und be­ kämpften die zweite. Die erste trat unter ihrer mm sichtigen Leitung ins öffentliche Staatsleben , ein, als sie den Geist ihrer kirchlich-mündig gewordenen Völ­ ker verstanden. So emancipirte die Refor­ mation die Throne von der Statthalter­ schaft Roms, und eben so emancipirte das herge­ stellte Evangelium einen großen Theil der Christen­ heit von der Macht der Tradition und der Exegese des Vatikans. Die Revolutionöbewegungen jener Zeit aber verschwanden, als sie ernsthaft bekämpft wurden; denn ihnen gehörte nur die, durch kirchliche Demagogen aufgeregte, Minderzahl des Pöbels an. Allein nach der Besiegung der revolutionairen kirch­ lichen Ultra's blieb noch der hartnäckige Kampf ge­ gen die Reaction, die, zunächst von den Jesuiten

155 geleitet, erst im westfälischen Frieden zur Anerken­ nung der gleichen öffentlichen Berechtigung des Pro­ testantismus neben dem Katholicismus sich genöthigt sah. —

Länger, als die Blüthen- und Kraftzeit des Sy­ stems der geistlichen Hierarchie, dauerte die Herr­ schaft des Lehnssystems; denn es hatte in dem innern Leben der wichtigsten europäischen Völker und Staaten, seit dem Untergange des römischen West­ reiches, zu tiefe Wurzeln geschlagen, wenn gleich die vielfachen Schattirungen desselben in den einzelnen Staaten, welche die germanischen Völker gründeten, sogleich in den ersten Jahrhunderten seines politischen Daseyns genau unterschieden werden können. Denn wo in den bezwungenen Ländern noch keine Städte, oder nur wenige und unbedeutende, waren; da kündigte sich das drückende Verhältniß zwischen dem Lehnsherrn und Dienstmann, zwischen dem Sieger und dem zur Leibeigenschaft und Eigenhörigkeit verurtheilten Be­ siegten, in seiner ganzen Schroffheit an. Nur erst, als im eigentlichen Teutschlande diesseits des Rheins, Städte entstanden, wie sie die Germanen bereits in dem besiegten Gallien, Spanien und Italien vorge­ funden hatten, trat ein freier Bürgerstand in die Mitte zwischen den Lehnsherrn und den Leibeige­ nen. Gewerbe, Handel, Wissenschaft und Kunst, und die unzertrennlichen Gefährten derselben, Wohl­ stand, Reichthum und höhere Gesittung, gediehen in den Städten, weil — wie die Blume am Lichte der Sonne — die Bildung, der Wohlstand und der Fortschritt des Bürgerthums am Lichte der bür­ gerlichen Freiheit sich entfaltet. Bald führte das

156 Gesetz der moralischen Nothwendigkeit, das in der Welt des BürgerthumS sein Recht mit gleicher Kraft, wie das Gesetz der physischen Nothwen­ digkeit in der Naturwelt behauptet, die Abgeordne­ ten der Städte, deren man nicht länger entbehren konnte, in die Kreise der, bis dahin unter den teut­ schen Völkern nur auf die Mitglieder der Geistlich­ keit und des Adels beschränkten, Stände. Moch­ ten auch ursprünglich auf diesen ständischen Ver­ sammlungen die Städte nichts weniger, als gleich berechtigt mit der Geistlichkeit und dem Adel, erschei­ nen; mochte zunächst die Geldverlegenheit ihre Bei­ ziehung zu der Verhandlung der allgemeinen StaatSinteressen bewirken: das iLebergewicht der In­ telligenz und des Geldes, das sie in die Wagschale legten, gab bald den Ausschlag über die höhere Bedeutung ihrer politischen Stellung, und kluge Regenten verstanden es, diese Stellung der Städte zu verstärken, um sich des Uebermuthes der Geistlichkeit und des Ritterthums gegen die Fürsten­ macht zu erwehren. Von Marseille, wo teutsches Blut mit griechi­ schem und römischem, von Sevilla, wo maurisches Blut mit römischem und westgothischem sich mischte, bis nach England, wo angelsächsisches, normännisches und dänisches Blut sich vereinigte, und bis nach Now­ gorod, wo Germanen und Slaven verschmolzen, wogte im ausgehenden Mittelalter ein frischer und freier Handelsverkehr. Die Bürger der Städte er­ starkten durch die Freiheit, die sie hinter ihren Mau­ ern, Wällen, Gräben und Thoren mit Eifersucht gegen Fremde bewachten, und nachdrucksvoll selbst gegen Fürsten behaupteten, bis sie, in ihrer eigenen Mitte, allmählig der Aristokratie des Patriciats der

157 Magistrate unterlagen, während früher freie Bür­ gerwahl die edelsten und kräftigsten aus ihrer Mitte an die Spitze der städtischen Verwaltung gestellt hatte. Wie aber in unsrer Zeit Venedig, Genua, Bern, und andere Republiken und Republiketten am Auszehrungsfieber des Aristokratismus hinschwanden; so auch gleichzeitig, und aus denselben Ursachen, die vormals mächtigen freien Städte, sie mochten nun (wie in Teutschland mehr als 50,) Reichsstädte heißen, oder, wie in andern Reichen, wo das Wahl­ recht des Thrones früher aufhörte, als in Teutsch­ land, in die Reiche der bedeutendern Municipalstädte gehören. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Einführung des römischen Rechts die Ari­ stokratie und das Patriciat der Magistrate mächtig förderte,! und die ursprüngliche einfache Gerichtsver­ fassung der Teutschen zuletzt völlig verdrängte. Allein auch das Lehnssystem erlitt, im Laufe der Jahrhunderte, nach seinen ursprünglichen Formen wesentliche Veränderungen. Zuerst schon dadurch, daß das freie Allodium bald hinter das mit höhern Vorrechten ausgestattete, Lehen zurücktreten mußte; dann, daß Anfangs die kleinern, später auch die größer» Lehen, zwar nicht durch Reichsgesetz, wohl aber durch Gewohnheit und Herkommen, und na­ mentlich in Teutschland seit dem zweiten Viertheile des zwölften Jahrhunderts, erblich wurden; weiter, daß ein dritter — der drückenden Fesseln der Leib­ eigenschaft entbundenener — Stand in den freien Städten sich bildete, der zu Kraft, Intelligenz und Reichthum gelangte, und dem man die beengenden Formen der Eigenhörigkeit und Leibeigenschaft nicht anmuthen durfte; sofort, daß die Leibeigenschaft, seit den Zeiten der Kreuzzüge, bei den teutschen Völ-

158 kern — weniger bei den slavischen — gemildert ward und losgekauft werden konnte; und endlich, daß, seit dem fünfzehnten Jahrhunderte, nach der Erfin­ dung des Schießpulvers, die veränderte Art, Krieg zu führen, das frühere Lehnssystem mit seiner Heer­ folge mächtig erschütterte; daß die Städte zur Stand­ schaft, theils im teutschen Reiche selbst, theils in den einzelnen Staaten desselben, gelangten; daß der ewige Friede (1495) die Macht des Faustrechts brach; daß die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Entdeckung des vierten Erdtheils zwei neue Wel­ ten eröffnete, welche dem Alterthume und dem Mit­ telalter verschlossen geblieben waren, und daß das, in den Tagen der Kirchenverbesserung gereinigte, Evangelium über Kirchenthum und Bürgerthum allmählig ein neues Licht verbreitete, bei dessen Kraft mehrere drückende Formen des Lehnssystems, so wie die Blitze des Vaticans, ihre vorige Wirksamkeit verloren. So viel aber auch durch alle diese Vorgänge die Macht des Lehnssystems erschüttert, und sogar gebrochen worden war; so ward es doch erst durch die französische Revolution in der Mitte ei­ nes Reiches von 25 Millionen Menschen vernichtet, in welchem das Lehnssystem seit Chlodowigs Zeiten, folglich seit 1400 Jahren, als die Unterlage des ganzen bürgerlichen und öffentlichen Lebens bestanden hatte. Was dreihundert Jahre früher durch die Kirchenverbesserung in Beziehung auf das System der geistlichen Hierarchie geschah; das geschah durch die französische Revolution in Beziehung auf das, bei allen Völkern teutschen Ursprungs mehr oder weniger geltende, Lehnssystem. Und deshalb ward die fran­ zösische Revolution eine weltgeschichtliche Be-

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gebenheit! So viel auch das, was seit Ludwigs 14. Zeiten der Hof zu Versailles that, oder nicht that; so viel die drückende, nicht mehr zu verbergende, Fi­ nanznoth Franksreichs seit 1787; so viel daselbst die Entfremdung der beiden privilegirten Stände gegen den dritten Stand; so viel auch immer tausend ein­ zelne Erscheinungen und viele hochgestellte Individuen durch ihr besonderes Verhältniß zu dem in Frank­ reich, seit Ludwigs 15. Zeiten mächtig aufgeregten, Volksleben, zur Herbeiführung der Thatsache, die wir französische Revolution nennen, beigetragen ha­ ben: die Aufhebung des Lehnssystems von der ersten Nationalversammlung Frankreichs am 4. Aug. 1789 entschied, in ihren unermeßlichen Folgen, über den Anfang einer neuen Ordnung der Dinge im Bürgerthume Und Staatsleben. Es gehört nicht hierher, nachzuweisen, welche Er­ schütterungen durch diese Aufhebung des Lehnssystems in Frankreich selbst, theils damals, theils in späterer Zeit, bewirkt wurden. Das Besitzthum ward mäch­ tig verändert; die bisherige Stellung der Stände gegeneinander vernichtet; das Regentenrecht auf eine neue Theorie gegründet; die Trennung der Kirche vom Staate und ihre Abhängigkeit von Rom aufgelöset. Es war keine Reform, die blos das an­ erkannt Veraltete und geschichtlich bereits Abgestor­ bene mit bessern und zeitgemäßen Formen vertauscht, dagegen aber das, was von dem Bestehenden als haltbar sich ankündigt, beibehält und von neuem stützt; es war keine Reform, die jedesmal von der vorhandenen geschichtlichen Unterlage des Staats­ lebens ausgehet, und auf diese mit Weisheit, Scho­ nung und Umsicht das fortbauet, was der fortge­ schrittene Geist der Zeit mit Ernst und Würde for-

160 tert: — es war eine Revolution, welche die ganze Vergangenheit eines großen Reiches bis auf den vorigen Tag vernichtete, welche ein ganz neues Leben an die Stelle dieser Vergangenheit setzte, und jede Untersuchung von sich wies, ob denn Alles, was man aufhob, auf gleicher Linie des Veralteten und Abgestorbenen stände, oder ob nicht Vieles erhalten und durch neue Stützpuncte mit dem, was der Zeit­ geist unwiderstehlich verlangte, zu Einem neugestal­ teten Ganzen vereinigt und verschmolzen werden könnte. Der Revolutionskrieg, der im Herbste 1792 be­ gann, mußte deshalb ein Kampf auf Tod und Le­ ben werden. Es standen nicht blos Völker, Reiche und Mächte, eö standen, was viel mehr sagen will, zwei entgegengesetzte Ideen, zwei Systeme einander gewitterschwer gegenüber: das, auf den Trümmern des Lehnösystems in Frankreich neu be­ gonnene System des bürgerlichen und öffentlichen Lebens, und das auf tausendjährigem Besitzstände ruhende und fortdauernde LehnSsystem in den übri­ gen europäischen Reichen- Lange war der Riesen­ kampf zweifelhaft; denn die unermeßliche Macht, welche eine neue, ins Staatsleben eintretende, Idee ihren Anhängern gewährt, ward mehrmals ausge­ wogen durch die kaum berechenbare Kraft des Be­ sitzes , welche die Vertheidiger des Lehnösystems hand­ habten. So viele persönliche, örtliche und beson­ dere Interessen auch in den europäischen Kriegen seit 1792 eine Masse von einzelnen Vorgängen herbei­ geführt haben mögen (ähnlich denen, welche in den Religionskriegen von 1546 —1648 mit einander wechselten); an Entscheidung des Kampfes konnte nicht eher gedacht werden, als bis entweder das

161 neue, oder das alte politische System völlig über das andere siegte, oder beide zuletzt in den einzelnen europäischen Reichen neben einander rechtlich be­ standen, und durch Verträge sich gegenseitig nach ihrem Nebeneinandcrbestehen anerkannten. Das Hauptergebniß des Umsturzes des Lehnssystems war aber in Frankreich, so wie in aller» den Staaten, welche entweder mehr oder weniger, entweder auf kür­ zere oder längere Zeit unter den Einstuß des in Frank­ reich zum Siege gelangten neuen politischen Systems gebracht wurden: die Emancipation des dritten Standes von allen Formen und Verhältnissen des Lehnssystems, und die Begründung der neuen Un­ terlage des gesammten innern Staatsle­ bens durch eine schriftliche, vertragsmäßig von dem Regenten und den Vertretern des Volkes angenommene Urkunde, — Verfassung genannt. Nothwendig »mißte da, wo das Lehnssystem im Sturme einer Revolution völlig unterging, die Emancipation des dritten Standes durchgreifender seyn, und die neue Verfassung viel ausgedehn­ tere Bestiminungen enthalten, als da, wo den Völ­ kern und Staaten das furchtbare Wagestück einer Revolutio»: erspart, von den einsichtsvolle»» Regenten selbst aber die zeitgemäße Verjüngung des innern Skaatslebens auf dem Wege der Reform ver­ sucht, und, mit steter Hinsicht auf das Bestehende, das man noch als zweckmäßig und brauchbar aner­ kannte, nur das thatsächlich Veraltete und Abge­ storbene aufgehoben und beseitigt, und folglich auch die neue Verfassungsurkunde zunächst auf solche Be­ stimmungen zurückgeführt ward, in welchen man das zweckmäßig Bestehende mit dem zeitgemäßen Neuen zu vereinigen suchte. Pölitz verm. Schr. LH.

1.

11

162 So groß und schwierig aber diese Aufgabe ist und bleibt; so ist doch auch ihre Lösung zugleich der Triumph des Staatsrechts und der Staatskunst. Denn sie verlangt eben so wohl den klaren, durch kein Vorurtheil, durch keine Leidenschaft, und weder durch den Ultraismus, noch durch die Reaction ge­ trübten, Blick auf das, was wirklich veraltet ist, und was fernerhin das frische Leben des Staates in seiner freien Entwickelung hemmen würde, — wie den festen politischen Tact in Hinsicht auf das, waö als neu an die Stelle des Veralteten und Erlö­ schenden — und zwar mit durchgängiger Berücksich­ tigung der örtlichen Verhältnisse, der geschichtlichen Vergangenheit, so wie des erreichten Culturgrades eines Volkes treten soll, dem eine neue Verfassung bestimmt wird. Noch abgesehen von den neuen Staaten Amerika's, hat Europa seit 1789 mit solchen neuen Ver­ fassungen , theils den bereits wieder verschwundenen, theils den noch bestehenden, gegen hundertmal (mit Einschluß der einzelnen Verfassungen der helve­ tischen Cantone) in den verschiedensten Reichen und Staaten experimentier; Frankreich allein siebenmal, vom 3. September 1791 an bis zum 7. August 1830. Eine Erscheinung dieser Art hat, bei allen eingetretenen Mißgriffen und Verirrungen, einen tiefliegenden Grund; es ist das Streben des dritten Standes nach seiner Emancipation aus den veralteten Verhältnissen des Lehnssystems. Der dritte Stand nimmt entweder nur im dunkeln Ge­ fühle, oder bereits im klaren Bewußtseyn die That­ sache wahr, er sey durch Intelligenz, Gesittung, sitt­ liche Kraft und Reichthum zur politischen Mün­ digkeit reif geworden. Er verlangt eine Behänd-

163 lung von oben und selbst von seinen Mitbürgern, so wie eine Stellung im Staate, die seiner erreich­ ten politischen Reife entspricht. Er verlangt die An­ erkennung seiner Mündigkeit und die öffentliche Mündigkeitscrklärung. Deshalb nimmt er Gemeindeund Städteordnungen in Anspruch; Antheil an der Verwaltung der städtischen Einnahmen und Aus­ gaben; Antheil an der Begründung und Aufrecht­ haltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch Polizei und Waffendienst; so wie Vertretung der'eigen­ thümlichen Interessen seiner Gewerbe, seines Han­ dels, seiner Wissenschaft und Kunst, seines freien Verkehrs im Jnlande und mit dem Auslande, durch selbstgewählte Abgeordnete aus seiner Mitte in dem ehrenwerthen Kreise der Stände seines ganzen Vol­ kes. Er verlangt gleichmäßige Besteuerung aller Staatsbürger nach dem Maasstabe des reinen Er­ trages, doch mit gerechter Entschädigung für Alle, welche in dieser großen Angelegenheit des innern Staatölebens auf wohlerworbene Rechte zum Besten des Ganzen verzichten; er verlangt gleiche Berech­ tigung des Verdienstes zur Anstellung in Staatsämtern, es gehe aus dem Palaste oder aus der Hütte hervor; er verlangt gleiche Gerechtigkeitspstege, und gleiche Befähigung zur Ehre und zum Dienste der Waffen für die Vertheidigung des gemeinsamen Vaterlandes. Er verlangt die Freiheit des Wortes und der Presse, doch unter bestimmten und gerechten Gesehen gegen den Mißbrauch derselben. Er verlangt die gleiche Berechtigung jedes kirchlichen Bekenntnisses und Cultus, ohne daß die Verschiedenheit des Glau­ bens und Cultus irgend ein Vorrecht, oder eine Aus­ schließung von bürgerlichen Rechten mit sich führe. 11#

164 Mit einem Worte: die Emancipation des drit­ ten Standes beruht auf der Entfernung und Auf­ hebung der, aus dem Lehnssysteme stammenden, Scheidewand zwischen dem dritten Stande und den bevorrechteten Ständen (von welchen ohnehin der so­ genannte geistliche Stand in den protestantischen Staaten bereits seit drei Jahrhunderten mit dem dritten Stande verschmolz), und auf der ihm verfas­ sungsmäßig zu ertheilenden Berechtigung zum gleich­ mäßigen Antheile an allen bürgerlichen und öffentli­ chen Rechten, so wie er bereits seit Jahrhunderten an allen bürgerlichen und öffentlichen Lasten, und zwar den hauptsächlichsten, Antheil nahm. Wo, wie in der großen Mehrheit der südteutschen Staaten, diese Emancipation bereits seit län­ ger, als einem Jahrzehnt, in zeitgemäßen Ver­ fassungen — freilich unter mannigfaltig von ein­ ander abweichenden Schattirungen — begründet und auögeführt worden war; da regte sich im Spätjahre 1830 kein Geist der Unzufriedenheit und des Miß­ muths. Wo aber, unter dem Einflüsse und dem Drucke der letzten drei verhängnißvollen Jahrzehnte, die Intelligenz und die sittliche Kraft des dritten Standes entweder blos zum dunkeln, oder bereits zum klaren Bewußtseyn der in seiner Mitte einge­ tretenen politischen Mündigkeit sich erhoben hatte; da strebte er auch, betr beengenden Fesseln und der veralteten Formen im innern Skaatslebcn sich zu ent­ ledigen. Daß es, bei dem plötzlichen Lautwerden dieses Strebens, in neuester Zeit eben so wenig, wie in den Tagen der Kirchenverbessernng, an Storchiteh, Thomas Münzern, Knipperdollings und Jo­ hanns von Leiden — wir meinen an revolutionairen Ultra's — fehlen konnte, und daß es spater, —

165 nach den ins innere Staatsleben wirklich eingetretenen zeitgemäßen Reformen — ebenfalls nicht an Männern der Reaction fehlen wird, welche um jeden Preis das Veraltete und Abgestorbene aus seinem politifchen Grabe herauf zu beschwören suchen, darf den nicht befremden, welcher den öffentlichen Geist des sechszehnten Jahrhunders aus den Jahrbü­ chern der Geschichte näher kennen lernte. Denn nicht blos die Kirche, auch das Bürgerthum hat seine Jesuiten, die seit dem Jahre 1540 den trauri­ gen Beruf übernommen haben, das Reactions­ system in allen seinen Beziehungen, bald durch List, bald durch Gewalt, bald auf dem Sterbebette, bald beim fröhlichen Mahle, bald im Beichtstühle, bald in der Diplomatie geltend zu machen. Ja selbst ultraliberal kann der Jesuit seyn, um den gemäßig­ ten Liberalismus zu bekämpfen, wenn gegen denlehtern die Waffen des Obscurantismus nicht ausreichen. Dies hat Belgien gezeigt! Sobald aber der dritte Stand durch zeitgemäße Einrichtungen für seine Zukunft gesichert ist; sobald verwendet er auch die Kraft seiner Intelligenz, seiner Gesittung, seines Wohlstandes und seines Einstusses auf die untern Volksclassen mit allem Nachdrucke zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung, bei welcher er selbst, nach seinem häuslichen und öffent­ lichen Leben, wesentlich betheiligt ist. Denn hö­ her, als jede andere Gewalt, steht die Macht der Intelligenz und der sittlichen Kraft.

Deshalb bleibt Schillers Wort ewig wahr:

Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

166 Zugleich lehrten die neuesten Vorgänge, mit wenigen Ausnahmen, wo ganz besondere Interessen (wie z. B. in Belgien) einwirkten, daß in den gesitteten Staa­ ten, wo Intelligenz, sittliche Kraft, bedeutender Besitz und Reichthum in den Händen des dritten Standes ruht, der Pöbel zwar in zerstörenden Auf­ tritten plötzlich aufwogen, nicht aber die Tage Frank­ reichs vom 10. Aug. 1792 bis zum 28. Juli 1794 erneuern kann, sobald der dritte Stand seiner sich bemächtigen will, von welchem er nach seiner Arbeit, nach seinem Erwerbe, und nach seiner gan­ zen Stellung ungleich mehr abhängt, als von den obern Ständen- Denn nur dann müßte Anarchie eintreten, wenn der dritte Stand irgendwo aus Lei­ denschaft sich entschlösse, gemeinschaftliche Sache mit dem Pöbel zu machen; ein Fall, wo der dritte Stand in seinen eigenen Eingeweiden wüthen, und Familie, Besitz, Vermögen und Zukunft aufs Spiel setzen würde. Dies könnte aber nur das furchtbarste va banque der Verblendung, oder der Verzweif­ lung, auch würde die völlige Umkehrung aller bür­ gerlichen Ordnung und Sicherheit unrettbar die un­ mittelbare Folge davon seyn. Wo hingegen Fürsten und Staatsmänner „an dem Feigenbäume und an andern Bäumen erkennen, daß der Sommer nahe ist;" da werden die wirklich gerechten und anerkannten Wünsche und Forderungen des mündig gewordenen dritten Standes erfüllt durch zugestandene zweckmäßige Reformen, welche die weise Mitte halten zwischen den Bedingungen der zu viel verlangenden Ultra's des Liberalismus, und den mit dem hartnäckigsten Trotze gehandhabten Ver­ weigerungen jeder, auch noch so kleinen, Reform von Seiten der Reaction. So tritt denn, durch das

167 System zeitgemäßer und anerkannt dringen­ der — nicht zu wenig gebender, aber auch Maas, Ziel und Bedürfniß nicht überschreitender — Refor­ men, der dritte Stand in die Rechte ein, die seine fortgeschrittene Cultur, und seine, auf diese Cultur gegründete, neue Stellung in der Mitte zwischen den bevorrechteten Ständen und den niedern Volks­ classen in Anspruch nimmt. Zugleich wünscht er die Garantie dieser ihm zugestandenen Rechte. Die festeste Sicherstellung des innern StaatölebenS be­ ruht aber auf einer, der Oertlichkeit, der Geschichte und der erreichten Bildungsstufe eines, mündig ge­ wordenen Volk-s völlig angemessenen, schriftlichen Verfassung, welche eben so die geheiligten Rechte des Thrones, wie die Rechte der einzelnen Bürger und der einzelnen Stande des Volkes gewährleistet, und, indem sie mit gegenseitigem Vertrauen gegeben und angenommen wird, zugleich das unerschütter­ lichste Bollwerk gegen alle Versuche der Reaction bildet, die, nach dem Zeugnisse der Geschichte, jeder neuen Gestaltung des innern StaatölebenS unaus­ bleiblich folgen.

10.

Der Höhepunct der Civilisation. Es ist eine Thatsache, die nicht länger abgeläugnet

und verkannt werden kann, daß der bürgerliche und politische Zustand der meisten Reiche und Staaten Europa'6, und selbst — mit Einschluß des nord­ amerikanischen Bundesstaates — einiger der neuen zur Selbstständigkeit gelangten Staaten des vierten Erdtheils, seit vicrßg Jahren wesentlich sich verän­ derte und umgestaltete. Kein Fürst, kein Staats­ mann, kein Geschichtsschreiber kann es sich länger verbergen, daß in den letzten Jahrzehnten im innern und äußern Leben der Staaten eine neue Zeit begann, die nach ihren hauptsächlichsten Erscheinun­ gen und Ankündigungen, von derjenigen politischen Ordnung, welche noch seit dem HubertSburger Frie­ den bis zum Ausbruche der französischen Revolution im europäischen Staatensysteme bestand, durchgehends sich unterscheidet. Werfen wir zunächst nur einen stüchtigen Blick auf das innere Staatsleben; so finden wir in der Mitte der gebildetsten Völker unsers Erdtheils ein, von den höhern bis auf die untersten Stände herab verbreitetes, reges Leben, das in der verstärkten Theilnahme an den großen Ereignissen der Zeit, in der freiern Entwickelung, Fortbildung und innigern Verzweigung aller Haupttheile der bürgerlichen Thä­ tigkeit, nach Ackerbau, Gewerböwefen, Handel, Wif-

169 senschaft und Kunst, und in dem laut ausgesproche­ nen Verlangen sich ankündigt, daß das gestimmte innere Staatsleben auf erneuete und vervollkomm­ nete Verfassungs - und Verivaltungsformen zurück­ führt, und den zur politischen Mündigkeit gelangten, Mitgliedern des sogenannten dritten Standes ein verhältnißmäßiger Antheil an der Berathung und Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, namentlich des Gemeinde-, Städte- und Staatswesens, recht­ lich und vertragsmäßig zugestanden werde. Auf eine ähnliche Weise haben die äußern Verhältnisse der wichtigsten und gebildetsten Staaten und Reiche in neuerer Zeit sich umgestaltet. Wer hätte z. B. noch vor vierzig Jahren an die Möglichkeit der neu­ entstandenen Zoll- und Mauthvereinigungen mehrerer Staaten, an die abgeschlossenen Conventionen über die Flußschifffahrt, und an den sehr veränderten po­ litischen Charakter der meisten neuen Handelsverträge geglaubt, die nach ihren Bestimmungen, Berech­ nungen und Folgen von den, bis zum Jahre 1790 abgeschlossenen, Handelsverträgen wesentlich sich un­ terscheiden? Denn welche Veränderungen bewirkte nicht, namentlich in Hinsicht der Handelsverträge, die mit jugendlicher Kraft entwickelte Blüthe und Stärke der vereinigten nordamerikanischen Staaten, und welche Veränderungen werden, in dieser Bezie­ hung, noch erfolgen, wenn die neuen Staaten von Mittel- und Südamerika, wenn Mexiko, Columbia, Guatemala, Buenos Ayres, Montevideo, Peru, Bolivia und Chile, — nach der vollendeten Orga­ nisation ihres innern Verfassungs- und Verwaltungs­ wesens — in die Kreise des Handelsverkehrs und der völkerrechtlichen Verbindung mit den gesitteten europäischen Staaten eintreten'

170 Allein selbst die äußere Stellung, baß äu­ ßere Leben der europäischen Staaten gegen einan­ der, hat seit vierzig Jahren bedeutend sich verändert. Der Begriff eines europäischen Staatensystems, nach welchem die besondern Ereignisse, na­ mentlich die innern und äußern Verhältnisse eines einzelnen Staates, in kurzer Zeit ein Gegen­ stand des politischen Interesse aller Mächte vom er­ sten und zweiten, oft selbst vom dritten politischen Range werden, war noch nie so tief in die Wirk­ lichkeit eingedrungen und auf sie angewandt worden, als in unserer Zeit. Wenn ehemals die innern Gährungen, Reibungen und Kämpfe in öer veralteten Republik Polen zunächst ihre Nachbarn interessirten, und die drei Theilungen Polens über das politische Schicksal eines europäischen Reiches von 14 Millio­ nen Menschen Bevölkerung entschieden, ohne daß Großbritannien, Frankreich, Spanien und andere Mächte des Erdtheils irgend eine Einsprache gegen diese Theilungen gemacht, und dieselben durch diplo­ matische oder kriegerische Intervention zu verhindern gesucht hätten; so erregten in unserer Zeit die Ver­ suche, neue Verfassungen in Spanien, Portugal, Neapel und Piemont zu begründen, die Aufmerk­ samkeit aller europäischen Kabinette, und veranlaßten die Congreßbeschlüsse der europäischen Hauptmächte, diese neuen Gestaltungen im innern Staatsleben sogleich durch militairische Intervention zu unter­ drücken. Wenn vormals selbst die wichtigsten Frie­ densschlüsse, wie die zu Osnabrück, zu Münster, zu Nimwegen, zu Ryßwick, zu Utrecht und Baden, zu Aachen und Hubertsburg, im Ganzen doch nur einige oder mehrere Hauptmächte zur Ausgleichung ihrer streitigen Interessen brachten; so war dagegen

171 der Congreß zu Wien ein europäischer Congreß, wo über das politische Schicksal der meisten euro« paischen Staaten und Reiche entschieden, und auf

die Unterlage dieser Entscheidung, ein neues Sy­ stem des politischen Gleichgewichts gegrün­ det werden sollte. Denn auf diesem europäischen Congreste erhielt der teutsche Staatenbund sein poli­ tisches Daseyn und seine neue Gestaltung; Rußland, Oestreich, Preußen, Niederland, Sardinien, Schwe­ den, und mehrere der wichtigern teutschen Staaten, wie Bayern, Hannover u. a>, selbst die Schweiz, gewannen eine Vermehrung ihrer Volkszahl, eine neue Länderabründung und Erweiterung, und traten zugleich in ganz neue politisch-diplomatische Bezie­ hungen zu den europäischen Hauptmächten, so wie unter einander selbst. Und welche allgemeine Aufmerksamkeit erregten in neuester Zeit der Krieg Rußlands mit der Pforte, die ausgesprochene Selbst­ ständigkeit Griechenlands, der Zug gegen Algier, die Thronverändecung in Frankreich, der Abfall Bel­ giens von Helland, der Aufstand der Polen gegen Rußlands Riesenmacht, wenn man damit die Stim­ mung Europa'ö bei dem Aufstande der Belgier ge­ gen den Kaiser Joseph den 2. (1787—1790), bei der.Gährung, in Irland seit 1797, und bei der Thronveränderung in dec Türkei im Jahre 1807, so wie in Schweden im Jahre 1809 vergleicht! Es läßt sich nicht verkennen, das neuerwachte Streben in der Mitte des innern Lebens der ge­ bildetsten europäischen Staaten nach zeitgemäßen Verfastungs - und Verwaltungsformen, so wie die nähere Verbindung aller europäischen Mächte unter sich zu gemeinsamen Interessen,, Berathungen und Beschlüssen nach ihrer gegenseitigen Beziehung auf

172 einander, sind geschichtliche Erscheinungen, die vor­ her noch nie in dieser Art wahrgenommen wurden, und welche unserm Zeitalter eigenthümlich angehören. Selbst auf die mittlern und untern Stände der ge­ bildeten Völker verbreitete sich dieses Interesse. Wie ruhig las man doch in den Jahren 1/87 — 1790 die Berichte über den damaligen Krieg Rußlands und Oestreichs mit der Pforte; mit welcher Span­ nung hingegen wurden die Nachrichten über das Streben der Griechen nach Freiheit und Unabhängig­ keit, so wie die Nachrichten aus dem Kampfe Ruß­ lands gegen die Pforte in den Jahren 1828 und 1829 aufgefaßt und beurtheilt? — Wie gering war der politische Eindruck der französischen Revolution auf die mittlern und untern Volksklaffen in den Jahren 1789 — 1792, bis der begonnene Coalitionökrieg, mit den Siegen der Republikaner, auch ihre politischen Grundsätze über die Grenzen trug; — mit welcher Begierde dagegen wurden in ganz Eu­ ropa die Nachrichten von den Ereignissen der Juli­ woche 1830 in Paris aufgefaßt! Wer mag bestim­ men , welchen Einsiuß eben diese Nachrichten auf die Vorgänge in andern Staaten seit dem 1. Sptbr. 1830 behaupteten! Woher nuu alle diese Erscheinungen? Kann wohl in der sittlichen, ^folglich auch in der bürgerli­ chen Ordnung der Dinge eine Wirkung ohne Ursache seyn? Kann man die Wirkung, nach ihrem that­ sächlichen Eintritte in den Kreis dec Weltbegeben­ heiten, richtig beurtheilen, wenn man deren Ursache nicht .kennt? Müssen nicht Mißgriffe in der Staats­ kunst die nothwendige Folge seyn, wenn man nicht zum klaren Bewußtseyn des nothwendigen Zusammenhanges zwischen Ursache und Wirkung gelangt?

173 So wenig nun auch die räthstlhafte Erscheinung der mächtigen Aufregung der Völker und des viel­ fach bewegten innern Staatslebens zunächst ausschlie­ ßend aus einer einzigen Ursache abgeleitet werden könn, weil örtliche Verhältnisse — be­ gründet theils in der vorhergehenden und gegenwär­ tigen Stellung eines Staates gegen seine mächtigen oder minder mächtigen Nachbarn, theils in der In­ dividualität der Regenten und ihrer Minister, theils in der aus der Mitte des Volkes selbst hervorgehcnden Richtung auf Gewerbswesen, Handel, Preß­ freiheit und literarische Bildung — nicht ohne Ein­ stuß auf jene Ankündigung bleiben konnten; so muß man doch den, von den gebildetsten Völkern unsers Erdtheils erreichten, Höhepunct der Civilisa­ tion als die Hauptursache der neu eingetretenen geschichtlichen Erscheinungen und Thatsachen aner­ kennen. Die Civilisation") eines Volkes umschließt aber zweierlei: die gesteigerte Intelligenz und die erhöhte sittliche Kraft, beide nach ih­ rer gemeinschaftlichen Wirkung in der äußern AnkündigungNur ein nach der Mehrzahl seiner *) Absichtlich behalte ich das Wort Civilisation bei, weil dessen Begriff durch kein einziges teutsches Wort völlig erschöpft wird, obgleich viele Schriftsteller, stakt dessen, das Wort: Gesittung gebrauchen. Allerdings liegt der Begriff der fortschreitenden Gesittung in dem Begriffe der Civilisation; allein die in dem letztem Worte enthaltene unzertrennliche Verbindung der Gesittung mit dem bürgerlichen Leben, und der Einfluß der Gesittung auf die Gestaltung desselben, fehlt in der gebrauchten Derteut-

schung. **) Ich läugne nicht, daß die von mir versuchte Dar­ stellung des Höhepunctes der Civilisation durch das treffliche

174 Individuen, geistig fortgebildetes und zum festen Sinne und Tacte der Sittlichkeit und des Rcchtö

Werk tes bisherigen französischen Ministers Guizot, Histoire generale de la Civilisation en Europe, depuis la chüte de Penipire romain, jusqu’ä la revolution fran^aise 2 Tom. Paris, 1829 8. — (der dritte versprochene Band ist noch nicht erschienen) veranlaßt ward. Sein Ziel war, die Geschichte der Civilisation des jungem Europa von dem Untergange des römischen Westreichs bis zum Ausbruche der franz. Revolution fortzuführen, seit welchem Ereignisse die europäische Civilisation eine veränderte Unterlage und eine andere Richtung erhielt. Denn Feudalsystem und kirchliche Hierarchie waren, wie Guizot sehr treffend zeigt, und, in Beziehung auf das Kirchenthum, vielleicht nur etwas zu weit ausführt, während des ganzen Mittelalters die beiden Unterlagen, und bald die Stühpuncte, bald die Hemmnisse der begonnenen und fort­ schreitenden Civilisation in den Staaten der Volker von ger­ manischer Abkunft. Sehr lehrreich und geistvoll unterscheidet Guizot, nach dem Untergänge des römischen Westreichs, drei Elemente der neuentstehenden Civilisation, die er das römische, das kirchliche und das barbarische nennt. Das römische Element kündigte sich an in den Ueberresten der römisch-bürgerlichen Gesellschaftsformen in den vormals zum Westreiche gehörenden abendländischen Provinzen; das kirchliche Element trat, mit der Annahme des Christenthums von Römern und Barbaren, in die bürgerlichen Verhältnisse ein; das barbarische Element endlich beruhte auf dem ro­ hen Gesellschastszustande, welchen die germanischen Stämme, nach ihren Siegen, in die eroberten Länder milbrachten. Aus der Mischung und Wechselwirkung dieser drei Elemente auf einander, erwuchs, wie Guizot mit großer Geschichtskenntniß und Hellem politischen Blicke zeigt, die Grundlage, der Cha­ rakter und die äußere — in der bürgerlichen Gesellschaft wahr­ nehmbare — Form der neubeginnenden Civilisation. — An diese Darstellung — ob sie gleich bei Guizot noch nicht bis zu dem von ihm sich selbst gesetzten Zielpuncte fortgeführt worden ist — sollte sich meine kurze Andeutung des gegen­ wärtigen Standpunctes der europäischen Civilisation seit dem Jahre 1789 anschließen, in welcher aber, weil dies zu

175 gelangtes Volk ist civilisirt. Die Civilisation beruht daher auf einer zeitgemäßen sittlich-religiösen Erziehung durch Schule und Kirche; auf der beson­ nenen Wahl eines künftigen Lcbensberufes im Staa­ te, welcher der innern unverkennbaren Neigung und Richtung der Individuen für irgend ein öffentliches Geschäft entspricht; auf der selbstthätigen Einsicht, Gewandtheit, Kraft und Klugheit, womit dieses Geschäft — es sey landwirthschaftlich, gewerblich, wissenschaftlich, oder künstlerisch — im Staatsleben betrieben wird, und auf der dadurch vermittelten Stellung des Individuums in der Mitte des Staa­ tes, sowie nach seiner Verbindung und Wechselwirweit für den Umfang einer Abhandlung geführt haben würde, der Einfluß des kirchlichen Elements auf die Fortschritte der bürgerlichen Civilisation nicht ausführlich erörtert werden konnte, wenn gleich der sehr verschiedenartige Einfluß eben dieses Elements, seit dem Eintritte der Kirchenverbesserung ins öf­ fentliche Leben vieler Reiche und Staaten, auf die Fortschritte der Civilisation in den katholischen und protestanti­ schen Staaten in der Zeit der letzten drei Jahrhunderte (die wir von 1492 bis 1789 abgrenzen) unverkennbar hervortritt. Man halte in dieser Hinsicht nur Spanien und Italien seit 1492 gegen Frankreich, wo bereits im Jahre 1682 die fortgeschrittene Civilisation, selbst dem andächtelnden Ludwig 14, die vier wichtigen Beschlüsse abcang, welche die Freiheiten der gallicanischen Kirche begründeten; man vergleiche aber auch wie­ der den Einfluß dieser nothdürftig errungenen Freiheiten der gallicanischen Kirche mit dem Einflüsse des gereinigten Lehrbe­ griffes in England auf das Dürgerthum in den Tagen Elisa­ beths, Wilhelms des Oraniers, und der Könige aus dem guelphischen Hause, ja selbst in den sturmbewegtcn Tagen der Stuartischen Dynastie. Endlich berücksichtige man den, in der That unermeßlichen, Einfluß der Kirchen­ verbesserung auf die Fortschritte der Civilisation in den prote­ stantische» Reichen: Preußen, Sachsen, Hannover, Würtembcrg, Hessen, Baden u. a.

176 kung mit allen übrigen Ständen und Classen seines Volkes. Als Fortschritte dieser Civilisation lassen sich mehrere wichtige Erscheinungen in unserer Zeit nicht verkennen. So tief auch die Erziehung und der Jugendunterricht noch in manchen Landern und ein­ zelnen Oertern stehen mag; so ist doch seit 30 — 40 Jahren ein großer Fortschritt in beiden geschehen. Die Muttersprache, die sicherste Grundlage aller Nationalerziehung, (weil kein Volk der Erde sich je emporhob, dessen eigenthümliche Sprache nicht bis zu einer gewissen Stufe der Vollkommenheit fortschritk,) konnte nicht länger, mit einem mitleidi­ gen Seitenblicke aus der Erziehung verwiesen, nicht mehr blos dem Zufalle der mündlichen Unterhaltung überlassen werden; es erkräftigte daher die teutsche Jugend an dem Geiste der wahren Classiker ihres Volkes. Die Größenlehre, die Naturkunde, die Erdkunde und die große Lehrerin aller Völker und aller Jahrhun­ derte, die Geschichte, traten, mehr oder weniger reichlich bedacht, in die Kreise des Jugendunterrichts ein. Geleitet von teutschen Classikern, erwuchs in dem Geiste des heranreifenden Geschlechts eine teutsche Bildung und Gesinnung, und mit ihr das hohe Ge­ fühl der Nationalität, von welchem die Jahre 1813 und 1814 für alle Zukunft zeugen. Die Mathema­ tik schärfte die Urtheilökraft, und führte, wie die Logik, zum richtigen und geordneten Denken. Die Naturkunde eröffnete das großartige Heiligthum der Körperwelt nach ihren einzelnen Reichen; der Anbau der Erdkunde weckte das Interesse an allen wichti­ gen Ereignissen der Menschenwelt in der Mitte der Völker und Staaten aller fünf Erdtheile; und die

177 Geschichte, in populären und blühenden Darstellungen aus den beschränkten Räumen der Studirstuben in die Kreise der gebildeten Stände gebracht, bewirkte in der Mitte derselben die Entdeckung einer neuen, bis dahin wenig gekannten, und zunächst nur in den akademischen Compendien, oder in bändereichen, so­ genannten Weltgeschichten (die überdies noch meistens aus fremden Sprachen übersetzt wurden,) ringeschlossenen, Welt. Denn aus ihr lernten jene Stände nicht blos das kennen, was irgend wo und irgend einmal geschah; sie erfaßten auch den Zusammen­ hang zwischen den Begebenheiten, bald blos im dunkeln Gefühle, bald wieder im klaren Begriffe; sie erhoben sich von der kleinen Erdscholle, auf der sie lebten, uud von der besondern Geschichte des Volkes, zu welchem sie als Individuen gehörten, theils zu der Ahnung, theils zu dem Begriffe des großen, in sich innig verbundenen. Ganzen der gestimmten lebenden und bereits untergegangenen Menschheit nach allen ihren Völkern, Staaten und Reichen; sie zogen deshalb nicht blos die geschicht­ liche Kenntniß der Welt des Alterthums und des Mittelalters, sondern auch die Geschichte der letzt­ verflossenen drei Jahrhunderte, und namentlich die neueste Geschichte seit der französischen Revolution, in ihren Bereich, und gewöhnten sich allmählig, die Gegenwart im Lichte der Vergangenheit zu beurtheilen, und, ausgestattet mit den Lehren der Vergangenheit, für das Bürgerthum in der Gegen­ wart eine zeitgemäße Gestaltung zu hoffen und zu erwarten. Entschieden steht daher die Intelligenz der großen Mehrzahl der civilisirten Völker gegenwärtig auf einer ganz andern Stufe, als vor 30 — 40 Pölitz verm. Sgr. Th. I. 12

178 Jahren. Die Masse des Lichtes, die von der Si­ cherheit und Fertigkeit, in der Muttersprache richtig und geistvoll zu sprechen und zu schreiben, und gleich­ zeitig von der Mathematik, Naturkunde, Erdkunde und Geschichte über die gesammtcn mittlern und un­ tern Volksklassen ausging, konnte nicht ohne mäch­ tige Rückwirkung auf ihre öffentliche Thätigkeit blei­ ben. Es mögen immer die Staatswirthe im Einzelnen nachweisen, wie sehr seit 40 Jahren unter den civilistrten Völkern der Ackerbau, nach Veredelung und Ertrag, das Gewerbswesen, mit der Unermeßlichkeit seiner Erzeugnisse, und der Handel mit allen seinen Zweigen als Groß- und Klein-, als Ausfuhr- und Einfuhr, als Durchfuhr- und Speditionöhandel sich vervollkommnete; für die Verallgemeinerung und Steigerung des geistigen Lebens während dieser Zeit spricht nicht nur die vermehrte Zahl der Buchhand­ lungen, der Lesebibliotheken, der Zeitungen, der Zeitschriften, sondern auch die Gesammtzahl der neuen, blos in Teutschland allein, jährlich erscheinenden Schriften, die, seit dem Jahre 1815 in pro­ gressivem Steigen, gegenwärtig jährlich mehr als 5000 Nummern beträgt. Wir wollen für den Au­ genblick zugeben, daß 4000 derselben, nach dem ähn­ lichen Verhältnisse des schnellen Hinwelkens dec Kin­ der unter dem ersten Lebensjahre nach den Ergeb­ nissen der Sterbelisten, nicht bis zum zweiten Alterejahre gelangen; wer mag aber berechnen, was der Rest der Tausend, die übrig bleiben, in den empfänglichen Geistern des, lebenden Geschlechts be­ wirkt ! Doch nicht blos die Intelligenz der Völker, selbst ihre sittliche Kraft ward gesteigert. Was wäre

179 auch die erste, ohne die letzte! Die sittliche Kraft aber wird an ihren Aeußerungen erkannt. Bald erscheint sie als die, aus regem Pflichtgefühle entsprungene, gewissenhafte Betreibung und Erfüllung seines Berufes im Staate, vom Fürstcnstuhle herab bis zur ländlichen Hütte lund Fürsten, wie Fried­ rich 2. von Preußen, Joseph 2. von Oestreich, Friedrich August von Sachsen, Karl Fried­ rich von Baden, Ernst von Sachsen-Gotha, Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, leben nicht blos im Andenken ihres Volkes, sondern in der gefeierten Erinnerung des ganzen Erdtheils); bald in der weise berechneten Betriebsamkeit, durch welche der einzelne Bürger die Geschäfte seines Be­ rufes erweitert, vervollkommnet und durch neue Er­ findungen bereichert; bald in der richtigen Beurthei­ lung der öffentlichen Verhältnisse im Bürgerthume, nach den einzelnen Formen der Staatsverfassung und Staatsverwaltung, so wie nach der Stellung der einzelnen Stände und Volksclassen gegen einan­ der; bald in der thätigen Mitwirkung zur Aufrecht­ haltung des Eigenthums, des rechtlichen Besitzstan­ des und der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Ruhe, wenn irgendwo die politisch-Unmündigen in verderblichen Planen zur Verletzung und Zerstörung derselben aufwogen; und bald in dem, aus lang verhaltener Sehnsucht zuletzt mit Bestimmtheit her­ vortretenden, Verlangen der gerechten Anerkennung des erreichten Grades der Intelligenz und der sittlichen Kraft im öffentlichen Staatsleben, und der von oben herab ertheilten Berechtigung, nach dem Maaße dieser Intelligenz und sittlichen Kraft mitzuwirken für die allgemeinen Angelegenheiten des Staatslebens; es beziehe sich nun diese Mitwirkung auf die 12*

180 Theilnahme an der Berathung und Leitung der ört­ lichen Interessen einer Gemeinde und Stadt, oder der Interessen des ganzen Staates, oder der bewaff­ neten Aufrcchthaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit, oder auf die Beschränkung der zügellosen Willkühr und Raublust eines eigenthumölosen, ar­ beitsscheuen und ungebildeten Pöbels.

Vereinigen sich auf diese Weise Intelligenz und sittliche Kraft in dem Gesammtbegriffe der Civi­ lisation; so ist es nicht schwer, über das sich zu verständigen, was die neueste Zeit unter dem Hö­ hepuncte der Civilisation versteht. Wer Hö­ hen ersteigt, gewinnt eine reichere, freiere Ansicht und Aussicht; eS erweitert sich sein Gesichtskreis nach allen Seiten. Landschaften und Gegenstände, die sein Blick vorher noch nie erreichte, treten in der Wirklichkeit vor ihn hin, und ihr Bild begleitet ihn, in unvertilgbaren Zügen, selbst dann noch, wenn er von der erklommenen Höhe wieder in seine einfache Wohnung zurückkehrt» So auch der, wel­ cher dem Höhepuncte der Civilisation sich nähert. Eine Masse neuer Begriffe, Ansichten, Grundsätze, Wahrheiten, Gefühle und Bestrebungen dringt mit jedem Tage in seine Seele ein. Bei dieser Erweiterung seines geistigen Horizonts erscheint ihm nothwendig daö Treiben und Streben in der Menschenwelt in einem andern und Hellern Lichte. Er sieht, im innern Staatoleben, wie alle aufge­ regte und in Thätigkeit gesetzte Kräfte, — sie mö­ gen übrigens zunächst dem Landbaue, oder zunächst der Industrie, oder dem Handel, oder der Wissen­ schaft und Kunst zugewandt werden — nach einem

181 einzigen großen Ziele (und wäre es bei Tausenden nur instinctartig) hinstreben: nach dem Fortschrei-, ten der ganzen zum Staate verbundenen Gesellschaft zu einer höhern Vervollkomm­ nung und Reife, zu einem vermehrten Wohlstände, und zur gleichmäßigen Auf­ rechthaltung der Herrschaft des Rechts. In dem Streben nach diesem Ziele erkennen wir den, von den gleichzeitigen hochgebildeten Völkern erreichten, Höhepunct der Civilisation. Noch ist das Ziel nicht erreicht; auch kann der Endpunct desselben — wie jedes Ideal in der Brust des Menschen — nie ganz erreicht werden. Zwei Ergebnisse aber stehen unerschütterlich fest; denn sie werden durch die Theorie und die Geschichte gleichmäßig verbürgt. Einmal, daß in der Gei­ sterwelt kein Stillstand, sondern entweder Fortschritt, oder Rückgang, stattfindet; zweitens, daß der ge­ genwärtig erreichte Standpunct der Cultur und des Wohlstandes eines jeden einzelnen Volkes und Staa­ tes zunächst in der Annäherung desselben an den Höhepunct der Civilisation erkannt wird. Ein Volk und ein Staat, die rückwärts schreiten in der Intelligenz und sittlichen Kraft, entfernen sich mit jedem Jahre immer weiter von dem Höhepuncte der Civilisation; sie werden allmählig kraftlos; sie peralten, und der politische Tod — oft eine Art langsamen Selbstmordes — ist die unaufhaltbare Folge. Nicht ohne Warnung für das lebende Ge­ schlecht erinnert die Geschichte an das Sinken, Ver­ alten und endliche Erlöschen Persiens und Aegyptens, Griechenlands, Karthago's und Roms, des byzan­ tinischen Reiches, der Freistaaten Venedig und Ge­ nua, und vieler hundert anderer größerer und klei-

18L nerer Völkerformen, deren Namensverzeichniß bereits feit Jahrhunderten und Jahrtausenden der Weltge­ schichte anheim gefallen ist. Es gehört nicht hieher, zu untersuchen, unter welchen Verhältnissen und Ursachen der politische Tod dieser untergegangenen Staaten und dieser erloschenen Reiche erfolgte; nur so viel ist gewiß, — sie starben nicht an den Fort­ schritten in der Civilisation und an der, durch In­ telligenz und sittliche Kraft erstrebten, Annäherung an den Höhepunct derselben. Allein für die lebenden Völker und für die bestehenden Staaten ist es höchst wichtig und folgenreich, den gegenwärtig erreichten Standpunct ihrer Civilisation auszumitteln und deutlich sich zu vergegenwärtigen. Wäre es denkbar, daß bei jedem einzelnen europäischen und amerikanischen Staate dieser Standpunct völlig befriedigend aufgefunden und aufgestellt werden könnte; so mußte die Statistik um einen ihrer wich­ tigsten Abschnitte reicher und vollständiger werden. Es bleibt aber die große und lohnende Aufgabe für die an die Spitze der einzelnen Reiche gestellten Staatsmänner, diesen gegenwärtigen Standpunct der Civilisation des Volkes, das unter ihrer Leitung steht, bestimmt und nach allen seinen einzelnen Ver­ hältnissen und Bedingungen sich zu vergegenwärti­ gen, und darnach die Völker und die Grundbedin­ gungen des Bürgerthums zu behandeln. Denn so gewiß im Conseil zu Constantinopel weder eine schriftliche Verfassungsurkunde mit zwei Kammern, noch ein Budget mit Civilliste, Ministeretats und Vertheilung der Abgaben auf directe und indirecte Steuern nach dem Grundsätze des reinen Ertrages, zur Sprache kommen kann; so wenig können doch

183 die ersten Staatsmänner in dec Mitte der, in der Civilisation fortschreitenden, Völker einer solchen Aufgabe sich entziehen- Die hochwichtige Nachfrage in civilisirten Staaten nach dem richtigen Verhältniste zwischen Ackerbau, Gewerbe und Handel, nach Städteleben und Städteordnungen, nach gleichmäßi­ ger Besteuerung, nach weise berechneter Wahlform der Volksvertreter, um alle Interessen des innern Staatslebens zur gleichmäßigen Vertretung in der Nähe des Thrones zu vereinen; — die große Auf­ gabe, neue zeitgemäße Gesetzbücher für das Civil-, Straf - und Handelsrecht und für das gerichtliche Verfahren zu entwerfen, die Trennung der Gerech­ tigkeitspflege von der Polizei auözusprcchen, die Fi­ nanzverwaltung gerecht und einfach zu ordnen, und die neue Gestaltung des Militairs, nach sorgfältiger Berechnung seiner Stellung zu der Gesammtbevölkerung, zu den Finanzen, zu den Hauptbeschäftigun­ gen des Bürgerthums und zu den, in allen zeitge­ mäß fortschreitenden Staaten errichteten, Nationalund Communalgarden durchzuführen: — dies alles ist eine Folge der Fortschritte in der Civilisation, und kann, ohne nachtheilige Rückwirkung auf das innere Staatöleben nicht länger zurückgewiefen, oder fernerhin im Charakter des Mittelalters behandelt werden. Eben so verlangt und bedarf der freie Gedanke in des Menschen Brust des freien Wortes, unter der einzigen naturrechtlichen Beschränkung, daß nie durch diesen Gebrauch des individuellen freien Wirkungskreises der freie Wirkungskreis der andern Individuen, oder der ganzen Rechtsgesellschaft selbst, bedroht und verletzt werde. Auf gleiche Weise führt der Fortschritt in der Civilisation dahin, daß unter civilisirten Völkern der Unterschied zwischen einer

184 ecclesia regnans und tolerata erlöscht. Jede Anbetung Gottes, durch welche kein Recht Anderer be­ einträchtigt wird, ist gleich berechtigt zur Oeffentlichkeit der Lehre und deß Cultus. Weiter entbindet der Fortschritt in der Civilisation die Völker von der ängstlichen Bevormundung durch die Regierung. Nur das Kind, der Knabe und der angehende Jüng­ ling steht ünter der väterlichen Vormundschaft; der mündig gewordene Sohn des Hauses, der gereifte Mann, leiten ihr Hauswesen selbst. So auch die mündig gewordenen Völker. Deshalb ist es leicht und dankbar, ein in der Civilisation fortgeschrittenes und ununterbrochen fortschreitendes, Volk zu regie­ ren, sobalv man nur dessen Fortschreiten in der Ci­ vilisation anerkennt, und die nöthigen Reformen in der Verfassung und Verwaltung des Staates dar­ nach berechnet. Denn das bürgerliche Leben reift im Sonnenlichte der politischen Freiheit, und die siittliche Kraft des Bürgers, gestützt auf seine höhere Intelligenz, verbürgt der Regierung am sichersten die Anhänglichkeit, die Treue, die Liebe und die Dankbarkeit eines civilisirten Volkes. Nur die un­ ter dem Drucke gehaltenen Völker unterwarfen sich geduldig dem Scepter der Eroberer; die civilisirten Völker aber bewährten, selbst in den Tagen des Unglücks, die Treue gegen ihre Dynastie, von wel­ cher sie in dem Fortschreiten zur Civilisation nicht gehindert wurden. Kein Volk endlich wogt in Re­ volution auf, dem nicht eine der Grundbedingungen der fortschreitenden Civilisation verweigert oder ver­ kümmert ward. Nur da, wo das Volk in seiner Intelligenz und sittlichen Kraft bereits höher steht, als eine ängstlich besorgte und in ihren Maasregeln schwankende und wechselnde Regierung; oper wo die

185 Negierung durchaus und geradezu den Fortschritt der Civilisation hemmen, wo sie, durch die Kunsimittel der Reaction, das bereits ins Volksleben eingctretene Bedürfniß des Fortschreitens in der Civilisation ge­ waltsam unterdrücken, und die entfalteten Jugend­ blüthen unter dem zerfallenden Staube abgestorbener Formen zerstören will: nur da also, wo man den Geist und den gegenwärtigen Standpunct der Civi­ lisation eines Volkes durchaus verkennt, können Tage eintreten, wie am 27 — 29. Juli 1830. in Paris, wo, unter furchtbaren Blutströmen, die Civilisation einen folgenreichen Sieg über die Reaction erfocht. — Nicht also gegen die Throne, nur gegen die Willkühr ist der Fortschritt der Civilisation zu ihrem Hö­ hepuncte gerichtet; denn welche Throne stehen fester, die, wo Fürsten und Staatsmänner im Geiste der Civilisation handeln und ihre Völker zu sich herauf­ bilden, weil sie selbst auf den Höhepuncten der Ci­ vilisation stehen, oder die Throne von Stambul und Lissabon? — Nicht gegen das heilige Recht strebt die sittliche Kraft der Civilisation; sie verlangt aber Gleichheit des Rechts, als die nothwendige Folge der erreichten Gleichheit der Bildung und Brauch­ barkeit für den Dienst des Staates. Nicht gegen die Intelligenz im Gebiete der Wissenschaften erhebt sich die Civilisation, die selbst auf den Fortschritten der Gesammtintelligenz des Volkes beruht; wohl aber gegen den Druck des Geistes durch ängstliche Bevormundung des freien Wortes und der freien Presse. Nicht gegen die, zum Bestehen des Staa­ tes und aller seiner unentbehrlichen Anstalten nöthi­ gen, Abgaben und Steuern erhebt sich die Civilisa­ tion ; wohl aber nimmt sie die gleichmäßige Besteue­ rung nach der Höhe deS reinen Ertrages in Anspruch,

186 weil alle Staatsbürger dieselben Vortheile des Staatslebens gleichmäßig genießen, folglich auch die damit verbundenen Lasten nach gleichem Maaße thei­ len müssen. Nicht gegen zeitgemäße neue Verfas­ sungen erhebt sich die fortschreitende Civilisation; wohl aber verlangt sie, daß jede, den gebildeten Völkern gegebene, Verfassung Wahrheit sey. Nicht gegen die, von dem Geiste der Zeit gebetenen, Umgestaltungen der veralteten Vcrwaltungsformen in der Justiz, in der Polizei, in der Finanzpstege und im Militair erklärt sich die fortgeschrittene Civilisa­ tion; sie erwartet aber neue Gesetzbücher, aus dem innern Wesen und eigenthümlichen Geiste der Völker selbst, und nicht aus den Ueberresten der Gesetzbücher von Völkern geschöpft, welche bereits seit Jahrtausenden von der Erde — zum Theile sogar unter dem nachtheiligen Einstusse dieser Gesetzbücher auf ihr damaliges bürgerliches und politisches Leben — verschwanden. Allerdings verlangt die fortschreitende Civilisation eine freiere Entwickelung und Bewegung aller Kräfte, der physischen, wie der geistigen; sie ist aber auch weit empfänglicher für die Herrschaft des Rechts und dessen Sicherstellung, weil ein civilisirtes Volk in den Tagen der Anarchie und Revolution weit höhere Güter des Bürgerthums auf das Spiel setzen muß, als ein uncivilisirtes. Die Civilisation ist ferner großer Opfer für die Erhaltung des Staats­ lebens fähig; theils weil sie die große Idee des letzten Zweckes alles Staatslebenö selbst aufzufassen, theils weil sie, bei dem durch die Fortschritte der Civilisa­ tion erhöhten und gesteigerten Wohlstände, größere Anstrengungen für das Bestehen des Ganzen zu er­ tragen vermag, als ein armes, niedergedrücktes und

187 methodisch ausgesaugtes Volk. Die Civilisation end­ lich ist der sicherste Trager der Sittlichkeit und der guten Sitten in der Mitte des Volkes, weil — was selbst der kategorische Imperativ der Sittenlehre nicht immer zu bewirken vermag die Publicität durch Wort und Schrift Tausende von Verirrungen abhalt, die bei den rohen und uncivilisirten Völkern zur Tagesordnung gehören. Daher auch die geschicht­ lich erwiesene Erscheinung, daß die Gesetzbücher der civilisirten Völker milder lauten, als die Gesetzbücher der rohen Völker; und daß die Thätigkeit der Po­ lizei bei civilisirten Völkern zunächst auf die Auf­ rechthaltung der allgemeinen Ordnung, Sicherheit und Ruhe, so wie auf die Abwendung von drohen­ den Gefahren durch Naturkräfte und durch die po­ litisch-Unmündigen in der Mitte der Völker sich be­ schränken kann, Stimm-n nun über diese Grundsätze und That­ sachen die Lehren der Staatskunst und die Lehren der Geschichte überein; treffen in der richtigen An­ sicht von den Fortschritten der Civilisation in dem jungem Europa die Theorie und die Praxis zusam­ men: so wäre die Frage ganz überstüssig, ob wir den civilisirten Völkern zu dec erreichten Civilisation Glück zu wünschen, und ob wir die aus dieser Hä­ hern Civilisation nothwendig hervorgehenden Bedin­ gungen der zeitgemäßen Gestaltung der innern Verfassungs- und Verwaltungsformen zu berücksichtigen haben? — Man halte Großbritanniens politischen Höhepunct selbst mit der gefeiertesten Zeit Roms unter seinen Imperatoren, man halte Nordamerika mit dem Glanzpuncte Venedigs in den Tagen der Kreuzzüge, man halte das constitutionelle Frankreich unserer Tage mit dem vormaligen Frankreich unter



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Ludwig 14, und 15. zusammen ; und keiner wird die Civilisation der Römerwclt, oder die Civilisation des Mittelalters gegen die Civilisation unserer Zeit ein­ zutauschen geneigt seyn. Dies aber ist der Sieg und die in der That europäische Ehrensache der Civilisation, daß sie die lebende Menschheit in ihren gebildetsten Völkern und Reichen weit über die erloschenen Reiche und Staa­ ten der Vorzeit stellt; so wie sie unter den civilisirten Völkern und ihren Regierungen den großartigen Wetteifer bewirkt, dem Höhepuncte der Civilisation immer mehr und mehr sich zu nähern.

11.

Das Reactionssystem während der Regierungs­ zeit der Dynastie Stuart in England. Sobald man die Gesammtheit der einzelnen That­

sachen der Geschichte in dem öffentlichen innern und äußern Leben der Völker und Staaten des Erdbo­ dens auf gewisse politische Grundsätze zurückführt, um zu einem sichern Urtheile theils über den politi­ schen Character der Entwickelung und Ausbildung, so wie des Fortschreitens einzelner Völker und Reiche zu dem Höhepunct ihrer innern Reife und äußern Macht, theils über die Ursachen des Sinkens, Ver­ falls und allmähligen Untergehens anderer Völker und Reiche zu gelangen; so bald dringt sich dem un­ befangenen Forscher dec Geschichte von selbst das Ergebniß auf, daß alle große Ereignisse in der Welt- und Staatengeschichte auf drei politische Systeme sich zurückführen lassen: auf das System der Revolution, der Reformen, und der Re­ action. Das innere und äußere Leben der Völker und Staaten schreitet entweder durch Reformenallmählig, aber sicher auf dem naturgemäßen und in der Eigenthümlichkeit des Volkes begründeten, Wege der freiesten Entwickelung und Ausbildung aller sei­ ner Kräfte fort; oder es wird, nach langem Still­ stände und nach langer Unterdrückung seiner edelsten Kräfte, in den furchtbaren Strudel einer Revolution

190 geworfen; oder es wird, von oben herab in dem freien Fortschreiten und in der Erstrebung seines Höhepunctes, in Hinsicht auf Cultur, Wohlstand und äußere Geltung, durch absichtlich berechnete und mit Festigkeit gehandhabte Reaction aufgehalten. Diese Reaction beruht aber theils auf der Verhinderung des naturgemäßen allmähligen Fortschreitens zum Bessern; theils auf dem Vernichten des bereits im innern Staatsleben erstrebten Bessern; theils auf der kecken Wiederherstellung des bereits thatsächlich im innern Staatsleben Veralteten, Erloschenen und Untergegangenen. Es kommt darauf an, dieses letztgenannte System, das in jedem Zeitalter der Geschichte An­ hänger und Beförderer fand, durch ein wichtiges Beispiel aus der neuern Geschichte des europäi­ schen Staatensystems zu versinnlichen, und eben so seine furchtbaren Erscheinungen, wie seine, zwar im Voraus unberechenbaren, nichts desto weniger aber unaufhaltbar eintretenden Folgen nachzuweisen. Dazu kommt, daß in den meisten Fällen diese Fol­ gen des Reactionssystems zu einem ganz andern Ergebnisse führen, als die Anhänger desselben ahneten, berechneten und erwarteten. — Entschieden ist, in der neuern Geschichte unsers Erdtheils und in der Mitte des europäischen Staatensystems, die Regierungszeit der Dynastie Stuart über Eng­ land, Schottland und Irland der wichtigste Beleg für die Handhabung und folgerechte Durchführung, so wie für die unermeßlichen, traurigen Folgen die­ ses Systems, sowohl für das Volk und Reich, dem dieses Systsm aufgedrungen ward, als für das Re­ gentenhaus, das zu dieser politischen Verirrung sich fortreißen ließ. Wer konnte z. B. im Jahre 1603

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bei dem Tode der Königin Elisabeth von Eng­ land auch nur ahnen, daß bereits der zweite Re­ gent aus der auf Englands Thron berufenen neuen Dynastie unter dem Blutbeile endigen, und der vierte König dieser Dynastie aus seinem Lande stüchten, ihm aber auf dem erledigten Throne ein Oranier folgen würde! Ueberhaupt, wie vcrhängnißvoll für England waren die 8d Jahre von Eli­ sabeths Tode bis auf Wilhelm den Oranier! Das Reactionösystem zeigt sich aber bald in Be­ ziehung auf Religion und Kirche, bald in Btziehung auf Staat und Bürgerthum, bald in Beziehung auf Staat und Kirche zugleich. Re­ action war es. was gegen die mosaische Verfassung die Rotte Ko^ah versuchte; Reaction stellten die Ho­ henpriester und Pharisäer der Juden, so wie die Im­ peratoren Rom'ö, unter ihnen selbst noch der von griechischen Philosophen gebildete Julian, der wei­ tern Verbreitung des Christenthums entgegen; Re­ action war es, was zu KostniH gegen Huß geübt, zu Rom gegen Luther beabsichtigt, und in Böhmen, nach der Schlacht am weißen Berge, mit furchtba­ rer Strenge durchgeführt ward Auch ward für das ununterbrochene und folgerichtige Handhaben des Sy­ stems der Reaction in kirchlicher Hinsicht der Or­ den der Jesuiten im sechszehnten Jahrhunderte ge­ stiftet und im neunzehnten repristinirt. Seit den 291 Jahren, daß dieser Orden der Geschichte angehört, hat ihm noch Niemand Schuld geben kön­ nen, er habe in irgend einem Winkel der vier Erd­ theile, die er frühzeitig genug mit seinen Gliedern und Seminarien überzog, den Fortschritt der Kirche und des Staates befördert; überall, wo er auflrat, und wo er an Höfen, oder im Staats-und

192 Privatleben zu Einfluß gelangte, kündigte sich das Reactionöst-stem unverhohlen an. Wo aber Könige und Minister die Würde des Thrones erkannten, fühlten und behaupteten, ward keine Jesuitenmacht geduldet; weder Elisabeth von England noch Hein­ rich 4, weder Richelieu noch Mazarin, weder Peter 1 noch Friedrich 2, weder Pombal noch Choiseul, we­ der Katharina 2 noch Joseph 2. hatten Jesuiten in ihrer Nähe; denn sie fühlten sich stark genug, ohne Priester zu regirren, und wollten Fortschritte im Staatsleben, nicht aber Reaction. Allein eben so häufig, wie im Kirchenthume, kündigt sich auch im Bürgerthume und im Staatsleben das Reactionssystem an. Denn Re­ action in politischer Hinsicht ist es, wenn da, wo die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die Eigenhörigkeit, der Frohndienst und die Patrimonialgerichtsbarkeit aufgehoben worden war, dies alles — und wäre es auch unter veränderten Namen und Formen — wie­ der hergestellc werden soll; wenn da, wo man die Gleichheit vor dem Gesetze, die Gleichheit der Be­ steuerung nach dem reinen Ertrage, und die gleiche Berechtigung zu allen Staatsämtern bereits ausge­ sprochen hatte, dies alles mit Einem Federzuge auf­ gehoben wird; wenn da, wo bereits die öffentliche Gleichstellung aller christlichen Kirchen galt, der Eine Lehrbegriff für die Religion des Staates, und als ausschließend zu Staatsämtern berechtigend erklärt wird; wenn da, wo bereits die Preßfreiheit gesetzlich bestand, dieselbe aufgehoben, und jedes freie Wort ängstlich bewacht und streng geahndet wird; wenn da, wo eine vom Regenten und vom Volke aner­ kannte Verfassung, entweder nach dem ständischen oder nach dem repräsentativen Systeme, ins Leben

193 trat, dieselbe vernichtet und der Absolutismus an deren Stelle gesetzt wird; wenn da, wo eine unpar­ teiische Gerechtigkeitspflege mit einem selbstständi­ gen, unabhängigen Richterstande verfassungsmäßig anerkannt worden war, willkührliche Verhaftungen, Kabinetsjustiz und Beschränkungen der richterlichen Macht erfolgen; mit einem Worte, wenn das, was die Fortschritte der Zeit und förmlich gegebene und anerkannte Gesetze bereits aus dem öffentlichen Staats­ leben geschieden hatten, entweder gewaltsam, oder mit Schlauheit und List wieder hergestellt, und das, was im Lichte einer reifern Zeit thatsächlich ins Skaatsleben eingetreten war, wieder aus demselben verdrängt und völlig vernichtet werden soll, ohne Rücksicht darauf, wie viele wichtige Interessen im Staate dadurch beeinträchtigt, wie viele anerkannte Rechte verletzt, wie viele Reibungen und Spannun­ gen veranlaßt, welche Keime zur Unzufriedenheit unter den verschiedenen Ständen des Volks genährt, und welche bedenkliche Folgen dadurch in der Zu­ kunft, sowohl für das unter den bisher bestandenen Verhältnissen im Fortschreiten begriffene Volk, als für die Machthaber selbst vorbereitet und herbeige­ führt -verden!

Solche ernsthafte und warnende Ergebnisse stellt die Geschichte im Allgemeinen über den Eintritt des Reactionssysiems ins innere Staatsleben, so­ wohl in kirchlicher, als in politischer Hinsicht auf! Wir versuchen daher, im Lichte dieser Ergeb­ nisse, einen kurzen Umriß der Regierung6gegeschichte der Dynastie Stuart auf dem brittischen Throne zu geben; wobei weder AusPölitz verm. Schr. LH. 1. 13

194 führlichkeit der Darstellung, noch Vollständigkeit der Thatsachen aus einem mehr als achtzigjährigen Zeit­ abschnitte, sondern nur die Bestätigung des dem Reactionssysteme eigenthümlichen Geistes und politischen Charakters und der mit demselben für Staat und Thron unvermeidlich zusammenhängenden gefährlichen Folgen, erwartet werden darf. Als Elisabeth (1603) starb, stand England in der Vollkraft des innern Staatslebens; nach au­ ßen hatte es sich in die Reihe der Mächte vom ersten politischen Range gestellt. Es ist wahr, diese „königliche Jungfrau" war keineöweges frei von per­ sönlichen Schwächen, und selbst sittliche Flecken trüb­ ten ihren Charakter. Die Geschichte darf weder ihre Verstellungskunst/ noch ihre wechselnden Launen, noch die Hinrichtung der Maria Stuart verschweigen, eine That, die selbst aus dem Grundsätze der Selbst­ erhaltung nie völlig entschuldigt werden kann- Was ihr aber, nach Abrechnung vieler Schwächen und Fehler, bleibt, ist die vielseitige Kenntniß von Spra­ chen und Wissenschaften, durchweiche sie ihren Geist frühzeitig gebildet hatte; ihr sicherer Tact in der Wahl einsichtsvoller Minister; ihr Heller Blick, nach welchem sie erkannte, daß ihr Volk zum Prote­ stantismus reif geworden war, und nur durch ihn im Innern beruhigt und nach außen mächtig emporge­ hoben werden konnte; ihre Aufrechthaltung der Rechte und Freiheiten des Parlaments, ungeachtet ihres stillen Hinneigens zu unbeschränkter Macht; so wie ihre rastlose Thätigkeit für die Belebung des Ge­ werbsfleißes, für die Erweiterung des Handels, und für kühne Entdeckungen jenseits des atlantischen Meeres, nachdem die ihr von Philipps unüber­ windlicher Flotte drohende Gefahr auf immer sich

195 verloren fyitte. An die Stelle der Verschwendung und der Unordnung in den Finanzen, die unter ihrem Vater Heinrich 8. herrschte, sehte sie Sparsamkeit und einen geregelten Staatshaushalt; mit dem geist­ vollsten und umsichtigsten gleichzeitigen Könige, Hein­ rich 4. von Frankreich, stand sie in genauer Ver­ bindung, und traf mit ihm in dem gemeinschaft­ lichen politischen Interesse zusammen, das bis dahin auf Europa drückende Principat Spaniens zu er­ schüttern.- Für diesen Zweck unterstützte sie die pro­ testantischen Niederländer gegen die spanischen Heere, und nahm die wegen ihres Glaubens verfolgten Niederländer gern in ihrem Reiche auf/ wo sie den Gewerbsfleiß durch ihre Einsichten und durch ihre geretteten Capitalien förderten. Ohne gewaltsame Erschütterungen, ohne Hinrich­ tungen, wie sie die Regierungöjahre ihres Vaters Heinrich 8. und ihrer Halbschwester Maria entehrt hatten, — zunächst auf dem naturgemäßen Wege zweckmäßiger Reformen, für welche im Kirchen- und Bürgerthume ihr Volk reif geworden war, begrün­ dete sie die innere Ordnung, Sicherheit, Größe und Wohlfahrt ihres Reichs. Kein neuerer Schriftsteller hat den politischen Charakter der Regierung Elisabeths und ihrer Nach­ folger aus der Dynastie Stuart kräftiger und kürzer bezeichnet, als Lord John Russell in seiner geist. vollen „Geschichte der englischen Regierung und Verfassung" (teutsch von Kriß, Leipz.

1825. 8.) und keiner, der die Stellung dieses be­ rühmten Lords in der brittischen Pairie kennt, wird in seiner Darstellung Einseitigkeit oder Parteilichkeit finden- Er sagt (S. 40 ) von der Elisabeth: „Nie ward England mit größerer Einsicht, als von Eli-

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196 sabeth, regiert, welcher vielleicht kein Souverain der neuern Zeit sich gleich stellen kann. In einer Zeit langwieriger und blutiger Kriege wußte sie, ohne Aufwand von Blut und Schüßen, Achtung in dem Auslande sich zu verschaffen; in einer Zeit all­ gemeiner politischer Gährung, behauptete sie daheim eine unbeschränkte Herrschaft, ohne die Liebe ihrer Unterthanen dadurch zu verlieren. Ihre Regierung war ruhmvoll ohne Eroberungen, und absolut ohne Haß. — Dieses große Ergebniß hervorzubringen, wirkten vereint alle politische Maaßregeln, welche sie für die innern und äußern Angelegenheiten des Landes ergriff. Doch kann man darunter drei be­ sonders als die Quellen ihres Ruhmes und ihrer Größe bezeichnen. Erstlich. Sie stellte sich an die Spitze des protestantischen Interesse in Europa, ohne sich deshalb einer kriegführenden Allianz einrei­ hen zu müssen; der Name Englands, als eines ver­ bündeten mächtigen Staates, reichte hin, der Sache, welche sie beschützte, Ansehen zu geben. Das Uebrige that der unternehmende Geist ihrer Untertha­ nen, verbunden mit nur einiger Unterstützung von ihr. Diese Politik schmeichelte der Volksstimmung, und gab dem unruhigen Thätigkeitstriebe ihres Adels eine Richtung, in welcher er nach außen sich entla­ den konnte. — Zweitens. Sie hütete sich, dem Volke zu viel Geld abzuverlangen. Sie wußte sehr wohl, daß das Parlament die Börse zu öffnen hatte, und Geldverlegenheiten und Verschwendungen des Souverains ihn von dem Parlamente abhängig machen mußten. — Drittens. Sie hörte auf die Stimme des Volkes und bewarb sich um seine Gunst, wo es mit Würde und Sicherheit geschehen konnte. Sie wußte zur rechten Zeit mild und auch streng

197 zu seyn. Als sie, durch ein Verbot wider das freie Sprechen im Hause der Gemeinen lautes Murren erregt hatte, säumte sie nicht, ihre Befehle zu wi­ derrufen. Nichts bewährte aber ihre Politik besser, als ihr Verfahren wegen der Monopole. Das Ue­ bel derselben ward so drückend, daß selbst im Hause der Gemeinen der lauteste Unwille und allgemeine Beschwerden gehört wurden. Sogleich gab die Kö­ nigin nach. Ohne anzuerkenncn, daß die Debatten des Hauses der Gemeinen sie zu bestimmen vermöch­ ten, ließ sie ihm durch den Staatssecrctair bekannt machen, daß wirklich illegale'Monopole abgcschafft, und in Betreff der Uebrigen noch weitere Untersu­ chungen angestellt werden sollten- Der Staatssecrctair Cecil erklärte entschuldigend, daß man das Haus keinesweges zu Hofmeistern und die Freiheit zum Sprechen zu verbieten gedenke. — In ihrem Benehmen suchte dje Königin dem Volke ein unbe­ grenztes Zutrauen zu bezeugen. Niemand wußte besser, als sie, mit einer Phrase Herzen zu gewin­ nen und bei schicklicher Gelegenheit zu äußern, daß ihre Schätze besser in den Börsen der Unterthanen, als in der Schatzkammer bewahrt wären, und daß ihre beste Leibwache die Liebe der Nation sey. Sie sah sehr wohl ein, daß nichts einen lebendigem Eindruck macht, als die Herablassung eines Sou­ veräns. Sie zeigte daher ihre Größe im Glanze der königlichen Würde, und ihre Güte in wohlwol­ lenden Worten. So war Elisabeth im Stande, mit Festigkeit über ein unruhiges Volk in einer be­ wegten Zeit zu regieren."

198 Cs konnte nicht schwer seyn, einer solchen Königin auf dem Throne zu folgen, sobald der neue Regent im Geiste der Grundsätze Elisabeths wirkte, und durch Fortbildung ihres Systems das innere Staatsleben zur höheren Entwickelung, die Stellung des Reichs nach außen zu größerm politischen GeWichte fortführte. Allein Jacob 1, der Sohn der enthaupteten Mqria Stuart, und bei Elisabeths Tode bereits König von Schottland, obgleich nicht ohne wissenschaftliche Kenntnisse und in den Grundsätzen des in Schottland ausschließend herrschenden Protestantismus erzogen, verfolgte auf dem englischen Throne zwei politische Zwecke, welche nicht nur in England völlig antinational, sondern auch, in Beziehung auf das politische System Elisabeths, die traurigsten Be­ lege des von ihm gewählten Reactionssystems waren. Er neigte sich im Stillen zum Katholi­ cismus hin, und strebte nach unbeschränkter Regentengewalt. Die Anhänglichkeit an den ka­ tholischen Lehrbegrisf hatte er von seiner Mutter ge­ erbt, und vererbte ihn wieder auf seinen Sohn und seine Enkel. Eben so erschienen ihm die Rechte des Parlaments nur als königliche Gnadenbcwilligungen, die eben so wieder beschrankt und ganz eingezogen werden könnten, wie sie als bloße Ausflüsse könig­ licher Huld ertheilt worden wären. Für kein europäisches Reich weniger, als für England, eignete sich dieses Reactionösystem in kirchlicher und politischer Hinsicht, wo, wegen seiner insularischen Lage, bereits früher, als in andern europäischen Ländern, der chemische Proceß der bür­ gerlichen und kirchlichen Gestaltung zur Entscheidung kam,' und die Einmischung des Auslandes in diese

199 Entscheidung — völlig abgesehen von dem im fünf­ zehnten und sechszehnten Jahrhunderte völlig unbekannten Jnterventionsrechte — weit schwieriger war, als bei Staaten des Festlandes. Denn während des Königs Vorliebe für den Katholicismus —• (welche selbst durch die gegen ihn, unter Leitung der Jesuiten, angestiftete Pulververschwörung nicht vermindert werden konnte,) — den religiösen Par­ teienkampf, der kaum unter Elisabeth beruhigt wor­ den war, von neuem anfachte, seßte ihn sein Stre, ben nach Absolutismus in den härtesten Gegensatz zu den Freiheiten des brittischen Volkes und zu den anerkannten Rechten des Parlaments. Dazu kam, daß, bei dem Schwanken in seinem Charakter, und bei der Schwäche in seiner Individualität, Jacob der Festigkeit ermangelte, mit welcher es bisweilen dem kraftvollen Despoten gelingt, den vorgehaltenen Strebcpunct zu verwirklichen. Unter diesem Schau­ kelsysteme verfloß eine thatenlose Regierung, während welcher die Gährung im Innern vermehrt und die früher behauptete einflußreiche Stellung gegen das Ausland verwirkt ward. Was half es dem Könige, daß er manche glück­ liche Idee für die Cultur des Landes auffaßte, und daß er im nördlichen Amerika einzelne Kolonieen auf die Unterlage der bürgerlichen Freiheit gründete, wäh­ rend er daheim diese Freiheit, so wie die Freiheit der Presse, zu beschränken versuchte, ein Fremdling in der Staatswirthschaft (wie alle Stuarte) war, beständig in Geldverlegenheit sich befand, und, seit dem mit Spanien abgeschlossenen Frieden zu Vervins, um die Gunst des in seiner politischen Kraft sinken­ den Spaniens buhlte, für welchen Preis er die Un­ terstützung der Sache der Niederländer aufgab, und

200 dadurch in der öffentlichen Meinung Europa's eben so verlor, wie durch den Mangel der Unterstühung sei­ nes Schwiegersohnes, des Churfürsten Friedrich von der Pfalz, der, auf die Einladung der Böhmen, ihre Krone angenommen, sie aber in der Schlacht bei Prag verloren hatte. Die große politische Rolle, welche Gustav Adolph von Schweden, zehn Jahre später, mit ungleich geringern Mitteln übernahm, konnte dem Könige Englands nicht entgehen, wenn er zur rechten Zeit mit der rechten Kraft ge­ handelt hätte; denn in seiner Hand, freilich nicht in seinem Geiste lag e§, dem dreißigjährigen Kriege, sogltich im ersten Viertheile seiner Dauer, einen be­ stimmten Charakter zu geben, und, durch kraftvolles Einschreiten, den kirchlich - bürgerlichen Krieg in Teutschland zur Entscheidung zu bringen. Lord Russell urtheilt über Jacob 1. und seine unmittelbaren Nachfolger (am angef. Orte S. 80.) dahin: „In Jacobs 1. scholastischer Pedanterei er­ kennt man alle Fehler des Hauses Stuart. Im All­ gemeinen war diesen Souverainen keinesweges jene freiwillige, oder von ungerechter Laune und nieder­ trächtiger Furcht erzeugte Grausamkeit eigen, welche den Tyrannen macht; es war aber ihre innerste Ue­ berzeugung, daß willkührliche Gewalt ein ihnen bestimmtes Erbtheil sey, und sie verhingen Taxen, Strafen, Confiscationen, Hinrichtungen, weil sie in ihrer bigotten Meinung es als ihr göttliches Recht ansahen, zu regieren, wie ihnen beliebte. Die alten Civilrechtölehrer, und ihre Nachahmer in Italien und Teutschland, hatten diese Begriffe in Jacob 1. festgesetzt. Er vermachte sie seinem Sohne, dem das konsequente Festhalren daran den Kopf kostete. Sein Enkel Jacob 2, der das begonnene Werk voll-

201 enden wollte, fiel unbemitleidet vom Throne. Di» ganze Familie blieb dann im Exile, und der letzte männliche Nachkomme Jacobs 2. starb als Kar­ dinal in Rom. Dies war allerdings ein theueres Lehrgeld für eine fehlgeschlagene irrige Theorie; ihr Gelingen würde aber England noch ungleich mehr gekostet ha­ ben." Jacob 1, bei seiner Ankunft aus Schottland in England von dem allgemeinsten Jubel des Volkes begrüßt, stieg, mit der verlornen Achtung und Liebe seines Volkes, im Jahre 1625 von einem Throne, dessen Würde im Innern des Staates durch seine Willkühr und durch sein Reactionssystem bereits tief erschüttert, und dessen Ansehn im Auslande sehr ge­ sunken war. Er schien es nicht zu fühlen, wie tief er die Rechte des Parlaments verwundete, als er dasselbe willkührlich auflösete, die Protestation dessel­ ben gegen die vom Könige behauptete absolute Gewalt eigenhändig aus dem Journale des Hauses herausriß, und die wichtigsten Mitglieder des Par­ laments in Kerker werfen ließ. „Er ahnete nicht," sagt Lord Russell, „daß er, durch die Festsetzung einiger wenigen Mitglieder des Hauses, seines Soh­ nes Gefangenschaft und Tod vorbereitete."

Zwei und zwanzig Jahre waren, während Ja­ cobs 1. Regierung, für die gesetzmäßige Fortbildung des innern Staatslebens in den drei Königreichen, und für die Behauptung des durch Elisabeth errun­ genen politischen Gewichts im Kreise der europäi­ schen Hauptmächte, unwiederbringlich verloren gegan­ gen. Eine noch bedenklichere Zeit begann unter der

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Regierung seines Sohnes Karls 1. Er glich sei­ nem Vater in den beiden politischen Hauptansichten desselben: in der Begünstigung des Katholicismus auf Kosten tfer Rechte der anglicanischen und pres­ byterianischen Kirche, und indem Streben nach un­ beschränkter Regentengewalt. Nothwendig stellte er sich durch beide gegen Volk und Parlament in den schroffsten Gegensatz, und erbitterte die Gemüther, ohne sie für sich zu gewinnen. Dazu kam sein schlechter Staatshaushalt und seine nie endende Geld­ verlegenheit. Ausschließend geleitet von seinem un­ fähigen Günstlinge, dem Herzoge von Bucking­ ham, eröffnete er einen, vom Parlamente wenig unterstützten, Krieg gegen Spanien, um diese Macht zu nöthigen, die eroberte Rheinpfalz seinem Schwa­ ger, dem vertriebenen Churfürsten Friedrich, zurück­ zugeben. Bald darauf veranlaßte die persönliche Ei­ fersucht zwischen Buckingham und Richelieu eine zweite Kriegserklärung gegen Frankreich. Zwei zu­ sammenberufene Parlamente lösete der König plötz­ lich auf, weil sie mit Geldbewilligungen zu seinen Bedürfnissen und Kriegen kargten, bis endlich das dritte, von ihm versammelte, Parlament, den König zur Anerkennung der vom Parlament entworfenen Petition of rights (1628.) nöthigte, welche er — wiewohl höchst ungern — bestätigte. Das Parlament fand in dieser Urkunde nur die erneuerte Gewähr­ leistung der früher, bereits seit der magna charta, in England bestandenen Rechte des Volks, nament­ lich in Hinsicht der persönlichen Freiheit und der Un­ verletzbarkeit des Eigenthums; der König betrachtete sie aber als eine ihm abgedrungene Beschrän­ kung der Regentengewalt. Als nun das Parlament, ungeachtet der lang verzögerten und doch endlich ge-

203 gcbenen Einwilligung des Königs in die petition of rights, in Hinsicht der Geldforderungen des Königs nicht so bereitwillig war, als dieser von der Dank­ barkeit desselben erwartete; so lösete er dasselbe wie­ der auf, und regierte eilf Jahre hindurch ohne Parlament. Zwar ward sein Günstling, der alles geltende Buckingham, von einem schwärmerischen Irländer Felton — aus persönlichem Hasse — (23. Aug. 1628.) ermordet; allein bald darauf kam der Graf von Strafford an des Ermordeten PlaH, und in Hinsicht der kirchlichen Angelegenhei­ ten berieth der Erzbischoff Laud von Canterbury den König, dem er mit der Lehre von dem göttlichen Rechte der unbeschränkten königlichen Macht schmei­ chelte. Die größte Willkühr und Strenge trat in dieser Zeit an die Stelle der gesetzlichen Ordnung, und Strafford empörte die öffentliche Meinung um mehr gegen sich, weil er früher, als Gegner Buckinghams, die petition of rights im Interesse des Volkes durchgesetzt hatte. Eine dumpfe Gährung herrschte in den Königreichen; denn kein Par­ lament ward berufen, das Organ der öffentlichen Meinung zu seyn, und durch vermittelnde Unterhand­ lungen den bevorstehenden politischen Sturm zu be­ sänftigen. Nach wiederhohlten willkührlichen Eingriffen und Veränderungen des Erzbischoffs Laud in den kirch­ lichen Gebräuchen, und nach anhaltender Bedrückung der Puritaner, brachte endlich (1637) sein kühner Plan, den presbyterianischen Schotten das neue Kirchenrecht und die von ihm veränderte Liturgie der anglikanischen Kirche aufzudringen, die Gemüther der Schotten in stürmische Bewegung. Die geachtetsten Männer Schottlands unterzeichneten eine Ur-

204 künde (Covenant), in welcher sie sich von dem ihnen aufgedrungenen Episcopate, von dec hohen geistlichen Commission (die schon aus Jacobs I. Zei­ ten herrühcte), so wie von der neuen Liturgie völlig lossagten, weil sie alle diese Bedingungen einer neuen Hierarchie/ nur als die politischen Unterlagen zur Erweiterung der königlichen Macht auf Kosten der Volksrechte betrachteten. Der Bürgerkrieg begann (1639) zwischen Schott­ land und England. Der König, ohne Geldmittel, ihn zu führen, entschloß sich, (1640) das Parla» ment zu berufen, damit er Bewilligungen erhielte. Allein der Geist des versammelten Parlaments ver­ kündigte die langverhaltene Erbitterung der Gemüther. Der König lösete es auf, ließ die freisinni­ gen Redner desselben verhaften, und hoffte, vermit­ telst der Kammer der Pairs allein seinen Zweck zu erreichen. Als aber auch dieser Ausweg fehl schlug, die allgemeine Stimme ein vollständiges neues Parlament verlangte, und der König endlich (Nov. 1640.) in dessen Zusammenberufung einwilligtc; da verkündigte bald der Geist desselben die Gefahr, die dem bisherigen politischen Systeme, und selbst dem Könige drohte. Als angeklagte Verbrecher wander­ ten Laud und Strafford ins Gefängniß; der letzte blutete im Mai 1641 auf dem Hochgerichte, und Karl selbst bestätigte das über seinen Günstling ausgesprochene Todesurtheil. Der Erzbischoff ward später, im Jahre 1645, nach öffentlicher Anklage hingerichtet. Das Unterhaus des Parlaments be­ mächtigte sich eines Einflusses, der ihm verfassungs­ mäßig nicht zustand: allein die lang zurückgedrückte öffentliche Meinung hieß alles gut, was die Leiden­ schaftlichkeit der Führer deö Volkes verlangte. Die

205 Kanzel ward durch politische Dogmen entweiht, wel­ che dem Evangelium fremd waren; die freigegebene Presse wirkte, nach langem Zwange, zügellos; die Engländer begrüßten die im Aufstande begriffenen Schotten als Bundesgenossen und Brüder. Da ging der König selbst nach Schottland, um dieses Reich auf jede Bedingung mit sich zu ver­ söhnen. Allein die, im Geiste der Pariser Blut­ hochzeit beabsichtigte, und unter den berechnetsten Grausamkeiten vollbrachte, Ermordung vieler Tausend Protestanten in Irland (im Oct. 1641) durch die Katholiken, bei welcher man den König in dm Verdacht seiner stillen Einwilligung brachte, wirkte so nachtheilig gegen ihn, daß, bei seiner Rückkehr nach England, das Parlament, an­ geblich wegen seiner Sicherstellung, eine eigene Trup­ penmasse errichtete, und die Bischöffe aus dem Ober­ hause stieß. Zwar war der Adel des Landes noch im Interesse des Königs; der Bürgerstand erklärte sich aber für die Sache des Parlaments, dem alle Geldmittel zu Gebote standen. Die halben Maas­ regeln, die der König ergriff, schwächten das Ansehen der Krone und entfremdeten ihm die Gemüther. Nach mehrern Bewilligungen an das mit Ungestüm fordernde Parlament, beschloß er, mit Einem kühnen Schlage, die Partei gegen sich zu entmuthigen. Er befahl (1642) dem Oberrichter Herbert, den Lord Kimbolton im Oberhause, und fünf Mitglieder des Unterhauses, unter ihnen Hamb den, desHochverraths anzuklagen, und, um diese Anklage zu ver­ stärken, sandte er einen Wachtmeister in das Unter­ haus, die fünf Angeklagten zu verhaften. Der Wachtmeister mußte, ohne Antwort, das Unterhaus verlassen. ' Am folgenden Tage erschien der König

206 selbst in demselben. Er setzte sich auf den Stuhl des Sprechers, und erklärte, daß er persönlich die fünf Angeklagten verhaften wollte, welche man sei­ nem Wachtmeister verweigert hätte. Die Beschul­ digten hatten sich entfernt, und der Londner Magi­ strat, in dessen Versammlung der König aus dem Unterhause sich begab, beobachtete auf die gleiche Forderung des Königs ein tiefes Stillschweigen. Er verließ den Saal, und der auf den Straßen ver­ sammelte Pöbel entlud sich in unehrerbietigen Aus­ drücken. Dies bewog den König in einem Schrei­ ben an das Parlament mit seiner Forderung zurück­ zutreten, und ihm zu erklären, er nehme den VerHaftsbefehl zurück, und werde die Rechte des Par­ laments eben so heilig halten, wie die Rechte seiner Krone. Allein eben dieser Rückschritt schadete dem Könige eben so sehr, wie früher sein übereilter Be­ fehl und sein persönliches drohendes Erscheinen im Parlamente. Denn das Parlament verlangte, nach der Abreise der Königin nach Holland, wo sie — für die verkauften Kleinodien — Truppen warb, den Oberbefehl über das Heer. Der König fand es seiner Würde gemäß, diese Forderung zu ver­ weigern. Der Bürgerkrieg begann. Die Schotten vereinigten sich mit dem Heere des Parlaments, und Cromwell besiegte (20. Jul. 1644) bei Mar­ ston-Moor die Massen des Königs. Noch folgenreicher war (14. Jun. 1645) der Sieg der Generale Fairfax und Cromwell bei Naseby über das königliche Heer. Der König glaubte sich zu retten, indem er den Schotten in die Arme sich warf; allein die Schotten lieferten ihn (5. Mai 1646) dem Parlamente aus, das ihn gefangen setzen ließ. Höchst nachtheilig gegen den König wirkten seine,

207 in der Schlacht bei Naseby erbeuteten, Papiere. Lord Russell sagt darüber (S-68.): ,,Diese Papiere überzeugten die Parlamentepartei, daß der König jeden eingeräumten Punct für gewaltsam abge­ zwungen, und demnach sich für befugt halten würde, bei erster Gelegenheit wieder in den Besitz der frühern Macht zu treten. Auch entdeckte man, daß, während der Unterhandlung mit beiden Häu­ sern, in dem Protocolle des KabinetS eine Protesta­ tion niedergelegt worden war, worin Karl erklärte, das versammelte Parlament sey für kein solches zu halten. So war es klar, daß er sich zu jedem Mit­ tel berechtigt glaubte, die absolute Gewalt zu be­ haupten. Karl hielt sich im Gewissen verpflichtet, seine Feinde zu betrügen, und sich absolut zu ma­ chen.^ Es gehört nicht hierher, im Einzelnen zu berich­ ten, unter welchen wilden innern Stürmen die de­ mokratische Partei zuletzt ihren Höhepunct erreichte, und Cromwell — der die zur Rettung des Kö­ nigs aufgestandenen Schotten und Walliser besiegte — die Hinrichtung des Königs beschloß. Doch mußte Cromwell zuvor eine militairische Rei­ nigung des Parlaments durchführen, damit blos die heftigsten Demokraten (Independenten) in demselben blieben. Der König fiel am30.Jan. 1649. „Von der Masse des Volkes," sagt Lord Russell, „ward des Königs Tod nicht verlangt, und sehr bald beklagt. Im Leben war er ein ver­ achteter Tyrann, im Tode ein königlicher Märtyrer. Karl war ein starrsinniger, vorurtheilsvoller und unbesonnener Mann, der jedoch nicht ohne große Talente, frei von den meisten Fehlern, aber auch in dem Besitze weniger Tugenden war. In der Poli-

208 tik war er ein verzogenes Kind; ein Widerspruch brachte ihn außer Fassung. Daher sein Benehmen gegen die fünf Parlamentsglieder, und sein übereiltes Ergreifen der Waffen. Das Schicksal des Parla­ ments war für den Staat wichtiger, als das des Königs. Von dem Augenblicke an, wo es ein Heer unter die Waffen stellen mußte, war seine Freiheit in Gefahr. Die Verminderung feinet; Zahl; seine Unterwürfigkeit unter die militairischen Mitglieder; die Zuflucht, welche es bei dem Heere suchte, waren das Vorspiel der endlichen Auflösung."

Die folgende wichtige Episode in der brittischen Geschichte, oder die Zeit, in welcher Cromwell als Protector an der Spitze der „Republik" stand, kann in einer gedrängten Uebersicht der Dynastie Stuart nur kurz berührt werden. Es genügt, sie mit den Worten des LordS Russell zu bezeichnen. „Cromwell hat viel für daS Land gethan. Er ver­ stärkte dessen Seemacht, und wußte sich bei allen legitimen Souverainen gefürchtet zu machen, denen seine Herkunft ein Gegenstand des Spottes war; ihre lächelnden Mienen wurden zurückgepreßt von der Furcht in ihrem Herzen. Er benutzte diese Scheu, die Freiheit der Protestanten im Auslande zu sichern; und noch vor seinem Tode ermaß er die Ge­ fahr, womit Frankreichs wachsende Macht das übrige Europa bedrohte, und beschloß, sie zu beschränken. Daheim wußte er ein festes und stetiges Gleichge­ wicht zu erhalten; keiner Secte verstattete er ein begünstigtes Uebergewicht im Staate; und wenn die streitige Beschaffenheit seines Herrscherrechts nicht zur Empörung gereizt und Strenge nöthig gemacht

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hatte; so würde er nicht allzustreng regiert haben. Manche würden seinen Charakter bewundern, wenn er für den Thron gebohren gewesen wäre; andere würden es um so lieber thun, hätte er ihn nie be­ stiegen.^ Das Meiste von dem, was Cromwells Dictatur im innern und äußern Staatsleben Englands bewirkte, ging sogleich nach der Herstellung der Stuarte wieder unter; doch eins erhielt sich, weil man in ihm die Grundbedingung der höhern Blüthe und Macht des brittischen Handels erkannte, die Navigationsacte vom Jahre 1652. Es ist wahr, Cromwell gab sie zuerst gegen die Nieder­ länder, weil diese die verdrängten Glieder der Stuartischen Dynastie bei sich aufnahmen; allein die Acte selbst legte thatsächlich den Grund zu dem Uebergewichte, welches die brittische Seemacht über die damals blühende niederländische und hanseatische, so wie über die Seemacht der übrigen westlichen euro­ päischen Staaten behauptete. Denn sie bestimmte, daß fremde Schiffe keine andern Güter in brittische Häfen und in die Häfen der brittischen Kolonieen einführen dürften, als die Erzeugnisse des Landes, von welchem das Schiff käme. Brittische Güter aber, oder auch Erzeugnisse aus dessen Kolonieen, dürften nur auf Schiffe ausgeführt werden, die int brittischen Staate erbaut, und von deren Mannschaft wenigstens zwei Dritttheile und der Capitain eingebohrne oder eingebürgerte Britten wären. Richard Cromwell, der schwache Sohn und Nach­ folger des Protectors, konnte nur sieben Monate in des Vaters Würde sich behaupten. Er resignirte am 22. April 1659. Weder das von den Gene­ ralen zusammenberufene Parlament, noch die an des' Pölitz vcrm. Schr. Th. 1. 14

210 sm Stelle ernannte Sicherheitscommission, vermochte die Zügel der Regierung zu führen. Der General Monk, der Statthalter von Schottland, gab, irt diesem Augenblicke der Krisis, die Entscheidung. Er führte im Februar 1660 ein Heer nach England, berief ein Parlament, das aus Anhängern der ©tu» arte bestand, und Karl 2. kehrte am 29. Mai aus den Niederlanden nach England zurück.

Was Napoleon in neuerer Zeit von den fran­ zösischen Emigranten aussprach: „Sie haben nichts vergessen und haben nichts gelernt,^ bestätigte sich, nach der Restauration der Stuarte, zum Nach­ theile ihrer Dynastie in England. Die traurigen Ereignisse, welche seinen Vater und Großvater ge­ troffen hatten, blieben für Karl 2. verloren; denn dieser Zögling des Hobbeö übte das Reactions­ system in seinem strengsten Umfange. Erklärte er sich auch nicht öffentlich für den Katholicismus; so hing er ihm doch im Stillen an, und, wie seine Vorfahren, betrachtete er seine Königsmacht als göttlichen Ursprungs, und jedes Recht des Parla­ ments nur als eine Vergünstigung seines königlichen Willens. Und doch fehlte ihm die Stärke des Cha­ rakters, die königliche Macht mit Würde und Nach­ druck zu behaupten; denn Willkühr ist nicht Kraft, Schlauheit nicht Regentenweisheit, Verschwendungs­ sucht nicht das Mittel, als Regent fest und allein zu stehen, und ein politisches Schaukelsystem wird von dem Auslande bald erkannt und nach Verdienst behandelt. War es auch kein Verlust, daß die republi­ kanischen Formen verschwanden, für welche die

211 drei Reiche schon an sich nicht geeignet waren; ttidt* es ein Act der Gerechtigkeit, daß das Episkopat der anglicanischen Kirche hergestellt ward; und schien es die krampfhafte Bewegung der öffentlichen Meinung zu fordern, daß selbst die Preßfreiheit beschränkt, und für die Sicherstellung der Restauration ein Heer von 5000 Mann gehalten ward: so standen doch die, sogleich nach des Königs Rückkehr erfolgenden, Verhaftungen und Hinrichtungen der Anhänger der republikanischen Partei im schneidendsten Gegensaßs zu der von Karl ausgesprochenen GeneralamNe­ st ie. Was konnte das Wort des Königs nach fot* chen Erfahrungen gelten! So wie die Handhabung des Reactionssystems die Kraft des Reiches im Innern lähmte) so sank auch, mit dem Niederhalten der innern Kraft, daS Ansehen und das politische Gewicht des Staates in Beziehung a u f d a s Ausland. Ludwig 14, wuß­ te, durch Geldsendungen, deren Annahme einen Köyig von England nur erniedrigen konnte, der Poli­ tik und Anhänglichkeit Karls sich zu versichern, bet lieber von Ludwig, als von seinem Parlamente nahm« Die Kriege, welche Karl führte, waren unpopulär bei den Engländern, Und führten deshalb auch zu keinem günstigen Ergebnisse für das Reich. Wie gewöhnlich unter schwachen Regierungen Parteien sich bilden, die gegen einander anstreben, und eben durch dieses gegenseitige Anstreben die freiere Entwickelung des Nationallebenö, des Wohlstandes und der kraft­ vollen Ankündigung nach außen hindern; so auch da­ mals in England. Die Geschichte der ToryS und Duhigs, die in dieser Zeit als Haupkparkeien sich bildeten, ist reich an Thatsachen, die lehrend Und warnend für die Staatsmänner aller Zeiten blei14*

212 bcn. Denn unter mehrmals wechselnden politischen Farben und Interessen, haben beide in England bei­ nahe anderthalb hundert Jahre sich erhalten, und noch jetzt gelten beide Worte zur Bezeichnung des wichtigen Gegensatzes zwischen der Hof- und Volks­ partei, von welchen die erste die Erweiterung der königlichen Macht, die zweite die Aufrechthaltung der Rechte des Volkes und des Parlaments beab­

sichtigt. So lange ein umsichtiger und rechtlicher Mann, wie Clarendon, dem Könige als Minister zur Seite stand, verfuhr Karl 2. noch mit einiger Mä­ ßigung. "Als aber dieser gestürzt ward, weil man den König überredete, daß Clarendon die Ursache wäre, daß er nicht unumschränkt regieren könne, traten Männer an die Spitze der Regierung, welche ihrer hohen Stellung weder gewachsen, noch würdig waren. Mitten unter diesen Reibungen und Schwan­ kungen der Parteien, sicherte das Parlament (1673) durch die dem Könige abgenöthigte Testacte, die Rechte der kirchlichen Freiheit, und (1679) durch die Habeas - Corpus - Acte die Rechte der persön­ lichen und bürgerlichen Freiheit, als bestimmt er­ neuerte Gewährleistungen der altbrirtischen Verfas­ sung! Doch wir hören auch über diese Regierungszcit den Lord ,Russell (S. 77.): „Die Restauration ward das Vorspiel zu grausamen Hinrichtungen, Treubrüchen, verletzten Zusagen, betrogenem Ver­ trauen, kurzen Freudenöbezeugungen, und bitterer Enttäuschung. Nichts geschah von dem Könige während seiner ganzen Regierung, um für die Rache zu entschädigen, die er wegen des Exils genommen hatte. Die Rechte der Nation, die ihm die Krone

213 gegeben hatte, trat er mit Füßen, und verschwen­ dete ihr bestes Blut. Den Franzosen küßte er die Füße, während England besonders ihrem Ehrgeize hätte entgegenwirken sollen. So machte ihn sein Despotismus verhaßt, während man ihn zugleich verachten mußteDas beste Unterpfand für die Freiheit bestand darin, daß das königliche Einkom­ men von der Zustiinmung des Parlaments abhing. Ward dieses Recht weislich bewahrt; so bedurfte es weiter keiner Bedingung. Allein Ludwigs 14. Pension reichte aus, alle Beschränkungen der königlichen Macht zu vereiteln. —Karls 2. und Shafteöbury's Charakter, der eine in­ dolent und unbekümmert, der andere gewaltsam und heftig, beide wankelmüthig und ohne Grundsätze, gaben der ganzen Regierung eine widerspruchsvolle Haltung. In einem kurzen Zeitabschnitte erblickt man einen ausschweifenden König, ein religiöses Volk, Ausbrüche der Tyrannei und der Factionen, die schlechteste Verwaltung und die besten Gesetze, Parteien triumphirend und den Despotismus sieg­ reich. Man begreift eigentlich nicht, warum der schwachmüthige, vergnügungssüchtige Kayl den Ge­ danken faßte, sich absolut zu machen. Vielleicht gab seine Schlaffheit nur den Einflüsterungen seines Bruders Jacob nach; vielleicht that er auch nur, was seine Hofleute riechen. Er hielt sich überzeugt, dies ausführen zu können, wenn er von Frankreich Geld und Truppen erhielt. Weil seines Vaters Thron vom Religionsfanatismus gestürzt worden war; so glaubte er, eine Religion, welche blinden Glauben predigte, würde den seinen sicher begrün­ den." — Karl 2. war kinderlos; das Gesetz der Erbfolge

214 führte feinen jungem Bruder Jacob auf den Thrpn. Ob nun gleich Karl feinen nachgebohmen Bruder wohl richtig beurtheilte, als er ihm — auf dessen Vorstellung, er möchte sich doch vor Nachstellungen sichern, die seinem Leben drohten — antwortete; „er habe nichts zu befürchten, weil man wisse, daß er seinen Bruder zum Nachfolger habe;" so löfete er doch, vier Jahre vor seinem ^ode (1681), das Parlament auf, als dieses den Herzog von Pork, nach seinem öffentlichen Uebertritte zum Katholicis­ mus, vom Throne qusfthließen wollte, und regierte his zu feinem Tode (1685) ohne Parlament.

Bereits wahrend Karls 2. Regierung hgtte Ja­ kob 2. die öffentliche Meinung gegen sich. Heftig, hartnäckig und bigott — so schildert ihn Lord Rus­ sell (@. 80.) — faßte er den Plan, sich zum un# umfchränkten Könige, und die römisch-katholische Religion zur Staaköreligion zu machen. Es ver­ lohnt sich nicht der Mühe, zu erörtern, welchen von diesen Planen er zuerst durchsehen wollte, weil fein Augenmerk unbestreitbar auf beidss gerichtet war. Er verfolgte sie mit jenem dumpfen Starrsinne, wel­ cher talentlosen Männern so oft verderblich wird, Seine Geistlosigkeit war, tpie es häufig der Fall ist, auch Gemüthölosigkeit-, selbst unfähig nachzudenken, hatte er auch kein Mitleid mit denen, die dazu fä­ hig ryaren. Seine Meinungen betrachtete ex als un­ bestreitbare Wahrheiten, und um die Zweifier zu über­ fuhren, kannte er kein Mittel, alp ihre Hinrichtung*). ?) Man vergleich« damit das Urtheil Tzschirners Über das Reactivnsspstrm der Stuarte in sei«. Echrist: „Das Re-

215 Er hob eigenmächtig die Testacte auf. Dies allein reichte hin, die ganze Epiöcopalkirche und die Pres­ byterianer gegen ihn aufzuregen; denn die Testacte war der, den Protestantismus schützende, Grund­ vertrag. Groß war die Verblendung des Königs, als er meinte, mit den Mitteln, welche ihm zu Ge­ bote standen, das kirchliche Rcactionssystrm ohne Widerstand durchzuseßen. Eben so verkannte er den Geist seines Volks, die politische Würde und Haltung des Parlaments, die Geschichte Englands seit der magna Charta im Jahre 1215, und die Unbehülflichkeit und Schwächen seiner eignen Indi­ vidualität, als er zur Absolutheit der Macht sich er­ heben wollte. Er büßte hart für diese Mißgriffe. Zwar schwieg noch die im Stillen genährte Erbitterung, so lange er zwei Töchter hatte, welche prote­ stantisch erzogen und mit auswärtigen Fürsten —

Maria mit Wilhelm, den Statthalter der Nieder­ lande, Anna mit dem Prinzen Georg von Däne­ mark — vermählt waren. Als aber seine zweite modenesische Gemahlin ihm (1688) .einen Sohn gebahr; da wogte die öffentliche Stimme so mächtig

auf, daß sie diesen Sohn für unecht zu erklären versuchte. Allein diese Verläumdung war nicht halt­ bar; denn die Königin war ihrem Gemahle treu. Da riefen, zum Schutze der Rechte des Protestan­ tismus, die Whigs den eigenen Schwiegersohn deö Königs, den Statthalter der Niederlande, Wil-

actionssystem" (Leipzig 1824. 8.) S. 70 ff. — Eben so vergleiche man über das von den Sluarten geübte Reactions­ system die gediegenen Worte Ansillons: „Zur Vermittelung der Extreme in den Meinungen." (Berl. 1828. 8f) 1. S. 228.

216 Helm ben Dränier, mit einem holländischen Heere nach England. Er betrat am 6. Nov. 1688 den englischen Boden; das englische Heer ging zu ihm über. Jacob 2, muthlos im Augenblicke der Ge­ fahr, rote er trotzend und starrsinnig in der Zeit der Ruhe gewesen war, gedachte des traurigen Schick­ sals seines Vaters. Heimlich verließ er am 23. Dec. das Reich, und flüchtete nach Frankreich, wo ihm Ludwig 14. den Palast zu St. Germain zum Wohnorte bestimmte. — Er sah die Reiche nicht wieder, deren Krone er nicht volle drei Jahre getra­ gen hatte. Das Parlament erklärte den brittisthen Thron für erledigt, welchen Wilhelm und Maria be­ stiegen. Das Reactionssystem stürzte mit die­ sem entscheidenden 13. Febr. 1689 in England auf immer; die altbrittische Verfassung ward hergestellt und durch Parlamentsbeschlüsse unter neue Gewähr­ leistungen gestellt. Alle spätere, vom Auslande un­ terstützte Versuche (bis 1746), die Stuarte herzu­ stellen , blieben ohne Erfolg; denn nur in Irland mußten die katholischen Anhänger der verdrängten Dynastie in einem hartnäckigen Kampfe bezwungen, und zur Anerkennung der neuen Drdnung der Dinge gebracht werden. — Was England seit dem Dränier und unter dem Hause Braunschweig im Innern an frischer Lebens­ kraft, und nach außen an Macht und politischer Haltung gewann, verkündigt die Geschichte des acht­ zehnten und neunzehnten Jahrhunderts, liegt aber außer dem Kreise dieser Darstellung. Allein nir­ gends in dem europäischen Staatensysteme der neuern Zeit hat das Reactionssystem seine nach­ theiligen Folgen für Volk und Dynastie so furchtbar bewährt, als in den drei brittischen Reichen wah-

rend der Regierungszeit des Hauses Stuart! Nur die neueste Zeit sah die Wiederhohlung desselben Reactionösystems, so wie die Erneuerung derselben verderblichen Folgen dieses Systems für den Staat und die regierende Dynastie, in der Geschichte der in Frankreich hergestellten ältern Linie des Hauses Bourbon von 1814 bis zum 29. Juli 1830. Könnten aber zwei solche schlagende Beweise ge­ gen die Unhaltbarkeit und Verderblichkeit des Reactionssystems für die Mitzeit und Nachwelt verloren

12. Das sächsische Volk, als em, während der fünf­ zigjährigen Regierung seines Königs, mündig gewordenes Volk. Ein akademischer Dorttag, am IS. Sept. 1818, zur Ge, dächtnißfeier des Regierungsjubiläums *) des Königs Friedrich August von Sachsen, gehalten.

Ä?eine Herren. Ist irgend ein reizendes Ideal dem

Philosophen aufzustellen vergönnt; so ist es das Ideal eines vollkommenen Staates. Ich denke mir ein Land unter einem gemäßigten Him­ melsstriche, der alle Naturerzeugnisse für die noth­ wendigen Bedürfnisse und für den veredelten Genuß deö gesellschaftlichen Lebens zur Reife bringt; einen Umfang von Quadratmeilen, nicht groß genug, um die Launen eines Eroberers zu begünstigen, hinrei­ chend aber, um die physische und geistige Entwicke­ lung eines, seiner Abstammung nach verwandten, und im Laufe der Jahrhunderte innigst unter sich zu Einem Ganzen verschmolzenen, Volksstammes zu er­ leichtern; ich denke mir einen Boden, dessen Gren­ zen durch romantische Felsen und Bergketten gedeckt, und dessen Fluren von milden Anhöhen, Thälern, Flüssen und Wäldern durchschnitten werden; dessen

*) Er halte am 13. Sept. 1768 die Regierung angetreten.

219 Saatfelder in reichen Aehren, dessen Weinberge in vollen Trauben, dessen Wiesen in mildem Grün, -essen Gärten im Ueberssusse der Gemüse, der Blu­ men und des Obstes prangen; ich denke mir in der Mitte dieses Landes einen, die meisten andern Flüsse in sich ausnehmenden, Hauptstrom, bedeckt mit Schif­ fen, welche die Erzeugnisse des inländischen Fleißes dem Auslande, und den Ueberfiuß des Auslandes dem Inlands im freien Wechselverkehre zuführen; ich denke mir in diesem Lande die Zahl der Be­ wohner vertheilt in wenig große, mit allen Beding­ nissen der höhern Cultur und des sicher begründeten Wohlstandes ausgestattete, Städte, in viele Mit­ telstädte und Marktstecken, bewohnt von einem bild­ samen thätigen Menschenstamme, der von dem Er­ trage kunstreicher Gewerbe lebt, und in einige tau­ send Dörfer, deren Bewohner und Gebäude es beim ersten Blicke verkündigen, daß sie nicht das Joch irgend eines Treibers drückt; ich denke mir dieses Land, gesegnet durch die freigebige Hand der Natur; wohlhabend durch den Fleiß und die Betriebsamkeit seiner Bürger; im Auelande geachtet durch den wis­ senschaftlichen Geist, den Kunstsinn, durch die scharf ausgeprägte Eigenthümlichkeit und durch den sittlich trefflichen Charakter seiner Bewohner; ich denke mir dieses Volk, begriffen in einem ununterbrochenen Fortschritte in Allem, was wahr, schön, gut und edel ist, und emporgehoben über viele Nachbarvölker durch den selbstthätig erreichten Grad seiner Bildung und Reife, durch die Güte und Festigkeit seiner Verfassung, durch die Gerechtigkeit, Umsicht und Milde seiner Regierung, und durch einen Wohlstand, der nicht vom Zufalle, sondern von den ausgezeich­ neten Grundeigenschaften dieses Volkes ahhängt,

220 Und wenn ich diese einzelnen Züge zu der Gesammt­ heit eines vollendeten Bildes vereinige; so frage ich: ob nicht das Ideal eines vollkommenen Staates und eines mündig gewordenen Volkes in diesem Bilde erkannt werde? Und dieses im Ideale aufgestellte Bild eines vollkommenen Staates ist nicht blos ein schöner Traum. Denn, so bald wir von der Höhe des Ideals herabsteigen in den Kreis der Wirklichkeit, und das, was auf Erden eine nothwendige Folge menschlicher Beschränkung und Unvollkommenheit blei­ ben muß, bei der Anwendung des Ideals auf die bestehenden Verhältnisse berücksichtigen; sobald wer­ den wir an den aufgestellten Grundzügen — das Bild unsers theuern, geliebten Vaterlandes, und das sächsische Volk in der Annäherung an jenes Ideal erkennen. Gleich fern von den verzeh­ renden Gluten der Sonne unter dem Aequator, wie von dem erstarrenden Eise dec Polarländer, liegt unser Sachsen unter einem, im Ganzen milden, Himmelsstriche; bei einem kleinen Unifange von Quadratmeilen umschließt eß, in reicher Abwechslung, eine Masse romantischer Landschaften von den rauhen Höhen des Fichtelberges bis zu den Niederungen der Pleiße; ein mannigfaltiges Flußgebiet durch­ schneidet seine Oberfläche; ein Hauptstrom giebt dem Lande Reiz und der Industrie vielfache Be­ schäftigung; üppig blühen seine Felder, seine Wein­ berge, seine Wiesen, seine Gärten und seine Büsche; seine Berge sind reich an den verschiedensten Me­ tallen; ein physisch unverdorbener und kräftiger — was aber noch mehr sagt, ein, im Ganzen seit Jahrhunderten gebildeter, sittlich guter, im Sturme der Zeit bewährter, für geistigen Fortschritt und für

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technische und artistische Cultur leicht empfänglicher — Volksstamm ist in 1,300,000 Bewohnern über diese 271 Quadratmeilen ausgebreitet, und das rege Leben desselben verkündigt sich eben so in dem fleißigen An­ baue des Bodens, wie in dem Hinabsteigen in die dunkeln Schachten unsers Ober- und Mittelgebir­ ges; — eben fo hinter dem sparsam lohnenden Ar­

beitsstuhle des Handwerkers, wie in den angefülltcn Niederlagen des mit dem Auslande in mannigfalti­ ger Berührung stehenden Großhändlers; — eben so in der treuen Pflege der Gärten und Wiesen, wie in dem fröhlichen Anbaue der Kunst und Wissen­ schaft; — eben so in der Genügsamkeit, Ordnungs­ liebe und Sparsamkeit der fleißigen und gutmüthi­ gen Mehrheit seiner Bevölkerung, wie in der Gerechligkeit, in der Weisheit und Milde seiner Re­ gierung und Verwaltung. Dies ist unser Vaterland! und bei diesem heiligen Worte ergreift unser Herz eine tiefe Rüh­ rung; denn an diesen Zügen seiner Mündigkeit erkennen wir das sächsische Volk. Allein von die­ sem glücklichen Lande und von diesem guten und gebil­ deten Volke können wir den Fürsten nicht trennen, unter dessen segnender Regierung dieses Land seine höhere Blüthe, und dieses Volk seine gegenwärtige Reife und Mündigkeit erreichte. Denn, wann einst die unbesiechbare Stimme der Nachwelt in der Ge­ schichte der teutschen Völkerstamme den sächsischen Namen im Laufe des 18ten und des beginnenden

19ten Jehrhundertö mit unverwelklichem Ruhme nen­ nen wird; dann wird sie in den Vordergrund dieser Geschichte unsern ehrwürdigen König Friedrich August stellen, der am heutigen Tage seit einem halben Jahrhunderte den Thron seiner Väter schmückt.

222 Es ist verflossen im Sturme der Zeit das halb« Jahrhundert, seit am 15ten September 1768 Friedrich August die Regierung der chursachsischen Staaten durch Ausübung der ersten Handlung der Regentenrechte übernahm; es gehört nunmehr mit allen seinen Freuden und Leiden der Geschichte Teutschlands, der Geschichte der europäischey Mensch­ heit an; allein uns ziemt es, an dem heutigen Tage einen ernsthaften Blick auf dieses halbe Jahrhundert zu werfen, das für Sachsen, für Teutschland und Europa von so unermeßlichen Folgen gewesen ist; und mich besonders verpflichtet das mir anvertraute Lehramt *), Ihnen, m. H., das große Ergebniß dieses halben Jahrhunderts für unser Vaterland in einem gedrängten Umrisse mitzutheilen. Denn im Laufe dieser fünfzig Jahre — das ist unläugbar — hat sich die innere und äußere Form der europäischen Menschheit mächtig verändert; Staaten und Völker, die noch im Jahre 1768 bestanden, sind, selbst dxm Namen nach, verschwunden aus der Mitte des eu­ ropäischen Staatensystems; politische Formen, die seit einem Jahrtausende galten, sind, namentlich auf teutschem Boden, im politischen Verjüngungspro­ cesse der letzten dreißig Jahre unwiederbringlich un­ tergegangen; auf mehrer» europäischen Thronen herr­ schen andere Dynastieen; ein mächtiges, auf die Trümmern des vormaligen politischen Gleichgewichts aufgethürmtes, Weltreich ist im Laufe dieser Zeit emporgestiegen und wieder zusammengestürzt; andere Reiche sind, während dieses Zeitraums, in Hinsicht ihres Flächenraumes und ihrer Bevölkerung vermin*) Ich bekleidete von 1815 —1819 das ordentlich» Lehr­ amt der vaterländischen Geschichte und Statistik.

223 derk, andre beträchtlich vergrößert und verstärkt wor­ den; Millionen von Europäern sanken in einem Kampfe, der länger als ein Vierteljahrhundert die cultivirtesten Länder und Reiche unsers Erdtheils verwüstete, hinab ins freudenleere Grab; neue Ver­ sa stungen traten in vielen Reichen und Staaten an die Stelle der vorigen; und der große Geist, der unser irdisches Schicksal lenkt, sprach über die euro­ päische Menschheit das ernste Wort aus: Siehe, ich mache alles neu! Von dem Drange dieser politischen Ereignisse konnte auch unser Vaterland nicht unberührt bleibest; auf seinem Boden ward zuleht das Schicksal Europa'6 entschieden; seine blühenden Städte und Dör­ fer gingen in Flammen auf; die Heere der entfern­ testen Völker zertraten unsern fruchtbaren, friebli» chen Boden, und zehrten von seinem Wohlstände; selbst unser König ward, nach einer 45jährigen Re­ gierung, auf 20 Monate von seinem Lande und Volke getrennt. Allein die ewige Gerechtigkeit, welche das wilde Gewühl menschlicher Leidenschaften mit fester Wage leitet, führte, nach schwerer Prüfung, den König in die Mitte seiner getreuen und im Un­ glücke bewährten Sachsen zurück, damit er heute in der Rückerinnerung an alles das Gute, was er seit fünfzig Jahren seinem Volke that, und in dem Ge­ nusse der Verehrung und der Liebe dieses treuen, während seiner Regierung mündig gewordenen, Volkes sich freue in dem Herrn und in der Kraft, die ihm von oben ward,'das Gute und Große aus­ zuführen, das seine Regierung bezeichnet. Höchst selten in der Geschichte der Völker sind solche Jubelfeste, wie das heutige in. unserm Vaterlande. Einen solchen Tag erlebten nicht die

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edlen Antonine in der Welt des römischen Reiches; ihn erlebte nicht Karl der Große, nicht Friedrich 2. von Preußen, die beide nur 46 Jahre die Krone trugen; selbst in der Geschichte unsers Vaterlandes war dieses Glück weder Friedrich dem Streitbaren, noch Friedrich dem Weisen, weder dem hochherzigen Moritz, noch dem großen Staatswirthe und Gesetz­ geber August beschieden. Nur Heinrich der Er­ lauchte, der Ahnherr unsers Königs im Laufe des 13. Jahrhunderts, regierte länger als 50 Jahre die Meißner Mark, mit welcher unter ihm das Pleißnerland und die Landgrafschaft Thüringen verbunden ward; doch sagt uns keine geschichtliche Nachricht, daß dieser staatskluge und kräftige Fürst das zurück­ gelegte fünfzigste Regierungsjahr öffentlich gefeiert habe. Seit den 700 Jahren also *), daß die Dy­ nastie Wettin über unser Vaterland in ununter­ brochener Folge herrscht, erlebte unser Staat und Volk heute zum erstenmale den großen und schö­ nen Tag einer Jubelfeier seines Regenten. Doch abgesehen von der Seltenheit der fünf­ zigjährigen Regierung eines Fürsten, ist und bleibt dieselbe auch der Gegenstand einer hohen Wichtig­ keit. Denn nicht nur, daß ein ganzes Menschen­ geschlecht während derselben sich erneuert; es behaup­ tet auch schon an sich eine so lange Regierung einen mächtigen Einstuß auf das Volk, das ein halbes Jahrhundert hindurch nach einerlei Grundsätzen ge­ leitet und behandelt wird, wie uns die Weltgeschichte in den Regierungsjahren des Augustus int römischen Reiche, Karls des Großen aus den Thronen Frank«

*) Seit 1127, wo Konrad von Wettin zum erblichen Deßhe der Mark Meißen gelangte.

225 reichs und Italiens, und Georgs 3. auf dem Throne Großbritanniens zeigt. Sobald wir daher in den Zusammenhang des politischen Lebens der Völker und Staaten tiefer eindringen; sobald tritt uns der wichtige Einfluß einer fünfzigjährigen Regierung auf Völker und Staaten unverkennbar entgegen, und int Lichte dieses Zusammenhanges gewinnt erst die Ge­ schichte unsers Geschlechts ihren pragmatischen Ge­ halt und ihr hohes, politisches Interesse. Denn, in­ dem sie die Vergangenheit mit sicherm Blicke um­ schließt und in großen Massen zum innern nothwen­ digen Zusammenhangs ordnet, wird sie zugleich die wichtigste Lehrerin für die Gegenwart und Zukunft. Welcher Fürst aber unter allen, denen die Vorsehung eine fünfzigjährige Regierung bestimmte, hätte das Urtheil der Weltgeschichte weniger zu fürchten, als unser Friedrich August! Das, was die Politik in altern und neuern Zeiten als die größte Aufgabe ihrer Weisheit und als das höchste Ziel ihrer Wirk­ samkeit aufstellte: — daß Fürst und Volk unzer­ trennlich verbunden sind, und gegenseitig, im hei­ ligen Bewußtseyn ihrer Rechte und Pflichten, mit Treue und Liebe sich umschließen; — das können wir schon als das große Ergebniß der fünfzig Jahre, die am heutigen Tage für Sachsen ablaufen, an den Eingang dieses wichtigen Zeitraumes setzen. Mit einem Worte r betrachten wir das Verhältniß unsers Königs zu seinem Volke, und das Verhältniß des sächsischen Volkes zu seinem Könige in dem Lichte dieser fünfzig Jahre aus dem höchsten Standpuncte der Politik und Geschichte; so erscheint uns das sächsische Volk, als ein während der fünfzigjährigen Regierung seines Königs mündig gewordenes Volk. Pölitz verm. Schr. Th. 1. 15

226 Lassen Sie uns bei diesem großen Ergebnisse'ei­ nige Augenblicke verweilen. Gelingt es uns, dasselbe aus den Ereignissen der letzten fünfzig Jahre im Kreise unsers Vaterlandes zu erweisen; so ist eö der erhabenste Lobspruch der Regierung unsers Kö­ nigs; und wir können den heutigen Festtag nicht wür­ diger feiern; wir können die Feier dieses Tages mit dem eigenthümlichen Geiste und Charakter des Vol­ kes , zu welchem wir gehören, in keine innigere Ver­ bindung setzen; wir können durch keinen Gedanken zu edlern und höhern Entschlüssen für unser Vater­ land und für das sächsische Volk mit aller Kraft, die uns einwohnt, zu wirken, bestimmt werden, als eben durch den großen Erfahrungsfatz: daß unser Volk während der fünfzigjährigen Regierung seines Königs mündig geworden sey. — Allein der Begriff der Mündigkeit ist ein bildlicher Ausdruck; er muß also erklärt und in seiner Anwendung auf Politik und Geschichte gerechtfertigt werden. Wir unterscheiden in der Wirk­ lichkeit eine physische und eine sittliche Mün­ digkeit der Individuen, und begründen dadurch den Begriff der politischen Mündigkeit der Völker. Die physische Mündigkeit besteht in der auf dem gesetzmäßigen Wege der Natur erreichten völligen Ausbildung und Reife der organischen Kräfte eines lebenden Wesens für den Genuß der Glückseligkeit, als des höchsten Zweckes des irdischen Daseyns sinn­ licher Geschöpfe; die sittliche Mündigkeit aber in der, durch die Fortbildung aller geistigen Anlagen, Vermögen und Kräfte eines sittlichen Wesens er­ reichten, Selbstthätigkeit der Vernunft, um, ver­ mittelst ditser höchsten geistigen Kraft, alle Verhält­ nisse des Lebens und alle einzelne Zwecke unsers We-



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fens unterzuordnen dem Endzwecke der Sittlichkeit. Dieß ist die große Aufgabe der irdischen Erziehung, und kein System der Pädagogik hat bis jetzt einen höhern Zweck, als die Erreichung der sittlichen Mün­ digkeit der zu erziehenden Individuen, aufzustellen ver­ mocht ; denn was erzogen wird, wird zu etwas erzogen *), und alle Zwecke der Menschheit, die sinnlichen und gei­ stigen, müssen zuletzt meinem höchsten endigen, und dieser kann kein anderer seyn, als die sittliche Voll­ endung unsers Wesens. Dieser Endzweck der Sitt­ lichkeit ist daher, so weit unsere Vernunft den unend­ lichen Geist in dem Plane seiner Weltregierung zu begreifen vermag, zugleich der Endzweck, welchem das menschliche Geschlecht während seines Aufenthaltes auf der Erde sich nähern soll. In diesem Sinne ist das irdische Leben eine Erziehung unsers Ge­ schlechts in der Hand Gottes, eine Fortführung zur sittlichen Mündigkeit. Deshalb kann auch die Geschichte unsers Geschlechts aus keinem erhabener» Standpuncte gefaßt werden, als wenn sie durch alle Völker und Reiche, so wie durch alle Jahrhunderte und Jahrtausende, im pragmatischkn Zusammenhangs nachweiset, wie und auf welche mannigfaltig verschiedene Weise das mensch­ liche Geschlecht — durch Gesetzgebung, Verfassung und Regierung, durch Kunst, Wissenschaft und Re­ ligion, so wie durch die wechselseitigen Einflüsse der

*) Man vergleiche: Gotthold Ephr. Lessing, die Erzie­ hung deS Menschengeschlechts. Berl. 1785. 8. — Karl Sam. Zachariä über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den Staat. Lpj. 1802. 8., und meine Erziehungswissenschaft, aus dem Zwecke der Menschheit und des Staates dargestellt. 2 Theilt. Lpz. 1806. 8.

228 neben einander bestehenden Völker und Reichs auf einander — zu diesem großen Ziele fortgeführt, oder wie, wann und wodurch dieses große Ziel verfehlt und gehindert worden sey. Schon die einzige große Thatsache der Geschichte, daß die reinere Lehre des Christenthums, im Plane der Vorsehung, aus dem MosaismuS hervorging, und sich siegreich und segens­ voll über alle Erdtheile verbreitete, muß es verbür­ gen und über jeden Zweifel erheben, daß ein unend­ licher Geist unser Geschlecht erzieht und fortführt zur freiesten Entfaltung des sittlichen Lebens. Steht aber einmal die Ueberzeugung unerschüt­ terlich fest, daß unser ganzes Geschlecht von der er­ ziehenden Hand Gottes zur sittlichen Mündigkeit fort­ geführt werde; so ecgiebt sich auch daraus von selbst die höchste Aufgabe einer wahren, & h. einer aus dem Endzwecke der Menschheit hervorgehenden und mit dem Plane der Weltregierung übereinstimmen­ den, Politik; daß nämlich der gesellschaftliche Verein im Staatsleben gleichfalls keinen höher« Zweck sich vorhalten könne, als diese Mündigkeit. Wir verstehen daher unter der politischen Mündigkeit der Völker und Staaten die Beziehung und Anwendung des all­ gemeinen Begriffes der physischen und sittlichen Mün­ digkeit auf den gesellschaftlichen Verein der Men­ schen zum Leben im Staate, und verlangen die Ver­ wirklichung dieses Begriffes von jeder in der Wirk­ lichkeit bestehenden Rechtsgesellschaft nach den beiden Grundbedingungen des innern und des äußern Lebens. Denn an dieser doppelten Ankündigung, an diesem innern und äußern Leben, wird überhaupt das politische Leben der Völker und Staaten in der Geschichte erkannt, und zwar so, daß, obgleich

229 beide in steter Wechselwirkung stehen, doch das au. ßere Leben die Wirkung und Folge des innern Le­ bens bleibt, weil kein organischer Körper nach außen kräftig erscheinen kann, dessen innere Lebenskraft durch organische Fehler erschüttert, oder durch ver­ jährte Leiden erschöpft worden ist, oder der nach dem . Naturgesetze der Veraltung in der Nahe seiner Auf­ lösung steht. Wollen wir also die große Frage der politischen Mündigkeit eines Volks wahr, treu und erschöpfend -beantworten; so müssen wir bei der Ankündigung seines i n n e r n und ä u ß e r n politischen Lebens verweilen, und nach der Wechselwirkung und dem Zusammenhänge zwischen beiden entscheiden, ob das Volk in der Geschichte als mün­ dig erscheine, oder nicht? — Die politische Mündigkeit eines Volkes, nach der Ankündigung seines innern Lebens, hangt aber nicht ab von der großen Zahl seiner Bevölkerung; — sonst würden China und Indien mit ihrer ungeheuern Bevölkerung den europäischen Völkern und Reichen in Hinsicht der politischen Mündigkeit vorangehen. — Sie hängt nicht ab von der scheinbar glanzvollen An­ kündigung der Eroberungslust und Eroberungskraft; sonst hätte Cyrus, wie er das erste bekannte Welt­ reich über Mittel. und Vorderasien verbreitete; Alexander, wie er die Siege der Macedonier und Griechen bis an den Opus, Indus und Nil trug; Rom, wie es mit roher Militärgewalt dreien Welt­ theilen gebot; sonst hätte selbst Attila, wie er an der Spitze von 700,000 Räubern durch den europäischen Süden verheerend bis Chalons sich fortwälzte, wo ihn die Hand der Nemesis erreichte; sonst hätten Dschingiökan, Tamerlan, als sie die politische Form -er veralteten

asiatischen Reiche veränderten,

und

230 Bat», als seine Horden in der Mitte des I3ten Jahr» Hunderts bis Schlesien vordrangen; sonst hätten alle diese, und ihnen ähnliche, mit Fluch bedeckte, Erobe­ rer auf der Höhe der politischen. Mündigkeit gestan­ den. Sie, diese Mündigkeit, hangt endlich eben so wenig ab von her Form eines despotischen Reiches, wo blos die unumschränkte Willkühp eines Einzigen über Millionen Sklaven gilt; sonst würden uns Pie Chalifen von Bagdad, die Sultane der Osmanen, die Regenten von Fe; und Marocro, und die Dey'S der Barbareökenstaaten als Stellvertreter der politi­ schen Mündigkeit ihrer Völker voranleuchken. Nein,, es giebt, nach per Stimme der Vernunft und her Geschichte, ganz andere Kennzeichen her politischen Mündigkeit der Völker und Reiche. Denn unab­ hängig von her größer» oder geringern Bevölkerungs­ zahl derselben; unabhängig von hen durch feile Schmeichler oft zu sehr gefeierten Siegen der Erobe­ rer und her von ihnen gerechtfertigten Unterjochung friedlicher Stämme, unh unabhängig von einer, nur von Sklavenseelen empfohlenen, unumschränkten sultanischen Gewalt, beruht die Mündigkeit eines Volkes nach seinem äußern politischen Leben auf seiner Selbstständigkeit in der Mitte und in her Wechselwirkung mit anderen Völkern, so wie auf seiner Unabhängigkeit, in Hinsicht des be, sondern Zweckes seines gesellschaftlichen Vereine, von allen andern Völkern und Staaten; und nach seinem innern politischen Leben — als der Unterlage her äußern Selbstständigkeit und Unabhängigkeit — theils quf der Entwickelung des physischen Zu­ standes des Volkes zu einem festgegründeten und sichern Wohlstände; theils auf hem unaufhqltfamen Fortschreiten des Volkes in seiner gesummten geisti,

231 g§,p Bildung; theils auf der unbedingten Herrschaft des Rechts in der Verfassung und Verwaltung desselben. Zwar müssen wir zugestehen, haß nächt alle Individuen eines Volks, daß nicht die Gesammtzahl desselben, ohne Ausnahme diesem Ziele der Mündigkeit sich gleichmäßig nähern kann; denn Wesen, deren sittlicher Grundcharakter auf der Frei­ heit des Willens beruht, können eben so von dem Ziele ihres Daseyns sich entfernen, wie sie zur An­ näherung an dasselbe durch die Vernunft berufen sind; und ähnliche Erscheinungen erblicken wir im Kleinen bei der Erziehung der Individuen, wie im Großen bei der Erziehung der einzelnen Völker, aus welchen die Menschheit besteht. Allein wo die Mehr­ zahl der Individuen eines Volkes das bestimmte Gefühl, und der sorgfältig gebildete Theil dieses Volkes das deutliche Bewußtseyn in sich trägt, daß innerhalb des Staates, in welchem ec lebt, der End­ zweck der Menschheit selbst durch alle Anstalten, Ge­ setze und Verordnungen befördert, und zugleich der Fortschritt Aller zur Mündigkeit beabsichtigt und er­ leichtert werde; da sprechen wir mit Ueberzeugung die geschichtliche Wahrheit aus: ein solches Volk verlebe das Zeitalter seiner Mündigkeit; — es sey in der That mündig geworden in seinem Staatsleben. So wie aber bei her Erziehung der Jugend zur Mündigkeit, nächst der Ausstattung der zu erziehen­ den Individuen von der Natur mit dem Reichthume sinnlicher und geistiger Anlagen und Kräfte, fast alles von dem Erzieher und von dem Charak­ ter der Erziehung abhängt; so ist auch bei der Er­ ziehung und Fortbildung der Völker zur politischen Mündigkeit das Meiste abhängig von den Fürsten, hie an der Spihe der Völker stehen, und von den

232 Grundsätzen der Regierung, welche die Fürsten und ihre nächsten Rathgeber geltend machen *). Lassen Sie uns nun, zur Feier des heutigen Tages, die für die politische Mündigkeit eines Vol­ kes im Allgemeinen aufgestellten Bedingungen auf das sächsische Volk und auf das politische äußere und innere Leben desselben anwenden, und aus der Geschichte unsers Vaterlandes während des letzten halben Jahrhunderts nachweisen, daß dasselbe, während der funzigjährigen Regierung unsers Königs, theils nach seiner äußern Selbstständigkeit; theils in der Entwickelung seines physischen Zustan­ des zu einem fest gegründeten und sichern Wohl­ stände; theils durch seinen unaufhaltsamen Fort­ schritt in den gestimmten Bedingungen der geisti­ gen Cultur; theils vermittelst der unbedingten Herrschaft des Rechts in seiner Verfassung und Verwaltung, dem Ziele der politischen Mündigkeit sich genähert, und dasselbe in den meisten dieser Bezie­

hungen erreicht habe. Gelingt es uns, diese Säße geschichtlich zu begründen; so muß dadurch nicht nur das sächsische Volk in dem Lichte hoher Reife und Vortrefflichkeit erscheinen; es muß auch dieser Erfahrungsbeweis die fünfzigjährige Re­ gierungszeit des Königs, und die Grundsätze, so wie den Charakter seiner Regierung, für Gegen­ wart und Zukunft rechtfertigen und verherrlichen.

*) „Auch die Vöker haben ihre Kindheit," sprach vor wenigen Monaten ein Mitglied de- norwegischen Storthings zu dem Könige von Schweden und Norwegen; und her König Karl Johann knüpfte, in seiner feierlichen Anrede, daran den Satz: „da- reife Alter muß der Gegenstand unsrer Mn« sche seyn."

233

1. Verweilen wir zunächst bei dem äußern poli­ tischen Leben; so bezeichnen wir die Selbststän­ digkeit eines Volkes in der Mitte und in der Wechselwirkung mit andern Völkern, und die Un­ abhängigkeit desselben, in Hinsicht des besondern Zweckes feines gesellschaftlichen Vereins, als die

erste Bedingung und als das sichere äußere Kenn­ zeichen seiner Mündigkeit. Die Selbstständig­ keit eines Volkes beruht aber auf dem rechtlichen Besitze deö ihm eigenthümlichen Landes; auf der Bewohnerzahl, welche einen besondern, von allen andern Völkern verschiedenen, Volksnamen führt; auf der an der Spitze der Regierung stehenden ein« gebohrnen Dynastie; auf der in den Rechtsverhält­ nissen zwilchen dem Fürsten und dem Volke gegrün­ deten eigenthümlichen Verfassung, womit die einzel­ nen Zweige der Verwaltung in der genauesten Ver­ bindung stehen; und auf dem eigenthümlichen Geiste und Charakter eines jeden selbstständigen Volkes, wodurch es, bei aller Aehnlichkeit mir ursprünglich verwandten Volksstämmen, dennoch nach Sprache und Lebensweise, und oft selbst nach der öffentlichen Ausübung der Religion und nach mannigfaltig ver­ schiedenen Formen des häuslichen und öffentlichen Le­ bens, von jedem andern, zu einem besondern Staate verbundenen, Volke des Erdbodens sich unterscheidet. Nach allen diesen Bedingungen erscheint das säch­ sische Volk als ein solches, das, nach dem philo­ sophischen und nach dem practischen europäischen Völkerrechte, seine Selbstständigkeit behauptet. Ihm ge­ hört in der Mitte TeutschlandS ein eigenes in sich abgeschlossenes Ländergebiet; es führt eine», mit gro-

234 ßen Erinnerungen in der Geschichte verbundenen, Namen; seine eigenthümliche Regentendynastie weicht keinem andern teutschen Negentenhaufe an Alter und Würde; seine Verfassung hat zwar mit der im Mit­ telalter entstandenen Verfassung vieler teutschen Staa­ ten große Aehnlichkeit, sie ist aber doch nach ihrer innern Organisation auf dem sächsischen Boden ein­ heimisch, und demselben, so wie die damit zusam­ menhängende Verwaltung, eigenthümlich; und eben so behauptet das sächsische Volk, bei aller seiner Verwandtschaft mit dem fränkischen, bayrischen, schwäbischen, thüringischen, hessischen,. niedersächsi­ schen, friesischen und brandenburgischen Volksstämmen, doch viel Eigenthümliches in seiner Sitte, Sprache, und in seinem häuslichen und öffentlichen Leben. Die zweite äußere Bedingung der politisch m Mündigkeit eines Volkes ist seine Unabhängig­ keit von jedem andern Volke. Run kpnnte zwar ein teutscher Volksstamm, wie der sächsische, der bis zu dem Jahre 1806 als einzelner Therl zu der Ge, sammtheit des teutschen Reiches gehörte, nicht in dem publicistischen Sinne der Unabhängigkeit, als Macht innerhalb des europäischen Staatensystems, erscheinen, rote die übrigen Kaiserthümer, Königreiche und Freistaaten unsers Erdtheils; selbst später, wie Sachsen, als Mitglied zum Rheinbünde gehörte, und gegenwärtig, wo es einen Theil des teutschem Staateflbundes bildet, wird, durch das Grundgesetz dieses Bundes, seine Stellung nach außen, theils zu diesem Bunde, theils zu dem gesammten euro­ päischen Staatensysteme bestimmt, und, durch die vertragsmäßig festgesetzten Zwecke dieses Bundes, seine Unabhängigkeit theilweife beschränkt. — Allein

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bereits vor der Auflösung des teutschen Reiches er­ schien der sächsische Staat/ nach seiner Reichsunmit­ telbarkeit und nach den seinem Regenten durch die goldene Bulle und den westphglischen Frieden zustehenden Territorialrechten, als sebststandige Macht, welche ihre politischen Interessen, während der Regievungszeit unsers Königs, bei dem bayrischen Erb­ folgekriege, bei der Theilnahme an dem teutschen Fürstenbunde, bei dem Antheile an dem ersten Kriege gegen Frankreich bis zum Beitritte zur nordteutschen Neutralität, und wieder, nach der Auflösung des teutschen Reiches, im Herbste 1806 durch das Bündniß mit Preußen gegen Frankreich geltend machte. Erweitert wurden noch die Rechte des sächsischen Regenten in Beziehung auf die auswärtigen Ange­ legenheiten, durch die Annahme der königlichen Würde im Jahre 1806 und durch die damit ver­ bundene Souverainetät, welche im Jahre 1815, bei dem Beitritte zum teutschen Staatenbunde, feier­ lich anerkannt und bestätigt wurden. Zwar konnte in diesem für Sachsen verhängnißvollen Jahre die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des sächsischen Namens und Volkes nur durch ein großes Opfer gerettet und erhalten werden; allein in einem Zeitalter der politischen Umbildung, wo die Namen mehrerer souverainen Staaten ganz aus der Reihe der europäischen Mächte, und sehr viele vprmals reichöunmittelbare Stände aus der Mitte der teut­ schen Regenten verschwanden, blieb dem sächsischen Volke, nach dem Verluste von zwei Fünstheilen sei­ ner vormaligen Einwohnerzahl, doch der Trost, daß her König und Vater desselben, nach langer Tren­ nung, in dessen Mitte zurückkehrte, und daß die in den letzten harten Leidensjahren bestandenen Prüfun-

236 gen die öffentliche Meinung aller europäischen Völker

für das sächsische Volk gewonnen, und die Achtung gegen dasselbe gesteigert hatten. Denn eben in die­ sen Jahren der Prüfung, deren Ereignisse außerhalb deS Kreises aller politischen Berechnung lagen, be­ währte sich die erreichte Mündigkeit des sächsischen

Volkes. Einverstanden mit seiner, -durch ein gan­ zes Menschenalter als trefflich bewährten, Regierung, entwickelte und zeigte das sächsische Volk in diesem wichtigen Zeitraume die ihm, während der 45 jähri­ gen Regierung seines Königs, eigenthümlich gewor­ dene Würde und Kraft in seiner öffentlichen Ankün­ digung; es verläugnete nie die treueste Anhänglich­ keit an sein angestammtes Fürstenhaus; es brachte mit der Hoffnung, den König in seine Mitte zurück­ kehren zu sehen, sehr bedeutende Opfer bei der Fort­ dauer eines Krieges, dessen Hauptschläge auf seinem Boden erfolgt waren, und bewies, nach der Rück­ kehr des Königs, das reine Hochgefühl seiner Freude durch die unverkennbarsten Beweise der Liebe, der Treue und der höchsten Anstrengung für die Her­ stellung des erschütterten Wohlstandes im Innern Und der würdevollen Stellung von außen. Gewiß, ein Volk, das in der Gewitternacht der Leiden sei­ nen Charakter nicht verläugnet, und so ruhmvoll, wie das sächsische, aus den politischen Stürmen seine Selbstständigkeit, seine Unabhängigkeit, seine ange-

bohrne Dynastie und seinen weltgeschichtlichen Namen rettet; ein solches Volk erscheint auch nach seinem äußern politischen Leben als reif und mündig!

o Führt aber schon der feste Blick auf das äußere politische Leben des sächsischen Volks während der

237 fünfzigjährigen Regierung seines Königs zu dem geschichtlichen Ergebnisse seiner erreichten Mündig, feit; so werden wir dieses Ergebniß durch die vie­ len Lichtseiten'seines innern politischen Lebens noch mehr bestätigt finden. Dahin rechnen wir zuerst die Entwickelung seines physischen Zustan­ des zu einem festgegründeten und sichern Wohlstände. So gewiß der Geist höher steht, als der Körper, den er bewohnt: so gewiß muß auch die geistige Bildung eines Volkes, in dem Begriffe seiner Mündigkeit, mehr in Anschlag kommen, als dessen physischer Wohlstand. Allein, so wie der Geist von dem gesunden oder kranken Zustande des Körpers abhängt; so steht auch die physische Voll­ kommenheit oder Unvollkommenheit, die Armuth und der Reichthum, die Dürftigkeit und der Wohlstand der Völker mit der Ankündigung ihrer Mündigkeit und dem Fortschreiten zu derselben in genauestem Zu­ sammenhänge. Wir dürfen nur in die Zeiträume der ersten Anfänge des gesellschaftlichen Lebens zu­ rückgehen; wir dürfen nur das Nomaden-, Jägerund Troglodytenleben der ältesten Völker, wir dürfen nur die unvollkommenen, fast blos thierischen Daseynszustände derjenigen Menschenstämme uns vergegenwärtigen, die noch jetzt in den Sandsteppen Afrika's, oder in den undurchdrungenen Wildnissen Amerika's das Gepräge des ersten rohesten mensch­ lichen Zustandes tragen; wir dürfen selbst nur an diejenigen Völker und Reiche uns erinnern, die frü­ her uatergingen, oder mit andern Stämmen ver­ schmolzen, oder deren Staatsformen zerstört wurden, bevor sie zu den höher» Stufen der Civilisation und Cultur fortgeschritten waren, um uns zu überzeugen, daß die Entwickelting des physischen Zustandes der

238 Völker zu einer gewissen Vollkommenheit eine Grund­ bedingung ihrer Mündigkeit sey. Denn viele und große Bedingungen eines wahrhaft menschlichen Da­ seyns umschließt dieser physische Zustand der Völker! Wir rechnen dahin alle Verhältnisse, wodurch das sinnliche Leben Bedeutung, Werth und Genuß erhält; wodurch zugleich die äußere Verbindung der Menschen, die zu einem Staate gehören, eine hö­ here Stufe physischer Vollkommenheit erreicht. So muß, wo dieser physische Zustand des Volkes frei entwickelt erscheinen soll, der Ackerbau nicht blos ein Werk der Noth seyn, er muß in seiner wahren Blüthe stehen, und über die Pflege aller dem Bo­ den anpassenden Früchte des Feldes sich verbreiten. Mit ihm müssen Viehzucht, Wiesen - und Gartenbau, mit ihm müssen alle Veredelungen und Verbesserun­ gen, welche der Boden, der Gebrauch der Thiere und die Gewinnung der Urproducte verstatten, genau Zusammenhängen. Die Wohnungen der Menschen müssen nicht blos gegen die Stürme der Elemente, gegen den Wechsel der Witterung und gegen die Streifereien wilder Thiere einen nothdürftigen Schutz gewähren; sie müssen für die Bequemlichkeit, für die Ordnung und den Wohlstand des häuslichen Le­ bens eingerichtet seyn; die Menschen müssen sich, wenn ihre Thätigkeit nicht gelähmt, sondern gestei­ gert werden soll, der Früchte ihres Fleißes, des Er­ werbes ihrer Hände freuen. Es müssen aber auch unter dem Volke, neben dem Feldbaue und neben den Beschäftigungen, die mit demselben nothwendig Zusammenhängen, die Gewerbe, die Manufak­ turen und Fabriken gedeihen und blühen, und diese, nach volkswirthschaftlichen Grundsätzen, theils in Hinsicht der Bevölkerungszahl, die sich damit

239 beschäftigt, theils in Hinsicht ihrer Stellung zu der feldbauenden Classe im Staate, theils in Hinsicht des Absatzes ihrer Erzeugnisse im In - und Aus­ lands, zu den übrigen erwerbenden Volksclassen im richtigen Verhältnisse stehen. Es muß endlich der Handel, als die nothwendige Bedingung des Umsatzes, des Austausches und der Verbreitung der durch Natur und Fleiß hervorgebrachten Erzeugnisse, auf einer sichern Grundlage beruhen, inwiefern der Handel eben so die ununterbrochene Verbindung, die Wechselwirkung aller gewerbtreibenden Classen, und den regen Umlauf des baaren Geldes im Innern bewirkt, wie er den Verkehr deö vaterländischen Staates — nach richtigen Verhältnissen der Ein­ fuhr und Ausfuhr gegen einander — mit dem nahen und entfernten Auslande, und zugleich den Staats­ credit im Innern durch die Umsicht und Sicherheit seiner Berechnungen, und durch die Pünctlichkeit und Gewissenhaftigkeit seiner Leistungen erhält. — Mit einem Worte: bei einem mündiggewordenen Volke muß der physische Zustand nicht blos die er­ sten unvollkommenen Anfänge des Ackerbaues, der technischen Gewerbe und des Handelsverkehrs, als Werke der Noth und des Zufalls, — er muß sie als die sichern, in ihrem regen Anbaue ununterbro­ chen zur Vollkommenheit fortschreitenden, und als die, in ihrem innern Verhältnisse gegen einander völlig gleichmäßig entwickelten, Bedingungen des zum höhern Wohlstände fortgeführten physischen Zustandes des Volkes umschließen. — Und dieses Bild gewährt uns das sächsische Volk während der fünfzigjährigen Regierung unsers Königs! Wir dürfen nur den Wohlstand des Land­ mannes vor 50 Jahren, kurz nach der Zeit des

240 siebenjährigen Krieges, mit dem Wohlstände, den er jetzt — aller über ihn gekommenen unverschulde­ ten Leiden der zehn letzten Jahre ungeachtet — er­ reicht hat; — wir dürfen die Vermehrung der Urproduction, die Erweiterung und Verbesserung des Feldbaues, der Viehzucht, des Wiesen-, Garten-, Wein - und Obstbaues seit 50 Jahren; — wir dür­ fen das allmählige Fortschreiten des Landmannes in den meisten Gegenden unsers Vaterlandes zu einem bequemern, gemächlichern, zum Theile genußvollem Leben berücksichtigen; wir dürfen uns nur an die großen Massen im Inlands verbrauchter und ins Ausland, selbst in andere Erdtheile, ausgeführter Erzeugnisse des sächsischen Gewerbsfleißes, an die vielen von der sächsischen Industrie ausgegangenen neuen Erfindungen im Gebiete der Technologie; wir dürfen uns an die Anwendung der bildenden Künste auf den Gewerbsfleiß; wir dürfen uns an die Ord­ nung, Sicherheit, Festigkeit und Pünctlichkeit des sächsischen Handels, an den dadurch gewonnenen un­ erschütterlichen Credit des sächsischen Volkes in der öffentlichen Meinung aller europäischen Völker und Reiche erinnern; wir dürfen uns nur vergegenwär­ tigen, wie, seit den Stürmen des siebenjährigen Krie­ ges, in der Mitte unsers Vaterlandes, vor dessen Erschütterung und Theilung in den neuesten Zeiten, die Bevölkerung desselben fast um eine halbe Million gestiegen, wie viel in Städten und Dörfern gebaut, wie viel für die Bequemlichkeit und den Genuß des Lebens, für die Erhohlung und das Vergnügen der untern und mittlern Stände gethan, wie viel von diesen zum Theile an baarem Gelde gesammelt und zurückgelegt worden war; — um uns zu überzeugen, welchen Segen die 50 jährige weise und milde Re-

241 gimrng unsers Königs über unser Vaterland brachte, und wie während dieser Regierung die erste Bedin­ gung der Mündigkeit eines Volkes •— die Ent­ wickelung seines physischen Zustandes zu einem festgegründcten und sichern Wohlstände — erreicht ward! So wenig es im Geiste seiner Regierung lag, durch eingreifende Gesetze dem Feldbaue, dem Gewerbssieiße und dem Handel bald diese, bald eine andere Richtung zu geben, weil die Geschichte den Grundsatz der Volköwirthschaftölehre hinreichend be­ stätigt: daß man den Gang eines steißigen Volkes in Hinsicht seines Ackerbaues, Gewerbsfieißes, und besonders seines Handels am sichersten sich selbst über lassen, und blos die äußern Hindernisse des­ selben beseitigen müsse; so hat doch unsere Regierung, noch während der Minderjährigkeit deö Königs, durch die neue Gestaltung dec Landesökonomie-, Manufactur- und Commerziendeputation, durch die für die Erfindungen in den Gewerben und für die Ver­ besserungen deö Feldbaues ausgesetzten Preise, durch die Stiftung der ökonomischen Gesellschaft, welche vor kurzer Zeit eine bessere Organisation erhielt, durch die weise Bewahrung des freien Meßverkehrs in unserer Stadt, durch den im Jahre 1710 begon­ nenen Canalbau für die Verbindung und lebhaftere Betreibung des inländischen Handels, und durch alses, was für die Fortbildung des Bergwesens, be­ sonders durch die Errichtung des treffiichen Amalgamirwerkes, geschah, — nicht nur den Geist des Fleißes bei unserm Volke unterstützt, und die kräf­ tige Blüthe des Handels gesichert, sondern auch ei­ nen Wohlstand gegründet und bewahrt, der über die meisten Theile unsers — vor den letzten kriegerischen Pölitz verm. Schr, Th. I, 15

— Stürmen

so

242



sehr beglückten — Vaterlandes

sich

verbreitete.

3. Allein nicht blos das physische Liben nach seinen vervollkommnetern Zuständen, sondern auch — und mehr noch — die Fortbildung des geistigen Le» bens, ist eine wesentliche Bedingung des Mündigwerdens der Völker. — Wenn das geistige Wesen in uns überhaupt nach drei Grundvermögen, nach dem Vorstellung^ -, Gefühls - und Bestrebungsver­ mögen, im Bewußtseyn wahrgenommen wird; so muß auch, bei der Wirksamkeit dieser drei Vermö­ gen nach außen, das geistige Leben in den Fort­ schritten der intellectuellen, der ästhetischen und der sittlichen Cultur sich ankündigen. C'S wird daher bei einem mündig gewordenen Volke die Sphäre der Wissenschaft und die Sphäre der Kunst gleichmäßig angebaut und zur Vollkommen­ heit fortgeführt werden, so wie sich ein mündig ge­ wordenes Volk durch Sittlichkeit, durch den Wiederschein derselben in den äußern Sitten, und durch Religiosität auszeichnet Denn so gew ß die ewige Idee des unsterblichen Geistes höher steht, als das Brod des irdischen Leibes; so gewiß die idealische Kunstform des Dichters, des geistlichen und weltlichen Redners, des Tonkünstlers, des Mah­ lers und des Plastikers aus einer höhern Welt stammt, als aus dem Kreise der nährenden, und für den physischen Wohlstand unentbehrlichen Manufacturen und Fabriken; so gewiß endlich die Aus­ übung des Guten um seiner selbst willen, und die Verehrung des unendlichen Wesens im Geiste und in der Wahrheit, die reinste Blüthe und Krone

243 eines menschlichen Daseyns ist, weil die letzten Gründe der Sittlichkeit und Religion über eine blos auf EigmnuH und Glückseligkeitögenuß berechnete Sitten­ lehre und über einen blos sinnlichen Gottesdienst sich weit erheben: so gewiß steht auch ein nach seinem geistigen Leben mündig gewordenes Volk höher, als diejenigen Völker, denen das Licht der Wahrheit in der Wissenschaft noch nicht aufging, das Urbild des Schönen in der Kunst noch nicht vorleuchtete, und das Ideal des. Sittlich-Guten noch nicht das Herz erhob und entflammte. Heil aber dir, mein Vaterland! Schon lange leuchtete dir das Licht der Wahrheit int weiten Kreise Menschlicher Erkenntniß; schon lange strahlte dir das Urbild des Schönen in den mannigfaltigsten Formen der Künste; schon lange galt dein Volk in der Reihe der teutschen und europäischen Völker nicht blos als ein hochgesittetes, sondern auch, nach der Mehrzahl seiner Individuen, als ein sittlich-gutes und reifes Volk! Denn kaum brauche ich Sie heute daran zu erinnern, daß vom sächsischen Boden im Anfänge des sechszehnten Jahrhunderts der Msrgenstrahl der gereinigten Lehre ausging, nachdem schon seit dem Anfänge des fünfzehnten Jahrhunderts die Leipziger Hochschule — eine der ersten auf teutscher Erde — die damals noch sehr beschränkten Kreise der wissen­ schaftlichen Erkenntniß ZU erweitern, und mit sicherm Tacte anzubauen begonnen hatte; kaum brauche ich Ihnen zu vergegenwärtigen, daß unter allen, nach ihrer Bewohnerjahl, kleinere Völkerschaften Teukschlands das sächsische Volk seit den letzten Jahrhun­ derten überhaupt die größte Masse von Gelehrten Und Schriftstellern in allen Fächern des menschlichen Wissens aufstellte, und nicht selten seinen Ueberfluß

244 an denselben an das Ausland abgab; kaum brauche ich es zu erwähnen, wie viel zur Entwickelung, Ausbildung und Befestigung einer gründlichen Ge­ lehrsamkeit in - und außerhalb Sachsens von den beiden Hochschulen und den drei Landschulen unsers Vaterlandes geschehen ist. Ich darf ja an dem heutigen Tage nur bei der fünfzigjährigen Regierungszeit unsers Königs verwei­ len, um zu zeigen: es sey der von unsern Vorfah­ ren in den mannigfaltigen Verzweigungen und For­ men der intellectu' llen, ästhetischen und sittlichen Cul­ tur erworbene Ruhm, und das von ihnen auf uns vererbte Beyspiel im Fortbilden dieser Cultur, nicht nur während des letzten halben Jahrhunderts von unserm Volke gewissenhaft bewahrt, es seyen auch die Fortschritte unsers Volkes in der intellectuellen, ästhetischen und sittlichen Cultur im Laufe der letzten fünfzig Jahre von der vaterländischen Regierung so sicher geleitet, und so weise und nachdrucksvoll un­ terstützt worden, daß wir nicht nur denjenigen Theil unsers Volkes, der sich auöschließcnd den Wissen­ schaften und Künsten widmet, in beiden, nach seiner Mehrzahl, zur Reife und Mündigkeit gelangt, son­ dern auch die größere Masse unsers guten Volkes der sittlichen Mündigkeit sich annähern sehen. Denn fragen wir nach dem Anbaue der Wissenschaften in unserer Mitte; so werden wir kaum bei irgend einem teutschen Brudervolke eine gleiche Zahl so vieler geachteter Namen in der Reihe öffentlicher Lehrer und Schriftsteller finden, als in der Milte des säch­ sischen Volkestammes Zählen wir die Masse der Buchhandlungen, als Mittelpuncte des gestimmten literarischen Verkehrs, und denken wir unser Leipzig als den dreihundertjährigen Stapelplatz des teutschen

245 und zum Theile auch des ausländischen Buchhan­ dels ; so geh/ Sachsen in dieser Hinsicht allen an­

dern europäischen Staaten und Reichen voran. Ge­ denken wir der Grundlage aller wahren Gelehrsam­ keit, des Anbaues der classischen Sprachen des Al­ terthums; so wissen wir alle, welche zeitgemäße Ein­ richtung die sächsischen Landschulen während der Re­ gierung unsers Königs erhielten, und wie diese ver­ besserten Lehranstalten mehrern städtischen gelehrten Schulen, die hinter ihnen nicht zurückbleiben woll­ ten, zum Gegenstände des Nacheifers dienten. Fra­ gen wir nach den Fortschritten unserer herrlichen, reichen und bildsamen teutschen Stammsprache; so dürfen wir getrost das wahre Wort auösprcchen: daß diese Sprache einen wesentlichen Theil ihrer ge­ genwärtigen classischen Darstellungsform den ausge­ zeichneten Dichtern, Rednern und Prosaikern unsers Vaterlandes, und eben so viel den unter uns ein­ heimischen Grammatikern, Lexikographen nnd gründ­ lichen Forschern der Theorie des Stylö und der Phi­ losophie der Sprache in dem letzten halben Jahr­ hunderte verdankt. Vergegenwärtigen wir uns die Stellung der beiden sächsischen Hochschulen, Leipzigs und des, nun nach der Theilung Sachsens seit einem Jahre mit Halle vereinigten, Wittenbergs zu den übrigen Universitäten Teutschlands in den letzten fünfzig Jahren; so galten sie durchgehends in Teutsch­ land und im fernen Auslande als ausgezeichnete Lichtanstalten des vaterländischen Bodens, welche durch die väterliche Huld des Königs sehr wesent­ lich unterstützt und zeitgemäß fortgebildet wurden. Denn nicht nur, daß der Königl schon früher für beide ansehnliche Summen auf Landescasten und milde Stifttingen anwies, und noch vor wenigen

246 Jahren für sie und für die drei Landschulen den gesammten Ertrag der ihm angefallenen Commenden des teutschen Ordens bestimmte; ihm verdankt na­ mentlich unsere Hochschule die Errichtung vieler neuen Lehrstühle für Wissenschaften, welche erst in spätern Zeiten zu selbstständigen Formen ausgeprägt wurden, so wie die Begründung mehrerer trefstlicher Anstalten. So erhielten die Kammeralwissenschaften, die Sternkunde, die Klinik, die Naturgeschichte und Botanik, die Chemie, die Geburtshilfe, die psychi­ sche Heilkunde, und die vaterländische Geschichte ihre besondern Lehrstühle; so wurden, wahrend der Regierung des Königs, die Sternwarte, das klinische Institut, die Entbindungsanstalt, das che­ mische Laboratorium begründet, mehrere akademische Gebäude neu aufgebaut und verschönert, der bota­ nische Garten vervollkpmmnet, das philologische Sem narium errichtet, die akademische Bibliothek an­ sehnlich vermehrt, und manche, aus vorigen Jahr­ hunderten stehen gebliebene, Unvollkommenheit im Stillen entfernt, um die, den freien Aufsiug des wissenschaftlichen Lebens hemmenden Hindernisse im­ mer mehr zu beseitigen, und die vaterländische Hoch­ schule mit den übrigen, theils neu begründeten, theils neu organisirten Universitäten Teutschlandö auf gleiche Linie der innern und äußern Vortrefsiichkeit zu stel­ len. — Für das dringend gefühlte Bedürfniß gu­ ter Landschullehrer wurden die Seminarien zu Dres­ den, Weißenfels, Zeitz, Luckau, Budissin, Freyberg und Plauen errichtet, und durch eine Verordnung im Jahre 1805. auch die gleich nöthigen Verbesse­ rungen der Bürger • und Landschulen und des Ge­ halts ihrer Lehrer vorbereitet, so wie, während der Regierung unsers Königs, die Magistrate zu Leip-

247 zig, Dresden und Naumburg in der Stiftung zeit­ gemäßer und nach den Fortschritten der Erziehungs­ wissenschaft eingerichteter Frei - und Bürgersyulen den übrigen größern und Mittelstädten unsers Va­ terlandes mit regem Eifer vorangingen. Doch nicht blos die Universitäten und die gelehrten Bildungs­ anstalten des Landes verdankten der Huld des Kö­ nigs ein frischeres Leben; es wurden auch während seiner Regierung die Bergakademie zu Freyberg und die Forstakademie zu Tharant ins Daseyn gerufen, so wie die Ritterakadcmie, die Milirairakademie und die chirlirgisch - militairsche Akademie, nebst der Thier­ arzneischule, unter erweiterten und sehr vervollkomm­ neten Verhältnissen neu organjsirt. Nur einseitig würde aber die Cultur erscheinen, wenn sie blos die Sphäre der Wissenschaft umschlös­ se, und nicht auch den Kunstsinn eines reifenden und zur Mündigkeit fortschreitenden Volkes weckte und nährte; wenn sie nicht, neben der intellektuellen Reife, auch die ästhetische begründete, den Ge­ schmack läuterte und veredelte, und das Heiligthum der schönen Kunst eröffnete. Schon seit einem Jahr­ hunderte war, unter der glanzvollen Regierung der beiden Auguste, viel für die Kunst in Sachsen, na­ mentlich in der Hauptstadt des Landes, durch An­ kauf und Aufstellung reicher Kunstschähe geschehen; das sächsische Florenz erlebte damals das Zeitalter seiner Mediceer. Selbst der Vater unsers Kö­ nigs, der edle Churfürst Friedrich Christian, verewigte die zwei kurzen Monate seiner Regierung dadurch, daß er die schon früher in Dresden beste­ hende Mahlerakademie zu einer Akademie der zeich­ nenden und bildenden Künste erweiterte, und durch einen erhöhten Fond reichlich ausstattete, mit wel-

248 cher im Jahre 1764, noch während der Ai inderjäh« rigkeit unsers Königs, die Leipziger ZeichnungS-, Mahlerei- und Architecturakademie, als Filialanstalc, verbunden ward, die besonders durch die von ihr ausgegangene Anwendung der Künste auf die techni­ schen Gewerbe für unser Vaterland ihre wohlthätigen Einflüsse bewährte. Allein dun eignen reinen und geläuterten Kunstsinne unsers Königs verdankt es Dresden, daß daselbst die schon vorhandenen Kunst­ sammlungen nicht nur beträchtlich vermehrt, und na­ mentlich durch den Ankauf der Mengsschcn Gypsabgüsse erweitert, sondern auch für den Genuß des In - und Ausländers so trefflich aufgestellt, für daS Studium der Kunst mit so vieler Liberalität eröff­ net, und unter so einsichtsvolle Leitung gebracht wur­ den, daß kein teutscher Staat in dieser Hinsicht mit Sachsen verglichen werden kann, und selbst grö­ ßere europäische Reiche demselben, nach dem Reichrhume und der innern Vortrefflichkeit seiner Kunst­ sammlungen, nachstehen. Doch nicht blos die Mah­ lerei und Plastik, auch die Tonkunst und Schauspiel­ kunst, erreichten während der letzten 50 Jahre einen hohen Grad der Vollkommenheit in unsrer Mitte; selbst die Baukunst und die schöne Gartenkunst blie­ ben nicht zurück, wenn gleich die letztere mit den Schwierigkeiten unsers nördlichen Klima zu kämpfen hat. Allein die schönste Blüthe im Kranze menschli­ cher Cultur ist die freie Entfaltung des sittlich« religiösen Lebens, wodurch die intellektuelle und ästhetische Cultur eines Volkes erst ihre feste Hal­ tung gewinnt. Denn die sittlich-religiöse Cultur ist eS, welche die gesummten Kräfte des menschlichen Geistes harmonisch umschließt, und dadurch den Geist

249 der Völker zur Mündigkeit und Reife erhebt. — Mit dem Bewußtseyn der Wahrheit und Ueberzeu­ gung dürfen wir es aber heute laut bekennen, baß der Charakter des sächsischen Volkes auf den sittli­ chen Grundeigenschaften der Gewissenhaftigkeit, der Frömmigkeit, der Treue im Berufe,' der Häuslich­ keit und Ordnung, des Gehorsams gegen die Gesche, der Liebe gegen den König, der sorgfältigen Erziehung der Kinder, des Fleißes und der Sparsamkeit, und der Einfachheit der Sitten und des äußern Le­ bens beruht. Noch sind die Tempel Gottes in un­ serm Vaterlande zahlreich besucht; noch gilt in un­ srer Mette Treue und Glauben; noch nie wankte die Treue und Anhänglichkeit unsers Volkes an sein an­ gestammtes verehrtes Fürstenhaus; noch herrscht im Kreise unzähliger Familien ein edler, geselliger Geist, und eine Stärke des Charakters, welcher durch die Leiden der letzten Jahre nicht erschüttert, sondern befestigt und erhöht worden ist. Mit diesen Grundeigenschafien des sächsischen Volkes steht, in der Mitte seiner gebildeten Stände und selbst der untern Bürgerclassen, eine Feinheit der äußern Sitten, eine wohlwollende Gutmüthigkeit und eine natürliche Un­ befangenheit in der äußern Ankündigung in Verbin­ dung, welche selbst den Ausländer, der unsern Bo­ den betritt, für unser Volk gewinnen. Lassen Sie uns aber dabei nicht vergessen, daß das erhebende Beispiel aller dieser Tugenden, das Beispiel echter Frömmigkeit und Religiosität, des häuslichen Glückes der Ordnung, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Treue, den «Dachsen seit fünfzig Jahren vom Throne ihres Fürsten entgegen leuchtet; daß dieselben Grund­ sätze die erlauchte Gemahlin des Königs mit ihm theilt, und daß das glücklichste Familienbanv die

250 königlichen Brüder und die in voller Jugendkraft emporblühenden jungem Prinzen des königlichen Hau­ ses umschließt; lassen Sie uns nicht vergessen, daß die ganze Geschichte nur wenige Fürsten kennt, die in Hinsicht der strengsten Grundsätze der Sittlichkeit und Religion knit unserm Könige verglichen werden dürfen. Heil aber dem Volke, dem auf dem Wege zur sittlichen Mündigkeit das Beispiel seines Fürsten­ hauses, in allen keimn Gliedern und Zweigen, durch strenge Sittlichkeit und Religiosität ein halbes Jahr­ hundert hindurch'voranleuchtet! Bei einem so guten, an trefflichen Eigenschaften so reichen Volke, wie das sächsische, konnte ein solches Beispiel unmöglich verloren gehen; es mußte nothwendig die Mehrzahl dieses Volkes selbst zur sittlichen Mündigkeit erheben!

4. Diese ausgezeichneten und geschichtlich erwiesenen Vorzüge des sächsischen Volkes in feinem geistigen Leben, welche seine erreichte Mündigkeit verbürgen, stehen aber mit der vierten und letzten Grundbedin­ gung der Mündigkeit eines Volkes — mit der un­ bedingten Herrschaft des Rechts in der Verfassung und Verwaltung desselben — in der genauesten Verbindung, so daß eben diese Herrschaft des Rechts im Umfange des Staatslebens über die Mündigkeit des Volkes entscheidet. Denn sobald wir -bei der Geschichte der gebildeten und fortgeschrittenen Völker und Staaten des Alter­ thums und der neuern Zeit auch nur mit einem flüch­ tigen Blicke verweilen; sobald finden wir, daß alle Völker und Staaten bei dem Fortschreiten zur Mün­ digkeit, nach der Herrschaft des Rechts in

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ihrem äußern Leben strebten, und daß alle Gesetzge­ bungen, alle Verfassungen und alle Verwaltungssormen der alten und der neuern Welt nur nach die­ sem höchsten Maasstabe in Hinsicht ihres wahren Werthes, und in Hinsicht ihres Einflusses auf das Mündigwerden der Völker beurtheilt werden müssen. Es ist die Herrschaft des Rechts, nach welcher wir fragen, wenn wir die Gesetzgebungen des Zoroaster, des Drako, des Solon und Lykurg nach ihren Ein­ flüssen auf die Völker würdigen, denen sie gegeben wurden. Die Herrschaft des Rechts ist der Maas­ stab, den wir an die Gesetzsammlungen des Theo­ dosius und Justinian, an die Capitularien der Ka­ rolinger, an den Sachsen- und Schwabenspiegel, an die neuen preußischen, östreichischen und französi­ schen Gesetzbücher, und an die seit den letzten dreißig Jahren dies- und jenseits des atlantischen Oceans, an der Seine, wie an der Weichsel, an dem Potowmak, wie an dem Mississipi, im skandinavischen Nor­ den, wie in dem Herzen Teutschlands neu entständenen schriftlichen Verfassungsverträge legen. Wenn denn nun auch die bisher im Königreiche Sachsen geltende Verfassung nicht auf einem ge­ schriebenen Grundgesetze beruht, und überhaupt in ei­ nem Zeitalter sich bildete, wo außer Großbritanniens magna charta, und außer der unter dem Kaiser Friedrich dem Dritten für das teutsche Reich entwor­ fenen — aber nicht ausgeführten — Reformation *),

*) Verql. Goldasts Reichssahungen Tb I., ©. 166 ff. Müllers Reichstagstheatrum, Th. 1, Vorstell 1, S.57 ff. — und Georg Wilh. Böhmer, Kaiser Friedrichs 3. Ent­ wurf einer magna charta für Teutschland, oder die Reforma­ tion hiests Kaisers vom Jahre 1441. Götting, 1818. 8.

252 noch nirgends im Umfange der europäischen Staaten ein geschriebener Grundvertrag bestand; so kennt doch bereits das ausgehende zwölfte Jahrhundert, in dessen zweitem Viertheile die Dynastie Wettin zum erblichen Besitze der Meißner Mark gelangt war, land­ ständische Versamlungen innerhalb unsers Va­ terlandes, und also zu einer Zeit, wo einer land­ ständischen Verfassung in andern teutschen Ländern noch nicht gedacht wird, und wo mehrere große eu­ ropäische Reiche ohne alle gesetzliche Verfassung, ohne alle Beziehung von Ständen, blos nach dem unbe­ schränkten Willen des Staatsoberhauptes und seiner unmittelbaren Rathgeber regiert wurden. Dabei dür­ fen wir nicht vergessen, daß, wenn gleich die land­ ständische Verfassung unsers Vaterlandes im Laufe der Jahrhunderte mehrere Veränderungen erfuhr, und auch in unsern Tagen mancher zeitgemäßen Ver­ besserung fähig ist, dennoch mit derselben die allmählig, und besonders seit des großen Staatswirths des Churfürsten August Zeiten, ausgebildeten Formen der Verwaltung in genauer Verbindung standen; daß durch die, während der Regierung unsers Königs verbesserte, Verwaltung der Justiz und der Finan­ zen manche Mängel der Verfassung selbst minder fühlbar wurden; hauptsächlich aber, daß der König, nach erlangter Souverainetät, die ständische Verfas­ sung in seinen Staaten, wie ehemals, fortbcstehen ließ, während dieselbe in vielen andern teutschen Län­ dern seit dem Jahre 1806 mit Einem Federstriche vernichtet ward, bevor noch der dreizehnte Artikel der teutschen Bundesacte vom Jahre J 815 die Errich­ tung ständischer Verfassungen in allen teutschen Bun­ desstaaten zum Grundgesetze erhob. Wir können da­ her heute, am Jubelfeste unsers Königs, mit gerrch-

tkM Stolze rühmen: daß gewiß in wenig teutschen und europäischen Staaten während des leHtverfiossenen halben Jahrhunderts das Recht, und einzig das Recht, so unbedingt geherrscht habe, als in unserm Vaterlande. Fremd blieben dem sächsischen Boden die Machtsprüche einer unbeschränkten Gewalt und der sogenannten Kabinetsjustiz, die Greuel der ge­ heimen Polizei, die willkührlichen Verhaftungen und Einkerkerungen ohne gesetzliche Form, und die engher­ zigen Beschränkungen des Gedankens und der Presse. Die Tortur, jener Ueberrest der Barbarei des Mit­ telalters, ward bereits im Jahre 1770 abgeschafft; die vormals häufigen Todesstrafen wurden im Jahre 1783 bei mehrern Verbrechen aufgehoben; nur selten stoß das Blut der durch bestimmte Gesche rechtlich verurthcilten Verbrecher; ältere strengere Gesche wur­ den zeitgemäß verändert oder beseitigt; neue Gesehe, welche daö Bedürfniß einer jünger« Zeit herbeiführte, sprachen zu dem Volke in einem ernsten, aber milden und väterlichen Geiste; die Mitglieder der verschiede­ nen christlichen Religionsbekenntnisse wurden in bür­ gerlicher Hinficht einander gleichgestellt; die Rechts­ pflege war, wenn gleich nicht schnell, doch durch­ gehends gründlich, unparteiisch, unbestechlich, gewis­ senhaft, und ward besonders in Hinsicht des peinlichen Rechts zu den gereinigtern Ansichten einer jünger« Zeit fortgeführt; die Grundfeste aller bürgerlichen Ordnung und Zufriedenheit, das Eigenthum der Staatsbürger, blieb heilig und gesichert; nie fiel für auswärtige Subsidien ein Sachfe auf fremdem Bo­ den, und nur ungern nahm der König Antheil an den politischen Kämpfen seiner Zeit; denn erst dann zog er daß Schwert, wenn seine Verpflichtungen als Churfürst des teutschen Reiches, oder feierliche Vor-

254 träge, die er als Mann von Wort pünktlich erfüllte, feine Theilnahme verlangten. So. häufig in den sechs ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunde, ts die Gelegenheit, ja selbst die äußere Veranlassung sich darbot, den sächsischen Staat durch Erwerbung und Einverleibung anderer Länder zu vergrößern; so fest verwarf doch der Charakter des Königs jeden Gedanken der herrschend gewordenen Arrondirungspolitik. Ihm gnügte an der Treue seiner Sachsen, an dem mäßigen Umfange seines ererbten Staates. Nach denselben Grundsätzen lehnte er im Jahre 1791 die ihm von den Polen freiwillig angebotene Königs­ krone ab, und wenn er, unter ganz veränderten Ver­ hältnissen, sechszehn Jahre später die Regierung des Herzogthums Warschau übernahm; so zeigte sich die reine Uneigennützigkeit seiner Grundsätze, bei dieser Erweiterung seiner Regentensorgen, dadurch, daß er auf die ihm angewiesenen Kroneinkünfte aus diesem Herzogthume, welche jährlich viertehalb Millionen Gulden betrugen, zum Besten desselben gänzlich ver­

zichtete. Und welche Ordnung herrschte seit seinem Regier rungsantritte in den Finanzen, um den, unter seinem frühzeitig verewigten Vater entworfenen, Plan zur Tilgung der Landeeschulden gewissenhaft zu voll­ ziehen, so daß von den 29 Millionen Thalern Steu­ erschulden und 9 Millionen Thalern Kammerschul­ den, welche nach dem Huberrsburger Frieden auf Sachsen hafteten, bereits die kleinere Hälfte in den glücklichen Friedensjahren getilgt worden war, welche den Verwüstungen des letzten Zeitraums vorausgin­ gen. Denn 1,400,000 Thaler waren jährlich blos zur Verminderung der sächsischen Steuer- und Kam­ merschulden bestimmt; und welche Freude würde am

255 heutigen Tage daS väterliche Herz des Königs erho­ ben haben, wenn der Wunsch dieses edlen Herzen erfüllt und sein Land an diesem Tage ganz schul­ denfrei gewesen wäre! Wie sparsam beschränkte er, für diesen Zweck, den Aufwand des königlichen Haushalts; wie überraschte seine Großmuth die ver­ sammelten Stände des Landes, als er denselben zwei, ihm bei dem Beginnen des bayrischen und des fran­ zösischen Krieges auf den Credit des Landes ausge­ stellte, Urkunden von 2 Millionen Thalern in den Jahren 1781 und 1799 ungebraucht zuiückgab; wie schwer entschloß er sich zu dem Anträge einer durch die Zeitverhäitnisie gebotenen Erhöhung der Steuern; welche Pünktlichkeit herrschte in der Er­ füllung aller übernommenen Verbindlichkeiten und in der Zahlung aller Besoldungen der Staatsdiener, die in den Augenblicken bevorstehender Gefahr selbst im Voraus geleistet wurden; und welche Ordnung be­ zeichnete überhaupt das sächsische Finanzsystem, seit im Jahre 1782 das geheime Finanzcollegium die ihm eigenthümliche Organisation durch die Ver­ einigung des Kammer- und Bergcollegiums und der Generalhauptcasse erhielt! Wie gerecht und wohl­ thätig war, nach den Kriegsstürmen im Jahre 1806 und 1807, die Errichtung der Landescommission für die gleichmäßige Vertheilung der über die einzelnen Provinzen des Staates gekommenen Verluste und drückenden Beschwerden; und wie viel that das vä­ terliche Herz des Königs in der Hungersnoth der Jahre 1772, 1805 und 1816 für die Bewohner der Gebirgsgegenden! Wie unerschütterlich war aber auch, im Laufe dieser 50 Jahre, der Glaube eines jeden Sachsen an das gegebene königliche Wort; wie sicher war der

256 Werth des sächsischen Papiergeldes, wie fest der sächsische Staatöcredit im In - und Auslands gegrün­ det; wie leicht kamen alle inländische Anleihen, ge­ stützt auf Wort und Glauben, zu Stande! — Und warum sollen wir es heute verschweigen, was dem Charakter des sächsischen Volkes und der sächsischen Regierung zur unverwelklichen Ehre gereicht: daß die wichtigsten Fortschritte des sächsischen Volkes zu sei­ ner Mündigkeit, und die angemessensten Anstalten und Verfügungen der sächsischen Regierung, diese Mündigkeit herbeizuführen, während der fünfzigjäh­ rigen Regierungszeit des Königs ohne äußeres Geräusch, beinahe im Stillen, und ?zum Theile Len übrigen Staaten unbekannt erfolgten; daß kein Zcitungslvb dieselben verkündigte, und daß der ein­ fache Geist unsrer Regierung und unsers Volkes dies alles so unbemerkt leistete und vollendete, als könnte es nicht anders seyn. Denn so wie unser Volk nie eine Spur der Eitelkeit verrieth, über an­ dere Völker durch seinen Wohlstand, durch seine Cultur und durch den erreichten Grad seiner Reife sich zu erheben; so frei erhielt sich auch unsere Regie­ rung von der Nachahmung des blendenden und ver­ führerischen Beispiels, das in neuern Zeiten häufig gegeben ward, sich im Viel regieren, im bestän­ digen Aendern und Wechseln der Verfassungs- und Verwaltungsformen, zu gefallen, während die säch­ sische Regieruug, der Festigkeit ihrer Grundsätze und dem guten Geiste ihres Volkes vertrauend, so we­ nig als möglich regierte, d. h., so wenig als mög­ lich durch eingreifende und gewaltsame Verändcrung-.n die ihr anvertrauten Rechte der höchsten Gewalt im öffentlichen Staatsleben geltend machte. Unver­ kennbar ist dadurch die Eigenthümlichkeit des

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sächsischen Volkes, in seinem Jahrhunderte Hindurch bewährten Charakter deö stillen, gründlichen Fleißes, des bescheidenen, tiefen Forschens, des nicht über­ zeitigen, aber desto sichern Fortschreitens im Wah­ ren, Schönen und Guten, und der unerschütterlichen Treue gegen den König und seine Dynastie, nach ihrer Reinheit erhalten, und dieser Grundzug unsers Volkes zu einer Gediegenheit ausgeprägt worden, welche die stärksten Stürme der Zeit mit Kraft und Ehre bestand, und von dem Könige selbst, nach sei­ ner Rückkehr in die Mitte seines Volkes, durch die Stiftung des sächsischen Civilverdienstordens aner­ kannt ward. Es blieb aber auch Sachsen, während der Re­ gierungszeit des Königs, hinter den übrigen teut­ schen Staaten in Hinsicht der Verbesserung der ein­ zelnen Verwaltungszweige imJnnern nicht zurück. So erhielt die Justiz pflege dadurch eine durchgreifende Verbesserung, daß der König im Jahre 1784 die Verpachtung der Justizämter aufhob, und das Rentwesen völlig von der Gerechtigkeitspflege trennte; so wurden zur Entwerfung neuer Civil- und Criminalgesehbücher besondere Commissionen errichtet; so erhielten das Appellationsgericht bereits im Jahre 1788, das Finanzcollegium sogleich nach der Thei­ lung Sachsens, und die Landesregierung in gegen­ wärtigem Jahre eine neue Einrichtung; so ward der Wirkungskreis des geheimen Rathscollegiums im vo­ rigen Jahre neu bestimmt, nachdem schon vorher die Sphäre der Thätigkeit der Kreis- und Amtshaupt­ leute bedeutend erweitert worden war. Das sächsi­ sche Heer, im Jahre 1810 nach seinen innern und äußern Formen neu organisirt, bewährte in den Weltkämpfen des letzten Jahrzehnts den Ruf der Pölitz vcrm. Schr. Th. 1.

17

258 Tapferkeit des sächsischen Namens. Für die Vcrtiufachung und leichtere Uebersicht des Geschäftsgan­ ges bei diesem wichtigen Zweige der Staatsverwal­ tung wurden das geheime Kriegsrathscollegium und das Generalkciegsgerichtscollegium in die Kriegsverwaltungskammer und in die geheime Kriegskanzlei umgewandelt. Die Polizei des Landes, mit Aus­ nahme der in den beiden wichtigsten Städten bestehen­ den besondern Polizeicollegien, nach ihren wesentlichen Verrichtungen den Kreis- und Amtshauptleuten an­ vertraut, soll eben so die Ordnung und Sicherheit umschließen, wie sie die Cultur und den Wohlstand derselben zu berücksichtigen hat. Für die Begründung und Erhaltung der Ordnung und Sicherheit im In­ nern wurden, bereits in den frühern Regierungsjah­ ren des Königs, neben dem ältern Zuchthause zu Waldheim, die Zucht-und Arbertshäuser zu Torgau und Zwickau, und daö Arbeitshaus zu Coldih, so wie später die Gensd'armerie errichtet. Menschen­ freundlich ward für das Schicksal der- Waisen, der Soldatenknaben, der Taubstummen, der Blinden und der Irren durch besondere, zum Theile trefflich eingerichtete, Anstalten gesorgt, und durch die Stif­ tung des Sanirätscollegiums in Dresden, so wie durch die Errichtung der Brandassecuranz, den zeit­ gemäßen polizeilichen Bedürfnissen abgeholfen.

Doch wer vermöchte in dem kurzen Umfange eines einzigen akademischen Vortrages alles das Gute und Treffliche zusammenzudrängen, welches die 50jährige Regierung unsers Königs in unserm Vaterlande theils sorgsam erhielt und weiter fortbildete, theils neu begründete und zu einem frischen und kräftigen

259 Leben erhob! Nur die allgemeinsten Grundzüge konn­ ten angedeutet, nur das Wichtigste konnte herauögehvben werden, um die große Aufgabe, die wir uns heute vorgezeichnet hatten, geschichtlich zu erweisen: daß während der 50jährigen Regierung unsers Kö­ nigs das sächsische Volk dem schönen Ziele der Mündigkeit bedeutend sich genähert habe. Als solches erscheint denn, an diesem in unserer vater­ ländischen Geschichte bis jetzt einzigen Jubelfeste, unser gutes, gebildetes und gereiftes Volk. Allein jeder Stillstand in der Geisterwelt ist unvermeidlicher Rückgang; es liegt daher in dem, was unser Volk bereits ward und erreichte, die hohe Aufforderung, immer weiter dem großen Ziele der sittlichen Vor­ trefflichkeit, in allen Verhältnissen des innern und äußern Staatslebens, entgegen zu streben. Die Blicke aller europäischen Völker sind auf uns gerich­ tet; das Urtheil der öffentlichen Meinung über unser Vaterland, über unser Volk und unsere Regierung ist, besonders seit den letzten verhangnißvollen Zeiten, nicht blos im unabhängigen Parlamente Großbritan­ niens, es ist in lauter Anerkennung der sächsischen Nationaltugenden durch auswärtige Mächte und durch die Stimme unparteiischer Staatsmänner und unbe­ fangener Schriftsteller auf unsere Seite getreten. Dies Urtheil zu behaupten und zu erhalten; das sey unser Ziel und heute unser Gelübde! Besonders rechnet in dieser großen und heiligen Angelegenheit das Vaterland auf Sie, seine edlen Jünglinge voll Einsicht, voll Wahrheitssinn, voll Much und Kraft für Pflicht und Recht, damit, bei Ihrem künftigen Eintritte in das höhere Staatsleben, unsere ferne Nachkommenschaft mit Rührung und Dank auf die Regierungszeit unsers Königs zurückblicke, 17*

260 mit welcher das Zeitalter der Reife unsers Volks begann- Vergessen Sie nie, wie.groß die Ansprüche eines zur Mündigkeit gelangten Volks an die Män­ ner sind, welche die heiligsten Angelegenheiten dieses Volkes — die Religion, die Sittlichkeit, die Herr­ schaft des Rechts, die öffentliche Sicherheit, Ord­ nung und Wohlfahrt, den geistigen Fortschritt, und die Stellung desselben in der Mitte des europäischen Staatssystems — dereinst in der Nähe des könig­ lichen Throns, in den Verhandlungen mit dem Aus­ lande, in den verwaltenden Behörden, in den Ge­ richtshöfen, auf den Lehrstühlen dieser Hochschule, in den Kirchen und Erziehungsanstalten, und in der Mitte des vaterländischen Heeres leiten sollen. Ver­ gessen Sie nie, daß ein mündig gewordenes Volk in allen diesen Best Hungen mehr verlangt, als ein Volk in der 'politischen Kindheit, und geben Sie an einem Tage, wie der heutige, den Keiner von Ihnen wieder erleben wird, mit aller Begeisterung einer vollkräftigen Jugend, sich das heilige Wort, daß Sie Ihre künftige Wirksamkeit und Ihren Ein­ stuß auf dus Vaterland, auf tiefe und anspruchslose Gelehrsamkeit in jedem Zweige des menschlichen Wis­ sens ; auf Vielseitigkeit der Kenntnisse, ohne doch der Oberstächlichkeit sich hinzugeben; auf rastlosen Fort­ schritt in geistiger Bildung, welcher allen Stillstand von sich auöschlicßt; auf männliche Kraft, mit Ernst und Würde in der äußern Ankündigung unzertrenn­ lich verbunden, und auf eine Charakterfestigkeit grün­ den wollen, die nur dann uns ins reifere Alter be­ gleitet, wenn sie bereits in den schönen Tagen der Jugend erworben und behauptet ward. Durchdringt Sie an dem heutigen Tage die heilige Glut dieses Entschlusses; dann wird Gott mit Ihnen in Ihrem

261 ganzen Leben seyn, und unser Vaterland, unser Volk, darf seine künftigen Fortschritte iti der Mündigkeit mit Zuversicht von den mündig gewordenen und ge­ reiften Söhnen der einzigen ihm gebliebenen Hoch­ schule erwarten! So mische sich denn in die Töne des Jubels,

des Dankes und der Rührung, die in wenigen Ta­ gen für unsern König und Vater in den Tempeln des Allmächtigen cmporsteigen werden, der feste Entschluß eines Jeden, der den sächsischen Namen führt: die M ü n d i g k e i t dieses, durch seinen Cha­ rakter, durch seinen Fleiß, durch seine geistige Bil­ dung und durch seine sittliche Güte, reif gewordenen Volkes nicht nur an seinem Theile zu bewahren, son­ dern auch in seinem gegenwärtigen und künftigen Wirkungskreise weiter forczuführen zu dem auf Er­ den erreichbaren höchsten Ziele. Wie bisher, so sey fortan in Sachsen Fürst und Volk aufs innigste und unzertrennlichste verbunden; denn die heiligsten Ban­ de, — die Bande der öffentlichen Wohlfahrt, der geistigen Bildung und der Herrschaft des Rechts —

umschlingen beide seit 50 Jahren, und sollen und werden das sächsische Volk und seinen Fürstenstamm aus der Dynastie Wettin, mit allen den Thron un­ sers Königs heute umgebenden Prinzen und Prinzes­ sinnen seines Hauses, und mit der fernsten Nachkom­ menschaft derselben, so lange umschließen, als der sächsische Name der Geschichte Teutschlands und Europa's angehört! — Du aber, unendlicher Geist, der du die Völker der Erde zur sittlichen Mündigkeit bestimmest und *) Der König hatte die religiöse Jubelfeier auf den nachsten Sonntag, d. 20. Sept., verlegt.

26 2 erziehest; der du ihnen Fürsten giebst, welche dein Bild hienieden seyn und deine Stelle in der Erzie­ hung und Fortbildung der Völker vertreten sollen; nimm den Dank unsers Herzens für einen König an, der dir und dem ihm anvertrauten Volke die schönste Kraft des irdischen Lebens durch fünfzig Jahre weihte; nimm unser Gelübde der reinsten Ehrfurcht, des innigsten Vertrauens und der kindlichen Liebe für diesen Fürsten und für alle Glieder seines Hau­ ses an, und würdige unser Heises Gebet um das lange Leben unsers königlichen Vaters der Erhörung! Dann aber, wenn du ihn spät am Abende seines wohlthätigen segensvollen Lebens zu dir berufst; dann vergilt ihm nach deiner unendlichen Macht alles Gute, was er seinem Volke erzeigte, und führe ihn zu dem Lichtglanze, zu dem Lohne und zu der Jubelfeier dec bestem Welt, wo jede irdische Saat, — selbst die Saat der Thränen, — in eine Ernte der Freude

verwandelt wird; dann reiche Ihm, dem Gerechten, dem Gütigen, dem geprüften Dulder, die Krone des ewigen Lebens! —

13. Die drei Systeme der Staatswirthschaft in

Beziehung auf die Staatsverwaltung im Königreiche Sachsen. (Ein akademischer Vortrag.) *)

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König,

Allergnadigster König und Herr. Als Ew. Majestät Entschluß mir

bekannt ward,

meinen heutigen Vortrag mit Höchstdero Gegenwart zu beehren, mußte die Wahl des Gegenstandes, über welchen ich sprechen sollte, für einen Augenblick mit Verlegenheit mich erfüllen. Allein die Vergegenwär­ tigung der hohen Bestimmung des mir übertragenen Lehramtes der Staatswifsenschaftcn, so wie daß EwMajestät die Stunde gewählt hatten, in welcher ich *) Se. Maj., der König 2( n t o n von Sachsen, wollte, nach eingenommener Erbhuldigung zu Leipzig (24. Octbr.) die Vorlesungen mehrerer Professoren, uno unter diesen auch beu Hörsaal des Verfassers am 7. November in dem Bortrage der Finanzwissenschaft mit Seiner höchsten Gegenwart be­ ehren. Allein an diesem Tage starb, nach kurzem Krankenla­ ger, Jhro Majestät, die regierende Königin, in Leipzigs Mitte.—• So konnte die nachstehende Vorlesung nicht gehalten werden; sie erscheint aber hier ganz in der Form des akademischen Vor­

trags, wo, bei dem kurzen Umfange einer Stunde, manches nur in den allgemeinsten Umrissen angedeutet werden konnte.

264 im Laufe dieses Halbjahres die Finanzwissen» schäft öffentlich lehre, verbunden mit dem erheben­ den Bewußtseyn, daß ich nach Geburt und Amt, und, was noch mehr sagen will, daß ich mit der festesten Ueberzeugung von der Güte der vaterländi­ schen Verfassung, Regierung und Verwaltung, und mit dem wärmsten Herzen für dieses mir unaussprech­ lich theure Vaterland, ein Sachse bin; — diese doppelte Rücksicht mußte sogleich darüber entschei­ den, in dem kurzen Umfange dieses Vortrages eine Uebersicht zu versuchen

über die drei Systeme der Staatswirthschaft in Beziehung auf die Staatsverwaltung im Königreiche Sachsen. In den meisten Wissenschaften und Künsten, zu welchen allmählig der menschliche Geist sich erhob, ging die Praxis der Theorie voraus. So gab es große Tonkünstler, bevor die Grundsätze der Ton­ kunst wissenschaftlich ausgeprägt wurden. So wirkte schon seit Jahrhunderten die Macht der Beredsamkeit auf das menschliche Gemüth, ehe die Theorie der Beredsamkeit versucht ward- So sangen Homer und Pindar ihre unsterblichen Lieder, bevor der philoso­ phische Scharfsinn zwischen lyrischer, diactischer, epi­ scher und dramatischer Form der Dichtkunst unter­ schied. Auf ähnliche Weise im Kreise der Wissen­ schaften. Man handhabte das Recht unter den Völ­ kern, bevor es geschriebene Civil - und Strafgesetz­ bücher gab. Die Tugend ward geübt und der Stim­ me des Gewissens gefolgt, ehe die Weisen Griechen­ lands den ersten Versuch wagten, die Sittcnlehre wissenschaftlich zu gestalten. Die Staaten wurden

265 regiert, bevor es ein Staatsrecht, eine Politik, eine Polizei- und Finanzwissenschaft gab. Nach solchen Thatsachen der Geschichte konnte es nicht anders geschehen, als daß die Theorie am Lichte der Erfahrung und der Praxis erwuchs, und daß, mit der Erweiterung der Praxis, auch allmählig die systematische Gestalt der Wissenschaften eben so an Umfang, wie an innerer Ordnung und Festigkeit gewann. Als aber die Wissenschaften im Laufe der Zeit zu dieser systematischen Ausbildung und Gestal­ tung gereift waren; so enthielten sie wieder den Maasstab der Prüfung und Entscheidung für alles, was in der Praxis als wahr, haltbar und mißlich sich ankündigte. Daraus folgt, daß, bei dem ge­ genwärtigen hohen Standpuncte der Wissenschaften, weder die Theorie der Praxis, noch die Praxis der Theorie entbehren kann, und daß namentlich für alle künftige Staatsbeamte und Diplomaten die gründliche Erlernung der Staatswissenschaften vor­ ausgehen muß, bevor sie mit sicherm Blicke und festem Tacte die einzelnen, unter sich im nothwen­ digen Zusammenhänge stehenden, Zweige der Staats­ verwaltung zu übernehmen, und, nach einem wis­ senschaftlichen Maasstabe, über die Gültigkeit und Ausführung irgend einer Theorie zu entscheiden ver­ mögen. Diese gründliche Erforschung der Theorie wird aber dann besonders wichtig, wenn mehrere, nach ihren Grundsätzen und nach ihrer Anwendung we­ sentlich von einander verschiedene, Systeme theils in der Praxis der Verwaltung versucht, theils in der Theorie vollständig aufgestellt und durchgebildet worden sind, wie dies namentlich in der Staatswirthschaftslehre geschah, seitdem die europäi-

266 schen Staaten in den drei letzten Jahrhuirderten ju einer fester» Gestaltung ihres innern lind äußern Lebens gelangten.

1. Denn drei, in den wichtigsten Grundsätzen von einander abweichende, Systeme sind in der StaatSwirehschaftslehre ausgestellt, und, was noch weit einstußreicher war, in der Staatsverwaltung einzel­ ner Reiche versucht und festgehalten worden: das Merkantilsystem, das physiokratische Sy­ stem und das System des Schotten Adam Smith, das man nur sehr uneigentlich als Jndustriesystem bezeichnen kann. a) Das Merkantilsystem, welches früher in der Praxis geübt, als theoretisch aufgestellt ward, erhielt seine Benennung von der auSschliesienden Be­ günstigung des Gewerbswesens und Handels im Staate, mit Vernachlässigung und Hintansetzung des Feldbaues und der gcsammten einzelnen Zweige der Landwirthschaft überhaupt. Als höchster Grundsatz des Merkantilsystems gilt: Nur Metallgeld ist Reichthum; der Reichthum eines Volkes besteht daher in der möglichst größten Masse von Gold und Silber, als der edelsten Metalle. Wäre dieser Grundsatz richtig; so hätte die Staatsverwaltung zunächst die Aufgabe zu lösen: so viele edle Metalle, als möglich ist, ins Land zu zie­ hen, und so wenig davon, als nur immer geschehen kann, aus dem Lande zu lassen. Um aber diesen Zweck in der Staatsverwaltung zu verwirklichen, wurden gewöhnlich alle Mittel des Eigennutzes und des Zwanges im Innern des Staates, und die schlaue-

267 sten diplomatischen Künste der Ueberlistung und der Bevortheilung der auswärtigen Staaten, so wie ge­ gen minder mächtige Nachbarn nicht selten Drohung und Gewalt, in Bewegung gesetzt. Bald verbot man die Ausfuhr des Goldes und Silbers ins Aus­ land völlig, unter Androhung der härtesten Strafen; bald suchte man diese Ausfuhr durch hohe Abgaben zu erschweren; bald verbot man die Einfuhr fremder Erzeugnisse unbedingt, damit das inländische Geld nicht dem Auslande zuströmen möchte; bald legte man auf die Einfuhr fremder Güter so hohe Zölle, daß dem Inländer die Lust vergehen möchte, sein Geld an ausländische Erzeugnisse zu setzen; bald glaubte man die Ausfuhr der inländischen Erzeug­ nisse, und dadurch den Erwerb des Geldes der Aus­ länder am sichersten zu erreichen, wenn man den Kaufleuten, welche inländische Erzeugnisse dem Aus­ lande zuführten, durch sogenannte R ü ck z ö l l e die Abgaben vergütete, die sie bereits davon entrichtet hatten, oder wenn man durch Ausfuhrprämien sie lockte, die Erzeugnisse des Inlandes zu vermeh­ ren und zu vervollkommnen, und sie dem Auslande so willkommen zu machen, daß das Inland noth­ wendig durch das Gold und Silber der Ausländer bereichert werden müßte. Zur Erweiterung und Vollendung dieses Systems gehörten die an einzelne unternehmende Fabricanten und Kaufleute ertheilten Monopole; die großen Vorrechte, mit welchen besondere Kaufmannsgesellschaften zum Handel in andere Erdtheile (die sogenannten ost - und westindi­ schen Compagnicen) ausgestattet, und die Freihäftu, welche errichtet wurden. Damit stand zugleich, bei den am atlantischen Meere gelegenen Staaten, eine engherzige und drückende Behandlung ihrer Koloniem

268 in andern Erdtheilen, so wie im Jnlande nicht sel­ ten die Verschlechterung des Münzfußes in Verbin­ dung, um für den Augenblick eines vorübergehenden Gewinns, obgleich auf Kosten des eignen Credits im Auslande und der öffentlichen Meinung unter allen europäischen Staaten, sich zu bemächtigen. Durch die Anwendung aller dieser Hausmittel, so überredete man sich, glaubte man die Handels­ bilanz für sich zu gewinnen, so daß nämlich das Inland, bei seinem Handelsverkehre mit dem Aus­ lande, jedesmal im Vortheile eines UeberschusseS an eingebrachten edlen Metallen stände. Kaum bedarf dieses System einer ernsten Wider­ legung, so lang es auch gegolten, und so viel davon, selbst jetzt noch, in dec Praxis einzelner Staaten sich erhalten haben mag. Denn, abgesehen von der Unsittlichkeit des Eigennutzes und der Selbstsucht in der Grundlage dieses Systems, und von der Unge­ rechtigkeit desselben in der Behandlung aller andern selbstständigen und gleichberechtigten Staaken, ist schon der erste Grundsatz dieses Systems irrig, daß Metallgeld allein Reichthum sey. Denn nie wa­ ren Spanien und Portugal, bei allen ihren Berg­ werken und bei den Gold - und Silberminen ihrer Kolonieen, so wohlhabend und so reich, als Nieder­ land und England ohne Bergwerke und Minen. Nicht die Summe deß Metallgeldes selbst, sondern die Art und Weise, wie es durch besonnene und geordnete Arbeit erworben, wie es durch ununter­ brochenen Verkehr in Umlauf gebracht und durch den Credit der Regierung im Umlaufe erhalten, wie es für die Zwecke des individuellen und des Staats­ lebens angewandt wird; — das entscheidet über die an sich todte Masse der edlen Metalle. Dabei darf

269 nicht vergessen werden, daß dieses System den Land­ bau lähmt und niederdrückt, und mit ihm die zahl­ reiche Menschenclasse, welche von ihm lebt, weil es zunächst die Gewerbe und den Handel begünstigt; ja daß selbst die Summe für die Wiedererstattung der Rückzölle und für die Prämien bei der Ausfuhr nur aus dem Gesammtvermögen des Volkes, zur Begünstigung einiger Wenigen, aufgebracht werden müssen. Allein noch größer ist der Nachtheil dieses Systems, daß es den menschlichen Geist ganz aus einem mechanischen und blos materiellen Stand­ puncte behandelt, inwiefern seine gesummte Thätig­ keit im Kreise der Wissenschaft und Kunst blos nach dem einzigen Maassiabe beurtheilt wird, o b und wie viel dadurch Geld ins Land kommtGilt dieser Maasstab; dann wiegen freilich der Getreideund Wollhändler mehr in der Wagschale der Staats­ kunst, als Leibnitz und Platner, als Ernesti, Hin­ denburg und Haubold, und mehr als Gellert, Klopstock und Schiller. Allein dieses System trägt den Grund seiner Verwerstichkeit auch darin, daß es nie mit Strenge ausführbar ist. Denn obgleich das Merkantilsystem es beabsichtigt, den auswärtigen Staaten, wo möglich, das in deren Mitte umlau­ fende Gold und Silber, wie in gewaltsamen Ader­ lässen, abzuleiten, und den eignen Staat durch das Gold und Silber des Auslandes überwiegend zu be­ reichern; so ist doch seit den drei Jahrhunderten, in welchen das Merkantilsystem im Großen geübt ward, noch kein einziger europäischer Staat verarmt, der in dem Fleiße, in der Arbeit, und in der höhern geistigen Bildung seiner Bürger die unerschütterliche Unterlage seines Wohlstandes und seines Reichthums besaß. Wohl aber sind aus der Erbitterung, welche

270 aus dec ungerechten und übertriebenen Handhabung des MerkantilsystemS nothwendig hervorging, häufige Reibungen, Zwiste und Handelskriege zwischen den einzelnen Reichen eingetreten; und die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts weist genug davon zu er­ zählen. Noch ist es bei keiner Zolllinie, — und kosteten ihre Schlagbäume einen halben Forst; und wären ihre Aufseher noch so zahlreich, noch so gut bezahlt und noch so wachsam und streng, — gelun­ gen, die Einfuhr - und Ausfuhrverbote des Merkantilsystems völlig durchzuführen; denn was gegen die die Natur selbst und gegen die Urbedingungen des gesellschaftlichen Verkehrs unter den Menschen ver­ stößt, kann, wie jeder erkünstelte Zustand, auf die Dauer sich nicht erhalten. Was aber über dieses System zuleht völlig den Stab bricht, ist: daß, bei dem Festhalten desselben, die außereuropäischen Kolonieen, sobald sie nur et­ was an Bevölkerung und Wohlstand erstarken, nach lang verhaltenem Grolle und vielfacher Entfremdung, vom Mutterlande sich trennen; daß keine Kriege be­ denklicher und kostspieliger sind, als die eines euro­ päischen Stammlanbes mit seinen Kolonieen; sowie daß, nach der errungenen thatsächlichen Selbststän­ digkeit mehrerer vormaliger amerikanischen Kolonieen, in neuester Zeit selbst Großbritannien sich genöthigt sah, die strengen Fesseln seines so lang gehandhabten Merkantilsystems zu lüften; ja daß die in dieses Sy­ stem so keck einbedungene Handelsbilanz im Ganzen ein Traumbild ist, weil, wenn wirklich jeder einzelne Staat mit dem Auslande immer und durchgehends die Bilanz, mithin den Ueberschuß des baaren Gel­ des, für sich hatte, diese Bilanz zuleht der Luft­ pumpe gleichen würde, welche den unter sie gebrach-

271 ten

Geschöpfen

den

letzten Athemzug

des Lebens

entziehet. Doch schon zu lange haben wir bei einem Sy­ steme verweilt., gegen welches die Sittenlehre, dos Natur. und Völkerrecht, und selbst die alltägliche Staatsklugheit sich erklären, weil es im Innern der Staaten die Landwirthschaft und das frische geistige Leben niederhält, nach außen entzweit und erbittert, und — dieser Gebrechen ungeachtet — dennoch sei­ nes Zweckes verfehlt. b) Ganz anders lauten die Grundsätze des physiokratischen Systems, dessen Begründer Que6nay, der Leibarzt des Königs Ludwig des fünf­ zehnten von Frankreich, war, obgleich schon vor thm der weise Minister Heinrichs des vierten, Sully, practisch im Geiste dieses Systems gehandelt, und, durch die unter seiner Verwaltung begonnene Blüthe des Ackerbaues, einen höher» Wohlstand über Frank­ reich gebracht und die Schuldenlast des Reiches be­ deutend vermindert hatte. Das pHysiokratische System beruht auf dem Grundsätze: daß die höch­ ste Blüthe des Landbaues die einzige Quelle des Völkerreichthums, mithin der reine Er­ trag der aus dem Landbaue gewonnenen Erzeugnisse die einzige Quelle der Staatskräfte, und deshalb dec Staat blos zu einer einzigen Steuer von diesem reinen Ertrage des Bodens — zur Grundsteuer — berechtigt sey. Im Geiste dieses, mit mathematischer Schärfe berechneten und durchgeführten, Systems zerfielen alle Staatsbürger in zwei Classen: in die productive und in die sterile. Zur ersten sollten alle gehören, welche Grundeigenthum besitzen, oder die Landwirthschaft nach allen ihren einzelnen Zweigen betreiben, und

272 durch sie einen reinen Ertrag erzeugen; zur zwei­ ten alle Gewcrbtreibende, alle Kaufleute, alle Ge­ lehrte und Künstler, alle Staatsbeamte, so wie alle Handarbeiter und Dienstboten. Denn, nach der Ansicht der Physiokraten, wäre zwar die Arbeit der letztem unentbehrlich für ihren eigenen Unterhalt, und selbst höchst nützlich für die sogenannte productive Classe, damit diese ausschließend mit der Landwirth­ schaft sich beschäftigen könnte; allein kein Mitglied der sterilen Classe vermittele einen reinen Ertrag, oder einen Ueberschuß über das, was der Arbeiter zur Fortsetzung seines Geschäfts und zum dringenden Unterhalte für sich und die ©einigen bedürfe; denn nur aus diesem Ucberschusse erwüchse der höher stei­ gende Wohlstand des Staates, und folglich auch die Masse der in Umlauf kommenden Capitalien. Weil aber blos von diesem Ueberschusse Steuern ent­ richtet werden könnten; so dürfe auch die sterile Classe — als des reinen Ertrages ermangelnd — gar nicht besteuert, ja es dürfe selbst von der pro­ ductiven Classe, nach der möglichst größten Verein­ fachung des Abgabesystems, blos eine einzige Steuer, die Grundsteuer, erhoben werden. Die Gerechtigkeit verlangt, daß man die Licht­ seiten dieses Systems anerkenne, bevor man die Schattenseiten und die practische Unaussührbarkeit desselben in kurzen Andeutungen nachweiset. Entschieden geschah durch das physiokratische Sy­ stem der erste Angriff im Großen auf das, in der damaligen Praxis vorherrschende, Merkantilsystem. Entschieden trug das physiokratische System viel da­ zu bei, daß, seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der, über der Begünstigung der Ge­ werbe und deö Handels, zu sehr vernachlässigte Land-

273 bau in seine lang verkannten Rechte eingesetzt und dadurch in seine richtige Stellung zu dem gejammten

innern Staatsleben gebracht wird. Entschieden ist die, von den Physiokraten zuerst aufgestellte, Lehre vom reinen Ertrage, in ihrer Fortbildung und in der Gestalt, wie sie gegenwärtig von den aus­ gezeichnetsten Männern in der Staatswissenschaft vor­ getragen wird, die sicherste Unterlage aller gerechten und zweckmäßigen Besteuerung im Staate, und folg­ lich auch der höchste Grundsatz der Finanzwissenschaft. Entschieden ist durch die Physiokraten die Wichtig­ keit der Grundsteuer mehr hervorgehoben, und da­ durch auch die schärfere Untersuchung des staats­ rechtlichen Verhältnisses zwischen den directen und indirecten Steuern vorbereitet worden. Entschieden hat endlich die von den Physiokraten ausgesprochene völlige Freiheit aller Gewerbe, und überhaupt die völlige Freiheit der menschlichen Thätigkeit in der Wahl und Betreibung eines bürgerlichen Berufs, mit Aufhebung des Zunft- und Jnnungswesens, sehr bedeutend auf die Abschaffung vieler Mißbräuche, auf die Erweiterung der bürgerlichen Freiheit, und auf die durchgreifende Verbesserung der ältern Steu­ ersysteme hingewirkt. Allein neben diesem Lichte fehlt es dem physiokratischen Systeme auch nicht am Schatten. Aller­ dings ist der Landbau eine Hauptquelle des Volks­ wohlstandes und des Reichthums; allein nicht die einzige. Allerdings ist die Arbeit aller derer, welche die einzelnen Zweige der Landwirthschaft betreiben, productiv; allein auch der Handwerker, der Kauf­ mann, der Gelehrte, der Künstler, der Staatsdiener, der einen reinen Ertrag erzielt, gehört zur produc­ tiven, und nicht zur sterilen Classe der StaatsbürPölitz verm. Schr. Th. 1. 18

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ger. Selbst die Dienstboten und Handarbeiter, welche in die an so vielen Orten errichteten und höchst wohlthätigen Sparcasten legen, haben einen reinen Ertrag; denn nur vom reinen Ertrage kann der Capitalist seine Tausende ausieihcn, und der Dienst­ bote den einzelnen Thaler in die Sparcasse geben. Wenn nun aber der reine Ertrag nicht blos an den Grundbesitz gebunden ist; so kann es auch nicht blos Eine Steuer im Staate, die Grundsteuer, geben; vielmehr wird, nach den Grundsätzen der Gerechtig­ keit und der Staatöwirthschafc, alles besteuert, was einen reinen Ertrag vermittelt, und zwar in dem Umfange und Grade, welchen die Höhe und Größe des reinen Ertrags verstattet. Es sind daher mehrere Arten von Steuern im Staate gerecht, zweckmäßig und zulässig, sobald nur der Maasstab des, nach gerechten und staatswirthfchaftlichen Grund­ sätzen ausgemittelten, reinen Ertrags denselben zur Unterlage dient. Allerdings ist die von den Physio­ kraten geforderte völlige Freiheit des innern und äußern Verkehrs eine Grundbedingung der höhern Entwickelung aller Staatskräfte und der Steigerung des Volkswohlstandes und Reichthums; allein die völlige und plötzliche Auflösung aller bestehenden Zünfte und Innungen würde, — wie dies die Staa­ ten zeigen, wo sie im Sturme einer Revolution zu­ sammengestürzt sind, — in die innersten Lebenspulfe des Staates so mächtig eingreifcn, daß eine allmählige Beseitigung ihrer vielen Mißbräuche, und eine zeitgemäße Gestaltung ihrer innern und äußern For­ men den Vorzug vor der gänzlichen Aufhebung der Zünfte und Innungen zu verdienen scheint. Was übrigens die Stellung eines Staates gegen das Ausland und die von den Physiokraten verlangte

275 völlige freie Ein« und Ausfuhr aller Erzeugnisse des Landbaues, des Gewerbswesens und aller Gegen­ stände des Handels betrifft; so muß darüber zu­ vörderst das Völkerrecht in Hinsicht der bestehenden Verträge, und sodann die Staatskunst entscheiden, ob es besser sey, gegen Nachbarstaaten, welche dem Merkantilsysteme folgen, die größte Freiheit des Ver­ kehrs als Grundsatz aufrecht zu erhalten, oder dem Mauch- und Zollsystemen der Nachbarn Retorsionen und Repressalien entgegen zu setzen. c) Das dritte staatSwirthschaftliche System, dessen Stifter der Professor Adam Smith zu Glas­ gow war, stützte sich in vielen wesentlichen Lehren auf das System der Physiokraten; es berichtigte aber auch mehrere Einseitigkeiten und Uebertreibun­ gen desselben. In seiner ersten Gestalt, das heiße in den Schriften des Stifters selbst, war es zunächst auf Großbritannien berechnet; doch hat es nach sei­ ner weitern Verbreitung durch Franzosen, durch spä­ tere Schriftsteller unter den Britten, und besonders durch seine Bearbeitung auf teutschem Boden selbst, nicht blos eine feste systematische Haltung, sondern auch manche Berichtigung erhalten, wodurch es für die Anwendung auf die Staatsverwaltung eine grö­ ßere Brauchbarkeit gewann. Adam Smith suchte, verschieden von dem Mer­ kantilsysteme und von den Physiokraten, etwas Hö­ heres auf, daß er, statt des Metallgeldes und der Blüthe des Landbaues, als die Grundbedingung alles Wohlstandes und Reichthums des Volkes auf­ stellen könnte. Er führte daher beide auf den Gat­ tungsbegriff der Arbeit zurück, und lehrte, daß Die Arbeit für den Menschen die Urquelle alles Erwer-bes und Besitzes von Gütern, und folglich auch die 18*

270 letzte Bedingung alles Volkswohlstandes und Volks­ reichthums sey. Die Arbeit des Menschen um­ schließe aber nicht blos den Landbau mit seinen Zwei­ gen; auch das gestimmte Gewerbswesen, der Handel, die Kunst, die Wissenschaft gehöre — physisch be­ trachtet — in den Bereich der Arbeit. Namentlich sey die Theilung der Arbeit ein wirksames Mittel theils zur intensiven Vervollkommnung jedes be­ sondern Zweiges der Arbeit; theils zur extensiven Vermehrung aller Erzeugnisse durch Arbeit. Denn je mehr der einzelne Arbeiter zunächst nur mit einem Gegenstände sich beschäftigt; desto vollkommner kann er darin werden; desto größere Fertigkeit erringen; und folglich auch desto mehr in der Masse und in der Güte leisten. So wie, bei der Durchführung dieser Begriffe, die strenge Scheidewand der Physiokraten zwischen productiver und steriler Arbeit wegfällt; so auch die Behauptung derselben, daß blos der Landbau einen reinen Ertrag gewähre. Denn im Geiste des Smith'schen Systems, sind Fleiß und Sparsam­ keit die letzten Bedingungen alles Volksvermögens, weil der Fleiß die Güter erzeugt und erwirbt, die Sparsamkeit aber den Ueberschuß des Erworbenen zurücklegt, und aus diesem Ueberschusse die Capita­ lien bildet, welche nicht blos im Metallgelde, son­ dern in allen durch menschliche Arbeit erworbenen werthvollen, Ueberschüssen über den nothwendigen Bedarf zur Fortsetzung des Geschäfts und zur Fristung des Lebens bestehen. Diese Capitalien sind zur fortdauernden Belebung, Erweiterung und Ver­ vielfältigung des Geschäfts eben so nöthig, wie auf ihnen die Vermehrung und Steigerung des gestimm­ ten Volköreichthums beruht.

277 Weil aber der reine Ertrag sowohl vom Lohne für die Arbeit, als von der Grundrente, und von dem Capitalgewinne abhängt; so giebt eS auch, nach Adam Smith, drei rechtliche Steuern: die Grund­ steuer, die Gewerbssteuer, und die Capitaliensteucr, weil diese Steuern vom wirklichen rei­ nen Ertrage, rmd zwar nach der Höhe und Größe desselben, vertheilt und erhoben werden. — Soll übrigens, so lehrte Smith, der Volkswohlstand in ununterbrochenem Steigen, der reine Ertrag in ste­ tem Anwüchse begriffen seyn; so muß im innern Staaksleben die möglichst größte Freiheit für jede menschliche Arbeit und Thätigkeit ausgesprochen und fest begründet werden, weil nur dadurch die möglichst höchste Entwickelung aller physischen und geistigen Kräfte vermittelt, und jeder Staatsbürger gesichert wird, über seine Kräfte, über seine Be­ triebsamkeit, über sein Vermögen, über sein Grund­ eigenthum und über seine Capitalien ganz nach sei­ nem eignen Ermessen zu verfügen, ohne daß die Re­ gierung auf irgend eine Weise in diese freie Thätig­ keit eingreist, weil sie selbst dabei am meisten ge­ winnt, wenn der reine Ertrag der Gesammtheit ihrer Staatsbürger jährlich höher steigt. Denn ein wohl­ habendes Volk ist die beste Schatzkammer des Für­ sten! Durch dieses System von Adam Smith ist al­ lerdings der Begriff der Arbeit gründlicher er­ forscht, und gemeinschaftlich auf den Landbau, wie auf das Gewerbswesen und den Handel, bezogen worden; namentlich verdankt ihm die Wissenschaft die bestimmtere Ausführung des hochwichtigen Be­ griffes von der Theilung der Arbeit. Eben so bewahrte sich Smith, bei der Ausdehnung des rci-



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nen Ertrags auf die menschliche Arbeit überhaupt und mss die Capitalien, vor der Einseitigkeit der Physiokraten in der Aufstellung einer einzigen Steuer. — Allein er selbst ward dadurch einseitig, daß er die Arbeit die einzige Quelle der Güter und alles Volksvcrmögens und Wohlstandes nannte; denn auch die Natur bietet dem Menschen viele Güter ohne alle Arbeit dar; so wie der ursprüngliche Werth vieler Naturerzeugnisse weit größer ist, als der Werth der darauf verwendeten Arbeit. Denn in unzähligen Naturerzeugnissen bezahlen wir nicht blos die Arbeit bei ihrer Behandlung, bei ihrem Einsammeln oder Gestalten für menschliche Zwecke, sondern ihren Werth an sich für die Zwecke dcö Lebens. Dazu kommt, daß Smith zunächst nur die materielle 'Arbeit und deren Ertrag im Auge behielt, und den Werth der geistigen Bildung und Thätig­ keit, selbst für die Vermehrung des äußern Wohl­ standes und Reichthums, viel zu wenig in Anschlag brachte. Es ist wahr, daß, was durch die Thätig­ keit des menschlichen Geistes ins Daseyn tritt, so wie die Veredelung und Vervollkommnung aller Ge­ schäfte des Landbaues, des Gewerbswesens und des Handels durch die Einwirkung der höher» geistigen Bildung auf dieselben, kann nicht in Zahlen aus­ gesprochen, und in keinem ministeriellen compte rcidu veranschlagt werden; allein die unermeßliche Wirkung der geistigen Bildung und Thätigkeit auf Wohlstand und Reichthum der Volker ist geschicht­ lich eben so entschieden, wie der Unterschied zwischen der Arbeit eines Neuseeländers und der Arbeit eines Bürgers von Manchester und Liverpool, und wie der Unterschied der geistigen Bildung am Euphrat und an der Schel.de, oder am Pruth und an der Themse.

279 2. Tragen wir nun die Ergebnisse, welche aus die­ ser kurzen Uebersicht der drei Systeme der Staatswirthschaft hervortrctcn, aufdieStaatsverwaltung in unserin Vaterlande über; so finden wir, daß bereits mehrere Jahrhunderte früher, bevor noch die beiden zuletzt genannten Theorieen systema­ tisch gestaltet wurden, viele Grundsätze derselben practisch in Sachsen bestanden, und daß, -— unge­ achtet der Mängel, die von keiner menschlichen Ein­ richtung ganz zu trennen sind, ■— unser Vaterland, in Hinsicht der Grundsätze seiner Staatsverwal­ tung, die Vergleichung mit der Staatsverwaltung der gesittetsten und blühendsten gleichzeitigen euro­ päischen Reiche und Staaten ruhmvoll besteht, und viele derselben, in Hinsicht des Erfolgs der vieljäh­ rigen Anwendung dieser gerechten und sreisinnigcn Grundsätze, nach ihrem Verhältnisse zum Wohlstände des sächsischen Volkes, — bedeutend übertrifft. Denn der Churstaat Sachsen hatte das Glück, bereits in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahr­ hunderts einen Fürsten als Regenten zu besitzen, welcher als Staatswirth und Gesetzgeber alle gleichzeitige europäische Regenten überragte. In den ."3 gesegneten Regierungsjahren, an deren Spitze in der Geschichte Sachsens der ehrwürdige und hochgcfeierte Name Augusts sieht, ward, innerhalb sei­ nes Landes, die Staatsverwaltung nach so geläu­ terten Ansichten geübt, daß die strengsten siaatswirthschaftlichcn Theorieen der neuern Zeit nur als die systematische Begründung und Durchführung der von ihm angeordneten Staatsprapis erscheinen kön­ nen. Churfürst August war cs, der, fern von dem

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Geiste des Merkantilsystems, nicht blos den Gewerbs­ steiß und Handel begünstigte, und darüber den Land­ bau vernachlässigte; vielmehr verdankt ihm die Landwirthschaft in Sachsen ihre höhere Blüthe. Denn nicht nur, daß er die Bevölkerung des Staa­ tes bedeutend vermehrte, als er gegen dreihundert Domainenvorwerke zerschlagen ließ, und diese, so wie eine beträchtliche Anzahl wüstliegender Ländereien in Erbpacht — gegen einen jährlichen Zins an seine Rentkammer — an einzelne Ansiedler und Familien vertheilte, wodurch zu seiner Zeit bereits 9000 neu­ bebaute Grundstücke im Lande gezählt wurden; er sorgte auch, durch seine Verordnungen, für die Ver­ edelung des Wiesenbaues, des Obstbaues, der Vieh­ zucht und des Weinbaues; er stellte in der zweck­ mäßig eingerichteten Verwaltung seiner Kammergüter das Muster einer sorgfältig verbesserten Landwirth­ schaft auf, daö für den regen Sinn seiner Sachsen nicht verloren ging. Gleichzeitig öffnete er die Gren­ zen seines Staates für mehr als 20,000 steißige Niederländer, welche Alba's Schreckenssystem aus ihrer Heimath vertrieb. Sie brachten die damali­ gen großen Fortschritte des niederländischen Gewerbs­ steißes und das durch den Segen ihres Fleißes er­ sparte Capital von den Ufern der Schelde, Maas und Waal an die Elbe, an die schwarze Elster und Mulde, und vermehrten dadurch die Staatskrast unsers Vaterlandes nach Menschenzahl und Capital. Gern hörte August die staatswirthschaftlichen Vor­ schläge seiner hocherfahrnen, weit über ihrem Zeit­ alter stehenden, Räthe. So war es Franz von Arnim, nach dessen Rathe jene 300 Domainen­ vorwerke in Privateigenthum verwandelt wurden. Der Kammerpräsident von Thumöhirn schrieb

281 eine Anweisung *)**) zur Bewirthschaftung der Kam­ mergüter, und der Hofrichter Melchior von Osse, drängte, auf Befehl des Churfürsten, die gesammten Grundsätze der Verwaltung, nach der Gerechtigkeits­ pflege und Polizei, nach den Finanzen und nach allen Cultur- und Bildungsanstalten, in einem Fürsten­ spiegel zusammen, welchem er den Titel: Testa­ ment gegen Herzog Augusto gab ®:$). Dieses Werk übertraf an Gediegenheit und hellem Blicke die meisten staatöwirthschaftlichen Schriften des gan­ zen siebenzehnten und der ersten Hälfte des achtzehn­ ten Jahrhunderts. Doch würde es zu weit führen, wenn wir im Einzelnen berichten wollten, was Au­ gusts Weisheit für die — durch die eingewanderten niederländischen Tuchweber vermehrte — Wollmanufactur, für die Verwandelung vieler Frohnen auf den Domainen in Geld oder Naturallieferungen, für daö von ihm begründete Postwesen, für die von ihm an­ gelegten Kunststraßen, für den sächsischen Münzfuß durch das Verbot der Einschmelzung guter Münzen und durch mehrmals wiederhohlte Münzordnungen, für den Zinsfuß, den er auf fünf von hundert setzte, sür die Verbesserung der Pferdezucht durch Stiftung

der Gestütte zu Torgau, für die Erweiterung der Bienenzucht, und durch seine Forst-und Holz-, seine Bergwerks-, Eisen- Zinn- und Hammerordnungen, durch seine Mühlenordnung, durch sein Ausschreiben gegen Abhülfe der Gebrechen bei dem Schul-, Kir­ chen-, Justiz-, Polizei- und Gewerbswesen,-so wie *) Sie erschien erst im Jahr 1705 gedruckt unter dem

Titel: Oeconomica. **) Es erschien 1717 von Christ. Thoma'sius heraus­ gegeben mit vielen Zusätzen.

durch die Errichtung des geheimen Rathscollegiums, des Kammer- und Steuercollegiums, des Appcllationsgerichtö und durch die Verlegung des Meißner Consistoriums nach Dresden, für alle und jede Zwei­ ge de§ innern StaatölebenS that. Denn darin be­ stand eben die Größe feines Geistes, daß er überall zeitgemäß ordnete und gestaltete, ohne gewaltsam das Bestehende niederzureißen, und daß er sein gutes Volk nicht durch Zwang leitete, sondern dasselbe durch weise Vorschriften, durch treffliche Beispiele in der Verwaltung, durch unwandelbare Milde und huldvolle Herablassung in der Behandlung Aller, be­ sonders auf seinen häufigen Reisen in allen Kreisen seines Landes, zu sich Heraufzog. So wie sein Va­ terherz für sein Volk schlug; so schlug auch das Herz der Millionen, die seine segnende Regierung und ihren erhöhten Wohlstand unter dem Schuhe milder Gesetze empfanden, für ihren Vater August und für ihre Mutter A n n a. Denn länger als 30 Jahre verschönerte diese dänische Königstochter das Leben ihres geliebten Gemahls und den sächsischen Thron! Seit drittehalbhundert Jahren ruhen beide in der stillen Gruft; allein weit hinaus in die fernsten Jahrbücher der vaterländischen Geschichte reicht ihr Ruhm, und weit hinaus in das durch sie empor ge­ hobene Volksleben treuer Sachsen ihre wohlthuende Hand! Doch schon aus diesen flüchtigen Andeutungen tritt als Hauptergebniß der drei und dreißig Regrerungsjahre des unvergeßlichen Churfürsten August hervor: daß er die drei Bedingungen des mate­ riellen Wohlstandes der Staaten, den Landbau, den Gewerbsfleiß und den Handel gleich­ mäßig beförderte und unterstützte, und weder, wie

283 das Merkantilsystem will, hauptsächlich. Manufacturen, Fabriken und Handel begünstigte, noch, wie die Physiokraten lehrten, zunächst und ausschließend die Landwirthschaft, mit Vernachlässigung der Ge­ werbe und des Handels, emporhob. Denn, nach dem Zeugnisse der Geschichte und der Staatswirthschaftslehre, heben sich Fabriken und Manufacturen nur durch die aus dem Landbaue gewonnenen und auf sie übergegangenen Capitalien; es muß daher der Flor der Landwirthschaft bereits so hoch gestie­ gen seyn, daß aus derselben ein bedeutender reiner Ertrag erwächset, der nicht blos zur Verbesserung und Fortbildung der Landwirthschaft selbst erfordert wird, sondern zur Vervollkommnung anderer Gegenstände des innern Staatslebens angewandt werden kann, wenn Manufacturen, Fabriken und Handel in einem Staate zur Blüthe in kurzer Zeit gelangen sollen. Wie wahr dies sey; das haben alle Staaten bewie­ sen, bei welchen man durch Vorschüsse und andere Unterstützungen oder durch Monopole und günstige Verträge mit dem Auslande die Blüthe der Gewerbe und des Handels erkünsteln wollte, während die aus dem reinen Ertrage der Landwirthschaft entsprin­ genden Capitalien fehlten. Ihre Fabriken kränkelten, und ihr Handel ermangelte der festen Unterlage, bis der Landbau sich zum bleibenden und bedeutenden reinen Ertrage erhob. Denn selbst der Handel kann nur dann gedeihen, wenn er auf die im Jnlande als reiner Ertrag vom Landbaue und vom Gewerböwesen gewonnenen Capitalien sich stützt. Diese Grundge­ setze des materiellen Lebens erkannte August, als er mit gleicher Vatersorgfalt die Landwirthschaft, die Gewerbe und den Handel umschloß. So viele Sum­ men er auch auf die Ausstattung der von ihm er-

284 richteten Behörden, auf die von ihm aufgeführten Gebäude, und auf viele milde Stiftungen verwende­ te; nie fehlte es ihm und seinem Volke am Gelde; nie kam er in den Fall, Schulden zu machen, ob er gleich das Geld nicht als todte Maße aufhäufte, sondern als Capitalien in den Umlauf brachte. Allein noch größer erscheint dieser unvergeßliche Fürst, daß er — was die drei obengenannten Syste­ me der Staatswirthschaft entweder gar nicht, oder nur im Vorbeigehen berücksichtigen, — neben dem materiellen Leben in seinem Lande das geistige Le­ ben weckte, schützte und förderte. Dies bestätigen nicht nur seine weisen Verordnungen zur Abhülfe der Gebrechen des Kirchen- und Schulwesens, und seine Unterstützungen der bildenden Künste; dafür sprechen auch die großen Summen, die er zu wiedcrhohlten malen für einzelne Anstalten und Stiftungen, so wie für neu begründete Professuren *) auf den beiden Hochschulen des Landes, und zur Vervollkommnung des gejammten Erziehungswesens aussetzte. Fragen wir also die Geschichte, die unbestechbare Zeugin und Richterin aller Jahrhunderte und Jahr­ tausende; so sagt sie in ihren Thatsachen aus, daß der Churfürst August von Sachsen in staatswirthschaftlicher Hinsicht den festen Grund zum Wohl­ stände des sächsischen Volks legte; daß er über sei­ nem Zeitalter stand, und allen gleichzeitigen Fürsten *) Churfürst August stiftete auf der Hochschule Witten­ berg den Lehrstuhl der Geschichte, und befahl dem Professor der Ethik über Politik Vorlesungen zu halten. Am Palm­ sonntage 1569 unterzeichnete er eine Urkunde, in welcher er die für jene Zeit höchst bedeutende Summe von 30,000 Gül­ den als Capital zu Stipendien für arme Studirende auf der Universität Wittenberg schenkte.

285 als Muster eines umsichtigen und edlen Regenten voranging; daß Sachsen unter ihm der gebildetste und geachtetste Staat im teutschen Reiche, und Au­ gust, nächst dem Kaiser, der mächtigste und einfluß­ reichste Fürst Teutschlands war; daß die geläuterten, freisinnigen und milden Grundsätze seiner Staatsver­ waltung die Feuerprobe von drittehalbhundert Jahren bestanden haben, und daß die Wissenschaften der Volks - und Staatswirthschaftölehre, — ungeachtet ihrer Fortschritte im neunzehnten Jahrhunderte, — für die Anwendbarkeit ihrer theoretischen Grundsätze in den vorigen Jahrhunderten keine zweckmäßigern Belege aufsinden können/ als in der Regierungszeit des Churfürsten August. Denn wo die Finanzen eines Staates blühen sollen, muß zuvor der Wohl­ stand des Volkes blühend und gesichert seyn; und wo der Wohlstand eines Volkes blühen soll, da muß das geistige Leben eben so fortschreiten, wie die sinnliche Cultur. Es thut dem Sachsen wohl, sein Vaterland be­ reits im sechszehnten Jahrhunderte auf dieser Höhe des materiellen Wohlstandes und der geistigen Bil­ dung, der unmittelbaren Folge einer die einzelnen Zweige deö innern Lebens gleichmäßig umschlie­ ßenden Staatsverwaltung, zu erblicken. Denn diese feste Grundlage der sächsischen Betriebsamkeit und des dadurch erreichten Wohlstandes macht es erklär­ bar, wie unser Vaterland die furchtbaren Erschütte­ rungen des dreißigjährigen, des nordischen und des zweiten und dritten schlesischen Krieges bestehen, und, nach jedem dieser Stürme, doch wieder von neuem sich erhöhten konnte. Allein, nächst dieser, vom Churfürsten August bewirkten, festen Grundlage des sächsischen Wohl-

236 standcs, der sächsischen Betriebsamkeit, und der hohen geistigen Bildung des sächsischen Volkes, war auch der Segen Gottes über diesem guten Volke, daß, ein halbes Jahr nach der Beendigung des, die Staatökräfte Sachsens tief erschütternden, siebenjäh­ rigen Krieges, der edle Churfürst Friedrich Chri­ stian am 5. October 1763 seine Regierung im Geiste des staatswirthschaftlichen Systems seines großen Ahn­ herrn, des Churfürsten August, begann. Zwar rief ihn die Vorsehung bereits nach zwei Monaten von dem Throne seiner Väter; ihm folgte aber auf dem­ selben sein Erstgebohrner, unser unvergeßlicher Frie­ drich August, Anfangs unter der vormundschaftli­ chen Regierung seines Oheims, des Prinzen Taver, bis er am 15. September 1768 seine Regierung selbst übernahm. Was unser Vaterland beim Antritte seiner Re­ gierung war; wie tief die Folgen des siebenjährigen Krieges noch in allen Lebenöpulsen desselben wirkten: das weiß jeder, der in der Geschichte Sachsens nicht fremd blieb. Bald aber, unter der weisen, gerech­ ten und milden Regierung Friedrich Augusts, mehrte sich die gesunkene Bevölkerung; die Bezahlung der Schulden ward durch einen Amortisationöfond ge­

deckt, und die Entrichtung der Zinsen von denselben gewissenhaft geleistet; die schlechten, im Lause des Krieges dem Lande aufgedrungenen, Münzen wurden

eingeschmolzen und der frühere sächsische Münzfuß hergestellt, wie dies für einen Gewerbö- und Handelöstaat, der nicht blos auf den Nachbar- und Bin­ nenhandel sich beschränkt, sondern Antheil an denr Welthandel nimmt, dringend nöthig war; der Feld­ bau stieg allmählig zu einem bis dahin noch nicht gekannten Flore; das Gewerbswesen, emporgehoben

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durch den sächsischen Erfindungsgeist, — einer Folge der weit verbreiteten geistigen Bildung— machte Fortschritte, welche die Aufmerksamkeit, ja selbst die Eifersucht der Nachbarstaaten erregten; der Handel eröffnete sich neue Straßen, sogar bis über den at­ lantischen Ocean. Bald ward durch diesen neuen Geist in der sächsischen Staatsverwaltung der Credit des Staates so fest begründet, daß — im Verhält­ nisse zu seinem Flächenraume und zu seiner Bevöl­ kerung — der Credit Sachsens dem Credite der eu­ ropäischen Hauptmächte gleichgestellt werden konnte, und diesen zum Theile übertraf. Doch nicht blos die materielle Kraft des Staa­ tes, auch die geistige gewann seit dem Regierungkantritte Friedrich Augusts eine neue wohlthätige Rich­ tung, erfreute sich einer milden Pflege, und verkün­ digte bald dem übrigen in der Cultur fortschreitenden Europa in den gediegenen Werken der Kunst und der Wissenschaft, daß Sachsens Ehre und Ruhm darauf beruhe, hinter keinem gleichzeitigen Volke i i der kraftvollen Entwickelung des geistigen Lebens zu­ rückzubleiben. Denn auch hierin ging Friedrich August selbst, durch die Gründlichkeit, Tiefe und Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen Kenntnisse, und durch seinen geläuterten Kunstsinn, seinem Volke voran. Ein solches Beispiel vom Throne herab geht nicht verloren für ein bildungsfähiges, und seit Jahr­ hunderten im weiten Kreise der Wissenschaften mit Achtung genanntes Volk. Zugleich kam mit der hö­ her» geistigen Bildung auch höherer Wohlstand, und mit dem höhern Wohlstände mehr Gesittung und ed­ lerer Genuß des Lebens unter die verschiedenen Stän­ de des sächsischen Volkes. Verkündigt es doch die ganze Weltgeschichte laut und nachdrucksvell: rohe,

288 unwissende, geistig niedergedrückte Völker sind unthä­ tig, arbeitsscheu und arm. Wo aber die geistige Kraft ohne Hemmnisse emporstreben und in ihrem Fortschreiten sich ungestört entfalten darf; da herrscht auch Wohlstand, Reichthum, Bildung, Gesittung, Zutrauen im Innern, und Credit nach außen; da ge­ deiht der Völker- und der Weltverkehr. Dies zeigt in der Welt des Alterthums das kleine Phönicien, dies das freie Griechenland, dies Aegypten unter den drei ersten Ptolemäern, dies im Mittelalter, seit den Zeiten der Kreuzzüge, Italien; dies in neuerer Zeit Großbritannien, Niederland, Frankreich, Teutschland, und, in der Mitte des teutschen Staatenbundes, vor allen: Sachsen. Denn wo das Licht des Geistes in heiliger, ruhiger Flamme aufglänzt; wo die Hä­ hern geistigen Kräfte sich frei bewegen dürfen; wo von dem Throne herab das erhabene Beispiel der Liebe zu den Wissenschaften und der höchsten Unter­ stützung derselben leuchtet; wo selbst Könige es nicht unter ihrer Würde halten, durch ihre Anwesenheit in den Hörsälen ihrer Hochschulen, öffentlich ihre Achtung gegen die Wissenschaften vor den Augen ihres ganzen Volkes zu bezeugen, und wo in solchen feierlichen, unvergeßlichen Augenblicken dem Geiste der studirenden Jünglinge für ihr ganzes Leben und Wirken die entscheidende Richtung für gründliches Wissen, und für die Erlernung der Wissenschaften, nicht blos der künftigen Versorgung wegen, sondern wegen des den Wissenschaften einwohnenden himm­ lischen Lichtes und der mit ihrer Erforschung unzer­ trennlich verbundenen Hähern Bildung und Gesittung, gegeben wird: da werden auch, in der Mitte eines solchen Staates , die frei entwickelten geistigen Kräfte mit der Ankündigung der materiellen Kräfte in ein

289 Gleichgewicht treten, durch welches eben so der phyfische Wohlstand und die Glückseligkeit des Volkes gesichert, wie der Fortschritt der geistigen Bildung und die Kraft des sittlichen Lebens in der Mitte des­ selben für die fernste Zukunft verbürgt wird. Und diese größte Aufgabe für das innere Staats­ leben, das idealische Ziel aller geläuterten Staats« kunst seit der ersten Bildung von Reichen und Staa­ ten auf dem Erdboden bis herab auf unsere Zeit, — das Gleichgewicht zwischen den geistigen und materiellen Kräften — ist bereits seit sechs Jahrzehnten in unserm sächsischen Vaterlande in den wesentlichsten Verhältnissen verwirklicht wor­ den. Denn seit dieser Zeit milderte unsere väterliche Regierung das Loos der untern Stände; sie erhohlten sich durch zweckmäßige Theilung der Arbeit, durch Sparsamkeit und durch wohlberechnete Verwendung ihres reinen Ertrages für neue Unternehmungen; der Gewerbsfleiß ward vielfach erweitert, und verband mit der Masse und Dauer zugleich die Mannigfal­ tigkeit und die ansprechende Schönheit der Formen; der Handel blieb frei von beengenden Fesseln; dem Ausländer stand die sächsische Grenze ohne lästige Zollstätten offen; der Inländer ward nicht durch läh­ mende Ausfuhrverbote in seiner wohlberechneten Be­ triebsamkeit gehindert; denn Freiheit ist die Le­ benslust in der Naturwelt, wie in der Welt der Geister. Zugleich erreichte, unter dem Einflüsse derselben Grundsähe, die sächsische Literatur ihren Höhe­ punct. Es giebt keine Sprache, keine Wissenschaft, wo nicht sächsische Namen in der Reihe der ersten glänzten, die sie anbauten und zu höhern Stufen der Vollkommenheit fortführten. Die Tempel und MuPölitz »ernt. Schr. Th. 1. 19

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feen der Künste in unserm Vaterlande bcwundext selbst das auf seine eigenen Schätze stolze Allsland. Der Buchhandel fand in der Mitte dieser Stadt seit Jahrhunderten einen Mittelpunct, wie sonst keinen andern in allen fünf Erdtheilen *), weil selbst die Riesenstädte an der Themse und Seine zunächst nur die Stapelplätze der brittischen und französischen Li­ teratur, nicht den Mittelpunct der Weltliteratur bilden; und dabei unter 5000 neuen Werken, die jährlich in den beiden Leipziger Meßcatalogen aufge­ führt werden, — wie selten doch ein bedenkliches, ein anstößiges Buch, und wie schnell geht ein sol­ ches — Dank sey es dem gediegenen Geiste der teutschen Nation — im Strome der Vergessenheit unter, während das Gute, das Gereifte, das, was die Wissenschaften fortführt, bald ein Gemeingut aller Gebildeten in den gestimmten teutschen Gauen wird! Dies ist der Sieg und der schönste Kranz einerweisen Regierung, daß sie das Licht liebt und schätzt, weil sie selbst im Lichte des Jahrhunderts wandelt und wirkt,

*) Für den Statistiker werden folgende Thatsachen hin­ reichen: Leipzig hat 22 Buchdruckercien mit 424 Gesellen und 125 Lehrlingen; 128 Pressen und eine Druckmaschine sind ununterbrochen in Thätigkeit; man berechnet die jährlich in Leip­

zig verdruckten Ballen Papier zu 8087 (folglich 40,435,000 Bogen). Außerdem leben in Leipzig wenigstens 200 Schrift­ gießer, Kupferdrucke! und Steindrucker. Leipzig selbst hat über 70 Buchhandlungen, und mehr als 450 auswärtige Buch­ handlungen haben in Leipzig ihre Commissionaire. Die meisten dieser auswärtigen Buchhändler beziehen öte Leipziger Ostermesse, auf welcher der Büche rum satz gewiß gegen 5 Millionen Tha­ ler angeschlagen werden muß. Die beiden Leipziaer Meßcataloge liefern jährlich, im Durchschnitte, 5000 in Teutschland neu

erscheinende, oder von neuem aufgelegte, Werke.

291 und daß das von ihr geliebte und geschäßte Licht wie eine heilige Flamme leuchtet, ohne je zur Fackel eines Herostratus zu

werden! Bei diesem innern Zusammenhänge zwischen den materiellen und geistigen Kräften, welchen unser Va­ terland seinen angestammten Fürsten und ihren ein­ sichtsvollen Räthen verdankt, hat Sachsen, im Ver­ hältnisse zu seinem beschränkten Flächenraume und zu seiner mäßigen Volkszahl, einen höhern und gleich­ mäßigern Wohlstand unter den verschiedenen Ständen erreicht, als viele größere Reiche und Staaten, wo man entgegengesetzte staatswirthschaftliche Grundsätze befolgte; wo man bald durch das Geld des Auslandes schnell reich zu werden vermeinte, ohne die innere Arbeitsamkeit und die Theilung der Arbeit zu beleben; bald dem Handel Richtungen ge­ ben und Bahnen anweisen wollte, die ihn auf lange Zeit hin hemmten; bald die Geisterwelt und das Reich der Wissenschaften behandeln wollte, wie eine Stutzuhr oder Schachmaschine. Mögen doch diese von Sachsen lernen, was Völker wohlhabend macht, und den Geist vorwärts bringt in der Erkenntniß, in der bürgerlichen Ordnung, in der politischen Mün­ digkeit und in der sittlichen Kraft! Denn von den unwirthbaren Höhen des Fichtelberges, auf welchen Böhmen sich von Sachsen schei­ det, und wo kein Korn, kein Obst zur Reife gelangt, bis herab zu den milden Niederungen der Elbe, der beiden Mulden, der Elster und der Pleiße lebt und wirkt ein fleißiges, gewerbösames, bildungsfähiges, und theilweise hochgebildetes, der Mehrheit seiner Bürger nach, sittlich gutes und gottesfürchtiges Volk; unwandelbar treu der Dynastie, die seit 700 Jahren 19»

292 erblich über Meißen regiert, mithin früher, als die Hohenstaufen die teutfche Krone, die Zollern die Burggrafschaft Nürnberg, die Habsburger den Besitz Oestreichs, die Wittelsbacher den Besitz Bayerns, die Zähringer den Besitz Badens erhielten. Unter der Regierung der Fürsten aus der Dynastie Wet­ kin gelangte unser Vaterland früher, als andere teut­ sche Staaten, zum Wohlstände; zur innern Ordnung in den Hauptformen der ständischen Verfassung und der Justiz-, Polizei-, Finanz- und Militärverwal­ tung ; zum freiesten geistigen Leben durch zwei inländi­ sche Hochschulen, und durch viele vorbereitende ge­ lehrte Schulen. Denn Fürstennamcn, wie Fried­ rich der Streitbare, Albrecht, Friedrich der Weise, Moritz, August gehören nicht blos der vaterländischen, sie gehören der teutschen, ja der europäischen Geschichte überhaupt an; und die Ge­ schichte Sachsens ist nicht blos eine Episode, sie ist ein integrirender Bestandtheil der Ge­ schichte der europäischen Staaten und der Culturgeschichte unsers ganzen Geschlechts. Auf den 271 Geviermeilen, welche gegenwärtig in der Geschichte und Statistik das Königreich Sachsen genannt werden, wohnt ein Volk mit unentweihtem Namen; gefeiert, wo irgend sein Name ausgesprochen wird, in allen Ländern unsers Erdtheils, wie am Gan­ ges, am Ohio und am Amazonenstusse; geachtet und gesucht wegen der Güte seiner Naturproducte, wegen der Güte und der Schönheit seiner Gcwerbs- und Kunsterzeugnisse, wegen der Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit in seinen Handelsgeschäften, wegen der Tiefe, Gründlichkeit und Anspruchslosigkeitseiner wis­ senschaftlichen Bildung, wegen der Würde, mit wel­ cher eö das Unglück der Zeit ertrug, und wegen der

293 unerschütterlichen Treue gegen sein angestammtes Re­ gentenhaus. Denn 20 Monate hindurch war der Morgengruß und das Abendgebet von mehr als 2 Millionen Sachsen an die Großmächte des Erdthcilö:

reddite nobis Patrcm! Ja, mein theures, innig geliebtes Vaterland, deine Volkszahl bildet zwar unter mehr als 200 Millionen Europäern nur einen kleinen Theil; allein aus deinem Namen ruht seit Jahrhunderten keine politische Schuld, keine diplomatische Hinterlist, kein Blut der Eroberungssucht, kein Seufzer anderer Völ­ ker; du bist bewährt aus dem Unglücke, steckenlos aus der harten Zeit der Prüfung hcrausgetrcten; dein Wohlstand, dein Credit ist früher zurückgekehrt, bevor noch die Gräber der Tausende zusammensauken, die auf deinem Boden seit den letzten 15 Jah­ ren sielen; die Hand der Vorsehung hat über dir und der sächsischen Raute sichtbar gewaltet! Denn der über den Sternen, der das Schicksal der Thro­ ne und Völker entscheidet, gab dir deinen Fried­ rich August zurück, dainit er noch 12 Jahre lang der europäischen Menschheit zeigte, wie sehr er sei­ nem Volke, wie sehr sein Volk dem königlichen Vater lebte. Und als der Unendliche ihn, nach einem thatcnrcichen irdischen Leben, zur Krone des ewigen Le­ bens rief’, blieben seine durch 58 Jahre erprobten Regierungsgrundsätze, seine Weisheit, seine Gerech­ tigkeit, seine Milde und seine innige Vaterliebe zu dem treuen sächsischen Volke, unverändert bei seinem königlichen Bruder und Nachfolger auf dem sächsi­ schen Throne. Wie einst im Römerreiche zwei edle Antonine einander mit gleichen Grundsätzen auf dem Throne folgten; so auch Seine Majestät, unser König



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Anton, Seinem verewigten Bruder. Und wie in den Jahrbüchern Roms die Regierungszelt der Antonine unvergeßlich und für alle Fürsten ein Muster der Nachahmung geblieben ist; so wird auch in der Geschichte des Vaterlandes die Regierungszeit dieser königlichen Brüder Ein unauflösbares Ganzes bilden, und, der Nachwelt verkündigend, was sie ihrem Volke waren, die schönsten Blätter in der sächsischen Geschichte füllen. Darum Heil dir, mein Vaterland; und Gottes Segen und Gottes Kraft über dem Kö­ nige, und über allen Zweigen des erlauchten Hau­ ses Wektin!

11. Das Verfassungörccht, nach seinen beiden Ges staltnngen als Wissenschaft. Es gehört zu

des unsterblichen Pütters ausge-

zeichneten Verdiensten um die Geschichte und das Staatsrecht des erloschenen teutschen Reichs, daß er das Bedürfniß einer doppelten wissenschaftlichen Behandlung der teutschen Reichsverfassung erkannte; einer dogmatischen und einer geschichtlichen. Die erste versuchte er in seinen beiden gründlichen Compendicn: institutiones Juris publici gernianici, und: kurzer Begriff des teutschen Staatsrechts (ausführlicher behandelt theils von Häberlin, theils von dem Grafen von Hohenthal,); die zweite in seinem trefflichen (auf Veranlassung der Königin von England, der Ge­ mahlin Georgs 3, geschriebenen) Werke: historische Entwickelung der heutigen Staatsvcrfassung des teutschen Reichs, in drei Bänden. Die Männer vom Fache wissen, wie gehaltreich das zweite Werk war, welche bedeutende Lücke es in der geschichtlichen und pnblicistischen Literatur aus­ füllte, und wie einstußreich und rückwirkend auf die wissenschaftliche Behandlung des teutschen StaatSrechts es, neben den Systemen Und Compendien des letzter«, sich bewährte. Denn w.nn die Systeme

296 des teutschen Staatsrechts die dogmatische Form dieser Wissenschaft enthielten; so wies Pütters „historische Entwickelung" thatsächlich die Zeitalter und die verschiedenen Formen der Entwicke­ lung, Veränderung, Fortbildung und des theilweisen Veraltens der Verfassung Teutschlands nach. Selbst in unserer Zeit, nachdem das teutsche Reich selbst zusammengestürzt und mit ihm die Gültigkeit seines vormals öffentlichen Rechts zur Antiquität geworden ist, behauptet daß zweite Werk von Pütter eine hohe Wichtigkeit aus dem Standpuncte der Geschichte und der Staatskunst.

Auf gleiche Weise verhält es sich mit der neuen Wissenschaft des Verfassungsrechts. Sie konnte erst in der Zeit entstehen, wo in mehrer» europäi­ schen und amerikanischen Staaten die gestimmte Un­ terlage des innern Staatölebens auf eine geschrie­ bene Verfassungsurkunde zurück geführt ward, welche die allgemeinsten und höchsten Bedingungen des innern Staatölebens, und namentlich nach dem darin aufgestellten Verhältnisse der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt gegen einander, umschließen und rechtlich begründen sollte. j Die erste Verfassung dieser Art war die Verfassung des im Pariser Frie­ den vom 3. September 1783. als selbstständig und unabhängig anerkannten — nordamerikanischen Bundesstaates vom 17. Sept. 1787, die aber erst im Jahre 1789 ins wirkliche Staatsleben ein­

trat. Bis dahin gab es allerdings in den meisten Rei­ chen deö europäischen Staatensystems gewisse Grund­ gesetze, welche aber, entstanden zu verschiedenen

297 Zeiten und unter sehr verschiedenen politischen Um­ ständen, bald des innern organischen Zusammenhangs ermangelten, bald nur die Thronfolgeordnung der regierenden Dynastie, bald die, den Regenten in Zeiten politischer Stürme von dec höhern Geistlich­ keit und dem Adel abgenöthigten, großen Bevorrech­ tungen enthielten; bald auch das rechtliche Verhält­ niß der verschiedenen christlichen Kirchen im Staate gegen einander, oder die Grundlagen der Ausübung der Gerechtigkeitspsiege betrafen. Selbst die älteste und, in ihrer practischen Geltung, vollendetste Ver­ fassung im europäischen Staatensysteme, die brittische, ist auf diese Art entstanden. Sie ist nichts weniger, als ein solches organisches und politisches Ganzes, wie die von Ludwig 18. gegebene Charte Frankreichs vom Jahre 1814, oder das vom Kö­ nige Wilhelm 1. am 24. Aug. 1815 bekannt ge­ machte Grundgesetz des Königreichs der Nieder­ lande, oder wie die neuen Vcrfassungsurkunden Bayerns, W ü r t e m b e r g s, B a d e n s, des Chur­ staates und Großherzogthums Hessen, der Herzogthümer Nassau, Altenburg und anderer Staa­ ten. Die brittische Verfassung beruht aller­ dings auf der magna charta vom Jahre 1215, und auf vielen spätern Urkunden, z. B. der Habeas Corpus - TCcte, der Testacte, der Successionsacte des Hauses Hannover u. a.; sie ermangelt aber eines, alle Bedingungen des innern Staatslebens umschlie­ ßenden, Grundgesetzes, und erhielt im Laufe der Jahrhunderte sehr viele practische Ausbildungen, die nicht einmal auf eine vorhandene schriftliche Ur­ kunde zurückgeführt werden können, wie namentlich die Eintheilung des Parlaments in zwei Kammern, und die Festsetzung der besondern

298 Rechte jeder dieser Kammern. Eben so beschränkte sich die schriftliche Unterlage des teutschen StaatSrechts zunächst auf die wenigen Reichsgrundgesetze: der goldenen Bulle vom Jahre 1356; des ewigen Landfriedens von 1495; der kaiserlichen Wahlcapitulation seit 1520; des Augsburger Religionsfrie­ dens von 1555; des westfälischen Friedens von 1648, und des Reichsdeputationöhauptschlusses von 1803; einer Folge des zwischen Frankreich und Oest­ reich abgeschlossenen Lüneviller Friedens. In der That reichte man daher bis zum Anfänge des neunzehnten Jahrhunderts damit aus, wenn — abgesehen von den dogmatischen Bearbeitungen des besondern Staatsrechts einzelner Staaten in der Mitte derselben — des allgemeinen Verfassung 6wesens im europäischen Staatensysteme blos in einem besondern Abschnitte der Statistik gedacht, und in derselben, bei jedem einzelnen Reiche und Staate, auch eine nothdürftige Uebersicht über die entweder schon wieder erloschenen, oder noch bestehen­ den Reichsgrundgesetze gegeben, und außerdem das, was durch Gewohnheit, Herkommen und Zeitverhält­ nisse diesen Reichögrundgesetzen sich an- und zugebil­ det hatte, geschichtlich berichtet ward. Dies alles mußte sich verändern, seit mehr als 100 Millionen Europäer und Amerikaner unter schriftlichen Verfasfungsurkunden stehen, die — so wesentlich verschieden diese Urkunden auch nach ihrem politischen Charakter, nach der Form ihrer Abfassung, nach der Zeit ihrer Entstehung, und nach der im wirklichen Staatsleben erkennbaren Kraft ihrer Gültigkeit von einander seyn mögen, — den­ noch in dem innern Staatsleben geschichtlich vor­ handen sind. So wenig nun ihr Daseyn und ihr

299 politischer Einfluß auf die Umgestaltung der innern Verhältnisse einer so bedeutenden Anzahl gesitteter Reiche und Völker abgeleugnet werden kann; so we­ nig genügt es doch auch in unserer Zeit, die Lehre von den Verfassungen, wie ehemals, blos der Sta­ tistik zuzuweisen. Es mußte vielmehr der Versuch geschehen, die gesummten, seit dem Jahre 1787 in beiden Erdtheilen aufgestellten neuen Verfas­ sungen — die bereits wieder erloschenen, wie die thatsächlich bestehenden — wissenschaftlich zu ordnen, und zu einem systematischen Ganzen zu verbinden.

Dafür gab cs, 'wie oben bei Pütter in Hin­ sicht auf die erloschene teutsche Reichsverfassung ge­ zeigt ward, zwei mögliche Formen, die wir, der Kürze wegen, die dogmatische und die geschicht­ liche nennen wollen. In der dogmatischen Form des Verfassungs­ rechts herrscht die, in dem philosophischen Staatsrechte angenommene, wissenschaftliche Einteilung und Auf­ einanderfolge der Begriffe vor. So handelt man z. B. bei Befolgung der dogmatischen Form des Verfassungsrechts, in den einzelnen Theilen und Abschnitten: von der Person des Regenten, von sei­ nen Rechten und Pflichten, von der Thronfolgeord­ nung, von den Volksvertretern oder Ständen, von der Gestaltung der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt u. s. w-, und unterordnet diesen allgemeinen Begriffen und Abschnitten die einzelnen, in den verschiedenen Verfassungsurkunden enthalte­ nen, Bestimmungen über alle diese Gegenstände. In dieser Form der Wissenschaft sind folglich die Be-

300 griffe und die aufzustellenden Dogmen das erste, die Reiche und Staaten aber, welche Verfassungen besitzen, das zweite. Die Reiche und Staaten dienen bei dieser Gestaltüng der Wissenschaft, nach den ihnen eigenthümlichen Verfassungsbestimmungen, zunächst nur zu Erläuterung und Versinnlichung der an die Spitze gestellten staatsrechtlichen Begriffe. Man kann diese wissenschaftliche Form des Verfas­ sungsrechts als den lehrreichsten, fruchtbarsten und mannigfaltigsten practischen Commentar zu den an sich abstracten Lehren und Grundsätzen des phi­ losophischen Staatsrechts betrachten, inwiefern man, durchdrungen von der Wahrheit der geläuterten Grundsätze des philosophischen Staatsrechts, unter den verschiedensten Erdstrichen, und mit Rücksicht auf den vorigen staatsrechtlichen Zustand der Völ­ ker und Reiche (als der geschichtlichen Unter­ lage ihrer Verfassung) so wie mit Berücksichtigung des von ihnen erreichten Grades der Cultur und Gesittung, die neuen Verfassungen beabsichtigte und aufstellte. Im Gegensatze gegen diese dogmatische Form des Verfassungsrechts, beruht der eigenthümliche Character der geschichtlichen Gestaltung die­ ser Wissenschaft darauf, daß j e d e r e i n z e l n e Staat, nach den Grundbedingungen seines inneren Lebens, als ein in sich abgeschlossenes poli­ tisches Ganzes erscheint, so daß, bei dieser Be­ handlung, jeder einzelne Staat, nach seiner In­ dividualität, im Mittelpuncte der Darstellung erscheint, und die dogmatische Behandlung der ein­ zelnen Lehren und Grundsätze in seiner Verfassung der politischen Einheit des verfassungsmäßig gestalte­ ten Staates untergeordnet wird. — Bei dieser

301 wissenschaftlichen Form des Verfassungsrechtes wer­ den zwei Zwecke beabsichtigt und erreicht. Man gewinnt dabei nicht nur eine bestimmte und in sch organisch zusammenhängende Uebersicht über die gesammten Grundbedingungen des innern Staatslebens, und über das Verhältniß derselben zu der Grund­ kraft und der äußern Ankündigung des gegebenen Staates nach seiner Individualität; man erfährt auch zugleich, in geschichtlicher Aufeinanderfolge, wie und wann daS ward, was in der Gegenwart als Verfassung sich ankündigt; in welchen Zeitabschnit­ ten, unter welchen Verhältnissen im Innern und von außen her, ob zunächst durch den Regenten, oder zunächst durch Volksvertreter und Stände, die Ver­ fassung ins öffentliche Leben eintrat; ob sie eine Reihe von Jahren hindurch bestand, oder verändert ward, oder ganz erlosch; was im letztem Falle an deren Stelle trat als spätere politische Form, und welcher von den verschiedenen Verfassungsversuchen dem Volke nach der erreichten Höhe seiner politischen Bildung, und dem Reiche, nach seiner Stellung in dec Mitte des Staatensystems seines Erdtheilö, mehr oder weniger entsprach. — Z. B. Wir nehmen Frankreich. Einleitungsweise muß kurz berichtet werden, unter welchen Verhältniffen im Jahre 1780 die allgemeinen Reichsstände berufen wurden; wie aus ihnen eine Nationalversammlung hervorging; und wie von dieser im September 1791 die erste Verfassung mit einem beschränkten erblichen Könige an der Spitze der vollziehenden Gewalt, und mit der Zutheilung der gesetzgebenden Gewalt an die, nur in Einer Kammer sich versammelnden, Vertre­ ter der Nation aufgestellt ward. Darauf folgte im Jahre 1793, nach der Hinrichtung Ludwigs 16,

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die zweite Verfassung, welche als der theoretische Höhepunct des Demokratismus in neuerer Zeit be­ trachtet werden muß. Dann die, mit strenger Fest­ haltung der Theorie von der Theilung der Gewalten gearbeitete, Verfassung vom Jahre 1795, mit einem Direccorium von fünf Personen, einem Rathe der Alten von 250, und einem Rathe der Jüngern von 500 Individuen. Vier Jahre reichten hin, die Uuhallbarkeit dieser Verfassung thatsächlich nach­ zuweisen. Sie starb am 18. Brümaire 1799 eines militärisch gewaltsamen Todes. Vier Wochen spä­ ter erhielt Frankreich die vierte Verfassung, mit einem Consulate an der Spitze des Staates, in welchem der erste Consul, unter scheinbar beibehal­ tenen republikanischen Formen, monarchische Rechte übte, so daß der zweite und dritte Consul gewisser­ maßen nur zum Relief seiner Macht und seiner Größe dienten. Diese vierte Verfassung fristete sich, unter Nachhülfen durch organische Scnatusconsulta in Beziehung auf Erblichkeit der höchsten Gewalt, angenommene Kaiseewürde, Verminderung und spä­ tere völlige Aufhebung des Tribunals u. s. w., bis zum 2. April 1814, wo der von Napoleon geschaf­ fene Senat, unter Talleyrands Vorsitze, den Kaiser der Regierung entsetzte. Es folgte unmittelbar dar­ auf eine vom Senat bekannt gemachte, die fünfte, Verfassung, die aber Ludwig 18., nach seiner Rück­ kehr, nicht bestätigte. Ergab vielmehr, als Act der Souverainctät, am 4. Juni 1814 dem Reiche selbst eine neue, (die sechste) Verfassung, die soge­ nannte constitutionelle Charte, die aber, nach den entscheidenden Vorgängen in der letzten Juli­ woche 1830 zu Paris, einer wesentlichen Revision unterworfen, und sodann am 7. August 1830 als

303 das Grundgesetz Frankreichs bekannt gemacht und von dem Könige Ludwig Philipp beschworen

ward. Es erhellt von selbst, daß auf diesem geschichtlichen Wege der innere politische Charakter der sechs verschiedenen Verfassungen Frankreichs und die Art und Weise ihres Entstehens, ihrer Aufeinanderfolge, und ihres Eintritts ins Staatsleben, so wie deS innern Zusammenhanges zwischen denselben, weit leichter ausgemittelt werden kann, als auf dem dog­ matischen. — Dasselbe gilt von Polen nach dem Verhältnisse der drei Verfassungen dieses Reiches von den Jahren 1791, 1807 und 1815 gegen ein­ ander , so wie von allen Reichen und Staaten, wel­ che seit dem Jahre 1792 von innen, oder von au­ ßen her, die Umgestaltung ihres StaatSlebenö ver­ suchten. So wie in Frankreich selbst, so ward auch in den Niederlanden und Italien vielfach mit neuen Verfassungen expcrimentirt, bis das Jahr 1815. darüber entschied, daß in Italien, mit Ausnahme weniger Zugeständnisse im lombardisch - venetianischen Königreiche und im Kirchenstaate unter Pius 7, keine Verfassungen gelten sollten; das Königreich der Niederlande dagegen eine Verfassung erhielt, die alle frühere seit 1798, nach französischem Zu­ schnitt gemodelte, in diesem Staate, bei weitem über­ traf, weil der zum Throne berufene Oranier nicht blos überhaupt eine Verfassung, sondern die anpas­ sendste für sein Volk und sein Reich wollte.

Je neuer die politische Erscheinung der schrift­ lichen Verfassungsurkunden, als Unterlagen des innern StaatSlebenö, überhaupt ist; desto weni-

304 ger darf es befremden, daß bis jetzt die wissen­ schaftliche Gestaltung des VerfassungsrechtS nur noch auf zwei Werke sich beschränkt, wovon das eine die dogmatische, das zweite die geschicht­ liche Form anbaute. Das Werk, worin die dogmatische Form des Verfassungsrechts zuerst versucht ward, begann der verewigte Präsident Freiherr von Aretin, unter dem Titel: Staatsrecht der konstitutionel­ len Monarchie. Altenburg 1824. 8. Der Verfasser starb über der Bearbeitung dieses so gediege­ nen Werkes, so daß nur der erste Band und die ersten 194 Seiten der ersten Abtheilung des zweiten Bandes von ihm herrühren. Von da an setzte Karl von Rotteck die erste Abtheilung des zweiten Bandes fort, und lieferte in der zweiten Abtheilung des zweiten Bandes den Schluß des Werkes. Daß beide Männer der wichtigen wissen­ schaftlichen Aufgabe völlig gewachsen waren, und daß beide den Gegenstand, ergriffen von seiner hohen politischen Wichtigkeit, mit Liebe anbauten, und da­ durch die staatswissenschaftliche Literatur mit einem völlig neuen Werke bereicherten, darf kaum bemerkt werden. Nur Eine Ausstellung sey an diesem Werke erlaubt, daß der von dem ersten Verfasser gewählte Titel: Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, die sämmtlichen constitutionellen Republiken von dem Werke ausschließt, welche, — so wesent­ lich verschieden auch immer die republikanischen Verfassungsformen von den monarchischen seyn mögen, — doch in dem Hauptpuncte mit den constitutionel­ len Monarchieen Zusammentreffen, daß das innere Staatsleben auf schriftlichen Verfassungsurkunden beruht, und daß diese Urkunden die gesummten Be-

305 Dingungen des innern Staatslebens, nach dem verfassungsmäßig festgesetzten Verhältnisse der gesehgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt zur selbstständigen Begründung der Individualität eines in der Wirklichkeit bestehenden Staates, in sich ent' halten. Den Versuch, das Verfassungsrecht auf dem zweiten Wege, — d. h. unter der geschicht­ lichen Form der Wissenschaft — darzustellen, un­ ternahm ich in dem vierten Theile meiner „Staats­ wissenschaften im Lichte unserer Zeit," des­ sen erste Auflage, gleichzeitig mit dem ersten Bande des Werkes von Aretin, in der Ostermesse 1824 erschien. Natürlich kann mir selbst kein Urtheil dar­ über zustehen, ob dieser Versuch gelungen oder fehl­ geschlagen sey; allein zweierlei darf ich dabei bemerken. Das eine betrifft die neue Bearbeitung und Fortbildung dieser Wissenschaft in der (zur Ostermesse 1828 erschienenen) zweiten Auflage des genannten vierten Bandes meiner Staatswissenschaf­ ten, welcher um eine nicht unbedeutende Anzahl Bogen vermehrt ward, weil nicht nur viele Berich­ tigungen, Zusätze und Nachträge zu diesem Bande nöthig geworden waren; sondern auch im europäi­ schen Staatensysteme die neuen Verfassungen von Portugal, Griechenland und Sachfen-Meiningen/ so wie im amerikanischen Staatensysteme die vielen VerfassungsVersuche in den, aus vormaligen spanischen Kolonieen hervotgegaugenen/ neuen Frei­ staaten berücksichtigt werden mußten. Das zweite, was ich in Hinsicht der von mir gewählten ge. schichtlichen Form der neuen Wissenschaft bemer­ ke, besteht darin, daß ich überzeugt bin, es gereiche der Wissenschaft selbst zum Vortheile, daß beide Pölitz verm. Schr. LH. !.

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306 Formen ihrer systematischen Gestaltung versucht worden sind; daß beide eben so gut neben einan­ der bestehen können, wie die beiden von Pütter versuchten Bearbeitungen des teutschen Verfassungswesens; daß ich aber, nach meiner Ansicht, für den Anfänger in den Staatswissenschaften der geschichtlichen Form vor der dogmatischen den Vor­ zug gebe, zu welcher lesit Pfeiffer, Rössig, Jung u. a.), übertraf er in jeder Hinsicht. Es war in der That die Fi­ nanzwissenschaft diejenige Staatswissenschaft, wel­ cher er nach allen ihren Theilen und ein­ zelnen Gegenständen, gestützt auf seine Natio­ nalökonomie und auf die in Petersburg gemachten practischen Erfahrungen, durchaus gewachsen war. Dies sprach ich in der ausführlichen Recension die­ ses Werkes in der Leipziger L. Z. 1821. Nr. 318 u. 319 mit voller Ueberzeugung aus, und belegte es durch die Aufstellung und Beurtheilung der ein­ zelnen Hauptlehren. Dieses Werk ist namentlich für den practischen Staats- und Geschäftsmann im Fi­ nanzfache unentbehrlich, weil es durchgehends auf die Licht- und Schattenseiten in der europäischen Finanzgesehgebung und Finanzpraxis Rücksicht nimmt. Ein wahrer Reichthum richtiger Begriffe ist z. B. in den Lehren von den Domainen, von den Regalien, von den direkten und indirecten Steuern, von den Staatsanleihen, dem Papiergelde u. s. w. niederge-

407 legt- Allerdings vertheidigte Jakob, gegen die An­ sichten anderer verdienter Männer, die indirecten Steuern; er hatte aber dabei den gegenwärtigen Zu­ stand der Staaten, welcher mit den directen Steuern leider nicht ausreicht, und das Beispiel der blühen­ den Handelsstaaten für sich, welche, dafern die in­ directen Steuern nur zweckmäßig in sich selbst, und nach einem richtigen Verhältnisse zu den directen Steuern angelegt werden, weit weniger nachtheilig auf den öffentlichen Wohlstand wirken, als Viele meinen, und weil sie zugleich diejenige Classe von Bürgern mitbesteuern, denen man durch die directen Steuern nur wenig, nach der Höhe ihres reinen Er­ trages, beikommen kann. Mit Ernst, Würde und Freimüthigkeit erklärte er sich aber durchgehends gegen die eigentliche Plusmacherei und gegen ungerechte und zweckwidrige Steuern, namentlich gegen die Be­ nutzung der Justiz und Polizei als Finanzquelle. — Bei den geläuterten nationalökonomischen, staatsrecht­ lichen und politischen Grundsätzen, und bei der steten Rücksicht auf das, was in der Anwendung dieser Grundsätze die Probe der Staatspraxiö besteht, wird dieses Buch für viele Jahrzehnte ein unentbehrliches Nachschlagewerk der Männer vom Fache bleiben, wenn gleich, wie zu erwarten steht, die Finanzwis­ senschaft in der nächsten Zeit reicher und mannigfalti­ ger bearbeitet werden sollte, als bisher. Im I. 1823 lieferte der Verewigte noch (aber (anonym) die Übersetzung eines politischen

Werkes, das in Europa große Sensation erregte, und manche harte Beschuldigungen europäischer Re­ gierungen sich erlaubte. Dies war das Werk Everett's: „Europa, oder Uebersicht der Lage der europäischen Hauptmächte im I. 1821. 27*

408 Aus dem Engl. mit (im Sinne der monarchischen Grundsätze,) erläuternden und berichtigenden Anmerkungen des UebersetzerS. 2 Theile, (Bamberg, bei Kunz 1823. 8.)." Um unerkannt zu bleiben, wählte Jakob einen bayrischen Verleger; auch ward bei der Ueberseßung alles das theils weggelaffen, theils modificirt, was die Persönlichkeit der Regenten be­ traf. Der Uebersetzer würdigte das Buch in seinem Vorberichte sehr richtig dahin: „ das Thema desselben sey, daß die fortschreitende Civilisation mit der da­ von unzertrennlichen Ausbildung und Verbreitung li­ beraler politischer Begriffe und Grundsätze die Ver­ wandlungen der willkürlichen Regierungen in liberale constitutionelle Staatsverfassungen nach sich ziehe, und daß alles Kämpfen dagegen diese Wirkung nicht hin­ dern könne, wenn anders der Civilisation ihr freier Lauf gelassen wird; daß eine gewaltsame Reaction nur mache, daß die Wirkung unter mehrer» Kräm­ pfen, Convulsionen und Explosionen zu Stande kommt, dahingegen, wenn man dem natürlichen Gange folgt, ohne sich ihm gewaltsam entgegen zu setzen, alle Wirkungen ruhig und friedlich eintreten." Der Verewigte vertheidigte, in den, nicht zu zahl­ reichen, aber gehaltvollen Zusätzen, Anmerkungen und Berichtigungen, das monarchische Princip gegen ein­ zelne Behauptungen des Republikaners, und wies ihm, wenn derselbe in Europa zunächst die Schat­ tenseiten hervorhob, auch die Lichtseiten in den euro­ päischen Versassungs- und Verwaltungöformen nach, die nicht übergangen werden dürften.

Am Schluffe dieser Charakteristik der schriftstelle­ rischen Verdienste Jakobs muß noch einiger Schrif-

409 ten desselben gedacht werden, welche den Zustand der teutschen Hochschulen betreffen. Der Ver­ ewigte war ein Mann, der die unbestreitbaren Ver­ dienste der Hochschulen um die teutsche Nationalbil­ dung, um die Erhaltung und Bewahrung echter Ge­ lehrsamkeit, und um die Läuterung und Fortführung des rein wissenschaftlichen Sinnes von einem leben­ den Geschlechte zum andern, deutlich erkannte, und die Hochschulen theils nach ihrem literäristhen, theils nach ihrem politischen Standpuncte würdigte. Allein er kannte die Welt nicht blos als Stubengelehrter; sein Geist erhob ihn über die veralteten und beengen­ den Zunftformen, die bei mehrer» ältern teutschen Hochschulen aus dem Zeitalter ihrer Stiftung sich erhalten habe». Er hatte auf Reisen, und namentlich während seines Aufenthalts in Rußland, das Verhältniß der Praxis zur Theorie, folglich auch die Stellung der Hochschule zum wirklichen Staatsleben gehörig er­ messen. Er war ein Professor, nicht im Geiste des fünfzehnten, sondern des neunzehnten Jahrhunderts, und erkannte, wie nachtheilig die veralteten Formen der Hochschulen auf den Fortschritt der Wissenschaf­ ten, aus den zeitgemäßen Vortrag derselben, auf den jugendlich emporstrebenden Geist der Studirenden, und selbst auf den Pennalismus der Lehrer i>n öffentlichen und Privatleben zurückwirken. Er wollte deshalb zeitgemäße Fortschritte der Hochschulen; keine Beschränkung der Lehrfreiheit, wohl aber Erweite­ rung und Ausdehnung der akademischen Lehrämter auf Wissenschaften, welche erst seit den letzten 30 Jahren weiter aus- und durchgebildet wurden. Da­ bei verlangte er strenge Disciplin in Hinsicht der äußern Sitten der Studirenden, weil er ein-

410 sah, daß die möglichst höchste Freiheit des geisti­ gen Lebens nur bei Reinheit, Gewandtheit und Milde des äußern Lebens bestehen kann und er­ reicht wird, und daß der rohe Student jedesmal ein Unfreier in Hinsicht der geistigen Bildung bleibt. — In diesem ernsten, aber zeitgemäßen Sinne und Geiste schrieb er bereits im1.1798 anonym: „über die Universitäten in Teutschland, besonders in den königl. preuß. Staaten, (Berlin, 1798. 8.)." — Viele von seinen hier ausgestellten Vorschlägen hat die Folgezeit bewährt, und bei den neugestifteten Hochschulen verwirklicht; mehrere jener Vorschläge passen aber freilich nicht mehr für die Gestaltung und Fortbildung teutscher Hochschulen im zweiten Viertheile des neunzehnten Jahrhunderts. — Desto tiefer aus dem akademischen Leben gegriffen, und erhöht durch den geschärften Blick in der Staats­ praxis und vielseitige Weltkenntniß, so wie in der Zeit ihres Erscheinens berechnet auf die Beseitigung der nachtheiligen Eindrücke, welche Stourdza's berüchtigte und höchst unreife Anklage der teutschen Hochschulen auf dem Congresse von Aachen hervor­ bringen könnte, war Jakob's Schrift: „über aka­ demische Freiheit und Disciplin (Leipzig, 1819.8.)." Sie verdient noch jetzt von allen Staats­ und Geschäftsmännern gelesen und beherzigt zu wer­ den, welche zeitgemäße Umbildungen der akade­ mischen Formen, nach Lehrweise und Disciplin, be­ absichtigen. Daß ein Mann, von so ernstem Sin­ ne, wie Jakob, den Verirrungen nicht geneigt seyn konnte, welche in dem letzten Jahrzehnte von der so­ genannten Burschenschaft ausgingen, war eine nothwendige Folge der von ihm über die akademische Disciplin ausgesprochenen Grundsätze, die er auch

411 praktisch als mehrjähriges Oberhaupt der Hochschule Halle befolgte. Allein nur auf ausdrücklichen hohen Befehl, und anonym, schrieb er im I. 1824(Halle, bei Ruff): „Amtliche Belehrung über den Geist und das Wesen der Bur­ schenschaft, aus den Untersuchungsacten gezogen, und zunächst zur Verwarnung für alle Studirende auf den königl. preuß. Universitäten bestimmt." Aus seinem Nachlasse erschien, nach seinem Tode: „Grundriß der Handelswissenschaft für

Staatsgelehrte ’c. Zu seinen Vorlesungen entworfen. Halle, 1828. 8." Diese Schrift enthält in §§, welche er in Dictaten gab, eine klare, zusammen­ hängende und kurze Uebersicht der Handels wis­ sen schäft, nicht zunächst auf den Kaufmann, sondern auf den Kameralisten und Staatsmann berechnet, der weniger des Details, als der lichtvollen Ueber­ sicht des ganzen Gebiets bedarf. Sehr einfach theilte er das Ganze in zwei Theile: 1) in die techni­ sche Handelslehre (a. von dem Gelde und dessen Stellvertretern; b. von den Waaren; c. von den verschiedenen Arten des Handels; d. von den Han­ delsgeschäften und Hülfsinstituten für den Handel); — und 2) in die politische Handelölehre (a. von dem Handel in Beziehung auf den Staat überhaupt; b. von der Politik der Rechtsgesetzgebung, die auf den Handel sich bezieht; c. von der Politik der polizei­ lichen , staatöwirthschaftlichen und finanziellen Maas­ regeln in Ansehung des Handels). — Ich berichtete über diesen Nachlaß in der Leipz. L- Z. 1828. St. 322.

Werfen wir nun einen Gefammtblick auf die öf­ fentliche literarische Thätigkeit des Verewigten;

412 so tritt als Ergebniß hervor: daß er, gestützt auf die frühere Unterlage gründlicher philologischer Kennt­ nisse in alten und neuen Sprachen, beim Antritte seiner akademischen Laufbahn, zunächst der Philo­ sophie nach allen ihren Hauptwissenschaften sich wid­ mete, diese — im Geiste des kritischen Systems, zu dessen ersten Verbreitern er gehörte — mit selten r Klarheit und Deutlichkeit, unbeschadet der Gründ­ lichkeit und systematischen Haltung, auf dem Kathe­ der und in Schriften vortrug, allmählig aber von dem Anbaue der praktischen Philosophie, und nament­ lich der philosophischen Rechtslehre, zu dem Stu­ dium und Vortrage der eigentlichen Staatöwissenschaften überging; und in dem Anbaue der Nationalökonomie und der Finanzwis­ senschaft zu einer der ersten Stellen in dem Kreise der verdienstvollsten neuesten Bearbeiter dieser Wis­ senschaften sich erhob, weil er, mit der Gründlich­ keit und Tiefe der Forschung, echt philosophischen Geist, Freimüthigkeit uni) Liberalität des Urtheils, und einen — durch seinen mehrjährigen Staatsdienst erworbenen — festen Tact in der richtigen Anwen­ dung der Theorie auf die Praxis verband- — So wird fein Name mit Achtung und Ruhm auf die Nachwelt übergehen, und die Freunde, die ihn näher­ kannten, werden in ihren Herzen eben so warm und innig sein Bild, als das Bild eines edlen und recht­ schaffenen Mannes bewahren, wie ihm die öffentliche Meinung der Gelehrten und Staatsmänner schon längst einen Ehrenplatz in der Mitte der teutschen Literatur anwieö, und für die Zukunft sicherte. So konnte er mit dem Bewußtseyn in die Gruft steigen, daß er nicht vergeblich gelebt habe.