Vermessene Disziplin: Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien [1. Aufl.] 9783839408384

Im Weltmaßstab gesehen erscheinen die afrikanischen und lateinamerikanischen Sozialwissenschaften als peripher. Doch ent

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German Pages 564 Year 2015

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Inhalt
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN
I. Für ein Zentrum-Peripherie-Modell in der Wissenschaftsforschung Bemerkungen zur Nationalität, geographischen Konzentration und historischen Expansion moderner Wissenschaft (29). "Ideen wurden konsumiert wie Stoffe, Schienen und Lokomotiven" - die periphere Entstehung der Soziologien in Afrika und Lateinamerika (36). Lateinamerika- ftüher Import und Emanzipation (38). Afrika - soziologische Peripherie flüher wie heute (42)
1. Konzeptualisienmg eines Zentrum-Peripherie-Modells für die aktuellen Entwicklungen in der Soziologie Zentrum-Peripherie-Ansätze in der Wissenschaftstheorie (48). "Dependencia y desarrollo"- eine Inspiration und drei Analogien (52).
2. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Entwicklung und Unterentwicklung Kriterien und globale Indikatoren wissenschaftlicher Entwicklung (59). Förderliche und hinderliche Faktoren in der Wissenschaftsentwicklung (63). Statistische sozialwissenschaftliche Entwicklungsindikatoren (68). Umkehrung sozialwissenschaftlicher Entwicklung: Afrika (74). Bisherige Entwicklungen in Lateinamerika (81 ). Kritische Bemerkungen zur Einschätzung sozialwissenschaftlicher Entwicklung (87).
3. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Dependenz und Autonomie Konzeptualisierungen wissenschaftlicher und intellektueller Dependenz in der Literatur (90). Finanzielle Abhängigkeit- ein Indikator für wissenschaftliche Dependenz? (94). Grenzüberschreitende Rezeptionsund Publikationsprozesse (99). Zertifikation und Reproduktion wissenschaftlicher Gemeinschaften (103). Mechanismen und Auswirkungen intellektueller Dependenz: "captive mind" und lokale soziale Irrelevanz (105).
4. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Marginalität und Zentralität Internationale bibliographische Datenbanken: Indikator für Marginalität und Instrument der Marginalisierung (110). Ungleiche globale Arbeitsteilung in der Soziologie (124). "Place matters only to those for whom Great Truths are not an option" - Lokalität und Festlegung auf das Exotische (129). Empirische Überprüfung der Hypothesen zu ungleicher globaler Arbeitsteilung (131 ). Die Disziplineneinteilung in den Sozialwissenschaften: Ethnologie, Orientalistik, "Area Studies" (144). Evolutionistische Annahmen über das Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung (148).
II. Theoretische Angriffe auf die nordatlantische Hegemonie Kritik am Eurozentrismus und Provinzialisierung Europas (I52). Grientalismus und Kritik an der Disziplineneinteilung der Sozialwissenschaften (155). Kritik an der Irrelevanz importierter Kategorien (157). Kritik an den dekonstruktiven Projekten und an der Indigenisierungsdebatte (160).
III. Konterhegemoniale Strömungen -eine Konzeptualisierung Die Herausbildung konterhegemonialer Strömungen versus Anschluss an den internationalen "Mainstream" (167). Ausgangsvoraussetzungen, "öffentliche" und "angewandte Soziologien"- Argumente (1 71 ). Ableitung von Indikatoren für Fallstudien (180). "Cepalismus" und Dependenztheorie - ein historisches Beispiel für eine konterhegemoniale Strömung in Lateinamerika (181 ).
TEIL 2: DIE SÜDAFRIKANISCHEN "LABOUR STUDIES" ALS KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNG
IV. Einleitung: Historische Entwicklung und aktuelle Tendenzen der Soziologie in Südafrika- ein Überblick
V. "South African Labour Studies"- von der Gründungsphase bis zum Ende der Apartheid 209 Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: "All these issues, resistance, trade unians and so on were in the air" (209). Vorgänger der "Labour Studies": Kommunistische Partei, Industriepsychologie und der "Durban Moment" (211). Die Strategie des "Trojanischen Pferdes" als politische Motivation fur das Aufkommen der "Labour Studies" (219). "Rebels without a cause of their own" - über das "kiitische Engagement" weißer Akademikerinnen in der schwarzen Arbeiterbewegung (224). Die Grenze zwischen Theorie und Praxis - akademische Freiheit, Zensur und Repression (229).
VI. Vom Widerstand zur Rekonstruktion: Entwicklungen in "South African Labour Studies" seit dem Ende der Apartheid Ideologische Krise und Verlust politischer Motivation (235). Tendenzen institutioneller Differenzierung - der Aufbau gewerkschaftsinterner Forschungsapparate (238). "A little bit distant from the cutting throat of struggle"- Wettbewerb, Kommerzialisierung und Professionalisierung (243). "Hunting ground for progressives" - Schwierigkeiten bei der Reproduktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft (249). Südafrikanische "Labour Studies" als Beispiel für die Entstehung und Entwicklung einer konterhegemonialen Strömung (252).
VII. Charakteristika der südafrikanischen "Labour Studies" als konterhegemonialer Strömung
1. Im Dienste der Bewegung: "Labour Service Organizations" und die Universität als Geldwäscherei
2. Das "Sociology ofWork Programme" an der "University ofthe Witwatersrand" - Beginn der wissenschaftlichen Institutionalisierung Entstehung und Entwicklung (266). Fragen der Finanzierung, Position im Soziologiedepartment und Veröffentlichungspraxis (271). Die Forschungspraxis (278). Die Auftragsforschung (283). Akademische Lehre und studentische Forschungsinteressen (285). Frühstücksseminar und andere Kontakte (295).
3. Ein Jahrzehnt nach dem "Durban Moment" von 1973 - Entwicklungen in den IOLS Entstehung und Entwicklung (302). Die lOLS - eine Soziographie (308). Das "Trade Union Research Project" (TURP) in Durban - Beispiel für eine "Labour Service Organization" (313). Forschung im TURP (3 16). Gewerkschaftliche und Arbeiterbildung, Veröffentlichungen und TURP-Bibliothek (320). Auftraggeberlnnen, Personalentwick - Jung und Finanzen (324). Brückenköpfe - "Labour Service Organisations" als Element der Konterhegemonialität (329).
4. Industriesoziologie an der "University of Cape Town" Schwerpunkte der Forschung (338). Auflösungserscheinungen am Kap (341). Ergänzende Bemerkungen zu den drei Zentren (345).
5. Besonderheiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft Ohne Vereinigung, ohne Zeitschrift (349). "The Labour Bulletin is picked up by anyone who is a role player in the real world" (352). Das Herausgeberkollegium des "Labour Bulletin" (356). Das Themenspektrum des "Labour Bulletin" (361 ).
VIII. "We badtobe very imaginative"- theoretische Entwicklungen der südafrikanischen "Labour Studies"
1. Überblick über theoretische Entwicklungen "Ja, aber. .. ". Theoretische Einflüsse und Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre (370). Rezeption und Einfluss des "Marxismus" (376). Chefetagen und Prekarisierung - theoretische Entwicklungen in den 1990er Jahren (382). Zwischen globalen Trends und "Sonderweg" - Beiträge der südafrikanischen "Labour Studies" zur Entwicklung der Subdisziplin (385). "Social movement unionism", Identität und Kultur am Arbeitsplatz und in der Gewerkschaftsbewegung (388).
2. Zur soziologischen Produktion der südafrikanischen "Labour Studies": vier Bücher "Essays in Southern African labour history" (1978) (391). "Cast in a racial mould - labour process and trade unionism in the foundries" (1985) (406). "Cast in a racial mould" - ein Fallbeispiel fiir Braverrnans Theorie des Arbeitsprozesses? (415). "Democracy and modernisation in the making of the South African trade union movement: the dilemma ofleadership, 1973-2000" (2001) (423). Konterhegemonialer Anspruch als Ausdruck erstarkenden Selbstbewusstseins (433). "Transition from below - fm·ging trade unionism and workplace change in South Africa" (2003) (442). "Transition from below"- Soziologie von unten und theoretische Relevanz (455).
IX. "Scouts on the periphery"? -zu den internationalen Beziehungen der "Labour Studies" "Wir schmorten im eigenen Saft" - akademischer Boykott, Importsubstitution und südafrikanischer "Sondetweg" (460). lntemationale Öffnung nach 1994 -Elemente von Marginalität (464). Das RC 44: lntemationaler Auftritt der südafrikanischen "Labour Studies" (473). "South African Labour Studies" in der intemationalen Arena (482).
TEIL 3: RESUMEE UND AUSBLICK
X. "South African Labour Studies" als konterhegemoniale Strömung "Quite as important as the influence of intellectuals on the labour movement, after all, was the influence of this social movement on intellectuals" (489). "Universell verständlich" und "gleichzeitig arrogant lokal" ( 498).
XI. Vermessener Universalitätsanspruch in der Soziologie
ANHÄNGE
Anhang 1: Geführte Interviews in Südafrika, nach Städten und alphabetisch
Anhang 2: Interviewleitfaden "Labour Studies"-Personal
Anhang 3: Zentrale Texte aus der südafrikanischen "LabOttr Studies"- Gemeinschaft, nach Häufigkeit der Nennungen und alphabetisch nach Autorinnen
Verzeichnis der Online-Anhänge, Kurztitel und Titel
Verzeichnis der Tabellen und Karten
Bibliographie
Personenregister
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Vermessene Disziplin: Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien [1. Aufl.]
 9783839408384

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Wiebke Keim Vermessene Disziplin

Wiebke Keim (Dr. phil.) promovierte an den Universitäten Freiburg

und Paris IV-Sorbonne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftssoziologie, Erkenntnistheorie, europäische sowie außereuropäische Soziologiegeschichte, Globalisiemng, soziale Ungleichheit und Prekarität.

WIEBKE KEIM

Vermessene Disziplin Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien

[ transcript]

Gefördert aus Mitteln der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Freiburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar.

© zoo8 transcript Verlag, Bietefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hema Maps Lektorat & Satz: Wiebke Keim & Eris J. Keim Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-838-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung

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Abkürzungsverzeichnis

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Einleitung

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

I. Für ein Zentrum-Peripherie-Modell in der Wissenschaftsforschung 29 Bemerkungen zur Nationalität, geographischen Konzentration und historischen Expansion moderner Wissenschaft (29). "Ideen wurden konsumiert wie Stoffe, Schienen und Lokomotiven" - die periphere Entstehung der Soziologien in Afrika und Lateinamerika (36). Lateinamerika- ftüher Import und Emanzipation (38). Afrika- soziologische Peripherie flüher wie heute (42) I. Konzeptualisienmg eines Zentrum-Peripherie-Modells für die aktuellen Entwicklungen in der Soziologie 47 Zentrum-Peripherie-Ansätze in der Wissenschaftstheorie (48). "Dependencia y desarrollo"- eine Inspiration und drei Analogien (52). 2. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Entwicklung und Unterentwicklung 59 Kriterien und globale Indikatoren wissenschaftlicher Entwicklung (59). Förderliche und hinderliche Faktoren in der Wissenschaftsentwicklung (63). Statistische sozialwissenschaftliche Entwicklungsindikatoren (68). Umkehrung sozialwissenschaftlicher Entwicklung: Afrika (74). Bisherige Entwicklungen in Lateinamerika (81 ). Kritische Bemerkungen zur Einschätzung sozialwissenschaftlicher Entwicklung (87).

3. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Dependenz und Autonomie 89 Konzeptualisierungen wissenschaftlicher und intellektueller Dependenz in der Literatur (90). Finanzielle Abhängigkeit- ein Indikator für wissenschaftliche Dependenz? (94). Grenzüberschreitende Rezeptionsund Publikationsprozesse (99). Zertifikation und Reproduktion wissenschaftlicher Gemeinschaften (103). Mechanismen und Auswirkungen intellektueller Dependenz: "captive mind" und lokale soziale Irrelevanz (105).

4. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Marginalität und Zentralität 108 Internationale bibliographische Datenbanken: Indikator für Marginalität und Instrument der Marginalisierung (110). Ungleiche globale Arbeitsteilung in der Soziologie (124). "Place matters only to those for whom Great Truths are not an option" - Lokalität und Festlegung auf das Exotische (129). Empirische Überprüfung der Hypothesen zu ungleicher globaler Arbeitsteilung (131 ). Die Disziplineneinteilung in den Sozialwissenschaften: Ethnologie, Orientalistik, "Area Studies" (144). Evolutionistische Annahmen über das Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung (148). II. Theoretische Angriffe auf die nordatlantische Hegemonie 151 Kritik am Eurozentrismus und Provinzialisierung Europas (I52). Grientalismus und Kritik an der Disziplineneinteilung der Sozialwissenschaften (155). Kritik an der Irrelevanz importierter Kategorien (157). Kritik an den dekonstruktiven Projekten und an der Indigenisierungsdebatte (160).

111. Konterhegemoniale Strömungen -eine Konzeptualisierung 167 Die Herausbildung konterhegemonialer Strömungen versus Anschluss an den internationalen "Mainstream" (167). Ausgangsvoraussetzungen, "öffentliche" und "angewandte Soziologien"- Argumente (1 71). Ableitung von Indikatoren für Fallstudien (180). "Cepalismus" und Dependenztheorie - ein historisches Beispiel für eine konterhegemoniale Strömung in Lateinamerika (181 ).

TEIL 2: DIE SÜDAFRIKANISCHEN "LABOUR STUDIES" ALS KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNG IV. Einleitung: Historische Entwicklung und aktuelle Tendenzen der Soziologie in Südafrika- ein Überblick 195 V. "South African Labour Studies"- von der Gründungsphase bis zum Ende der Apartheid 209 Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: "All these issues, resistance, trade unians and so on were in the air" (209). Vorgänger der "Labour Studies": Kommunistische Partei, Industriepsychologie und der "Durban Moment" (211). Die Strategie des "Trojanischen Pferdes" als politische Motivation fur das Aufkommen der "Labour Studies" (219). "Rebels without a cause of their own" - über das "kiitische Engagement" weißer

Akademikerinnen in der schwarzen Arbeiterbewegung (224). Die Grenze zwischen Theorie und Praxis - akademische Freiheit, Zensur und Repression (229).

VI. Vom Widerstand zur Rekonstruktion: Entwicklungen in "South African Labour Studies" seit dem Ende der Apartheid

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Ideologische Krise und Verlust politischer Motivation (235). Tendenzen institutioneller Differenzierung - der Aufbau gewerkschaftsinterner Forschungsapparate (238). "A little bit distant from the cutting throat of struggle"- Wettbewerb, Kommerzialisierung und Professionalisierung (243). "Hunting ground for progressives" - Schwierigkeiten bei der Reproduktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft (249). Südafrikanische "Labour Studies" als Beispiel für die Entstehung und Entwicklung einer konterhegemonialen Strömung (252).

VII. Charakteristika der südafrikanischen "Labour Studies" als konterhegemonialer Strömung 255 1. Im Dienste der Bewegung: "Labour Service Organizations" und die Universität als Geldwäscherei

255

2. Das "Sociology ofWork Programme" an der "University ofthe Witwatersrand" - Beginn der wissenschaftlichen Institutionalisierung 265 Entstehung und Entwicklung (266). Fragen der Finanzierung, Position im Soziologiedepartment und Veröffentlichungspraxis (271). Die Forschungspraxis (278). Die Auftragsforschung (283). Akademische Lehre und studentische Forschungsinteressen (285). Frühstücksseminar und andere Kontakte (295). 3. Ein Jahrzehnt nach dem "Durban Moment" von 1973 Entwicklungen in den IOLS 302 Entstehung und Entwicklung (302). Die lOLS - eine Soziographie (308). Das "Trade Union Research Project" (TURP) in Durban - Beispiel für eine "Labour Service Organization" (313). Forschung im TURP (3 16). Gewerkschaftliche und Arbeiterbildung, Veröffentlichungen und TURP-Bibliothek (320). Auftraggeberlnnen, PersonalentwickJung und Finanzen (324). Brückenköpfe - "Labour Service Organisations" als Element der Konterhegemonialität (329). 4. Industriesoziologie an der "University of Cape Town" 338 Schwerpunkte der Forschung (338). Auflösungserscheinungen am Kap (341). Ergänzende Bemerkungen zu den drei Zentren (345). 5. B esonderheiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft 349 Ohne Vereinigung, ohne Zeitschrift (349). "The Labour Bulletin is picked up by anyone who is a role player in the real world" (352). Das Herausgeberkollegium des "Labour Bulletin" (356). Das Themenspektrum des "Labour Bulletin" (36 1).

VIII. "We badtobe very imaginative"- theoretische Entwicklungen der südafrikanischen "Labour Studies"

369

1. Überblick über theoretische Entwicklungen 369 "Ja, aber. .. ". Theoretische Einflüsse und Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre (370). Rezeption und Einfluss des "Marxismus" (376). Chefetagen und Prekarisierung - theoretische Entwicklungen in den 1990er Jahren (382). Zwischen globalen Trends und "Sonderweg" Beiträge der südafrikanischen "Labour Studies" zur Entwicklung der Subdisziplin (385). "Social movement unionism", Identität und Kultur am Arbeitsplatz und in der Gewerkschaftsbewegung (388). 2. Zur soziologischen Produktion der südafrikanischen 391 "Labour Studies": vier Bücher "Essays in Southern African labour history" (1978) (391). "Cast in a racial mould - labour process and trade unionism in the foundries" (1985) (406). "Cast in a racial mould" - ein Fallbeispiel fiir Braverrnans Theorie des Arbeitsprozesses? (415). "Democracy and modernisation in the making of the South African trade union movement: the dilemma ofleadership, 1973-2000" (2001) (423). Konterhegemonialer Anspruch als Ausdruck erstarkenden Selbstbewusstseins (433). "Transition from below - fm·ging trade unionism and workplace change in South Africa" (2003) (442). "Transition from below"- Soziologie von unten und theoretische Relevanz (455).

IX. "Scouts on the periphery"? -zu den internationalen Beziehungen der "Labour Studies"

459

"Wir schmorten im eigenen Saft" - akademischer Boykott, Importsubstitution und südafrikanischer "Sondetweg" (460). lntemationale Öffnung nach 1994 -Elemente von Marginalität (464). Das RC 44: lntemationaler Auftritt der südafrikanischen "Labour Studies" (473). "South African Labour Studies" in der intemationalen Arena (482).

TEIL 3: RESUMEE UND AUSBLICK X. "South African Labour Studies" als konterhegemoniale Strömung

489

"Quite as important as the influence of intellectuals on the labour movement, after all, was the influence of this social movement on intellectuals" (489). "Universell verständlich" und "gleichzeitig arrogant lokal" (498).

XI. Vermessener Universalitätsanspruch in der Soziologie

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ANHÄNGE

Anhang 1: Geführte Interviews in Südafrika, nach Städten und alphabetisch

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Anhang 2: Interviewleitfaden "Labour Studies"-Personal

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Anhang 3: Zentrale Texte aus der südafrikanischen "LabOttr Studies"-Gemeinschaft, nach Häufigkeit der Nennungen und alphabetisch nach Autorinnen

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Verzeichnis der Online-Anhänge, Kurztitel und Titel

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Verzeichnis der Tabellen und Karten

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Bibliographie

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Personenregister

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Danksagung

Dieses Buch beruht auf der überarbeiteten Fassung meiner Dissertationsschrift "Vermessene Disziplin - nordatlantische Dominanz und konterhegemoniale Strömungen in der Entwicklung afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien". Das Promotionsprojekt wurde im Rahmen einer Doppelbetreuung ("co-tutelle de these") an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universite Paris IV -Sorbonne durchgeflihrt. Die Arbeit wurde im August 2006 eingereicht und am 16. Dezember 2006 in einer gemeinsamen Disputation verteidigt. Mitglieder der Jury waren Prof. Dr. Wolfgang Eßbach und PD Dr. Axel Paul vom Institut fiir Soziologie der Universität Freiburg sowie Dr. Terry Shinn, Directeur de Recherche am "Centre National de Ia Recherche Scientifique" und Prüfungsberechtigter an der Universite Paris IV-Sorbonne sowie Dr. Roland Waast, Directeur de Recherche am "Institut de Recherche pour le Developpement" in Paris. Wiewohl das Verfassen einer Dissertationsschrift über weite Strecken eine überaus einsame Angelegenheit ist, bedarf eine derartige Arbeit der Mitwirkung vieler anderer, mehr oder weniger direkt Beteiligter. Zahlreichen Personen bin ich daher zu großem Dank verpflichtet. Er gilt insbesondere meinen Betreuern, Prof. Dr. Wolfgang Eßbach, der ein anfangs mehr als waghalsiges Projekt zur Betreuung anzunehmen bereit war, mir dessen Bewältigung zutraute und es über vier Jahre mit klugen, wohlwollenden und stets beruhigenden Ratschlägen begleitet hat. Darüber hinaus wäre ohne seine beistehenden Gutachten das Vorhaben schon aus finanziellen Gründen gescheitelt. Prof. Dr. Jean-Michel Be11helot, meinem vor kurzem verstorbenen Pariser Lehrer, der die Fertigstellung des Projekts, das er in einem Gespräch nach Abschluss meiner Maitrise anregte, nicht mehr miterleben konnte. Ich hoffe, seinen Ansprüchen an rigorose Argumentation und Begründung, die er selbst bewundernswert beherrschte, auch nur annähernd nachzukommen. Der Großteil des Textes wurde in der Erwartung seines kritischen Blicks verfasst. Zu danken ist Dr.

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I

VERMESSENE DISZIPLIN

Terry Shinn, der nach dem Tode Berthelots ohne Umschweife bereit war, mich und mein Projekt mit offenen Armen anzunehmen. Allein ihm ist es zu verdanken, dass die deutsch-französische Dimension in der Betreuung bis zum Abschluss aufrechterhalten werden konnte. Außerdem Prof. Ari Sitas, dem die Relevanz meines Projekts für die Soziologien des Südens und für die laufenden Debatten sofort bewusst war. Seine Kommentare zu dem noch prekären Projektvorschlag haben mich entscheidend zur Durchführung ermutigt. Er weckte mein Interesse für die Soziologie der Arbeit und der Industrie in Südafrika, empfing mich in seinem Institut und stellte die ersten Kontakte zu dortigen Einrichtungen her. Weiterhin haben zwei Gespräche mit Dr. Roland Waast am "Institut de Recherche pour le Developpement" in Paris in der Anfangsphase geholfen, den theoretischen Rahmen zu problematisieren. Meine Vorstellung von Konterhegemonialität in der Wissenschaft hat hier ihren Ursprung. PD Dr. Axel Paul sprang sehr kurzfristig und rasch entschlossen ein, um die Jury für die Disputation in französischer Sprache zu vervollständigen. Ferner gebührt all denen, die mich in der Durchführung der Fallstudie in Südafrika unterstützten, herzlicher Dank. Zahlreiche Personen waren bereit, in langen Gesprächen ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen mitzuteilen. Ohne diese ausführlichen Interviews wäre der gesamte zweite Teil undenkbar. Daher danke ich Sthembiso Bhengu, Andries Bezuidenhout, Debby Bonnin, Belinda Bozzoli, Sakhela Buhlungu, David Cooper, Shane Godfrey, Jay Govender, Jonathan Grossman, Judith Head, Hlengiwe Hlela, Kar! von Holdt, David Jarvis, Ken Jubber, Dave Kaplan, Ian Macun, Neva Makgetla, Tessa Marcus, Sirnon Mapadimeng, Gerhard Mare, Johann Maree, Bethuel Maserumule, Tanya van Meelis, Mvusi Mgeyami, Sarah Mosoetsa, Rajen Naidoo, Blade Nzimande, Lnngisile Ntsebeza, Devan Pillay, Andiziwe Zenande Tingo und Eddie Webster. Jay Govender hatte mit großem Organisationstalent praktische Fragen vor Ort schon geklärt, bevor ich ankam. Er stellte mir einen Platz im Büro von IOLS-Research zur Verfügung und hat mir in vielen Gesprächen und Unternehmungen die Realitäten seines Landes nnd seiner Universität näher gebracht. Khayaat Fakier und Shameen Singh, die beiden SWOP-Sekretärinnen, stellten ihre Infrastruktur bereit und halfen, mich in der Administration ihrer Universität zu Recht zu finden. Sheetal Dullabh und ihre Mutter sorgten zwischendurch für mein leibliches Wohl und seelisches Gleichgewicht. Die Studierenden der Theaterund Filmschule in Johannesburg, insbesondere Michael Matsie, hellten mit ihrer Kreativität und Energie die Endphase des Aufenthalts auf. Selbst wenn die Studie zu Mexiko nicht die anfangs zugedachte Berücksichtigung finden konnte, haben die Interviews mit den dortigen Gesprächspartnerlnnen die in dieser Arbeit vorgelegten Reflexionen bereichert. Für die ausführlichen Gespräche danke ich daher Rafael Alarcon, Maria Eugenia Anguiano, Guille1mo Alonso Meneses, Maritza Caicedo Riascos, Rodolfo Cruz, Luis Escala, Redi Gomis, dem Padre Luis, Elizabeth

DANKSAGUNG

I

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Maier, Olga Odgers, Miguel Olmos, Olivia Ruiz, Jorge Santibafiez, Lawrence Taylor, Manuel Valenzuela, German Vega Briones und Laura Velasco in Tijuana; Roman Cabral, Manuel de la Cruz, Raul Delgado Wise, Catalina Gaetana Hemandez, Rodolfo Garcia Zamora, Miguel Moctezuma Longoria, Luis Rodolfo Moran, Juan Manuel Padilla, Oscar Perez Veyna, Felipe Reyes Romo, Carlos Enrique Romo Garnboa und Maria de Lourdes Salas Luevano in Zacatecas; Jesus Arroyo Alejandre, Alejandro Canales, Jorge Durand, Eric Janssen, Diego Juarez, Agustin Escobar Latapi, Israel Montiel, Basilia Valenzuela, Luis Vazquez Le6n und Ofelia Woo Morales in Guadalajara; sowie Salvador Berumen, Daniel Cortez Perez, Ruben Luna, Irene Sanchez Ramos, Claudio Stern Feitler, Raquel Sosa Elizaga, Luis Enrique Vertiz und Fabienne Venet in Mexico, D.F. Für ihre Unterstützung in der Planung meines Aufenthaltes wie in praktischen Dingen sei insbesondere Olga Odgers gedankt. Der Direktor der sozialwissenschaftliehen Abteilung des "Colegio de Ia Frontera Norte", Alfredo Hualde Alfaro, sorgte mit der Bereitstellung eines Büros für gute Arbeitsbedingungen. Weiterhin möchte ich Pili, Alberto und Alberto Osorio und Diana Tamayo Diaz danken für ihre herzliche Aufnahme in Zacatecas; außerdem Myriam Colmenares, mit der ich in der verlorenen Stadt und auf dem noch verloreneren Campus von Tijuana verbindende Momente verbrachte, wie ihrer Mutter, Großmutter und Tanten, die mich in Guadalajara wie eine Tochter aufnahmen. Lenin Matthias Riede! hat die gesamte Fassung der vorliegenden Schrift Korrektur gelesen. Mit den Arbeiten, die sich aus qualitativer Sozialforschung über verschiedene Sprachräume hinweg ergeben - Transkriptionen, Übersetzungen und Korrekturen - halfen Aurelie Clement, Sheetal Dullabh, Basti Hermisson, Silen Ingendahl, Moritz Keim, Michael Matsie und Manuel Quinon sowie meine liebe Freundin Anna Schnitzer. Pratiyan Morgenthaler löste verlässlich computertechnische Probleme. Annette Ehinger beim Prüfungsamt des Gemeinsamen Ausschusses der Universität Freiburg ist es gelungen, all die spezifischen Probleme, die aus der Doppelbetreuung erwuchsen, stets kompetent und zuverlässig zu lösen. Gedankt sei auch Martine Brient, Annie Devinant, Regina Klingenberg und Doris Seitz, die als Sekretärinnen an den Instituten in Freiburg und in Paris die verwaltungstechnischen Fragen gutgelaunt abwickelten. Sodann waren meine Familie und meine Freundinnen eine große Unterstützung. Es sei daher gedankt: Meinem Vater, Eris Johannes Keim, ohne dessen moralische und intellektuelle Förderung diese Schrift nicht zustande gekommen wäre. Er hat außerdem über den gesamten Zeitraum hinweg mit inhaltlichen Ratschlägen, Korrekturen des Textes und Tipps zur Organisation der Arbeit einen Beitrag zu ihrem Gelingen geleistet und maßgeblich an der Erstellung der Druckfassung mitgewirkt. Meinem Großvater, Wemer Mittrücker, dessen unzerstörbare Zuversicht ftir mein Leben vorbildlich ist. Ihnen beiden widme ich diese Arbeit. Meinem lieben Ergün

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I

VERMESSENE DISZIPLIN

Bulut, der über die Jahre hinweg mit großer Geduld meine bisweilen geistigen, bisweilen physischen Abwesenheiten ertragen hat. Er war bereit, seine persönlichen hinter meine wissenschaftlichen Interessen zurückzustellen und hat mir stets emotional wie in praktischen Dingen den Rücken gestärkt. Meiner Mutter, Renate Mittrücker, und meinem Bruder, Moritz Keim, die mir fernab von aller Soziologie immer Orte und Momente der Ruhe und Erholung boten und mit ihrem unschlagbaren Pragmatismus so manch geistiges wie organisatorisches Problem zu entschärfen wissen. Den Bewohnerinnen meiner Wohngemeinschaft: Henry Anthonipillai, Almila Akc,;a, Erhan Gencer, Ezgi und Helma Haselberger, Anika Meckesheimer, Helmut Meine! und Angelika Schiesser, die ein Umfeld schaffen, in dem die unmöglichsten Projekt gedeihen können. Claude Ve1ynaud, die mir während meiner Aufenthalte in Paris beiseite stand und administrative Angelegenheiten für mich zu regeln bereit war, die ich aus der Feme nicht erledigen konnte. Lascoux war in der heißen Phase der Analyse und Verschriftlichung der Himmel auf Erden. Auch Jacques und Madeleine Verynaud und Marie-Hel€me Letang haben dort für mein Wohlbefinden gesorgt, wofür ich ihnen ebenfalls von ganzem Herzen danke. Schließlich haben mehrere Organisationen dieses Projekt finanziell unterstützt: Der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Wissenschaftliche Gesellschaft der Universität Freiburg sowie die DeutschFranzösische Hochschule haben so die materielle Grundlage gesichert, auf die sozialwissenschaftliche Forschung angewiesen ist. Ich bin ihnen dafi.lr zu größtem Dank verpflichtet. Die Wissenschaftliche Gesellschaft der Universität Freiburg hat darüber hinaus mit einem Druckkostenzuschuss die Veröffentlichung in Buchform erheblich erleichtert.

Freiburg, im Frühjahr 2008

WiebkeKeim

Abkürzungsverzeichnis

AAAS

American Association for the Advancement of Science

AAPS

Association of African Political Science

AAWORD

African Association ofWomen for Research and Development

ACTU

Australia Council ofTrade Unions

ACTWUSA

Amalgamated Clothing and Textile Workers' Union ofSouth Africa ( 1989 in SACTWU übergegangen)

AfSA

African Sociological Association

ALAS

Asociaci6n Latinoamericana de Sociologia

ANC

African National Congress

ARCWS

Australian Research Centre on W ork and Society

ASSA

Association for Sociology in Southem Africa

AZACTU

Azanian Confederation ofTrade Unions

CALS

Centre for Applied Legal Studies

CAWU

Construction and Allied Workers' Union

CCAWUSA

Commercial, Catering and Allied W orkers' Union of South Africa (1989 in SACCAWU übergegangen)

CCMA

Commission for Conciliation, Mediation and Arbitration

CEBRAP

Centro Brasileiro de Analisis e Planejamiento

CEDES

Centro de Estudios del Estado

CEPAL

Comisi6n Econ6mica para America Latina

CEPPWAWU Chemical, Energy, Paper, Printing, Wood and Allied Workers' Union CHRP

Community Health Research Project

CLACSO

Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales

16

I

VERMESSENE DISZIPLIN

CNETU

Council ofNon-European Trade Unions

CNRS

Centre National de Ia Recherche Scientifique

CODESRIA

Council for the Development of Social Science Research in Africa

COSATU

Congress of South African Trade Unions

CPSA

Communist Party of South Africa (von 1921 bis zum Verbot 1950)

CSA

Cambridge Scientific Abstracts

CSD

Centre for Scientific Development, mit der FRD zur NRF fusioniert

CSIR

Council for Scientific and Indushial Research

CTMWA

Cape Town Municipal Workers' Association

cwc

Church and W ork Commission

CWIU

Chemical Workers' Industrial Union

cwu

Communication Workers' Union

DEA

Dip!C\me d'Etudes Approfondies

DENOSA

Democratic Nurses Organisation of South Africa

DENUSA

Democratic Nurses' Union ofSouth Africa

DflD

UK Department for International Development

DITSELA

Development Institute for Training, Support and Education for Labour

EHESS

Ecole des Hautes Etudes en Seiences Sociales

ETG

Economic Trends Group, auch: Economic Trends Research Group (ETRG)

ETRG

Siehe ETG

FAWU

Food and Allied Workers' Union

FBI

Federal Bureau oflnvestigation

FES

Friedrich-Ebert-Stifhmg

FlET

International F ederation of Commercial, Clerical, Professionaland Technical Employees

FLACSO

Facultad Latinoame1icana de Ciencias Sociales

FNETU

Federation ofNon-European Trade Unions

FOSATU

Federation ofSouth African Trade Unions

FRD

Foundation ofResearch Development, mit dem CSD zur NRF fusioniert

GAWU

General Agricultural Workers' Union

GEAR

Growth, Employment and Redistribution

GSP

Global Studies Program

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

I

GWU

Garment Workers' Union

HSRC

Human Seiences Research Council

ICCO

Interchurch Organisation for Development Cooperation

ICFTU

International Confederation ofFree Trade Unions

17

ICU

Industrial and Commercial Workers ' Union of Africa

IDEP

African Institute for Development and Planning

IDRC

International Development Research Centre

IFPRI

International Food Policy Research Institute

IHRG

Industrial Health Research Group

IHSEP

Industrial Health and Safety Education Project

IHU

Irrdustrial Health Unit

IIE

Institute for Irrdustrial Education

ILO

International Labour Organisation

ILPES

Instituto Latinoamericano de Planificaci6n Econ6mica y Social

ILRIG

International Labour Research and Information Group, seit 2001 International Labour Resource and Information Group

IMF

International Metalworkers' Federation

IMF-SACC

International Metalworkers' Federation- South African Coordinating Council

IMS

Iron Moulders Society

IMSSA

Independent Mediation Service of South Africa

INIST

Institut de !'Information Scientifique et Technique

IOLS

Industrial, Organizational and Labour Studies

IRP

Industrial Relations Project, UCT

ISA

International Sociological Association

ISCED

International Standard Classification of Education

IST

Institute for Scientific Information

ISP

Industrial Strategy Project

ITGLWF

International Textile, Garment and Leather Workers' Federation

KZN

KwaZulu Natal

LATINDEX

Sistema Regional de Infmmaci6n en Linea para Revistas Cientificas de America Latina, el Caribe, Espana y Portugal

LDC

Least Developed Countries

LEP

Labour and Euterprise Project

LERG

Labour and Economic Research Group

LMG

Labour Monitaring Group

LRA

Labour Relations Act

18

I

VERMESSENE DISZIPLIN

LSE

London School of Economics

LSEP

Labour and Small Euterprise Project

LSO

Labour Service Organisation

MAWU

Meta! and Allied W orkers' Union

MERSETA

Manufacturing, Engineering and Related Industries Sector Education and Training Authority

MIT

Massachusetts Institute of Technology

NACTU

National Council ofTrade Unions

NALEDI

National Labour and Economic Development Institute

NCSR

National Council of Social Research, vormals NBESR

NEDLAC

National Economic Development and Labour Council

NEHAWU

National Education and Health Workers' Union

NEUM

Non-European Unity Movement

NIPR

National Institute for Personnel Research

NRF

National Research Foundation, aus Fusion von CSD und FRD entstanden

NUM

National Union ofMineworkers

NUMSA

National Union ofMetalworkers ofSouth Africa

NUSAS

National Union of South African Students

ORSTOM

Organisme de Recherche sur !es Territoires d'Outre-Mer

OSSREA

Organization of Social Science Research in Eastern Africa

PAC

Pan Africanist Congress

POPCRU ppp

Police and Prisons' Civil Rights Union

PPWAWU

Paper, Printing, Wood and Allied Workers' Union

RAU

Rand Afrikaans University

RC18

Research Committee 18 "Political Sociology" der ISA

RC30

Research Committee 30 "Sociology ofwork" der ISA

RC44

Research Committee 44 "Labour movements" der ISA

RC48

Research Committee 48 "Social movements, collective action and social change" der ISA

RC5

Research Committee 5 "Race and ethnicity" der ISA

REF

Regional Economic Forum

RHRU

Reproductive Health Research Unit

SA

South Africa

SAAWU

South African Allied Workers' Union

SACBC

South African Catholic Bishops Conference

Purchasing Power Parities

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

I

19

SACCAWU

South African Commercial, Catering and Allied Workers' Union

SACHED

South African Committee for Higher Education

SACP

South African Communist Party (seit 1953, vormals CPSA)

SACTU

South African Congress of Trade Unions

SACTWU

South African Clothing and Textile Workers' Union

SACWU

South African Chemical Workers' Union

SADC

Southem African Development Community

SAIRR

South African Institute for Race Relations

SALB

South African Labour Bulletin

SALDRU

South African Labour Development Research Unit

SAMWU

South African Municipal Workers' Union

SANPAD

South African Netherlands Programme for Development

SAQA

South African Qualifications Authority

SARHWU

South African Railways and Harbour Workers' Union

SASA

South African Sociological Association

SASBO

The Finance Union

SASOV

Suid-Afrikaanse Sociologiese Vereniging

SATUCC

Southem African Trade Union Coordinating Council

SCI

Science Citation Index

SEIFSA

Steel and Engineering Industries Federation ofSouth Africa

SEP

Small Euterprise Project

SEWU

SelfEmployed Women 's Union

SIGTUR

Southem Initiative on Globalisation and Trade Union Rights

SITE

Standard Income Tax on Employees

SNI

Sistema Nacional de Investigadores

SSCI

Social Science Citation Index

SWOP

Sociology ofWork Program

TAG

Technical Advice Group

TGWU

Transport and General Workers' Union

THRIP

Technology and Human Resources for Industry Programme

TUCSA

Trade Union Council of South Africa

TURP

Trade Union Research Project

UAM

Universidad Aut6noma Metropolitana

uc

University of Califomia

UCT

University ofCape Town

20

I

VERMESSENE DISZIPLIN

UDC

Universal Decimal Classification

UDF

United Democratic Front

UDUSA

Union ofDemocratic Staff Associations

UDW

University ofDurban-Westville, heute: University of KwaZulu-Natal

UKZN

University ofKwaZulu-Natal

UND

University ofNatal, Durban, heute: University ofKwaZuluNatal

UNDP

United Nations Development Program

UNISA

University of South Africa

us uwc

United States (of America)

WIG

Workplace Information Group

WISER

Wits Institute for Social and Economic Research

Wits

University ofthe Witwatersrand

University ofthe Western Cape

Einleitung

Forschung beginnt in der Regel damit, dass sich jemand über etwas wundert. So auch hier. Als Studentin der Soziologie und Ethnologie in Freiburg und Paris las ich flinf Jahre lang deutsche, französische, englische und US-amerikanische soziologische Schriften über europäische und nordamerikanische Gesellschaften sowie deutsche, französische, englische und US-amerikanische Bücher über afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Gesellschaften. Kein einziger Text aus Afrika, Asien oder Lateinamerika war darunter. Dieser Sachverhalt war verwunderlich und bildete den Ausgangspunkt fiir diese Arbeit: Welche Soziologie wird in den Kontinenten des Südens betrieben und warun1 wissen wir in Freiburg und Paris so wenig darüber? 1 Diese Arbeit erhebt einen kritischen Anspruch und will globale Ungleichheiten aufzeigen, nicht hinsichtlich ökonomischen Reichtums oder militärischer Macht, sondern hinsichtlich wissenschaftlicher Produktion und Kommunikation. Soll an diesen bestehenden Ungleichheiten etwas geändert werden, so müssen diese zunächst adäquat empirisch erfasst und ihre Gründe wie Auswirkungen erkannt werden. 2 Die wissenschaftssozio1 I Dass die Soziologie in praktisch allen Ländern der Erde vertreten ist, steht außer Frage. Genov schrieb angesichts der 5000 Konferenzbeiträge aus 74 Ländern beim 12. Weltkongress der Soziologie in Madrid 1990: "Even a first glance at the countries of origin of the papers reveals the fact that there are numerous, stable and internationally active national sociological communities all over the world. 1ndeed, in one or another form, sociology is present in every countJy where higher education has been institutionalized. And despite the ethnocultural, theoretical and ideological differences and controversies among sociologists, they obviously share the feeling that they belong to one and the same international scientific community." Genov, Nikolai ( 1991 ): "lnternationalization of sociology: the unfinished agenda", in: Current Sociology 39 Nr. 1, S. 1-20, S. 9. 2 I ln dieser Hinsicht folgt die Arbeit Alatas Forderung nach weitergehenden Forschungen zur von ihm behandelten Problematik der intellektuellen Dependenz. Er sieht dies als unabdingbar an, um die internationalen Ungleichheiten zu mindern: "First of all, there has to be more serious theoretical and empi.tical research on the

22

I

VERMESSENE DISZIPLIN

logische Beschäftigung mit den Kontinenten des Südens ist ein erst in der Entstehung begriffener Forschungszweig.3 Im Bereich der Wissenschaftsforschung zu Afrika, Asien und Lateinamerika sind mittlerweile einige empirische Arbeiten vorgelegt worden, die sich jedoch meist mit den Bereichen Wissenschaft/Technik und Entwicklung beschäftigen und daher die Sozialwissenschaften wenig berücksichtigen.4 Eine Reihe von Untersuchungen behandelt insbesondere solche Disziplinen, die sich speziell auf die Kontinente des Südens beziehen, wie etwa Tropenmedizin, tropische Land- und Forstwirtschaft, Technologietransfer und industrielle Entwicklung und Ähnliches. Die Sozialwissenschaften dagegen, die in der Wissenschaftsforschung allgemein wenig Berücksichtigung finden, wurden hinsichtlich der Situation in Afrika und Lateinamerika sowie der internationalen Konstituiemng einzelner Disziplinen, soweit in der verfügbaren Literatur ersichtlich, noch gar keiner systematisch-empirischen, wissenschaftssoziologischen Untersuchung unterzogen. Abgesehen von der Frage nach der spezifischen Lage der Soziologien in den Kontinenten des Südens verweist die Problematik der globalen Ungleichheiten in deren Produktion, Diffusion und Rezeption aber auch auf ein gmndlegendes Problem der Disziplin selbst. Die zentrale Frage, zu deren annäherungsweisen Beantwortung diese Studie mit all ihren räumlich wie argumentativ notwendigen Umwegen dienen soll, ist die nach der Artikulation zwischen lokalen oder nationalen Soziologien, die weltweit in äußerst ungleichen Beziehungen kommunizieren, und nach dem nomothetischen Anspruch der Disziplin. Diese Frage erklärt die Wahl des Titels. Um der Problematik näher zu kommen, bietet der erste Teil eine geographische "Vermessung" der Soziologie in ihrer internationalen Konstituiertheit und deckt die hier wirkende nordatlantische Dominanz auf. Der zweite Teil lenkt mit dem Konzept der konterhegemonialen Strömung den Blick auf reale, wissenschaftspraktische Möglichkeiten, jene trotz ihrer strukturelproblems of academic dependency and academic colonialism." Alatas, Syed Fmid (2003): ,,Academic dependency and the global division of labour in the social sciences", in: Current Sociology 51 Nr. 6, S. 599-613, S. 609. Vom selben Autor, der auch im Weiteren von großer Bedeutung sein wird, ist mittlerweile ein Buch erschienen, das zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Arbeit noch nicht vorlag und daher nicht systematisch eingearbeitet werden konnte: Alatas, Syed Farid (2006): Alternative discourses in Asian social science. Responses to Eurocentrism, New Delhi u. a. 3 I "L' etude (sociologie et histoire) de I' activite scientifique dans !es zones semiperipberiques et a fortioti dans !es zones peripbetiques de Ia science-monde est dans une tres !arge mesure un sujet encore a developper." Polanco, Xavier (1990b): "Une science-monde: Ia mondialisation de Ia science europeenne et Ia creation de traditions scientifiques locales", in: Xavier Polanco (1990a) (Hg.): Naissance et developpement de Ia science-monde - production et reproduction des communautes scientifiques en Europe et en Amerique latine, Paris, S. 10-52, S. 18. 4 I V gl. Salomon, Jean-Jacques/Sagasti, Francisco/Sachs-Jeantet, Celine (1994) (Hg.): La quete incertaine- science, technologie et developpement, Tokyo/ New York/Paris. Siehe auch die um Roland Waast am "Institut de Recherche pour Je D eveloppement" in Paris entstandenen Arbeiten.

EINLEITUNG

I

23

Jen Verankerungen zu unterlaufen. Hierzu wird eine empirische Fallstudie zur Entwicklung der "Labour Studies" in Südafrika präsentiert. Ursprünglich waren im Rahmen dieses Projekts zwei derartige Fallstudien vorgesehen, die zweite über die mexikanischen Migrationsstudien. Aus Zeit- und Platzgründen konnte letztere leider nicht in die Endfassung einbezogen werden, wenngleich Einsichten, die aus dieser zweiten Erhebung hervorgingen, in die Analyse und Interpretation der hier vorgestellten Ergebnisse aufgenommen wurden. Erst im dritten Teil kann dann der bisherige, als vermessen entlarvte Universalitätsanspruch der Soziologie begründet kritisiert werden. Die gewählte Problematik ist gerade neuerdings von höchster Relevanz, da die Internationale Gesellschaft fur Soziologie 2006 zum ersten Mal in der Geschichte ihres Bestehens einen Weltkongress auf dem afrikanischen Kontinent abhielt und eine Reihe von Veranstaltungen die hier gestellten Fragen ins Zentrum des Geschehens rückten. Die Diskussion um die Internationalisierung beziehungsweise um die Globalisierung der Soziologie, bereits auf den letzten Weltkongressen thematisiert, wurde hier auf wenig neutralem Boden weitergeführt. Zu dieser Diskussion will die vorliegende Arbeit eine empirische Grundlage liefern. Vorab sei auf eine Reihe von Dingen hingewiesen. Nachdem das Vokabular von "Entwicklungsländern" oder "Dritte Welt"- Ländern endgültig aus der Mode gekommen ist und gerade im Rahmen dieser Arbeit nicht sehr angebracht erschiene; und nachdem mit der Beendigung des Ost-WestKonflikts und gerade mit Hinsicht auf Entwicklungen in Afrika und Lateinamerika die Bezeichnung "westliche Soziologie" ebenfalls irreführend sein kann, ist im Folgenden einerseits von nordatlantischer Soziologie - gemeint sind die westeuropäischen und nordamerikanischen Richtungen und andererseits vom "globalen Süden" die Rede. Letztere Wortwahl hat sich in den letzten Jahren verstärkt durchgesetzt und ist von Terry Shinn, Jade Spaapen und Venni Krishna sinnvoll begründet worden: "For analytical purposes we write about South and North as broad categories. We realize that by doing that we do not justice to the !arge socioeconomic and cultural differences that exist between countries within these spheres. Moreover, it is arguably the case that some countries in the geographical South belong to the conceptual category of the North (Australia, New Zealand) and vice versa (some of the East European countries). Nevertheless, the above distinction between North and South is now broadly used."5

5 I Shinn, Terry/Spaapen, Jack/Krishna, Venni (1997): "Science, technology and society sturlies and development perspectives in South-North transactions", in: Terry Shinn/Jack Spaapen/Venni K.Jishna (1997) (Hg.): Science and technology in a developing world, Dordrecht, S. 1-34, S. 28 Fußnote 1.

24

I

VERMESSENE DISZIPLIN

Selbstverständlich schließt der "globale Süden" im üblichen Wortgebrauch zumindest (Süd)Asien mit ein, eine Region, die hier keine systematische Berücksichtigung findet. Diese Arbeit handelt in erster Linie von der Soziologie und auf sie sind auch der theoretische Rahmen und die Schlussfolgerungen zu beziehen. Jedoch waren zahlreiche empirische Materialien lediglich flir die Sozialwissenschaften im weiteren Sinne verfügbar, ebenso reicht ein Teil der herangezogenen Literatur auch in die Nachbardisziplinen hinein. Wovon jeweils die Rede ist, wird an den entsprechenden Textstellen aus dem jeweiligen Zusammenhang deutlich. Außerdem ist eingangs darauf hin zu weisen, womit sich dieses Buch nicht befasst. Wo es um Ungleichheiten und Hierarchien geht, wird oft un1gehend eine Beachtung der Geschlechterperspektive erwartet. Diese konnte im Rahmen vorliegender Arbeit jedoch nicht berücksichtigt werden. Als Erklärungselement für internationale Kommunikationsschwierigkeiten gelten oftmals Sprachbarrieren.6 Die Diskussionen um eine "lingua franca" sind dabei in der Regel stark emotional aufgeladen, vom französischen Chauvinismus und der Verweigerung des Englischen bis hin zur britischen Pikiertheit darüber, dass auf internationalen Kongressen das gute Englisch erheblich leidet. Diese Dimension der Fragestellung wurde hier ebenso weitestgehend vernachlässigt.

6 I So schildert Lardinois, dass nicht nur Veröffentlichungen in indischen Sprachen in einem Land, das Englisch als Publikationssprache akzeptiert hat, untergehen. Auch die Einflüsse und Anregungen aus dem Ausland hängen stark davon ab, ob sie in Englisch erschienen sind oder nicht. Vgl. Lardinois, Roland (1988) (Hg.): Mirair de I'Inde - etudes indiennes en Seiences sociales, Paris. Akiwowo nennt die Aufteilung Afrikas in ein französischsprachiges, ein englischsprachiges und ein arabischsprachiges Gebiet, hinzuzufiigen wäre das lusophone, als einen wichtigen Grund für die gegenseitige Ignorierung regionaler sozialwissenschaftlicher Gemeinschaften. Akiwowo, Akinsola (1980): "Trend report: sociology in Africa today", in: Current Sociology 28 Nr. 2, S. 1-165. Das Schaubild über internationale wissenschaftliche Kooperation in Gingras Artikel über Internationalität von Wissenschaft gibt allerdings Anlass zu Zweifeln darüber, ob die Sprache tatsächlich ein so zentrales Argument ist, wie es zunächst einleuchtend erscheint: Von elf der intensivsten binationalen Wissenschaftsbeziehungen auf der Erde verbinden acht jeweils zwei Länder mit unterschiedlicher Sprache, besonders auffällig die einzigartige, extrem enge und intensive Zusammenarbeit zwischen skandinavischen Ländern. Die elf engsten wissenschaftlichen Kooperationsbeziehungen finden statt zwischen FinnlandNorwegen, Finnland-Schweden, Norwegen-Schweden, Norwegen-Dänemark, Schweden-Dänemark, Deutschland-USA, USA-Israel, Japan-China, NiederlandeBelgien, sowie zwischen folgenden Ländern mit gleicher Landessprache: Deutschland-Österreich, Südafrika-Australien. Gingras, Yves (2002): "Les forrnes specifiques de l'internationalite du champ scientifique", in: Actes de Ia Recherche en Seiences Sociales 141-142, S. 31-45, S. 37. Gingras weist selbst darauf hin, dass geographische Nähe, vor allem aber eine gemeinsame oder ähnliche politische und kulturelle Geschichte wichtig seien ftir den wissenschaftlichen Austausch zwischen Ländern.

EINLEITUNG

I

25

Da diese Arbeit wissenschaftssoziologisches Neuland betritt; da ein Zentrum-Peripherie-Modell in "Zeiten der Globalisierung" vielleicht mehr denn je einer guten Begründung bedarf; und da mit dem Konzept der konterhegemonialen Strömung herkömmlichen Annahmen über Wissenschaftsentwicklung im Süden widersprochen wird, war es mir wichtig, auf einer soliden empirischen Grundlage zu argumentieren. Eine Reihe der verwendeten Materialien war von Freiburg und Paris aus kaum zugänglich. Aus Gründen der Transparenz habe ich daher beschlossen, zu einem Großteil der empirischen Ergebnisse umfassende Materialien zu dokumentieren und zur Verfügung zu stellen. Um den Umfang dieses Buches nicht über Gebühr auszudehnen, sind diese auf der Internetseite des transcript-Verlages online zugänglich (www.transcript-verlag.de/ts838/ts838.php). Unter der Ablage "Leseprobe" sind die einzelnen Anhänge als PDF-Dateien unter dem jeweils im Buch genannten Kurztitel zu finden. Im Anhang Seite 522 findet sich eine Auflistung aller Online-Anhänge mit Kurztitel und dem dazu gehörenden vollständigen Titel. Englische und französische Zitate werden im Original wiedergegeben. Spanische Zitate dagegen werden in den Fußnoten übersetzt, die Übersetzungen stammen von mir. In den Zitaten aus Interviews gilt Folgendes für die Klammemsetzung: ( ... ) steht für eine Auslassung aus dem ursprünglichen Interviewtext, die den Sinn nicht wesentlich verändert; [ ... ] steht für eine Sprechpause. Die Interviews wurden in ihrer ursprünglichen Form beibehalten, bis auf die Auslassungen- meist im Fall von Wiederholungen - und auf das Einfügen von Hinweisen zum Verständnis - in Klammem und mit dem Zusatz W. K. gekennzeichnet. Das heißt, es handelt sich um gesprochene Sprache, die nicht immer den Regeln des Hochenglischen folgt. Die Audiodateien sowie die Transkriptionen der Interviews sind von mir archiviert und auf Anfrage erhältlich.

TEIL 1: Zentrum, Peripherie und konterhegemoniale Strömungen

I. Für ein Zentrum-Peripherie-Modell in der Wissenschaftsforschung

In diesem ersten Kapitel geht es um die Konzeptnalisiemng eines ZentmmPeripherie-Modells für die internationale Wissenschaftssoziologie. Die einzelnen Dimensionen dieses Modells werden anhand der verftigbaren Literatur herausgearbeitet und dann anhand einzelner empirischer Indikatoren dargestellt. Die globalen Statistiken erlauben so die Vermessung der topographischen Realitäten und der internationalen Konstituiertheit der Disziplin. Diese stark generalisierende V orgehensweise im Weltmaßstab läuft jedoch Gefahr, interessante, quantitativ vielleicht (noch) nicht ins Gewicht fallende Entwicklungen auf der lokalen Ebene zu verdecken. Aus diesem Grund wird anschließend das Konzept der konterhegemonialen Strömung herausgearbeitet, das im zweiten Teil der Arbeit Anwendung finden wird.

Bemerkungen zur Nationalität, geographischen Konzentration und historischen Expansion moderner Wissenschaft Tatsächlich ist die globale Wissenschaftslandschaft von großen Ungleichheiten und Hierarchien geprägt. Gerade in Zeiten, da der Diskurs von der Globalisiemng, der verstärkten, gleichberechtigten und grenzenlosen Kommunikation und Information und der Jubel über die zunehmende Internationalisierung der Soziologie eine Beendigung dieses Problems unterstellen7, scheint eine einge7 I "La mondialisation n'affecte pas seulement l'economie, elle affecte aussi Je savoir- ou plus exactement !es savoirs. Les descriptions habituelles mettent l'accent sur Ia facilite avec laquelle circulent aujourd'hui, d'uu pays a l'autre ou d'une region du monde a l'autre, !es connaissances reconnues comme scientifiques. (... ) Toutefois, ce qui est ainsi mis en relief, c'est l'evolution vers uue information scientifique uuiversellement disponible, non vers un reel partage du savoir. Les descliptions habituelles laissent entiere Ia question des conditions de production de cette information, Ia question des conditions de sa gestion et de son contröle, Ia question de ses rapports

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I

TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

hende Untersuchung zu Fragen der internationalen Verfasstheit der Disziplin geboten. Einigen Schätzungen zufolge seien Produktion und Verbreitung von Wissen weltweit ebenso oder gar stärker konzentriert als materieller Reichtum.8 Peter Weingart nimmt außerdem an, dass die Globalisierung im Bereich wissenschaftlicher Kommunikation zu weiterer Ungleichheit zwischen Ländem des Nordens und des Südens fuhren wird. 9 Was für die Wissenschaft im Allgemeinen gilt, spiegelt sich auch in den Sozialwissenschaften wider. Syed Farid Alatas charakterisiert die USA, Großbritannien und Frankreich als "gegenwärtige Mächte der Sozialwissenschaften", und tatsächlich scheinen sich die geopolitischen G8 auf dem Feld der Soziologie auf G3 zu reduzieren. Eine solche "Großmacht" zeichnet sich durch ihre hohe soz ialw issenschaftliche Produktion, deren weltweite Verbreitung, ihren Einfluss auf die Aktivitäten in anderen Ländem und ihre intemationale Anerkennung aus. 10 avec Ia culture ou !es cultures particuliere(s) de ses lieux de production. Elles ne mettent pas en cause Ia relation des pays du Sud a l'infonnation existante, pas plus qu'elles ne se demandent a quelles conditions ces pays cesseront d'etre de simples consommateurs d ' un savoir produit ailleurs, pour devenir resolument co-producteurs de ce savoir." Hountondji, Paulin J. (2001 /02): "Le savoir mondialise: desequilibres et enjeux actuels". Conference sur "La mondialisation vue d' Afrique" a l'Universite de Nantes!Maison des Seiences de l'Homme Guepin, Annee Universitaire 2001/02, www.msh-alpes.prd.fr/guepin/afrique/charpar/cf!mulin.pdf (Okt. 2003), S. I. 8 I Vgl. Adebowale, Sulaiman A. (2001 ): "The scholarly joumal in the production and dissemination ofknowledge on Africa: exploring some issues for the future", in: African Sociological Review 5 Nr. I, S. 1-16, S. 2. Die OECD-Länder kontrollierten alleine 91% der Internetnutzung und monopolisierten somit ein strategisches Instrument fur Information und Kommunikation. Weingmt dagegen geht von ähnlichen Verhältnissen in der allgemeinen sozioökonomischen und der Wissenschaftsentwicklung aus: "It may be said that today inequality in the distribution ofknowledge is equivalent to inequality of development." Weingart, Peter (2006): "Knowledge and inequality", in: Göran Therbom (Hg.) (2006): Inequalities ofthe world. New theoretical frameworks, multiple empirical approaches, London/New Y ork, S. 163-190, hier: Manuskript, Universität Bielefeld, 2004, S. 2. Barre und Papon finden, dass "die Geographie der Wissenschaft und Technik heute äußerst kontrastreich" sei und die "sehr großen Ungleichheiten in der Produktion und im Zugang zn wissenschaftlichem und technologischem Wissen" wiedergebe. Drei Viertel der weltweiten Forschung werden von den lndusttieländem Westeuropas, Nordamerikas und von Japan geleistet. "On peut donc affumer que !es trois quarts de l'effort de recherche scientifique et technique mondial est n~alise par Je bloc des pays industrialises occidentaux et Je Japon, ce qui est bien caracteristique d 'une situation tres inegalitaire." Barre, Remi/Papon, Pierre (1993): Economie et politique de Ia science et de la technologie, Paris, S. 288. Das Gewicht der so genannten Entwicklungsländer dagegen liege bei etwa sechs Prozent und gleiche somit dem von Frankreich. Indien alleine nehme von diesen sechs etwa zweieinhalb Prozent ein. Ebd., S. 329. 9 I Weingart, Peter (2006). 10 I "These are defined as Countries which 1) generatelarge outputs of social science research in the form of scientific papers in peer-reviewed joumals, books, and working and research papers; 2) have a global reach of the ideas and information contained in these works; 3) have the ability to influence the social sciences of countries due to the consumption of the works originating in the powers; and 4) command a great deal of recognition and prestigebothat home and abroad. lfwe go little way back in history, we could possibly consider Gennany and Spain as social

I. FüR EIN ZENTRUM-PERIPHERIE-MODELL

I

31

Die manifeste regionale Konzentration wissenschaftlicher Aktivität verweist auf deren geographische Verortung. Entgegen ihrem universellen Geltungsanspruch und entgegen der Internationalisierungs- und Globalisierungstendenzen in Kommunikation und akademischer Zusammenarbeit ist Wissenschaft nach wie vor stark national verankert und geprägt. Ihre Institutionen, ihre Personalstrukturen und finanzielle Ausstattung sind, auch wenn hier grenzüberschreitende Aktivitäten zunehmen, in erster Linie nationale. So betonen Crawford, Shinn und Sörlin in ihrer Untersuchung historischer und aktueller Denationalisierungstendenzen, dass der nationale Kontext nach wie vor wissenschaftliche Entwicklungen maßgeblich bestimmt.11 Etwa 90 Prozent, Gingras 12 zufolge sogar mehr als 90% der Fördemng von Forschung und Entwicklung ("Research and Development"), stammten weiterhin aus privaten und öffentlichen nationalen Quellen. Auch wissenschaftliche Gemeinschaften seien nach wie vor in erster Linie national ausgerichtet, was zum Beispiel Koautorenschaften oder Zitierhäufigkeiten betrifft. 13 Dennoch bewegen sich einzelne Forscherinnen wie ihre Gemeinschaften in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Lokalität und Internationalität. So wird hier der Begriff der "Gemeinschaft" auf die jeweiligen nationalen und fachspezifischen wie auch auf die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft angewandt 14, wobei die Bedeutung jeweils aus dem Zusammenhang hervorgeht. Die nationale Verortung spielt gerade für die stark lokal und gesellschaftlich verankerten Sozialwissenschaften

science powers, the former to the extent that it influenced sociology in Europe and North America from the 19111 century up until the Second World War, and the latter to the extent that it dominated social thought in Latin America during the colonial period." Alatas, Syed Farid (2003), S. 602. 11 I Crawford, Shinn und Sörlin bezeichnen als "transnationale Wissenschaft": "activities involving persons, equipment or funds from more than one country". Diese nehmen ihrer Einschätzung nach in den letzten Jahrzehnten stetig zu. Crawford, Elisabeth/Shinn, Terry/Sörlin, Sverker (1993): "The nationalization and denationalization of the sciences: an introductory essay", in: Elisabeth Crawford/Terry Shinn/Sverker Sörlin (Hg.): Denationalizing science. The contexts of international scientific practice, Dordrecht, S. 1-42, S. 1. 12 I Gingras, Yves (2002), S. 44. 13 I Crawford, Elisabeth/Shinn, Terry/Sörlin, Sverker (1993). 14 I Eine entsprechende Definition des Begriffes "wissenschaftliche Gemeinschaft" gibt Gaillard: "Au sens !arge, il (Je terme, W. K.) designe un groupe de scientifiques qui partagent les memes attitudes, les memes normes et les memes valeurs. On l'utilise aussi, dans une conception plus etroite, pour caracteriser un groupe de scientifiques travaillant dans un domaine scientifique donne. Tous les scientifiques en activite dans un pays sont presentes comme constituant une communaute scientifique ,nationale', tandis que Ia plupart des scientifiques affirment appartenir ä Ia communaute scientifique ,internationale'. Le meme concept est donc applique ä differents niveaux et avec differentes significations, pour designer des realites allant de Ia communaute scientifique internationale ou mondiale, jusqu'ä de petits groupes de specialistes." Gaillard, Jacques (1994): "La naissance difficile des communautes scientifiques", in: Jean-Jacques Salomon/Francisco Sagasti/Celine Sachs-Jeantet (1994) (Hg.), S. 213-251, S. 216.

32

I

TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

auch erkenntnistheoretisch eine bedeutende Rolle. Denn die Verallgemeinerung und die Formulierung universeller Aussagen aus dem spezifischen gesellschaftlichen Entstehungskontext heraus gestalten sich hier schwieriger als in den Naturwissenschaften. Die Bezeichnung als "lokal" beziehungsweise das Substantiv "Lokalität" wird im Folgenden daher als entgegengesetzt zu "Internationalität", "Giobalität" im topographischen wie auch zu "Generalität", "Universalität" im erkenntnistheoretischen Sinne verstanden. Räumliche "Lokalität" ist insofern in dieser Arbeit als Überbegriff flir "lokale" im Sinne von "örtlicher" Wissenschaft (kleinste räumliche Einheit), aber auch für "regionale" (innerhalb eines Nationalstaates), "nationale" sowie "regionale" (mehrere Nationen oder Teile derselben übergreifende) Wissenschaft verwendet. Die Frage ist nilll, wie sich die festgestellte räumliche Konzentration, die im Folgenden für die Sozialwissenschaften eingehend untersucht werden soll, erklären lässt. Offensichtlich muss die Erklärung zunächst eine historische sein. Ursprung und Entwicklung der modernen Wissenschaft sind Produkt einer historischen Bewegung, datiert und lokalisiert in bestimmten Regionen Europas und nicht wiederholbar. Referenzmodell für sämtliche daran anschließende Wissenschaft war das moderne, europäische Modell. Damit sind nicht nur entsprechende methodische Arbeitsweisen und grundlegende theoretische Annahmen gemeint, sondern auch die Organisationsform dieser spezifischen gesellschaftlichen Tätigkeit in entsprechenden Institutionen mit eingeschränktem Zugang und nach eigenen Regeln der Kommunikation. Diese Wissenschaft, der auch die modernen Sozialwissenschaften als akademische Disziplinen zugerechnet werden, unterscheidet sich von anderen Modi der Wissensgenerierung wie dem sozialen Denken, dem Alltagswissen, der Magie, der religiösen Lehre, der Mythologie, mündlichen Überlieferung oder Ähnlichem. Moderne europäische Wissenschaft expandierte von Europa aus in den Rest der Welt. Sie wurde als ein Bestandteil der Conquista zur Unterwerfung und Missionierung von Iberien aus über den Atlantik exportiert, ebenso wie dies einige Jahrhunderte später vomehmlich von Frankreich und England aus nach Afrika geschah. Walter Mignolo holt noch weiter aus: Nicht nur Wissenschaft, soudem auch Denk- und Argumentationsformen sowie ein eurozentrisches Weltbild seien im Zuge der Kolonialisierung weltweit etabliert worden. 15 Auch nationale wissenschaftliche Traditionen außerhalb Europas entstanden nach westlichen Standards. Zur Rolle der Wissenschaft in der Kolonialzeit und zu Interaktionen zwischen Wissenschaftlerinnen der Kolonialregime und lokalen Expertinnen, Weisen oder Gelehrten wurden in den letzten Jahren eine Reihe wissenschaftshistorischer Arbeiten veröffentlicht. Der von Petitjean, Jami und 15 I Mignolo, Walter (2004): "Colonialidad global, capitalismo y hegemonia epistemica", in: lrene Sanchez Ramos/Raquel Sosa Elizaga (2004) (Hg.): America Latina: los desafios del pensamiento critico, Mexico, S. 113-137, S. 129.

I. FüR EIN ZENTRUM-PERIPHERIE-MODELL

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Moulin veröffentlichte Band "Science and empires - histoire comparative des echanges scientifiques. Expansion europeenne et developpement scientifique des pays d' Asie, d' Afrique, d' Ametique et d'Oceanie" 16 etwa richtet sich gegen das rein diffusionistische Schema eines George Bassala, das von der Expansion europäischer Wissenschaft in einem leeren Raum ausgeht. Die Aufsätze zielen einerseits darauf ab, deren Funktion als Heuschaftsinstrument aufzuzeigen, andererseits die Akteure der eroberten Gebiete nicht als rein passiv darzustellen, sondern auch auf ihre Interessen und Strategien in der kolonialen Situation hinzuweisen. 17 Weiterhin stellen die Beiträge die Frage nach dem Aufbau nationaler Traditionen an der Peripherie. Beispielhaft behandeln Rashed die Situation im Iran und in Ägypten, Krishna die in Indien, Saldafia die in Mexiko. 18 Ein wissenschaftshistorisches Zentrum-Peripherie-Modell wandten auch Autoren wie MacLead und Todd für die Anfänge moderner Wissenschaft in Australien an sowie Baber für Indien.19 Xavier Polanco gibt seiner historischen Betrachtung zur Entwicklung wissenschaftlicher Gemeinschaften in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten einen theoretischen Rahmen: In Anlehnung an die "Welt-Wirtschaft" ("world-economy") Fernand Braudels fasst er die Entwicklung und weltweite Ausbreitung der modernen Wissenschaft seit dem 16. und 17. Jahrhundert als "Welt-Wissenschaft" ("world-science").Z0 Ihr Entstehungs16 I Petitjean, Patrick/Jami, Catherine/Moulin, Anna Marie (1992) (Hg.): Science and empires - histoire comparative des echanges scientifiques. Expansion europeenne et developpement scientifique des pays d'Asie, d'Afrique, d'Amerique et d'Oceanie, Dordrecht. 17 "On s'interesse a Ia diffusion d' un savoir constitue, Ja science europeenne moderne, a l'exterieur des pays et en dehors des conditions qui lui ont donne naissance. Et donc a l'emission de connaissances a partir d'un centre, a leur reception dans l'autre pays, ainsi qu'aux ,vecteurs' de cette transmission." Petitjean, Patrick/Jami, Catherine/ Moulin, Anna Marie (1992) (Hg.), S. 9. 18 I Rashed, Roshdi (1992): "Science classique et science moderne a l'epoque de l'expansion de Ja science europeenne", in: Patrick Petitjean/Catherine Jami/Anna Matie Moulin (1992) (Hg.), S. 19-30; Krishna, V. V. (1992): "The co1onial ,model' and the emergence of national science in 1ndia, 1876-1920", in: ebd., S. 57-72; Saldaiia, Juan-Jose (1992): "Science et pouvoir au X1Xe siecle -Ia France et Je Mexique en perspective", in: ebd., S. 153-164. 19 I Mac Leod, R. (1982): "On visiting the moving metropolis: reflections on the architecture of imperial science", in: Historical Records of Australian Science 5 Nr. 3, S. 1-16; Todd, J. (1993): "Science in the periphety: an interpretation of Australian scientific and technological dependency and development ptior to 1914", in: Annals of Science 50, S. 33-36; Baber, Zaheer (2003): "Provincial universalism. The Iandscape of knowledge production in an era of globalization", in: Current Sociology 51 Nr. 6, S. 615-623. Zum Export westlicher Wissenschaftsmodelle und nachfolgenden nationalen Entwicklungen außerhalb Europas siehe auch: Vessuri, Hebe (1994): "L'institutionnalisation de Ia science", in: JeanJacques Salomon/Francisco Sagasti/Celine Sachs-Jeantet (1994) (Hg.), S. 177-212. 20 I Polanco, Xavier (1992): "World-Science: How is the history of worldscience to be wtitten?", in: Patrick Petitjean!Catlterine Jami/Anna Matie Moulin (1992) (Hg.), S. 225-242, S. 225. Vgl. auch Polanco, Xavier (1990b), S. 10 ff. 1

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zentrum lag in Europa, und im Laufe der Zeit erfolgten langsame Verschiebungen ihres Zentrums bis hin zur heutigen Vorrangstellung der USA. Welt-Wissenschaft als historisches und soziologisches Konzept verweist auf die Räumlichkeit von Wissenschaft als Erklärungsfaktor21 und meint das Ausbreitungsgebiet eines kohärenten Wissenschaftssystems, das in sich geschlossen und autonom ist, auf gemeinsamen Regeln beruht und in Zentrum, Semiperipherien und Peripherien hierarchisiert ist. Polancohofft mit dem Begriff der "Welt-Wissenschaft" der anhaltenden Existenz von "Dominationseffekten" gerecht zu werden, die durch den neutraleren Begriff der "globalen Wissenschaft" ("science mondiale") verdeckt würden. Denn mit "globaler Wissenschaft" beziehungsweise "internationaler wissenschaftlicher Gemeinschaft" sei stets der in den Ländern des Zentrums verortete "Mainstream" gemeint. Polanco behandelt die globale Wissenschaftsgeschichte somit in zwei Phasen: zunächst die Ausbreitung beziehungsweise den Import europäischer Wissenschaft, ein historischer Vorgang, der diese "delokalisierte" und damit "globalisierte" und "universalisierte". In einem zweiten Schritt, die Herausbildung wissenschaftlicher Gemeinschaften außerhalb Europas als Teil der so entstehenden Welt-Wissenschaft. Dabei unterscheidet er grundsätzlich die Situation in Europa, wo die moderne Wissenschaft eine indigene war, von der in Lateinamerika, wo die historische Entwicklung und Integration in die Welt-Wissenschaft abhängig verlief. Polanco ist einer der wenigen Wissenschaftstheoretiker, der die historische Herausbildung der internationalen Zentrum-Peripherie-Strukturen in ihren Zusammenhängen theoretisch-konzeptuell zu erfassen sucht. Seine Ausführungen sind jedoch recht abstrakt und allgemein gehalten, lassen sich überdies kaum für empirische Analysen operationalisieren. Vor allen Dingen ist Polancos Anliegen in erster Linie, die Entfaltung von Wissenschaft nachzuvollziehen. Auch wenn er die Aktualität der Frage nach indigener oder abhängiger Entwicklung erkennt, beziehen sich seine Ausführungen kaum auf die Gegenwart. Dennoch war Polancos Ansatz ein Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Die Idee der internationalen Dominanz nordatlantischer Wissenschaft wird hier übernommen. Allerdings wird das weiter unten vorgeschlagene Konzept der konterhegemonialen Strömung die Idee der "Welt-Wissenschaft" für den Bereich der Sozialwissenschaften gewissermaßen hinterfragen. Eine Konzeptualisiemng, die internationale Wissenschaftsgeschichte mit einem stärkeren Gegenwartsbezug verbindet, leistet Paulin J. Hountondji. Er begreift unter Berufung auf die Dependenz- und Weltsystemtheorie die Unterentwicklung der Länder des Südens als Ergebnis ihres historischen Anschlusses an den Weltmarkt und überträgt dieses Erklärungsschema auf 21 I "11 n'y a donc pas une science-monde saus un espace propre, et cet espace a des 1imites, il implique un centre et il est hierarchise en centre, semiperipheries et peripheries." Polanco, Xavier (1990b), S. 12.

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die Unterentwicklung im wissenschaftlichen Bereich. 22 Auch Hountondji charakterisiert die Wissenschaftssysteme des globalen Südens also als historisch importiert, dem Zentrum untergeordnet und dadurch abgekoppelt von lokalen Realitäten. Dieser Ursprung wirke bis heute in der Konstituierung der afrikanischen Wissenschaftssysteme fort: "1n other words, we need to identify the specific, inevitable and stmctural shortcomings of scientific activity in Africa, and, perhaps, in the Third World as a whole. To such analysis, I whish to contribute the following hypotheses: scientific and technological activity, as practiced in Africa today, is just as ,extroverted ', as extemally oriented, as is economic activity; its shortcomings are, therefore, of the same nature. That is, they are not cognate or cosubstantial with our systems of knowledge as such. On the contrary, they derive from the historical integration and subordination of these systems to the world system of knowledge and ,know-how', just as underdevelopment as a whole results, primarily, not from original backwardedness, but from the integration of our subsistence economies into the world capitalist markets. " 23 Auf die Auswirkungen in der Gegenwart wird weiter LUlten eingegangen ebenso wie auf Hountondjis Konzept der "Extraversion". Von ihm wie auch von Frederick H. Gareau (s. u.) stammt die Idee, Analogien aus der Dependenztheorie fiir die internationale Konstituierung der Sozialwissenschaften abzuleiten. Die angeführten wissenschaftshistorischen Werke liefern Einsichten, die flir den weiteren Begründungszusammenhang dieser Arbeit von großer Bedeutung sind. Bei der Etablierung von moderner Wissenschaft a ußerhalb Europas handelte es sich nicht um endogene Entwicklungen. Auch wenn lokale Gelehrte und Expertinnen in der Transmission eine Rolle gespielt haben und bald eigenständige Bemühungen zur Förderung von Forschung und höherer Bildung unternahmen, handelte es sich definitiv nicht um eine eigenständige Errungenschaft.24

22 I "Ainsi, la dependance scientifique du tiers monde est, en demiere analyse, de meme nature que sa dependance economique, replacee dans le contexte de sa genese historique, elle apparait clairement comme le resultat de l'integration progressive du tiers monde dans le proces mondial de production des connaissances, gere et contröle par les pays du Nord." Hountondji, Paulin J. (1994): "Demarginaliser", in: Paulin J. Hountondji (1994) (Hg.): Les savoirs endogenes: pistes pour une recherche, CODESR1A, S. 1-37, S. 2. Vgl. auch Hountondji, Paulin J. (1990a): "Scientific dependence in Africa today" , in: Research in African Literatures 21 Nr. 3, S. 5-15. 23 I Hountondji, Paulin J. (1990a), S. 7. 24 I Sagasti erweitert diese Unterscheidung noch um den Aspekt, dass endogene Wissenschaften direkt mit der wirtschaftlichen und insbesondere industriellen Produktion zusammenhingen, während in Regionen, die Wissenschaft von außen übernahmen, diese Verbindung zum ökonomischen Sektor fehlte. Sagasti, Francisco R. (1978179): "Towards an endogenaus scientific and technological development for the Third World", in: Alternatives 4, S. 301-316, S. 302. Vgl. auch Sagasti,

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Die zeitliche Verzögerung der Wissenschaftsentwicklung an sich sowie von deren Integration in Wirtschaft und Gesellschaft gilt im Übrigen auch für die USA oder Japan. Selbst unter günstigeren Bedingungen als in Afrika oder Lateinamerika brauchten diese Länder lange Jahre, um an den Stand der europäischen Metropolen anschließen zu können. Dies gemahnt daran, dass die hier diskutierten Schwierigkeiten zweier südlicher Kontinente keine ausschließlichen Probleme typischer "Entwicklungsländer" sind, sondern in einen globalen und weiteren historischen Zusammenhang eingeordnet werden müssen.

"Ideen wurden konsumiert wie Stoffe, Schienen und Lokomotiven"- die periphere Entstehung der Soziologien in Afrika und Lateinamerika Die Frage ist nun, inwiefern die allgemeinen Ausführungen zur historischen Entwicklung der modernen Wissenschaften außerhalb Europas auch auf die Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie zutreffen, die ja erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam entstand und sich institutionell erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte. Zu diesem Zeitpunkt bestanden zumindest in Lateinamerika bereits Universitäten, aus denen derartige Entwicldungen endogen hervorgehen konnten. Wie verlief die Entstehung der Disziplin jenseits der nordatlantischen Nationen? Ibn Khaldun hatte im 14. Jahrhundert mit seiner "Muqaddima"25 den Grundstein für eine wissenschaftliche Betrachtung von Gesellschaft gelegt. Doch sein Ansatz fand keine Nachfolger und wurde daher nicht systematisch zu der geplanten "Wissenschaft von der Zivilisation" fortentwickelt. In arabischen Ländern wurde der Klassiker in den letzten Jahrzehnten erst als der "Gründer der Soziologie" wiederentdeckt. Bis dahin hatte sich die Disziplin jedoch nach europäischem Vorbild auf der Grundlage Durkheims, Webers und Marxens bereits weltweit durchgesetzt, nach dem zweiten Weltkrieg wurde außerdem Parsons in vielen Ländern des Südens richtungweisend, vermittelt nicht zuletzt über die antikommunistischen Aktivitäten der USA? 6

Francisco R. (1973): "Underdevelopment, science and techno1ogy: the point of view ofthe underdeveloped countries", in: Science Studies 3, S. 47-59. Dies hatte bereits Gonzälez Casanova 1968 als "Phänomen kultureller Desartikulation des wissenschaftlichen vom Produktionsprozess" beschrieben. Gonzä1ez Casanova, Pab1o (1968): "Las ciencias socia1es", in: Pab1o Gonzä1ez Casanova/Guillermo Bonfil (1968), Las ciencias sociales y Ia antropologia- dos ensayos, Mexico, S. 144, S. 9.

25 I lbn Khaldun (1967/68): Discours sur l'Histoire universelle Al-Muqaddima, hg. v. Vincent Monteil, Beyrouth. 26 I Vgl. auch die Situation in Südafrika, wo die Soziologie erst über Parsans sich als eigenständige Disziplin endgültig von der Sozialarbeit emanzipierte. Siehe die historische Einleitung zum Teilll dieser Arbeit.

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Insofern lassen sich in Anlehnung an Syed Hussein Alatas Länder mit einer autonomen soziologischen "Tradition" von solchen, die über eine solche nicht verfügen, unterscheiden. Mit Tradition ist dabei nicht das Vorhandensein "verstreuter Studien zu lokalen oder regionalen Themen" gemeint. Typisch für eine bestehende Tradition ist vielmehr die "kontinuierliche Diskussion einer Reihe zentraler Probleme und Ideen über längere Zeiträume hinweg", die erst eine gewisse Kumulation sozialwissenschaftliehen Wissens ermöglicht. 27 Der Begriff wird für die weiteren Ausführungen zur afrikanischen und lateinamerikanischen Wissenschaftsgeschichte und Gegenwart nützlich sein. Autonome Traditionen in diesem Sinne sieht Alatas in Europa gegeben, aber auch in Nordamerika, Russland und, wenn auch jüngeren Datums, in Lateinamerika. Er stützt die Annahme der europäischen als der ältesten soziologischen Tradition auf die Existenz beziehungsweise den Aufbau entsprechender spezialisierter Institutionen sowie auf die gemeinschaftliche Arbeit an gesellschaftswissenschaftliehen Fragestellungen. Seine Auffassung über die europäische Tradition - im Gegensatz zum Mangel einer solchen in Asien oder Afrika - soll hier ausführlicher wiedergegeben werden: "ln the western world, the autonomaus tradition is decisive and vigorous and the demarcation line between general universal sociology and the autonomaus studies of subjects peculiar to specific western countries is clearly observed. ( ... ). What 1 would like to stress here, is that there is a truly genuine and autonomaus tradition in western historical, sociological and other social-scientific disciplines. Both the general universal social science thinking and the autonomaus application to a specific problern area have not been imitative and uncritical conceptually and methodologically. This is tobe distinguished from committing errors in analysis andin the choice of methodology or in interpretation and conclusion. ( ... ) I am only stressing the autonomaus tradition containing both the results of truth and error in its cumulative achievement. The reason why the autonomaus tradition in westem sociology has been able to flourish so vigorously had to do with developments in Em·opean history. The idea of sociology as a science or discipline did not originale in the West (Alatas refers to Ibn Khaldun below, W. K.), but sociological thinking with a collective response by a group ofthinkers eventually entering mainstream intellectual discourse and later crystallizing into a modern discipline ofits own originated in the West in the 19111 century ( ... )."28

27 I "By tradition, it is not meant the mere presence of disparate studies oflocal or regional subjects by indigenous scholars. Apart from the traits we have earlier cited, there is one significant, overriding trait of a tradition, that is, the continuous discussion of a set of major problems and ideas in the course of long duration, decades or centuries, reflecting the cumulative development of knowledge concerning particular subjects." Alatas, Syed Hussein (2006b): "The autonomous, the universal and the future ofsociology", in: Current Sociology 54 Nr. l, S. 7-23, S. 15. 28 I Alatas, Syed Husseirr (2006b), S. 9.

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,,Symptom" einer fehlenden eigenständigen Tradition in Asien - seiner Herkunftsregionund damit Hauptfokus seines Artikels -ist dem Autor die Abhängigkeit von westlicher Soziologie. Im Folgenden soll jedoch herausgearbeitet werden, dass diese nicht nur als ein Indiz für den Mangel eigener Ansätze, sondern auch als ein Hindernis für die Herausbildung solcher gesehen werden kann. Inwiefern die frühe lateinamerikanische sowie die afrikanische Soziologie einer eigenständigen Entwicklung entbehrten, wird ein historischer Überblick verdeutlichen. Dabei können hier bestenfalls Tendenzen angedeutet werden, da sich die Situation je nach Ländern, Regionen und sprachlichen Einflussgebieten innerhalb der beiden Kontinente wiederum unterschiedlich darstellt.

Lateinamerika- früher Import und Emanzipation In Lateinamerika existierten bereits im 16. Jahrhundert erste wissenschaftliche Institutionen der Kolonialmacht.29 In der Region praktizierten Intellektuelle Schriftstellerlnnen, Essayistlnnen, Politikerinnen und Juristinnen-bereits sehr fiüh, was man als "soziales Denken" umschreiben köm1te. 30 Bereits im 19. 29 I Die ersten Universitäten wurden bereits im 16. Jahrhundert gegründet: von den Franziskanern das "Colegio de Santo Domingo" (1505), das 1538 in die "Universidad SantoTomas de Aquino", die erste Universität der "Neuen Welt", umgewandelt wurde. Es folgten im Zusammenhang mit der intensiven intellektuellen Aktivität verschiedener Klöster die Gründungen der Universitäten von Santiago de Ia Paz (1540), der "Real y Pontifica" in Mexiko (1553) und der "San Marcos" in Lima (ebenfalls 1553). Im Laufe der Kolonialzeit wurden so insgesamt 26 Hochschulen in Lateinamerika errichtet: zwei in Santo Domingo, eine in La Havana, drei in Mexiko (Mexico, Guadalajara und Merida), eine in Guatemala, eine in Nicaragua (Le6n), eine in Panama, zwei im damaligen Nueva Grenada (Bogota), zwei in Venezuela (Caracas und Merida), vier in Ecuador (Quito), vier in Peru (Lima, Cuzco und Huamaga), eine im damaligen Hoch-Peru (Charcas), zwei in Chile (Santiago) und zwei in Argentinien (C6rdoba, Tucuman). Es handelte sich um katholische Universitäten, die hauptsächlich Theologie und Recht lehrten und zunächst nur die Söhne der spanischen Eroberer ausbildeten. Erst mit dem Erlangen der Unabhängigkeiten, wie auch unter dem Einfluss der späteren Gründung staatlicher und autonomer Universitäten, verloren diese Hochschulen ihre religiöse und missionmische Ausrichtung. Vgl. Duviols, Jean-Paul (2000): Dictionnaire culturel Amerique latine, Paris, S. 361. Für den folgenden Abschnitt auch: Bemecker, Walther L.frobler, Hans Werner (1996) (Hg.): Ha11dbuch der Geschichte LateinaJnerikas 3: Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Stuttgart. 30 I Siehe u. a. Brachet-Marquez, Viviane (1997): "lntroduction: analyzing change in Latin America- missed oppottunities and false trails", in: Current Sociology 45 Nr. 1, S. 1-14, S. 3. Auch Vessuri e1wähnt diese Vorläufer der Sozialwissenschaften im engeren Sinne und deren Preferenz fiir den "literarischen Essay", der soziale Ideen in "laienhafter", "impressionistischer", "spekulativer" Art behandelte und zu "vorschneller Verallgemeinerung" tendierte. Vgl. Vessuri, Hebe (1999b): "lnvestigacion social y revistas de ciencias sociales en America Latina (.Crisis y transformaci6n?", in: A. M. Cetto/0. Alonso (1999) (Hg.): Revistas cientificas en America latina, Mexico, S. 315-334, S. 310. Gerade im Zusammenhang mit der weiter unten diskutierten Problematik der intellektuellen Abhängigkeit beziehungsweise Konterhegemonialität lohnte es sich vielleicht dennoch, diese frühen Schriften auf ihre Verortung in die eigene Gesellschaft und auf ihren konterhegemonialen Gehalt

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Jahrhundert wurde auch in Lateinamerika eine Reihe von Werken als "Soziologie" betitelt.3 1 Trotz einiger wohlmeinender Interpretationen lateinamerikanischer Soziologiegeschichte32 versteht sich auch die heute dort praktizierte Soziologie mehrheitlich als hervorgegangen aus den europäischen Klassikern des 19. Jahrhunderts. Insofern war sie zunächst abhängig vom Ideenimport aus der "alten Welt", wie Ruy Mauro Marini treffend beschreibt: "La sociologia asi constituida llega a America Latina en Ia segunda mitad del siglo XIX. Para entonces, esta habia promovido su independencia respecto a las metr6polis ibericas y se empeiiaba en Ia formaci6n de sus Estados nacionales. Bajo Ia dominaci6n colonial, Ia regi6n no habfa estado en condiciones de producir ideas propias: las importaha de Ia metr6poli, ya sea absorbiendo las que Je ap01taban los intelectuales que de alla provenian, ya sea enviando a sus hombres cultos, sus letrados, para que se aduefiaran de ellas. Esto no cambia mucho en el primer siglo de vida independiente. ( ... )Se consumfan ideas como se consumian telas, rieles y locomotoras. En las sociedades dependientes de America latina, ser culto significaba estar al dfa con las novedades intelectuales que se producfan en Europa. La estatura de nuestros pensadores se media por su erudici6n respecto a las corrientes europeas de pensamiento y a Ia elegancia con que aplicaban las ideas importadas a nuestra realidad. Ese pensamiento imitativo y retlejo derivaba de las condiciones materiales en que se reproducian nuestras sociedades, pero se ajustaba perfectamente a las necesidades de nuestras clases dominantes. " 33 hin zu untersuchen. Es ist durchaus möglich, dass erst die Verwissenschaftlichung und Disziplinierung des sozialen Denkens in Form der Soziologie die später kritisierte Abhängigkeit von nordatlantischen Ansätzen mit sich brachte. Diese Frage kann hier nicht vertieft werden. 31 V gl. Gonzalez Casanova, Pablo (1970): "La sociologie du developpement latinoamericaine - tendances actuelles de Ia recherche et bibliographie. Iere Partie: Etudes generales, !es classiques latinoamericains et Ia sociologie du developpement", in: Current Sociology 18 Nr. 1, S. 5-29. 32 I Gonzftlez Casanova spricht vom "klassischen Stadium lateinamerikanischer Soziologie" für die Zeit von den Unabhängigkeilen bis 1930. Diese Einschätzung teilen jedoch wenige Darstellungen der Wissenschaftsgeschichte. Gonzftlez Casanova, Pablo (1970). Abreu behauptet, "lateinamerikanische Soziologie hat von Anfang an eine Rolle in der Entwicklung der Disziplin als solcher gespielt" und "es besteht kein Zweifel, dass die Stimme der lateinamerikanischen Soziologie seit jeher international Gehör fand". Abreu, Alice Range! de Paiva (2003): ,,A (strong?) voice from the South. Latin American sociology today", in: Cunent Sociology 51 Nr. 1, S. 51-72, S. 51. Sie bezieht sich allerdings namentlich auf die Generation der 1960er und 70er Jahre, die keineswegs "am Anfang" der dortigen Soziologie stand, jedoch tatsächlich zu ihrer Zeit fiir die Emanzipation der d01tigen Sozialwissenschaften und gewissermaßen zur Beg~iindung einer "Tradition" im Sinne Syed Hussein Alatas' beitrug (s. u.). 33 I "Die so entstandene Soziologie gelangt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika. ln dieser Zeit hatte der Kontinent seine Unabhängigkeit von den iberischen Metropolen erlangt und bemühte sich, Nationalstaaten zu gründe11. Unter der kolonialen Beherrschung war die Region nicht in der Lage, eigene Ideen hervorzubringen: Sie importierte diese aus der Metropole, entweder, indem sie sie von den lntellektuellen, die dorther kamen, übernahm; oder indem sie ihre gebildeten Männer dorthin entsandte, damit sie sich diese ldeen aneignen konnten. Dies änderte sich im ersten Jahrhunde1t der Unabhän1

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Um die 1920er Jahre intensivierten sich die Handels- und politischen Beziehungen innerhalb Lateinamerikas nnd schufen so die ,,notwendige Grnndlage fiir ein autonomes Konzept von Lateinamerika", unabhängig von der Sichtweise Europas. 34 Seither setzte eine intellektuelle Beschäftigung mit der Region als solcher ein. In den l930er Jahren kam zunächst in den Ländern, die eine vergleichsweise frühe Industrialisiernng erfuhren (Argentinien, Brasilien, Mexiko, Chile, auch Uruguay), die Institutionalisierung der Sozialwissenschaften zustande. Als erste Einrichtung wird das im Jahre 1927 gegriindete "Instituto de Sociologia" an der Universität von Buenos Aires angenomrnen. 35 Trotz alledem hält Casanova die soziologischen Arbeiten bis zu den 1960er Jahren für stark angelehnt an nordamerikanische Richtungen, was sich nicht nur in Theorie und Methode, sondern auch im Stil, in der Sprache und in der übergreifenden konservativen Ideologie des Parson' schen Strukturfunktionalismus ausdrücke.36 In Casanovas Kritik schwingen die Ansprüche der neuen Richtungen mit, die nach dem zweiten Weltkrieg aufkamen- nicht zuletzt parallel zur Kritik wie sie in Europa und den USA nach 1968 laut wurde, aber auch als Reaktion auf das Mitwirken empirisch-angewandter Sozialwissenschaft in militärischen und geheimdienstliehen Projekten wie "Camelot" Ende der 1950er Jahre. 37 Als eigenständige Soziologie - das heißt in eindeutiger disziplinärer Abgrenzung innerhalb der Universitäten, jedoch vor allem im Sinne einer Emanzipation von nordatlantischen Einflüssen - zählte für viele

gigkeit nicht grundlegend. ( ... ) Ideen wurden konsumiert wie Stoffe, Schienen oder Lokomotiven. In den dependenten Gesellschaften Lateinamerikas bedeutete gebildet sein, auf dem Laufenden zu sein, was die intellektuellen Neuheiten betraf, die in Europa entstanden. Die Statur unserer Denker wurde an ihrer Kenntnis über europäische Denkrichtungen gemessen und an der Eleganz, mit der sie diese importierten Ideen auf unsere Realitäten anwandten. Dieses nachahmende und wiedergebende Denken ergab sich aus den materiellen Bedingungen, auf deren Grundlage sich unsere Gesellschaften reproduzierten, passten sich aber hervorragend den Bedürfnissen unserer dominanten Klassen an." Marini, Ruy Maura (1994): "Origen y trayectoria de la sociologia latinoamericana", in: Juan felipe Leal y fernandez u. a. (1994) (Hg.): La sociologia contemporanea en Mexico: perspectives disciplinarias y nuevos desafios. UNAM, Mexico, S. 307-323, S. 310. Den Interessen der Herrscherklasse entsprachen seiner Ansicht nach die Paradigmen des Liberalismus und des Positivismus. 34 I Marini, Ruy Mauro (1994), S. 314. 35 I Sonntag, Heinz R. (1988): Duda, certeza, crisis- la evoluci6n de las ciencias sociales de Ame1ica Latina (1989), Caracas, S. 70, bezieht sich auf Delich, francisco (1987): La conciencia cautiva. 36 I Gonzalez Casanova, Pablo (1970), S. 21. 37 I Ein über die ClA finanziertes "Projekt soziologischer Spionage der chilenischen Gesellschaft". Sonntag, Heinz R. (1988), S. 131. Gonzalez Casanova verweist neben Camelot auch auf die Projekte "Simpatico" und "Colonial". Rein empirische Methoden und vor allem die Werturteilsfreiheit stellten Vertreterinnen der Dependenztheorie radikal in frage. Andrade Carrefio, Alfredo (1998): La sociologia en Mexico: temas, campos cientificos y tradici6n disciplinaria, Mexico, S. 63.

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Autorinnen daher erst das, was die Entwicklungen seit den 1960er und 1970er Jahren hervorbrachten. Die 1948 im Zuge der internationalen Neuordnung und der aufkommenden Entwicklungsdiskussion gegründete "Comisi6n Econ6mica para America Latina" (CEPAL) leitete schon bald eine Debatte ein, die eine der "fruchtbarsten" Epochen lateinamerikanischer Sozialwissenschaften prägen sollte.38 Die CEPAL, ein "think tank" der Vereinten Nationen, fragte zunächst nach den Entwicklungspotentialen und -möglichkeiten der Region. 39 Im Laufe der 1960er Jahre erwiesen sich die überwiegend wirtschaftswissenschaftlichen theoretischen Annahmen und entwicklungspolitischen Maßnahmen des daraus hervorgegangenen "Cepalismus" als ungenügend zur Erfassung der spezifischen Problematik in Lateinamerika und die Eimichtung verfolgte nun stärker interdisziplinäre Ansätze, die sich bald zur so genannten Dependenztheorie in ihren verschiedenen Ausformulierungen entwickeln sollten. Die zentrale Frage für den Dependentismus war nicht mehr, ob Entwicklung stattfinden könne, sondern vielmehr unter welchen Bedingungen. Erste Anläufe finden sich in den Arbeiten von Paul Baran ("La economia politica del crecimiento", 1957) und Andre Gunder Frank ("Capitalismo y subdesarrollo en America Latina", allerdings erst 1970 auf Spanisch veröffentlicht). Franks großes Verdienst war es, die Annahme deutlich zurückzuweisen, der sogenannte "Feudalismus" der südlichen Länder sei deren größtes Entwicldungshindernis. Unterentwicklung ist seiner Analyse zufolge das Ergebnis von vier Jahrhunderten kapitalistischer Entwicklung und der dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche. 40 Als obligatorische Referenz des Dependentismus galt bald nach seinem Erscheinen im Jahre 1969 das nunmehr klassische Werk von Cardoso und Faletto, "Dependencia y Desarrollo en America Latina"41 . Obwohl es zunächst nur in mirneographischer Form im "Instituto Latinoamericano de Planificaci6n Econ6mica y Social" (ILPES) vorlag, regte dieser Text unmittelbar eine intensive Diskussion in sozialwissenschaftliehen Kreisen an. Theoretisch verabschiedete der Dependentismus die cepalistische Annahme, die Abhängigkeit sei eine externe Variable in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften und charakterisierte vielmehr ihre Existenzbedingungen selbst als abhängig. Damit verschob sich auch der Akzent von der Analyse der Strukturen hin zu den kollektiven Akteuren. Beginnend in der CEPAL erfasste die Diskussion bald darüber hinaus große Teile der Sozialwissenschaften der gesamten Region. Innerhalb der Richtung bildeten sich bald verschiedene Lager he38 I Osorio, Jaime (1994): "La sociologia latinoamericana: tendencias y perspectivas", in: Juan Felipe Leal y Femandez u. a. (1994) (Hg.), S. 297-305, S. 297. 39 I Vgl. die Ideengeschichte in: Sonntag, Heinz R. (1988). 40 I Frank, Andre Gunder, Capitalismo y subdesarrollo en America Latina, hier zitiert nach Sonntag, Heinz R. (1989), S. 61. 41 I Cardoso, Fernando Henrique/Fa1etto, Enzo (1969): Dependencia y desarollo en America Latina, hier: Dependance et Developpement en Amerique latine (1978), Paris.

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raus, die bis in die 1980er Jahre hinein angeregt diskutierten und die lateinamerikanischen Sozialwissenschaften stark prägten. Als bedeutende Soziologen der Generation der 1960er und 1970er Jahre, die auf die Disziplin bis heute einwirken und weiterhin als die renommiertesten Lateinamerikanerinnen der Zunft gelten, sind zu nennen: Fernando Hemique Cardoso, Theotönio Dos Santos, Orlando Fals Borda, Pablo Gonzalez Casanova, Jorge Graciarena und Anibal Quijano. Die kontinentale Integration förderte außerdem akademische Foren, die im Abschnitt über Entwicklung kurz dargestellt werden (siehe unten). Der Aufwand, den die wissenschaftliche Gemeinschaft für die Institutionalisierung der Disziplinen und für vertiefte regionale Integration betrieb, erhöhte noch die Bedeutung und forcierte die Durchsetzung der lateinamerikanischen Paradigmen der 1960er und 1970er Jahre. Die näheren Umstände der Entstehung sowie die Gründe für die Krise dieser beginnenden "autonomen Tradition" seit den 1980ern werden im Kapitel III über konterhegemoniale Strömungen eingehender behandelt. Zunächst kann festgehalten werden, dass in Lateinamerika die Disziplin historisch als Extension europäischer Soziologie entstand, sich jedoch im Zeitraum der 1960er und 70er Jahre langsam emanzipierte. Über den gegenwärtigen Stellenwert der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften in den internationalen Beziehungen scheiden sich die Geister.

Afrika- soziologische Peripherie, früher wie heute Die Entwicklung afrikanischer Soziologien dagegen verlief im internationalen Vergleich gesehen zeitlich stark verzögert. Dies hängt mit den späten Unabhängigkeiten vieler Staaten ebenso wie mit aktuellen wirtschaftlichen Problemen zusammen.42 Die ersten wissenschaftlichen Einrichtungen in Afrika gehen in die Kolonialzeit zurück. Das "Fourah-Bay-College", von einer britischen Missionsgesellschaft 1827 in Freetown im heutigen Sierra Leone gegründet, steht am Anfang der Universitätsentwicklung auf dem Kontinent.43 Die britische Kolonialverwaltung gtündete nach ähnlichem Muster einige weitere wissenschaftliche Einrichtungen. Diese frühe Errichtung höherer Bildungsinstitutionen hing mit der relativ dezentralen Verwaltung des britischen Kolonialreiches zusammen. Im Gegensatz dazu waren die Regionen, die unter französischer Herrschaft standen, zentral verwaltet und verfügten über keinerlei Institution fur höhere Bildung. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs konnte nur im ,,Mutterland" studiert werden. Die Situation im arabischsprachigen Raum gestaltete sich etwas anders. Im Maghreb bauten die Kolonialmächte ein hervorragendes Wissenschaftssystem auf. Die Institutionen blieben jedoch der breiten muslimi-

42 I Assimeng spricht noch 1997 von unterentwickelten Sozialwissenschaften in Afrika. Assimeng, Max (1997): Foundations of African social thought- a contribution to the sociology ofknowledge, Accra, S. 108 f. 43 I Akiwowo, Akinsola (1980).

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sehen Mehrheit verschlossen, die koloniale Wissenschaft wurde als ideologische Waffe gegen den bestehenden Wissenskorpus eingesetzt.44 Alleine Ägypten ver:fiigte über eine wesentlich breiter angelegte Ausstattung an Universitäten- die erste entstand in ihrer heutigen Form bereits 1908, weitere folgten in den 1920er Jahren. Auch Südafrika hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundetis eine Hochschullandschaft, deren Fundament die Universität von Stellenbosch 1918 legte. Dennoch gelangten die Sozialwissenschaften, primär die Ethnologie und die Anthropologie, bereits während der Kolonialzeit nach Afrika, nämlich als Teil der Kolonialverwaltung. 45 Sozialwissenschaftlerinnen der Metropolen als Bestandteil des Kolonialsystems legten den Grundstein zur sozialwissenschaftliehen Beschäftigung mit afrikanischen Gesellschaften. Besonders in den britischen Kolonien wurden eingehende ethnologische Forschungen angestellt, um die Gesellschaftssysteme der eroberten Gebiete zu ergründen und auf dieser Kenntnis das "Indirect Rule"-Prinzip aufzubauen. Nationale Universitäten und damit die Möglichkeit, im eigenen Land Sozialwissenschaft zu betreiben, entstanden in den meisten Regionen jedoch erst mit der staatlichen Unabhängigkeit: "Most of equatorial Africa got a university at independence. 1t came with the flag and the national anthem. It was a symbol no less important. Colonialism meant that you were not supposed tothink for yourself, for the central claim ofthe colonial power was that subjects lacked the ability to think for themselves, and needed intelligent tutelage: good govemment could not come out of selfgovemment. The number of universities in the whole of British colonial Africa could be counted with the fingers of a single hand. No wonder that university education had tobe an achievement ofthe nationalist govemment." 46

Mit Beginn der Unabhängigkeiten bis etwa 1985 waren die afrikanischen Staaten bemüht, nationale Wissenschafts- und Bildungssysteme aufzubauen. Neben großen Anstrengungen für die Errichtung von allgemein bildenden Schulen wurde aus Stolz lmd Notwendigkeit auch in nationale Universitäten und Forschungsapparate investiert. Diese sollten, so nahm man an, die Förderung des Nationalbewusstseins, die Ausbildung von Kadern für Wirtschaft und Politik, vor allem aber auch die Entwicldung im modemisierungstheoretischen Sinne 44 I Waast, Roland (2002): "Science in Africa: an ovetview", in: Johann Mouton! Roland Waastlf. Ritchie (2002) (Hg.): Science in Africa- Proceedings of a symposium, 17.-18.10.2001 in Somerset West, University ofStellenbosch, S. 37-61, S. 53. 45 I Akiwowo, Akinsola (1980), S. 8 ff. Akiwowo spricht meist von Soziologie, da sein Artikel einen Lagebericht dieser Disziplin geben möchte. Gerade in seinem Abriss zur Kolonialzeit aber - in späteren Abschnitten auch noch, wenngleich weniger explizit-, geht es vor allem um Ethnologie und Sozialanthropologie. 46 I Mamdani, Mahmood (1997): "Africa and ,African Studies"', in: Nico Cloete u. a. (1997) (Hg.): Knowledge, identity and curriculum transfotmation in Africa, Cape Town, S. 149-154, S. 150.

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vorantreiben. 47 Die neu gegründeten Universitäten lehnten sichtrotz des National- und Unabhängigkeitsenthusiasmus den Formen nach an die Wissenschaftssysteme der Kolonialzeit an. Die neuen Regierungen etwarteten sich viel von Forschung und Lehre nach dem Vorbild Europas. In den meisten Ländern wurden ein oder zwei Universitäten gegründet, Ausnahmen bildeten Ägypten, Nigeria und Süda:fiika, die über eine weitaus größere Hochschullandschaft verfügten. Am Aufbau beteiligten sich die ehemaligen Kolonialmächte durch finanzielle, personelle, technische und administrative Hilfe. Auf personeller Ebene wurde Lehr- und Forschungspersonal in die ehemaligen Kolonien entsandt, unter "technischer Hilfe" ist Unterstützung in Fragen der Curriculum-Entwicklung, Zertifizierung, Erstellung von Bibliographien, Bereitstellung von Lehrmaterialien und dergleichen zu verstehen. Unschwer kann man sich vorstellen, dass die neu entstandenen Hochschulen denen der Metropolen nur allzu sehr ähnelten. 48 Auch koloniale Wissensinhalte überlebten die Unabhängigkeiten: die Aufstellung und Abgrenzung der akademischen Disziplinen; wissenschaftliche Bestandsaufnahmen des Kontinentes im Rahmen der kolonialen Wissenschaften; Paradigmen und Interpretationsmodelle der a:fiikanischen Wirklichkeiten; schließlich inhaltliche Prioritätensetzungen.49 Erst nach der Unabhängigkeit begann dann auch nach und nach die systematische Aneignung der Soziologie über die afrikanischen Lehr- und F orschungssysteme. Akiwowo stellte noch 198050 eine starke Kontinuität kolonialer Traditionen disziplinärer und inhaltlicher Art fest. Auch an der Tatsache, dass der Großteil der sozialwissenschaftliehen Produktion über den Kontinent außerhalb desselben entstand, sollte sich so schnell nichts ändern. 5 1 Dies hing unter anderem damit zusammen, dass die frühen Generationen in den Metropolen studiert hatten und mit dem dort erlernten Wissen auf den Kontinent zurückkehrten. 52 47 I Mkandawire, Thandika (1989): "Problems and prospects of the social seiences in Africa", in: Eastem Africa Soeial Scienee Research Review 5 Nr. 1, 1989, S. 1-12, http://www.ossrea.net/eassrr/jan89/thandi.htm (August 2005), S. 2. 48 I Vgl. Waast, Roland (2001): "Afrique, vers un libre marehe du travail scientifique?", in: Economies et Soeietes. Serie F 39 Nr. 9-10, S. 1361-1413. 49 I Waast, Roland (2002), S. 38. 50 I Akiwowo, Akinsola (1980). 51 I Bouhdiba, Abdelwahab (1970): "La sociologie du developpement afrieain- tendances actuelles de Ia recherche et bibliographie", in: CmTent Sociology 18 Nr. 2, S. 5-21 , S. 9. 52 I Die damit zusammenhängenden Probleme hob lnya Eteng in einem Interview fiir Akiwowos "Trend Report" hervor: "How do we resoeialize a majority of Nigerian sociologists and anthropologists whose basic training in Euro-American institutions does not equip them either with a radical orientation or the intelleemal flexibility to aceommodate new paradigms? How do we get across the fundamental fact that a majority of Nigerian soeial seientists are typical, intellectual compradors in the serviee of capitalism and neo colonialism? How do we sell our ,new wares' to ineredibly eonservative Nigerian publies and the goveming elite who are either generallyignorant of

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An starken theoretischen Einflüssen hebt Akiwowo flir verschiedene Länder unter anderem den Marxismus, französische und angelsächsische Klassiker wie Durkheim, Gurvitch, Aron hervor. Die Soziologie der 1960er und 1970er Jahre war aber auch maßgeblich geprägt von Afrikanisten wie Pierre van den Berghe oder Georges Ballandier, als "Klassiker der afrikanischen Soziologie" nannte Akiwowo weiterhin Ethnologen der englischen und französischen Schulen wie Malinowski, Gluckman, Radcliffe-Brown, Evans Pritchard, Victor Turner. Da, wie gesagt, damalige Kolleginnen meist in Europa und den USA studiert hatten, war diese europäische Betrachtung afrikanischer Gesellschaften in doppelter Hinsicht die geistige Vorgängeein der in Afrika praktizierten Soziologie: als erste wissenschaftliche Beschäftigung mit afrikanischen Gesellschaften überhaupt; und als die ersten Ansätze, die man an europäischen und US-amerikanischen Universitäten studiert hatte. Afrikanische Soziologie der 1980er Jahre war inhaltlich abhängig von den Metropolen. 53 Allerdings verwies Akiwowo auch auf den Kongress zu "Ursprüngen und Orientierungen afrikanischer Soziologie" anlässlich des zehnten Jahrestages der "Ghana Sociology Association" (1975), wo neben der Rolle der Klassiker auch die Werke Frantz Fanons, Kwame Nkrumahs und Amikar Cabrals diskutiert wurden. Die Phase der 1960er und 70er Jahre war auch in Afrika für die entwicklungstheoretische Diskussion interessant. Im Jahre 1962 wurde von den Vereinten Nationen das "African Institute for Development and Planning" (IDEP) mit Sitz in Dakar ins Leben gerufen, das mit Problemen der wirtschaftlichen Planung betraut war. Es gewann 1970 unter der Leitung von Samir Amin an Einfluss und Ansehen. Er leistete mit seinem klassischen Werk "Accumulation on a world scale"54 einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über Unterentwicklung und Abhängigkeit der peripheren Ökonomien und über Klassenfragen in dependenten Gesellschaften. In dieser Zeit zog das IDEP durch afrikaweite Konferenzen afrikanische Wissenschaftlerinnen ebenso an wie solche aus anderen

what sociology basically is, or who erroneously believe that sociology is fundamentally synonymaus with socialism? How can a radicalising orientation thrive in the Nigerian society where the civil war and other drastic secularization processes have intensified an increasing monetarization of traditional wholesome relationships and our moral philosophy of altruism? How effectively will the new radical sociologists and anthropologists play their liberating avantgarde roJe given the present constraints of structured inequalities, monolithic and unresponsive decision-making processes, pervasive corruption and clientelistic dependency in the Nigerian society?" Zitiert in: Akiwowo, Akinsola (1980), S. 42. 53 I "Another factor which inevitably hinders the emergence of better paradigms of society in Africa is the complete dependence of sociologists in general upon the conceptual categories developed to explain European and American experiences of sociallife. These are then treated as universal tools for cognition and explanation of sociallife in various African societies." Akiwowo, Akinsola ( 1980), S. 5. 54 I Amin, Samir (1956): Accumulation on a world scale, Dissertationsschrift 1956, hier: L'accumulation a l'echelle mondiale, Paris (1988).

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Kontinenten. Amin suchte ausdrücklich Anschluss an die lateinamerikanische Dependenztheorie und sorgte so ftir einen Aufschwung in entwicklungspolitischen und -theoretischen Debatten. Im Gegensatz zur Rezeption und Weiterentwicklw1g von Ideen aus "think tanks", Politik und revolutionären oder Befreiungsbewegungen, die in Lateinamerika zur Emanzipation der Sozialwissenschaften beigetragen hatten, fehlten in Afrika hierfür jedoch dauerhafte institutionelle Strukturen. Sofern nach den Unabhängigkeiten einiges in nationale WisseTIschaftssysteme investiert worden war, litten diese beträchtlich unter den Krisen der 1980er Jahre (s. u.). Dies verhinderte die systematische Integration brillanter Ansätze wie die von Fanon in eine afrikanische soziologische Tradition. Das IDEP war Gastinstitution ftir die Gründung des "Council for the Development of Social Science Research in Africa" (CODESRIA) im Jahre 1973, dessen erster Exekutivsekretär Amin wurde. Im Laufe der 1970er und 1980er Jahre entstand eine Reihe weiterer regionaler oder kontinentaler Zusammenschlüsse, die für verbesserte innerafrikanische Kommunikation und Kooperation sorgen sollten und die kontinentale wissenschaftliche Gemeinschaft stärkten. Sie schufen Abhilfe ob der "schmerzlichen Wahrheit, dass afrikanischen Soziologinnen die exzellenten Arbeiten ihrer Kolleginnen völlig unbekannt sind". 55 Diese Initiativen liefen jedoch bereits parallel zum Verfall der nationalen Strukturen und stellten gewissermaßen auch eine Reaktion hierauf dar. Denn seit Beginn der 1980er Jahre und verstärkt nach 1985 begann die Destrukturierung der Organisation von Wissenschaft, die sich in den 1960em und 1970em langsam etabliert hatte. Dass die ,,Flitterwochen" zwischen Staat und Universitäten etwa ein Jahrzehnt nach deren Aufbau "zu Ende waren", hatte, so Mkandawire, drei Gründe: erstens die Überproduktion an Absolventlnnen, die in das nationale wirtschaftliche und politische Geschehen nicht mehr integriert werden konnten und als arbeitslose Akademikerinnen für Unbill sorgten; zweitens

55 I Akiwowo, Akinsola (1980), S. 63. Als Gründe nennt er unter anderem die "internationalen Standards", die lokale Soziologlnnen ihrer Kreativität beraubten: "Another of the reasons for the mutual ignorance among African sociologists is most probably due to the fact that the power elites of African universities, in their obsession with ,acceptability' and ,international standards' are forcing the creative minds of both younger and older scholars away from their real calling. Unless there is a change in the sociological perspective towards a ,looking-from-within' approach, present day African scholars will not escape the indictment of future generations of social scientists. For too long the power-elite among African academics has paid nothing but lipservice to ,making knowledge relevant to African reality' ." Ebd. S. 63/64. Die so produzierten Forschungen seien irrelevant fiir die eigenen Gesellschaften: "( ... ) African social scientists differ essentially from their European counterparts in their inability to demonstrate a capacity to construct African modes of explanation, relevant to their daily preoccupations as social scientists in their homelands, as sociologists in Europe and North America have done for their own countlies." Ebd. S. 66. Auf diese Kritiken ist noch zmück zu kommen.

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zunehmende Spannung zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit enttäuschten Erwartungen ob des bisherigen Verlaufs "nationaler Entwicklung", in der die Sozialwissenschaften nicht selten eine regierungskritische Haltung einnahmen; und drittens die ökonomischen Krisen, in deren Folge die Weltbank und die von ihr verbreiteten Lösungsvorschläge rigorose Streichungen in den afrikanischen Hochschulen, insbesondere im Bereich der Sozialwissenschaften, durchsetzten. Daher haben sich seit den 1980er Jahren die Entwicklungsbedingungen für die Sozialwissenschaften zusehends verschlechtert. 56 Diese Umkehrung bereits gegebener Wissenschaftsentwicklungsowie die Bedeutung der regionalen Vereinigungen behandelt der entsprechende Abschnitt in Kapitel I.2 näher. Angesichts dieser vielfältigen Tendenzen, die weiterhin die Herausbildung einer eigenständig profilierten afrikanischen Soziologie erschweren, sei als vielversprechende Initiative die Gründung der "African Sociological Association" (AfSA) erwähnt, die im Sommer 2006 in Grahamstown-iRhini, Südafrika, einen gut besuchten und lebendigen ersten Kongress abhielt. Vor diesem, in aller Kürze dargestellten, historischen Hintergrund ist eine Grundannahme dieser Arbeit, dass die Soziologien Afrikas und Lateinamerikas historisch zunächst auf den europäischen und dann auch USamerikanischen Traditionen aufbauten. Es geht nun darum herauszufinden, ob deren historische Unterordnung unter die nordatlantisch geprägte Disziplin Einflüsse auf aktuelle sozialwissenschaftliche Entwicklungen hat und welche diese sind. Eine zentrale Annahme dieser Arbeit ist die, dass sich daraus die bis heute anhaltende periphere Position der beiden Kontinente in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft und ihrer Produktion ergibt.

1. Konzeptualisierung eines Zentrum-PeripherieModells für die aktuellen Entwicklungen in der Soziclog ie Was die gegenwä1tige Lage angeht, beklagt zwar eine Reihe von Autorinnen die Randstellung Afrikas und Lateinamerikas in der Disziplin sowie den Eurozentrismus des "Mainstreams". Doch liegen kaum systematische Arbeiten zu diesen Fragen vor. Nach einer kurzen Darstellung verwandter Ansätze soll daher in eigener Konzeptualisierung ein Zentrum-PeripherieModell entworfen werden.

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Mkandawire, Thandika (1989), S. 3.

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Zentrum-Peripherie-Ansätze in der Wissenschaftstheorie Der 1985 von Gareau veröffentlichte Aufsatz "The multinational version of social science with emphasis upon the discipline of sociology"57 stellt einen der wenigen Versuche dar, die internationalen Beziehungen in den Sozialwissenschaften wissenschaftssoziologisch zu untersuchen. Der Autor wählt hierfur - und so wird auch in der vorliegenden Untersuchung vorgegangen - einen Ansatz, der seine Inspiration in der lateinamerikanischen "Dependencia" findet und daher in der Literatur auch als "akademische Dependenztheorie" bekannt wurde. 58 Gareau unterscheidet drei große sozialwissenschaftliche "Blöcke": die westlichen Sozialwissenschaften der USA und Westeuropas, die Richtungen des sowjetischen Marxismus-Leninismus und die peripheren Sozialwissenschaften der südlichen Kontinente. Die drei Blöcke stehen seinen mit empirischen Analysen gestützten Überlegungen zufolge in hierarchischen Beziehungen, die sich mit den Begrifflichkeiten von Zentrum und Peripherie angemessen erfassen lassen: "The system has been exposed as one which features vertical relations; from the United States to the other Western social science powers and to most of the Third World; from the Soviet Union to the other socialist countries (except China) and to selected Third World countries; and from the middle range social science powers, mostly in Western Europe and elsewhere as weil to their peripheries. The centres send out messages, but receive little intlow in retum. The peripheries can have more than one centre, but it seems that they have a chief centre. A crucial feature of the system is the Iack of communication among the peripheral states; their ties are with the centre. This is notably the case among the Third World states, although an exception- and this only to some extent- is Latin America."59

An empirischen Erhebungen führt Gareau Zitationsanalysen durch, ferner Befragungen, über die er in verschiedenen Ländern herauszufinden sucht, welche Forschungsinstitutionen und Persönlichkeiten besondere Anerkennung finden. Er konstatiert eine stark ethnozentristische Perspektive der westlichen Sozialwissenschaften und intellektuelle Abhängigkeit und Unterordnung derer im Süden, die überdies in hierarchischen tmd einseitigen Strukturen kommunizieren. Gareau bezeichnet die nach paradigmatischer Ausrichtung und nationaler Verortung unterschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften als "Sekten". Die so charakterisierte Kommunikation ist weit entfernt von Mertons Idealen fur wissenschaftliche Arbeit: 57 I Gareau, Frederick H. (1985): "The multinational version of social science with emphasis upon the discipline of sociology", in: Current Sociology 33 Nr. 3, S. 1-165. 58 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 603. 59 I Gareau, Frederick H. (1985), S. 107.

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"Our macroscopic view of American social science sees them ,flooding' the professianal information markets of the ente1prises in other First World and most Third World countries, without receiving much feedback. The flow suggests the interaction of patron and clients, in which the former talks and the latter Iisten. The relationship is the vertical one set f01th in dependency theory, not the mutual dialogue, the give and take among equals implicit in the Mertonian approach."60

Die Bezeichnung als "Seiden" spricht bereits fiir die kritische und relativistische Haltung, nach der Gareau die derzeitige Funlctionsweise ,,multinationaler" Sozialwissenschaften beurteilt. Er geht von einer rein externen Determinierung wissenschaftlicher Hegemonie aus: Die US-amerikanischen Sozialwissenschaften seien nicht aufgrund ihrer "intrinsischen Werte" so weit verbreitet, sondern aufgrundder politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanz der Vereinigten Staaten. Die sozialwissenschaftliehen Größen entsprächen den wirtschaftlichen und politischen Großmächten, "weil Sozialwissenschaft Teil der Wissensindustrie sei"61 . Die Soziologie, auf die er sich vornehmlich bezieht, sei, so muss man seine Ausführungen wohl verstehen, völlig kulturell, sozial und das heißt auch national geprägt und unterliege ökonomischen und politischen Interessen. Dementsprechend fallt auch Gareaus Ausblick hinsichtlich einer möglichen Vereinheitlichung der Disziplin über paradigmatische und nationale Grenzen hinweg pessimistisch aus, im Gegensatz zu der Situation, die er fiir die Naturwissenschaften annimmt. Ausdrücklich trennt er die "interne Sichtweise", nach der sich sozialwissenschaftliche Ansätze und Aussagen aufgrund ihrer Überzeugungskraft und ihres Wahrheitsgehalts durchsetzen, von seiner Analyse, nach der außerwissenschaftliche, nämlich politische und ökonomische Faktoren das wissenschaftliche Geschehen bestimmen. 62 Wenn auch der Aufsatz bisweilen polemisch überspitzt wirkt63 , so ist doch grundsätzlich eine makrosoziologische Betrachtung der hierarchischen 60 I Gareau, Frederick H. (1985), S. 87. 61 I Gareau, Frederick H. (1985), S. 12. Weiterhin heißt es hier: "American social science achieved its present eminence as the United States became an economic and political supe1power in the post-war era and the world's premier educator. The Soviet brand of social science followed in the wake of Soviet expansion as weiL lt is against these hegemonies that the Third World is in revolt, especially against impositions from the United States and the remainder ofthe First World." 62 I Gareau, Frederick H. (1985), S. 66. 63 I Bisweilen gar falsch, wenn er etwa behauptet, dass die beiden hegemonialen Sozialwissenschaften - in gänzlich voluntaristischer Manier - das Aufkommen alternativer Ansätze im Süden "nicht erlauben": "Mainstream social science in both the United States and the Soviet Union does not accept dependency theory, nor the right of Latin Arnerica to produce it. ln fact, the two orthodoxies deny the Third World the prerogative of producing its own indigenized sects, in a way not dissimilar from the way Rome Iooks upon the theology of Iiberation. The ideologies of the former assure their practitioners that this condemnatory discourse is one of science to non-science, truth to falsehood." Gareau, Frederick H. ( 1985), S. 115/116.

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internationalen Beziehungen in der Soziologie nur zu begrüßen und für das hier vorgeschlagene Vorhaben sehr viel versprechend. So ist auch das weiter unten vorgeschlagene eigene Zentrum-Peripherie-Modell von Gareaus Vorschlag angeregt worden. Jedoch, bevor auf den nützlichen Ideen des Autors weiter aufgebaut wird, sollen auch die fraglichen Punkte seiner Ausfühmngen genannt werden. Zunächst verlangt die Einteilung in drei Blöcke nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems natürlich eine Revision. Fragwürdig an Gareaus Herangehensweise ist dabei, dass er sich einseitig auf den Kontext der 1970er und 1980er Jahre beschränkt und nicht die historischen Wurzeln wissenschaftlicher Unterordnung durch den Kolonialismus berücksichtigt. Wichtiger scheint jedoch sein einseitiger ökonomischer und geopolitischer Determinismus, der so nicht annehmbar ist. Gareau blendet infrastrukturelle Entwicklungsprobleme und wissenschaftsinterne Faktoren aus und beschränkt sich auf die exogenen internationalen Bedingungen. Hier scheint eine differenziertere Sichtweise angebracht: auch wissenschaftsintern gibt es institutionelle und materielle Faktoren, die nicht abgekoppelt von den geopolitischen und ökonomischen verstanden werden können, auf diese aber nicht reduzierbar sind. Wenn die US-amerikanischen Sozialwissenschaften als am ethnozentristischsten charakterisiert werden, da sie praktisch ein geschlossenes Kommunikationssystem bildeten und den Rest der Welt gar nicht wahrnähmen, so liegt das sicherlich nicht nur an der geopolitischen Vormachtstellung des Landes, sondern auch daran, dass die USA über die infrastrukturell und institutionell am weitesten entwickelte Wissenschaftslandschaft der Erde verfügen und eine der weltweit größten wissenschaftlichen Gemeinschaften beheimaten, so dass ausreichend kritische Masse im Land für die Weiterentwicklung der Disziplin vorhanden ist. Aber auch die Quasi-Monopolstellung im Veröffentlichungssektor und in der Bereitstellung "internationaler Datenbanken" sowie die Disziplineneinteilung der nordatlantischen Sozialwissenschaften, Faktoren, die weiter unten eingehend behandelt werden, unterschätzt Gareaus Ansatz. Trotz dieser Kritikpunkte eignet sich die Konzeptualisierung der weltweiten Sozialwissenschaften in Zentrum und Peripherie für das hier verfolgte Vorhaben und soll daher im Folgenden differenzierter konzeptualisiert und für empirische Analysen operationalisiert werden. Weitere Autorinnen liefern Ideen und Materialien zu einzelnen Aspekten, die in den Rahmen des hier vertretenen Modells eingeordnet werden können. Ein Zentrum-PeripherieModell für die internationale Konstituierung der Disziplin erlaubt daher, die bisher geographisch, disziplinär und paradigmatisch verstreute, für das Thema relevante Literatur zu sortieren und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Ferner wird im Folgenden Wert auf die Operationalisierbarkeit des Modells für empirische Erhebungen gelegt, um so die bisher oftmals stark politisch und polemisch geführte Diskussion um die nordatlantische Dominanz auf eine empirische Datengrundlage zu stellen.

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Das Innovative des Zentrum-Peripherie-Ansatzes zum Zeitpunkt seines Aufkommens lag in der Einsicht in die Verbindungen zwischen und gegenseitigen Bedingtheiten von globalem Zentrum und Peripherie. Was dort für die weltweite Ausbreitung und heutige Hegemonie des Kapitalismus gilt, kann man mit gewissen Einschränkungen, versteht sich, analog auf die moderne Wissenschaft und hier speziell auf die Soziologie übertragen. Dies Vorgehen entspricht den bereits erwähnten Verfahren Polancos64 , Hountondjis 65 und Gareaus66 die ebenfalls ihre Überlegungen zur Wissenschaft aus der Politischen Ökonomie ableiten. Als Ausgangspunkt kann das klassische Werk "Dependencia y desarrollo en America latina"67 von Cardoso und Faletto herangezogen werden. Die Analogie zwischen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beziehungen kann natürlich nicht vollständig sein, schon insofern als Wissen kein materielles, sondern ein ideelles Gut ist. Hountondji bringt diesen Gedanken auf den Punkt: exportiertes Wissen fehle der Herkunftsregion anschließend nicht, wie dies bei Elfenbein oder Erdnüssen der Fall sei. 68

Tabelle 1: Zentrum-Peripherie-Schema von Polanco Centre

Peripherie

1. La production scientifique et Ia l. Elles sont basses. productivite par auteur sont elevees 2. Recherche de pointe 2. Les domaines de recherche sont traditionnels, travail routinier 3. Cooperation et collaboration, 3. Individus isoles, travail individuel travail en equipe 4. Les resultats ont un impact 4. Un faible impact eleve 5. Le systeme de recherche est au- 5. Il est dependant, heteronome ou tonome et autocentre heterocentre 6. International 6. Local 7. Lingua franca 7. Langue locale 8. En retard (time-lag) 8. Actualite des references

64 I Polanco, Xavier (l990b); Polanco, Xavier (1990a); Polanco, Xavier (1985): "Science in developing countries: an epistemological approach on the theory of science in context", in: Quipu 2 Nr. 2, S. 202-218; Polanco, Xavier (1992). 65 I Hountondji, Paulin J. (1990b): "Recherche et extraversion: elements pour une sociologie de Ia science dans !es pays de Ia peripherie", in: Africa Development 15 Nr. 3/4, S. 149-158. S. 149. Vgl. Hountondji, Paulin J. (1994); Hountondji, Paulin J. (2001/02); Hountondji, Paulin J. (1990a). 66 I Gareau, Frederick H. (1985). 67 I Cardoso, Femando Henrique/Faletto, Enzo (1969). 68 I Hountondji, Paulin J. (1994).

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9. Communication et circulation de l'information 10. Bases de donnees et contr61e des flux de l'information 11. Science mainstream

9. Manque de communication et cloisonnement 10. Absence et dependance 11 . Science marginale

12. Lien avec !es besoins sociaux et 12. Marginalisation et academisme economiques (fonction sociale) Quelle: Polanco, Xavier (1990b), S. 49.

Aufgrund dieses fundamentalen Unterschieds zwischen materiellen und ideellen Werten ist eine der Grundideen der Dependenztheorie nicht eindeutig auf die Wissenschaft übertragbar: die Feststellung, dass weltweit gesehen die Entwicldung im Zentrum die Unterentwicklung in der Peripherie kausal verursacht. Dennoch lässt sich die Konzeptualisierung der charakteristischen Unterschiede von Zentrum und Peripherie auf drei Ebenen, die Cardoso und Faletto vorschlagen, für die Wissenschaftssoziologie fruchtbar machen und bietet ein präziseres begriffliches Werkzeug als die in der Literatur vorzufmdenden Ansätze. Dies wird anhand von Polancos Systematisierung deutlich. Er unterbreitet, gestützt auf wissenschaftssoziologische Literatur und statistische Erhebungen, für die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie das in Tabelle 1 wiedergegebene Schema. Obschon diese Aufstellung auch eine Reihe interessanter Gedanken enthält - die im Folgenden eingehender untersucht werden sollen -, so fällt die Ungenauigkeit ins Auge, mit der verschiedene Analyseebenen undifferenziert nebeneinander gestellt werden, so dass grundlegende Faktoren, Ursachen und Wirklmgen nicht getrennt erscheinen: Entwicklungsprobleme (1., 3., 8., 9.) werden mit ungleichen internationalen Beziehungen (4., 5., 6., 11.) durcheinandergebracht, Konzepte (5., 6., 11.) mit empirischen Befunden (1., 2., 3., 8., 9) und manche Punkte (6., 7., 12.) gestalten sich komplizierter, als Polancos Tabelle dies vorgibt.

"Dependencia y desarrollo" eine Inspiration und drei Analogien Das hier vorgeschlagene, aus dem Werk ,,Dependencia y desarrollo" abgeleitete Modell dagegen unterscheidet zunächst drei Ebenen des Problems, unter die sich anschließend sämtliche bei Polanco genannten Punkte einordnen und im Zusammenhang erfassen lassen: erstens, die Ebene der lokalen mate1iellen und institutionellen Infrastruktur und damit zusammenhängend der internen Organisation; zweitens, die Ebene der Existenzbedingungen und eigenständigen Reproduktionsmöglichkeiten; schließlich drittens, die Ebene der Funktion und der Stellung in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft. 1. In Anlehnung an Cardoso und Faletto lassen sich Wissenschaftsapparate oder einzelne Disziplinen gemäß ihrer materiellen und institutionellen

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Infrastruktur sowie ihrer internen Organisation als entwickelte und unterentwickelte unterscheiden. Eine entwickelte Soziologie wäre dementsprechend hochgradig institutionalisiert über spezialisierte Einrichtungen, Zeitschriften und Vereinigungen. Dies setzt ausreichende Forschungsfinanzierung und angemessene Gehaltsstrukturen für Wissenschaftlerinnen voraus, einen universitären oder akademischen Rahmen sowie weitere Infrastrukturen wie Verlagswesen, einen Buchmarkt, Informations- und Kommunikationstechniken und Ähnliches. Auch das gesellschaftliche und politische Umfeld muss derart gestaltet sein, dass die notwendige akademische Freiheit für sozialwissenschaftliches Arbeiten gegeben ist. Eine entwickelte Soziologie zeichnet sich außerdem durch ihre arbeitsteilige Organisation aus, so dass von der empirischen Datenerhebung und Verarbeitung, der Durchführung von Fallstudien auf niedriger Abstraktionsebene bis hin zur K.onzeptualisierung, Methodenentwicklung und verallgemeinemden Theoriebildung alle Bereich der soziologischen Arbeit intern abgedeckt sind und ständig weiterentwickelt werden. Hierfür ist eine funktionierende wissenschaftliche Gemeinschaft notwendig, die ständig kommuniziert, kooperiert, kritisiert, auf vorhandenen Ansätzen aufbaut und sowohl thematisch wie forschungstechnisch arbeitsteilig organisiert ist. Diese legt außerdem Standards für die Aufnahme in und den Ausschluss aus der Gemeinschaft fest - Studiengänge, Lehrinhalte, Zertifizierung - und hält diese aufrecht. Insofern kann eine entwickelte Soziologie als ein eigenes System zur Produktion, Verbreitung und zur Akkumulation von Erkenntnissen und Diskursen gelten. Eine unterentwickelte Soziologie ist demgegenüber nicht ausreichend institutionalisiert. Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist klein, es fehlt an "kritischer Masse", sie kommuniziert und kooperiert unzureichend, so dass einzelne Forscherinnen isoliert arbeiten. Das notwendige Personal zum Aufbau einer funktionierenden Gemeinschaft kann nicht selbst hervorgebracht werden, weil Studiengänge bis hin zu den höheren Abschlüssen fehlen oder qualifiziertes Personal, das diese abnehmen könnte. Die bearbeitete Themenbreite ist begrenzt, ebenso wie der Verallgemeinerungsgrad der Ergebnisse und damit der theoretische, methodologische und erkenntnistheoretische Beitrag zur Disziplin als ganzer. Die Produktion, Anhäufung und Verbreitung von Erkenntnissen und Diskursen erfolgen nicht endogen, so dass das eigenständige Fortbestehen und der Fortschritt einer unterentwickelten Soziologie nicht gewährleistet sind. Gründe für einen niedrigen institutionellen, personellen und inhaltlichen Entwicklungsstand sind in erster Linie im außerwissenschaftlichen Bereich zu suchen: schlechte gesamtwirtschaftliche Lage oder Finanzierungsprioritäten, die der Soziologie nicht zugute kommen, geringe "wissenschaftliche Alphabetisierung", das heißt wenig Einbettung moderner Wissenschaft in die Gesellschaft, aber auch fehlende strukturelle Voraussetzungen wie Verlage und Kommunikationsmedien und niedriger Status damit zusammenhängender Berufe. Weiterhin

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kann ein repressives politisches Klima die Entwicklungschancen für eine eigenständige Soziologie erheblich beeinträchtigen. Nicht zuletzt muss bei der Beurteilung des Entwicklungsstandes - wie der historische Abriss zu Afrika zeigte -, aber auch ganz einfach der Zeitfaktor berücksichtigt werden, denn akademische Fortschritte erfordern ein Denken in langen Zeiträumen. Unter die Problematik von Infrastmktur und interner Organisation fielen die Punkte I, 2, 3, 8 und 9 in Polancos Tabelle. 2. Mit der Fähigkeit zur eigenständigen Produktion, Verbreitung und Aldmmulation soziologischen Wissens sowie zur Reproduktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der verfügbaren Infrastrukturen hängt eine zweite Ebene des Zentrum-Peripherie-Modells zusammen, die jedoch analytisch von der ersteren zu trennen ist. Gemäß ihrer Existenzbedingungen lassen sich abhängige und autonome Soziologien unterscheiden. Autonome Sozioiegien können sich personell wie inhaltlich selbst erhalten, reproduzieren und weiterentwickeln. Die Kommunikation von Forschungsergebnissen wird hier intern geleistet und kann zusätzlich nach außen in die peripheren wissenschaftlichen Gemeinschaften erfolgen. Abhängige Soziologie dagegen ist angewiesen auf einen ständigen Import von Theorien und Konzepten, von Lehr- und Forschungsmaterialien sowie von akademischen Abschlüssen aus den Universitäten des Zentrums. Sie beruht auf einer methodologisch-theoretischen sowie personellen Grundlage, an deren Hervorbringung sie wenig teilhat. Autonomie ist dabei nicht mit Autarkie zu verwechseln. Wissenschaftliche Aktivität ist stets international konstituiert und gerade in den Sozialwissenschaften wohl nur im grenzüberschreitenden Austausch sinnvoll. Doch liegt der Unterschied darin, dass die autonome Soziologie zum einen auf gleicher Ebene oder aber aus erhabener Position heraus international agiert, und dass sie zum anderen aus grenzüberschreitenden Rezeptionsoder Kollaborationsprozessen zwar profitiert, darauf aber für ihr Fortbestehen - im Gegensatz zur dependenten Soziologie - nicht essentiell angewiesen ist. Die Gründe für Abhängigkeit beziehungsweise Autonomie sind in der globalen wie lokalen Geschichte der Disziplin, in den weiterreichenden soziokulturellen Beziehungen zwischen Nationen zu suchen und überdies in Verbindung mit der dritten Dimension zu sehen. 3. Schließlich lassen sich gemäß ihrer globalen Funktion und Stellung zentrale und marginale Wissenschaften unterscheiden. Eine zentrale Soziologie enthält die bedeutendsten Einrichtungen der Disziplin als ganzer. Damit ist gemeint: anerkannte wissenschaftliche Einrichtungen und Autoritäten, Studiengänge und Abschlüsse, prestigeträchtige Zeitschriften und Verlage, eine allgemeine Theorie und Methodologie, die weltweit richtungweisend sind, sowie die Oberhoheit über die Setzung soziologisch-disziplinär relevanter Thematiken. Bei der Frage der Zentralität geht es zu allererst um die internationale Anerkennung dieser zentralen Einrichtungen. Wie bereits bei der Dimension von Abhängigkeit/Autonomie handelt es sich

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hierbei um einen Sachverhalt, der stets ein Denken in Beziehungen erfordert. Eine Soziologie kann nur zentral in ihrem Verhältnis zu einer anderen sein, nämlich sofern sie von dieser als zentral anerkannt wird. Marginale Soziologien nutzen die Institutionen des Zentrums: Entweder verfügen sie über entsprechende lokale Alternativen gar nicht- in diesem Fall gehen Unterentwicklung und Abhängigkeit mit Marginalität einher - , oder aber man greift aus Prestigegründen auf sie zurück. Das Letztere schließt eigene Entwicklung nicht aus und die Frage der Abhängigkeit ist in diesem Fall schwieriger zu bewerten. Dagegen gelangen die Produkte der marginalen Soziologien umgekehrt nicht ins Zentrum, werden dort als unbedeutend eingeschätzt oder bleiben aus Gründen, die weiter unten empirisch zu prüfen sein werden, international unsichtbar. Marginale Einrichtungen für Forschung und Lehre genießen hier wenig Ansehen oder sind gänzlich unbekannt. Auch wenn es bei der Frage von Zentralität/Marginalität in erster Linie um ein Phänomen der Anerkennung geht, hat die internationale Stellung Auswirkungen auf die wissenschaftliche Produktion. Die marginalen Soziologien beschränken sich auf Arbeiten mit lokaler Ausrichtung und niedrigem Abstraktionsgrad - hier verbinden sich Entwicklung und Marginalität - und sind auf die inhaltlichen Errungenschaften des Zentrums fixiert. Schließlich hat zentrale Soziologie auch die Gesellschaften der Peripherie zum Objekt, während das umgekehrt nicht der Fall ist. Die Unterschiede und die Zusammenhänge zwischen marginaler und zentraler Wissenschaft, die also nicht alleine im Entwicklungsniveau, sondern auch in der Funktionsweise und der Orientierung liegen, fasst Hountondji für die afrikanische Wissenschaft treffend zusammen: "En considerant les choses sous cet angle, on s'aper9oit aisement que Ia difference n'est pas seulement quantitative, mais qualitative, pas seulement de degre ou de niveau de developpement, mais d'orientation et de mode de fonctionnement, entre l'activite scientifique en Afrique et cette activite dans les metropoles industrielles. La recherche, ici, est extravertie, tournee vers l'exterieur, ordonnee et subordonnee a des besoins exterieurs au lieu d'etre autocentree et destinee, d'abord, arepondre aux questions posees par Ia societe africaine ellememe."69 Die Gründe flir Marginalität beziehungsweise Zentralität sind so in den geopolitischen Positionen der jeweiligen Länder zu sehen, werden aber auch durch wissenschaftsinterne Strukturen aufrechterhalten und gestärkt, wie die empirischen Erhebungen zeigen werden. Ließen sich alle existierenden Soziologien in allen drei Gegenüberstellungen eindeutig auf einer Seite verorten, so bestünde Hegemonie der entwickelten, autonomen und zentralen über die unterentwickelten, abhängigen und marginalen Soziologien. Die im Schrifttum vielfach festgestellte und kritisierte ,,Hegemonie", "Dominanz", "Vorherrschaft", der "Imperialismus", ,,Kolonialismus" oder der "Neokolonialismus" europäischer 69

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Hountondji, Paulin J. (1994), S. 1 und 2.

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und nordamerikanischer Soziologie unterstellen einen solchen Sachverhalt. Die Ausdrücke sind vieWiltig, ebenso wie die Diskussions- und Theoriekontexte, aus denen sie hervorgehen. Stellvertretend hierfür können Aussagen von Syed Farid Alatas herangezogen werden, der zwei wichtige Problematiken auseinanderhält die Beteiligung der Sozialwissenschaften an kolonialen beziehungsweise imperialistischen Strategien auf der einen Seite - dies wird nicht Thema dieser Arbeit sein - , den Einfluss nordatlantischer Soziologie auf die südlichen Erdteile als innerwissenschaftliches Problem auf der anderen: "There is also another sense in which we may understand academic imperialism. In addition to considering the role of social scientific research and schalarship in the service of political and economic imperialism, we may also think of it as analogaus to political and economic imperialism, that is, ,the domination of one people by another in their world of thinking' ( ... ). In other words, academic imperialism is a phenomenon analogaus to political economic imperialism. There are imperialistic relations in the world of the social sciences that parallel those in the world of international political economy. Academic imperialism in this sense began in the colonial period with the setting up and direct control of schools, universities and publishing houses by the colonial powers in the colonies. lt is for this reason that it is accurate to say that the ,political and economic structure of imperialism generated a parallel structure in the way of thinking of the subjugated people' ( ... ). Today, academic imperialism is more indirect than direct. ( ... ) It can be said that in the postcolonial period what we have is academic neoimperialism or academic neo-colonialism as the West's monopolistic control of and influence over the nature and flows of social scientific knowledge remain intact even though political independence has been achieved." 70 "Indirekter Imperialismus" ist dabei ein zu ungenauer Begriff, um den anhaltenden Einfluss und die internationale Vorrangstellung nordatlantischer Soziologie zu bezeichnen. Er unterstellt überdies gewissermaßen voluntaristisch eine gezielte Strategie in den internationalen wissenschaftlichen Beziehungen. Den wissenschaftlichen Gemeinschaften des Nordens ein derart strategisches Denken und Handeln zu unterstellen, geht jedoch zu weit. Der Begriff der Hegemonie dagegen, wie er bezogen auf Gesellschaft und Kultur im Rahmen der kapitalismus- und globalisierungskritischen Diskussion in Anlehnung an Gramsei gängig ise 1, scheint hier eher angebracht, da er verstärkt auf die struk-

70 I Alatas, Syed farid (2003), S. 601. 71 I Eine prägnante Begriffsbestimmung in diesem Sinne liefert Brand in seinem kurzen Artikel "Konsens und Kampf'. Es heißt hier: "Hegemonie wird verstanden als Fähigkeit herrschender Gruppen und Klassen, ihre Interessen durchzusetzen, sodass sie von subalternen Gruppen und Klassen als Allgemeininteresse angesehen werden und es weitgehend gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungen über die Verhältnisse und ihre Entwicklung gibt. Insofern erzeugt Hegemonie einen ,Konsens der Regierten' . ( ... ) Ein weiterer Aspekt von Hegemonie besteht darin, dass es den herrschenden Kräften gelingt, die diskursiven

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turelle Dimension des Macht-, Informations- und Prestigegeralles verweist. Hegemonie in diesem Sinne bedeutete, dass eine Soziologie international dominant ist und überdies die volle Anerkennung aller Peripherien genießt. Dieser zunächst idealtypisch vorgestellte Fall wird in der Realität wohl nie gegeben sein. Im Folgenden meint Hegemonie daher das Vorherrschen bestimmter, nicht endogen entstandener, soziologischer Richtungen in einer Region oder in der nationalen Soziologie eines gegebenen Landes, insbesondere an der Peripherie des internationalen Wissenschaftssystems. Die bistmischen Überblicke zeigten, dass eine solche Situation der Hegemonie europäischer und später auch nordamerikanischer Ansätze in der Entstehungsphase der modernen Soziologie in Afrika und in Lateinamerika angenommen werden kann. Wie die empirischen Befunde der folgenden Kapitel sowie vor allem das Aufzeigen konterhegemonialer Strömungen im zweiten Teil der Arbeit zeigen werden, zeichnen sich seither jedoch Entwicklungen ab, die diese Hegemonie zusehends in Frage stellen. Im Folgenden geht es also darum, herauszuarbeiten, ob, und wenn ja mit welchen Mitteln, die nordatlantische Hegemonie in den letzten Jahrzehnten hinterfragt wurde. Es wird darzulegen sein, dass an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten Widerstand in der Form theoretischer Kritiken und insbesondere in der Form konterhegemonialer Strömungen aufkam, dem dies zumindest zeitweise- gelang. Der Begriff der "Dominanz", im Sinne einer bedeutenden intellektuellen Beeinflussung von großen Teilen regionaler, natinaler oder lokaler wissenschaftlicher Gemeinschaften sowie einer weitgehenden Anerkennung durch diese, scheint den derzeitigen Sachverhalt daher adäquater zu fassen als der stärkere der Hegemonie. Insofern soll im Folgenden hinsichtlich der Entwicklungen etwa seit dem zweiten Weltkrieg, wollte man einen Zeitpunkt festsetzen, von nordatlantischer Dominanz die Rede sein. Bevor nun eine eingehendere Untersuchung der drei Dimensionen des Zentrum-Peripherie-Modells vorgenommen wird, sollen noch einige Bedenken vorweggenommen und so womöglich zerstreut werden. Im Vorfeld dieser Arbeit wurde mehrmals vorgeschlagen, einen Begriff wie den der "Semiperipherien" als Zwischenkategorie einzuführen. Tatsächlich wird im Rahmen des Globalisierungsdiskurses und auch der Weltsystemtheorie zunehmend Abstand genommen von einer einfachen Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie zugunsten einer größeren Differenzierung in Semiperipherien, Regionen oder Ähnlichem. Und es wird darauf verwiesen, dass es sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie im Laufe der Zeit Wandlungen und Verlagerungen gab, die etwa zu Auf- und Abstiegen ftlhrten und Peripherieelemente ins Zentrum brachten oder umgekehrt. und institutionellen Terrains der Auseinandersetzung und Kompromissbildung vorzugeben." Brand, Ulrich (2005): "Konsens und Kampf- über Globalisierungskritik, Hegemonie und Gegen-Hegemonie", in: Jungle World 9, www. jungle-world.com/seiten/2005/09/5027.php (Dez. 2005), S. 1.

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Auch hier wird davon ausgegangen, dass sowohl das Zentrum als auch die Peripherie in sich hierarchisiert und differenziert und dass die Übergänge fließend sind. Die dargestellten Unterschiede sind nicht als fixe Eigenschaften zu verstehen, sondern stets in einer Beziehung zu denken. 72 Weiterhin handelt es sich hier zunächst um ein Modell, in dem die Problematik gewissermaßen idealtypisch dargestellt wird. In der Realität wird man kaum eine Reinfom1 der herausgearbeiteten Typen finden. Was die Frage der Semiperipherien angeht, so scheint es doch, dass die hier gewählte dreigeteilte Unterscheidung von Entwicklung!Unterentwicklung, Autonomie/Dependenz und Zentralität/Marginalität eine genauere Charakterisierung einzelner realer Fälle erlaubt, als eine Einteilung in Zentrum, Semiperipherien und Peripherien. So ließe sich, wie das Beispiel Japan erhellt, eine vollständig entwickelte, dabei aber hochgradig abhängige und marginalisierte Soziologie vorstellen. Sollte diese in die Kategorie der Semiperipherie eingeordnet werden? Oder träfe diese Kategorie nicht vielmehr für eine institutionell wenig entwickelte, dafür aber inhaltlich spannende lokale Soziologie zu, wie sie am Rande des Wissenschaftsbetriebes etwa im Austausch mit revolutionären und Befreiungsbewegungen bisweilen entstanden? Offensichtlich ist doch das hier vorgeschlagene Modell besser geeignet, die Realität einer nationalen Soziologie und ihrer wissenschaftlichen Gemeinschaft zu erfassen, als die Einführung einer breiten Mittelkategorie, der Semiperipherie. Das Modell birgt jedoch andere Gefahren, in erster Linie die eines großen Abstandes zwischen den abstrahierten makrosoziologischen Hypothesen und den möglichen empirischen Überprüfungen, die obendrein überhaupt erst gefunden werden müssen. Wie Polanco sehr richtig bemerkte: "Parler de ,science marginale' ou de ,science peripherique' est une chose; se donner les moyens d'observer cette realite, de faire correspondre a ces notions abstraites des donnees empiriques observables, en est une autre.'m Dem kann nur mit rigoroser Konzeptualisierung und Beachtung der unterschiedlichen Analyseebenen begegnet werden. Wie sich in der Fallstudie im zweiten Teil zeigen wird, ist das nicht immer einfach, aber möglich.

72 I Vgl. z. B. die Arbeit von Santarnares zur peripheren Position Spaniens in der europäischen Wissenschaft: Santamares, Maria Jesus (2001): "Centre et peripheries: !es tendances de la politique scientifique et de Ia biologie moh~culai­ re en Espagne", in: Revue Internationale des Seiences Sociales 53 Nr. 2, S. 311326; sowie zu Ungleichheiten innerhalb der USA: Allison, P. 0 ./Stewatt, J. A. (1974): "Productivity differences among scientists: evidence for accumulative advantage", in: American Sociological Review 39 Nr. 44, S. 596-606; Allison, Paul D. (1990): "Departmental effects on scientific productivity", in: American Sociological Review 55 Nr. 4, S. 469-478. Vgl. zur internen Differenzierung an der Peripherie auch Gaillard, Jacques (1987): "Les chercheurs des pays en developpement- origines, formations, et pratiques de la recherche". Memoire de DEA au Conservatoire National des Arts et Metiers 1986, Paris. 73 I Polanco, Xavier (1990b), S. 31.

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In den Kapiteln I.2, I.3, und I.4 sollen die drei Dimensionen der Zentrum-Peripherie-Problematik in ihren Ursachen und Konsequenzen näher betrachtet werden. Die verfügbare Literatur, die Aufschluss über die Annahme geben kann, ob und wenn ja, inwiefern afrikanische und lateinamerikanische Soziologien als periphere zu charakterisieren sind, kann so mit Hinsicht auf die hier unterschiedenen Problemstellungen systematisieti und ausgewertet werden. Wo dies im zeitlichen Rahmen dieser Arbeit und angesichts der Datenlage möglich war, konnten einzelne Indikatoren, die sich aus dem Modell ableiten lassen, auch empirisch geprüft werden.

2. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Entwicklung und Unterentwicklung Wissenschaft ist eine der gesellschaftlichen Tätigkeiten, flir die der Entwicklungsgedanke in Hinsicht auf Infrastruktur, Institutionalisierung, Personal und - wenn auch für die Sozialwissenschaften nur bedingt - im Blick auf die Akkumulation wissenschaftlichen Wissens und damit der Herausbildung eigenständiger Traditionen auch in Zeiten allgemeiner Desillusion über den menschlichen Fortschritt aufrechterhalten werden kann. Für den Stand der Wissenschaft im Allgemeinen und jeder nationalen Wissenschaft wie Disziplin im Besonderen können Merkmale von Entwicklung beziehungsweise von Unterentwicklung festgestellt werden. Diese soll nicht als ein in eine Richtung verlaufender Prozeß verstanden werden: Ansätze und Theorien können vielmehr nebeneinander bestehen und untergehen, ebenso wie ganze Disziplinen oder Forschungsapparate.

Kriterien und globale Indikatoren wissenschaftlicher Entwicklung Die Entwicklung der Soziologie, wie die jeder anderen Disziplin, sollte in zwei unterschiedlichen Dimensionen betrachtet werden. Unter Soziologieentwicklung im disziplinären und theoretischen Sinne kann der Weg von den AnHingen mit der Begründung des Gegenstandes, bis hin zur Ausbildung von Methoden, Konzepten und Theorien verstanden werden, die in ständiger empirischer Arbeit und theoretischer Diskussion verfeinert, verbreitert, vertieft und differenziert werden. Dass es sich gerade bei den Sozialwissenschaften hierbei nicht um eine unilineare Aldrumulation von Wissen handelt, braucht an dieser Stelle nicht gesondert besprochen zu werden. Insofern wäre es auch problematisch, etwas über das inhaltliche Fortschreiten afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien im Allgemeinen auszusagen?4 Gewissermaßen könnte der 74 I Trotz dieser Vorsicht kann angemerkt werden, dass Wissenschaft fiir ihre inhaltliche Entwicklung Zeit braucht, und schon von diesem Gesichtspunkt aus hat die europäische Soziologie zumindest gegenüber der aftikanischen einen großen Vorsprung. Dies akzeptiert auch Hountondji in seinen Überlegung zur Herausbil-

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Grad der Verallgemeinerung, das heißt die universalisierende Theoriebildung auf der Grundlage empirischer, lokaler und dann zunehmend vergleichender Studien, als Entwicklungsindikator gelten. Diese Frage hängt für afrikanische und lateinamerikanische Soziologien jedoch eng mit deren Stellung in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zusammen. Existenz, Förderung oder Verhindenmg von allgemeiner Theoriebildung durch internationale Anerkenmmg, wissenschaftsinterne Strukturen, ungleiche globale Arbeitsteilung und hierarchische institutionelle und personelle Beziehungen sollen daher im Kapitel !.4 über die Begriffe von Marginalität und Zentralität behandelt werden. In diesem Abschnitt soll es demgegenüber in erster Linie um Entwicklung auf der materiellen, infrastrukturellen, institutionellen und personellen Ebene gehen. 75 Diese sind stark von externen Faktoren abhängig: ohne finanzielle Mittel keine Universitäten, kein Lehr- und Forschungspersonal, ohne materielle keine wissenschaftliche Infrastruktur, ohne akademische Freiheit keine Entfaltung von Forschung und Lehre. 76 Gareau sah, wie gesagt, einen deutlichen kausalen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen und politischen Macht eines gegebenen Landes und seiner Stellung in der internationalen soziologischen Gemeinschaft. 77 Er führte die Vorhenschaft der US- und der Sowjet-Soziologien in ihren jeweiligen Einflussgebieten nicht auf deren inhaltliche Überlegenheit, sondern auf die geopolitische und ökonomische Stärke der beiden Großmächte zurück. Umgekehrt stärken aber auch wissenschaftliche und technologische Überlegenheit politische und wirtschaftliche Entwicklung sowie das internationale Ansehen eines Landes. 78 Korrelationen zwischen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen

dung einer afrikanischen Philosophie: "Sie (die Ethnophilosophen, W. K.) haben nicht erkannt, dass eine afrikanische Philosophie wie afrikanische Wissenschaft oder afrikanische Kultur im allgemeinen erst vor uns und nicht hinter uns liegt. Sie muss heute durch energisches und bestimmtes Handeln geschaffen werden. ( ... ) Geben wir doch endlich zu, dass unsere Philosophie noch im Entstehen ist, erst im Kommen, vorausgesetzt wir verstehen das Wort ,Philosophie' im aktiven und nicht im passiven Sinne." Hountondji, Paulin J (1983): Afrikanische Philosophie- Mythos und Realität (1993), hg. v. Gerd-Rüdiger Hoffmann, Berlin, S. 51. 75 I Mit ,,materieller Ebene" sind alle zur Verfügung stehenden Mittel, in erster Linie Finanzen, gemeint; mit "Infrastrukturen" elementare Grundlagen für akademische Tätigkeit wie entsprechende Räumlichkeiten, Materialien und Arbeitsgeräte, Kommunikationstechniken, Verlagswesen, Buch- und Zeitschriftenmarkt und Ähnliches; als institutionelle Grundlage werden die mehr fachspezifischen Einrichtungen wie spezialisierte Institutionen für Forschung und Lehre, Studienprogramme und -abschlüsse, etablierte akademische Laufbahnen, wissenschaftliche Vereinigungen, spezialisierte Zeitschriften usw. bezeichnet. 76 I Ein Extrembeispiel für den fatalen Einfluss miserabler politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse auf die sozialwissenschaftliche Entwicklung stellt Palästina dar. Vgl. Tamari, Salim (1994): "Problems of social science research in Palestine: an overview", in: Current Sociology 42 Nr. 2, S. 67-86. 77 I Gareau, Frederick H. (1985). 78 I Barre, Remi/Papon, Pierre (1993), S. 51.

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Indikatoren sind in der Wissenschaftsforschung allgemein bekannt. 79 Insofern wäre davon auszugehen, dass die Sozialwissenschaften in den Kontinenten des Südens relativ gesehen unterentwickelt sind. Doch gestaltet sich die empirische Überprüfung aufgrund der Datenlage äußerst schwierig. Den hier angeführten eher bruchstückartigen Ergebnissen aus der Literatur und lückenhaften Auswertungen einiger weniger Entwicklungsindikatoren ist außerdem ein Manko gemeinsam: Es handelt sich fast ausschließlich um quantitative Anhaltspunkte. Ergänzende und vertiefende qualitative Erhebungen sind nicht allein aufgrund Materialmangels, sondern oftmals auch methodisch im Weltmaßstab unmöglich. Die globalen Unesco-Statistiken zu Forschung und Entwicklung80 werden in der Literatur als wenig zuverlässig kritisiert81 und sind daher mit Vorsicht zu behandeln. Sie enthalten unter anderem Angaben über die Anzahl von "R&D Personal" - "Research and Development", das heißt ForscherInnen, technisches Personal und weitere in diesem Sektor Tätige. Obschon diese nicht nach Fachbereichen differenzieren, geben sie doch einen Eindruck von den quantitativen Relationen zwischen nationalen Wissenschaftssystemen. Diesen Zahlen zufolge lagen im Jahr 2002 weltweit auf den obersten fünf Plätzen China mit 1.035.197 Beschäftigten im Bereich der Forschung und Entwicklung, Russland mit 986.854, Japan mit 857.300, Deutschland mit 480.004 und Frankreich mit 343.718. Die Angaben für alle weiteren Nationen lagen darunter. Die USA und England machten in den letzten fünf Jahren zu dieser Kategorie keine Angaben, hätten die globalen Verhältnisse aber gewiss verschoben. Das heißt, unter Ausschluss der USA und Englands verfügten drei Länder weltweit über eine unvergleichlich höhere personelle Grundlage für Forschung und Entwicklung als alle folgenden. Die Anzahl von Forscherinnen alleine - ohne technisches und anderweitiges Personal - sahen für 2002 vergleichbar aus: China lag mit 810.525 Forscherinnen wiederum an erster Stelle, es folgten Japan (646.547), Russland (491.944), Deutschland (265.812) und Frankreich (186.420), um nur die ersten fünf zu nennen. Die letzte für diese Kategorie verfügbare Angabe für die USA von 1999 - in diesem Jahr zählte das Land 1.943.000 Forscherlnnen, das heißt mehr als doppelt so viele wie China 2002 -zeigt, dass der Ausschluss der Vereinigten Staaten das Bild erheblich ver79 I Vgl. die im ersten Absclmitt von Kapitel 1 zitierten Autoren. Siehe auch die Diskussion der einschlägigen Literatur (Ben-David, Price, Frame) in: Polanco, Xavier (1990b), S. 27 ff. 80 I Unesco Institute for Statistics (2006b): Science and Technology lndicators, http://www.uis.unesco.org/ev.php?URL_lD=5218&URL_DO=DO_ TOPlC &URLSECTlON=201 (Januar 2006). 81 I "( ... ) les statistiques publies par !'UNESCO ne font en effet pas l'objet d'une coordination methodique et ne sont dorre pas comparables entre pays". Barre, Remi/ Papon, Pierre (1993), S. 149. Probleme ergeben sich unter anderem bezüglich der Übereinstimmung der erhobenen Kategorien, der Erhebungszeiträume, sowie aus der Tatsache, dass zu vielen Ländern Angaben ganz fehlen und sich dadurch bei globalen Vergleichen die Maßstäbe verschieben.

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zerrt. In jedem Fall bestätigen diese Zahlen die Annahme, dass sich für den Bereich der Forschung und Entwicklung nicht einmal die G8 erkennen lassen, sondern dass sich die Weltspitze auf eine noch geringere Zahl von Nationen reduziert. Die Unterschiede in der Konzentration von Forschungspersonal sind weltweit enorm. Die Personalverhältnisse spiegeln dabei in etwa, wenn auch nicht genau, die nationalen Ausgaben für Forschung und Entwicklung wider. Den Unesco-Angaben ftir 2002 zufolge (in 1.000, umgerechnet in US$) 82 , veranschlagten die USA 275.095.956 US$ an Forschungs- und Entwicklungsausgaben, Japan 106.374.398, China 72.014.408, Deutschland 56.592.700 und Frankreich 36.357.186. Nur vier weitere Länder liegen oberhalb der 10.000.000.000 US$-Grenze: England, Südkorea, Kanada und Russland. Das heißt, selbst unter den ersten fünf Nationen sind die Unterschiede in den Finanzen, die für Forschung und Entwicklung zur Verfügung stehen, gewaltig. Dabei gibt es durchaus Länder, die relativ gesehen sehr viel mehr Aufwand für ihren Forschungssektor betreiben. Die Statistiken über die Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Prozentanteil des Bruttainlandprodukts zeigen beispielsweise, dass Israel 2002 mit 5,11% BIPAnteil an erster Stelle lag, gefolgt von Finnland mit 3,46 Prozent, Island mit 3,11% und Japan mit 3,11 %. Die USA dagegen wendeten nur 2,67% ihres BIP diesem Sektor zu. Die absolute Größe der nationalen Volkswirtschaften ist also viel entscheidender als der gute Wille einzelner nationaler Regierungen oder Industrien, in diesen Sektor zu investieren. Ähnliches gilt ftir den Bereich der Bildungsausgaben. Auch hierzu spezifizieren die Unesco-Angaben nicht genügend, um die hier interessierenden Fragen präzise zu beantworten. So enthalten sie weder eine Aufsplittung nach Fachbereichen, noch nach Bildungsniveau. Es sei daher nur kurz angemerkt, dass auch hier der große Aufwand, den kleine und in diesem Fall relativ arme Nationen für ihren Bildungssektor betreiben, in keinem Verhältnis steht zu ihrer weltweiten Positionierung in absoluten Zahlen, was beispielsweise Studierendenzahlen angeht (s. u.), wobei natürlich die Größe der einzelnen Länder und ihre jeweilige Gesamtbevölkerung zu berücksichtigen sind. Die Statistik zu öffentlichen Bildungsausgaben als Anteil des BIP83 stellt überraschenderweise St. Vincent und die Grenadinen mit 10,5% 82 I Die Angaben erfolgten in Purchasing Power Parity (PPP), d.h. kaufkraftbereinigt. Die Defmition von PPP ist: "Purchasing Power Parilies (PPP) is a rate of currency conversion into US dollars that eliminates the differences in price Ievels among countries. When expenditure on GNP for different countdes is convetted into a common currency by means ofthe PPP it is, in effect, expressed at the same set of international prices so that camparisans between countries reflect only differences in the volume of goods and services purchased. ln other words, a given sum ofmoney, when converted into US dollars at the PPP rate (PPP$), will buy the same basket of goods and services in all countries." UnescoInstitute for Statistics (2006b). 83 I Unesco Institute for Statistics (2006a): Public expenditure on education, http://www.uis.unesco.org/ev.php?URL_lD=5187&URL_DO=DO_TOPlC &URL_SECTlON=201 (Jan. 2006).

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an oberste Stelle, gefolgt von Guyana mit 9,1 Prozent, den Marschall Inseln mit 9,1 Prozent, Malaysia mit 8,7% und der Mongolei mit 8,6%. Dänemark als Vertreter der viel gelobten skandinavischen Bildungspolitik folgt mit 8,6 an sechster Stelle. Frankreich dagegen investierte nur 5,6% seines BIP in öffentliche Bildungsausgaben, Deutschland nur 4,8%, und fur die USA und England liegen nur Zahlen für 2001102 vor - 5,6 und 5,2%. Absolute Zahlen waren leider nicht erhältlich. Dieser kurze Überblick bestätigt die in der Literatur beobachteten Korrelationen zwischen wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Stärke im internationalen Vergleich und belegt damit in sehr groben Zahlen die Bedingtheit wissenschaftlicher Entwicklung durch wirtschaftliche Faktoren. Insoweit kann Gareaus Betonung wissenschaftsexterner Faktoren zugestimmt werden. Die Länder des Trikonts gehören zu den wirtschaftlich gesehen ärmeren Nationen der Welt und haben natürlich auch weniger materielle Mittel zum Aufbau nationaler Wissenschaftsapparate zur Verfügung.

Förderliche und hinderliche Faktoren in der Wissenschaftsentwicklung Die Frage der nationalen Wissenschaftsfinanzierung fli.r Disziplinen, die ihre finanzielle Grundlage nicht selbst erwirtschaften können, wurde bereits als globaler Indikator behandelt. Darüber hinaus ist gerade in den südlichen Kontinenten die Finanzierung über in- oder ausländische Geberinstanzen problematisch. Ist man auch geneigt, die Abhängigkeit von überseeischer Finanzierung als Indikator fur wissenschaftliche Unterentwicklung und Abhängigkeit vom Norden zu deuten84 , so ist dieser Schluss bisweilen nicht ganz gerechtfertigt. Offensichtlich ermöglichten gerade überseeische Geldgeber in wirtschaftlich desolaten oder politisch repressiven Kontexten die Existenz und die Entwicklung der Sozialwissenschaften.85 Dass eine solche ausländische Finanzierung sehr oft die Ausrichtung in Forschung und Lehre bestimmt, ist wohl unbestritten. Hierfür gibt es eine

84 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 605 etwa zählt finanzielle Abhängigkeit unter Kriterien fiir wissenschaftliche Abhängigkeit. In diesem Sinne der Abhängigkeit von Geldern aus Westeuropa und den USA sprechen etwa osteuropäische Sozialwissenschaftlerinnen von der "Kolonisierung" der mittel- und osteuropäischen Soziologie. Vgl. die Beiträge zu Replika, No. 1, 1996, insbesondere Csepeli, György/Örkeny, Antal/Scheppele, K.im Lane (1996): "Acquired immune Deficiency Syndrome in social science in Eastem Europe. The colonization of East European social science", in: Colonization or Partnership? Eastern Europe and Western Social Sciences, Sondernummer, Replika 1, http://www.c3. hu/scripta! scriptaO/replika/honlap/ (Okt. 2005). 85 I Vgl. Shinn, Terry/Spaapen, Jack/Krishna, Venni (1997) (Hg.). Überseeische Wissenschaftsfinanzierung fiir den Süden war gerade unter repressiven Regimen bisweilen die einzige Möglichkeit, überhaupt Forschung zu betreiben, wobei auch diese Autorinnen auf die damit verbundenen Probleme aufmerksam machen.

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ganze Menge von Beispielen, von denen die bekanntesten die sogenannten "Förderprogramme" für die Sozialwissenschaften als eine Maßnahme der ideologischen Einflussnahme in Zeiten des Kalten Krieges waren. 86 Aber auch in weniger spektakulären Szenarien beeinflussen überseeische Prioritäten über ihre Finanzierungsmodelle die lokale Forschung. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, dass bei lokaler WissenschaftsfördeJUng sich Probleme der wissenschaftsexternen Prioritätensetzung nicht ergäben. Auch ist nicht gesagt, dass dies in jedem Fall für die Wissenschaftsentwick:lung hinderlich sein sollte. Aus der Literatur wie auch aus den geführten Interviews mit Sozialwissenschaftlerinnen in Mexiko wurde allerdings deutlich, dass der Wettbewerb um ausländische Finanzierungsquellen, insbesondere um Gelder der großen US-amerikanischen Stiftungen, der Integration der mexikanischen wissenschaftlichen Gemeinschaft und der lokalen Relevanz untersuchter Themenstellungen nicht zuträglich war. Da die Fallstudie über "Labour Studies" in Südafrika dagegen umgekehrt die Förderung eines originellen Wissensgebiets durch überseeische Förderung eindrücklich verdeutlicht, (siehe Kapitel VII.! dieser Arbeit), wird hier die Abhängigkeit von ausländischer Finanzierung nicht grundsätzlich als Kri-

86 I Die USA beteiligten sich nach dem zweiten Weltkrieg mit enormen finanziellen Mitteln am Ausbau des Bildungssektors unzähliger Länder und nutzten dies als strategisches Mittel in der Verfolgung nationaler Ziele: "The assumption that the American government uses its international educational aid programme for other than disinterested reasons is suggested by a pro-American study which offers, among other motivations for the programme, promoting national objectives and withstanding ,the extension of communism' ." Gareau, Frederick H. (1985), S. I 02. Instrumente hierfur waren die großen philanthropischen Stiftungen. Diese Praktiken betrafen nicht nur Afrika und Lateinamerika. So unternahmen die USA in den 1950er und 1960er Jahren in Indien große Anstrengungen, um dem Einfluss der Revolution im benachbarten China entgegenzuwirken. Anband von Aussagen USamerikanischer Diplomaten zur bildungspolitischen Strategie und wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den USA und Indien macht Singh deutlich, dass strategische und geopolitische Grunde wichtiger waren als die tatsächliche wissenschaftliche Kooperation. (Ygl. Singh, Yogendra [1988]: "Les determinations sociales de Ia sociologie indienne", in: Roland Lardinois [1988] [Hg.], S. 27-46). Auch Chekki zeigt auf, dass die Dominanz US-amerikanischer Theorie und Methode in der indischen Soziologie von den USA unter Beteiligung der ClA über Forschungsfinanzierung, Studien- und Austauschprogramrne, Export von Lehrbüchern usw. gezielt gefördert wurde: "The impact of American sociology in Indian sociology during the past three decades (1950-80) has been quite significant. Since the mid 1950s increasing exchange of scholars between the US and lndia, increased use of Ametican sociology textbooks, together with aid for research from Ford, Rockefeilerand other American foundations have had their influence on the growth of sociology in 1ndia. Severallndian scholars, either trained in the US or exposed to American sociology, have been responsible for the diffusion of American sociology in lndia. The dominant theoretical framework, i. e. structural-functionalism that was prevalent in the US during the 1950s and early 1960s was readily accepted by many sociologists in lndia." Chekki, Dan A. (1987): "Synthesis and indigenization in Indian sociology beyond tradition", in: G. C. Hallen (1990-91) (Hg.): Sociology in lndia- perspectives and trends 4, Meemt, S. 1665-1698, S. 1677.

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terium für wissenschaftliche Unterentwicklung oder Dependenz angesehen. Vielmehr müssten die näheren Umstände in jedem einzelnen Fall genauer untersucht werden. Trotzdem sollen verschiedene negative Auswirkungen der finanziellen Abhängigkeit vom Ausland im Kapitel I.3 zu Dependenz und Autonomie nochmals aufgenommen werden. Mit diesem Beispiel ist bereits ein zweiter zentraler Faktor wissenschaftlicher Entwicklung berührt. Wenn repressive, autoritäre Regime die intellektuelle Freiheit mit bisweilen drastischen Maßnahmen einschränken - Zensur, Zugangsbeschränkungen zu Informationen oder zu brisanten gesellschaftlichen Realitäten, Einschüchterung, berufliche Einschränkungen, Verhaftung und Ermordung unbequemer Intellektueller, militärische Überwachung der Campusgelände - sind die Möglichkeiten unabhängiger, kritischer Sozialwissenschaft begrenzt. Derartige Zustände an afrikanischen Universitäten, die häufig als Zentren politischen Widerstandes galten, beschreiben verschiedene Autoren in einem 1994 erschienen Sammelband über "Akademische Freiheit in Afrika" 87 . Ebenso hebt die Literatur zur Entfaltung der Sozialwissenschaften in Lateinamerika die Einschränkungen durch autoritäre Regime hervor. 88 Erst auf der notwendigen materiellen Gmndlage und in einigermaßen gesicherten politischen Verhältnissen kann sich Wissenschaft in der Regel erfolgreich institutionalisieren. Gerade in den armen Ländern ist jedoch aus genannten Gründen die institutionelle Infrastruktur wenig ausgebildet89: geringe Anzahl und mangelhafte Ausstattung spezialisierter Institu-

87 Diouf, Mamadou!Mamdani, Mahmood (1994) (Hg.): Liberte academique en Afrique, Dakar. Siehe auch Gaillard, Jacques (1994); Szanton, David L./Manyika, Sarah (2002): "PhD programs in African universities: current status and future prospects". Paper commissioned by the Rockefeiler Foundation, Institute ofintemational Studies and Center for African Studies, University of California, Berkeley, http://ias.berkeley.edu/afri ca/Research/AfricanPhDCoverReport Ref.pdf (Nov. 2003). 88 I Vgl. Brachet-Marquez, Viviane (1997); Bricefio-Le6n, Roberto (2002): "1ntroduction: Latin America- a challenge for socio1ogy", in: CmTent Sociology 50 Nr. 1, S. 9-18; Gonzalez Casanova, Pablo (1970); siehe die Beiträge in Murga Frassinetti, Antonio/Boils Morales, Guillermo (1979a) (Hg.): Las ciencias sociales en America Latina, UNAM, Mexico; siehe darin insbesondere: Graciarena, Jorge (1979): "Las ciencias sociales, Ia critica intelectual y el Estado tecnocratico. Una discusi6n del caso latinoamericano", S. 94-121; Murga Frassinetti, Antonio/Boils Morales, Guillermo (1979): "Sociedad y ciencia social en Latinoamerica", S. 9-35; Quijano, Anibal (1979): "Alternativas de las ciencias sociales en America Latina", S. 87-94; Ratinoff, Luis (1979): ,,Las ciencias sociales y el desarrollo reciente en America Latina", S. 35-55; Torres Rivas, Edelberto (1979): "Breves reflexiones sobre Ia investigaci6n y Ia docencia en ciencias sociales", S. 77-87. 89 I Die Gulbenkian-Kommission wertet die Tatsache, dass die Disziplinen der Sozialwissenschaften in Afrika, Asien und Lateinamerika bisher eher schwach institutionalisiert sind, positiv: Eine von der Kommission fiir notwendig erachtete Umstmkturiemng der Disziplinen und Anpassung an neue gesellschaftliche Realitäten (Technologisiemng, Globalisiemng usw.) sei hier leichter zu erreichen als in den eingefahrenen Strukturen in Europa und in den USA. Von 1

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tionen, fehlende Möglichkeiten, sich im eigenen Land durch höhere Bildungsabschlüsse zu qualifizieren, mangelnde Publikationsmöglichkeiten, schlecht ausgestattete Bibliotheken und begrenzter Internetzugang erschweren wissenschaftliches Arbeiten und führen etwa in Afrika zur Isolation und Außenorientierung sowohl im nationalen wie im kontinentalen Kontext.90 Bevor hierzu einzelne statistische Indikatoren sowie eine Auswertung der einschlägigen Literatur angeführt werden, sollen zunächst in aller Kürze weitere Kriterien für wissenschaftliche Entwicklung abgehandelt werden, um anschließend die Zusammenhänge besser beurteilen zu köunen. Für das Wachstum einer Disziplin ist die wissenschaftliche Gemeinschaft, die Forschungsergebnisse arbeitsteilig hervorbringt, untereinander kommuniziert und diskutiert, in Frage stellt, kritisiert, anerkennt und weiterentwickelt, eine grundlegende Notwendigkeit. Es können hier analytisch die lokalen oder nationalen von der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft unterschieden und behauptet werden, dass für eigenständige, originelle Soziologien die Herausbildung und Integration lokaler wissenschaftlicher Gemeinschaften unerlässlich ist. Abgesehen von der Förderung inhaltlicher Eigenständigkeit, die nur über alternative Foren zur nordatlantisch dominierten internationalen Gemeinschaft eJTeicht werden kann, haben die nationalen Gemeinschaften verschiedene Rollen vor Ort. Sie sorgen unter anderem für die Professionalisierung der Disziplin (Gründung von Vereinigungen, Anerkennung der Disziplin im Fächerkanon der Universität und in der Gesamtgesellschaft), für kontrollierten Zugang zum wissenschaftlichen Betrieb (Aufbau von Studiengängen, Zertifizierung, Zulassungsvoraussetzungen zu Studium und wissenschaftlicher Karriere, Herausbildung neuer Generationen von Wissenschaftlerlnnen) und flir die gesellschaftliche Anerkennung der Profession. Amin etwa führt die Tatsache, dass Lateinamerika, verglichen mit Asien und Afrika, verhältnismäßig früh mit eigenen Ideen in die Theoriebildung eingriff, auf die Stellung und Rolle der Universitäten wie der Intellektuellen zurück, die hier sehr viel vorteilhafter sei als in den beiden anderen Kontinenten. 9 1 Mit einem anerkannten sozialen Status gehen Berufskategorien, Gehälter und Möglichkeiten beruflichen Aufstieges einher, Elemente, die Anreiz zu Forschung und Veröffentlichung geben können. Gaillard stellte jedoch 1986 fest, dass die wissenschaftliche Entwicklung in vielen Ländern Afrikas, Asiens und LaAnfang an hätten sich die Gesellschaftswissenschaften im Süden interdisziplinärer konstituiet1. Fächerübergreifende Zusammenarbeit sei aufgmnd der geringen Größe wissenschaftlicher Gemeinschaften häufiger und käme den heutigen Ansprüchen gesellschaftlicher Analyse eher nach als die in vielen Punkten obsoleten, aber tief verankerten Disziplinengrenzen in Europa und Nordamerika, die ihre Ursprünge oftmals im 19. Jahrhundert haben. Vgl. Wallerstein, lmrnanuel (1996): Ouvrir !es sciences sociales: rapport de Ia Comrnission Gulbenkian pour Ia restmcturation des sciences sociales, Paris. 90 I Für das Konzept der Außenorientiemng ("extraversion") siehe Kapitel 1.4 über Marginalisiemng sowie die Arbeiten Hountondjis. 91 I Amin, Samir(l956), S. 617.

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teinamerikas noch keine vollständige Professionalisierung des Forscherberufs erreicht hatte. 92 Seine Arbeit über Forscherkarrieren, die leider nicht die Sozialwissenschaften berücksichtigt, ergab außerdem, dass sich selbst in den Ländern des Südens mit den größten Forschungsapparaten wie Brasilien und Indien bisher keine funktionstüchtigen wissenschaftlichen Gemeinschaften herausgebildet hatten. Seine Befragungen zeigten, dass Wissenschaftlerinnen, die ihre höheren Abschlüsse oft im Ausland erworben hatten, sich in ihren Heimatländern isoliert fühlten. So formulierte Gaillard das Problem gespaltener wissenschaftlicher Gemeinschaften - Forscherinnen stünden vor dem Dilemma, sich entweder dem internationalen Trend über Kontakte zur nördlich dominierten intemationalen Gemeinschaft anzuschließen, oder aber sich von diesem abzukoppeln und relevante lokale Fragestellungen im Austausch mit lokalen Akteuren zu behandeln. 93 Dem ist weiter unten in der Begründung des Konzepts der konterhegemonialen Strömung zu widersprechen (siehe Kapitel III). Zu kleine wissenschaftliche Gemeinschaften bieten nicht genug Potential für anregende Diskussion und immer wieder fehlt es schlicht an der notwendigen "kritischen Masse"94 . Eine hohe Anzahl von Wissenschaftlerinnen in einer Region alleine garantiert jedoch noch keine funktionierende Gemeinschaft. 95 Entscheidend ist vielmehr, dass alle Wissenschaftlerinnen in den Betrieb integriert sind. Dies wirkt der viel beklagten Isolation entgegen, die wiederum zu verstärkter enklavenartiger Außenorientiemng und damit einhergehend zu lokal irrelevanter Wissenschaft führt. Auf die Probleme, die sich nicht zuletzt daraus für die soziologische Produktion ergeben - Außenorientierung, intellektuelle Abhängigkeit, Druck, sich als exotisch zu definieren - wird weiter unten eingegangen. Ein weiteres wichtiges Element für Entwicklung allgemein und für die Integration wissenschaftlicher Gemeinschaften speziell ist die Möglichkeit wissenschaftlicher Kommunikation, etwa über Veröffentlichungen. Inhaltlicher Fortschritt ist nur möglich, wenn Ergebnisse der Gemeinschaft vorgelegt und von dieser kritisiert oder weiterverwendet werden können. Für wissenschaftliche Kommunikation sind neben einer Infrastruktur an Zeitschriften, Verlagen und Druckereien auch Buchhandel und -absatzmarkt, Bibliotheken und Zugang zum Internet notwendig. Auch diese hängen wiederum mit gesamtökomischen Faktoren zusammen. Aus diesem Überblick über Komponenten ließen sich nun Indikatoren erarbeiten, mittels derer man den Entwicklungsstand der Soziologien einzelner Länder ermitteln und so etwa internationale Vergleiche durchführen könnte - Anzahl und Aktivitäten spezialisierter Institutionen je Land, qua-

92 I Gaillard, Jacques (1987). 93 I Gaillard, Jacques (1987), S. 12l. Vgl. auch seine späteren Arbeiten, die diese Ergebnisse bestärken: Gaillard, Jacques (1994). 94 I Vgl. Weingart, Peter (2006). 95 I Vgl. Gaillard, Jacques (1994), S. 215.

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lifiziertes Personal, bestehende Studiengänge, Bestände der Bibliotheken, Anzahl und wissenschaftliche Qualität von Publikationsorganen, Forschungsbudgets an Instituten usw. Die meisten dieser empirischen Daten sind im Weltmaßstab gar nicht oder in wenig verlässlicher Qualität erhältlich. Aus diesem Gmnd, und da es sich bei der Frage nach Entwicklung/Unterentwicklung von Wissenschaft um ein im allgemeinen akzeptiertes, wenig kontroverses und auf der vorhandenen Datenlage relativ gut erforschtes Problemfeld handelt, kann und muss eine solche Untersuchung hier eng begrenzt bleiben. Nach der Analyse einiger sozialwissenschaftlieber Entwicklungsindikatoren wird ein Überblick über die jüngeren Veränderungen in Afrika und Lateinamerika, wie sie die Literatur darstellt, das Bild vervollständigen und die Zusammenhänge zwischen isolierten Faktoren, soweit möglich, aufzeigen.

Statistische sozialwissenschaftliche Entwicklungsindikatoren Die Anzahl von Studierenden in jedem Land kann eine ungefahre Vorstellung von der globalen Verteilung des sozialwissenschaftliehen Nachwuchses geben. Das "Unesco Statistical Yearbook" von 199896 enthält zum letzten Mal eine Aufsplittung der Studierendenzahlen nach Fachbereichen. Die absoluten Zahlen lassen sich in einer Weltkarte darstellen, um einen globalen Eindruck von diesem Indikator fiir den Stand der Sozialwissenschaften zu vermitteln. 97 Alle Länder wurde hierfür in fünf Kategorien mit jeweils gleichen Abständen in absoluten Studierendenzahlen eingeteilt: mit blass-rosa sind die Länder gekennzeichnet, die weniger als 146.245 Studenten der Sozialwissenschaften bei der Unesco angaben, etwas dunkler die, die zwischen 146.246 und 292.490 verzeichneten und so weiter. Die oberste Kategorie bezeichnet Länder, in denen zwischen 548.981 und 731.225 Personen Sozialwissenschaften studierten. So ergibt sich das in Karte 1 dargestellte Bild über die globale Verteilung der nachrückenden Sozialwissenschaftlerlnnen.

96 I Die Angaben stammen aus Tabelle 3.11: "Education at the third Ievel: Students by ISCED Ievel and field ofstudy" und Tabelle 3.12 "Education at the third Ievel: Graduates by ISCED Ievel and field ofstudy". Für die Jahre 1990 bis 1998 wurde aus der Spalte "Social and behavioural sciences, total" jeweils die aktuellste Angabe je Land ausgewählt. Unesco (1998): Statistical yearbook, Patis. 97 I Diese Darstellung in Kartenform eignet sich recht gut, um Indikatoren für globale Ungleichheiten abzubilden: "The topographical approach seems to be particularly suitable to define and redefine such concepts as centre, periphery, metropolis, etc. Topographie relations are not merely formally defined but, by their very nature, visually represented, thereby they may have a very strong heuristic power." Schubert, Andnis/Braun, Tibor (1996): "Scientopography - world maps and charts based on scientometric indicators. A bird's eye view on the metropolis and beyond", in: Roland Waast (1996) (Hg.): Les sciences au sud- etat des Iieux. Les sciences hors d'Occident au XXe siecle Bd. 6, Paris, S. 65-72, S. 65.

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Die Karte verdeutlicht die weltweit ungleiche Verteilung des sozialwissenschaftlichen Nachwuchses: Die USA fallen als einziges Land in die oberste Kategmie, überraschenderweise kommen Russland, Deutschland und Indonesien in der zweithöchsten Kategorie zusammen, die Türkei in der dritten und Italien und Brasilien in der vierten. Alle übrigen Länder verfügen über weniger als 146.246 Studentinnen. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, mit welch vielfaltigen Problemen derartige statistische Angaben so wie ihre Darstellungsweise behaftet sind. Hier sollen nur auf einige der Schwierigkeiten hingewiesen werden, die fur die UnescoAngaben spezifisch sind. Zunächst ist die Einteilung der Fächer auf die verwendeten Kategorisierungen nicht immer einheitlich.98 Die Tatsache, dass für eine Reihe von Ländem keine Angaben vorliegen, mag die weltweiten Korrelationen verschoben haben - dies trifft vermutlich besonders aufirrdien und Japan zu. 99

98 I Das Jahrbuch gab zu den Zahlen folgende Einschränkungen und Abweichungen an: Mozambique, Togo, Belgien, Moldavien: "Social and behavioural sciences, commercial and business administration are counted together"; Argentinien, Chile, Nigeria: "Social and behavioural sciences, mass communication and documentation are counted together"; Benin, Marokko, Senegal: "Humanities, religion and theology include some students enrolled in social and behavioural sciences"; Kamerun: "Humanities, religion and theology, social and behavioural sciences are counted together"; Tanzania: "Humanities, religion and theology, fine and applied arts, social and behavioural sciences are counted together"; Azerbaidschan, Trinidad: "Social and behavioural sciences, commercial and business administration, mass communication and documentation are counted together"; Israel: "Social and behavioural science, commercial and business administration, mass communication and documentation, home economics and service trades are counted together." Unesco (1998). 99 I Keine Angabe kann heißen, dass das Land in der Ursprungsstatistik nicht aufgeführt war; dass zu diesem Land in der Urspmngsstatistik keine Daten vorhanden waren; oder dass die Daten nicht den gestellten Ansprüchen entsprachen, beispielsweise veraltet waren; oder dass das entsprechende Land mittlerweile nicht mehr der gleichen geographischen Fläche zugeordnet werden kann, weil es beispielsweise geteilt wurde; oder dass in der Ursprungsstatistik die Daten zu der gefragten Kategorie in einer anderen Kategorie mit aufgeführt waren (das ist der Fall bei Mischkategorien, wo etwa Studierende der Sozialwissenschaften unter Studierenden im Fach Jura mit aufgeflihrt werden, ein Fall der recht häufig auftrat, da alle Länder nicht die gleichen Fachbereichsaufteilungen für ihre nationalen Statistiken zu benutzen scheinen).

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PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

Karte 1: Studierende der Sozialwissenschaften - globale Verteilung in absoluten Zahlen

Quelle: Unesco Statistical Y earbook 1998

Schließlich führen die insgesamt sehr hohen Zahlen sowie die enormen weltweiten Unterschiede zu starker Vereinfachung in nur fünf Kategotien. Nähme man die Länder mit sehr großen Studierendenpopulationen einmal aus, kämen auch in den niedrigen Kategorien noch große Unterschiede zum Vorschein. So fallen in die unterste Kategorie Länder, die über gar keine Studierenden in den gefragten Disziplinen verfügen (Angola, Burundi, Djibuti, Kirgistan, Namibia), sowie solche mit sehr wenigen, wie die arabischen Emirate mit 17, Papua Neu Guinea mit 54 und Oman mit 90 Personen. Am anderen Ende der gleichen Kategorie dahingegen stehen England mit 143.576, Südkorea mit 114.384, Thailand mit 111.302, Kanada mit 106.470 und die Niederlande mit 106.470, um nur die Länder aufzuzählen, die mehr als 100.000 Studierende der sozialwissenschaftliehen Fachrichtungen angaben. Dennoch eignet sich diese Statistik recht gut, um einen Eindruck von den enormen weltweiten Ungleichheiten zu vermitteln. Als ein Indikator für den Entwicklungsstand nationaler Sozialwissenschaften kann sie insofern gelten, als ja davon auszugehen ist, dass dort, wo es größere Anzahlen von Studierenden gibt, auch entsprechende Studiengänge, Institutionen und Lehrpersonal vorhanden sein müssen. Diese statistische Analyse ließe sich erweitern und verfeinem durch eine Relativierung der Zahlen anhand der Gesamtbevölkerung, anhand der Gesamtzahl von Studierenden aller Disziplinen oder ähnlichem, was einen angemesseneren Hintergrund zur Bedeutung der Sozialwissenschaften auf der jeweiligen nationalen Ebene geben könnte. Diese Möglichkeiten sollen hier nicht weiter verfolgt werden, denn es ging in erster Linie darum, die globale geographische Verteilung der kommenden Generationen aufzuzeigen. Dass Länder wie Indonesien, die Türkei oder Brasilien dabei recht weit oben rangieren, sollte gerade im Rahmen dieser Arbeit Anlass geben, herkömmliche Annahmen über Zentrum

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und Peripherie zu überdenken. Es schiene dabei jedoch wenig sinnvoll, aus diesen Angaben alleine Aussagen über den tatsächlichen Entwicklungsstand abzuleiten, nicht nur, weil das Zahlenmaterial nur bedingt verlässlich ist, sondern vor allem auch, weil der Zusammenhang zwischen der Anzahl der Studierenden und weiteren Anhaltspunkten zur Wissenschaftsentwicklung ein sehr ungenauer ist - Quantität alleine sagt noch nicht allzu viel über die tatsächlichen Bedingungen und Aktivitäten in der Lehre und praktisch nichts über die Forschung aus, noch über die Disziplinenaufteilung, die Betreuungsverhältnisse, die Inhalte der Lehre, die Erfolgsquote der Studienabschlüsse usw. Schließlich wäre im Rahmen dieser Arbeit vor allem interessant, bis zu welchem Niveau vor Ort studiert werden kann. Doch gerade die Angaben zu Studierenden auf Master- und Promotionsniveau sowie zu den jeweiligen Absolventinnen sind so unvollständig, dass sich eine Auswertung nicht lohnt. Die Angaben sind also nicht überzubewerten. Als weiterer Anhaltspunkt für den Entwicklungsstand können die in den Unesco-Statistiken enthaltenen Angaben zur Buchproduktion in den Sozialwissenschaften herangezogen werden. 100 Auch wenn die UnescoDaten wenig zuverlässig sind, sollen sie hier als Anhaltspunkt herangezogen werden, da keine Alternativen zur Erfassung der realen wissenschaftlichen Produktion gerade in den Kontinenten des Südens vorliegen.101 Im Weltmaßstab ergibt sich das in der Karte 2 dargestellte Bild über die weltweite Hervorbringung sozialwissenschaftlicher Literatur. Auch die Anzahl publizierter sozialwissenschaftlicher Bücher kann nur sehr bedingt als Entwicklungsindikator gelten, wenn man bedenkt, dass Wissenschaft - wenn auch die Sozialwissenschaften vielleicht in nicht ganz so hohem Maße wie die Naturwissenschaften- Forschungsergebnisse häufig über Zeitschriften kommuniziert und die hier herangezogene Statistik periodische Veröffentlichungen explizit ausschließt. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass obendrein zu 60 Ländern keine Daten vorliegen102 und 100 I Unesco (1999d): Statistical yearbook, Paris, Tabelle TV.5 "Book production: number of titles by UDC classes". Diese Tabelle enthält Angaben über folgende Publikationstypen: "This table shows the number of titles of nonperiodie printed publications (books and pamphlets) published in a particular country and made available to the public. Unless otherwise stated, statistics refer to both first and reeditions of books and pamphlets ( ... )." Die hier wiedergegebenen Zahlen entsprechen den Angaben aus der Spalte "Social Sciences". Die Unesco untetteilt sämtliche verzeichnete Publikationen nach dem "Universal Decimal Classification"-System (UDC) in zehn "UDC-classes", nämlich: "Generalities", "Philosophy", "Religion", "Philology", "Pure Sciences", "Applied sciences", "Social Sciences", "Arts", "Literature", "Geography/History". Es wurde die aktuellste vorhandene Angabe je Land aus den Jahren 1990-1999 ausgewählt. 101 I "Mesurer et analyser l'ensemble de Ia production scientifique de ces pays (du tiers monde, W. K.) est en fait impossible dans lamesure ou il n'existe pas de bases operationnelles indexant les publications et !es travaux scientifiques 1ocaux." Gaillard, Jacques (1989): "La science du Tiers Monde est-elle visible?" in: La Recherche 210, S. 636-640, S. 638. 102 I Für die Bedeutung fehlender Angaben siehe Fußnote 99.

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die globale Darstellung und Interpretation daher problematisch ist, ist die Konzentration der Buchproduktion auf insgesamt gerade fiinf Länder, die im angegebenen Jahr mehr als 11.076 Titel veröffentlichten, eindeutig. Auch hier wird allerdings die herkömmliche Annahme, Westeuropa und die USA stünden im Zentrum des wissenschaftlichen Weltgeschehens durch die VorheiTschaft Chinas (55.380 Buchveröffentlichungen) in Frage gestellt. Dort scheint es einen im Westen praktisch unbekannten Kommunikationsraum zu geben, eine Annahme, die noch dadurch bestärkt wird, dass die Sprache China vom Rest der Welt trennt - das gleiche gilt für Japan (12.770). Auch Deutschland, mit 16.210 Buchpublikationen weltweit an dritter Stelle, hat einen relativ kleinen Einzugsbereich an potentiell in deutscher Sprache zu veröffentlichender Literatur, was flir Großbritannien (mit 23.889 weltweit an zweiter Stelle) und die USA (14.225, weltweit vierte Stelle) als weitere Großproduzenten nicht gesagt werden kann. Für letztere Länder indes können die Angaben zur Buchherstellung nicht klar gedeutet werden. Sicher ist, dass sie über ein hoch entwickeltes Verlags- und Druckwesen verfügen. Allerdings ist davon auszugehen, dass zahlreiche Werke, die in den USA oder England veröffentlicht werden, nicht von dortigen Sozialwissenschaftlerinnen verfasst wurden, die hohen Zahlen daher vermutlich nicht die nationale wissenschaftliche Produktion widerspiegeln, sondern dass die gesamte englischsprachige Welt auf deren Infrastruktur und Anerkennung im Buchsektor setzt. Hier sind multinationale Verlage präsent, was wiederum für die VorheiTschaft dieser Länder auf dem Buchmarkt spricht. 103

103 I Eine ähnliche mit der wissenschaftlichen Entwicklung einhergehende Konzentration ist bei der Zeitschriftenliteratur gegeben. Die Datenbank "Sociological Abstracts" bietet die Suche nach dem Land der Veröffentlichung eines in der Datenbank enthaltenen Textes an. Das Land der Veröffentlichung muss nicht immer mit dem Heimatland oder dem Land der Heimatuniversität eines Wissenschaftlers übereinstimmen. Gerade in kleineren Ländern wie in solchen, die über wenig Infrastruktur an Verlagswesen und Buchvermarktung verfügen, besteht oft als einzige Möglichkeit die Veröffentlichung im Ausland oder in internationalen Zeitschriften. In Ländern wie Großbritannien, Belgien oder den USA konzentriert sich dagegen ein bedeutender Teil der Verlage, die Autorinnen aus aller Welt veröffentlichen, wodurch diese bei einer Auswertung gemäß dem Land der Veröffentlichung automatisch in einem anderen als ihrem Herkunftsland erfasst werden. Insofern können Informationen über die in einem Land veröffentlichten Artikel einen Eindruck von dessen lnfrastmktur flir Publikationen vermitteln. Eine Auswertung der Zahlen aus "Sociological Abstracts" nimmt Kapitell.4 vor. Die komplette Statistik findet sich im Online-Anhang "SOZJALWJSS. GLOBAL".

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Ähnliches ließe sich für die Position Spaniens (mit 9.324 Titeln an sechster Stelle weltweit) vermuten, wo sicherlich auch lateinamerikanische Wissenschaftlerinnen ihre Werke veröffentlichen. Für Lateinamerika nimmt Brasilien (5.629) die vorderste Position ein und scheint damit der größte Produzent portugiesischsprachiger Literatur zu sein. Sehr überraschend ist dagegen, dass Frankreich erst an neunter Stelle steht und damit die französisch-sprachige sozialwissenschaftliche Literatur in Buchform selbst hinter der spanischsprachigen und russischen (Russland 8.801) zurücksteht. Auch hier ist wiederum davon auszugehen, dass die frankophonen Länder des Südens die französischen Infrastrukturen für ihre Publikationsvorhaben nutzen. Karte 2: Buchproduktion in den Sozialwissenschaften globale Verteilung in absoluten Zahlen

Quelle: Unesco Statistical Yearbook 1999

Die untersten Ränge mit weniger als zehn bei derUnescoverzeichneten Publikationen belegen Niger, Angola, Oman und Ecuador (0), Mali (1), Libyen (2), Burkina Faso (3), Gambia (5), Surinam (6) und Ghana (7). Dies entspricht in etwa der festgestellten Korrelation zwischen Wirtschafts- und Wissenschaftsindikatoren und bestätigt die Notwendigkeit einer soliden materiellen Grundlage fur wissenschaftliche Produktion. Nicht zufällig also konzentrieren sich diese Nationen auf dem afrikanischen Kontinent (Näheres zum afrikanischen Verlagswesen siehe die entsprechenden Abschnitte im Kapitel !.2). Zu einer Reihe wichtiger Indikatoren für Entwicklung oder Unterentwicklung afrikanischer und lateinamerikanischer Sozialwissenschaften liegen keinerlei Materialien vor. Dies betrifft vor allem die institutionellen Strukturen einzelner Länder. Die Abteilung für Sozialwissenschaften der

74 I TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN Unesco stellt zwar über die allgemein zugängliche Datenbank DARE 104 Informationen über sozialwissenschaftliche Lehr- und Forschungsinstitutionen sowie über Zeitschriften weltweit zur Verfügung. Allerdings erwiesen sich die Angaben als äußerst unzulänglich, wie probeweise Abgleiche mit bekannten, nationalen Sozialwissenschaften (Frankreich, Deutschland, Mexiko, Südafrika) zeigten. Auch konnten die Zuständigen im Pariser Büro der Unesco keine schlüssige Erklärung darüber abgeben, auf welcher Grundlage und nach welchen Kriterien die hier veröffentlichten Angaben gesammelt wurden. Auf DARE wird an anderer Stelle zurückgegriffen (siehe die bibliometrischen Analysen in Kapitel 1.4). Zur allgemeinen Einschätzung über Anzahl, Ausstattung und Ausrichtung von Institutionen weltweit ist die Datenbank leider nicht geeignet. Die wenigen globalen empirischen Anhaltspunkte zum Entwicklungsstand der Sozialwissenschaften differenzieren das angenommene ZentrumPeripherie-Modell. Insbesondere die Entwicklungen in Asien (China! Japan, Indonesien) sollten fur Nachdenldichkeit sorgen. Doch bestätigen sie gleichzeitig die allgemeine Annahme, dass potente Sozialwissenschaft eine materielle Infrastruktur braucht, und dass schon aus diesem Grund die Mehrheit der afrikanischen und lateinamerikanischen Länder im internationalen Vergleich gesehen eine Randposition einnehmen. Nach diesem Überblick über einige allgemeine Wissenschaftsindikatoren sowie über einige globale Tendenzen in den Sozialwissenschaften kann nun nach der spezifischen Situation in Afrika und Lateinamerika gefragt werden, wie die Literatur sie darstellt.

Umkehrung sozialwissenschaftlicher Entwicklung: Afrika Dass Entwicklung nicht immer linear verläuft, zeigt die Erfahrung mit den Wirtschaftskrisen der 1980er und 1990er Jahre in vielen armen Ländern. 105 Wirtschaftlicher Liberalismus, angesichts der Krisen aufkommender Antiintellektualismus sowie die gleichzeitige Dringlichkeit der Bedürfuisse auf so vielen anderen gesellschaftlichen Ebenen, haben hier zum großen Desinteresse an Wissenschaft und Forschung geftihrt. 106 In seiner Überblicksdarstellung "Science in Africa: an overview"107 hält Waast 2001 fest, dass dies auf den af104 I Quelle: http://www.unesco.org/most/dare.htm (Juni 2003). DARE wurde 1974 angelegt und wird seither regelmäßig aktualisiert. 105 I Viele Länder hatten bereits im Laufe der 1970er Jahre auf Anraten der Weltbank und unter deren Aufsicht eine Reihe von Strukturanpassungsprogrammen durchgeftihrt, deren Anzahl und Ausmaß sich in den 1980er und 90er Jahren vervielfachte. So wurden Bujra zufolge bereits zwischen 1981 und 1989 in 36 subsaharischen Ländern derartige Programme durchgeführt, oft mehrere nacheinander. Bujra, Abdalla S. (1994): "Whither social science institutions in Africa: a prognosis", in: Africa Development 19 Nr.1 , S. 119-166, S. 134 ff. 106 I Waast spricht von einer "Politik des laissez-faire" in diesem Bereich. Waast, Roland (2001), S. 1376. 107 I Waast, Roland (2002).

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rikanischen Kontinent, vor allem auf das mittlere Afrika, das heißt die Länder südlich der Sahara mit Ausnahme Südafrikas, zutrifft. Die Bestandsaufnahme afrikanischer Sozialwissenschaften durch die Unesco bescheinigt, dass diese unter der allgemeinen Misere der WisseTIschaftsapparate vielleicht sogar besonders leiden: "The social sciences in sub-Sahm·an Africa have, as is widely known, been deeply affected by instability, political repression, and debilitating economic hardship. In particular, the public universities, which have dominated research and training, operate at low Ievels of capacity due to resource constraints, govemment interference, and the brain drain." 108 Auch Thandika Mkandawire beklagt, dass die Sozialwissenschaften kaum Zeit hatten, sich zu entfalten, als sie schon von den rasanten sozioökonomischen Veränderungen erfasst wurden: "Thus even before social science had time and space to establish itself in African society, it had to respond to rapid changes in the environment changes which have not always been auspicious." 109 Eine Darlegung der Gründe wie des Verlaufs der afrikanischen Wirtschaftskrisen seit den 1980er Jahren würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier muss es genügen zu erwähnen, dass als Heilmittel gegen die wirtschaftliche Misere neoliberale Maßnahmen in Form von so genannten Strukturanpassungsprogrammen wirken sollten, die den Rückzug des Staates aus vielen gesellschaftlichen Bereichen forderten. 110 Unter anderem sah man drastische Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben für höhere Bildung und den Wissenschaftssektor vor. Vylder und Omäs schrieben 1991, afrikanische Universitäten seien im Vergleich mit internationalen Standards schon immer arm gewesen, im Laufe der 1980er Jahre jedoch "mehr denn je verarmt" 111 . Als beratende Institutionen oder direkte Verantwortliche für diese Programme haben sich in den wissenschaftlichen Gemeinschaften des Südens die internationalen Finanzinstitutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds sehr unbeliebt gemacht. 112 Die "Erklä108 I Unesco (1999c): "The social sciences in sub-Saharan Africa", m: Unesco (1999a): World social science report 1999, Paris, S. 122-128, S. 122. 109 I Mkandawire, Thandika (1989), S. 1. 110 I Für eine allgemeine kritische Diskussion von Stmkturanpassung in den Ländern des Südens, vgl. Nelson, Joan M. (1990): "lntroduction: the politics of economic adjustment in developing nations", in: Joan M. Nelson (1990) (Hg.): Economic crisis and policy choice- the politics of adjustment in the Third World, Princeton/New Jersey, S. 3-33. 111 I Yylder, Stefan de/Omäs, Anders Hjort af (1991): Social science in Africa: the roJe of CODESRIA in pan-African cooperation. SAREC documentation, Evaluations 1991: 1, Stockholm, S. 2. 112 I "Studies made by the World Bank on rates of return to investments on education in developing countries have concluded that tertiary education is a poor public investmentrelative to primary and secondary education ( .. .). Such analyses have been frequently used to argue for lower Ievels of public investment in systems ofhigher education on the grounds of equity and efficiency. ( ... ). This view articulated by the Bank has guided its Jending decisions and influenced the assistance policies of other donors for years ( ... ). Leslie (1990) emphasising the significance of

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rung von Kampala" ist als Reaktion afrikanischer Intellektueller auf diese Restrukturierungspolitiken zu verstehen.113 Die Prioritäten in der von ihnen verfolgten Bildungspolitik diktiert ein Kosten-Nutzen-Kalkül, demzufolge Investitionen in den allgemein bildenden Schulen grundsätzlich rentabler seien als hohe Ausgaben fur Universitäten. 114 Ein gut dokumentie11es Beispiel fur den Zusammenbruch großer Wissenschaftsapparate ist Nigeria. Das Land hatte nach der Unabhängigkeit eines der größten und produktivsten Wissenschaftssysteme des Kontinents aufgebaut. Mehrere Strukturanpassungsprogramme sollten dann die anhaltende Wirtschaftskrise seit den 1980er Jahren lindern. Nicht nur vermittelt über allgemeine Maßnahmen zur Kürzung öffentlicher Ausgaben, sondern in zwei Fällen durch speziell für den Hochschulsektor konzipierte Strukturanpassungsprogramme erlebte dieser einen rasanten Niedergang mit allen Konsequenzen für Forschung, Lehre und Personalstruktur.115

this study remarks that ,Over the past 30 years, studies ofrates ofreturn ( ... ) to higher education probably have impacted higher education fmancing policy more than any other information produced by researchers'. ( ... ) It can ( ... ) be effectively argued that the financial difficulties that grip African universities were not inflicted by economic calamities and social instabilities alone, but presumably also by such unfavourable reports from powerful and influential international organisation." Teferra, Damtew (2002): "Scientific communication in African universities - the roJe of extemal agencies", in: Johann Monton/Roland Waast/F. Ritchie (2002) (Hg.), S. 134-154, S. 135. Man setzte nicht nur in Nigeria (s. u.) zusätzlich auf eine Art korporativen Modells, in dem die Studierenden zur Finanzierung ihrer Bildung über Studiengebühren beitragen sollten und jeder Fachbereich sein Budget möglichst eigenständig erwirtschaften sollte. Dies wirkt sich gerade auf viele Bereiche der Sozialwissenschaften fatal aus, da diese weniger Möglichkeiten haben als industrienahe Zweige der Natur- oder Ingenieurwissenschaften, sich eigenständig zu finanzieren. Vgl. Bako, Sabo (1994): "Education et ajustement en Afrique: conditionnalites et resistance", in: Mamadon Diouf/Mahmood Mamdani (1994), S. 171-201; Bako, Sabo (2002): "Union, state and the crisis of higher education: the latest phase of struggle for and against restructuring and deregulating the Nigerian universities". Paper for the 101h CODESRIA General Assembly in Kampala, Uganda, 8-12.12.2002, http://codesria.org!Links/Ho .. .%20GA%20 12-20/EducationBako.htm (Jan. 2005); Olukoju, Ayodeji (2002): "The crisis of research and academic publishing in Nigerian universities: the twentieth century and beyond". Paper for the 28'h Annual Spring Symposium "African Universities in the Twenty-First Century", University of lllinois/CODESRlA, Dakar/ Senegal, 25.-27. April 2002, www.codesria. org/Links/conferences/universities/Ayodejiülukoju.pdf (Mai 2004). 113 I Vgl. "Declaration de Kampala sur la liberte intellectuelle et la responsabilite sociale" (1994), in: Mamadou Diouf!Mahmood Mamdani (1994) (Hg.), S. 383-387. Siehe auch die Erläuterungen hierzu in: Oloka-Onyango, Joe (1994): "Libertes academiques et responsabilite sociale: rapport de synthese", in: Mamadon Diouf/Mahmood Mamdani (1994), S. 371-392. 114 I World Bank (1986): Financing education in developing countries- an exploration of policy options. Study prepared by the Research Division of the World Bank's Education and Training Department, von George Psacharopoulos/ Jee-Peng Tan/Emmanuel Jimenez, hg. v. Bruce Ross-Larson, Washington. 115 I Dieser Prozess ist detailliert dokumentiert in Bako, Sabo (1994) und Bako, Sabo (2002).

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Zusätzlich zu den Maßnahmen der afrikanischen Regierungen und der internationalen Finanzinstitutionen war seit dem Ende des Kalten Krieges das Interesse am Aufbau der intellektuellen Kapazitäten Afrikas in den Ländern des Nordens beträchtlich gesunken. 116 Einerseits sahen sich Regierungen der nördlichen Hemisphäre, die in den 1970er Jahren noch großzügige Unterstützung geleistet hatten, selbst mit finanziellen Problemen konfrontiert, andererseits hielten sie Wissenschafts- und Bildungsförderung nach 1989 nicht mehr für dringlich oder verlagerten ihre regionalen Prioritäten hin nach Mittel- und Osteuropa. Auf der zwischenstaatlichen Ebene, etwa auf den verschiedenen Schauplätzen von Nord-Süd-Beziehungen, setzten sich die Regierungen nicht mehr für den Bereich der Wissenschaft ein, der nun kaum mehr als Entwicklungsinstrument angesehen wurde. Zudem wurde der Großteil ausländischer Hilfen für Bildung und Forschung nunmehr unter Führung und Oberaufsicht von Weltbank und IWF gestellt und über die "Global Coalition for Africa" zentral koordiniert. Trotz der reduzierten ausländischen Förderung hängen die wissenschaftlichen Aktivitäten ob des staatlichen Rückzugs seit den 1990er Jahren immer stärker von überseeischer Finanzierung ab. Die Einschnitte im Budget von Hochschulen und Forschungseimichtungen beeinträchtigen sämtliche oben genannte Komponenten wissenschaftlicher Entwicklung. Die Forscherinnen und Lehrenden sanken aufgrund drastisch reduzierter Gehälter aus der oberen Mittelklasse ab und verarmten. In vielen Ländern reichten in den letzten zehn bis zwanzig Jahren die Gehälter der Wissenschaftlerinnen an nationalen Universitäten nicht mehr aus, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Unterbezahlung und der unsichere Status wissenschaftlicher Arbeit machte, wie aus empirischen Erhebungen hervorgeht, einen Teil von ihnen vom Verdienst ihrer Lebensgefährtinnen abhängig und trieb viele dazu, sich eine Zweitarbeit in anderen Sektoren zu suchen. Dies fUhrt zu einer Doppelbelastung und einer damit einhergehenden Einschränkung der wissenschaftlichen Arbeit. 117 Wer in seinem Tätigkeitsbereich in den Privatsektor, etwa als "consultant", in

116 I Vgl. Bujra, Abdalla S. (1994); Waast, Roland (2002). 117 I Ela, Jean Mare (1994): Restituer l'Histoire aux socü~tes africainespromouvoir !es sciences sociales en Afrique Noire, Paris, S. 134. Ein besonders dramatisches Beispiel sei nach Waast die Lage in Nigeria, wo die finanziellen Probleme sich zu der Repression der Streikwellen (1973, 1980, 1990, 1995) addierten und einen Großteil des Personals in die Emigration oder zumindest in andere Berufsfelder (Banken, Unternehmen, Verwaltung) zwangen. Etwa 75% der nigerianischen Lehrenden gehen einer Zweitarbeit nach, für die sie die meiste Zeit opfern und aus der sie ihr Haupteinkommen beziehen. 80% der Forscherinnen haben den Beruf aufgegeben, da sie nicht mehr die notwendigen Mittel und die intellektuellen Anreize vorfinden, um mit den internationalen Standards mithalten zu können. Waast, Roland (2001), S. 1382 ff. Vgl. Gaillard, Jacques (1994); Oyekanmi, Felicia (2002): "Scientific cooperation: a view from the South", in: Johann Mouton/Roland Waast/F. Ritchie (2002) (Hg.), S. 167-174; Bujra, Abdalla S. (1994); Szanton, David L./Manyika, Sarah (2002).

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parastaatliche Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen oder in internationale Organisationen abwandern konnte, durfte sich schon glücklich schätzen. Sofern sie die Möglichkeit dazu hatten, emigrierten viele aus ökonomischen, doch oft auch aus politischen Gründen, ins Ausland, in erster Linie nach Buropa und in die USA, wie auch quer über den Kontinent. 118 Die finanzielle Misere schwächte aber auch die wissenschaftliche Infrastruktur, die ohnehin noch jungen Datums war. Der Ausbau von Studiengängen, insbesondere von Promotionsmöglichkeiten vor Ort, verlangsamte sich. 119 Eine Reihe von Arbeiten hat etwa auf die Schwierigkeiten im afrikanischen Verlagssektor aufmerksam gemacht. 120 Die weiter oben aufgeführten Zahlen zur Buchproduktion spiegeln in etwa die Beobachtungen von Vylder und Omäs in ihrer Evaluierung des Publikationsprogramms von CODESRIA wider, das auch die allgemeine Situation auf dem wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt in Afrika analysiert: Die großen multinationalen kommerziellen Verlage wie Longman, Reinemann und ähnliche hatten sich bereits seit Längerem aus Afrika zurückgezogen. In den 1980er Jahren gerieten dann wegen der wirtschaftlichen Krisen auch die nationalen Verlage zusehends in finanzielle Schwierigkeiten. Auf dem gesamten Kontinent gab es darüber hinaus nur wenige qualitativ gute wissenschaftliche Zeitschriften, viele waren von kurzer Lebensdauer. Das heißt, in den 1980er Jahren standen nur sehr wenige Wege zur Veröffentlichung, Verbreitung und Rezeption wissenschaftlicher Produktion bereit. 121

118 I Vylder, Stefan de/Omäs, Anders Hjort af(1991), S. 3. 119 I Zu einer Bestandsaufnahme von Promotionsstudiengängen, sowie den Forschungs- und Arbeitsbedingungen von jungen Wissenschaftlerinnen vgl.: Szanton, David L./Manyika, Sarah (2002). 120 I Zu Veröffentlichungsmöglichkeiten, Distribution und zur Verlagslandschaft in Afrika siehe: Chakava, Henry (1980): Books and reading in Kenya. UNESCO Studies on Books and Reading Nr. 13, o. 0.; Chakava, Henry (1991): "Kenyan publishing. Tndependence and dependence", in: Philip G. Altbach (1991a) (Hg.): Publishing and development in the Third World, London u. a., S. 119-150; Graham, Gordon (1991): "Multinationals and Third World publishing", in: ebd., S. 29-41; Nwankwo, Victor U. (1991): ,,Publishing in Nigeria today", in: ebd., S. 151168. Da der Buchmarkt in Afrika nach der Dekaionisierung nach wie vor von multinationalen Verlagen dominiert war und obendrein repressive Regime auf nationaler Ebene durch Zensur die Publikationspraxis erschwerten, spielen hier Zeitschriften fiir die Verbreitung von sozialwissenschaftliehen Forschungsergebnisse eine wichtige Rolle. Die wichtigsten periodischen Veröffentlichungen gtündeten und kontrollieren übetTegionale Vereinigungen. Sulairnan Adebowale, "Assistant Editor" bei CODESRlA, prägte in seiner detaillierten Beschreibung von materiellen und politischen Einschränkungen den Begriff des ",Volume one, number one'-Syndroms", und verweist somit darauf, dass viele neu gegründete Zeitschriften ihr Erscheinen recht schnell wieder einstell(t)en. Adebowale, Sulaiman A. (2001). 121 I Vylder, Stefan de/Ornäs, Anders Hjort af(l991), S. 6-8. Vgl. auch die Reaktion von CODESRIA auf die Evaluierung: CODESRIA (1991): Response by CODESRIA to the report of the SAREC evaluation team, SAREC, Stockholm.

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Angesichts der katastrophalen Lage in öffentlichen Bildungs- und Forschungseinrichtungen unternahmen die zum Durchhalten entschlossenen Wissenschaftlerinnen verschiedene Versuche, mit der verzweifelten Lage umzugehen und sich an neue Funktionsweisen anzupassen, etwa durch akademisches, korporatistisches oder bürokratisches Management. Seit 1990 sind wissenschaftliche Aktivitäten in eine Form der Wissensproduktion übergegangen, die Roland Waast als "freien Markt wissenschaftlicher Arbeit" bezeichnet122, eine Tendenz, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiter zu verfestigen scheint. Dies brachte einschneidende Veränderungen in der Ausübung des Forscherberufes mit sich. Die Grundorientierung wissenschaftlicher Aktivität sei nunmehr, so Waast, die Erwirtschaftung von finanziellem Gewinn, der vor dem Gewinn an Wissen und Erkenntnis steht. Forschung muss sich finanziell lohnen. Viele der ehemaligen Wissenschaftlerinnen haben, wie gesagt, als unabhängige "consultants" in den verschiedensten Bereichen den universitären Rahmen gänzlich verlassen. 123 Unabhängige Expertenbüros und autonome Forschungszentren legen sich ein Label zu, um die Nachfrage zu polarisieren. Wissenschaftlerinnen, die in den Universitäten verbleiben, funktionieren diese unternehmerisch um und übernehmen auf Anfrage Auftragsforschung - in erster Linie von Seiten ausländischer Interessenten oder auch internationaler Organisationen. Manche universitären Institute oder Abteilungen machen sich in dieser Form selbständig. In vielen Bereichen hat sich so ein neues Gebilde von wissenschaftlicher Institution durchgesetzt: das Forschungsunternehmen. Wenngleich die anwendLmgsorientierte Sozialwissenschaft weiter unten als eine Möglichkeit, lokale Relevanz zu steigern, aufgefasst wird, so ist doch offensichtlich, dass die derzeitigen Entwicklungen in Afrika sehr einseitig verlaufen und kein ausgewogenes Verhältnis zwischen akademischer, professioneller Grundlagenforschung und kritischer Sozialwissenschaft auf der einen Seite, anwendungsorientierter, im Dienste von Wirtschaft oder Politik stehender Forschung auf der anderen gewährleistet ist. Dies bringt eine Reihe von Problemen für die Entwicklung der afrikanischen Sozialwissenschaften mit sich. 124

122 I Vgl. Waast, Roland (2001). Der folgende Absclmitt stützt sich in erster Linie auf diesen sehr aufschlussreichen und empirisch fundierten Text, der allerdings nicht speziell die Sozialwissenschaften, sondern das gesamte Spektrum der Disziplinen betrachtet. 123 I Dass diese Beobachtung Waasts gerade auf die Sozialwissenschaften zutrifft, bestätigte Bujra, der befürchtet, "consulting" könnte künftig zur dominanten Form der Forschung in Afrika werden. Bujra, Abdalla S. (1994). 124 I Chachage begegnet den Formen des freien Marktes wissenschaftlicher Arbeit mit klarer Kritik: Chachage, C. S. L. (1999): Higher education Iransformation and academic exterminism. Depattment of Sociology, University of Cape Town, S. 12.

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Über die Jahre haben diese Tendenzen, wie Waast herausarbeitet, zur Deinstitutionalisierung der afrikanischen Wissenschaft geführt. 125 Die Forschenden sind damit nach und nach unabhängiger von ihren staatlichen Gehältern geworden, dafür aber mit allen Problemen prekärer Arbeitsverhältnisse konfrontiert auf einem Markt, wo sie ständig auf der Suche nach neuen Arbeitgebern sind und Kundennetzwerke aufrechterhalten müssen. Geradlinige und auch selbstbestimmte akademische Karrieren und thematische Spezialisierungen sind fast unmöglich geworden. Der Forscherberuf wird nunmehr im Rahmen von Aufträgen und Zeitarbeit und nicht mehr als Laufbahn und Berufung ausgeübt. Das hält viele auch davon ab, sich überhaupt auf dieses Betätigungsfeld zu begeben. Die Forschungsunternehmen erledigen Studien auf Nachfrage, deren Ansätze und Erkenntnisinteresse häufig vorgegeben sind und aus dem Ausland kommen, so dass die Herausbildung lokaler thematischer Prioritäten verhindert wird. Der hohe Arbeits- und Zeitaufwand, etwa für die Verwaltung ausländischer Finanzierung, Antragstellungen, die Erfüllung der Auflagen für projektgebundene Finanzierung, also für ganz andere als akademische und wissenschaftliche Beschäftigungen, fördert langfristig nicht die professionelle Weiterqualifizierung. Forschung wird zu einem stark individualisierten Unternehmen. Die Ergebnisse erscheinen immer wieder in Gestalt interner, vertraulicher Berichte oder als graue Literatur und sind so der Öffentlichkeit und insbesondere der wissenschaftlichen Gemeinschaft kaum zugänglich. Die akademischen Formen der Kontrolle, etwa das Überprüfen der erzielten Ergebnisse durch die kritische Diskussion in der Gemeinschaft, sind außer Kraft gesetzt. Die Regulierung der Forschungsaktivität erfolgt nicht mehr aufgrund gegenseitiger Überprüfung nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern über die Gesetze des Marktes. 126 Doch nicht nur die fehlende Garantie für die Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Standards und für die Fortführung von Grundlagenforschung stellt ein zentrales Problem der neuen Art, Wissenschaft zu betreiben dar. Sie gewährt auch keinerlei Strukturen für die Beibehaltung und die Reproduktion wissenschaftlicher Gemeinschaften. Diese Aufgabe bleibt an den verbleibenden Studiengängen der hoffnungslos überbevölkerten Universitäten hängen, deren Dozentinnen aufgrund des enorn1en Lehrdeputats kaum noch Zeit für eigene Forschungen aufbringen können. Wer dagegen mit Unternehmerischen wissenschaftlichen Tätigkeiten Geld erwirtschaften kann, kauft sich von seinen Lehrverpflichtungen los, hieraus resultieren Reproduktionsprobleme. 127 Emigration, zusätzliche Arbeitsbelasttmg aus Zweit125 I Vgl. Waast, Roland (2001). 126 I Waast, Roland (2002), S. 41. 127 I "La difficulte du libre marche est qu'il exploite les talents presents mais n'assure ni leur releve, ni leur maintien en etatentre deux contrats. Certains bailleurs s'en inquietent et se proposent de soutenir de nouveaux programmes de ,creation de capacites' ou de ,reconstruction institutionneUe '. Offreurs et deman-

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arbeit und "consulting" sowie Konkurrenz und Individualisierung wissenschaftlicher Tätigkeit in bedeckt gehaltenen, persönlichen Netzwerken mit Partnern, Auftraggebern und Kunden, zersetzen die wissenschaftlichen Gemeinschaften und isolieren einzelne Forscherlnnen. 128 Waasts abschließende Beurteilung der Problematik lautet: ,,Die Anarchie eines reinen Marktes befriedigt niemanden." 129 Angesichts der genannten Schwierigkeiten in der Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Standards, in der Herausbildung längerfristiger lokaler oder regionaler Forschungsschwerpunkte sowie im Zusammenhalt der akademischen Gemeinschaften haben andere Wissenschaftlerinnen jedoch die Initiative in eine andere Richtung ergriffen. Themenspezifische Zusammenschlüsse oder disziplinär ausgerichtete Vereinigungen auf übernationaler Ebene lösen die implodierenden nationalen wissenschaftlichen Gemeinschaften ab. Ihr Ziel ist es, der Dekomposition der Profession auf nationaler Ebene entgegenzuwirken und den Forschenden einen Rahmen von Fachkolleginnen zu bieten, innerhalb dessen - abseits des Marktes - an der Fortexistenz des wissenschaftlichen Niveaus gearbeitet wird. Interessanterweise hebt Waast, der die Gesamtheit der Disziplinen betrachtet, Beispiele aus den Sozialwissenschaften als besonders erfolgreich hervor: die bereits im historischen Überblick erwähnte CODESRIA und die "Organization of Social Science Research in Eastern Africa" (OSSREA). Zur Integration regionaler wissenschaftlicher Gemeinschaften waren aber auch regionale Vereinigungen innerhalb eines Sprachraumes geeignet. Diese machten den Großteil der mehrheitlich im Laufe der 1980er Jahre gegründeten insgesamt 17 regionalen oder kontinentalen Gruppierungen aus. Dem wäre, wie bereits gesagt, die kürzlich ins Leben gerufene AfSA hinzuzufugen. Es besteht also kein Grund zu allumfassendem Afropessimismus.

Bisherige Entwicklungen in Lateinamerika In Lateinamerika hatte eine Institutionalisierung der Sozialwissenschaften auf der nationalen Ebene bereits gegen Ende der 1920er Jahre eingesetzt und sich seither kontinuierlich weiterentwickelt. Insofern waren die Strukturen fur For-

deurs sont donc a la recherche de nouvelles regulations." Waast, Roland (2001), S. 1399, hervorgehoben im Original. 128 I Die untemehmerischen Akademikerinnen haben keine Kapazitäten und vielleicht auch kein Interesse am Fortbestehen dieser rein wissenschaftlichakademischen Netzwerke. Die Selbstkritik, die Mkandawire an internen Problemen afrikanischer wissenschaftlicher Gemeinschaften übt - Nichteinhaltung von Regeln und Bewertungsmaßstäben, autoritäre und repressive Strukturen in wissenschaftlichen Institutionen, Korruption, hierarchische Diskussionsstrukturen, rassistische und sexistische Diskriminierung - nimmt sich gegen die Auswirkungen der externen, infrastrukturellen und arbeitsmarkttechnischen Bedingungenhannlos aus. Mkandawire, Thandika (1989), S. 9. 129 I Waast, Roland (2001), S. 1398.

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schung und Lehre auch im internationalen Vergleich frühzeitig soweit konsolidiert, dass sie wirtschaftliche Krisen zu überdauern vermochten. Diese Feststellung, die der Abgrenzung von der Situation in Afrika dient, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier die Dinge sehr gemächlich vorangingen und manche Kommentatmin gerade fur die letzten Jahre gar von Diskontinuität spricht. 130 In den 1950er Jahren waren die Möglichkeiten, auf dem Kontinent ein Postgraduiertenprogramm zu absolvieren, noch stark begrenzt, sodass Interessierte sich gezwungen sahen, anderswo ihre Studien fortzusetzen. 131 Im Laufe der 1970er Jahre dann stieg die Anzahl der Studiengänge, Institute und Forschungszentren rapide an und Promotionsstudiengänge wurden eingeführt. So entstand die Mehrheit der derzeitigen Zentren zwischen 1970 und den frühen 80er Jahren, das heißt in einem Zeitraum, als höhere Bildung als politische Primität angesehen wurde. Doch auch seit Mitte der 1980er wurden t:rotz finanzieller Engpässe und Budgeteinschnitten gerade in diesem Bereich einige weitere Zentren errichtet. 132 Die "Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales" (FLACSO) fungierte als treibende Kraft in der Errichtung von Lehrprogrammen und von Studiengängen. Ein Hindernis zur institutionellen Entwicklung stellten in verschiedenen Ländern die militärischen und autoritären Regime der Zeit dar. 133 Ein Großteil der Forschung wurde gerade in diesen Zeiten in außeruniversitären Einrichtungen durchgeführt. Die staatliche Finanzierung erfolgte in dieser Zeit nach stark selektiven Kriterien, so dass viele Forscherinnen auf eine Selbstfinanzierung über Auftragsstudien oder über private oder halb-

130 I So Sosa Elfzaga: "En nuestros paises, las academias de cientificos sociales se organizaron hasta los afios setenta en las universidades. Despues, Ia persecuci6n, el cierre de las instituciones crfticas, Ia muerte, desaparici6n o migraci6n de importantes cientificos sociales y los ,ajustes estructurales' rompieron con Ia continuidad lograda en los centros de conocimiento y, sobre todo, con las formas de relaci6n que en ellos se habian establecido. (In unseren Ländern organisierten sich die universitären Sozialwissenschaftler bis in die 1970er Jahre in den Universitäten. Danach erfolgte aufgrundder Verfolgung, der Schließung kritischer Institutionen, des Todes, Yerschwindens oder der Auswandenmg bedeutender Sozialwissenschaftler sowie der ,Strukturanpassungen' ein Bruch mit der bisher erreichten Kontinuität in den Zentren des Wissens und vor allem in den Beziehungen, die sich in ihnen etabliert hatten)." Sosa Elizaga, Raquel (1996): "Las ciencias sociales en America latina: del deluvio neoliberal al finde siglo", in: Estudios Latinoamericanos 3 Nr. 6, S. 7-18, S. 14/15. 131 I Vgl. Carnoy, Martin/Samoff, Joel (1990): Education and social transition in the Third World, Princeton University Press, S. 343. 132 I Ygl. Yessuri, Hebe (2001): "lnfrastmcture: social/behavioral research (Latin America)", in: International encyclopaedia of the social and behavioural sciences, o. 0., S. 7493-7499, S. 7496. 133 I Die Auswirkungen von Diktaturen und repressiven Regimen auf die Entwicklung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften sind in der Literatur eingehend reflektiert. Vgl. Brachet-Marquez, Viviane (1997); Briceiio-Le6n, Roberto (2002); Gonzälez Casanova, Pablo (1970); Graciarena, Jorge (1979); Murga Frassinetti, Antonio/Boils Morales, Guillermo (1979b); Quijano, Anibal (1979); Ratinoff, Luis (1979); Torres Rivas, Edelberto (1979).

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öffentliche außerregionale Stiftungen angewiesen waren. Nach Sonntags Einschätzung stellten die autoritären Phasen in Brasilien, Ecuador, Peru und Panama dennoch kein ernsthaftes Hindernis flir die Institutionalisierung und Weiterentwicklung der Disziplinen dar. 134 Anders schätzt er die Lage in Chile und Umguay nach 1973 sowie in Argentinien nach 1976 ein, wo die autoritären Machthaber den Sozialwissenschaften gegenüber so ablehnend eingestellt waren, dass die bis dahin außergewöhnlich vorteilhaften Bedingungen dieser Länder praktisch zunichte gemacht wurden. Die Schließung von Studiengängen und Instituten ging mit der Unterdrückung und Verfolgung von Intellektuellen einher, die viele ins Exil zwang. In Chile, dem Sitz der FLACSO, konnte diese den Sozialwissenschaftlerinnen etwas Rückhalt gewähren. Die demokratischen Transitionsprozesse in Chile, Paraguay, Guatemala, EI Salvador und Peru stärkten hier in den letzten Jahren die akademische Freiheit und erlaubten gegenüber den 1980ern vielfaltigere und auch regierungskritische Arbeiten. Trotz der Einschränkungen durch die Diktaturen in mehreren Ländern bewertet Vessuri die insbesondere in den 1970ern und frühen 80ern erzielten Fortschritte als beträchtlich. In dieser Zeit war der Aufbau des höheren Bildungssektors vielerorts eine nationale Priorität. Obwohl sich diese Situation in den letzten 15 Jahren geändert hat, wurden auch seither weitere sozialwissenschaftliche Zentren geschaffen. 135 Eine gewichtige Rolle in der Institutionalisierung nahm die im Jahr 1956 in einer Kooperation der nationalen Regierungen mit der Unesco gegründete FLACSO ein. Dreizehn lateinamerikanische und karibische Länder schlossen sich bei der Gründung zu diesem Verbund für Lehre und Forschung der Sozialwissenschaften zusammen, deren Sitz zunächst in Santiago de Chile lag, mit Zweigstellen in Buenos Aires, Brasilia, Santiago, San Jose, Havana, Quito, EI Salvador, Guatemala, Mexico D.F. und Santo Domingo. Seit 1993 sind weitere Mitgliedsländer hinzugekommen. Die "Fakultät" leistete einen wichtigen Beitrag zur kontinentalen Vernetzung und zum Aufbau der notwendigen Infrastruktur für sozialwissenschaftliches Arbeiten: Aufbau und Harn1onisierung von Studiengängen, Ausbildung von Lehrenden für die Universitäten, Bereitstellung und Förderung von Veröffentlichungsorganen und Bibliotheken. 136 Finanziert wird diese Institution über die nationalen Regierungen sowie durch externe Geldgeber. 137 Heute zur größten Koordinierungs- und Integrationsinstanz aufgestiegen ist der 1966 gegründete "Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales" (CLACSO) mit Sitz in Buenos Aires. Hier sind derzeit 173 Mitgliedszentren in 21 Ländern zusammengeschlossen und kooperieren über verschie-

134 I Vgl. Sonntag, Heinz R. (1988), S. 127 ff. 135 I Vessuri, Hebe (1999a): "National social sc1ence systems in Latin America", in: Unesco (l999a), S. 109-121, S. 116. 136 I Vgl. Carnoy, Martin/Samoff, Joel (1990), S. 343; Yessuri, Hebe (2001). 137 I Näheres siehe http://www.flacso.org/ (Dez. 2005).

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denartige Programme. Dazu gehören allen voran international besetzte, auf Forschung ausgerichtete Arbeitsgruppen, aber auch Fortbildungsmaßnahmen für junge Wissenschaftlerlnnen. 138 Über diese im lateinamerikanischen Raum agierenden Einrichtungen konnte sich seither eine regionale Forschungsgemeinschaft herausbilden, die obendrein den Vorteil eines fast einheitlichen Sprachraumes genießt. Der Kontinent brachte aber auch früh eine soziologische Vereinigung hervor. Auf dem ersten Soziologischen Weltkongress in Zürich 1950, das heißt kurz nach der Gründung der Internationalen Soziologischen Vereinigung (1949), ergriffen zehn lateinamerikanische Soziologen die Initiative, um die "Asociaci6n Latinoamericana de Sociologfa" (ALAS) ins Leben zu rufen. Dies geschah bereits zu einem Zeitpunkt, als die Soziologie in der Mehrheit der Universitäten noch nicht als Studiengang angeboten wurde. ALAS wurde zur größten disziplinären sozialwissenschaftliehen Organisation und zur Trägerin spezifisch lateinamerikanischer Perspektiven. 139 Seit den 1950er Jahren organisiert diese regelmäßig lateinamerikanische Soziologiekongresse140 und sorgt so für die Konsolidierung der Disziplin. So stand der erste Kongress, 1951 in Buenos Aires abgehalten, unter dem Motto "Los problemas fundamentales de Ia sociologia latinoamericana". Auch die Themen der weiteren Kongresse sprechen für eine Auseinandersetzung mit den spezifischen Problemen der Region. 141 Was die heutige Lage angeht, sind die Ansichten geteilt. Abreu spricht in ihrem Lagebericht von einer etablierten und integrierten wissenschaftlichen Gemeinschaft, die eine eindrucksvolle Produktion aufvielen Feldern der Soziologie hervorbringe. Allerdings deutet sie die ihr vorliegenden Zahlen äußerst optimistisch. 142 Immerhin präsentiert sie einige Anhaltspunkte über vorhandene Studiengänge: Im Jahre 2000 konnte in acht Ländern, flir die Informationen erhältlich waren, in 135 Studiengängen ein Grundstudium der Soziologie absolviert werden, in 71 ein Masterstudiengang und in 37 eine Promotion. Dies spricht dafür, dass der Kontinent institutionell durchaus in der Lage ist, seine wissenschaftliche Gemeinschaft selbst zu reproduzieren. Er verfugt mit einer Reihe größerer Verlage und spezialisierter Zeitschriften auch über die notwendige Infrastruktur, um regional in der eigenen Sprache zu kommunizieren. Allerdings zeigten die statistischen Daten,

138 I Näheres siehe http://www.clacso.org/ (Dez. 2005). 139 I Vgl. die Darstellung einer ehemaligen Präsidentin von ALAS: Sosa Elizaga, Raquel ( 1996). 140 I Briceiio-Le6n, Roberto (2002). 141 I Vgl. zur frühen Geschichte der Vereinigung: Scribano, Adrian (2005): "Origenes de Ia Asociaci6n Latinoamericana de Sociologia: algunas notas a traves de Ia visi6n de Alfredo Povifia", in: Sociologias- Porto Alegre 7 Nr. 14, S. 50-61. 142 I So behauptet sie, Lateinamerika sei weltweit das 15. Land (!) in der Produktion wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Als einziges Hindernis flir den internationalen Durchbmch sieht sie die Sprachbarriere. Abreu, Alice Range! de Paiva (2003), S. 57.

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dass diese sich stark auf Brasilien und Mexiko konzentrieren, ein Eindruck, den Vessuri bestätigt. 143 Demgegenüber fällt die Einschätzung im Lagebericht der Unesco zwiespältig und sogar eher pessimistisch aus. So sei in Lateinamerika derzeit eine Spaltung zu beobachten. Die "Eliteuniversitäten" - fur die Sozialwissenschaften besonders die von FLACSO unterhaltenen Eimichtungen böten sehr vorteilhafte Arbeitsbedingungen, gute Studienprogramme und brächten eine hervorragende wissenschaftliche Produktion hervor. Die Mehrheit der sozialwissenschaftliehen Zentren dagegen sei mangelhaft ausgestatteten, das Lehrdeputat zu hoch um aufwändige Forschung zu betreiben, und die Betreuungsverhältnisse seien schlecht: "However, a more typical Situation in Latin America is that in which researchers are unable to acquire steady and reasonably paid employment in a single institution. Lacking access to research funds and the most basic resources (scholarly joumals, books) necessary for the conduct oftheoretically informed social scientific inquiry, they are seldom able to maintain their research skills. Their productivity, and their ability to provide quality instruction to new generations ofpotential social scientific researchers, suffer greatly as a result." 144 Die Lage auf dem Kontinent sei sehr heterogen145 , besonders die fmanzielle Situation stelle sich derzeit kritisch dar 146 . In Mexiko habe sich die Finanzierung seit der ökonomischen Krise von 1995 stark verschlechtert, auch Brasilien gibt gemäß Unesco-Bericht von 1999 Anlass zur Sorge. In Brasilien, Mexiko und Kolumbien ist der finanzielle Aufwand am großzügigsten, Chile, Argentinien,

143 I Ihr Urteil bezieht im Übrigen weitere Infrastrukturmerkmale sowie die vorhandenen Bildungsmöglichkeiten mit ein. Vessuri, Hebe (1999b), S. 324. Die mexikanische und brasilianische Buch- und Zeitschriftenindustrien haben in den letzten Jahren somit auf den erhöhten Druck zu veröffentlichen reagiert und sind seither weiter beträchtlich angewachsen. Vgl. Vessuri, Hebe (2001), S. 7497. 144 I Unesco (1999b): "The social sciences in Latin America- overview", in: Unesco (1999a), S. 104-109, S. 104. Auch Vessuri fUhrt flir mehrere Länder aus, dass die wegen der hohen Studierendenzahlen sehr zeitaufwendigen Lehrverpflichtungen wenig Gelegenheit zu größeren Forschungsvorhaben lassen. Vessuri, Hebe (1999a), S. 115. 145 I Vessuri, Hebe (1999a). 146 I "Heterogeneity notwithstanding, there is little doubt that these are extremely difficult tirnes for the social sciences throughout most of the region. Almost everywhere, funding for basic research and advanced training has declined in recent years, andin most countries this trend continues." Unesco (1999b), S. 105. Obschon, wie oben angedeutet, hier und da neue Forschungsprogramme gestartet wurden, standen diesen in der Regel nicht ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung: "Y et most of these programmes are woefully underfunded, and the institutional infrastructure needed to support research activities is commonly lacking. Low salaries compel staff to teach in several institutions." Unesco (1999b), S. 105.

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Costa Rica sichern eine bescheidene Grundlage. 147 Auch hier sind also die ökonomischen Krisen der letzten 20 Jahre und die Prioritätensetzung auf Schulbildung, wie sie von neoliberal orientierten Regierungen und Weltbankexperten vertreten wird, verantwortlich für die Reduzierungen der Budgets. Die prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftssektor ähneln denen in Afrika, auch wenn bei Weitem nicht die dortigen misslichen Verhältnisse eJTeicht scheinen. So sähen sich viele Dozentinnen gezwungen, in mehreren Hochschulen gleichzeitig Lehraufträge zu übernehmen, um sich ihr Auskommen zu sichern. Viele Sozialwissenschaftlerinnen erwirtschaften über "consultancy"Arbeit einen Zusatzverdienst zu ihren zu geringen Gehältern. Ferner stärken Finanzierungsmodelle auf Projektbasis wissenschaftliches Arbeiten nach Marktkriterien. 148 Selbst die regionalen sozialwissenschaftliehen Foren verlieren, darf man Brachet-Marquez Glauben schenken, an Bedeutung.149 Diese Bedingungen, die, wenn auch eine gewisse institutionelle Stabilität weiterhin gegeben ist, sich in Richtung eines freien Marktes wissenschaftlicher Arbeit orientieren, bereiten Sorge um die künftige Kapazität der Region, originelle Sozialforschung zu betreiben. 150 Der erreichte infrastrukturelle, institutionelle, und personelle Entwicklungsgrad in Lateinamerika geriete somit in eine prekäre Lage. Dennoch kann für diesen Kontinent nach wie vor von einer hinreichenden Grundlage für sozialwissenschaftliches Arbeiten ausgegangen werden. Inwiefern die Modelle in der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung, die sich seit den 1980er Jahren allmählich durchsetzen, auch in einem relativ entwickelten Umfeld der Herausbildung eigenständiger Ansätze und, längerfristig gesehen, einer regionalen Tradition in der Soziologie nicht zuträglich sind, wird in Kapitel III sowie im zweiten Teil dieser Arbeit angesprochen. In Afrika dahingegen sind die Errungenschaften der staatlich geförderten Wissenschaftsentwicklung der 1960er und 70er Jahre derzeit dabei, verloren zu gehen. Der freie Markt wissenschaftlicher Arbeit, den Waast in all seinen Strukturen und Konsequenzen aufdeckte, kann die Konsolidierung afrikanischer Herangehensweisen in der Disziplin nicht stützen. Impulse gehen hier dagegen von den regionalen Vereinigungen aus, auf die sich gerade die kritischen Richtungen hin orientieren. Im internationalen Vergleich gesehen, beheimaten die beiden Kontinente bedeutend mehr soziologische Institutionen, als die mangelnde Wahrnehmung in nördlichen Breitengraden erwarten ließe. Dennoch liegt ihr Entwicklungsgrad offensichtlich hinter dem der nordatlantischen Nationen.

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Unesco (1999b), S. 107. Unesco (1999b), S. 104. Brachet-Marquez, Viviane (1997), S. 8. Unesco (1999b), S. 105.

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Kritische Bemerkungen zur Einschätzung sozialwissenschaftlicher Entwicklung Nllll sind noch einige kritische Hinweise zu Fragen der wissenschaftlichen Entwicldllllg zu geben, die bisher als Gnmdvoraussetzung fiir sozialwissenschaftliche Aktivität angenommen wurde: Dass materielle, institutionelle und personelle Entwicklung alleine nicht hinreichend ist ftir das Entstehen originaler Soziologie, zeigt das Beispiel Japans. 151 Das Land verfugt über die zweitgrößte nationale soziologische Vereinigung der Welt. Die Anzahl seiner Spezialzeitschriften und seine wissenschaftliche Produktion sind enorm - John Lie ordnet sie in der Größenordnllllg direkt hinter den USA ein. Praktisch alle nordatlantischen Klassiker sind ins Japanische übersetzt und japanische Soziologinnen sind hinsichtlich der theoretischen Entwicklungen im Ausland stets auf dem neuesten Kenntnisstand. 152 Dennoch konnte Lie 1996 nur wiederholen, was Shogo Koyano bereits 20 Jahre zuvor festgestellt hatte: Japanische Soziologie ist über Japan hinaus so gut wie unbekannt, und sie hat in keiner erwähnenswerten Weise zur Entwicklung der Disziplin beigetragen. 153 John Lie führt eine ganze Reihe von historischen, institutionellen und kulturellen Gründen flir die hochgradige Marginalität und Abhängigkeit japanischer Soziologie an: sprachliche und kulturelle Hindernisse für ausländische Interessierte; die Tatsache, dass aufgrund des historischen Imports von Soziologie nach Japan die erste Aufgabe hier seit jeher gewesen sei, Vorgänge in Europa und den USA zu verfolgen 154; Folgen der Kollabora151 I Vgl. für diesen Abschnitt Lie, John (1996): "Sociology ofcontemporary Japan", in: Current Sociology 44 Nr. 1, S. 1-66. 152 I "No sociology is as susceptible to the international scene as that of Japan." Lie, John (1996), S. 30. 153 "Nous autres Japanais sommes inaptes a creer par nous-memes une theorie originale. ( ... ). Malheureusement, il nous est difficile de pretendre que nous avons largement contribue a Ia construction de theories." Koyano, Shogo (1976): "Sociological studies in Japan- pre-war, post-war and contemporary stages", in: Current Sociology 24 Nr.1, S. 2-196, S. 85. "Japanese sociology has not become well known abroad. The reason may be that on the one hand, it Iacks an integrated core because of the uncoordinated nature of publications, and on the other hand, it may be because of passive acceptance of foreign influence without further analysis." Lie, John (1996) S. 30/31. Und: "To our great regret it is hard for us to say that we have contributed much to the theory construction. lndeed there has been much self-c1iticism by sociologists striving to develop indigenous theory and methodology." Ebd., S. 70. Auch S. F. Alatas nennt Japan als Beispiel fiir theoretische Dependenztrotz ausreichender nationaler Infrastrukturen: "While Japanese social science is not dependent on the social science powers in terms of the dependence on the technology of education, aid for research and teaching, investment in education and demandin the West for their skills, there is some degree of dependence on westem ideas and media ofideas." Alatas, Syed Farid (2003), S. 605. 154 I Etwa Fachtermini, die in Japan nicht existierten, zu übersetzen und sich weniger auf die Entwicklung eigenständiger Ansätze zu konzentrieren. Vgl. Lie, John (1996). 1

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tion von Professorinnen im zweiten Weltkrieg, die das Verhältnis zwischen Staat und Hochschulen nachhaltig störte, was dazu führte, dass Akademikerinnen sich von politischen und sozialen Realitäten distanzierten und auf das ungefährlichere Terrain der Texte konzentrierten; gesellschaftliches oder politisches Engagement waren verpönt; außeruniversitäre Institutionen genossen wenig Ansehen. Außerdem litten japanische Intellektuelle, so Lie, nach dem Krieg an einem Minderwertigkeitskomplex und orientierten sich auch aus diesem Grund verstärkt hin zur nordatlantischen Produktion. Schließlich hielten die beiden dominanten japanischen Ansätze einmal der aus der Orientalistik übernommene ,Japanische Sonderweg", den Lie als "Auto-Orientalismus" bezeichnet, dann die Einordnung Japans in einen universellen Rahmen von Modemisierungstheorie oder Marxismus keine interessanten Einsichten für ein internationales Publikum bereit. Das Beispiel Japans zeigt also, dass selbst eine vorzügliche materielle Basis und Institutionalisierung noch nicht die Entwicklung einer selbständigen Soziologie mit sich bringen. Umgekehrt ist durchaus denkbar, dass auch ohne adäquate materielle und institutionelle Infrastruktur eigene, originelle sozialwissenschaftliche Ansätze entstehen können - man bedenke nur die theoretischen und empirischen Arbeiten, die aus den Befreiungsbewegungen, der mexikanischen oder kubanischen Revolution, hervorgingen und oft nicht an wissenschaftliche Institutionen gebunden waren. Im Zuge der afrikanischen Unabhängigkeiten wären die einflussreichen Schriften Fanons, Cabrals, Nkrumahs, Nyereres und vieler anderer zu nennen. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Schema ist dagegen beschränkt auf die typischen Produktionsstätten wissenschaftlicher Arbeit. Eine Ergänzung um außeruniversitäre Sozialwissenschaften ist hier nicht möglich, schiene jedoch geboten. In den folgenden beiden Abschnitten soll es um zwei weitere Dimensionen des Zentrum-Peripherie-Modells gehen, die etwa auf das Beispiel Japan eher zutreffen: Autonomie-Dependenz und Zentralität-Marginalität. Diese hängen gewiß in vielen Fällen, wie jedoch das Beispiel Japans zeigt, nicht zwingend, mit der Frage der Wissenschaftsentwicklung zusammen. Unterentwicklung kann die Marginalität von Wissenschaft verstärken, etwa dann, wenn Möglichkeiten der Kommunikation fehlen. Dies arbeitete Subbiah Arunachalam anband der Auswirkungen der Revolutionierung in der Informations- und Kommunikationstechnologie heraus, die entgegen vereinfachender Annahmen im Globalisierungsdiskurs nicht zu grenzenloser, gleichberechtigter Kommunikation führt, sondern vielmehr die Randständigkeit unterentwickelter Wissenschaftsapparate verstärkt. 155

155 I "lndeed, the introduction of new information technologies such as online searching, electronic journals, etc., has helped to further marginalize scientists in developing countries. While the entire Western world is connected by Internet, most developing countty scientists are in no position to use even basic telephone or fax facilities." Arunachalam, Subbiah (1996): "Science on the peri-

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Ebenso wird die Abhängigkeit von der Metropole durch Unterentwicklung forciert: Abschlüsse müssen im Ausland erworben werden. "Wissenschaftstourismus" zwecks Literaturrecherche in London oder Paris sind kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. 156 Will ein Kollege an der Peripherie mit Publikationen in die fachliche Diskussion einsteigen, so erleichtert eine Koautorenschaft mit einem Wissenschaftler aus einem reichen Land, der oder dessen Institution internationales Ansehen genießt, den Zugang zu prestigeträchtigen Zeitschriften. 157 Diese und ähnliche als wissenschaftsintern zu charakterisierende Fragen werden in den nächsten beiden Abschnitten erörtert, wobei die hier behandelten materiellen und infrastrukturellen Bedingungen stets bedacht werden sollten.

3. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Dependenz und Autonomie Die zweite Dimension des Zentrum-Peripherie-Modells ftir die internationale Soziologie ist die von Autonomie und Dependenz. Eine Reihe von Arbeiten beklagt die "extreme Abhängigkeit" der Forscherinnen des Südens "von den Ländern des Zentrums"158 . Dies stelle eine neue, selbst verschuldete Art der Hegemonie westlicher Wissenschaft dar, so Syed Bussein Alatas, der das Problem historisch verortet in der Zeit der globalen Neuordnungen nach dem zweiten Weltkrieg: "In this sudden outhurst of interaction (after the Second World War, W. K.), an aftermath of colonialism, emerged a problernthat is still prevalent today, another form of hegemony, this time not imposed by the West through colonial domination, but accepted, willingly with confident enthusiasm, by scholars and planners of the former colonial territories and even in the few countries that bad remairred independent during that period ( ... ). This problern is the emergence of imitative thinking arising from overdependence on the westem intellectual contribution in the various fields of knowledge, not so much at the practical Ievel of the applied sciences, but at the Ievel of intellectual reflections, planning, conceptualization and the need to establish a genuine and autonomaus scientific tradition." 159

Subbiah Arunachalam weitet die Idee der Abhängigkeit aus auf die gesamten Wissenschaftsapparate und ihre Funktionsweisen: ,,As in development econophery enriches mainstream science, but at what cost? The case of ethnobotany", in: Roland Waast(1996), S. 29-50, S. 32. 156 I Vgl. Hountondji, Paulin J. (1994). 157 I Dies stellten Luukkonen und seine Kollegen in einer Untersuchung zu internationalen wissenschaftlichen Kooperationen fest. Luukkonen, Terttu/Persson, Olle/Sivertsen, Gunnar (1992): "Understanding patterns of international scientific collaboration", in: Science, Technology & Human Values 17, S. 101-126, S. 123. 158 I Gaillard, Jacques (1994), S. 225. 159 I Alatas, Syed Hussein (2006b), S. 8.

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my, in science and technology also, the periphery is very much dependent on the centre. Peripheral countries perform little research and depend on imported books and journals. Education in these countries, at least in science and technology, is based on foreign knowledge and much ofthe technology is imported."160 Und etwas weiter heißt es hier: "Thus, science on the periphery is somewhat like an island that depends on imports form the dominant countries for its survival but has very little to export. ( ... ) They rarely provide the shoulders on which others can stand to see further. Much oftheir work is in the nature offollowing rather than path breaking or leading." 161

Konzeptualisierungen wissenschaftlicher und intellektueller Dependenz in der Literatur Syed Farid Alatas sieht das Hauptproblem der Soziologien des Südens in ihrer Abhängigkeit. 162 Elemente der wissenschaftlichen Unterentwicklung und Marginalität ignoriert er teilweise, andere ordnet er der Problematik der Unselbständigkeit unter. Hier dagegen werden diese drei Dimensionen der ZentrumPeripherie-Problematik aus analytischen Gründen getrennt behandelt. Die Dependenz kann dabei in zwei Stufen auftreten. Hängt sie mit der Unterentwicklung zusammen, fehlt also jede lokale Alternative, so handelt es sich um eine tatsächliche Abhängigkeit. Davon geht Hountondji für den Fall Afrikas aus, wo infrastrukturelle und institutionelle Unterentwicklung zu abhängiger Wissenschaft führten. Bibliotheken, Archive, Verlage, Zeitschriften, das heißt, die Strukturen für die Aufbewahrung und die Verbreitung von Forschungsergebnissen seien im Norden ansässig. Es gäbe zwar Fortschritte bezüglich des Aufbaus eigener Struktm·en im Süden, diese seien, so Hountondji, jedoch noch weit davon entfernt, das Blatt ein für allemal zu wenden. 163 Eine abgeschwächte Form der Abhängigkeit tritt dort auf, wo lokale Sozialwissenschaften her-

160 I Arunachalam, Subbiah (1996), S. 31. 161 I Arunachalam, Subbiah (1996), S. 33. Hountondji stellt zudem eine Verbindung her zwischen der Unterordnung und der Außenorientienmg afi"ikanischer Wissenschaften und ihrer Abhängigkeit vom Zentrum. Die ökonomische Rolle Afrikas als Lieferant flir Rohmaterialien und als Absatzmarkt flir fertige Produkte, die daraus in den Metropolen entwickelt und produziert werden, spiegelt sich seiner Meinung nach auch im Bereich der Wissenschaft wider. Hountondji, Paulin J. (1990a), S. 9. 162 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 602. Die Arbeiten von Syed Farid Alatas erwiesen sich flir den folgenden Abschnitt wie für die gesamte Arbeit als richtungweisend. Es sei an dieser Stelle nochmals auf sein kürzlich erschienenes Buch hingewiesen, das in dieser Arbeit aber nicht mehr systematisch rezipiert werden konnte. Alatas, Syed Farid (2006). 163 I Hountondji, Paulin J. (1994). Er ordnet diesen Punkt selbst dem Phänomen der "Außenorientienmg" unter, dessen weitere Formen und Auswirkungen hier unter der Gesamtproblematik der Marginalität abgehandelt werden. Was Hountondji über die Notwendigkeit auf nördliche lnfrastmkturen zurückzugreifen sagt, gehött allerdings in der hier vorgeschlagenen Konzeptualisienmg in den Bereich der Abhängigkeit.

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vorgebracht worden sind, jedoch weiterhin marginal bleiben. Hier orientiert man sich verstärkt aus Gründen der Anerkennung und des internationalen Prestiges zum Norden hin- man könnte sagen: eine gewissermaßen selbst verschuldete Form der Abhängigkeit, dieS. F. Alatas ftir die Ebene von Theorie und Methoden entsprechend behandelt (s. u.). Der Unterschied ist empirisch in1 globalen Maßstab kaum festzustellen. Meist ist in der Diskussion über "intellektuelle Dependenz" die Übernahme von Theorien und Methoden aus dem Zentrum gemeint. Aber auch bestimmte infrastrukturelle und institutionelle Faktoren müssen als Kriterien wissenschaftlicher oder akademischer Abhängigkeit verstanden werden und können diese verstärken. Diesen weiteren Begriff legt S. F. Alatas seiner Konzeptualisierung zugrunde 164, die sechs Punkte beinhaltet. An erster Stelle steht auch bei ihm die Abhängigkeit von Ideen auf der epistemologischen, theoretischen, empirischen und praktischen Ebene: "In both teaching and research, knowledge at all these Ievels overwhelmingly originates from the US and the UK and, in the case of the former French colanies, France. There is hardly any original metatheoretical or theoretical analysis ernerging from the Third World. While there is a significant amount of empirical work generated in the Third World, much of it takes its cues from research in the West in terms of research agenda, theoretical perspectives and methods. This is the most important dimension of academic dependency." 165 Sodann weist S. F. Alatas auf die Abhängigkeit von Medien der wissenschaftlichen Kommm1ikation hin - Bücher, Zeitschriften, Konferenzen, elektronische VeröffentlichLmgen; tmd auf das Angewiesensein auf Lehrmaterialien LU1d -technologien, auch etwa in Form von MaterialsammlLmgen in StiftLmgen, Botschaften usw.; hierunter wäre auch die von Hountondji ironisch als "wissenschaftlicher Tourismus" bezeichnete "strukturelle Notwendigkeit" von Bibliotheks-, Archiv- tmd Kongressreisen in die Zentren zu rechnen sowie in bestimmten Konstellationen der Erwerb von Studienabschlüssen im Ausland. 166 Weiterhin führt Alatas die Unterstützung für Forschung und Bildung ins Feld, die zentrale Funktionen der lokalen Wissenschaftsapparate übernehmen, in erster Linie in Form von ausländischer FinanzierLmg. 167 Die Tatsache, dass wissenschaftliche Forschung im Süden oft auf überseeische Finanzierung angewiesen ist, stellt einen problematischen Sachverhalt dar, 164 I Alatas, Syed Farid (2001): "The study of the social sciences in developing countries: towards an adequate conceptualisation of relevance", in: Current Sociology 49 Nr. 2, S. 1-27, S. 9. 165 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 604. 166 I Wenn die Betroffenen aus diesen Reisen auch Profit ziehen könnten, so sei das Traurige doch, dass dies die "conditio sine qua non d'un tel profit" seien. Hountondji, Paulin J. (1994), S. 8. 167 I "These funds are used to sponsor research, purchase books and other instructional materials, finance the publication of local books and journals, and buy expertise in the form ofvisiting scholars." Alatas, Syed Farid (2003), S. 605.

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der hier nicht eindeutig als Indikator wissenschaftlicher Dependenz angesehen wird (s. u.). Im Bereich der Bildung kann es sich um direkte Investitionen westlicher Bildungseinrichtungen vor Ort handeln, so bieten beispielsweise englische, US-amerikanische und australische Universitäten Studiengänge in Asien an. Schließlich zählt Alatas die "Abhängigkeit von Sozialwissenschaftlerinnen der Dritten Welt von der Nachfrage nach ihren Fähigkeiten und Qualifikationen im Westen" in diesen Problembereich. Gemeint ist damit "physisches" oder so zusagen "mentales brain drain" 168 . Letzteres wurde bereits unter dem Abschnitt zum "freien Markt wissenschaftlicher Arbeit" in Afrika in Kapitel 1.2 abgehandelt. Die Idee der Orientierung peripherer Sozialwissenschaften auf das Zentrum hin wird weiterhin im Kapitel !.4 zu Marginalisierung unter dem Stichwort der Außenorientierung besprochen. 169 Zu Bildungsangeboten überseeischer Universitäten vor Ort konnten im Rahmen dieser Arbeit keine zusätzlichen Informationen erhoben werden. Alle weiteren Faktoren sollen im Folgenden näher betrachtet werden, wobei hier die institutionellen und strukturellen Parameter im Unterschied zu Syed Farid Alatas vorangestellt werden. Die Dependenz von Theorien und Methoden erscheint in der umgekehrten Anordnung eher als abhängige Variable, und als solche ist sie ja auch zweifellos zu verstehen. Vorab soll zu Zwecken der Begriffsklärung noch kurz gesagt werden, was das Gegenteil von "dependenter Wissenschaft" wäre: die "autonome". Dieses Attribut ist nicht mit "Autarkie" zu verwechseln: Internationaler Austausch war seit jeher konstitutiv für die Entwicklw1g der Disziplinen, und eine komplette Abschottung wäre wenig sinnvoll oder überhaupt denkbar. Mit "Autonomie" ist dagegen gemeint, dass eine nationale Gemeinschaft im Austausch mit anderen ihre grundlegenden Parameter wie Forschungsthemen, Lehrinhalte oder ihre eigene Reproduktion und so weiter selbst festlegt. Eine autonome Soziologie ist nicht existentiell angewiesen auf den Import von Büchern, Theorien und Methoden, auf den Erwerb akademischer Abschlüsse jenseits der Grenzen oder Koautorenschaften mit ausländischen Kolleginnen. Im Fall der Dependenz handelt es sich dagegen Ull1 eine alternativlose Lage. 170 Die internationale Kooperation von 168 I "In cases where there is no physical relocation, there is still a brain drain in term of the using up of mental resources and energy for research projects conceived in the West but which employ Third World personnel as junior research partners." Alatas, Syed Farid (2003), S. 605. 169 I Hountondji, der das Phänomen der "Außenorientierung" beschreibt, versteht das mentale "brain drain" als eine Teilerscheinung desselben: "En taute rigueur, tous !es cerveaux du tiers monde, toutes !es competences intellectuelles et scientifiques sont portes, partout Je courant de l'activite scientifique mondiale, vers Je centre du systeme." Hountondji, Paulin J. (1994), S. 8. 170 I "Le lecteur objectera peut-etre que, meme au centre du systeme, Je chercheur d'aujourd'hui ne peut, SOUS peine de mort Jente, rester tout a fait sedentaire; qu'au cceur meme du centre, il y a le centre du centre, le pöle absolu: !es Etats-Unis d'Amerique, qui drainent de plus en plus vers eux, au detriment de l'Europe du

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Wissenschaftlerinnen aus kleinen oder mittelgroßen Ländern - zum Beispiel der Schweiz - ist in der Regel wesentlich höher, als die großer Länder mit bedeutenden wissenschaftlichen Gemeinschaften, wie etwa den USA. Kleine Länder beziehen sich außerdem viel stärker auf ausländische Referenzen und Quellen. Gingras, der diese Tendenzen beobachtet, behauptet nun, man könne dies positiv als Offenheit wie negativ als Abhängigkeit deuten. 17 1 Hier soll eine eindeutige Unterscheidung getroffen werden: Autonome Wissenschaft kann sich weltoffen verhalten, grenzüberschreitenden Austausch betreiben und davon nur profitieren; dependente dagegen hängt existentiell von den Entwicklungen ab, die anderswo stattfinden und zu denen sie wenig beigetragen hat. Empirisch wird der Unterschied freilich oft nicht zweifelsfrei festzustellen sein, in erster Linie aus methodischen Gründen. Obwohl in der Diskussion die Frage der Abhängigkeit eine wichtige Rolle spielt und einige Arbeiten sie auch konzeptuell zu erfassen und in einen weiteren Zusammenhang zu stellen versuchten 172, gibt es bisher kaum empirische Erhebungen zu diesen Fragen und die Debatte bleibt daher politisch stark aufgeladen. Die mangelnde Grundlage an Fakten erklärt sich unter anderem aus der Unmöglichkeit, in größerem Maßstab Erhebungen zu zentralen Fragen der wissenschaftlichen Dependenz durchzuführen. Besonders die Annahme des Theorie- und Methodenimports und die der unkritischen Übernahme durch die Disposition des "captive mind" (s. u.) stellt die Wissenschaftssoziologie vor methodische Schwierigkeiten, die im universalen Maßstab nicht zu bewältigen sind. Dies bestätigt Syed Hussein Alatas: "The empirical manifestations of the captive mind are too numerous to set down. They are not subject to quantitative analysis. lf three copies of a given book are sold, we cannot know exactly how each reader reacts. We can hardly ask him whether he is an uncritical, imitative reader, and we are prevented from conducting a survey on captive minds. Who wishes to be regarded as a captive mind? The best we can do is observe its empirical manifestations." 173 Nord et du Japon, Ia ,creme' de Ia commtmaute internationale des chercheurs. A quoi l'on repondra cependant que Je ,tourisme' scientifique n'a pas alors Ia meme signification: Je flux des chercheurs Nord/Nord ne resulte pas d'un desequilibre interne de l'activite scientifique dans !es pays capitalistes de second rang; chacun de ces pays developpe bei et bien une activite independante, autocentree, capable en principe de survivre par elle-meme. L'exode des hommes de science europeens vers !es Etats-Unis ou, pour ce1taines disciplines, vers le Japon, releve de ce fait, de Ia recherche d'tm ,plus' . Parrapport a l'exode Sud-Nord, il represente un Juxe plutöt qu'tme necessite vitale." Hountondji, Paulin J. (1994), S. 9. 171 I Gingras, Yves (2002). 172 I Gareau, Frederick H. (1985), Alatas, Syed Farid (2003), S. 603. Dem wären Hountondjis Arbeiten, insbesondere Hountondji, Paulin J. (1990a), hinzuzuftigen. 173 I Alatas, Syed Hussein (1974): "The captive mind and creative development", in: International Social Science Journal26 Nr. 4, S. 691-700, S. 693 .

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Mit den eingangs genannten Autoren und vielen ihrer Kolleginnen kann zunächst von der Annahme ausgegangen werden, dass afrikanische und lateinamerikanische Soziologien tendenziell abhängig sind. 174 Doch zur Überprüfung der Hypothese von der intellektuellen Abhängigkeit sind eine Erfassung der wichtigsten Lehrbücher, die in der Soziologie jedes Landes angewandt werden, eine Auswertung der Literaturlisten in Einfiihrungsveranstaltungen oder Analysen der Zitierweisen in afrikanischen und in lateinamerikanischen Werken notwendig. Dies kann nicht im globalen Umfang geleistet werden. In der im zweiten Teil der Arbeit näher vorgestellten Fallstudie wurden Zitationsanalysen zu einschlägiger Literatur mit Hinsicht auf theoretische und methodologische Abhängigkeit durchgeführt (siehe Kapitel VIII.2). Für eine globale Analyse dagegen köunen nur wenige Indikatoren untersucht werden, die auf erdenldiche inhaltliche Dependenz bestenfalls indirekt schließen lassen. Am Ende können die möglichen Auswirkungen der institutionellen und infrastrukturellen Anzeichen flir Dependenz auf die wissenschaftliche Produktion sowie das Phänomen des "captive mind" im Allgemeinen kurz umiissen werden.

Finanzielle Abhängigkeitein Indikator für wissenschaftliche Dependenz? S. F. Alatas ordnet finanzielle Abhängigkeit dem Bereich der akademischen Dependenz zu. 175 Im Kapitel !.2 zur Entwicklungsproblematik ist schon angedeutet worden, wie schwierig es ist, dieses Problem eindeutig einzustufen. In diesem Kapitel ist mit "Abhängigkeit" in erster Linie die intellektuelle gemeint. Dennoch sollen an dieser Stelle einige Folgewirkungen fmanzieller Abhängigkeit aufgezeigt werden, die der Entwicklung eigenständiger Sozialwissenschaften nicht zuträglich sind. Empirisch machte bereits eine Reihe von Studien auf das Problem aufmerksam. In Afrika sind seit jeher und in den letzten Jahren verschärft alle Typen wissenschaftlicher Institutionen auf ausländische Gelder angewiesen. 176 174 I Das soll auch in diesem Abschnitt nicht bedeuten, dass es sich um ein ausschließliches Problem des globalen Südens handelt, denn auch innerhalb des Zentrums können vermutlich Abhängigkeitsverhältnisse zwischen wissenschaftlichen Gemeinschaften und ihrer Produktion beschrieben werden. Ferner ist die Hypothese der Abhängigkeit!Autonomie - angesichts der ebenfalls bestehenden "Weltoffenheit" - weniger eindeutig anband empirischer lndikatoren überprüfbar als die der Unterentwicklung/Entwicklung und die der Marginalität!Zentralität. Auch hier sind die Übergänge fließend und die idealtypische Form ist in der Realität vetmutlich nicht zu finden. Vielmelu· kann es hier also nur um die Feststellung gradueller Unterschiede gehen. 1m Folgenden sollen die bereits genannten Anhaltspunkte näher betrachtet werden, an denen sich sozialwissenschaftliche Dependenz erkennen ließe. 175 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 605. 176 I "Given the severe socio-economic deprivation Africa is currently enduring, it is difficult to imagine the state of scientific research enterprises on the continent in the absence of external support. ln fact, Gaillard et al (1997) predictedthat in the light of declining govenunent subsidies, as advocated and demanded by powerful international monetary institutions - the support from public sources to

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Damtew Teferra veröffentlichte 2002 Ergebnisse aus einer Fragebogenerhebung in acht Ländern - Äthiopien, Botswana, Ghana, Mauritius, Mozambique, Namibia, Tanzania, und Zimbabwe -, welche die Rolle der externen Geberinstitutionen in der afrikanischen Wissenschaft erhellen sollte. In dieser, verschiedene Disziplinen und nicht speziell die Sozialwissenschaften umfassenden Umfrage, stellte sich heraus, dass zum Zeitpunkt der Erhebung 70% der Forschungsaktivitäten in Afrika vornehmlich aus externen Quellen finanziert wurden, und dass der Großteil der Befragten externe Gelder für die wissenschaftliche Kommunikation in Afrika für sehr wichtig oder unerlässlich hielt. 177 Zwei Drittel der Befragten gaben an, von fremden Mitteln für Forschung und wissenschaftliche Kommunikation abhängig zu sein, die Hälfte beispielsweise finanzierte Reisen zu Konferenzen und Kongressen typische1weise über ausländische Gelder. Dies hing den Befragten zufolge offensichtlich mit den fehlenden lokalen Finanzierungsmöglichkeiten zusammen. Denkwürdig ist immerhin, dass zwei Drittel der Befragten diese Form der Unterstützung positiv bewerteten, besonders die schwedischen Hilfen ließen den Wissenschaftlerinnen relativ viel Unabhängigkeit im Umgang mit den Geldern. Die Weltbank dagegen wurde sehr viel kritischer gesehen aufgrund ihrer als undemokratisch bemängelten Vorgehensweisen. Einige Forscherinnen waren dagegen sehr argwöhnisch gegenüber der ausländischen Finanzierung, da in ihren Augen nur solche Gebiete gefordert würden, die den Sponsoren nützten. Die Mehrheit85% der Befragten - meinte, die Entwicklung einer beständigen, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen wissenschaftlichen Infrastruktur sei unter diesen Bedingungen nicht möglich und forderten von der Regierung mehr Verantwortung.

R&D (Research and Development, W. K.) funds would dwindle. This meant that, in order to initiate, conduct, and maintain the scientific research and scientific communication infrastructure in most African universities, the continued support of external agencies has become highly critical; so critical that some institutions would practically not function in their absence." Teferra, Damtew (2002), S. 134. Die Literaturangabe bezieht sich auf Jaques Gaillard/ Yenni Krishna/Roland Waast (1997) (Hg.), Scientific communities in the developing world, New Delhi. Siehe auch Fehne!, Richard (1995): "The roJe of donor organizations in the development of the human sciences in South Africa", in: Directory of human sciences organisations and professional associations in South Africa, Pretoria, S. 129-146. 177 I Aus den insgesamt 94 Antworten ergab sich eine lange Liste von externen Geldgebern, von denen der Häufigkeit nach folgende genannt wurden: an erster Stelle SAREC/SlDA (Schweden), gefolgt von NORAD/NUFU (Norwegen), Institutionen der Vereinten Nationen, "International Foundation for Science" (lFS), die deutsche Gesellschaft fiir Technische Zusammenarbeit (GTZ), die "Netherlands' Universities Foundation for International Cooperation" (NUFFIC), und die Weltbank. Teferra, Damtew (2002) vermisste hierunter die "American Association for the Advancement of Science" (AAAS), das "International Development Research Centre" (lDRC), die Ford und Rockefeiler Stiftungen sowie die "Carnegie Corporation of New York", welche seines Wissens auch seit Langem in der Entwicklung und Unterstützung der afrikanischen Wissenschaften aktiv waren.

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Auch in Lateinamerika wurden im Zuge der sozioökonomischen Krisen seit Beginn der 1980er Jahre die nationalen Ausgaben für höhere Bildung gekürzt. Gleichzeitig sahen sich die durch das unvorhergesehene Ansteigen der Studierendenzahlen zu Massenuniversitäten werdenden Einrichtungen mit dem Problem konfrontiert, immer größere Anteile ihrer Budgets für die Lehre einplanen zu müssen, was zuUngunsten der Forschungsaktivitäten ging. In diesem Zuge setzte eine zunehmende "Privatisierung" der Forschung ein, das heißt konkret: Rückzug in private Forschungszentren, Abhängigkeit von Finanzierungen durch internationale Organisationen oder durch private und halböffentliche Stiftungen. Auch Institutionen, die bis dahin vornehmlich staatlich finanziert worden waren, sahen sich gezwungen, auf diese Alternativen auszuweichen. Damit setzte ein Konkurrenzkampf zwischen den Forschungszentren um Geldquellen ein. In den meisten Ländern des Kontinents gab es in den 1990er Jahren keine ausreichenden nationalen Ressourcen für die Forschungsfinanzierung, viele Institutionen hängen komplett von ausländischen Finanziers ab, was der Unesco-Bericht über die Lage der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften bestätigt. 178 Wie die Fallstudie zu Südafrika zeigen wird, ist ausländische Finanzierung nicht immer ein Hindernis für autonome Soziologieentwicklung. Für den Fall Uruguays belegt eine empirische Studie ebenfalls die Bedeutung US-amerikanischer Stiftungen und europäischer Entwicklungsprogramme für die Fortführung sozialwissenschaftlicher Aktivitäten gerade in Zeiten politischer Repression. 179 Doch weist die Literatur systematisch auf eine Reihe von Schwierigkeiten hin, die sich aus dem empirisch festgestellten Rückgriff aufüberwiegend überseeische Mittel in den Kontinenten des Südens ergeben können. T eferra fasst diese in einigen Schlagworten zusammen: "It is ( ... ) quite apparent that the majority of the respondents feel that building a competitive, sound, and sustainable scientific community based predominantly on external agencies is not tenable. The reasons for this are varied and numerous. The responses can be broadly categorised under several headings: unsustainability and donor fatigue, mistrust of donor agendas; Iack of local commitment, ownership and local attitudes; building capacity and sustainability; non-viability, irregularity, and self-reliance." 180

Auf die Problematik gezielter ideologischer und politischer Einflussnahme wurde bereits hingewiesen. Problematisch ist darüber hinaus zu allererst die

178 I Unesco (1999b), S. 107. 179 I Barreim Diaz, Adriana (200 0): A Constru9ao social das ciencias sociais na periferia: economia e sociologia no uruguai, 1970-1990, Tese apresentada ao lnstituto de Geociencias como parte dos requisitos para obten9ao do titulo de Doutora em Politica Cientifica e Tecnol6gica, Universidade estadual de Campinas, Campinas-Sao Paulo. 180 I Teferra, Damtew (2002), S. 141.

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Planungsunsicherheit, die die Entwicklung längerfristiger Forschungsperspektiven, eigenständiger Prioritätensetzungen und selbst akademische Karrieren verhindert. Dies zeigten die 1990er Jahre, als mit dem Ende des Kalten Krieges die Unterstützung durch US-amerikanische und europäische Stiftungen und Kooperationen in Afrika und Lateinamerika nachließen und sich teilweise nach Osteuropa verlagerten. Als Hemmnis sozialwissenschaftlicher Entwicklung stellt die Literatur aber auch den Aufwand dar, den die Einwerbung und Verwaltung von Geldem aus verschiedenen ausländischen Quellen mit sich bringen. 181 Die Abhängigkeit von ausländischen Ressourcen hat ferner Auswirkungen auf die Stellung der Empfangerinnen in der internationalen Gemeinschaft. Aufschlussreich sind die daraus erwachsenden Interessenkonflikte. Auf Empfängerseite ist man unzufrieden über zu eng gesteckte Forschungspläne und über die ungleiche Arbeitsteilung, durch die man sich häufig auf die Rolle der Datenbeschaffung reduziert sieht, ohne an der Konzeptualisierung der Projekte beteiligt zu sein. 182 Sonntag führt zwar das Argument an, dass durch fremde Finanzierung auch der Boden für internationale Kooperation und vergleichende Studien geebnet werden könnte. Dies funktioniere allerdings nur, wenn die lateinamerikanischen Sozialwissenschaftlerinnen in gleichgestellten Beziehungen gegenüber ihren Kolleginnen aus anderen Ländern ihre Souveränität und ihr Selbstvertrauen behielten und sich nicht wie Bettelleute aufinternationaler Bühne präsentierten.183 Die Bemühung um externe Zahlungsmittel und die Konkurrenz, die sich daraus entspinnt, ist der Integration lokaler wissenschaftlicher Gemeinschaften oftmals wenig zuträglich. 184 Dies machte die hier nicht weiter ausgeführte Erhebung über Migrationsstudien in Mexiko deut181 I Dies belegt Gaillardaufgrund einer empirischen Befragung unter Forscherinnen aus den drei Kontinenten des Südens: "Plus les ressources de financement se diversifient, plus Je nombre d'interlocuteurs augmente et plus il faut passerde temps a accueillir les representants des organismes concemes, leur faire visiter !es centres de recherche, rediger !es demandes de financement, prevoir Ia gestion de fonds obtenus en fonction des criteres et exigences specifiques des differents donateurs, rediger !es rapports d' activites partiels et finaux, participer aux missions d'evaluation ... etc." Gaillard, Jacques (1987), S. 103. 182 I "( ... ) the researchers who benefit from cooperation programmes complain about being subject to a narrow agenda and an unequal division of labour. Many of them estimate that their roJe has been reduced to that of simple suppliers of data, or of developers of solutions devised out of context, following a standardized model." Waast, Roland (2002), S. 43. Die Argumente aus Teferras Umfrage ähnelten diesen. Auf die Frage, was externe Geberinstitutionen in ihrer Zusammenarbeit mit den afrikanischen Forscherinnen besser machen könnten, empfahlen viele Befragte: "that external agencies involve more local experts in the designing, planning, and implementation processes of their support initiatives to their institutions and countries". Teferra, Damtew (2002), S. 144. 183 I Vgl. Sonntag, Heinz R. (1988). 184 I "A problern related to the problern offunding and foreign dependence is the fragmentation and atomisation ofthe research community in Africa." Vy1der, Stefan de/Omäs, Anders Hjort af(l 991), S. 4.

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lieh: Die Relevanz der Migrationsforschung für die USA bringt eine Bandbreite von Finanzierungsmöglichkeiten über US-amerikanische Geber mit sich, was jedoch zu verstärkter Konkurrenz, Zersplitterung und Abschottung innerhalb der mexikanischen wissenschaftlichen Gemeinschaft geführt hat. Die finanzielle Abhängigkeit hat natürlich auch Auswirkungen auf die Inhalte und die Prioritätensetzung wissenschaftlicher Forschung. Dies ist bei der Vergabe nationaler Forschungsfinanzierung nicht viel anders, doch handelt es sich dann immerhin um Vorgaben, die für die eigene, zu erforschende Gesellschaft als vorrangig erachtet werden. Grundsätzlich scheinen in den letzten Jahren projektgebundene Gelder leichter zu fließen als solche für Grundlagenforschung oder für den Aufbau von Infrastrukturen und personellen Kapazitäten. Die Förderer bestimmen so häufig die Thementss und vielfach auch den theoretischen Rahmen und die anzuwendenden Methoden, so dass innovative und kreative Ansätze vor Ort verhindert werden. Selbst wenn es sich um vorgeblich "universelle" Kriterien der Sozialwissenschaften handelt, fuhrt dies, so Heinz R. Sonntag, dazu, dass die Nehmerinstitutionen ihre Thematiken und ihre Methoden zunehmend von außen bestimmen lassen. Dies gilt natürlich umso mehr in K.onkurrenzsituationen. Sonntag betont hierbei besonders die Gefahr einer Absonderung der Sozialwissenschaften von den sozialen Bewegungen und den Transformationsprozessen des Kontinentes 186, ein wichtiger Punkt, der auf ein Hindernis zur Herausbildung konterhegemonialer Strömungen hindeutet (siehe unten). Dass die Abhängigkeit von externen Geldem Forschung zu lokal relevanten Problemen verhindem kann, bestätigte auch eine Frauenforscherin am "Colegio de la Frontera Norte". Sie klagte darüber, dass die Mittel, die US-amerikanische wie andere internationale Sponsoren unter starkem Einfluss der USA bisher für Forschungen im Bereich von Familienplanung, Verhütung und Abtreibung vergeben hatten - in Mexiko Themen von großer Aktualität - mit der Präsidentschaft Bushs komplett eingefroren wurden.1 87 Die genannten Punkte verdeutlichen also die zwiespältige Rolle überseeischer Finanzierung.

185 I "Les sciences sociales (economie et science politique, plus recemrnent anthropologie) ne manquent pas de commanditaires. Les questions de predilection sont normees: ,if you stay within the key areas: women, environment, democracy and so on, yes, you are likely to get money a Iot quickly.' A ces sujets s'ajoutent les autres grands soucis du Nord concernant le Sud, tels que population, emigration, pauvrete Oll maladies emergentes." Waast, Roland (2001), S. 1389, zitiert aus einem Interview. Themen, die nicht in Bereiche passen, die fiir die Geberländer interessant sind oder von internationalen Organisationen als bedeutsam gelabelt wurden, sind wesentlich schwieriger zu finanzieren. 186 I Ygl. Sonntag, Heinz R. (1988). 187 I Interview Elisabeth Maier, 6.9.2004.

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Grenzüberschreitende Rezeptionsund Publikationsprozesse Eindeutiger gestaltet sich die Beantwortung der Frage nach Abhängigkeit bei Rezeptions- und Publikationsprozessen. Einen ganz groben Eindruck könnten Angaben zwn Import und Export von Büchern vermitteln. Dies entspricht dem zweiten Punkt in S. F. Alatas Auflistung, in dessen Rahmen auch auf ein Mittel zur empirischen Überprüfung hingewiesen wird: die Ermittlung der Besitzverhältnisse und der Kontrolle in der Verlags- und Kommunikationswelt. 188 Dass "die Dritte Welt in erheblichem Ausmaß von importierten Büchern abhängt"189, stellte Philip G. Altbach 1991 fest. Die internationale Kommunikation verlaufe recht einseitig von den Metropolen in die Länder des Südens.190 Die Unesco-Statistik "International trade in books, pamphlets, newspapers and periodicals" 191 enthält derartige globale Angaben über Buch- und Zeitschriftenimporte und -exporte. Da die Statistik keine Fächerspezifizierung anbietet, ist sie ftir die hier interessierende Fragestellung allerdings wenig dienlich. Eine statistische Analyse zu Import und Export soziologischer Literatur als indirekter Anhaltspunkt fur inhaltliche Abhängigkeit kann also wegen Datenmangels nicht geleistet werden. Yvon Chatelin und Roland Waast erstellen in ihrer Arbeit über den Stand der afrikanischen Wissenschaften einen "editorialen Abhängigkeitsindex", der auf dem Prozentanteil an Publikationen beruht, die außerhalb des Landes verlegt wurden. Dieser Index belegt die große Abhängigkeit Afrikas von überseeischen Verlagen 192 und stellt damit eine Verbindung zwischen infrastruktureller Unterentwicklung und Dependenz dar. Es geht dabei nicht direkt um eine inhaltliche, sondern um eine infrastrukturelle, die sich eventuell mit der weiter unten beschriebenen Außenorientierung in Zusammenhang bringen lässt. In Lateinamerika sind Probleme für die Publikation vor Ort- in Spanisch-, wie der Abschnitt zu Entwicklung bereits zeigte, weniger akut aufgrund der Anwesenheit einiger großer sozialwissenschaftlicher Verlage. Die starke Rezeption europäischen und nordamerikanischen Schriftturns scheint hier eher auf der Annahme zu beruhen, dass dieses richtungweisend ftir die Sozialwissenschaften schlechthin sei. Denn der Lagebericht der Unesco hielt 1999 fest:

188 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 604. 189 I Altbach, Philip G. (199lb) "Publishing in the Third World: issues and trends for the 21 '' centuty", in: Philip Altbach (1991a) (Hg.), S. 1-27, S. 11. 190 I "( ... ) the flow of knowledge and information is almost exclusively one-way- from the industrialized nations to the Third World." Altbach, Philip G. (1991b), S. 6. 191 I Unesco (1999d), Tabelle 1V.9. 192 I Chatelin, Yvon/Waast, Roland (1996): "L'Afrique scientifique de 1a fin des annees 1980 - approche bibliometrique. Panorama general, strategies nationales, champs thematiques", in: Roland Waast (1996) (Hg.), S. 73-90, S. 82.

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"There is great interest in works published in the USA and Europe (but not in Asia or Africa), andin many fields these circulate more widely in Latin America (mostly in English) than do studies produced by scholars elsewhere in the region. Mexican researchers have more access to North American publications than to Brazilian or Argentine ones. This is largely a product of limited distribution networks, but it may also reflect the high prestige and quality associated with schalarship from the developed world." 193 Dieselben Probleme mögen der Beobachtung von Viviane Brachet-Marquez zugrunde liegen, wonach lateinamerikanische Sozialwissenschaftlerinnen immer wieder nm vermittelt über die Metropolen miteinander kommunizierten und inhaltlich von deren Produktion abhängig seien: "lt is also difficult to separate Latin American from foreign contributions, espe-

cially as the latter have usually controlled the terrain. This situation reflects the ,dependent' course taken by Latin American social science, as well as the practical difficulties of establishing networks of institutions and scholars over a vast territory, separated, most of the time, by ideological chasms, political upheavals and economic disaster. ( ... ) the Latin American Studies Association (LASA) has soldiered on, steadily forging and maintaining relations between Latin American and US scholars, while a group of important international journals have maintained continuous dialogue between Latin American scholars of different countries and different ideological stripes. Among them are LASA's Latin America Research Review, the Journal of Interamerican and World Affairs, and Latin American Perspectives published in the USA; the Journal ofLatin American Studies published in Great Britain; and Cahiers des Ameriques Latines and Problemes d'Amerique Latine published in France. In addition, the International Sociological Association has untiringly encouraged the organization of regional meetings to consolidate the relations periodically established at its intenational meetings.'d94 Eine ähnliche Analyse ermöglichen internationale bibliographische Datenbanken.1 95 Ein Abgleich zwischen dem Land der Veröffentlichung eines Artikels und dem Land der institutionellen Anhindung seines Autors kann Aufschluss geben über das Angewiesensein aufVeröffentlichungsmöglichkeiten in anderen Ländern. Dies kann hier natürlich nicht fiir jeden einzelnen Eintrag in diese Datenbanken festgestellt werden. Eine Gegenüberstellung der Zahlen fiir Veröffentlichungen, welche aus wissenschaftlichen Einrichtungen eines Landes hervorgehen, mit den Nennungen desselben als Land der Veröffentlichung, 193 I Unesco (1999b), S. 108. 194 I Brachet-Marquez, Viviane (1997), S. 8. Die Tatsache, dass Kontakte über die Metropolen in erster Linie innerhalb der Regionalwissenschaften verlaufen, bestätigt die weiter unten formulierte Kritik an der Verzerrung internationaler Kommunikationswege in den Sozialwissenschaften durch die eurozentrische Disziplineneinteilung. 195 I Näheres zur Bibliometrie und ihren Ergebnissen, siehe die entsprechenden Abschnitte in Kapitel 4.

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erlaubt es jedoch, Tendenzen infrastruktureller Abhängigkeit in der Veröffentlichungspraxis festzustellen. Hierzu sollen die "Sociological Abstracts" herangezogen werden. Im Online-Anhang "SOZlALWlSS. GLOBAL" findet sich eine Statistik mit den Angaben zum Land der Veröffentlichung in den "Sociological Abstracts". Die Zahlen zeigen eine Aufspaltung der Mehrheit der Länder in zwei Kategorien. Denn nur in sehr wenigen Fällen ist das Verhältnis zwischen den Nennungen als Land der Autorenanhindung und denen als Land der Veröffentlichung in etwa ausgeglichen: China (513:617), Japan (1503:1228) und Dänemark (788:808) wären hierunter zu zählen. Für den Rest der Welt ergibt sich eine Aufspaltung. Auf der einen Seite stehen solche Länder, die wesentlich häufiger als Standort der Veröffentlichung erfasst sind. Besonders sticht das bei denen ins Auge, die über eine sehr geringe Anzahl von Autorinnen in die "Sociological Abstracts" aufgenommen wurden: Montenegro (1:538), Paraguay (7:226), EI Salvador (12:66), Ecuador (20:71 ), Kuwait (60:104), die Slowakei (77:806) oder die Philippinen (108:315). Hierbei handelt es sich vermutlich um Länder mit relativ kleinen wissenschaftlichen Gemeinschaften, die jedoch für ihre Region als Standort für Publikationen eine Rolle spielen, sei es über die Herausgabe regional orientierter Zeitschriften oder über die Ansiedelung von Verlagen. So ist bei Montenegro zu vermuten, dass sich das Ländchen auf dem Balkan als Publikationsland etabliert hat, Paraguay und Ecuador in Südamerika, EI Salvador in Zentralamerika, die Slowakei in Osteuropa, Kuwait im arabischsprachigen und die Philippinen im ostasiatisch-pazifischen Raum. Als weitere Länder mit hohen Nennungen als Publikationsland fallen für Osteuropa Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Polen und Kroatien auf, fiir Asien Indien, für Lateinamerika und die spanischsprachigen Sozialwissenschaften Spanien, Brasilien und Mexiko, ferner Russland, wo vermutlich Forscherinnen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken vorrangig publizieren. Wie nicht anders zu erwarten, ist die zentrale Stellung der ehemaligen Kolonialmächte Frankreich (4.583:9.270) und insbesondere England für den Commonwealth und vermutlich da1über hinaus (19.592:75.214) als Publikationsstandort erkennbar. Doch auch Länder mit weniger starker oder ohne koloniale Vergangenheit, wie Belgien, Italien, die Niederlande, Deutschland, die Schweiz und Kanada (441:8336!) sind wesentlich häufiger als "publication country" denn als "author affiliation" in den "Sociological Abstracts" erfasst. Für die USA liegen keine Angaben zu den Autorschaftell vor, das Land ist jedoch weltweit führend als Publikationsland (1 09.865). Neben den regionalen Zentren treten also die meisten westeuropäischen Nationen sowie Nordamerika als herausragende Standorte für Veröffentlichungen hervor, auch unabhängig von ihren Sprachen, die teilweise keine weite Verbreitung finden, wie Deutsch oder Italienisch. In diesen W eltregionen hat auch die Mehrheit internationaler Verlage und Zeitschriften ihren Hauptsitz.

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Dagegen fallen in eine zweite Kategorie all die Nationen, deren Wissenschaftlerinnen mehr veröffentlichen, als das Land selbst hervorbringt. An der Spitze dieser Liste stehen Australien mit 5.456 Autorinnen gegen nur 2.303 Nennungen als Land der Veröffentlichung, Israel (2.251:201), Schweden (1.768:644) und Neuseeland (1.062:359). Hochgradig abhängig von ausländischen Infrastmkturen zur Publikation ihrer Ergebnisse sind in Westeuropa Finnland, Österreich, Irland und Griechenland. Auf die oben genannten regionalen Zentren Mittel-, Ost- und Südosteuropas können sich Autorinnen aus Serbien, Rumänien, Bulgarien und Mazedonien verlassen, auf Russland, wie erwartet, die Ukraine und Weißrussland, denn sie alle tauchen in der Datenbank sehr selten als "publication country" auf. Ebenso haben anscheinend Argentinien, Chile, Puerto Rico, Pem, Umguay und Kuba nur eingeschränkte Publikationsmöglichkeiten. Der afrikanische Kontinent dagegen verfügt nicht einmal wie Lateinamerika über einzelne regionale Zentren. Selbst Südafrika (1.293:844) greift mehrheitlich auf ausländische Verlage und Zeitschriften zurück. Nur Nigeria (279:54), Kenia (107:10), Senegal (46:8) und Tunesien (24:6) tauchen überhaupt als Land der Veröffentlichung auf, von allen weiteren ist keine einzige landesintem publizierte Schrift erfasst. Die missliche Lage Afrikas ist offensichtlich. Lateinamerika verfügt dagegen neben den Buchverlagen auch über eine eigene Infrastruktur im Zeitschriftenbereich. Dieser statistische Überblick verdeutlichte abermals, dass Abhängigkeit von ausländischen Verlagen und Zeitschriften kein alleiniges Problem der Entwicklungsländer ist, wobei die Unterscheidung von Dependenz mit oder ohne lokale Alternative, das heißt aus Prestigegründen oder aus infrastmkturellen Gründen, über diese Erhebung nicht getroffen werden kann. Problematisch an den hier aufgefiihrten Daten ist die äußerst limitierte Auswahl an Publikationsorganen in den "Sociological Abstracts". Die Zahlen messen tatsächlich nur die Publikationen in von den "Cambridge Abstracts" als "Mainstream" anerkannten Blättem (s. u.). Insofem sollten die ausgeführten Deutungen nicht überstrapaziert werden. Gerade lokale Zeitschriften, die in erster Linie von lokalen Wissenschaftlerlnnen für landesinteme Kommunikation genutzt werden, sind hier mit Sicherheit stark unterrepräsentiert und verdecken so gerade die Phänomene, die als Anfänge konterhegemonialer Strömungen (siehe Kapitel III) angesehen werden können. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ausgeglichene Verhältnisse in Ländem wie Japan oder China vermuten ließen, dass man es hier, schon aus sprachlichen Gründen, mit relativ geschlossenen Soziologien zu tun hat, was nicht heißt, dass dort Literatur aus dem Ausland nicht gelesen würde. Vielmehr bezieht sich diese Einschätzung auf die Neigung japanischer oder chinesischer Forscherinnen, im Ausland zu veröffentlichen, beziehungsweise auf den Gusto ausländischer Kolleginnen, in China oder Japan ihre Forschungsergebnisse unterzubringen. Natürlich ist dabei nicht ausgeschlossen, jedoch wenig wahrschein-

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lieh, dass die Zahlen so etwas wie eine ausgeglichene "Handelsbilanz" bedeuten, da sich Publikationen chinesischer oder japanischer Autorinnen im Ausland mit solchen ausländischer Kolleginnen in China oder Japan die Waage halten. Dagegen stehen alle anderen Länder, so unterstellen die Zahlen, stärker miteinander in Kontakt. Auffällig ist dabei die Polarisiemng in solche Länder, die offensichtlich sehr viel mehr Arbeiten veröffentlichen als ihre eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaften produzieren einerseits, und andererseits solche, die verstärkt auf Veröffentlichungsmöglichkeiten im Ausland zurückgreifen, den problematischen Ausschluss lokaler Publikationsorgane hierbei im Hinterkopf behaltend. Dieser empirische Indikator kann dabei nur äußerst bedingt als Überp1üfung der Hypothese von Dependenz/Autonomie herangezogen werden. Er müsste mit gerraueren Informationen zum Zeitschriften- und Verlagswesen, mit Anhaltspunkten zu Gründen für die Wahl des Publikationsorts und vor allem mit Analysen von inhaltlichen Rezeptionsprozessen untermauert werden, was hier nicht im globalen Maßstab geleistet werden kann. Erst dieser letztgenannte Punkt würde allerdings Aufschluss darüber geben, inwiefern die "editoriale Abhängigkeit" ein inhaltliches Pendant hat und so die Herausbildung eigenständiger lokaler Soziologien verhindert.

Zertifikation und Reproduktion wissenschaftlicher Gemeinschaften Ein weiterer Anhaltspunkt für Abhängigkeit, den Alatas nicht aufzählt, ist die Frage, wo das sozialwissenschaftliche Personal eines gegebenen Landes seine akademischen Weihen erhielt. Die Literatur gibt Hinweise darauf, dass wenig entwickelte Sozialwissenschaften für die Qualifizierung und die Zertifikation ihres Personals auf ausländische Institutionen angewiesen sind, weil vor Ort keine oder keine höheren akademischen Abschlüsse ermöglicht werden. Ähnlich wie im vorhergehenden Absatz vertrauen marginale Soziologien auch dann, wenn entsprechende Studiengänge vor Ort bestehen, auf den als höher eingeschätzten Standard und das Prestige ausländischer Universitäten. Leider besteht keine Möglichkeit, die akademische Herkunft einer genügend großen Anzahl in Afrika und in Lateinamerika lehrender und forschender Soziologinnen zu erfassen. Die Unesco-Datenbank DARE enthält zwar einige Informationen über "sozialwissenschaftliche Spezialistlnnen", jedoch ohne Angaben zur akademischen Herkunft. Um die Abhängigkeit von ausländischer Bildung abzuschätzen, könnten die Angaben der Unesco zu ausländischen Studierenden196 einen Einblick vermitteln. Diese Statistik enthält aber leider keine Ausweisung nach Disziplinen. Hier können zunächst nur die Eindrücke aus dem Schrifttum angeführt werden, die Frage soll aber weiter unten im Zusammen196 I Unesco (1999d) Tabelle 3.13, "Education at the third Ievel: number of foreign students eru·olled."

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hangmit der Fallstudie zu Südafrika im zweiten Teil der Arbeit wieder aufgegriffen werden. Jacques Gaillard befragte in den 1980er Jahren für sein DEA-Projekt 197 489 Forscherinnen aller Disziplinen in den Ländern des Südens und stellte fest, dass drei Viertel der untersuchten Population den Doktortitel in einem Industrieland erworben hatten. Von den Afrikanerinnen, die im eigenen Kontinent promoviert hatten, hatten 40% eine nigerianische Hochschule für diesen Abschluss gewählt - diese Vorrangstellung dürfte sich mit dem Niedergang des nigerianischen Wissenschafts- und Bildungssystems und dem Ende der Apartheid in den 1990er Jahren vermutlich entscheidend nach Südafrika verschoben haben - , von den Asiatlnnen, die in ihrem Kontinent promoviert hatten, 60% in Indien. Gaillard wertet das Ergebnis wohl richtig als wissenschaftliche Abhängigkeit. Obendrein stieg diese mit der Höhe des erworbenen Bildungsabschlusses, spiegelt also eindeutig Entwicklungsprobleme im Bereich von Promotionsprogrammen wider. 198 Drei Zielländer zogen allein 80% des wissenschaftlichen Nachwuchses an: 34% die USA, 26% Großbritannien und 20% Frankreich. Es folgten Australien mit sechs und Kanada mit 4%. Gegenüber den drei untersuchten Erdteilen, wo eine durchgängige Abhängigkeit auf der Ebene der Promotion festgestellt werden konnte, waren afrikanische Länder auch fli.r den Erwerb von Abschlüssen auf Graduiertenniveau auf das Ausland angewiesen. Zwar beziehen sich Gaillards Zahlen auf alle Disziplinen, doch kann angenommen werden, dass sich die Lage in den Sozialwissenschaften hiervon nicht grundlegend unterschied. Während Alice Abreu für neuere Zeiten eine Reihe von Promotionsprogrammen der Soziologie in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern anflihrt199, stellte die Unesco flir den afrikanischen Kontinent im Jahre 1999 eine anhaltende Dependenz von Promotionsmöglichkeiten im Ausland fest 200 . Dies bestätigen Ari Sitas und Teresa Cruz e Silva flir das südliche Afrika. 201

197 I Gaillard, Jacques (1987). 198 I "La dependance de l'etranger pour Ia formation est egalement directement proportionneUe au niveau du diplöme obtenu. Plus Je diplöme est eleve, plus Ia dependance est forte." Gaillard, Jacques (1987), S. 52. 199 I Abreu, Alice Range! de Paiva (2003). 200 I Unesco (l999c), S. 125. 201 I "Sociologists fi·om the south, until the 1970s received their training in B1itain and Portugal; Mamitius has been an exception that added 1ndia as a training destination. Since the l970s a shift has occuned where the United States and increasingly South Africa have become, alongside Britain, the main areas for the reproduction of academic training. At frrst it was South African scholars who, for financial reasons, started choosing local post-graduate degrees. By 1995, this patternwas replicated by many scholars from many neighbouring countries." Cruz e Silva, Teresa/Sitas, Ari (1996b): "lntroduction- Southem African social science in the late 20th century", in: Teresa Cruz e Silva/Ari Sitas, (1996a) (Hg.): Gatheting voices: perspectives on the social sciences in Southern Afi·ica, 1SA, o. 0 ., S. 11-19, S. 13.

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Der Trend gilt für alle Disziplinen und führt weiterhin dazu, dass die meisten Professorinnen an afrikanischen Universitäten ihre akademischen Weihen im Ausland erhalten?02 Die Annahme, Forschung und Lehre in anderen Teilen der Welt seien weitaus besser als in Afrika, motiviert auch dann zu einem Abschluss in Übersee, wenn vor Ort entsprechende Angebote bestehen?03 Hier überschneiden sich Probleme der Marginalität mit denen der Abhängigkeit. Die Studienerfahrung in Übersee verstärkt dabei wiederum die Außenorientierung (s. u.) und sorgt dafür, dass die dependenten Zustände aufrechterhalten werden. Denn die Befragten hatten, wie Gaillard in seiner Erhebung ebenfalls feststellte, persönliche Beziehungen ins Ausland aufgebaut, waren etwa geneigt, dort Konferenzen zu besuchen, in überseeischen Zeitschriften zu veröffentlichen und zu weiteren Forschungsaufenthalten in die Metropolen zu reisen. Dies verhinderte wiederum die Integration in eine lokale wissenschaftliche Gemeinschaft. 204 Ähnlich ist die starke Präsenz ausländischer Lehrkräfte auf dem afrikanischen Kontinent zu bewerten. 205

Mechanismen und Auswirkungen intellektueller Dependenz: "captive mind" und lokale soziale Irrelevanz Der Erwerb von Abschlüssen im Ausland, gekoppelt mit geringer lokaler Wissenschaftsentwicklung, hält wiederum die Abhängigkeit von überseeischen Inhalten aufrecht, in Form von Lehrbücherimporten oder der Übernahme von Theorien und Methoden, wie sie sich in der Konzeptualisierung von Forschungsvorhaben oder in der Zitierweise wissenschaftlicher Publikationen zeigt. Wie im historischen Teil oben angedeutet und unten etwas weiter ausge-

202 I Siehe die Evaluierung afrikanischer Promotionsprogramme: Szanton, David L./Manyika, Sarah (2002). 203 I Akiwowo fiel dieser Sachverhalt bereits in seiner Bestandsaufnahme von afrikanischen Soziologien aus dem Jahre 1980 auf. Vgl. Akiwowo, Akinsola (1980). Gaillard, Jacques (1994) bestätigte den Trend noch 1994. Außerdem verweist er darauf, dass eine Promotion im Heimatland aufgrund bürokratischer Regelungen oft sehr langwierig ist. 204 I Ähnliches stellte auch Zahlan fest: "The faculty of underdeveloped countries are isolated from each other. Though their contact with European and American institutions may be weak, it is nevertheless stronger than with each other. The absence of local traditions in professional fields enhances nostalgia for the graduate student days abroad. Whatever the faculty of a particular institution sees of another is generally tlu·ough the interposition of foreign institutions." Zahlan, A. B. (1969): "Problems of educational manpower and institutional development", in: Claire Nader/A. B. Zahlan (Hg.): Science and technology in developing Countriesproceedings of a conference held at the American University of Beirut/Lebanon 27. Nov.-2. Dec.1967, Cambridge University Press, S. 301-334, S. 304. 205 I Mkandawire meinte, ihre Konzentration sei hier höher als in jedem anderen Kontinent. Sie bildeten unter Umständen untereinander "Enklaven intellektuellen Diskurses", aus denen "lokale Forscherinnen ausgeschlossen" seien. Mkandawire, Thandika (1989), S. 2.

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fUhrt werden soll (siehe das historische Beispiel in Kapitel III), können die lateinamerikanischen Sozialwissenschaften von sich behaupten, zumindest für eine Periode etwa zwischen 1960 und 1980 sich von den früheren Einflüssen nordatlantischer Perspektiven durch eigenständige Theoriebildung erfolgreich distanziert zu haben?06 Akiwowo dagegen betrachtet kritisch die Abhängigkeit afrikanischer Soziologie von europäischen und US-amerikanischen Konzepten, die bereits mit den Lehrbüchern übernommen werden. Er verwendet zur Beschreibung dieses Tatbestandes den von S. H. Alatas geprägten Begriff des "captive mind". Parallel zu den politischen Verhältnissen bestünde auch in der Soziologie die koloniale Situation fort.Z07 Dies ist die am häufigsten als solche erkannte und bezeichnete Form der Dependenz?08 Mit dem Import überseeischer Soziologien hängt das in der Literatur, bei S. F. Alatas an erster Stelle, beklagte Problem der Irrelevanz erworbener Kenntnisse flir die Analyse lokaler Probleme zusammen. 209 Der Irrelevanz importierter Theorien, Konzepte und Methoden ist weiter unten nachzugehen, hier gilt es zunächst, den Mechanismus zu betrachten, über den Alatas zufolge die intellektuelle Dependenz zustande kommt. S. H. Alatas konzeptualisierte ein Problem, das er unter seinen asiatischen Kolleginnen beobachtet und das hier unter der Fragestellung der Dependenz zu behandeln ist, als "captive mind". Die intellektuelle Unselbständigkeit und der Einfluss nordatlantischer Ansätze wirkten in der Arbeit einzelner Soziologlnnen derart, dass diese in ihrem Denken "gefangen" oder "befangen" sind. Das Gegenteil des "captive mind" wäre das "creative mind", und Alatas Kritik ist gleichzeitig als Forderung nach mehr 206 I Hierzu siehe die entsprechenden Abschnitte. Abhängigkeit in Theorie und Metatheorie sahen Sol6r2ano Anguiano und Gonzalez G6mez für die Zeit bis Anfang der 1960er: "Hasta hace dos decadas o poco mas, las ciencias sociales en America Latina se hallaban en una situaci6n de casi completa dependencia, respecto de las norteamericanas y europeas; dependencia no s6lo cientifica, sino tambien, y especialmente, ideol6gica. Se copiaban casi acriticamente fines, interpretaciones, analisis e instrumentos metodol6gicos de las ciencias sociales occidentales, con adaptaciones de escasa importancia a Ia realidad latinoamericana. (Bis vor zwei Jahrzehnten oder etwas mehr befanden sich die lateinamerikanischen Sozialwissenschaften in einer fast kompletten Dependenzsituation in Bezug zu den nordamerikanischen und europäischen; nicht nur wissenschaftliche, sondem auch und insbesondere ideologische Dependenz. Absichten, Interpretationen, Analysen und methodologische Instrumente der westlichen Sozialwissenschaften wurden mit für die lateinamerikanische Realität kaum relevanten Allpassungen fast unkritisch übernommen)." Sol6rzano Anguiano, Juan/ Gonzalez G6mez, Andres (1979): Nueva sociologia (1994), Guadalajara, S. 9. 207 I Akiwowo, Akinsola (1980), S. 12. 208 I Etwa in folgendem Zitat: "A more significant manifestation of this dependence (than the existence of replicas of institutional forms borrowed from the metropolitan countries, W. K.) appears in the direction of research and teaching of the social sciences in Africa. Here Africa has still to wage a veritable battle for decolonisation." Mkandawire, Thandika (1989), S. l. 209 I Zahlan beschreibt diese Problematik im Blick auf den Mittleren Osten: Zahlan, A. B. (1969), S. 310.

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kreativer Eigenständigkeil im soziologischen Denken Asiens, wie des globalen Südens überhaupt, zu verstehen. Die Charakteristika des kritisierten Typs beschreibt er folgendermaßen: "What is a captive mind? Confining ourselves to the Asian context for convenience, a captive mind possesses the following characteristics: A captive mind is the product of higher institutions of learning, either at home or abroad, whose way of thinking is dominated by Western thought in an imitative and uncritical manner. A captive mind is uncreative and incapable of raising original problems. lt is incapable of devising an analytical method independent of current stereotypes. It is incapable of separating the particular from the universal in science and thereby properly adapting the universally valid corpus of scientific knowledge to the particular local situations. lt is fragmented in outlook. lt is alienated from the major issues of society. It is alienated from its own national tradition, if it exists, in the field of intellectual pursuit. Tt is unconscious of its own captivity and the conditioning factors making it what it is. lt is not amenable to an adequate quantitative analysis but it can be studied by empirical observation. It is a result ofthe Western dominance over the rest ofthe world."210 Wichtig ist dabei, dass mit "captive mind" nicht schlicht unkritisches tmd nachahmendes Verhalten von Soziologlnnen gemeint ist, sondern eines, das von einer "externen Quelle"211 - der nordatlantischen Soziologie - beherrscht ist. Die intellektuelle Abhängigkeit über Bücher oder über andere Medien wissenschaftlicher Kommunikation ist damit ein wichtiges Defmitionsmerkmal von Alatas Konzept. Insofern stellt sich das Problem in den Soziologien Westeuropas und Nordamerikas nicht, auch wenn dort ebenso unkritisches Nachahmen vorkommt. Das Gegenstück zum asiatischen "captive mind" in Europa etwa müsste folgendermaßen aussehen: "Where in Western civilization do we come across even a single mind trained entirely in the sciences from the Orient, reading books from the Orient by Oriental authors, going to a university run along by Oriental teachers, directly of indirectly by means of their books, dependent on libraries overwhelmingly stocked with Oriental books, using an Oriental langnage for higher study? The counterpart ofthe captive mind does not exist in the West."212

210 I Alatas, Syed Hussein (1974), S. 691. Von "Entfremdung" sprechen auch Sol6rzano Anguiano und Gonzalez G6mez im Zusammenhang mit der lateinamerikanischen Soziologie vor 1960: "Porque los europeos siempre han hecho ciencia europea, a partir de la cotidianeidad europea, nosotros s6lo hemos irnitado, alienandonos. (Da die Europäer immer schon europäische Wissenschaft vom europäischen Alltag ausgehend betrieben haben, haben wir sie lediglich imtie1i und uns dabei entfremdet)." So16rzano Anguiano, Juan/Gonzalez G6mez, Andres (1979), S. 15. 211 I Alatas, Syed Hussein (1974), S. 692. 212 I Alatas, Syed Hussein (1974), S. 691.

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Alatas richtet sich nicht grundsätzlich gegen die Übernahme soziologischer Ansätze, die durchaus nützlich sein kann. Die Aneignung sollte jedoch selektiv, konstruktiv und kreativ sein. Wie gesagt, handelt es sich um den in der Diskussion am stärksten hervorgehobenen Aspekt der Abhängigkeit und mit Alatas Arbeit liegt auch eine adäquate Konzeptualisierung des Problems vor, das sich durch diese Abhängigkeit fur die soziologische Tätigkeit ergibt. Dennoch entstehen, wie der Autor selbst zugab, methodische Schwierigkeiten bei der Verifizierung der Annahme im größeren Umfang. Die Fallstudie im zweiten Teil der Arbeit analysiert funf südafrikanische Werke mit Hinsicht auf ihre inhaltliche Dependenz in der Wahl des Forschungsgegenstandes, des konzeptuellen und theoretischen Rahmens sowie der Zitierweise. Nur so scheint eine adäquate Einschätzung des Problems möglich.

4. Zentrum und Peripherie: die Dimension von Marginalität und Zentralität Die Problematik von "Marginalität" und ,,Zentralität" bezieht sich stets auf ein Verhältnis. Durch das Beg~iffspaar wird die Beziehung zwischen gegebenen wissenschaftlichen Gemeinschaften und deren Produktion charakterisiert. Mit marginaler Sozialwissenschaft ist also nicht die Randständigkeit in Bezug auf die eigene Gesellschaft und ihre Akteure gemeint. Diese Art von Marginalitätelitäre Wissenschaft, lokale gesellschaftliche und wirtschaftliche Irrelevanz beziehungsweise "Wert-", "Nutzlosigkeit", Abkoppelung vom Produktionssystem - konzeptualisierte Polanco fur die Entwicldungsländer: Wegen fehlender Nachfrage aus dem ökonomischen System nach lokalem Wissen bliebe die dort praktizierte Wissenschaft marginalisiert von der Produktion. 213 Bei der Durchführung der Fallstudien bezogen einige Interviewpartnerinnen die Frage nach der Marginalität von Soziologie dementsprechend auf deren Loslösung von der eigenen Gesellschaft, ihren Problemen und den betroffenen oder verantwortlichen sozialen Akteuren. Dieser Sachverhalt wird hier als soziale Irrelevanz bezeichnet. Weiterhin verstanden einige Befragte Marginalität im Sinne von mangelndem Ansehen innerhalb der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und sprachen etwa von einer zunehmenden Marginalisierung der südafrikanischen Sozialwissenschaften durch nationale Prioritätensetzung im Bereich der Computer- und Informationstechnologie. Entgegen diesen beiden Definitionen von Marginalität bezieht sich hier das Konzept auf die Randsteilung gegenüber dem international dominanten soziologischen "Mainstream". Die Bezeichnung ist eine analytische und soll nicht als Werttuteil verstanden werden, wie dies etwa Polanco unterstellt, wenn er ,,marginal" mit ,,mittelmäßig", "ohne Bedeutung" gleichsetzt. 214

213 214

Vgl. Polanco, Xavier (1985). Polanco, Xavier (1990b).

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Für die zentrale Soziologie schlägt Ken Jubber - in Abgrenzung zum allgemein anerkannten disziplinären "Kanon"- auch den Begriff des "Emporium" vor - hiermit ist ein Sammelsurium an verfügbaren, bekannten Ansätzen gemeint, die der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung stehen und die größtenteils aus nordatlantischer Produktion stammen: "Almost, without exception, the major and most plentiful afferings in the emporium carry a made in USA, Germany, France or England Iabel. It is clear that the metropolises of the capitalist world dominate the emporium, the Western metropolises in particular."215 Das Verhältnis von Zentralität und Marginalität ist dabei nicht rein geographisch und auch nicht als absolute Zuschreibung zu verstehen, sondern stets als Verhältnis zwischen den bezeichneten Einheiten. So wird hier in sehr grobem Maßstab von hierarchischen Beziehungen zwischen ganzen Erdteilen ausgegangen. Das soll nicht heißen, dass nicht innerhalb eines Kontinents wiederum zentrale und marginale nationale Gemeinschaften und Soziologien unterschieden werden können, ebenso wie es innerhalb eines jeden Landes zwischen Institutionen und innerhalb von Institutionen zwischen angesehenen Autoritäten und den niedrigeren Rängen des Mittelund Unterbaus Hierarchien gibt, auf die die Beschreibung als zentral oder marginal zutreffen kann. Zentralität zeichnet die Soziologien aus, die international sichtbar und anerkannt sind, dominante Themen setzen, Diskurse bestimmen und durch ihr Ansehen und Prestige weltweit als der Kern der Disziplin gelten. Da es sich um ein Phänomen der gegenseitigen Anerkennung handelt, haben Definitionen von marginaler und von zentraler Wissenschaft zumeist tautologischen Charakter. Oftmals ist die zentrale Wissenschaft definiert als der internationale "Mainstream", womit dann die Publikationen gemeint sind, die in die !SI-Datenbanken aufgenommen wurden, so bei Subbiah Arunachalam oder bei Jacques Gaillard. 2 16 Diese Datenbanken jedoch sind der "Mainstream" und bestimmen ihn gleichzeitig. S. F. Alatas legt eine Definition des Zentrums vor, wonach es im Wesentlichen "Einfluss ausstrahlt"m , - das läuft aber auf eine ebenso tautologische Begriffsbestimmung hinaus. Mit Jubber kann davon ausgegangen werden, dass diese Charakteristik auf Teile der nordatlantischen Soziologien, jedoch selten oder gar nicht auf die des Südens zutrifft. Es stellt sich jedoch die Frage, was passiert, wenn eine ausreichend große wissenschaftliche Gemeinschaft diese Zentralität nicht anerkennt. Tatsächlich funktioniert nämlich die Gegenüberstellung von zentraler und marginaler Wissenschaft nur, solange alle Beteiligten

215 I Jubber, Ken (2005): "Canon and context: is sociology only about Marx, Weberand Durkheirn?". Paper presented at the Annual Congress of the South African Sociological Association, University of Lirnpopo, Polokwane, 26.-29.6.2005, S. 8. 216 I Arunachalam, Subbiah (1996); Gaillard, Jacques (1987), S. 9. 217 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 603 .

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eine gemeinsame Arena des Wettbewerbs218 anerkennen. Innerhalb dieser anerkannten Arena können sie dann um Rang und Ansehen wetteifern oder ihre Marginalität beklagen. Sobald jedoch die Orientierung sich zu einer alternativen Arena hin verschiebt- lokale oder regionale wissenschaftliche Gemeinschaften, außeruniversitäre Kreise - ist auch die Unterscheidung von zentral und marginal außer Kraft gesetzt. In diesen alternativen, vom globalen Zentrum-Peripherie-Muster abgekoppelten Arenen wirkt die nordatlantische Sozialwissenschaft nicht mehr hegemonial. Angesichts der Angaben zu sozialwissenschaftlicher Buchproduktion wäre denkbar, dass dies für China der Fall sein könnte. Auch die lateinamerikanische wissenschaftliche Gemeinschaft ist relativ gut integriert, verfügt über eine Reihe regionaler Foren, und es mag sein, dass sich Teile in ihrer Orientierung vom nordatlantischen Zentrum so weit abgewendet haben, dass sie die Gegenüberstellung von zentraler und marginaler Soziologie aufheben. Derartige Phänomene sind der Kern des hier vorgeschlagenen Konzepts der Konterhegemonialität (siehe Kapitel III). Für eine Diskussion des Problems im Weltmaßstab wird hier zunächst von der nordatlantischen Soziologie als dominant in der internationalen Arena ausgegangen. Diese Annahme stützen entsprechende Aussagen im Schrifttum, sie kann weiterhin durch verschiedene empirische Indikatoren überprüft werden. Die in der verfügbaren Literatur behandelten Beispiele beziehen sich mehrheitlich nicht speziell auf die Sozialwissenschaften, werden hier aber dennoch angeführt, da das Problem von Zentralität und Marginalität kein spezifisch sozialwissenschaftliches ist und bisher kaum empirische systematische Arbeiten vorliegen.

Internationale bibliographische Datenbanken: Indikator für Marginalität und Instrument der Marginalisierung Ein beliebtes Instrument der Wissenschaftsforschung zur Messung des Beitrags einzelner Autorlnnen, Institutionen oder Länder zu den Disziplinen beziehungsweise zur Bewertung von deren Sichtbarkeit in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, ist die Wissenschaftsmetrie, insbesondere die Bibliometrie. Bibliometrische Analysen arbeiten mit Datenbanken, die wissenschaftliche Produktion, in der Regel in der Form von Zeitschriftenartikeln, er218 I Shinn spricht in seiner Analyse der französischen Wissenschaft von "arenes de diffusion", und unterscheidet etwa "traditionelle Diffusionsarenen" für Wissenschaft - Spezialzeitschriften, Fachkonferenzen usw. - von der "industriellen Diffusionsarena", das heißt der Übertragung von Forschungsergebnissen aus der Wissenschaft in die Industrie. Vgl. Shinn, Terry (2000): "Axes thematiques et marches de diffusion. La science en France, 1975-1999", in: Sociologie et Societe 32 Nr. 1, S. 43-69. Das Konzept der "Arena" ist durchaus geeignet, die verschiedenen Ausrichtungen und die Prioritätensetzungen flir sozialwissenschaftliche Produktion und Kommunikation - auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene, aber auch zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Akteuren -zu unterscheiden.

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fassen und diese nach Kriterien wie Thematik, Jahr und Ort der Erscheinung oder Autorirr auswerten. Obendrein erstellen sie Referenmetzwerke zwischen den erfassten Artikeln, die es erlauben nachzuvollziehen, wie oft welcher Text von welchen Autorinnen zitiert wurde. Das Erstellen von Zitiernetzwerken zur Verortung einzelner Forscherinnen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist eine der häufigsten Nutzungsarten dieser Datenbanken und wird bisweilen zm Evaluierung der Stellung einzelner Wissenschaftlerinnen oder Institutionen herangezogen, dies insbesondere in den Naturwissenschaften. Die am häufigsten genutzten und gleichzeitig fiir die Zwecke dieser Arbeit unzuverlässigsten "internationalen" Datenbanken sind die des "Institute for Scientific Information" in Philadelphia, "Science Citation Index" (SCI) für die Natur- und "Social Science Citation Index" (SSCI) für die Sozialwissenschaften. Weiterhin kommen "Cambridge Sociological Abstracts" und die stärker frankophon mientierte Datenbank FRANCIS in Frage. Herkömmliche bibliometrische Methoden sind dabei gerade für die Analyse von Wissenschaft an der Peripherie sehr problematisch, was Xavier Polanco dazu veranlasst, in ihrer Nutzung einen gewissen "Agnostizismus" an den Tag zu legen. 219 Die Beiträge zu dem sehr umfassenden Band "Les indicateurs de science pour !es pays en developpement" diskutieren in allen Einzelheiten die Problematik, die hier nur kurz umrissen werden soll. 220 Indices enthalten Artikel aus den weltweit am häufigsten zitierten Zeitschriften. Zweifelsohne ergibt sich aus diesem Auswahlkriterium ein Automatismus, denn die Aufnahme in einen solchen Index bedeutet gleichzeitig erhöhte Sichtbarkeit und damit wiederum erhöhte Chancen, zitiert zu werden. Die Sozialwissenschaften nutzen überdies neben Zeitschriftenartikeln verschiedene andere Medien. Gerade größere Arbeiten werden oft in Buchform veröffentlicht und daher in manchen bibliographischen Datenbanken, etwa im SSCI nicht erfasst. Obendrein variiert die Neigung zu der einen oder anderen Form von Veröffentlichung nach Ländern, so dass ei219 I "Pour ce genre de donm!e- je parle ici de donnee bibliomettique - , il convient d'etre prudent et de tenir probabierneut compte de l'incidence de facteurs varies comme la Iangue, les erreurs dans l'attribution de Ia nationalite des auteurs, la localisation des banques de donnees, le niveau de couverture de la presse scientifique locale, et ce phenomi'me de concentration qu'est la Iitterature scientifique dite mainstream. 11 est dorre sain de faire preuve d'un certain agnosticisme quarrt a une croyance bibliometrique trop forte, dans I' analyse de Ia Iitterature scientifique et de son irnpact comme mesure de l'activite scientifique d'une communaute scientifique nationale surtout si celle-ci appartient aIa peiipheiie de Ia science-monde." Polanco, Xavier (1990b), S. 37. 220 I Arvanitis, Rigas/Gaillard, Jacques (1992): Les indicateurs de science pour les pays en developpement, Actes de Ia conference internationale sur !es indicateurs de science dans les pays en developpement, ORSTOM/CNRS, 15.19.10.1990, Paris. Siehe auch Frame, Davidson (1985): "Problems in the use ofliterature-based S&T indicators in developing countries", in: Hiroko Morita-Lou (1985) (Hg.): Science and technology indicators for development, Proceedings of the Panel of Specialists ofthe United Nations Advisory Committee on Science and Technology for Development, Graz/Austria, 2-7.5.1984, London, S. 117-121.

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nige aufgrund ihrer Veröffentlichungspraxis im SSCI vernachlässigt werden. Überhaupt unterstellt die Bibliometrie, dass nur, was auf konventionellem Wege veröffentlicht wurde, als Wissenschaft zählt. Dies ist gerade in Afrika und Lateinamerika problematisch, wo eine Reihe von Arbeiten als graue Literatur erscheint und wo Gesellschaftsanalyse auch in literarischen und politischen Schriften geleistet wird. Auch die in Lateinamerika - trotz Institutionalisierung und Durchsetzung der Soziologie als akademischer, wissenschaftlicher Disziplin - praktizierte ältere Form des "literarischen Essays", nicht selten veröffentlicht in populären Blättern, an dem einige weiter festhalten, wird so übergangen. 221 Gerade unter repressiven Bedingungen gelingt es lokalen wissenschaftlichen Gemeinschaften aber auch, auf übliche Kommunikationsmedien weitgehend zu verzichten und die wirklich wichtigen Dinge mündlich zu kommunizieren. Die Fallstudie zu "Labour Studies" unter der Apartheid im zweiten Teil dieser Arbeit zeigt dies deutlich. Schließlich fällt die im Fall von SSCI und "Sociological Abstracts" stark englischsprachige, im Fall von FRANCIS frankophone Orientierung auf, welche anderssprachige Veröffentlichungen vernachlässigt. Analysen der Indices zur Herkunft von Artikeln zeigen, dass die erfasste wissenschaftliche Produktion weltweit hochgradig konzentriert ist. Zehn Länder produzieren mehr als vier Fünftel der im SCI erfassten wissenschaftlichen Literatur- außer Indien, das seit den 1970er Jahren weltweit an achter Stelle liegt, ausschließlich Industrieländer. Auf die gesamte "Dritte Welt" entfallen weniger als 5% der enthaltenen Publikationen. 222 Was die Sozialwissenschaften betrifft, entfallen auf zehn Prozent aller Länder 90% der im SSCI enthaltenen Artikel. 223 Aus Afrika und Lateinamerika sind kaum Einträge vorhanden, und diese werden zudem von anderen noch weniger zitiert, als ihre Anzahl erwarten ließe.Z24 Fälschliehetweise schließen bibliometrische Arbeiten daher nicht selten auf die geringe wissenschaftliche Produktion des globalen Südens. Zentral für diese Arbeit ist jedoch die Einsicht, dass diese Datenbanken gerade nicht die reale Produktion widerspiegeln, sondern den Grad ihrer Zentralität beziehungsweise Marginalität. Die Ersteller der Indices bestimmen durch ihre Auswahl, welche Zeitschriften und Artikel zentral sind, dem "Mainstream" angehören, und welche für die internationale Gemeinschaft unbedeutend sind. Das heißt, diese Datenbanken sind gleichzeitig ein Indikator für Marginalität und ein Instrument der Marginalisie221 Vgl. Vessuri, Hebe (1999b). 222 Vgl. Gaillard, Jacques (1989). 223 Siehe dazu Pouris, Anastassios (1995): Mapping of social sciences and arts and humanities research in South Africa, 1981-1993. Consultancy for the HSRC, Pretoria. 224 I Arunacha1am, Subbiah (1996). Vgl. auch Arunachalam, Subbiah (1992): "Peripherality in science: what should be done to he1p periphera1 science get assimilated into mainstrearn science?", in: Arvanitis/Gaillard ( 1992) (Hg.) S. 67-77.

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rung wissenschaftlicher Produktionen verschiedener Forscherlnnen, Institutionen und Länder. Sie wirken im Dienste nordatlantischer Dominanz: "En verite, definir I' activite scientifique par Ia Iitterature qu 'eile produit et garder le monopole et de Ia presse et des bases de donnees ou Ia Iitterature scientifique est stockee, triee et analysee, constitue une des plus helles operations ,d'accumulation' que l' on puisse imaginer, dans le but de s'assurer l'hegemonie et le contröle d'un tel systeme de communication."225 So arbeitete Gaillard heraus, dass der "Science Citation Index" von insgesamt etwa 70.000 wissenschaftlichen Zeitschriften nur 3.100 überhaupt erfasst, also höchst selektiv nur die bereits sichtbarsten, das heißt die bekanntesten, prestigeträchtigsten und am häufigsten zitierten Blätter überhaupt berücksichtigt. Nur 2% davon werden in Ländern der so genannten "Dritten Welt" herausgegeben?26 Der Veröffentlichungsort beeinflusst also stark die Anzahl der Zitationen auf einen gegebenen Text, und Gaillard stellt zurecht die Frage: Was will man messen227? Offensichtlich eignen sich Datenbanken wie der SSCI wenig zur Einschätzung der realen Produktion einzelner Länder. Hier werden sie jedoch herangezogen, um die weltweite Polarisierung in zentrale und marginale Soziologie darzustellen. Hierfür eignen sich die Suchfelder "Author Address" oder "Author Affiliation" der jeweiligen Datenbank, in die für die hier vorgestellten Untersuchungen die Ländernamen eingegeben wurden. Die so erzielten Suchergebnisse stellen die Gesamtzahl erfasster Publikationen aller Autorinnen oder Koautorinnen aus einem bestimmten Land dar. In einer Untersuchung solch umfangreichen Datenmaterials können manche unvermeidliche Fehler nicht korrigiert werden, auf die hier eingangs hingewiesen werden soll. So ergaben sich Fehlerquellen der Art, dass "Panama" als Wort aus der Autorenadresse auf ein Institut in der "Panama Street" einer US-amerikanischen Stadt verwies. Artikel von Wissenschaftlerinnen am "Argentinian Institute for the Antarctica" in Buenos Aires tauchen auf der Suche nach Autoraffiliation in der Antarktis auf. "Georgien" erbrachte Suchergebnisse aus dem Bundesstaat Georgia, USA. Häufig, gerade bei US-amerikanischen Adressen, war das Land in der institutionellen Herkunft des Autors gar nicht angegeben, sondern diese beschränkte sich auf Anschrift und Bundesstaat. So ergaben sich "keine Daten" bei der Suche über die "Sociological Abstracts". Schließlich stellt sich bei einigen Ländern das Problem, dass mehrere Landesbezeichnungen üblich sind, etwa "England", "UK" und "GB" oder "Great Britain", wobei unter Umständen die Schottinnen Schottland als Adresse angaben. Schließlich enthalten die Indizes auch Einträge, die keine Autorinnenadresse präzisierten und in die 225 I Polanco, Xavier (1990b), S. 43. 226 I Gaillard, Jacques (1989), S. 636. Woher die Angabe von 70.000 Zeitschriften stammt, bleibt unklar; wieso er aus der Selektivität schließt, dass die vernachlässigten nationalen Produktionen gar nicht so marginal sind, wie angenommen, ist vom Standpunkt dieser Arbeit aus unverständlich. 227 I Gaillard, Jacques (1989), S. 637.

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hier präsentierte Erhebung daher nicht eingerechnet wurden. Aufgrund der Möglichkeit, dass ein Beitrag von mehreren Autorinnen aus verschiedenen Ländern verfasst wurde, addieren sich die zusammengerechneten Zahlen nicht zur Gesamtzahl erfasster Beiträge. Angesichts all dieser Fehlerquellen sollten die erzielten Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden. Eine Tabelle mit sämtlichen hier verwandten bibliometrischen Statistiken findet sich im Online-Anhang "SOZTALWTSS. GLOBAL". Der "Social Seiences Citation Index" umfasst alle Gebiete der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften unter Einschluss von Sozialmedizin und Psychologie. 228 Er wertet regelmäßig 1.700 der "weltweit wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften" aus229 . Über den online-Zugang der Universitätsbibliothek Freiburg standen die Jahrgänge 1992 bis 1997 zur Verfügung. Die Eingabe des Ländernamens in das Suchfeld "Author Address" erlaubte es, die Gesamtzahl aller Beiträge von Autorinnen zu erfassen, die institutionell in dem gefragten Land beheimatet waren. Auch für diese Statistik eignet sich die Darstellung in Form von Weltkarten zur Veranschaulichung globaler Ungleichheiten. Für den SSCI ergab sich demnach die in Karte 3 dargestellte Verteilung. Prägnanter könnte man das Zentrum-Peripherie-Modell nicht illustrieren. Der SSCI enthält 366.828 Artikel von Autorinnen beziehungsweise von zumindest einem von mehreren Koautoren, die an eine US-amerikanische Institution angebunden sind. Das Land bestreitet damit alleine mehr als die Hälfte (58%) aller Einträge. Es folgen mit beträchtlichem Abstand Großbritannien (71.606) und Kanada (40.573). Einer Einteilung in fünf Kategorien mit gleichen Abständen zufolge erscheinen diese beiden Länder in einer Kategorie mit allen anderen Nationen, darunter 47 Länder, die mit lediglich zehn oder noch weniger Beiträgen in diese Statistik aufgenommen wurden. Dies belegt einerseits die hochgradige Dominanz USamerikanischer Sozialwissenschaft in diesem Index, andererseits heißt es aber auch, dass innerhalb all deljenigen Länder, die hier als peripher erscheinen, wiederum enorme Unterschiede bestehen, die die Karte indessen verdeckt.

228 I So die dahingehende Beschreibung auf der Zugangsseite zu der Datenbank, http://www. bibliothek. uniregensburg.de/dbinfo/einzeln.phtml?bibid= ubfre&titelid=863 (August 2002). 229 I "The Social Seiences Citation Index is a multidisciplinary database of journalliteratme ofthe social sciences. ( ... ) (lt) covers 1.700 ofthe world's most significant social science journals spanning 60 disciplines, as well as selectively covering items from over 5.600 science journals related to the social sciences. The SCCl (... ) covers more than 125.000 new items each year." Social Science Citation lndex, http://www-fr.redi-bw.de/session!SSC1-4667830f.html (August 2002).

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Karte 3: Weltweite sozialwissenschaftliche Produktion laut "Social Science Citation Index" in absoluten Zahlen, 1992-1997

Quelle: SSCI Country in "Address Word" So nehmen die USA und Kanada zusammen 64% der Beiträge ein und Westeuropa230 25%. Hier dominiert Großbritannien, gefolgt von Deutschland (21.191 ), den Niederlanden (11.766) und Frankreich (11.733). Diese Nationen sowie Australien (20.662) sind die wenigen, die insgesamt mit mehr als I 0.000 Beiträgen in der Datenbank vertreten sind. Die Vorrangstellung des Englischen ist aus diesen Zahlen ebenso abzulesen. Die beiden hier interessierenden Kontinente übersieht das "Institute for Scientific Information" großzügig: Artikel aus dem afrikanischen Erdteil machen nicht einmal ein Prozent (0,9%) der erfassten Publikationen aus und die aus Lateinamerika etwa ein Prozent. Innerhalb Afrikas sticht Südafrika mit 2.762 Nennungen hervor, gefolgt von Nigeria (667). Von 49 afrikanischen Nationen kamen nur zehn aufmehr als 100 Einträge im SSCI. Lateinamerikas Größen sind Brasilien (1.793) und Mexiko (1.630), gefolgt von Jamaika (721). Von den 26 Ländern auf diesem Erdteil waren acht mit mehr als 100 Einträgen für Autorenadressen erfasst. Dies zeigt, dass auch innerhalb der ohnehin schon extrem marginalisierten Kontinente noch einmal große Unterschiede bestehen. FRANCIS ist eine "internationale, fächerübergreifende Datenbank zu den Geistes- und Sozialwissenschaften ( ... )"231 und gewissermaßen das 230 I Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Island, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und die Schweiz. 231 I So die Kurzbeschreibung des Inhalts aus der Zugangsseite zur Datenbank, http://www.bibliothek.uni.regensburg.de/dbinfo/einzeln.phtml?bibid=alle& titelid=656 (August 2002). Das "Institut de !'Information Scientifique et Technique" am "Centre National de Ia Recherche Scientifique", Herausgeber der Datenbank, beschreibt die Inhalte detaillierter: "FRANCIS is a 1.5 millionrecord, bibliographic database covering humanities and social science topics from an international perspective. These topics or component databases include: Bibliography of the History of

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französischsprachige Pendant zum SSCI, erfasst aber auch Bücher, Dissertationsschriften, Konferenz- und Forschungsberichte. Die Suche nach der Herkunft von Autorlnnen, deren Publikationen hier erfasst sind, ergab die Verteilung, die in der Karte 4 wiedergegeben ist.

Karte 4: Weltweite sozialwissenschaftliche Produktion laut FRANCIS in absoluten Zahlen, 1984-2005

Quelle: FRANCIS Country in "Author Affiliation" FRANCIS wirkt etwas ausgeglichener als der SSCI: 44% aller Autorinnen stammen aus US-amerikanischen Einrichtungen (310.734), zusammen mit denen aus Kanada (49.441) demnach 51% aus Nordamerika. Dagegen waren an westeuropäische Institutionen 34% der Autorinnen angebtmden. Hier tritt entsprechend der sprachlichen Priorität Frankreich mit 108.557 an weltweit der zweiten Stelle hervor, gefolgt von England (80.447) und Deutschland (44.505). Im Ganzen machten die Autorinnen aus Lateinamerika hingegen nur 2,3% aus, auch hier standen Brasilien (5.570) und Mexiko (4.436) ganz vom. Immerhin kamen in FRANCIS 13 lateinamerikanische Länder über die Grenze von I 00 Einträgen. Sämtliche Autorinnen aus afrikanischen Institutionen dagegen erhalten in dieser Statistik 1,5%. Wieder stehen Südafrika (3.781) und Nigeria (1.337) an vorderster Stelle, deren Vorrangstellungen auf dem Kontinent auch durch sprachliche Prioritäten nicht relativiert worden sind. Insgesamt 17 Nationen des Erdteils sind mit mehr als 100 Autorenadressen verzeichnet. Im Unterschied zum SSCI Art( ... ) Psychology, Information Science, Administration, Latin America, Archaeology, Ethnology, Geography, Business Management, History of Science and Technology, History and Science of Religion, Linguistics, Literature, Philosophy, Prehistory and Protohistory, Sociology, and Education. Citations include joumal articles, conference papers, books, repotts, and doctoral dissertations." FRANClS, lNISTCNRS, 2001.

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fallen die französischsprachigen Gebiete Afrikas hier etwas stärker ins Gewicht (der Maghreb, Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Kamerun und Senegal). Auch in FRANCIS ist also eine starke geographische Konzentration der erfassten Beiträge auf die nordatlantische Zone offensichtlich. Die von den "Cambridge Scientific Abstracts" edierten "Sociological Abstracts" fUhren speziell soziologische Literatur auf - Zeitschriften, Kongressbeiträge, Monographien, und Dissertationen232 - und sind daher für die Zwecke dieser Arbeit besonders interessant. Zudem decken sie einen großen Zeitraum ab und ermöglichen die Suche nach der institutionellen Anhindung des Autors. Eine Analyse zu zwei unterschiedlichen Untersuchungszeiträumen vermag es, eventuelle Verschiebungen in der Gewichtung einzelner Länder im Laufe der Jahre aufzuzeigen. Für den ersten gewählten Zeitraum, 1960-1970, liegen allerdings zu vielen Ländern keine Einträge vor, weil diese in ihrer heutigen Form noch gar nicht existierten (Osteuropa, ehemalige Sowjetrepubliken, Afrika usw.). Das Problem überlappender geographischer Einheiten des genutzten Kartographieprogramms mit heutigen nationalen Gegebenheiten musste unbefriedigend gelöst werden, indem nach den heute gängigen Landesbezeichnungen gesucht und bei fehlenden Angaben diese mit "0" wiedergegeben wurden. Diese Vorgehensweise gilt im Übrigen auch für die frühen Jahrgänge der beiden bereits behandelten Datenbanken. Für den weltweiten Vergleich am stärksten wirkt sich das vermutlich auf die Regionen der ehemaligen Sowjetunion aus. Angaben zu Adressen, die heute in die "ehemaligen Sowjetrepubliken" fallen, sind hier alle unter "Russland" verzeichnet. Zu den USA konnten keine Angaben erhoben werden, weil die dortigen Autorinnenadresse sich meist auf die Straße und Stadt, eventuell den Bundesstaat beschränkten, was ftir die Analyse sehr nachteilig ist. Weiter unten ist auf die Zahlen zu ausgewählten US-amerikanischen Adressen kurz einzugehen, um diese ins Verhältnis zum Rest der Welt zu setzen. Die Zahlen für 1960 bis 1970 sind in Karte 5 veranschaulicht. Da zu den USA also keine Angaben verfügbar sind, wirkt die Verteilung auf den ersten Blick etwas anders als in den bisher betrachten Datenbanken. Jedoch marginalisiert "Sociological Abstracts" in diesem frühen Zeitraum die südlichen Kontinente hochgradig. So nehmen hier die westeuropäischen Nationen 66% des erfassten Weltanteils ein - Großbritannien mit 4.701 und Frankreich mit 1.991 Referenzen machen den Hauptanteil 232 I "CSA Sociological Abstracts abstracts and indexes the international Iiterature in sociology and related disciplines in the social and behavioral sciences. The database provides abstracts of joumal articles and citations to book reviews drawn from over 1,800 serial publications, and also provides abstracts of books, book chapters, dissertations, and conference papers." http://ohl.csa.com/ factsheets/socioabs-set-c.php (August 2002).

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aus, alle anderen Länder liegen unter 1.000. Auf Lateinamerika entfallen 7,8 Prozent, bereits nach 1960 standen Mexiko (326) und Brasilien (226) an vorderster Stelle. Sämtliche afrikanischen Länder zusammen erhielten 2,4 Prozent, das heißt, ihre Quote gleicht der von Kanada. Südafrika stand mit 71 Autorenadressen an erster Stelle. Aus der Karte geht außerdem das große Gewicht Indiens im Weltmaßstab hervor: Mit 1.051 erfassten heimischen Autorinnen lag dieses Land nach England und Frankreich an dritter Stelle, unter Ausschluss der USA wohlgemerkt. Karte 5: Weltweite sozialwissenschaftliche Produktion laut "Sociological Abstracts" in absoluten Zahlen, 1960-1970

Quelle: Sociological Abstracts Country in "Author Affiliation"

Für die letzten zehn Jahre verschiebt sich der Gesamteindruck in einigen Punkten. Das globale Bild der in den "Sociological Abstracts" erfassten Autorinnen für die Jahre von 1995 bis 2005 ist in Karte 6 wiedergegeben. Danach hat sich der registrierte Output insgesamt mehr als verdoppelt gegenüber dem Zeitabschnitt von 1960 bis 1970. Die kontinentalen Gewichtungen, wiederum unter Ausschluss der USA, haben sich leicht ausgleichend verschoben, was unter anderem mit dem Aufstieg Australiens zusammenhängt, das mit 5.456 erfassten Autorenadressen nunmehr weltweit an zweiter Stelle steht. Der europäische Anteil macht 63% aus, England liegt weiterhin weltweit an erster Stelle ( 19 .592), gefolgt von Deutschland (5.304), Frankreich (4.583), den Niederlanden (3.819) und Italien (2.470). Die Zahlen zeigen, dass bis auf den Fall Großbritanniens die Abstände zwischen den relativ stark vertretenen Ländern nicht mehr ganz so groß sind. Weltweit an siebter Stelle liegt Mexiko (2.373), an achter Israel und an neunter Brasilien. Der lateinamerikanische Kontinent kommt insgesamt auf 8,5% der erfassten Autorlnnen, was einen leichten Anstieg gegenüber der Periode 1960-1970 (7,8%) bedeutet. Die internen Unterschiede sind

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hier jedoch nach wie vor sehr groß: Nach Mexiko und Brasilien folgen Argentinien (508) und Venezuela (456) mit nur etwa einem Viertel des brasilianischen Anteils. Auch für Afrika hat sich der globale Anteil leicht erhöht (2.427, das heißt 3,3% gegenüber 2,4% im Zeitraum 1960-70) und entspricht nun etwa dem Italiens. Die Hierarchien innerhalb des Kontinents sind dagegen wesentlich größer als im vorherigen Zeitabschnitt und auch größer als in Lateinamerika. Südafrika mit 1.293 ist mehr als vier Mal so stark repräsentiert wie Nigeria (279), was den Niedergang des nigerianischen Wissenschaftssystems widerspiegeln mag. Ansonsten gelangen nur Kenia und Botswana über die "1 OOer Grenze".

Karte 6: Weltweite sozialwissenschaftliche Produktion laut "Sociological Abstracts" in absoluten Zahlen, 1995-2005

Quelle: Sociological Abstracts Country in "Author Affiliation" Die Zahlen zeigen also, dass sich im historischen Vergleich die Verhältnisse zwischen den Kontinenten etwas ausgeglichen haben, wenn auch in sehr bescheidenem Maße. Bei der Interpretation der Daten aus den "Sociological Abstracts" muss jedoch die Verzerrung berücksichtigt werden, die der Ausschluss der USA aus der Gesamtrechnung mit sich bringt. Um dennoch einen Eindruck von der Masse der verzeichneten US-amerikanischen Beiträge zu erhalten, können hier probeweise einzelne Städte oder US-Bundesstaaten eingegeben werden. Eine derartige Erhebung schlägt sich in den Zahlen nieder, die in Tabelle 2 aufgenommen worden sind. Zwischen 1960 und 1970 entfielen lediglich auf Großbritannien (4.701) mehr Einträge in den "Sociological Abstracts" als auf die Stadt New York. Von Wissenschaftlerinnen aus dem Bundesstaat Kalifornien waren mehr Veröffentlichungen erfasst als aus Frankreich, Indien oder Deutschland. Aus Washington kamen etwa so viele wie aus Frankreich, aus Chicago wie aus Indien oder aus dem gesamten Lateinamerika. Der Wert von Wisconsin alleine lag immer noch mehr als doppelt so hoch wie der von ganz Af-

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rika. In den Jahren 1995 bis 2005 lag Kalifornien weltweit an zweiter Stelle hinter England, New York folgte an dritter. Washington war in den "Sociological Abstracts" etwa so oft als Autorenadresse angeben wie die Niederlande, Chicago wie Italien, das wiederum immer noch höher eingestuft war als der gesamte afrikanische Kontinent. Offensichtlich hätten sich also die globalen Verhältnisse enorm verschoben, hätten die Einträge aus den USA insgesamt erfasst werden können. Tabelle 2: Sozialwissenschaftliche Produktion ausgewählter US-amerikanischer Städte und Bundesstaaten

Stadt oder Staat NewYork Kalifornien Washington Chicago Berkeley Philadelphia Wisconsin

1960 bis 1970

1995 bis 2005

2.677 2.170 1.937 1.169 993 954 913

5.927 8.134 3.774 2.517 1.640 1.365 1.861

Quelle: Sociological Abstracts Den hier augewandten bibliometl;schen Indikatoren für Marginalität gebricht es an einer entscheidende Schwäche: Nachdem weiter oben auf die Entwicklungsprobleme afrikanischer und lateinamerikanischer Sozialwissenschaften hingewiesen worden ist, ist nun unklar, inwiefern die höchst polarisierten Verhältnisse in den Datenbanken in erster Linie eine Auswirkung der Marginalisierung darstellen, oder inwiefern sie vielmehr mit den tatsächlichen Produktionsdaten korrelieren und so also den niedrigen Entwicklungsstand in den südlichen Kontinenten widerspiegeln. Denn wenn ein Land über keine periodischen Veröffentlichungsorgane verfügt, kann es natürlich nicht in derartigen Datenbanken präsent sein. Eine systematische Erhebung zu dieser Frage ist unmöglich, da keine Quelle verlässliche Daten über die Anzahl von Zeitschriften je Land bereit hält. Eine Notlösung ist der Rückgriff aufDARE. Wie schon dargetan, stellt die Unesco-Datenbank DARE Informationen über sozialwissenschaftliche Institutionen und Zeitschriften weltweit zur Verfügung. Die hier enthaltene Auswahl kann als "Zufallsstichprobe" angesehen werden. Um den Aufwand etwas zu begrenzen, beschränkt sich die folgende Analyse auf einen Abgleich afrikanischer Zeitschriften in DARE mit ihrer Präsenz in den bisher untersuchten Bibliographien. Die Suche nach afrikanischen Zeitschriften in der Datenbank DARE ergab eine Aufstellung von 280 Titeln. Die meisten der aufgeführten Blätter können

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auf ein langjähriges Bestehen zurückblicken, sind also nicht dem "Volume One, Number One"-Syndrom zum Opfer gefallen. Interessant ist nun, wie viele von ihnen in den drei verwendeten Indizes erfasst sind. Sollte dies nicht der Fall sein, ist zumindest ein Anhaltspunkt dafür gegeben, dass die beobachtete Polarisierung - die oben als Indikator für Marginalität angesehen worden ist - , tatsächlich als solcher gelten muss, und dass sie nicht durch wissenschaftliche Unterentwicklung hervorgerufen worden ist, das heißt durch das tatsächliche Fehlen sozialwissenschaftlicher Zeitschriften in diesen Ländern. Von den 280 afrikanischen Zeitschriften kennt der SSCI im Zeitraum von 1992 bis 1997 genau zwei, nämlich: das seit 193 3 bestehende "South African Joumal of Economics" - 217 Einträge im SSCI stammen aus dieser Zeitschrift - sowie die südafrikanische Zeitschrift "African Studies", die seit 1921 zunächst unter dem Titel "Bantu Studies" erschien. Die Marginalisierung afrikanischer Produktion in dieser Datenbank ist somit eindeutig. Interessant ist außerdem, dass die regional spezialisierte "African Studies" hier erfasst wurde. Dies bestätigt die unten formulierte Hypothese, dass überseeische Sozialwissenschaft in erster Linie an der lokalen Spezialisienmg auf Afrika interessiert ist, woraufunten in den Abschnitten zu ungleicher Arbeitsteilung zurückzukommen ist. FRANCIS hat seit 1984 von den 280 immerhin 32 Blätter erfasst, etwas weniger als ein Achtel. Das ist im Vergleich zum SSCI schon erheblich. Außerdem sind relativ viele Nationen vertreten, mit dem Akzent auf dem frankophonen Afrika: Artikel aus einer ägyptischen und einer malischen, zwei nigerianischen und senegalesischen, drei algerischen, kenianischen und marold\:anischen, vier kongolesischen, fünf tunesischen und acht südafrikanischen Zeitschriften sind über FRANCIS auffindbar. Es handelt sich also um einen für den "schwarzen Kontinent" repräsentativeren Index als der "Social Science Citation Index"; dennoch bleibt auch hier die Mehrheit der über DARE erfassten Organe unsichtbar. Den "Sociological Abstracts" sind seit dem Jahr 1960 insgesamt 23 afrikanische Zeitschriften bekannt: jeweils eine von der Elfenbeinküste, aus Ghana und Tunesien, zwei aus Kenia, Nigeria, Senegal und Zimbabwe sowie zwölf aus Südafrika. Hier schlägt sich auch die stärker englischsprachige Orientierung nieder. Auch die "Sociological Abstracts" sind damit ausgeglichener als der SSCI, erfassten aber bisher nicht einmal ein Zehntel all der in der Zufallsstichprobe enthaltenen Titel. Bei der Untersuchung fällt außerdem auf, dass zwischen den drei Datenbanken keine Übereinstimmung darüber besteht, welche der afrikanischen Zeitschriften einer Aufnahme würdig wären. Ein einziger Titel taucht in allen dreien auf: die bereits oben genannten "African Studies" aus Südafrika, was auch die thematische Reduzierung der afrikanischen Sozialwissenschaften auf lokal spezialisierte Studien bestätigt, worauf noch eingegangen werden soll. In immerhin zwei der Indizes waren verzeichnet: aus Kenia das "African

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Journal of Sociology" und das "African Urban Quarterly'', die südafrikanischen Blätter "Development Southern Africa", "South African Journal of Economics" und "Theoria" sowie die tunesische Zeitschrift "Ibla". Dass der SSCI und FRANCIS zwei der größten und angesehensten Periodika des Kontinents, das von CODESRJA herausgegebene "Africa Development" sowie die frühere "South African Sociological Review", die heutige "African Sociological Review" nicht kennen, macht diese nicht gerade glaubwürdig. Und dass populäre Organe wie das "South African Labour Bulletin" in einer der Datenbanken erscheinen, mag zwar erfreulich sein, deutet aber umgekehrt darauf hin, dass der Bekanntheitsgrad afrikanischer Zeitschriften und die Urteilskraft über diese in Philadelphia, Cambridge und Paris nicht weit gediehen sind. Die hier präsentierten Zahlen bestätigen also die Annahme der Marginalität und der Marginalisierung. Wegen der Auswahl erfasster Publikationen mit Hinsicht auf Afrika schleicht sich allerdings bereits ein konterhegemonialer Zweifel ein, ob derartige Datenbanken als "Trendsetter" Anerkennung verdienen oder vielmehr ihrer Borniertheit wegen als unerheblich abgetan werden können. Die hispano- und lusophonen wissenschaftlichen Gemeinschaften Europas und Lateinamerikas arbeiten derzeit am Aufbau einer eigenen, alternativen Datenbank, dem "Sistema Regional de Informaci6n en Lfnea para Revistas Cientificas de America Latina, el Caribe, Espaiia y Portugal" (LATINDEX) 233 . Dieser könnte zukünftig das Potential entwickeln, konterhegemoniale Kommunikationsräume in der internationalen Arena aufzubauen und würde sich ebenfalls für einen Abgleich mit den herkömmlichen Indices eignen. Der LATINDEX enthält Zeitschriften aller Disziplinen. Er war zum Zeitpunkt dieser Analysen noch im Aufbau und konnte im Rahmen dieser Arbeit daher leider nicht systematisch ausgewertet werden. Doch sei darauf hingewiesen, dass er derzeit für alle Länder Lateinamerikas und der Karibik zusammen 299 soziologische Zeitschriften - nicht einzelne Artikel - enthält. Es wäre gewiss lohnend, deren Präsenz in den hier herangezogenen Datenbanken zu testen, womit der Grad der Marginalisierung lateinamerikanischer Produktion genauer zu bestimmen wäre. Die Datenbank "Sociological Abstracts" ermöglicht eine weitere Erhebung, die für diese Arbeit von Interesse ist: In diesem Index sind die Sprachen der verzeichneten Artikel festgehalten. Aus den Angaben für Publikationen, die in einer bestimmten Sprache erschienen sind, lassen sich die sprachlichen Vorlieben - und die Kompetenzen - der Bearbeiterinnen veranschaulichen. Eindrücke davon vermittelt die Tabelle 3. 233 I "Given the current initiative ofproducing the Latin American and Iberian index of scientific periodical journals (LATINDEX), it is expected that a supplementary regional index to the Science Citation Index, with the scientific production in Spanish and Portuguese will become available in the not too distant future." Vessuri, Hebe (200I), S. 7497. Der Index ist allgemein zugänglich über www.latindex.org (Aug. 2006).

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Eine Erhebung nach weltweit häufig gesprochenen Sprachen zeigt, dass englischsprachige Literatur unverhältnismäßig stärker berücksichtigt ist als die in allen anderen Sprachen verfasste. Die Dominanz des Englischen verstärkt sich noch im zeitlichen Vergleich. Alle anderen Sprachen, außer dem Portugiesischen, haben für die Phase von 1995 bis 2005 im Vergleich zum Zeitraum von 1960 bis 1970 an Präsenz verloren. Doch ist die Marginalisierung gerade außereuropäischer Sprachen - Chinesisch, Hindi, Arabisch, wobei die beiden ersteren mehr Muttersprachlerinnen haben als das Englische - besonders auffällig. Gerade im Falle Chinas führt dies angesichts der weiter oben festgestellten hohen Literaturproduktion möglicherweise zu starken Verzerrungen in der Wahrnehmung dortiger Sozialwissenschaft. Die Warnungen vor negativen Auswirkungen auf die wissenschaftliche Kommunikation und damit auch auf die Produktion, die in der kontroversen Debatte über die Lingua Franca vorgebracht werden, scheinen vor diesem empirischen Hintergrund durchaus berechtigt. Man bedenke nur, welch großer Anteil an weltweit veröffentlichter Literatur flir den "Mainstream" nicht zugänglich ist beziehungsweise von diesem schon aus rein sprachlichen Gründen ignoriert wird. Auch in dieser Hinsicht wird jedoch der hegemoniale Status desselben hinterfragt und die Möglichkeit konterhegemonialer Spielräume angedeutet.

Tabelle 3: Sprachliche Verteilung der in den "Sociological Abstracts" erfassten sozialwissenschaftliehen Produktion, 1960-70 und 1995-05

Sprache

1960-1970

0

/o

Sprache

1995-2005

/o

0

Englisch Französisch Spanisch Deutsch Russisch Portugiesisch Chinesisch Japanisch Arabisch Hindi

39.699 5.064 2.060 1.376 711 474 83 78 2 0

80 10 4 3 I 0 0 0 0 0

Englisch Französisch Deutsch Spanisch Portugiesisch Russisch Japanisch Chinesisch Arabisch Hindi

226.394 15.069 10.007 8.986 4.256 2.808 1.008 517 222 0

Gesamt

49.546

98

Gesamt

269.267 100

Die Prozentangaben wurden auf ganze Zahlen gerundet. Quelle: Sociological Abstracts

84 6 4 3 2 0 0 0 0

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Im Idealfall könnten diese bibliometrischen Analysen noch ergänzt werden durch eine Untersuchung der jeweiligen Herausgeberkollegien der registrierten "internationalen" Zeitschriften. Diesen kommt in der Wissenschaft die Funktion der "Pförtner" ("gate keeper") zu. Aus der Untersuchung von Andnis Schubert und Tibor Braun zu 252 internationalen Zeitschriften aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften geht hervor, dass die Machtpositionen des Herausgeberkollegiums, das über Prioritätensetzung in Form und Inhalt sowie über Aufnahme oder Abweisung potentieller Beiträge entscheidet, in den Händen von Wissenschaftlerinnen einiger weniger Länder konzentriert sind?34 Eine vergleichbare Analyse ftir die erfassten sozialwissenschaftliehen Zeitschriften kann hier nicht geleistet werden.

Ungleiche globale Arbeitsteilung in der Soziologie Die zentrale beziehungsweise marginale Position verschiedener Soziologien, die über die augewandten bibliometrischen Indikatoren auf einer makrosoziologischen Ebene behandelt worden ist, drückt sich in deren Funktion in der internationalen soziologischen Arbeitsteilung aus. Paulin J. Hountondji blickt auch hier zurück in die Kolonialzeit und vergleicht die damalige globale wissenschaftliche mit der ökonomischen Arbeitsteilung. 235 Als direkte historische Konsequenz von Kolonialismus und akademischer Abhängigkeit versteht auch Syed Farid Alatas das Problem der globalen Arbeitsteilung in den Sozialwissenschaften, das er auf drei Ebenen beschreibt: der Ebene der Teilung von theoretischer und empirischer Arbeit; der von Forschung über das eigene Land und über andere Länder; schließlich auf der Ebene der Scheidung von Fallstudien und vergleichenden Studien. 236 Legt man die wohl allgemein anerkannte Hierarchisiemng von Wissensformen zugrunde, so befassen sich demzufolge die Sozialwissenschaft im Süden vor allem mit den unteren Stufen, das heißt mit lokalen und wenig abstrahierenden Fragestellung, während die im Norden 234 I Braun, Tibor/Schubert, Andras (1996): "Power positions in science journals - their gatekeeping, demography, ecology and accessibility" in: Roland Waast (1996) (Hg.), S. 51-64. ln die Kategorie der "internationalen Zeitschriften", die sonst häufig nicht genau defmiert wird, nahmen sie solche auf, deren Herausgeberkollegium sich aus Vertreterlnnen von mindestens fiinf Ländern zusammensetzte. 235 I "La recherche scientifique coloniale ( ... ) est structuree, comme l'activite economique coloniale ( ... ), par le ,pacte colonial': dans un cas, recherche de matieres premieres pour l'industrie metropolitaine et (re)exportation vers Ia colonie des produits de l'industrie metropolitaine; dans l'autre, collecte de donnees et d'infonnation brutes aussitöt transmises aux laboratoires et centres de recherche metropolitains pour y etre traitees theOiiquement, puis (re)exportation selective vers Ia colonie des resultats de cette recherche. La colonie manquait de laboratoires comme elle manquait d'usines." Hountondji, Paulin J. (2001/02), S. 4. Die daraus entstandenen ungleichen Positionen und Funktionen haben die afrikanischen Wissenschaften seiner Ansicht nach bis heute nicht überwunden. 236 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 607. Er verfugt über eine, wenn auch sehr dünne, empirische Grundlage ftir diese Behauptung: Beiträge zu den Zeitschriften "Sociological The01y" und "Philosophy ofthe Social Sciences".

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das Monopol auf die prestigeträchtigen Fragen haben, die universelle Geltung beanspruchen. 237 Vielleicht sollte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass dabei Forscherinnen hier wie dort in der Regel die Einschätzung von der Datenerhebung als untergeordneter und die von der Konzeptualisierung, Interpretation und Theoriebildung als der übergeordneten, weitaus mehr Ansehen verleihenden Tätigkeit teilen. 238 Die Annahme einer ungleichen Arbeitsteilung auf globaler Ebene entspricht dem, was Shinn innerhalb von Laboren für die Arbeitsteilung zwischen "chercheurs juniors", "chercheurs seniors" und Labordirektorinnen herausfand: Die jungen Wissenschaftlerinnen konzentrierten sich auf detaillierte Analysen, die älteren auf Modellbildung, während die Direktorinnen den Hauptakzent auf die Verallgemeinerung legten. Somit war eine "kognitive Hierarchie" parallel zur "administrativen Hierarchie" in den Forschungseinrichtungen gegeben, die hier auch bedingt sinnvoll erscheint.239 In Bezug auf die globale Wissensproduktion und den Geltungsanspruch gerade der Gesellschaftswissenschaften sollten diese geographisch bestimmten kognitiven Hierarchien allerdings zu denken geben. Darauf ist am Ende dieses Abschnitts zurückzukommen und zunächst zu betrachten, wie die ungleiche Arbeitsteilung die konkreten personellen und institutionellen Beziehungen ebenso wie die globale soziologische Produktion in ihren strukturellen Zusammenhängen bestimmt. Gonzalez Casanova behandelte in seinem Programm für eine mexikanische Wissenschaftspolitik in den Sozialwissenschaften bereits 1967 kritisch die Frage der internationalen Kooperationen und stellte einige Gesichtspunkte zusammen, die bei derartigen Vorhaben berücksichtigt werden sollten: Die mexikanische Forschungsgruppe sollte in allen Phasen von der Konzeptualisierung bis zur Verschriftlichung der Ergebnisse einbezogen sein und nicht auf die Erhebung von Daten beschränkt bleiben; der theoretische Rahmen und die erkenntnisleitenden Hypothesen sollten veröffentlicht werden; die Ergebnisse sollten erst in Mexiko und dann im Ausland analysiert und publiziert werden; in international vergleichenden Projekten sollten die mexikanischen Forscherinnen an der gesamten Analyse und Interpretation teilhaben und Zugang zu den Materialien aus allen 237 I Siehe dazu: Sitas, Ari (2006): "The African Renaissance challenge and sociological redamatians in the South", in: Current Sociology 54 Nr. 3, S. 357380. hier: Manuskript http://gsp.soziologie.unifreiburg.de/gspdat/people/sitas/ seminarfreiburg2002/africanrenaissance.pdf. (Oktober 2005). 238 I "Malgre Ia pression sociale, malgre une specialisation fn!quemment differente, davantage finalisee, !es chercheurs du Sud, de fas;on taut a fait marquee, partagent !es memes valeurs et !es memes ambitions que leurs collegues du Nord: meme interet prioritaire pour Ia recherche fondamentale, meme volonte de publier dans !es revues de haut rang, etc." Gaillard, Jacques/Schlemmer, Bernard (1996): "Chercheurs du Nord, chercheurs du Sud: itineraires, pratiques, modeles: un essai d'analyse comparative", in: Roland Waast (1996), S. 113-137, S. 128. 239 I Dazu Shinn, Terry (1988): "Hierarchies des chercheurs et formes de recherches", in: Actes de Ia Recherche en Seiences Sociales 74, S. 2-22.

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teilnehmenden Regionen erhalten, von denen keine als Forschungsobjekt ausgeschlossen bleiben sollte (Hervorhebung Gonzalez Casanova); zusammen mit den Ergebnissen sollten der Forschungsverlauf, die Organisation und forschungspraktischen Erfahrungen veröffentlicht werden?40 Diese Aufzählung macht auf mehrere wunde Punkte in internationalen Kooperationen aufmerksam, die auch empirische Bestätigung finden. So konnte Gaillard ftir sämtliche Beiträge in seinem Band über internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit pauschal konstatieren, dass das Hauptproblem in den wissenschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen die Hierarchien zwischen den Beteiligten seien: "( ... ) l'ensemble des auteurs qui ont contribue a ce volume s'accordent pour reconnaitre que !es principaux problemes rencontres dans la mise en reuvre des progranunes de collaboration Nord-Sud sont lies a l'asymetrie de Ia collaboration et a Ia domination que peuvent exercer les partenaires du Nord."241 Mit Hierarchie ist, wie gleich ausgeführt wird, in der Regel gemeint, dass den Beteiligten des Nordens in der Zusammenarbeit die wichtigen Aufgaben der Konzeptualisierung, Interpretation, Theoriebildung und Veröffentlichung zufallen, während die Teilnehmerinnen des Südens sich mit den Aufgaben der Datenerhebung und -aufbereitung begnügen. Empirische Erhebungen zu Ungleichheiten in den wissenschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen - ohne Unterscheidung der Disziplinen- ergaben etwa, dass in 90% der Fälle die Leitung der Kooperationsprojekte einer Institution des Nordens oblag. In 65% der Fälle war auch die Initiative für die Zusammenarbeit aus dem Norden hervorgegangen und in nur 23% der Fälle aus dem Süden. Was die Arbeitsteilung angeht, so bestätigt diese Studie, dass die Forscherinnen aus dem Norden mehr mit der Konzeptualisierung, die aus dem Süden mehr mit der Durchführung betraut waren. 242 240 I Gonzalez Casanova, Pablo (1968), S. 26. Ähnliche Regeln legten die "Pugwash-Richtlinien" vor: "Pugwash guidelines for international scientific COoperation for development" (1979), in: Alternatives- a Journal of World Policy 4 Nr. 3, Appendix ll, S. 417-427. Es ist davon auszugehen, dass Erfahrungen mit Geheimdienstprojekten wie Camelot (s. o.) diese Stellungnahmen prägten. 241 I Gaillard, Jacques (1996) (Hg.): Cooperations scientifiques internationales. Les sciences hors d'Occident au XXe siecle Bd. 7, Orstom/Paris, 1996, S. 12. Siehe auch die weiteren Beiträge in diesem Band. Eine Vertiefung sowie Fallstudien zu Nord-Süd-Kooperationen liefert er in Gaillard, Jacques (1999): La cooperation scientifique et technique avec !es pays du Sud- peut-on partager la science? Paris. Für die Analyse eines konkreten Falls, siehe Vessuri, Hebe (1996): "Scientific cooperation among unequal partners: the straightjacket ofthe Human Resource Base- the Rockefeiler Foundation in Venezuela in the 1940s", in: Jacques Gaillard (1996) (Hg.), S. 171-185. 242 I Gaillard, Jacques/Schlemmer, Bernard (1996), S. 124. Ähnliches stellte Waast fest: "( ...) the researchers who benefit from cooperation programmes complain about being subject to a narrow agenda and of an unequal division of labour. Many of them estimate that their role has been reduced to that of simple suppliers of data, or of developers of solutions devised out of context, following a standardised model." Waast, Roland (2002), S. 43. Vgl. auch: Tefetra, Damtew (2002). Dies gilt

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Thandika Mkandawire sieht dieses Problem auch speziell in den afrikanischen Sozialwissenschaften, wo ausländische Regionalspezialistinnen mit lokalen Forscherinnen entweder gar nicht, oder auf ungleicher Ebene zusammenarbeiteten, und letzteres oft auch nur aufgrund entsprechender Konditionen in der Vergabe von finanziellen Mitteln: "The ,Africanists' who usually spend brief periods in Africa, generally come to African universities with their own research priorities, problematiques, approaches, etc. In some cases, they may engage locals in their research but in most cases as research assistants and notasgenuine collaborators. Usually the ,collaborators' are included not because ofthe researchers' perceived scientific needs for such collaboration but because of the insistence by the funding Organisations or local governments that the researchers indicate in their applications that they will have a local collaborator."243 Für ungleiche Positionierung spricht auch die Tatsache, dass Wissenschaftlerinnen aus den südlichen Kontinenten mehr Chancen haben, durch ihre Artikel oder Werke von einem breiteren Publikum wahrgenommen zu werden, wenn diese mit Kolleginnen aus dem Zentrum gemeinsam veröffentlicht werden. Wenn sich auch die Bemühungen um gemeinsame Publikationen in der Praxis vieler südlicher Wissenschaftlerinnen niederschlagen, wie eine Analyse grenzübergreifender gemeinsamer Veröffentlichungen zeigt, so bevorzugen Kolleginnen der nordatlantischen Länder doch sehr viel häufiger Partnerinnen aus dem Norden?44 Auch dies spricht für die Marginalität der südlichen Wissenschaft beziehungsweise für ihre Abhängigkeit von der nördlichen, will sie international beachtet werden. Gaillard erfuhr in einer empirischen Erhebung gar von Fällen, in denen Wissenschaftlerinnen das Lob für Ideen oder Entdeckungen erhielten, die von unterschlagenen Entdeckern oder Erfinderinnen aus einem der südlichen Kontinente stammten?45 Einige persönliche Stellungnahmen südafrikani-

nicht nur fur die Sozialwissenschaften: "The imbalances of power bad made some researchers feelas ifwe have moved from being hunter-gatherers to data gatherers who performed basic tasks that would acetue to the benefits of academics in the north." Kahn, Michael J. (2001): "Developing mechanisms to promote South-South research in science and technology: the case of the Southern African Development Community", in: African Sociological Review 5 Nr. 1, S. 17-35, S. 27. 243 I Mkandawire, Thandika (1989), S. 2. 244 I Ygl. Barre, Remi/Chabbal, David (1996): "Les cooperations scientifiques Nord-Sud: caracteristiques et dynamisme d'ensemble", in: Jacques Gaillard (1996) (Hg.), S. 25-38. 245 I Gaillard, Jacques (1987). Eine große Diskussion wird außerdem seit Jahren über die Schwierigkeiten gefiihrt, die sich fiir Wissenschaft im Süden aus der zunehmenden Vermarktung und exklusiven Sichemng von Forschungsergebnissen durch geistige Eigentumsrechte ergeben. Vgl. u. a. Cecefia, Ana Esther (2000): "Biopirateria o desarrollo sustentable?" in: Revista Chiapas 9, www.ezln.org/revista chiapas/No9/ch9cecena.html (Sept. 2005); CoJTea, Carlos (2001): "Traditional knowledge and intellectual property- a discussion paper". Quaker United Nations

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scher Soziologinnen zu den Hierarchien in internationalen Kooperationen werden in Kapitel IX wiedergegeben. Der Unesco-Lagebericht über die Sozialwissenschaften in Afrika bestätigt ebenfalls, dass dortige Forscherinnen in der Regel auf institutioneller und personeller Ebene in hierarchischen Beziehungen mit dem Norden mitwirken?46 Die ungleiche Arbeitsteilung als Bestandteil der Zentrum-PeripherieBeziehung, gekoppelt mit infrastrukturellen Entwicklungsproblemen - mangelnde Integration wissenschaftlicher Gemeinschaften; Isolation; fehlende Infrastruktur zur Kommunikation - sowie mit dem Prestige der Institutionen im Zentrum, prägt auch die soziologische Wissensproduktion. Diese Faktoren führen an der Peripherie, so Hountondji, zur "extraversion" - zu Außenorientierung?47 Diese manifestiert sich in den behandelten Thematiken und im Abstraktionsgrad wissenschaftlicher Arbeiten, die sich, so Hountondji, nach den Interessen eines überseeischen Publikums richten: "This is one of the most pernicious forms of extraversion: theoretical, or socio-theoretical extraversion, the fact that we allow the content of our scientific production, the questions we pose, and the way we deal with them to be preoriented, predetennined by the expectation of our potential

Office, Genf; Forero-Pineda, Clemente/Jeramillo-Salazar, Heman (2002): "L'acces des chercheurs des pays en developpement a Ia science et a Ia technologie internationales", in: Revue Internationale des Seiences Sociales 54 Nr. 1, S. 145-157; Pardey, Philip G./Wright, Brian D. (2001): "Intellectual property 1ights and agricultural R&D", in: 2020 (Zeitschrift des "International Food Policy Research Institute", IFPRI), Focus 8, "Shaping Globalization for Poverty Alleviation and Food Secmity", www.ifpri.org/2020/focus/focus08_09.asp (Sept. 2005); Shiva, Vandana (2002): Biopiraterie: Kolonialismus des 21. Jahrhunderts, Münster; Stolpe, Michael (2005): "Weltweiter Patentschutz für pharmazeutische Innovationen: Gibt es sozial verträgliche Alternativen?", in: Kieler Arbeitspapier Nr. 1079, www.ideas.repec.org/p/ kie/kieliw/1 079 .jtml (September 2005); Beiträge zur Wissengesellschaft (2005): "Patente versus Entwicklung? Internationales Regime zum Schutz geistigen Eigentums im Nord-Süd-Konflikt", Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, http://www.wissens gesellschaft.org/themen!publicdomain/tripshintergrund.html (Sept. 2005); sowie Busingye, Janice Desire/Keirn, Wiebke (im Erscheinen): "The political battlefield: Negotiating space for the protection of indigenous and traditional knowledge in capitalism". Beitrag eingereicht bei International Social Science Joumal Speciallssue on "Global Knowledge". Diese Probleme sind fiir die Sozialwissenschaften außer im Falle von auftretenden Plagiatsvorwürfen aufgrundder geringeren industriellen Verwertbarkeit weniger relevant und sollen daher hier nicht weiter ausgeführt werden. 246 I Unesco (1999c), S. 123. 247 I Siehe die Arbeiten von Hountondji, insbesondere Hountondji, Paulin J. (1990a). Szanton und Manyika beschreiben, wie die Isolationaufgrund wenig integrierter wissenschaftlicher Gemeinschaften und das Gefühl, in der dominanten Wissenschaft nicht wahrgenommen zu werden, zu Frustrationen und Minderwertigkeitsgefühlen führten. Diese wiederum beeinträchtigen die fruchtbare Zusammenarbeit, weil einzelne Wissenschaftlerinnen das Gefühl haben, nicht auf dem neuesten Stand zu sein, Professorinnen sich ihren eigenen Studentlunen gegenüber nicht kompetent fühlen und sich dadurch wiederum an prestigeträchtigere Namen und Institutionen im Ausland halten. Szanton, David L./Manyika, Sarah (2002).

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readers. " 248 Er arbeitet dies in seiner Kritik an afrikanischer Philosophie als Ethnophilosophie heraus: "( ... )die zeitgenössische afrikanische Philosophie, insoweit sie eine Ethnophilosophie ist, (ist) grundsätzlich für ein europäisches Publikum verfasst worden( ... ). Die afrikanische Ethnophilosophie ist nicht an Afrikaner gerichtet."249 Insofern liegt ftir ihn die Tatsache, dass afrikanische (ethno)philosophische Literatur besser in europäischen (afrikanistischen) Kreisen bekannt ist, nicht nur in den materiellen und infrastrukturellen Mängeln der afrikanischen Wissenschaftslandschaft, sondern darüber hinaus auch in der ursprünglichen Ausrichtung philosophischer Schriften begründet. Die Außenorientierung stellt gewissermaßen ein paradoxes Gegenstück zur intellektuellen Abhängigkeit dar: Die eigene Arbeit wird an den Interessen eines überseeischen Publikums - der dominanten Arena - ausgerichtet. Inwiefern dies als Element ungleicher Arbeitsteilung gelten kann, wird klar, wenn man sie mit der lokalen Ausrichtung in Verbindung bringt. Denn die ungleiche Arbeitsteilung entspricht der von Alatas beobachteten Aufteilung in Forschung über das eigene Land, etwa in Form von Fallstudien, einerseits; und in vergleichende, über mehrere Länder reichende Forschung, andererseits. Letztere verspricht meist, höheren theoretischen Gehalt hervorzubringen.

"Piace matters only to those for whom Great Truths are not an option" - Lokalität und Festlegung auf das Exotische "Place matters only to those for whom Great Truths arenot an option. The local is local for those without the power not to make it matter." 250 Sinnspruchartig ist in diesen zwei Sätzen die Problematik der lokalen Ausrichtung peripherer Soziologie erfasst. Entsprechend der Orientierung hin zu einem überseeischen Publikum erlegen sich die Sozialwissenschaften des Südens selbst eine Begrenzung ihrer Perspektive auf. Denn, so der Eindruck, will man sich international Gehör verschaffen, so gelingt dies oft nur über Studien zur eigenen Gesellschaft, die für den Prozess der Theoriebildung im Norden lediglich als Material interessant sind. Auch diesen Sachverhalt kritisiert Hountondji scharf: "11 faut voir dans cette circonstance l'origine d'une limitation particulierement fächeuse dans Ia pratique des sciences sociaJes, voire de certaines sciences exactes et naturelles en Afrique: l'enfermement dans le particulier, l'idee que le discours scientifique local n'est interessant que s'il rend campte des realites locales, l'idee que l'historien, Je socioJogue, J'anthropoJogue, Je linguiste, Je philosophe africains doivent faire l'histoire africaine, Ia sociologie africaine, l'anthropologie 248 Hountondji, Paulin J. (1990a), S. 11. 249 Hountondji, Paulin J (1983), S. 4 1. Hervorhebung im Original. 250 McDaniel, Susan A. (2003): "lntroduction: the currents of sociology internationally - preponderance, diversity and division of labour", in: Current Sociology 51 Nr. 6, S. 593-597, S. 596.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

de I' Afrique, Ia linguistique africaine, Ia philosophie africaine. En limitant ainsi son propre horizon, le chercheur du Tiers-Monde laisse a d'autres le soin de theoriser a sa place et d'interpreter la masse de donnees qu 'il apporte en l'integrant a desensemblesplus vastes. Le chercheur africain s'interdit l'acces a l'universel. Par Ia il conforte et prolonge, dans l'ere postcoloniale, une division du travail intellectuel mise en place par Ia colonisation, qui reservait au Centre Je monopale de l'invention et reduisait Ia peripherie afournir des aliments pour cette invention et a en appliquer, a l'occasion, les resultats."25 1 Lokalität geht einher mit der Anerkennung nordatlantischer Überlegenheit, mit intellektueller Abhängigkeit von importierten Ansätzen und Theorien, die man lediglich für die eigene Gesellschaft zu bestätigen sucht und mit der Suche nach Anerkennung in einer nördlich dominierten Arena: "Jntellectual dependence also generates a negative self-image among African scholars. Such an image may be demonstrated by forms of intellectual mimetism in which local schotarship is confined to ,empirical verification' of hypothesis thrown up by institutions in the metropolitan countries without any attempt to evaluate their theoretical appropriateness and historical status. To reinforce this mimetism is a reward or merit system which accords foreign appreciation of research results greater weight than that ofthe local peer group. Not surprisingly, this Ieads to intellectual opportunism in which choice of themes and approaches arenot a reflection of one's understanding of the issues but a compliance to the criteria ofthe dominant reward system."252 Der Unterschied zwischen Lokalität und örtlich ungebundener Generalität oder Universalität zeigt sich in den Titeln von Veröffentlichungen aus zentralen und peripheren Ländern. Typischerweise enthalten Arbeiten aus der Peripherie die Ortsangabe der Studie im Titel: "in Indien", "in Indonesien", was den "provinziellen und regionalen Status des produzierten Wissens signalisiert"253 . Dage251 I Hountondji, Paulin J. (2001 /02), S. 5. 252 I Mkandawire, Thandika (1989), S. 2. 253 I Baber, Zaheer (2003), S. 617: "A few notable exceptions notwithstanding, knowledge produced by scholars located in metropolitan societies was deemed to be generat and universal in their implication regardless of how local or provincial their terms of reference might be. At the same time, social scientific knowledge produced in locations considered ,peripheral' in the overall intellectual Iandscape is generally regarded as a specific case study with little if any generat implications. In general, titles of books and articles analysing non-metropolitan societies usually always identify the society of location. Conversely, titles of papers and books discussing metropolitan societies rarely disclose the location of research, presumably because the spatial or cultural coordinates of the study are irrelevant since the claims advanced by such accounts are not about a particular society or culture. lnterestingly enough, sometimes it is the spatial location of the researcher and not the site of research that confers a universalistic gloss on the knowledge thus produced. Hence if a scholar who is situated in a metropolitan location studies a non-metropolitan society or community, the knowledge thus produced is generally considered tobe universal and generat in its implications."

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gen sind in der Literatur des Zentrums kaum Arbeiten mit Titeln wie "in den Vereinigten Staaten", "in Frankreich" oder "in Großbritannien" zu finden, da, so Baber, "bei der soziologischen Forschung über metropolitane Gesellschaften die Erwähnung der geographischen Verortung irrelevant erscheint". Hier wird den Ergebnissen "universelle, nicht provinzielle Bedeutung" zugeschrieben254 . Dies bestätigt wiederum den Stellenwert der räumlichen Dimension in der gesellschaftswissenschaftlichen Wissensproduktion, -rezeption lmd -validierung: "( ... ) a specific geography oflmowledge, where spatiallocation ofthe researcher and site of research also play a significant role in the reception and valorization ofthe work, is in operation". 255 Paulin J. Hountondjis "Außenorientierung" und die festgestellte Lokalität ergänzt Ari Sitas durch ein weiteres hiermit zusammenhängendes Problem: dem Zwang, sich auf das Exotische festzulegen. Sozialwissenschaftlerinnen aus dem Süden, wollen sie sich Zugang zu internationalen Kreisen verschaffen, sehen sich stets veranlasst, sich als "anders" zu definieren und die exotischen "Nischen" zu besetzen, die die internationale Gemeinschaft für sie bereithält, vergleichbar mit der Position ihrer Landsleute in der Sparte der "Weltmusik": "( ... ) there is a serious pressure to defme ourselves as ,different' in the world context of ideas. Trying tobe more than peripheral exotica in the ,global cultural bazaar' of social science we are bumping up against the niche trading tents we have been offered. ( ... ) Of course we can be cynical and say that even here very few of us are considered good enough to be included, like Ali Farka Toure and Youssou N'Dour in the category called ,world music', as decorative additions."256 Mit der Annahme, dass "Europa niemals etwas von uns erwartet (hat, W. K.), außer daß wir unsere Zivilisahonen als Showeinlagen herausputzen und uns selbst durch einen fiktiven Dialog - über die Köpfe unserer Völker hinweg mit Europa entfremden", stimmt auch Hountondji überein: "Das ist gemeint, wenn wir eingeladen werden, unsere kulturelle Authentizität zu bewahren und afrikanalogische Studien zu betreiben."257

Empirische Überprüfung der Hypothesen zu ungleicher globaler Arbeitsteilung Die Orientierung hin zu lokalen Problematiken ist hiernach, so unterstellen die herangezogenen Autorinnen, nicht nur eine direkte Folge konkreter hierarchischer Kooperationsbeziehungen, sondern bestimmt die Forschungsprogramme afrikanischer und lateinamerikanischer Institute im Allgemeinen. Aller254 I Baber, Zaheer (2003), S. 617. 255 I Baber, Zaheer (2003), S. 618. 256 I So die Einschätzung von Sitas, Ari (2004): Voices that reason- theoretical parables, Pretoria, S. 20. 257 I Hountondji, Paulin J (1983), S. 51.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

dings stammen die zitierten Arbeiten überwiegend aus Afrika, wie sich die Situation in Lateinamerika verhält, ist also noch nicht gesagt. Die Annahmen, dass in den Kontinenten des Südens lokale oder regionale Sozialforschung betrieben werde, dass man selten auf andere Erdteile blicke, oder dass kaum vergleichende, verallgemeinernde, globale und universelle sozialwissenschaftliche Perspektiven entwickelt würden, lässt sich anhand der regionalen Auslichtung von Forschungsinstituten belegen. Die Unesco-Datenbank DARE bietet die Möglichkeit, Informationen über die geographische Reichweite von Forschungseinrichtungen einzuholen258 und dadurch die Ausrichtung auf das eigene beziehungsweise auf andere Länder zu überprüfen. Die Angestellten des zuständigen UnescoBüros in Paris konnten auf Nachfrage nicht genau erklären, auf welche Weise die Auswahl an Institutionen in den Katalog geriet. 259 Die Verantwortlichen für die Erstellung und Aktualisierung der Datenbank scheinen einen Fragebogen an die Institute zu senden, von deren Existenz sie auf die eine oder andere Weise erfahren haben. Die Datenbank erfasst nur einen Bruchteil der existierenden Einrichtungen und die Auswahl hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität. Sie bietet dennoch die Möglichkeit, eine große Anzahl an sozialwissenschaftliehen Institutionen sozusagen als "Zufallsstichprobe" zu betrachten. Hier interessiert in erster Linie, ob die erfassten Institute Afrikas und Lateinamerikas sich mit einem anderen Erdteil als ihrem eigenen beschäftigen. Dies ist aus den Angaben zu "geographical area" ersichtlich?60 Die Kategorie "geographisches Gebiet" bot der entsprechende Fragebogen vermutlich an, während leider für "allgemeine Theorie", "universelle Ausrichtung" oder ähnliches kein Feld vorgesehen schien. In einigen Fällen, in denen Angaben zum geographischen Raum fehlten, mögen diese angesichts ihrer globalen, universellen oder allgemein theoretischen Orientierung unterlassen worden sein. Betrachtet man die 89 erfassten afrikanischen Institutionen unter dieser Fragestellung, so fällt auf, dass neben acht Mal fehlenden Angaben zum Untersuchungsraum nur sechs von ihnen in ihren Interessengebieten über den Kontinent hinausgehen, 33 das eigene Land nannten - davon drei auf landesinterne Gebiete spezialisiert -, 45 Afrika oder Regionen von Afrika. Unter den Institutionen, die hier vornehmlich interessieren, nämlich die 258 I Weltweit sind 4.800 Forschungs- und Lehreinrichtungen der Sozialwissenschaften sowie professionelle Vereinigungen mit Informationen über Name und Adresse, Oberhaupt, Aktivitäten, Veröffentlichungen, Schlagworte sowie Angaben über das durch die Forschungen abgedeckte geographische Gebiet erfasst. 259 I Quelle: http://www.unesco.org/most/dare.htm (Juli 2003). DARE wurde 1974 angelegt und wird seither regelmäßig aktualisiert. 260 I In die DARE-Suchschablone wurde jeweils als Suchitem "Institute" eingegeben, das jeweilige Land in "Country" sowie "sociology" als Schlagwort um sicherzustellen, dass in den ausgewählten Institutionen die Soziologie als Disziplin vertreten ist. Die Datenerhebung für Afrika und Lateinamerika erfolgte Ende 2002, die flir Deutschland und Frankreich im Juli 2003 .

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mit kontinentübergreifender Perspektive, wären zu nennen das "Institut de Recherche pour Je Developpement" in Tunis, die ägyptischen Institutionen "Centre d'Etudes et de Documentation Economiques, Juridiques et Sociales" und das "Social Research Centre", beide mit Sitz in Kairo, sowie das "African Institute for the Study of Human Values" in Accra, Ghana. Die "Pan African Anthropological Association" mit Sitz in Yaounde gibt neben Afrika auch Amerika und Europa als Forschungsobjekte an. Einzig das "Bureau International Catholique de l'Enfance, Section Cöte d'Ivoire" mit Sitz in Abidjan charakterisiert seine geographische Ausrichtung als "global". Aus dem Namen des Büros geht hervor, dass es sich wohl um eine regionale Niederlassung einer internationalen Organisation unter der Schirmhen-schaft der katholischen Kirche handelt. Im Ergebnis ist es gewiss nicht übertrieben zu sagen, dass Forschungen über Nordamerika und Europa auf dem Kontinent sehr selten zu finden waren, ganz zu schweigen von globalen Perspektiven. Das Gros der Institute konzentrierte sich auf das eigene Land oder auf den Erdteil. Dies bestätigt die Lokalität - im Sinne des Gegenteils zu Generalität oder Universalität - afrikanischer Sozialwissenschaft. Für Lateinamerika ergibt sich folgendes Bild: Von 149 erfassten Institutionen machten 21 keine Angaben zum Untersuchungsraum, wobei dies, wie gesagt, als allgemein theoretische, universelle oder zumindest globale Ausrichtung gedeutet werden könnte; während 105 eine lokale oder regionale Spezialisierung vorwiesen. Dreiundzwanzig gaben einen anderen als den heimatlichen Erdteil an. Sie lassen sich in mehrere Gruppen einteilen. Da sind zunächst solche, die sich ausdrücklich mit Entwicklungs-, oder D1itte-Welt-Ländern beschäftigen: die "Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales, Sede Chile" in Santiago, das "Centro de Estudios Econ6micos y Sociales del Tercer Mundo" in Mexico, D. F. und das "Instituto Libertad y Democracia" in Lima. Einige Zentren sind unter anderem auf Afrika spezialisiert: das "African-Caribbean Institute of Jamaica" in Kingston, das "Institut d'Etudes et de Recherehes Africaines d'Haiti" in Portau-Prince, das "Centro de Estudios de Poblaci6n" in Buenos Aires sowie das "Centro de Estudos Africanos" der Universität von Sao Paulo. Hier handelt es sich anscheinend um etablierte Regionalforschung. In die gleiche Richtung scheinen zwei der Institute zu gehen, die mehrere Kontinente, darunter auch Asien, nennen: das "Centro de Estudos Afro-Asiaticos do Conjunto Universitario Candido Mendes" in Rio de Janeiro, das "Centro de Estudos Afro-Orientais" an der Universidade Federal in Bahia und das an der Universidad Nacional Aut6noma de Mexico (UNAM) angesiedelte "Centro de Investigaciones Interdisciplinarias en Ciencias y Humanidades". Vier weitere Einrichtungen behandelten Nord- und Südamerika als Regionalgebiete. Zweimal wurden unter den 149 erfassten lateinamerikanischen Einrichtungen europäische Länder als Forschungsgebiet angegeben: vom "Instituto Iberoamericano de Derecho Agrario y Reforma Agra-

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

ria" der Universidad de los Andes in Merida, Venezuela sowie auch vom "Centro de Recursos Humanos" der Universidade Federal da Bahia in Brasilien. Eine Reihe von Institutionen schließlich nannte unter "geographical area" mehrere Kontinente: das kolumbianische Zentrum mit dem amüsanten Namen "Centro de Investigaciones y Proyectos Especiales", das "Instituto de Investigaciones Econ6micas" der UNAM, das "Instituto de Relacoes Internacionais, Pontifica Universidade Cat6lica do Rio de Janeiro". Schließlich geben einige Institutionen als geographischen Raum "global" an. In diese Kategorie fallen das "Instituto de Ciencias Polfticas, Universidad del Museo Social Argentino" in Buenos Aires; das "Instituto de Investigaciones Juridicas" der UNAM; das "Instituto de Estudios Politicos" an der Universidad Centrat de Venezuela in Caracas; und das "United Nations International Research and Training Institute for the Advancement ofWomen" in Santo Domingo. Zusammenfassend ist zu der Situation in Lateinamerika zunächst festzuhalten, dass 23 Forschungseinrichtungen andere Erdteile als den eigenen als geographischen Raum ihrer Untersuchungen angeben. Diese sind recht gleichmäßig über Lateinamerika verteilt: jeweils fünf in Brasilien und Mexiko, jeweils zwei in Argentinien und Venezuela und je eine in Chile, in der Dominikanischen Republik, in Haiti, Jamaika, Kolumbien, Kuba und Peru. Auffällig ist, dass Entwicklungs- oder Dritte-Welt-Länder dreimal als Regionalgebiete angegeben wurden. Hier versteht sich Lateinamerika nicht allein als Objekt der Entwicklungsländerforschw1g, sondern ergreift die sozialwissenschaftliche Initiative. Das "Centro de Estudos Africanos" der Universität Sao Paolo scheint ein eindeutiger Fall von "Area Studies" zu sein. Auch Europa und Nordamerika stehen in seltenen Fällen im Fokus des sozialwissenschaftliehen Interesses. Dennoch beschränkt sich der Großteil der erfassten Institutionen auf das Heimatland oder den Weltteil. Im Vergleich zwischen den beiden südlichen Kontinenten bestätigte Afrika den Indikator für Marginalität voll, während die Interpretation zu Lateinamerika nicht ganz so leicht fällt. So ist der Großteil der untersuchten Institutionen zwar auf den Erdteil oder auf das eigene Land konzentriert, es heben sich aber doch immerhin 23 von 149 von dieser Tendenz ab. Wichtig scheint weiterhin, dass in Afrika keine kontinentübergreifende Perspektive in der Entwicklungsländerforschung festgestellt werden konnte. "Entwicklung" ist einer der häufigsten Forschungsschwerpunkte in Afrika, wie die Einträge zum Themenbereich zeigen, jedoch reicht der Blick praktisch nie über Afrika hinaus. Vermutlich handelt es sich oft um Auftragsforschung für internationale Organisationen oder um Kooperationen mit Entwicklungsforschungsinstituten des Nordens. 261 Dieses Muster, nach

261 I Eine derartige Interpretation legt etwa Waasts Analyse der afrikanischen Wissenschaftslandschaft nahe. Waast, Roland (2001).

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dem in jedem Land regional und lokal geforscht wird, lässt sich für Lateinamerika zumindest durch einzelne Fälle widerlegen. Nun soll zur Gegenüberstellung die Lage in Deutschland und Frankreich betrachtet werden. Von den zusammengerechnet 208 Institutionen (89 deutsche und 119 französische) machen 56 keine Angaben zum Untersuchungsraum. Hier stellt sich wiederum die Frage, wie diese fehlenden Angaben interpretiert werden können, das heißt, ob es sich um Versäumnisse handelt oder um Belege für globale oder vom geographischen Raum abstrahierende theoretische Forschung. Letzteres drängt sich vor allem angesichts der Tatsache auf, dass viele der disziplinär gesehen rein soziologischen Institute an Universitäten in beiden Ländern keine geographischen Angaben machten. Allerdings muss diese Feststellung relativiert werden anhand Babers Beobachtung, dass, wie "provinziell" auch immer westeuropäische Soziologien seien, sie es dennoch nicht fllr nötig hielten, ihre Arbeiten geographisch zu verorten. Neben diesen 56 gaben zwölf Institutionen Deutschland und acht Frankreich als Schwerpunkt an, 22 eines der beiden Länder und Europa oder die Europäische Union, 19 Europa oder Teile des Kontinentes (s. o.). Als einzelne Kontinente oder Weltregionen wurden drei Mal Afrika genannt, sechs Mal Lateinamerika, drei Mal die arabischen Staaten, vier Mal die Mittelmeerregion, vier Mal Asien. Nordamerika und Japan waren in jeweils einem Fall die einzige regionale Spezialisierung. Auf eine eventuell vergleichende Ausrichtung auf mehrere Erdteile ließen die 24 Fälle schließen, die mehr als zwei außereuropäische Kontinente angaben. Sechs Einrichtungen betrieben nach eigenen Angaben ausdrücklich Entwicklungsländerforschung, eine weitere war auf Transitionsgesellschaften ausgerichtet: Zentral- und Osteuropa, China, Vietnam, Kuba. Schließlich behaupteten 38 Institutionen, globale Sozialforschung zu betreiben. Die Verteilung in der regionalen Ausrichtung hat sich also im Vergleich mit Afrika und Lateinamerika umgekehrt. Nur 20 Institutionen insgesamt nannten als "geographical area" allein ihr eigenes Land, 41 ihr eigenes Land und/oder ihren eigenen Kontinent. Dagegen entfiel der größte Teil auf Einrichtungen, die sich auch mit einem oder mehreren außereuropäischen Erdteilen befassen und 38 gaben eine globale Perspektive an. Im Vergleich sind also die Hypothesen von der Zentralität Europas, das wissenschaftlich die ganze Welt dominiert, und von der Marginalität Afrikas aber auch Lateinamerikas, die in der Sozialwissenschaft sehr stark auf ihre Herkunftsregion ausgerichtet sind und nur in seltenen Ausnahmefällen Europa und Nordamerika studieren, bestätigt. Die Lokalität beziehungsweise Regionalität kann als ein Element von Marginalisierung und ungleicher kognitiver Arbeitsteilung betrachtet werden und stimmt überein mit der weiter oben geäußerten Kritik, dass Afrika und Lateinamerika für die Sozialwissenschaften häufig lediglich als Labor, Experimentierfeld oder Fallstudie interessant sind. Wie hier gezeigt wor-

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

den ist, trifft das nicht nur auf Kooperationen zu, sondern die Institutionen und Forscherinnen haben die Außenorientierung gewissermaßen verinnerlicht. Paradoxerweise sind Außenorientierung und Lokalität keine gegensätzlichen sondern einander ergänzende Äußerungen des gleichen Problems: der Marginalität südlicher Sozialwissenschaft. Das nordatlantisch dominierte internationale Publikum erwartet von ihnen, will man Hountondji folgen, nichts anderes und in keinem Fall allgemeine Theorie?62 In diesem Sinne fordert auch Ly, dass die afrikanische Sozialwissenschaft, die er betrachtet, ihren ausschließlichen Fokus auf spezifisch lokale Probleme und deren Darstellung in Fallstudien aufgibt und sich mit allgemeiner Theoriebildung befasst: "Bref... I'Afrique, dans son ensemble, c'esta-dire prise globalement, doit cesser d'etre un domaine de specialisation en Afiique meme, pour etre au creur de Ia theorie generale. Cette demarche, si eile se justifie pour les ,africanistes' des autres continents, n'a aucune raison d'etre pour les chercheurs africains en sciences sociales."263 Inwiefern entsprechen nun Lokalität und die Festlegung auf das Exotische in den afrikanischen und lateinamerikanischen Sozialwissenschaften tatsächlich den Interessen des Nordens? Auch diese Annahme kann empirisch überprüft werden. Ideal hierzu wäre eine Übersicht über Kooperationsprogramme und den Austausch von Wissenschaftlerinnen und Gastprofessorinnen zwischen nordatlantischen und afrikanischen beziehungsweise lateinamerikanischen Institutionen. Systematische Informationen sind hierzu aber kaum erhältlich. Die benötigten Angaben waren leider weder von den angeschriebenen Instituten noch von den jeweils zuständigen akademischen Auslandsämtern erhältlich. Die einzige Einrichtung, die regelmäßig ihre Gäste samt Herkunftsland und -universität, Kontaktperson und Thema der Veranstaltung erfasst und über das Internet zur Verfugung stellt, scheint die "Ecole des Hautes Etudes en Seiences Sociales" (EHESS) in Paris zu sein. Hier waren diese Informationen flir die Jahre 2001 bis 2003 erhältlich?64 Aufgrund der niedrigen Fallzahlen kann die folgende Analyse nur als ein Anhaltspunkt verstanden werden. In den akademischen Jahren 2001/2002 und 2002/2003 kamen insgesamt 180 beziehungsweise 181 Gastdozentinnen an die "Ecole" und führten dort Veranstaltungen zu unterschiedlichsten Themen der Sozialwissenschaften durch. Obwohl viele davon nicht in den Bereich der Soziologie 262 I Hountondji, Paulin J. (1990a), S. 11. 263 I Ly, Boubacar (1990): "Les sciences sociales en Afrique: problemes de recherche et de f01mation", in: Africa Development 15 Nr. 3&4, S. 185-207, S. 196. 264 I Die EHESS veröffentlichte entsprechende Listen fiir 2001/02 und 2003 auf ihrer lntemetseite: http://www.ehess.fr/htmllhtml/7 .html (Jan. 2004). Vergleichbare Angaben fiir 2004 und 2005 sind hier leider nicht mehr publiziert. Anfragen bei einer Reihe deutscher und französischer Universitäten nach ähnlichen Angaben über Gastdozentinnen erbrachten kein Ergebnis. Der DAAD, die Alexander-vonHumboldt-Stiftung und die "Maison Suger" (ein Gästehaus fiir ausländische Wissenschaftlerinnen in Pa1is) konnten ebenfalls keine komparablen Informationen liefern.

I. FüR EIN ZENTRUM-PERIPHERIE-MODELL

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fallen, sondern in benachbarte Disziplinen, soll hier der schwierigen Datenbeschaffung und der geringen Fallzahlen wegen die gesamte Population für beide Jahre zusammengenommen ausgewertet werden. Schaut man sich zunächst die geographische Herkunft der Gäste an, so fällt auf, dass die USA mit 75 Vetreterlnnen, also etwa 21% der Gesamtpopulation, unvergleichlich stärker vertreten sind als alle anderen Länder. Es folgen Italien mit 33 Gastprofessorinnen (etwa 9%), Deutschland mit 24 (6,6%), Argentinien mit 16, Brasilien mit 15, Spanien mit 14, Japan mit 13 und Russland mit elf. Aus China, Großbritannien, Israel und Kanada kamen jeweils zehn Personen, aus Australien und der Schweiz neun, aus Griechenland acht, aus Mexiko sechs, und aus Ägypten fünf. Alle weiteren Länder waren mit vier oder weniger Gästen vertreten. Somit stammten 33% der Gastdozentinnen aus Westeuropa, 32,5% aus Nordamerika, 11% aus Lateinamerika und 7,8% aus Afrika. Das hohe Ansehen der USA ist in der Verteilung deutlich erkennbar, ebenso die Anhindung an romanischsprachige Länder sowie das Resultat langjähriger intensiver Bemühungen um deutsch-französischen kulturellen und akademischen Austausch. Auffällig sind weiterhin die vielen Besuche aus Argentinien und Brasilien. Anhand der Angaben über das Thema jeder Veranstaltung soll nun die Hypothese der Marginalität getestet werden: Trifft es zu, dass Afrika und Lateinamerika viele Beiträge über die jeweiligen Herkunftsländer lieferten? Umgekehrt kann geprüft werden, ob tatsächlich aus Nordamerika und Westeuropa vor allem Beiträge zu allgemeiner Theorie und Methode kamen, was deren Zentralität im Wissenschaftsbetrieb bestätigte. Außerdem beschäftigten sie sich der Annahme zufolge in Regionalstudien mit anderen Gebieten der Erde, während aus Afrika und Lateinamerika kaum Veranstaltungen zu anderen Regionen zu erwarten sind. Letztere Hypothese könnte eventuell in der Überprüfung durch das gegebene Material dadurch verfälscht werden, dass manche Gäste extra an die EHESS kommen, um sich mit Frankreich auseinander zu setzen. Sie können in diesem Falle nicht als repräsentativ gelten für die Aufteilung der Fachgebiete in ihrem Herkunftsland, da die Gasthochschule wie ein Filter wirkt, der gerade die Spezialistinnen für Frankreich aussiebt. Um dem entgegenzuwirken, werden in der folgenden Analyse die Vorträge über Frankreich gesondert aufgeführt. Nach Herkunftsländern sortiert sollen nun Themen und geographische Reichweite der an der EHESS angebotenen Gastveranstaltungen analysiert werden. Die in den Jahreslisten angegebenen Titel werden eingeteilt in solche, die sich ausdrücklich auf das eigene Herkunftsland beziehungsweise den eigenen Kontinent, dessen Geschichte oder aktuelle gesellschaftliche Fragen beziehen; solche, die sich mit Frankreich beschäftigen; solche, die anderen Erdregionen, den großen Religionen oder frühen geschichtlichen

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

Epochen265 gewidmet sind; und schließlich solche, die sich allgemeinen, abstrakten, epistemologischen, theoretischen oder methodologischen Fragen der Disziplinen zuwenden. Sozialwissenschaftlerinnen, die Vorträge aus der letzteren Kategorie hielten, scheinen von ihren Kolleginnen an der EHESS als wissenschaftliche Autoritäten in ihrem Fachgebiet eingeladen worden zu sein. Bei der Zuordnung der einzelnen Veranstaltung zu diesen Kategorien müssen bisweilen Mehrfachnennungen zugelassen werden, weil manche Veranstaltungstitel mehrere der Kategorien umfassten. Bisweilen fällt eine eindeutige Zuordnung in die Kategorie "andere Regionen/Epochen" besonders schwer und man läuft Gefahr, der westeuropäischen Standardeinteilung zu entsprechen, der zufolge etwa das europäische Mittelalter allgemeine Geschichte ist, die präkolumbischen Maya und Azteken aber zu den Regionalgebieten zählen. Im Sinne der Transparenz sind daher die entsprechenden Zuteilungen in den Online-Anhängen "GASTVORTRAEGE EHESS 0102" und "GASTVORTRAEGE EHESS 2003" dargestellt. Sieht man sich die Themen aus den einzelnen afrikanischen Ländern gerrauer an, so ergibt sich die in der Tabelle 4 wiedergegebene Verteilung. Aus der Übersicht wird deutlich, dass der Großteil der Beiträge sich auf die jeweiligen Herkunftsländer konzentriert: 57% der GesamtanzahL Weitere 6 (21 %) beschäftigen sich mit dem afrikanischen Kontinent, das sind zusammen 78,6% der Veranstaltungen. Offensichtlich lädt man in Paris keine Afrikanerinnen ein, um über Frankreich zu sprechen. Über andere Regionen als Afrika wurden vier Vorträge gehalten (14%) und zur allgemeinen Theorie 5 (18%). Interessant ist, dass die Regionalspezialistinnen sich allesamt mit dem Islam befassen. So gab es aus Ägypten eine Veranstaltung über Islam in Südostasien, eine über arabische Manuskripte und Quellen mittelalterlicher muslimischer Geschichte und eine über die Einführung des Korans in die arabische Kultur, das politische Projekt Islam und die Gründung der Wissenschaften. Ein Vertreter aus Algerien sprach über den Islam in Zentralasien. Auch die Titel, welche dem Bereich der allgemeinen Theorie zugeordnet wurden, hatten in 4 von 5 Fällen mit Religion zu tun: ,,Humanismus im arabischen Denken und die muslimischen Philosophen" (Ägypten), ,,Aktuelle Hermeneutik des Koran" (Ägypten), "Transzendenz und Immanenz im muslimischen Glauben" (Marokko) sowie "La croyance: un objet a construire" (Tunesien). Einzig der Vertreter ausGabuninteressierte sich in Paris nicht fur Religions- und Glaubensfragen sondern sprach über "Gewalterfahrung und wissenschaftliches Schreiben". Möglicherweise lässt sich dieses Interesse ftir den Is265 I Wie wenig Einteilungen wie zum Beispiel das antike Griechenland, Rom, Byzanz, der historische "Orient" oder das frühe "Asien" mit der heute geläufigen Geographie übereinstimmen, diskutiert Dussel, Enrique (2003): "Europa, modernidad y eurocentrismo", in: Lander, Edgardo (2003a) (Hg.): La colonialidad del saber. Eurocentrismo y ciencias sociales - perspectivas latinoamericanas, Buenos Aires, S. 41-54, S. 42 ff.

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tarn an der EHESS mit den Ereignissen des 11. September in New York erklären, die fiir einen Aufschwung an islamwissenschaftlicher Forschung gesorgt haben. Fast sämtliche Vorlesungen, die in ihren Inhalten über den Kontinent hinausreichten, stammten also aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und befassten sich mit Fragen der Religion. Im Überblick gesehen bestätigen diese Ergebnisse die Hypothese der Marginalität Afrikas im internationalen Wissenschaftsbetrieb und die Annahme, dass afrikanischen Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS der Status von Informantinnen zukommt. 266

Tabelle 4: Gastvorträge afrikanischer Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS, 2001-2003 Institutionelle Anhindung

Beiträge ges.

Vortrag über Frankreich

eigenes eigenen HerKontikunfts- nent land Ägypten

I 3 3 1 2 1 2

Senegal

5 4 4 3 3 2 2 I 1 1 1 1

Summe

28

Marokko Algerien Elfenbeinküste Tunesien Mauretanien Südafrika Gabun Kamerun Mali Niger

Prozent

andere Re- allgemeine gionen, Theorie, Epochen Methoden

1

-

3

-

-

-

2 1

-

-

1

-

2

-

-

-

-

-

-

1 ?

1

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1

1 1

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1

1 1

-

-

-

16 57

6 21

-

4 14

5 18

-

Mehrfachnennungen eines Beitrages möglich, daher ergibt die Summer mehr als 100%. Quelle: http://www .ehess. fr/html/html/7 .html (Jan. 2004 ).

266 I Die Wortwahl stammt von Hountondji, der behauptet, afrikanische Forscherinnen blieben bis heute Informantinnen flir die westliche Wissenschaft und brächten demnach keine eigenen Theorien, Konzepte und Methoden hervor, nach denen sie selbst das Besondere ihrer Umgebung schematisieren, verstehen und erklären könnten. Vgl. Hountondji, Paulin J. (1994).

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE S TRÖMUNGEN

Aus Lateinamerika kamen in den beiden Jahren 44 Gäste (siehe Tabelle 5). Wie den Daten zu entnehmen ist, handelt auch der Großteil der Referate aus Lateinamerika (28, das heißt 6I %) von den jeweiligen Herkunftsländem, weitere acht vom Kontinent. Dies spricht für ihre Marginalität im Gesamtkontext der internationalen Sozialwissenschaften.

Tabelle 5: Gastvorträge lateinamerikanischer Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS, 2001-2003 Institutionelle Anhindung

Beiträge ges.

Vortrag über eigenes eigenen Herkuntls- Kontiland nent

Argentinien Brasilien Mexiko

16 15

7

IO

5 5

-

1

-

-

-

I

-

-

-

I

-

-

-

-

27

8 18

5 11

7 16

11 25

Chile Venezuela

I 44

Summe

3 3 1

2 I

Prozent

I I

3 2 -

6

Peru

4 1

allgemeine Theorie, Methoden

-

6 3 2 1

Kolumbien

Frank- Andere reich Regionen, Epochen

I

61

Mehrfachnennungen eines Beitrages möglich, daher ergibt die Summer mehr als

100%. Quelle: http://www.ehess.fr/html/html/7.html (Jan. 2004).

Allerdings fällt im Gegensatz zu den Verhältnissen unter afrikanischen Gastwissenschaftlerinnen auf, dass doch eine Reihe von Vorträgen (5) über Frankreich gehalten wurde, die fast alle Verbindungen oder Vergleiche zwischen dem Gast- und dem Herkunftsland herzustellen versuchten. So beendete eine Brasilianerin ihren Beitrag über Ergotherapie mit einem vergleichenden Teil über Brasilien und Frankreich. Ihr Landsmann schließt von Betrachtungen über Religion in Brasilien auf die abstraktere Frage von Religion und Modeme und blickt gleichzeitig auf Frankreich. Ein Argentinier interessiert sich ftir Migration aus Frankreich nach Lateinamerika, ein anderer fur den Blick auf Frankreich vom Rio de Ia Plata aus. Der letzte Beitrag über das Gastland befasst sich mit der Geschichte der Psychologie und Psychopathologie "aus französischer Sicht". Dieses Bemühen, in den Vorträgen in Paris Verbindungen zwischen Gast- und Herkunftsland aufzuzeigen, kann als Versuch verstanden w erden, den Auslandsaufenthalt und den Kontakt mit dem französischen Pub-

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likum für tatsächlichen Austausch zwischen den Beteiligten zu nutzen und eine Diskussion zwischen Vertreterinnen aus unterschiedlichen Regionen über gemeinsame Themen anzuregen. Dies setzt ein gewisses Selbstbewusstsein der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften voraus. Dafür sprechen auch die sieben Beiträge über andere Erdregionen, die sich fast ausschließlich mit Europa befassen. Bis auf eine Veranstaltung über Krieg, Demokratie und Identitäten in Zentralafrika von einem Wissenschaftler der Nationalen Universität von Kolumbien und einem Gastvortrag aus Brasilien über Historiographie im antiken Griechenland, zeigte sich diese Konzentration auf Europa, neben den bereits genannten, in folgenden weiteren Themen: "Les rapports entre centre et peripherie dans les espaces emopeens et dans la dynamique de l'expansion coloniale: La Compagnie de Jesus et l'idee de droit culturel" (Brasilien); "Matil~re et corps dans Je droit medieval" (Argentinien); "Droit castillan et droit commun (XIII-XVIe siecles)" (Argentinien). Auf dem lateinamerikanischen Erdteil werden also dmchaus Forschungen über Westeuropa durchgeführt. Auch wenn diese einen geringen Anteil der Vorträge an der Ecole ausmachten, traten hier doch lateinamerikanische Sozialwissenschaftlerinnen als Spezialistinnen für Emopa auf. Jedenfalls unterscheidet sich das Bild, welches das Material über Lateinamerika zu zeichnen erlaubt, von dem flir Afrika wie auch von dem für Europa und Nordamerika, wie gleich zu sehen sein wird. Als Gegenbeispiel sollen nun die Beiträge aus Nordamerika (USA, Kanada) und Westeuropa267 nach demselben Muster analysiert werden. Die Verteilungen sind in Tabelle 6 wiedergegeben. Insgesamt widmete sich fast die Hälfte der Vortragenden allgemeinen Problemen der Sozialwissenschaften. Weitere 27% beschäftigten sich mit Fragen über andere Regionen und geschichtliche Epochen. Nur 20% dagegen sprachen über ein Thema, das sich ausschließlich auf ihr Herkunftsland bezog, 13% zu ihrem jeweiligen Kontinent. Aufschlussreich ist ferner die Ausrichtung der Vertreterinnen einzelner Länder. Von den 75 Beiträgen aus den USA waren elfzum eigenen Land (14,7%), fünf zu Nordamerika (6,7%) und sieben zu Frankreich (9%). Vierunddreißig der Titel deuten auf allgemeine Themen hin, das sind 45% der gesamten US-amerikanischen Vorträge. Über andere Regionen und Epochen gab es 29 Vorlesungen (38,6%). Die Gäste aus italienischen Universitäten boten von insgesamt 33 Gastveranstaltungen sieben über ihr eigenes Land an (21 %), zwei zu Frankreich (6%), drei zu Europa, 17 zu allgemeinen Fragen (51,5%) und 8 zu anderen Regionen/ Epochen (24%). Von den 24 Veranstaltungen deutscher Dozentinnen konzentrierten sich 3 auf Deutschland (12,5%) und zwei auf Frankreich (8%), acht aufEuropa (33%), zwei auf andere Weltregionen oder Epochen (6%), elf behandelten allgemeine Fragen der Disziplinen (33,3%). Aus Spanien 267 I Belgien, Deutschland, Finnland, Griechenland, Großbtitannien, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, die Schweiz und Spanien.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

gab es von 14 Beiträgen neun zum Herkunftsland (64%) und je einen über Frankreich, Europa, die Karibik sowie vier zu allgemeinen Fragen (28,6%). Tabelle 6: Gastvorträge westeuropäL~cher und nordamerikanischer Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS, 2001-2003 Institutionelle Anbindung

Beiträge ges.

Vortrag über Eigenes eigenen Frank- andere allgemeine Herkunfts- Konti- reich Regionen, Theorie, land nent Epochen Methoden

USA Italien Deutschland Spanien Großbritannien Kanada Schweiz Griechenland Portugal Niederlande Österreich Belgien Finnland Schweden Dänemark Norwegen Summe Prozent

75 33 24 14 10 10 9 8 4 4 3 3 2 2 1 1

11 7 3 9 1

5 3 9 1 1

7 2 1 1 1

29 8 2 1 5

-

-

-

-

1 4 4

1

-

2 1 2 1

-

-

1

-

1 1

203

34 17 11 4 4 10 3 2

-

-

-

-

-

1 1 2 1 1 1 1 1 1

-

-

-

-

1

40 20

27 13

14 7

55 27

93 46

-

-

-

2 1 1 1 2 -

Mehrfachnennungen eines Beitrages möglich, daher ergibt die Summer mehr als 100%. Quelle: http://www.ehess.fr/html/html/7.html (Jan. 2004).

Aus der Aufstellung wird deutlich sichtbar, dass die Länder Nordamerikas und Westemopas - mit Ausnahme der iberischen Halbinsel und Griechenlands - in Paris sehr wenig über ihre eigenen Länder sagten, und dass alle außer Vertreterinnen aus den drei südeuropäischen Ländern Spanien, Portugal und Griechenland, die wohl zur innereuropäischen Peripherie gezählt werden müssten, am häufigsten zu allgemeinen Fragen von Theorie und Methodologie ihrer Disziplinen sprachen. Nur Großbritannien schien auf Studien über andere Regionen und Epochen besonders spezialisiert zu sein (50% der Beiträge, gegenüber 40% zu allgemeiner Theorie). Der Anteil an

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Regionalforschung zu anderen Erdteilen war auch flir die USA und Italien besonders hoch, Deutschland und die Schweiz dagegen konzentrierten sich eher auf Europa. Die USA dagegen forschten anscheinend am meisten über den Rest der Welt und nahmen einen Großteil der Veranstaltungen zu allgemeinen Fragestellungen ein. Auf letzterem Gebiet tat sich indes Italien noch stärker hervor. Die Spitzenposition nimmt wohl Kanada ein: Sämtliche Veranstaltungen von kanadischen Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS waren allgemeinen theoretischen oder methodologischen Fragen gewidmet. Dieser Indikator bestätigt also die Zentralität der westeuropäischen und nordamerikanischen Sozialwissenschaften. Nordamerika tat sich gegenüber Europa nochmals als Zentrum hervor, Vertreterinnen dortiger Universitäten wurden offensichtlich als Autoritäten in ihren Disziplinen nach Paris eingeladen. Die Vorträge von Kolleginnen aus Lateinamerika und in noch größerem Maße aus Afrika dagegen scheinen größtenteils die Annahme der lokalen Ausrichtung zu bestätigen ebenso wie die Vermutung, dass dortige Forscherinnen in den nördlichen Sozialwissenschaften als Lieferantinnen für Fallstudien, empirische Daten und lokal ausgerichtete, womöglich als exotisch erachtete Forschungen auftreten. Andrade Carrefio liefert sozusagen das entsprechende Gegenstück zu dieser Analyse. Er untersucht in vergleichbarer Art und Weise die Artikel in sieben mexikanischen soziologischen Zeitschriften mit Hinblick auf das Herkunftsland ihrer Autorinnen sowie auf die untersuchte geographische Einheit. Aus seiner Tabelle "Cuadro 6- Artleulos por lugar de origen y localizaci6n geognifica del objeto de estudio"268 sind die hier interessierenden Zahlen entnommen. Sie ergeben die Übersicht, die in Tabelle 7 zusammengestellt ist. Offensichtlich spiegelt sich in den Artikeln, die Forscherinnen verschiedener Herkunftsländer in mexikanischen soziologischen Zeitschriften veröffentlichen, ebenfalls die ungleiche internationale Arbeitsteilung wider. Auch hier bestreiten Artikel über die eigene Herkunftsregion den größten Anteil mexikanischer (57%) und lateinamerikanischer Beiträge (76%). Die Mehrheit der nordamerikanischen und europäischen Artikel dagegen lässt sich nicht geographisch zuordnen (40% und 50%). Andrade Carrefio beurteilt die Beiträge, die außerhalb geographischer Räume ihr Objekt verorten, wohl zutreffend als allgemeine: "Asf, por una parte, en el caso de los trabajos procedentes de Europa y Norteamerica se hace patente un mayor interes por cuestiones cuyo tratamiento no se ajusta a una dimensi6n geogräfica concreta, que podemos considerar como un indicador del grado de generalidad que los ubica como trabajos te6ricos. Por otra parte, en el caso de los trabajos procedentes de los paises latinoamericanos se destaca un mayor interes por objetos de estudio que, por su referencia geogräfica

268 I "Tabelle 6: Artikel nach Herkunftsort und geographischer Verortung des Forschungsobjekts". Andrade Carreiio, Alfredo (1998), S. 135.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE S TRÖMUNGEN

podemos considerarlos como centrados en las condiciones socio-hist6ricas de la propia regi6n."269

Tabelle 7: Institutionelle Herkunft und geographische Verortung der Untersuchungsgegenstände von Artikeln in mexikanischen sozialwissenschaftliehen Zeitschriften nach Andrade Carreno Herk. des Artikels

Mexiko Lat.Amer. NordAmer. Europa

Geographische Verortung des Untersuchungsgegenstands Mexiko 474 57% 0 0% 32 29% 22 21%

Lat.Nord.- Europa Asien& Amer. Amer. Afr. 85 3 13 6 10% 1% 0% 2% 121 0 0 0 76% 0% 0% 0% 25 7 0 23% 6% 1% 0% 25 0 6 0 24% 0% 6% 0%

Keine

Gesamt

245 30% 38 24% 44 40% 52 50%

826 100% 159 100% 109 99% 105 101%

Hervorgehoben sind die jeweils größten Prozentangaben. Kommastellen wurden gerundet, weshalb die Summe der Prozente nicht immer 100 ergibt. Andrade Carrefio behandelt fiir die Jahre 1980-1994 folgende mexikanische sozialwissenschaftliche Zeitschriften: "Acta Sociol6gica", "Estudios Sociol6gicos", "Polis Annuario de Sociologia", "Revista Mexicana de Sociologfa", "Sociol6gica" und "Tiempo Sociol6gico". Quelle: Andrade Carrefio, Alfredo (1998), S. 135 Auch diese Untersuchtmg bestätigt daher die Lokalität von soziologischer Forschung in den Ländern des Südens sowie deren Anerkennung des Nordens als wissenschaftliche Autorität, von der man allgemeintheoretische Beiträge erwartet. Außenorientierung und "captive mind" wirken demnach auch innerhalb der lokalen w issenschaftlichen Gemeinschaften, wie dieses mexikanische Beispiel nahe legt.

Die Disziplineneinteilung in den Sozialwissenschaften: Ethnologie, Orientalistik, "Area Studies" Zum Abschluss dieser empirischen Untersuchungen drängt sich ein weiteres Element in der hierarchischen Strukturienmg der Sozialwissenschaften auf, das

269 I "So fallt einerseits, im falle der Arbeiten aus Europa und Nordamerika, ein starkes Interesse fiir fragen auf, die sich nicht auf eine konkrete geographische Dimension beziehen. Dies können wir als Indikator flir den Grad der Allgemeinheit ansehen, demzufolge diese als theoretische Arbeiten gelten können. Andererseits, im falle der Arbeiten aus lateinamerikanischen Ländern, steht das Interesse flir Forschungsobjekte im Vordergrund, die wir aufgmnd ihres geographischen Bezugs als auf den soziahistorischen Kontext der eigenen Region bezogen betrachten können." Andrade Carreiio, Alfredo (1998), S. 136.

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den afrikanischen lmd lateinamerikanischen Kolleginnen den Zugang zum ,,Mainstream" erschwert und hier entsprechende Beachtung verdient: die eurozentrische Disziplineneinteilung in den Sozialwissenschaften.270 Mit den Gesellschaften außerhalb Europas beschäftigen sich klassischerweise die Ethnologie/"Social Anthropology"271 und die Orientalistik272 . Seit dem Kalten Krieg sind für verschiedene Erdteile "Area Studies" entstanden.273 Diese Einteilung kanalisiert Personal und Diskurse, die aus den südlichen Kontinenten in nordatlantische Institutionen geraten. Vertreterinnen der Disziplinen, die sich wie die Soziologie, die Ökonomie und die Politikwissenschaft eher als nomothetisch verstehen (hier als Kerndisziplinen bezeichnet), kommunizieren, sofern sie aus den südlichen Kontinenten kommen, häufig nicht mit ihren Fachkolleginnen in den Institutionen des Nordens, sondern sind hier vielmehr für die regional spezialisierten Disziplinen interessant. Ihr Beitrag wird so durch die disziplinäre Stmkturierung der Sozialwissenschaften aus den Kerndisziplinen ferngehalten. Zur Überprüfung dieser Hypothese kann das Material über Gastdozenturen an der EHESS gleichfalls herangezogen werden. Die Auflistung der Forschungszentren innerhalb der "Ecole", in denen die Gäste aus verschiedenen Kontinenten jeweils sprachen, scheint dies zu bestätigen. Dem Material lässt sich flir die Gäste aus Afrika eine Verteilung entnehmen, die in Tabelle 8 wiedergegeben ist. Die Mehrheit der Zentren der EHESS, die in den Jahren 2001-2003 afrikanische Sozialwissenschaftlerinnen einluden, waren regional ausgerichtet: 14 Personen kamen an das "Centre d'Etudes africaines", eine reine Regionalforschungseinrichtung, zwölf weitere an das "Centre d'histoire sociale de !'Islam mediterraneen". Die acht Nennungen des "Centre de recherches historiques" ergeben sich allein aus der Tatsache, dass eine der Einladenden sowohl hier wie am "Centre d'histoire sociale de !'Islam mediterraneen" tätig ist und daher jeweils doppelt gerechnet wurde. Dabei ist, wie oben bereits angemerkt, aus den Themen ersichtlich, dass es vornehmlich um die Beschäftigung mit dem Islam ging. Auffällig ist weiterhin, dass alle acht Einladungen, die diese Person vorgenommen hat, im akademischen Jahr 200112002 stattfanden, was die Annahme nahe legt, dass es sich dabei um ein wissenschaftliches Interesse unter dem Eindruck des 11. September 2001 handelte. Es ist also offensichtlich, dass die afrikanischen 270 I Vgl. hierzu die Darstellung der Gulbenkian-Kommission zur Disziplinenentstehung in den Sozialwissenschaften: Wallerstein, lmmanuel (1996). 271 I Siehe flir eine Kritik der Ethnologie aus afrikanischer Sicht die Arbeiten von Mafeje, insbesondere: Mafeje, Archie (1997): "Who are the makers and objects of anthropology? A critical comment on Sally Falk Moore's ,Anthropology and Africa"', in: African Sociological Review 1 Nr. 1, S. 1-16. 272 I Vgl. flir eine Kritik der Orientalistik: Said, Edward W. (1978): L'orientalisme -!'Orient cree par l'Occident (1994), Paris. 273 I Zu den "Area Studies" siehe: Prewitt, Kenneth (1983): "Les sciences sociales et le Tiers Monde - contraintes sur !es Etats-Unis", in: Revue internationale des Seiences Sociales 35 Nr. 4, S. 815-823, S. 822.

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Wissenschaftlerinnen nicht bis in die Kerngebiete der Pariser Sozialwissenschaften vordrangen. Dies wurde nicht nur inhaltlich, sondern durch diese kleine Untersuchung nun auch institutionell belegt. Tabelle 8: Gastvorträge afrikanischer Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS nach einladendem Forschungszentrum, 2001-2003 Forschungszentrum der EHESS Centre d'Etudes africaines Centre d'histoire sociale de !'Islam mediterraneen Centre de recherches historiques Centre d'histoire du domaine turc Sociologie, histoire, anthropologie des dynamiques culturelles Laboratoire d'anthropologie sociale Division aires culturelles Summe

Anzahl 14

12 8

38

Ermittelt wurde die institutionelle Anhindung der in den Listen der EHESS als "einladende Personen" Verzeichneten. Für die "Einladenden", die in zwei Zentren zugleich angestellt sind, wurden hier beide Zentren aufgenommen. ln den Fällen, in denen zwei Personen gemeinsam einen Gast einluden, wurde nur deren gemeinsames Zentrum gezählt, waren beide in verschiedenen Zentren angebunden, wurden wiederum beide Zentren in die Aufstellung einbezogen. Quelle: http://www.ehess.fr/html/html/7.html (Jan. 2004).

Wie es sich im Unterschied zu den Gästen aus Afrika mit denen aus Lateinamerika verhält, ergibt sich aus Tabelle 9. Weniger als die Hälfte dieser Gäste hatte in einem regional spezialisierten Institut zu tun. Fast ein Drittel, nämlich 15 Personen, kam in den beiden Jahren an das "Centre de recherches historiques", wo man sich anscheinend ftir Geschichte weltweit interessiert, denn die Gastprofessorinnen aus Lateinamerika sprachen dort sowohl zu lateinamerikanischer wie auch zu europäischer oder universaler Geschichte. Neun Personen kamen ans "Centre de recherches sur les mondes americains", vier weitere ans "Centre de recherches sur le Bresil contemporain". Danach traten also mehr Lateinamerikanerinnen in der Geschichtswissenschaft der EHESS auf als in den Regionalforschungszentren. Zu den geschichtlich Orientierten sind zusätzlich vier weitere zu rechnen, die vom "Centre Louis-Gemet de recherches comparees sur !es societes anciennes" eingeladen wurden. Außerdem kam jeweils eine Person in die Nordamerikaforschung und eine in das Zentrum für afrikanische Studien. Das heißt, die Wissenschaftlerinnen aus Lateinamerika waren in verschiedenen Spezialgebieten der EHESS gefragt, und wenn auch ein Großteil der Themen sich auf ihr Herkunftsgebiet konzentrierte, so wurde entgegen den Erwartungen die Mehrheit nicht in die Lateinamerikaforschung

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involviert. Auch dies spricht für ein im Vergleich mit Afrika eher ausgeglichenes Verhältnis zwischen lateinamerikanischer und französischer Sozialwissenschaft. Da es in diesem Abschnitt um die Kanalisierung von peripherer Sozialwissenschaft durch die disziplinäre Einteilung nach eurozentrischem Muster ging, erübrigt sich ein Vergleich mit westeuropäischen oder nordamerikanischen Gastvorträgen. Tabelle 9: Gastvorträge lateinamerikanischer Sozialwissenschaftlerinnen an der EHESS nach einladendem Forschungszentrum, 2001-2003 Forschungszentrum der EHESS Centre de recherches historiques

Anzahl 15

Centre de recherches sur les mondes americains

9

Laboratoire d'anthropologie sociale

4

Centre Louis-Gemet de recherches comparees sur !es societes anciennes

4

Centre de recherches sur Je Bresil contemporain

4

Laboratoire de psychologie sociale

2 2

Centre d'analyse et d'intervention sociologique Centre d'etudes des mouvements sociaux Centre de recherches politiques Raymond-Aron Centre d'etudes interdisciplinaires des faits religieux Groupe de recherches anthropologie et histoire du Mexique, de I' Amerique Centtale et de Ia Caraibe Sociologie, histoire, anthropologie des dynamiques culturelles Centre d'etudes nord-americaines Centre d'anthropologie religieuse europeenne Centre d'analyse et d'interventions sociologiques Centre d' etudes africaines Summe

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Ermittelt wurde die institutionelle Anhindung der in den Listen der EHESS als "einladende Personen" Verzeichneten. Für die "Einladenden", die in zwei Zentren zugleich angestellt sind, wurden hier beide Zentren aufgenommen. ln den Fällen, in denen zwei Personen gemeinsam einen Gast einluden, wurde nur deren gemeinsames Zentrum gezählt, waren beide in verschiedenen Zentren angebunden, wurden wiederum beide Zentren in die Aufstellung einbezogen. Quelle: http://www.ehess.fr/html/html17.html (Jan. 2004).

Als Gegenstück zur hier besprochenen Kanalisierung von Personal und Diskursen im Zentrum kritisiert Lander die herkömmliche Disziplineneinteilung in den Universitäten des Südens als ein "Instrument zur internen Kolonisierung". Sie diene dazu, die eigene Gesellschaft immer mit der europäischen als Referenzpunkt zu vergleichen und verhindere das Aufkom-

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

men alternativer Deutungsmuster und origineller, eigenständiger Theoriebildung: "Desde el punto de vista de los debates sobre colonialidad y eurocentrismo, Ia constituci6n disciplinaria de nuestras universidades tiene consecuencias importantes. En Ia medida en que forma patte de un imaginario en el cualla sociedad liberal industrial aparece como el modelo del orden social moderno y es el camino hacia el cual inexorablemente avanza Ia humanidad, el patr6n de referencia que permite constatar Ia inferioridad o el atraso de los demas, en esa misma medida Ia estructura disciplinaria de las universidades del Sur es un instrumento de colonizaci6n intema, mediante el cual se compara a Ia propria sociedad con el ,deber ser' que corresponde a Ia construcci6n del modelo de sociedad liberal. Esta contrucci6n del ,deber ser' ha aparecido en toda Ja historia de las formas hegem6nicas de pensamiento en America Latina ( ... ). En Ia constituci6n llamada moderna de las ciencias sociales en America latina ( ... ) (el) paradigma de Ia construcci6n de Ia linealidad entre pueblos atrasados, barbaros, primitivos y subdesarrollados, y el patr6n de referencia de los pueblos urbanos, modernos, industriales y dernocn'tticos, continu6 operando bajo un esquema donde el reconocimiento de las particularidades de estas sociedades estuvo de antemano negado. Fue Ia imposici6n de un esquema de pensamiento en el que el conocimiento se hizo a traves de Ia diferencia entre el patr6n del deber ser y el deber de lo quese encuentra."274

Evolutionistische Annahmen über das Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung Schließlich hängt die Marginalität mit den - aller postmodernen Dekonstruktion und Desillusion standhaltenden - evolutionistischen Annahmen über den 274 I "Aus der Perspektive der Debatten über Kolonialität und Eurozentrismus hat die disziplinäre Konstituiemng unserer Universitäten bedeutende Folgen. In dem Maße, in dem sie Teil einer Vorstellungswelt ist, in der die liberale, industrielle Gesellschaft als das Modell der modernen sozialen Ordnung erscheint und als der Weg, auf dem die Menschheit unaufhaltsam voranschreitet, als Referenzmodell, das es ermöglicht, die Mindetwettigkeit oder den Rückstand der anderen Gesellschaften festzustellen, in genau diesem Maße ist die disziplinäre Struktur der Universitäten des Südens ein Instrument interner Kolonialisierung, durch das die eigene Gesellschaft mit dem ,zu erreichenden Ideal' der als Modell errichteten liberalen Gesellschaften verglichen wird. Diese Konstruktion des ,zu erreichenden Ideals' war in der gesamten Geschichte hegemonialen Denkens in Lateinamerika präsent. ( ... ) In der so genannten modernen Konstituierung der Sozialwissenschaften in Lateinamerika ( ... )wurde das Paradigma der Konstruktion einer Lineatität zwischen zutiickgebliebenen, barbarischen, primitiven und unterentwickelten Völkern und dem Referenzmodell der urbanen, modernen, industriellen und demokratischen Völker als ein Schema fortgefiilut, innerhalb dessen die Anerkennung der Besonderheiten dieser Gesellschaften von vornherein negiert wurde. Es handelte sich um die Auferlegung eines Denkschemas, innerhalb dessen die Erkenntnis im Erkennen von Unterschieden zwischen dem Ideal und der Realität bestand." Lander, Edgardo (2004): "Universidad y producci6n de conocimiento: reflexiones sobre Ia colonialidad del saber en America Latina", in: Irene Sanchez Ramos/Raquel Sosa Elizaga (2004) (Hg.), S. 167-179, S. 171/172.

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Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften und über den "Entwicklungsstand" unterschiedlicher Länder zusammen. So scheint die Idee, dass sämtliche Weltregionen die gleichen Entwicklungsstadien durchlaufen, die reichen Nationen an der Spitze stehen und der Rest der Welt dem nur folgen wird, weiterhin prägend fur die Wahrnehmung der sozialwissenschaftliehen Produktion außerhalb Europas und der USA. Im Süden verhindert diese Annahme, so S. H. Alatas, "methodologische Blockfreiheit", das heißt ein alternatives Denken über gesellschaftliche Entwicldung im Süden.275 Afrika und Lateinamerika werden folglich als Kontinente mit eigenen gesellschaftlichen Realitäten von den Kerndisziplinen nicht ernst genommen, sondern haben in deren Vorstellungswelt den Status des Labors, der zutreffenden oder abweichenden Fälle, der Bestätigung oder Ausnahme von der Regel, des Analogs. 276 Diese Haltung, afrikanische gesellschaftliche Erfahrung als Versuchsraum zu gebrauchen, bestimmt eindeutig den Band "Africa and the disciplines - the contributions of research in Africa to the social sciences and humanities". 277 Entgegen der Ankündigung des Titels, den Beitrag afrikanischer Forschung ("research in Africa") zu den Sozialwissenschaften hervorzuheben, geht es hier darum, welche Einsichten Forschungen über Afrika zur allgemeinen Theorie beigetragen haben. Die Autorinnen wollen afrikabezogene - nicht afrikanische - Forschung stärken. So haben länderspezifische und regionale Differenzen beispielsweise zum Test von ökonomischen Theorien beigetragen: "Africa is a gold mine to economists, because its economic history has been so extreme. Booms, busts, famines, migrations. Because there are so many African countries, often following radically different economic policies, Africa offers a diversity ideally suited to the comparative approach which is the econo-mist's best substitute for the controlled experiment."278 Das heißt, Afrika wird als Experimentierfeld, als Lieferant von Rohmaterialien (eine wahre Goldmine!) verstanden, wobei die dortigen gesellschaftlichen Realitäten die allgemeine Theorie bestätigen sollen. Von den Beiträgen afrikanischer Sozialwissenschaftlerinnen zu den Disziplinen ist bestenfalls zufällig die Rede, etwa insofern sie mittlerweile in die US-amerikanische Afrikanistik emigriert sind. Die südafrikanischen "Labour Studies" kämpfen seit jeher damit, dass in der weltweiten Wahrnehmung die Zeiten aktiver und erfolgreicher Gewerkschaftsbewegungen vorbei zu sein schienen, als diese in Südafrika aufkamen und ihren Höhepunkt erreichten. Das Gefühl, man könne den 275 I Alatas, Syed Hussein (1974), S. 695. 276 I Vgl. Mamdanis Kritik an der "Geschichte als Analogie" in: Mamdani, Mahmood (1996): Citizen and subject- contemporary Africa and the legacy of late colonialism, Princeton University Press. 277 I Bates, Robert H./Mudimbe, V.Y./O'Barr, Jean (1993) (Hg.): Africa and the disciplines - the contributions of research in Africa to the social sciences and humanities, Chicago/London. 278 I Collier, Paul (1993): "Africa and the study of economics", in: Robert H. Bates/V. Y. Mudimbe/Jean O'Barr (1993) (Hg.), S. 58-82, S. 58.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

Kolleginnen im Zentrum "nichts Neues" bieten, wurde auch in einigen Interviews laut. Soziale Fragestellungen des Südens gelten als obsolet und "von den neuesten Entwicklungen" immer schon überholt. Diese neuesten Entwicklungen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen finden, so eine weiter verbreitete Annahme, in New York oder eventuell in Tokyo statt. Im Anschluss an diese Konzeptualisienmg und empirische Überprüfung von nordatlantischer Zentralität und südlicher Marginalität soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass - in Übereinstimmung mit der Idee der Beziehung, die die Attribute "zentral" und ,,marginal" beschreiben- es sich nicht um ein exklusives Entwicklungsproblem der südlichen Soziologien handelt, sondern um eines, das die Grundlagen der Disziplin überhaupt betrifft. Die ungleiche Arbeitsteilung, der den Sozialwissenschaften inhärente Evolutionismus und die Annahme, dass nur "was der Norden verdauen kann" wissenschaftlich validiert ist, blockieren die gesellschaftliche Erfahrung und das Wissen der südlichen Sozialwissenschaften und verhindem deren eigenständige Entwicklung?79 Dieser Tatbestand durchkreuzt aber gleichzeitig eine angemessene Entwicklung der Disziplin und schmälert insbesondere deren universellen Geltungsanspruch. Die Hierarchien zwischen zentraler und marginaler Sozialwissenschaft verhindem soziologischen Fortschritt, auch wenn man die Ansprüche an einen solchen zurückhaltend formuliert: "Jfwe define progress in the social sciences in terms ofthe development of original concepts, theories, models and methods which are creatively applied to a wide range of historical and comparative empirical situations in the context of research agendas independently drawn up according to certain criteria of relevance, it will be readily understood that this division of labour in the social sciences actually hinders such progress. The division of labour, therefore, functions to perpetuate academic dependency and academic neocolonialism." 280 Gerade in Zeiten, da "die Regale sich unter dem schieren Gewicht von Büchern und Artikeln zur Globalisienmgsdiskussion biegen", trägt die ungleiche globale Arbeitsteillmg wohl wenig zum Verständnis dieses Phänomens bei? 81

279 I "One ofthe most wasteful outcomes oftbis division oflabour isthat only those data digestible by the ,North' become valid. As a consequence the existential experience of African social scientists of their reality is blocked from scientific discourse because it fails to meet the demands of the imported frameworks and the footnote fetishism that characterises contemporaty research. About the only way this experience and knowledge seems to see the light of day is through footnotes by expatriates claiming use of African schola1-s as primary sources in their research projects. And so we have the bizarre situation in which the knowledge of an African social scientist about the politics of his/her country only becomes ,scientific' if it is footnoted by a visiting scholar as an interview." Mkandawire, Thandika (1989), S. 6. 280 I Alatas, Syed Farid (2003), S. 608. 281 I Baber, Zaheer (2003), S. 619.

II. Theoretische Angriffe auf die nordatlantische Hegemonie

Die Konzeptualisierung eines Zentrum-Peripherie-Modells hat sich mittels einer Reihe empirischer Indikatoren in mehreren Hinsichten als fruchtbar erwiesen. Wie die bereits vielfach angeführte Literatur zeigt, haben Teile der Sozialwissenschaften das Zentrum-Peripherie-Problem seit etwa 50 Jahren erkannt und verstärkt zu kritisieren begonnen. Einige der bekanntesten und bisher nicht systematisch rezipierten Ansätze der Kritik sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass moderne Wissenschaft und im Speziellen Soziologie als Diskurs und gesellschaftliche Tätigkeit von den Diskutantinnen weltweit anerkannt wird. Es geht in diesen Beanstandungen nicht um die Abschaffung der Disziplin, vielmehr im Gegenteil um deren Weitung und Bereicherung durch die Gleichberechtigung der nationalen Soziologien und damit auch um die Universalisierung der Disziplin überhaupt. 282 Die Auflehnung gegen die nordatlantische Hegemonie wird von den bereits behandelten Ansätzen wie der "akademischen Dependenz" (Syed Farid Alatas, Gareau, Hountondji) oder der "Theorie des ,captive mind" ' (Syed Husseirr Alatas) getragen. Hinzu kommen solche Kritiken aus dem globalen Süden wie die Entkolonialisierung von Wissen und Kultur (Fanon283 ), die "Dekoloniali282 I Dies macht etwa Goonatilake deutlich: "The time for total revision has passed; the existing system has enough entropic and other rigidities. The existing science may be capitalistic, Eurocentric, patriarchal, and/or class-based. But to grow a new one wholesale is no Ionger possible." (S. 7). Sie fährt fort: "1f it sounds like l am accepting the , totalizing' hegemony of modern science, 1 am. 1 want to enlarge it if possible, not destroy it. 1 want to reach beyond the Enlightenment and the modern projects and some of their Eurocentric limitations." Goonatilake, Susantha (1998): Toward a global science- mirring civilizational knowledge, 1ndiana University Press, S. 8. 283 I Zu nennen wäre sein Werk "Les damnes de Ia terre" darin insbesondere: "Mesaventures de Ia conscience nationale" (S. 187-248), "Sur Ia culture nationale" (S. 249-283) "Fondements reciproques de Ia culture nationale et des luttes de Iiberation" (S. 284-296), sowie die Schlussbetrachtung (S. 369-376). Fa-

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

sierung der Sozialwissenschaften" (Mkandawire), die Kritik am Eurozentrismus (Amin, Lander), das Vorhaben zur Provinzialisierung Europas (Chakrabarty), Saids "Orientalismus", die Kritik an der bestehenden Disziplineneinteilung (Mafeje, Mamdani), die Kritik an der Irrelevanz dependenter Soziologie (S. F. Alatas). Handelt es sich hierbei in erster Linie um Dekonstruktion und Klitik, so stellt das Indigenisierungsprojekt (Akiwowo, Makinde, Taiwo/ Lawuyi) einen konstruktiven Vorschlag dar. Oommen bringt die verschiedenen Vorgehensweisen gegen die nordatlantischen Einflüsse mit der jeweils spezifischen kolonialen und postkolonialen Erfahrung der Regionen, aus denen sie hervorgehen, in Verbindung und unterscheidet dementsprechend überwiegend wirtschaftswissenschaftliche Argumentationsmuster in Lateinamerika, kulturelle und auf Identität aufbauende Argumente in Afrika und Asien.Z84 Im Rahmen dieser Arbeit scheint es jedoch sinnvoller, die verschiedenen Projekte nach ihrer jeweiligen theoretischen Argumentation darzustellen, als sie regional zu verorten, zumal Oommens durchaus nachvollziehbare Kategorisierung zwar auf die bekanntesten Ansätze (Dependenztheorie, Indigenisierung usw.) zutrifft, andere jedoch nicht erfassen kann und auch der in den letzten Jahren langsam zunehmenden Süd-Süd-Rezeption keine Rechnung trägt. Im Folgenden sollen die im Schrifttum am häufigsten diskutierten und rezipierten Ansätze in aller Kürze charakterisiert werden.

Kritik am Eurozentrismus und Provinzialisierung Europas Amin285 schrieb eine der ersten systematischen Auseinandersetzungen mit dem Problem des Eurozentrismus auf der Folie der Entwicklungsdebatte. Er kritisiert diesen als kulturellen Ausdruck der weltweiten Expansion des Kapitalismus, der westliche Kultur, Wirtschaftsweise und Lebensstil als richtungweisend und als Ziel aller sozioökonomischen Entwicklung weltweit erscheinen lässt. Eine philosophische Weiterflihrung der Kritik an eurozentrischen Denkund Wissensformen leistet Lander in seiner Reflexion über "Modeme, K.olonialität und Postkolonialität"286 . Der Beginn der Kolonialisierung Amerikas habe auch die "koloniale Konstituierung des Wissens, der Sprachen, der Erin-

non, Frantz (1961): Les damnes de la terre (1981), Paris. Da es sich jedoch um Überlegungen handelt, die wenig explizit mit den Sozialwissenschaften zusammenhängen, wird Fanans Werk hier nicht eingehender behandelt. 284 I Oommen, T. K. (1991): "lnternationalization ofsociology: a view from developing countries", in: Current Sociology 39 Nr. 1, S. 67-84. 285 I Amin, Samir (1988): L'eurocentrisme: critique d'une ideologie, Paris. 286 I Lander, Edgardo (1997): "Modemidad, colonialidad y postmodernidad", in: Revista Venezolana de Economia y Ciencias Sociales 4, S. 1-14, http:// ladb.unm.edu/econ/content/ecosoc/indice/(Nov. 2005). Vgl. auch Lander, Edgardo (2004), sowie vor allem die Beiträge in: Lauder Edgardo (2003a) (Hg.).

II. THEORETISCHE ANGRIFFE AUF DIE NORDATLANTISCHE HEGEMONIE

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nerung und des Imaginären" bewirkt. 287 In der heutigen "hegemonischen Selbstwahrnehmung der Modeme" als der Fortfiihrung des ideellen Kolonialismus, erkennt er zwei Tendenzen, die die Überlegenheit des Zentrums ideell stärken: erstens, die evolutionistische Idee, dass die europäische Modeme nicht nur die höchste, sondern eine universelle Stufe der Menschheitsentwicklung darstelle. Und zweitens die Vorstellung, dass die europäische Modeme sich rein indigen entwickelt habe und die durch den Kolonialismus unterdrückten Zivilisationen daran keinerlei Anteil hatten, sondern - historisch und aktuell, wie der Globalisierungsdiskurs zeige, - rein passive Rezipienten europäischer Hochkultur seien. 288 Interessant ist hier vor allem, dass Lander die postmodernen Strömungen in seine Kritik voll einbezieht: Mit ihrem Akzent auf Subjekten und Individuen, Identitäten und Kultur, Texten, Diskursen und diffusen Machtbegriffen verblieben diese größtenteils eurozentrisch verhaftet und griffen die globalen hegemonialen Strukturen der Modeme nicht an. Im Gegenteil verblieben auch die postmodernen Ansätze in einem eurozentrischen Rahmen, der die konstitutive Rolle von Kolonialismus, Imperialismus und den damit einhergehenden Rassismen für das Zustandekommen der Moderne nicht erkenne? 89 Dennoch erwähnt Lander im Entstehen begriffene Projekte, die

287 I Lander, Edgardo (2003b): "Ciencias sociales: saberes coloniales y eurocentricos", in: Edgardo Lander (2003a) (Hg.), S. 11-40, S. 16. 288 I "En Ia autopercepci6n hegem6nica de Ia modemidad se destacan dos mitos centrales que hoy estan siendo severamente cuestionados. EI primero, es el mito de acuerdo al cual Ia modemidad europea ( ... ) es Ia expresi6n maxima del desarrollo hist6rico ascendente de Ia humanidad. En este sentido, un proyecto universal. ( ... ) EI segundo, es el mito de acuerdo al cual este proceso universal es un producto intemo del desarrollo europeo. La civilizaci6n, Ia modemidad, el progreso, el desarrollo de Ia ciencia y Ia tecnologia modemas, del individuo, Ia libertad y Ia democracia son, en sentido estiicto, productos de las dinamicas y procesos internos del desarrollo de las sociedades occidentales. En las relaciones de Europa con otros pueblos y culturas, el aporte cultural civilizatorio se da siempre en una direcci6n, como contribuci6n de Ia cultura superior (europea u occidental) a las otras culturas que son, y han sido siempre, inferiores. (Die hegemonische Selbstwahrnehmung der Moderne ist von zwei zentralen Mythen bestimmt, die heute ernsthaft in Frage gestellt werden. Der erste ist der Mythos, demzufolge die europäische Moderne den höchsten Ausdruck der historischen Entwicklung der Menschheit darstellt. ln diesem Sinne ein universelles Projekt. [ ... ]Der zweite ist der Mythos, demzufolge dieser universelle Prozess ein internes Produkt der europäischen Entwicklung ist. Die Zivilisation, die Moderne, der FOttschiitt, die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik, das Individuum, die Freiheit und die Demokratie sind, im engeren Sinne, Produkte, die aus den internen Dynamiken und Prozessen der Entwicklung westlicher Gesellschaften hervorgegangen sind. ln den Beziehungen Europas mit anderen Völkern und Kulturen wird der kulturelle zivilisatorische Beitrag immer einseitig geleistet, als Beitrag der überlegenen [europäischen oder westlichen] Kultur an die anderen Kulturen, die unterlegen sind und schon immer waren)." Lander, Edgardo (1997), s. l. 289 I Lander, Edgardo (1997), S. 8.

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sich die Infragestellung des westlichen Wissens und Denkens zur Aufgabe setzten und damit deren Hegemonie vom Süden her attackierten? 90 Verwandte Ansätze zum Konterkarrieren nordatlantischer Vorherrschaft in der Disiplin sind Vorhaben zur Entlarvung von Verfalschungen in der eurozentrischen Geschichtsschreibung aus der Sicht der ehemals kolonialisierten Kontinente. Im Rahmen seiner "epistemischen Geopolitik" zerlegt Mignolo die angenommene Kontinuität vom antiken Griechenland über Rom bis zum modernen Europa291 , die auch Dussel als "ideologische Erfindung der deutschen Romantik Ende des 18. Jahrhunderts" kritisiert, deren Ziel es sei, die griechische Kultur als "exklusiv europäische zu rauben"292. Chakrabarty prägte für diese Vorhaben den Begriff der "Provinzialisierung Europas" in seinem einschlägigen Werk mit selbigem Tite1. 293 Der Forderung schließt sich Diouf als Herausgeber des Sammelbands "L'historiographie indienneendebat - colonialisme, nationalisme et societes post-coloniales" an, um so der europäischen Geschichtsschreibung als "Master narrative" die Definitionsmacht zu entreißen, die alle andere Geschichtswissenschaft und historische Erfahrung als peripher abtue. Nur so könne man ein für allemal aus der "kolonialen Bibliothek" ausbrechen. 294 Mit der an ein afrikanisches Publikum gerichteten Präsentation der Arbeiten indischer Kolleginnen möchte er ein solches Vorhaben in Afrika in die Wege leiten.

290 I "Lo que parece haber comenzado y entrar en crisis es Ia pretensi6n hegem6nica de los saberes e imaginarios occidentales - su Historia Universal - constitutivos del mundo colonial. Se estan viviendo en diferentes partes del planeta busquedas y experiencias diversas, enriquecidas precisamente en el enfrentamiento a los disciplinamientos, ordenamientos, y exclusiones constmidos por el discurso colonial. (Was anscheinend dabei ist, in eine Krise zu geraten, sind die für die koloniale Welt grundlegenden, hegemonialen Vorgaben westlichen Wissens und westlicher Vorstellungen- ihre Universelle Geschichte. In verschiedenen Teilen des Planeten werden derzeit llllterschiedliche Suchen und Erfahrungen gelebt, die gerade durch die Konfrontation mit den Diszipliniemngen, Ordnllllgen und Ausschlüssen angereichert werden, die der koloniale Diskurs geschaffen hatte). Lander, Edgardo (1997), S. 9. Als Aufruf zu eigenständiger Wissensproduktion kann die Kritik am Eurozentrismus bei Fals-Borda und Mora-Osejo gelesen werden, der jedoch über eine Bezeugung guten Willens nicht weit hinausgeht. Fals-Borda, Orlando/Mora-Osejo, Luis E. (2003): "Context and diffusion of knowledge - a critique of Eurocentrism", in: Action Research 1 Nr. 1, S. 29-37. 291 I Mignolo, Walter (2004). 292 I Dussel, Enrique (2003), S 41, S. 44. 293 I Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincialising Europe - postcolonial thought and historical difference, Princeton. 294 I Diouf, Mamadou (1999): "1ntroduction: Entre Afrique et lnde: sur les questions coloniales et nationales. Ecritures de l'histoire et recherches historiques", in: Mamadou Diouf (1999) (Hg.): L'historiographie indienne endebatcolonialisme, nationalisme et societes post-coloniales, Paris, S. 5-35, S. 30/31.

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Orientalismus und Kritik an der Disziplineneinteilung der Sozialwissenschaften Den "Orientalismus", das heißt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Orient und im weiteren Sinne der westliche Diskurs über den Orient, zerpflückt Said in seinem ebenso betitelten Werk. Es geht ihm zwar um die universitäre Dimension, das heißt um die Disziplineneinteilung der europäischen Geistes- und Sozialwissenschaften, die eine Abteilung fiir "Orientstudien" vorsieht, jedoch hält er sich mit der wissenschaftssoziologischen Analyse der Auswirkungen dieser Disziplineneinteilung nicht auf. Er sieht sie vielmehr als stmkturierendes Element des ,,Diskurses" über den Otient im Foucaultschen Sinne. 295 Den "orientalisme de l'imaginaire", das heißt die ontologische und erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Orient und Okzident, die den Orient als "das Andere" und als Objekt konstituiert, entlarvt der Autor bei einer ganzen Reihe berühmter europäischer Gelehrter als Imagination. Saids Analyse deckt sich in gewisser Weise mit der hier verfolgten Feststellung, dass der Norden über seine Regionalstudien sozialwissenschaftlich die ganze Welt mit Wissen "behetTscht". Denn sein Werk handelt davon, inwiefem "über das Andere die wissenschaftliche Wahrheit" zu haben immer auch eine Machtbeziehung impliziert, die den Anderen unterordnet, wie Todorov in seiner ,,Preface" elegant zusammenfasst: "Dire a quelqu'un: ,Je possede Ia verite sur toi' n'informe pas seulement sur Ia nature de mes connaissances, mais instaure entre nous un rapport ou ,je' domine et l'autre est domine ( ... ): Ia connaissance permet toujours a celui qui Ia detient Ia manipulation de l' autre; le maitre du discours sera Je maitre tout court. "296 In diesem Sinne der Beherrschung bringt auch Said Wissenschaft - in diesem Falle die Orientkunde - mit dem Imperialismus in Verbindung: Der politische und kulturelle Imperialismus habe eine Disziplin und eine Vorstellungswelt vom Orient als dem Anderen so erfolgreich konstituiert, dass diese heute im intellektuellen Arbeiten unumgänglich erscheinen. Dem geht er vor allem in der europäischen Literatur der letzten drei Jahrhunderte nach. Ein erklärtes Ziel seiner Arbeit war es dabei, den Leserin295 I "( ... ) on peut decrire et analyser l'orientalisme comme l'institution globale qui traite de !'Orient, qui en traite par des declarations, des prises de position, des descriptions, un enseignement, une administration, un gouvernement: bref, l'orientalisme est un style occidental de domination, de restructuration et d'autorite sur !'Orient.( ... ) Je soutiens que, si l'on n'etudie pas l'orientalisme en tant que discours, on est incapable de comprendre Ia discipline extremerneut systematique qui a permis a Ia culture europeenne de gerer - et meme de produire !'Orient du point de vue politique, sociologique, militaire, ideologique, scientifique et imaginaire pendant Ia periode qui a suivi le siecle des Lumieres." Said, Edward W. (1978), S. 15. 296 I Todorov, Tzvetan (1994): "Preface", in: Said, Edward W. (1978), S. 7-10, S. 8.

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nen aus den ehemaligen Kolonien die kulturelle Hegemonie des Westens klar vor Augen zu führen und somit aufklärerische Wirkung zu entfalten: "Enfin, cette etude propose aux lecteurs de ce qu'on appelle Je tiers monde une etape vers Ia comprehension, non pas tellement de Ia politique occidentale et du monde non occidental dans cette politique, mais de Ia force du discours culturel occidental, force qu'on croit souvent a tort n'etre que decorative ou relevant de Ia superstructure. J'espere avoir illustre Ia redoutable structure de Ia domination culturelle et montre, tout particulierement aux peuples qui furent colonises, !es dangers et !es tentations d'appliquer cette structure pour eux et pour !es autres."297 Ähnlich wie Saids Kritik am Orientalismus, jedoch weniger ausgefeilt und vertieft, äußert Mamdani Klitik an der Afrikanistik, das heißt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Afrika. Während der Orientalismus den Orient als Anderes vor allem im religiösen Sinne konzipierte, erklärte die Afrikanistik Afrika zum Anderen im Sinne des Ethnischen: "If Orientalism cast the Asian subject as essentially religious, Africanism defined the African subject as essentially ethnic. In each case, an identity that power sought to reproduce, knowledge sanctified as primordial. One begins to understand why the post-colonial power in Africa, militantly anti-colonial, banned anthropology as an academic discipline."298 Die afrikanische Kritik an der Disziplineneinteilung und insbesondere an der für das Studium afrikanischer Gesellschaften zuständigen Ethnologie (beziehungsweise im angelsächsischen Wortgebraucht [Sozial-]Anthropologie) stellte sich radikaler dar als die Saids am Orientalismus. A. Bouhdiba kritisiert die Rubrizierung unterschiedlicher Disziplinen für Gesellschaften des Nordens und des Südens als Hinweise auf das "Überleben eines intellektuellen Kolonialismus": "Cette division traditionnelle du travail scientifique est doublee par une seconde division fondee sur Ia distinction entre ,primitifs' et ,civilises' , division qui oppose l'ethnologie a Ia sociologie, l'anthropologie economique a l'economie politique, l'anthropologie politique a Ia science politique, et l'anthropologie culturelle a Ia psychologie sociale. Ces Oppositions traduisent Ia survivance d'un colonialisme intelleetueI, ,heritage d'une epoque revolue' ."299 Die Universitäten des unabhängigen Afrika hatten die Anthropologie als "Kind des Kolonialismus" und als Disziplin, die den in nationalen Einigungsprozes297 I Said, Edward W. (1978), S. 38. 298 I Mamdani, Mahmood (1997), S. 150. Vgl. zu Mamdanis Kritik an der Afrikanistik auch: Mamdani, Mahmood ( 1998): "Teaching Africa at the postapartheid University of Cape-Town- a critical view of the ,lntroduction to Africa' core coursein the Social Science and Humanities Faculty's Foundation Semester 1998". Seminar paper, Centre for African Studies/UCT, Cape Town, 20.4.1998. 299 I Bouhdiba, Abdelwahab (1970), S. 7/8.

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senhinderlichen Tribalismus stärkte, abgeschafft. 300 Doch hält die Diskussion über Sinn und Nutzlosigkeit beziehungsweise Schaden der Disziplin fiir Afrika und für die afrikanischen Sozialwissenschaften weiter an. 301 Mafeje selbst ist heute zu der Ansicht gelangt, dass die Disziplin entbehrlich sei: "As one of the African anthropologists who did not ,go underground' after independence, I have come to realise that anthropology, as a discipline, is dispensable. This conviction is bom of a long practical and intellectual experience."302

Kritik an der Irrelevanz importierter Kategorien S. F. Alatas versucht in seiner Konzeptualisierung von "Relevanz" die verschiedenen Kritiken aus dem Süden Lmd die ForderLmgen nach "DekolonisierLmg", "Nationalisienmg" oder "IndigenisierLmg" auf eine rationale, wissenschafts- und erkenntnistheoretische Gnmdlage zu stellen.303 Diese Projekte

300 I Für eine fiiihe afrikanische Kritik an der Anthropologie, siehe Onoge, 0. (1971): "Revolutionary imperatives in African sociology". Paper for the First Nigerian Anthropological and Sociological Association Conference, Ahmadu Bello University, Zaria!Nigeria, Dezember 1971, hier in: Peter C. W. Gutkind/Peter Waterman (1977) (Hg.): African social studies - a radical reader, London u. a. 1977, S. 32-43. 301 I Zur Kritik an der Anthropologie vgl.: Mafeje, Archie (1997) sowie die Debatte mit Rosabelle Laville, Sally Falk Moore, Paul Nchoji Nkwi, John Sharp, und Herbert Vilakazi, die der Autor in African Sociologica1 Review 2, Nr. 1, 1998 mit der Publikation seines Artikels "Anthropology and independent Afiica: suicide or end of an era?" auslöste. (Der Artikel selbst war nicht zugänglich, stellvertretend wurde Mafeje, Archie [o. J.]: "Anthropology in post-independence Africa: end of an era and the problern of selfdefinition". Multiversity of the MultiWorld Network, Malaysia, http://www.Multiworld.org/m_ versity/articles/article.htm, [Sept. 2005], herangezogen). Für eine Zusammenfassung und Antwort auf die Debatte vgl. Mafeje, Archie (1998): "Conversations and confrontations with my reviewers", in: Afiican Sociological Review 2 Nr. 2, S. 95-108. Mafeje muss eingestehen, dass neben ihm und Magubane die Initiative fiir die Dekonstruktion der Disziplin in erster Linie aus dem Norden kam, wozu er die Hauptlinien der Diskussion unter US-amerikanischen und britischen Anthropologlnnen wiedergibt, die die Verbindungen zu Kolonialismus bzw. Imperialismus aufdeckten und darüber iJu·e Disziplin in eine K.Jise stürzten. 302 I Mafeje, Archie (o.J.), S. 13. 303 I Als Beispiele fiir Kritiken aus dem Süden an der Irrelevanz herkömmlicher Ansätze zählt er folgende auf: "(... ) many have noted various problems surrounding the irrelevance ofwestem knowledge in non-weslern contexts. These problems range from the inappropriateness of European views on religion to the distorting effect of survey research methods to the inapplicability of weslern models. So great have such concems been that they have resulted in the fmmulation of a number of theoretical perspectives on the state of the social sciences in the postcolonial world that provide critical assessments of the western social sciences and their impact on the various disciplines in the Third World. Such theoretical perspectives include theories of Orientalism (Said, I979, 1993), theories of Eurocentrism (Amin, 1989), postcolonial criticism, rhetorical theories of social science (S. F. Alatas 1998), the theory ofmental captivity (S. H. Alatas 1972, 1974), pedagogical theories ofmodemization (lllich, 1973; Al-e Ahmad, n d.; Freire, I970), modern colonial critiques (Fanon, I968; Cesaire, I972; Memmi, 1967) and academic dependency theoIY (Altbach, 1977; Gareau, I985)." Alatas, Syed Fmid (200I), S. 6.

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wirkten bisher inkohärent und diffus, weil ihre Kritik an der Irrelevanz nordatlantischer Sozialwissenschaft fiir das Verständnis außereuropäischer Gesellschaften nicht klar konzeptualisiert sei. So liege häufig eine Verwechslung von politischer/gesellschaftlicher mit theoretischer Relevanz vor beziehungsweise eine mangelnde Unterscheidung derselben. Alatas unterscheidet verschiedene Gesichtspunkte der theoretischen Irrelevanz. Zunächst führe die unkritische Übernahme importierter Theorien und Konzepte zu mangelnder Originalität sozialwissenschaftlicher Produktion.304 Die Annahmen irrelevanter Sozialwissenschaft stimmten häufig mit der gesellschaftlichen Realität nicht überein. Dies sei beispielsweise offensichtlich in den Überlegungen der Klassiker wie Marx und Weber zu außereuropäischen Gesellschaften, die des Öfteren auf der Grundlage unbeglündeter und irreruhrender Feststellungen erfolgte. Ein weiteres Kriterium für Irrelevanz sei daher die "Nichtanwendbarkeit" ("inapplicability"). Denn sofern die Hypothesen mit einer bestimmten Realität nicht übereinstimmten, seien auch die daraus entwickelten Theorien, Konzepte oder Modelle zur Analyse derselben ungeeignet. Saids Orientalismus, Amins Eurozentrismus sowie postkoloniale Kritiken hätten gezeigt, inwieweit nicht anwendbare Theorien ideologisch geprägte oder empirisch unhaltbare Aussagen hervorbrachten. Als ein konkretes Beispiel ftir theoretische Irrelevanz in der Soziologie zitierte Gareau V. P. Varrnas Studie "Talcott Parsans and the behavioural sciences", die herausarbeitet, dass Parsans Funktionalismus ftir das Verständnis der indischen Gesellschaft unangebracht sei: "Varma's ( ... ) analysis ofParsons' The Structure of Social Action illustrates the dilemma of a model, affered by a Westem social scientist as a framework for studying a discipline araund the world, being rejected in the east as ethnocentric, as a view which reflects Western structures and values and rationalised Westem interests ( ... ). Parsans may be a prophet for American sociologists, but his works ,do not contain any program for action and concrete research work for the social scientist ofthe Third World'." 305

304 I Dies ist im Zusammenhang mit S. H. Alatas Theorie des "captive mind" (siehe Kapitell.3) zu sehen: "According to the theory ofmental captivity, the captive mind is characterized by a way of thinking that is dominated by western thought. The Iack of originality does not lie in the appropriation ofwestern thought per se but rather in the uncritical and imitative manner in which western knowledge is assimilated. An ,uncritical demonstration effect' results in imitation at alllevels ofscholarly activities including problem-setting, analysis, generalization, conceptualization, description, explanation and interpretation ( .. .)." Alatas, Syed Farid (2001), S. 7. 305 I Gareau, Frederick H. (1985), S. 111. Er fährt fort: "This is a criticism of Parsons' approach to sociology by an Indian social scientist. The approach is taken to task as an ethnocentric reflection of American society which rationalizes capitalism and whose materialism is at odds with Indian religions." Gareau, Frederick H. (1985), S. 158. Yarmas Attikel ist veröffentlich im "Indian Journal of Political Science" XLll Nr. 2, 1981, S. 1-13, lag jedoch für diese Arbeit nicht vor.

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Ein weiteres Element in Alatas Konzeptualisierung ist seine Feststellung, dass die Übernahme irrelevanter Theorien tmd Konzepte Sozialwissenschaftlerinnen von ihrer eigenen Gesellschaft entfremde. Diese Entfremdtmg bezieht sich auf die Diskrepanz zwischen den Forschungsinteressen - in Anlehnung an Prioritäten des Nordens - tmd den Problemen der eigenen Gesellschaft, wobei nicht die Nutz- und Bedeutungslosigkeit entfremdeter Sozialwissenschaft für die eigene Gesellschaft (gesellschaftliche Irrelevanz) gemeint ist, sondern die Abkoppelung der Theoriebildtmg von ihrer empirischen Grundlage. Daraus entstehen theoretische Aussagen, die wenig zum Verständnis der beobachteten Realitäten beitragen. Weitere Merkmale irrelevanter Sozialwissenschaft seien "Redundanz", die unkritische Übernahme von Floskeln und Tautologien, eine Tendenz hin zur ,,Mystifizierung", das heißt jargonartiger, obskurer Ausdrucksweise, die nicht zum Verständnis beiträgt, und aufgrund alldieser Mängel schließlich die Mittelmäßigkeit der wissenschaftlichen Produktion. Die genannten Probleme auf allen Ebenen von der Erkenntnistheorie bis hin zur Empirie und Anwendung seien, so Alatas, spezifisch für den globalen Süden. Auch in der nordatlantischen Sozialwissenschaft träten zwar vergleichbare Schwierigkeiten auf, würden dort aber seit jeher in Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie reflektiert, eine kritische Instanz, die im Süden bisher weitgehend fehle. Relevanz dagegen zeichne sich aus durch Originalität, Nähe zur eigenen Gesellschaft, Klarheit des Stils, Demystifizierung und Strenge im wissenschaftlichen Arbeiten; und auf der theoretischen Ebene durch die kritische Aneignung rezipierter Ansätze sowie die eigenständige Herausbildung von Theorien und Konzepten auf der Grundlage lokaler gesellschaftlicher Erfahrungen. Damit deutet Alatas auch eine Kritik an der Idee der Indigenisierung als der einfachen Ersetzung nordatlantischer Begriffe durch indigene an. Die Forderung nach mehr Relevanz ist also keinesfalls als Ablehnung der nordatlantischen Tradition und als Abschottung in Partikularismen zu verstehen. Vielmehr gelte es zu erkennen, dass auch westliche Sozialwissenschaften "indigen" seien und mit eigenständigen und theoretisch relevanten Beiträgen die Universalisiertmg der Disziplinen voranzutreiben. 306 Die Irrelevanz im Süden stärke dagegen die Dominanz zentraler Sozialwissenschaft:

306 I "The general idea was that the westem social sciences are indigenous to their own settings and that the call for relevance is meant to contribute to the universalization of the social sciences." Alatas, Syed Farid (2001), S. 1. Weiterhin: "The extent to which the sem·ch for relevance in the social sciences, in its attempt to ,correct' Eurocentric discourse, becomes a fotm of nativism or orientalism in reverse, is a matter that must be taken seriously. ,Going native' among both westem and indigenous scholars constitutes the elevation ofthe native's point ofview to the status of the criterion by which descriptions and analyses are to be judged to the extent that the social sciences from the Westareheld tobe irrelevant( ... ). lt cannot be emphasized enough that projects such as indgenization, postcolonialism, decolonization and others stand for the universalization ofthe social sciences." Ebd., S. 17.

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"Following from the preceding point, irrelevance at all these Ievels Ieads to social science which, as pointed out by various works on Orientalism, intellectual imperialism and academic dependency, empowers western social scientists, academic institutions, funding agencies, students, rather than Third World social scientists or those on whose behalf they speak, that is, the ,natives', subaltem groups and so fot1h. The result is that it is primarily European and American experience that guides the social science enterprise elsewhere. Expert knowledge is deemed to originate from westem centres of leaming. There is therefore, an almost unidirectional flow of ideas and research funds from Europe and the USA to the Third World."307 Die Forderung nach Relevanz versteht Syed Farid Alatas infolgedessen als "kritisches" und "emanzipatorisches" Projekt.

Kritik an den dekonstruktiven Projekten und an der lndigenisierungsdebatte Die genannten Kritiken an nordatlantischer Dominanz haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr Gehör verschafft.308 Doch stellen sie noch keine Alternative zu herkömmlicher Sozialwissenschaft dar. In ihrer Fixierung auf Texte und Theorien hinterfragen diese dekonstruktivistischen Kritiken auch nicht genügend die entwicklungstechnischen, infrastrukturellen und institutionellen Faktoren ftir intellektuelle Dependenz und Marginalität. 309 Der erkenntnistheoretische Zweifel dieser kritischen Projekte, der, wie unten kurz ausgeführt werden soll, die Einheit der Disziplin und damit die Möglichkeit einer Sozialwissenschaft überhaupt in Frage zu stellen droht, wurde öfters verkannt oder ging in der allgemeinen Flut an postmoderner Literatur unter, die ja seit Jahren auch im Zentrum vormalige Gewissheiten der Soziologie in Frage stellt. Der dekonstruktive Ansatz macht diese Kritiken außerdem abhängig von und außen-

307 I Alatas, Syed Farid (2001), S. II. 308 I Vgl. etwa "L'histoire elle-meme, dans son refus de se plier a nos theories et a nos interventions, a ebranle notre confiance troublee au sm-plus par !es questions et !es arguments bientot formules par !es chercheurs du Tiers Monde: Ia dependencia en Amerique Jatine, l'authenticite et l'indigenisation en Afrique et en Asie, et plus recemment, en Chine, !es partisans d'une science sociale ,maison', convaincus que c'est seulement de l'interieur qu'on peut vraiment comprendre une culture ou un ordre politique." Prewitt, Kenneth (1983), S. 820. Siehe auch Berthelot, Jean-Michel (1998): "Les nouveaux defis epistemologiques de Ia sociologie", in: Sociologie et Societes 30 Nr. 1, S. 1-16. 309 I Dies arbeitet Sitas in seiner kritischen Diskussion soziologischer Forderungen aus dem Süden deutlich heraus: "Unfortunately the emphasis on discourses (and texts), their constructions and inventions encouraged by postcolonial theorists, despite their critical and emancipatory promise, prove to be fmstrating. By pro-figuring processes of signification and discursive power, they leave the ,steering media' of money and power and more importantly the institutional matrices that constrain social life and indeed their own claims, untouched." Sitas, Ari (2006), S. 5. Lander argumentiert ähnlich: Lander, Edgardo (1997), S. 7.

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orientiert auf die dominante Soziologie, die sie herauszufordern suchen - wie erfolgreich auch immer.31 0 Ein konstruktiver Gegenentwurf ist daher die Indigenisierungsbewegung. Die Einsicht in die Bedeutung indigenen oder endogenen Wissens für Wissenschaft hat sich mittlerweile in einer Reihe von Disziplinen und Projekten durchgesetzt? 1 Dem Begriff der Indigenisierung kommen in der Literatur verschiedene Bedeutungen zu, von der "Nationalisierung" des Personals angefangen. Hier wird er (erkenntnis)theoretisch verwendet und meint die Anpassung importierter Theorien an lokale soziale Realitäten oder die Erzeugung eigener Ansätze. Eine Sequenz der Indigenisierungsdebatte, die sich in den 1980er Jahren zwischen nigerianischen Soziologen entspann, wurde in der Zeitschrift "International Sociology" veröffentlicht, das heißt in dem Forum, welches das Projekt einer "Internationalen Soziologie" verfolgt. 312 Es handelt sich um den ersten großen Auftritt in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft, auf den Akiwowo zehn Jahre später nochmals zurückkommt. 313 Auch wenn die Indigenisierungsbewegung in den Folgejahren sehr unterschiedliche Projekte umschloss, kann die in der "International Sociology" veröffentlichte klar umrissene De-

310 I "However much we de-construct the constructions of the ,other' in the dominant sociological texts, we are left with antinomical texts whose dependence is the construction in the first place." Sitas, Ari (2006), S. 5. 311 I "To understand the relevance of this, suffice it to say that indigenous knowledge provides 80 percent of the world population with a basis for local-level decision making in matters of food security, human and animal health, education, natural resources management and various other community-based activities. Being so c1osely re1ated to different aspects of survival and subsistence it is, understandably, extreme1y valuable." Vessuri, Hebe (2002): "Innovation context and strategy of scientific research in Latin America", in: Science, Technology & Society 7 Nr. 2, S. 201-213, S. 202. Diawara wendet sich im Rahmen des Projekts "Point Sud- Center for Research on Local Knowledge", der Analyse und wissenschaftlichen Nutzung lokalen Wissens zu. Diawara, Mamadou (2000): "Globalization, development politics and local knowledge", in: International Sociology 15 Nr. 2, S. 365-375. Vgl. auch die Diskussion um geistiges Eigentum auf indigenes Wissen in der in Fußnote 245 angegebenen Literatur. Siehe die kritische Diskussion des Begriffs "indigenes" oder "traditionelles Wissen" in Busingye, Janice Desire/Keim, Wiebke (im Erscheinen). 312 I Die Artikel wurden zunächst veröffentlicht in der Zeitschrift International Sociology (Vol. 1. No. 4, I986; Yol. 3, No. 1, 1988; und Yol. 5, No. 1, 1990). Hier liegt die Publikation der Beiträge in: Albrow, Mattin!King, Elizabeth (I990a) (Hg.): Globalization, knowledge and society: readings from International Sociology, London, zugrunde. Für die einzelnen Artikel, siehe: Akiwowo, Akinsola (1990): "Contributions to the sociology ofknowledge from an African oral poetry", in: ebd., S. 103-117; Makinde, A. Akin (1990): "Asuwada principle: an analysis of Akiwowo's contributions to the sociology of knowledge from an African perspective", in: ebd., S. 119-134; Lawuyi, 0. B.fraiwo, Olufemi (1990): "Towards an African sociological tradition: a rejoinderto Akiwowo and Makinde", in: ebd., S. 135-151. 313 I Akiwowo, Akinsola (1999): "Indigenous sociologies- extending the scope ofthe argument", in: International Sociology I4 Nr. 2, S. 1I5-138.

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batte als paradigmatisch gelten. Hier sollen deren Inhalt und Probleme daher in aller Kürze abgehandelt werden. 314 Die Motivation für diesen ersten großen Indigenisierungsversuch von nigerianischer Seite war in erster Linie eine politische: Durch lokales Wissen sollte die Abhängigkeit von westlichen Ansätzen reduziert werden. 315 Akiwowo möchte mit seinem Artikel "Contributions to the sociology of knowledge from an African oral poetry" 316 allgemeine soziologische Aussagen aus einem oralen rituellen Text in Yoruba ableiten, der aus der Region Oyo State, Nigeria, stammt. Sein Kollege Makinde ordnet diesen Artikel in eine Reihe ähnlicher Arbeiten des Autors und seines Instituts ein, die darauf zielten, aus "afrikanischer Philosophie" Ideen zur Entwicklung einer Soziologie abzuleiten. 317 Aus der abschnittsweisen Interpretation des "Orakels" arbeitet er Begriffe in Anlehnung an die allgemein soziologischen Termini wie zum Beispiel "Individuum", "Gemeinschaft" oder "Blutsverwandtschaft" heraus. Makinde und Lawuyi/Taiwo nehmen die Vorschläge aufund kritisieren, verfeinem und präzisieren sie. Doch bereiten die Debatte und die ihr zugeschriebene Bedeutung einen ganzen Komplex von Schwierigkeiten. Auffällig sind zunächst die inhaltlichen Probleme. In der Einleitung zu den Beiträgen der Indigenisierungsdebatte318 heißt es, in der Rückbesinnung auf das soziale Denken in ihren eigenen kulturellen Traditionen könnten die nigerianischen Kollegen Inspiration für die soziologische Analyse der eigenen Gesellschaft finden. Zur Beurteilung von soziologischen Ansätzen ist jedoch weniger von Bedeutung, woher die "Inspiration" kommt (oder kommen soll), sondern ob und inwieweit sie soziale Phänomene erklären können. Die Kritik von Lawuyi und Taiwo an Akiwowos und Makindes Beiträgen trifft den Kern der Sache: Sie präsentieren hier keine soziologische Theorie, sondern sie suchen nach Y oruba-Äquivalenten für herkömmliche

314 I Für eine eingehende Beschäftigung und Kritik der lndigenisierungsdebatte, vgl. Keim, Wiebke (2007) "Jenseits von Afrika - Auseinandersetzungen um den Hegemonialanspruch der ,Internationalen Soziologie"', in: Sabine Ammon u. a. (2007) (Hg.): Wissen in Bewegung- Vielfalt und Hegemonie in der Wissensgesellschaft, Göttingen, S. 121-139. 315 I "The idea is that sociology can benefit from home-grown ideas cantairred in African oral Iiterature so as to /essen the danger of depending entirely upon Western concepts and theoretical assumptions ( ... ). Nigerian social scientists in generaland sociologists in particular have an obligation ofrecycling what are elements in om· world views into their explanatory and analytical studies of present or future social conditions of existence, and to the development of new knowledge about this and other societies." Akiwowo, Akinsola (1983) hier zitiert in: Makinde, A. Akin (1990), S. 131. 316 I Akiwowo, AkinsolaA. (1990). 317 I Makinde, A. Akin (1990). 318 I Albrow, Martin/King, Elizabeth (1990b): "lntroduction: creating indigenous sociologies", in: Martin Albrow/Elizabeth King (1990a) (Hg.), S. 101-102.

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soziologische Konzepte. 319 Es mag sein, dass die bearbeiteten Konzepte geeignet sind, nigerianischen Studierenden Schlüsselbegriffe des soziologischen Denkens näher zu bringen. Den Texten der Indigenisierungsdebatte ist aber nicht deutlich zu entnehmen, welchen theoretischen Mehrwert sie darstellen oder inwiefern die Yoruba-Konzepte "helfen können, der Weltgemeinschaft der Soziologie Prinzipien der mainstream Soziologie zu erklären'320 . Es bleibt auch unklar, inwiefern die Gedankenspielerei mit Begriffen, die auf etwas waghalsige Art und Weise aus einem rituellen Text abgeleitet werden, der nigerianischen sozialen Realität näher kommt. Genauso wenig ist ersichtlich, was die neu vorgelegten Konzepte mehr oder besser erfassen oder erklären können als die herkömmlichen soziologischen Schlüsselbegriffe, und wieso man diese durch jene ersetzen sollte_321 Für die vorliegende Arbeit sind aber vor allem die Schwierigkeiten rund um das Auftreten der Debatte spannend. Zwei Vertreter der "Internationalen Soziologie", Elizabeth King und Martin Albrow, übernahmen die nigerianische Indigenisierungsdebatte ebenso wie eine Reihe weiterer Artikel aus "International Sociology" in einen Sammelband zu Wissen und Globalisierung. 322 Fmstrierend für die Vertreter der Indigenisierung war dabei vor allem, dass der Auffassung der Herausgeber nach die Phase der Indigenisierung von der Globalisierung der Soziologie bereits überholt wurde. Dies unterstellt ihre Einleitung, in der sie ein Phasenmodell von der klassischen Universalität über nationale Soziologien, Internationalismus, Indigenisierung bis hin zur Globalisierung der Disziplin einführen. 323 319 I "Whereas one may not fault the effort to find Yoruba equivalents of English concepts, one surely must cry foul when the identification of these Y oruba equivalents is presented as discovery of sociological theories and philosophical doctrines. It is one thing, and an easy one at that, to say that sociology can be done in Yoruba. It is quite another and infinitely more difficult thing to do sociology in Yoruba." Lawuyi, 0. B.l Taiwo, Olufemi (1990), S. 144/145. 320 I So fasst Akiwowo seine Absicht in einer späteren Revision und Vertiefung des lndigenisierungsprojekts. Akiwowo, Akinsola (1999), S. 131. Hier wird auch die Außenorientierung der Debatte deutlich. 321 I Diese Kritiken nähern sich denen Hountondjis an der Ethnophilosophie an: "Zwei völlig verschiedene Diskurse werden schließlich vermengt: der ethnographische Diskurs ( ... ) und der philosophische Diskurs. Auf diese Art und Weise hat es unsere philosophische Literatur in den letzten dreißig Jahren schrittweise geschafft, sich in den schlammigen Schleichwegen dubioser Ethnophilosophie zu verirren, einer hybriden, ideologischen Disziplin ohne Anerkennung und Status in der Welt der Theorie. Im Austreten dieser Wege glaubten unsere Autoren aufrichtig, dass ihre Arbeit originär sei. Tatsächlich folgten sie bloß den Fußstapfen des westlichen Eurozentrismus." Hountondji, Paulin J (1983), S. 50. 322 I Albrow, Martin/King, Elizabeth (1990a) (Hg.). 323 I Vgl. auch: "The most frustrating aspect around the staging of the Nigerian debate is that it is taken nowhere. lt is a snippet of performance that is contextualized as a surpassed and important antecedent. Surpassed by whom or what? The book merely highlights ,indigenisation' as a phase which is overcome

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Obendrein wird der Indigenisierungsbewegung unterstellt, nur durch die Gnade internationaler Instanzen überhaupt zu existieren: "lt is impossible to divorce the drive for indigenous sociologies from the overall processes ofintemationalisation and globalisation. ( ... ). This should be even more apparent when we reflect on the fact that ,indigenisation' is something which has been promoted by international conferences and supported by bodies such as the International Social Science Council. ( ... ). ,Indigenisation' carries all the difficulties and ambiguities of ,development aid'. The extent to which it represents an outside imposition is always open to question."324

Die Indigenisierungsdebatte soll an der Integration der Vielfalt in der Disziplin teilnehmen. In ihren Einleitungen schreiben Areher und Albrow325 von einer ideal egalitären wissenschaftlichen Gemeinschaft, innerhalb derer Kolleginnen unterschiedlichster kultureller Herklmft frei und gleichberechtigt diskutierten. Vor diesem Hintergrund- dem erklärten Programm einer von einer weltweiten Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen getragenen "Internationalen Soziologie" - erscheint die Indigenisierungsdebatte in anderem Licht. Sie ist für das Gelingen dieses Projektes eine politische Notwendigkeit, soll die beanspruchte Internationalität legitimieren: "International Sociology then is the product of a policy to reflect the nature of the work of the international community of sociologists, a policy to rnaximise the range of cultural representation, while contributing to the advance of the discipline. " 326 Angesichts des internationalen Kontextes kann man sich bereits fragen, was die nigeriaDisehe Indigenisierungsdebatte zum Fortschritt der Disziplin beitragen soll. Vor dem Hintergrund des Globalisierungsvorhabens wird deutlich, dass sie eine Quote in der Besetzung dieser Internationalen Soziologie erfüllen soll und dem Zwang, sich auf das Exotische festzuschreiben, unterliegt. Dass Akinsola Akiwowo in der "International Sociology" veröffentlichen kann, ist gut für seine Karriere und für eine Internationale Soziologie, die sich repräsentativ zeigen will. Es heißt noch nicht, dass die Kommunikationsprobleme in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft behoben wären, oder dass diese tatsächlich die Errungenschaften ihrer afrikanischen Kolleginnen wahrgenommen hätte. Jimf Adesfnä formuliert harte Kritik am Indigenisierungsprojekt und veröffentlicht sie bezeichnen-

by the challenges of, in the words of the editors, the phenomenon of globalisation. ( ... ) Despite Piotr Sztompka's sensible injunction that it is ,only in the context of comparative research that the problern of incommensurability of concepts receives its full formulation', there is not even a gesture in the West' s itinerary towards it." Sitas, Ari (2006), S. 7. 324 I Albrow, Martin/King, Elizabeth (1990b), S. 101. 325 I Archer, Margaret S. (1990): "Foreword", in: Martin Albrow/Elizabeth King (1990a) (Hg.) S. 1-2; Albrow, Martin (1990): "lntroduction", in: Martin Albrow/ Elizabeth King (1990a) (Hg.), S. 3-13. 326 I Albrow, Martin (1990), S. 5.

II. THEORETISCHE ANGRIFFE AUF DIE NORDATLANTISCHE HEGEMONIE

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derweise in der "African Sociological Review". 327 Das neohegemoniale Projekt einer "Internationalen Soziologie" nehme Äußerungen aus dem Süden ihren radikalen Anspruch und vereinnahme sie. 328 Dies sei das Ziel der Zeitschrift "International Sociology". Schon ihre Bezeichnung der Beiträge aus dem Süden als "indigene Soziologie" sei irreführend und blende aus, dass jede Soziologie kontextgebunden und demnach "indigen" sei. Akiwowo habe sich selbst in das ihm zugedachte "Ghetto" begeben und erfülle die übliche untergeordnete Rolle in der globalen Arbeitsteilung innerhalb der Disziplin. 329 Das Bemühen, die Bedeutung der Indigenisierungsbewegung herunter zu spielen, hängt gewiss mit der Befürchtung eines relativistischen Angriffs auf die Disziplin als wissenschaftlichem Projekt zusammen, denn, so 327 I Adesinä, Jimi (2002): "Sociology and Yoruba studies: epistemic intervention or doing sociology in the ,vernacular'?", in: African Sociological Review 6 Nr. 1, S. 91-114. 328 I Archers Ansprache zum 12. Weltkongress der Soziologie, in der sie sich fiir "eine einzige Disziplin" fiir "eine einzige Welt" ausspricht, unterstellt tatsächlich eine solche Tendenz: "In this address, I want to advocate a single sociology, whose ultimate unity rests on acknowledging the universality of human reasoning; to endorse a single world, whose oneness is based on adopting a realistic ontology, and to predicate any services the Discipline can give to this World upon accepting the fundamental unicity of Humankind." Sie fahrt fort: "If ,Sociology for One World' is possible, then it depends upon the above Statements about reasoning, reality and humanity being truths." Areher, Margaret S. (1991 ): "Sociology for one world: unity and diversity", in: International Sociology 6 Nr. 2, S. 131-147, S. 131-132). Adesfnä dagegen weist den Vorschlag als vereinnahmend und eurozentrisch von der Hand: "The ,unicity of humanity' that requires that we have ,a single discipline' for ,a single world' is in the imagination of the conventional western sociologist. It is one thing to defend foundationalism in sociology (at least some basis for episternic adjudication) agairrst the anarchist Iendeneies of postmodernism. Tt is an entire1y different thing to assurne that the dominant traditions in westem sociology can pretend to speak for the global community of sociology. The nomothetic design that Areher saw in what she called ,the international endeavour within sociology' is one that has advanced not because of its universality but as an idiographic narrative of (a section of) the West, often prut ofthe imperial agenda that has been called the ,ttiumph of the West'. The ,single humanity' that Areher pitches for, assumes its ,unicity' by denying a voice to the non-weslern voices. (And to the non-dominant voices in the West, as well)." Er fahrt fort: "An apparently different reaction to ,localised sociology', within the ISA, has been to ,embrace' it. Indeed the motivation within the ISA for founding the journalInternational Sociology is to provide a platform for articulating sociological insights from outside the West.( ... ). I will suggest that it is important to take the Aklwowo Project outside the tendency to ,embrace' and put into a ,ghetto' operrings for ctitical epistemic interventions in the discipline, which is informed by the ontological narratives ofthe Örunmilä oracular discourses." Adesinä, Jimi (2002), S. 94. 329 I "When Areher argues that ,complementary work from outside the developed world is needed', the question is complementing what? At what point is this another phrase for the traditional demand by weslern scholars for a global division of labour in knowledge production where epistemic issues are the concern ofwestern scholars and data gathering and lesser concerns are farmed out to non-westem sociologists?" Adesinä, Jimi (2002), S. 94.

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Margaret Archer, "anderes Denken" und "andere Welten" seien die "Feinde der Internationalen Soziologie"330 . Sie stellen die Universalität der Menschheit ebenso in Frage wie die der Disziplin. Akiwowo dagegen bestätigt selbst einige Jahre später, dass es nie seine Absicht gewesen sei, die vorherrschende Soziologie grundlegend in Frage zu stellen. 331 Vor dem Hintergrund all dieser Kritiken ist von der Indigenisierung, wie sie in der hier skizzierten Debatte gefordert wurde, als konterhegemonialer Alternative nicht allzu viel zu erwarten. Thandika Mkandawire nimmt an, dass Indigenisierung sich langsam von alleine ergeben wird, sobald sich etwa afrikanische Sozialwissenschaftlerinnen tatsächlich auf ihre eigenen Gesellschaften konzentrieren332 und S. H. Alatas weist das Projekt ganz zurück um ihm in eben dieser Analyse und Theoriebildung aus dem eigenen gesellschaftlichen Kontext heraus das der "autonomen Entwicklung" gegenüber zu stellen: "( ... ) I would like to avoid and reject the notion of indigenization as opposed to autonomaus development of sociology, or any science for that matter. lndigenization has a different connotation. In principle, a science cannot be indigenized. Only its application can. ( ... )First Iet me describe what is meant by an autonomaus social science tradition and then compare it with indigenization. Basically, it is the linking of social science research and thinking to specifically regional problems selected by regional scholars ( ... )."333 Er fährt fort: "Indigenization of the sciences is, in reality, actually impossible. The term has been used innocently to mean focusing attention on a particular country, locality or ethnic group. ( ... ) Though indigenization cannot apply to the sciences, it can, however apply to their use. ( ... ) Though the subject (of a local sociology, W. K.) is unique andindigenous the sociology is not, even though new concepts and methodology may be developed. This development would be part of the autonomaus growth, not indigenization, because it would become part of the general repertoire of sociological concepts in the general science of sociology ( ... )."334 Diese Vorstellung, die Thandika Mkandawire angedeutet und die Syed Bussein Alatas expliziert hat, entspricht in etwa dem hier entworfenen Konzept der konterhegemonialen Strömung, das im nächsten Abschnitt vorgestellt wird.

330 I Archer, Margaret S. (1990), S. 2. 331 I "Akiwowo's response that his concem was to contribute ,to the mainstream theory, but not with the aim of defeating the strictures' (1999, p. 118) is putting a gloss on the issues." Adesina, Jimi (2002), S. 100. 332 I "lf indigenisation takes place at all, the process will probably be 1ess vociferous and much less self-conscious than it is usually supposed. As African scholars focus their full attention on understanding the dynamics of their societies, they will per force have to adjust their acquired outlooks and methodologies, discover new tetminologies to come to grips with the peculiar idioms of change oftheir societies." Mkandawire, Thandika (1989), S. 10. 333 I Alatas, Syed Hussein (2006b), S. 10/11. 334 I Alatas, Syed Hussein (2006b), S. 13.

111. Konterhegemoniale Strömungen eine Konzeptualisierung

Der vorherige Abschnitt zeigte bereits die theoretischen Probleme auf, mit denen bisherige Versuche aus dem Süden, die nordatlantische Dominanz in der Soziologie in Frage zu stellen, behaftet sind. Auch die makrosoziologischen empirischen Erhebtmgen zeigen, dass sich trotz Eurozentrismuskritik, Orientalismus und Indigenisierung wenig an der realen Zentrum-Peripherie-Struktur in den Sozialwissenschaften geändert zu haben scheint. Angesichts des geringen Erfolges bisheriger theoretischer Versuche, die Dominanz nordatlantischer Soziologie zu mindern, stellt sich nun die Frage, aus welchem Kontext heraus oder unter Einsatz welcher Strategien es möglich ist, eigene, alternative Soziologien zu entwickeln; weiterhin, welche Chancen diese haben, über ihren Entstehungszusammenhang hinaus Anerkennung zu finden und einen Beitrag zur Disziplin als solcher zu leisten.

Die Herausbildung konterhegemonialer Strömungen versus Anschluss an den internationalen "Mainstream" Diese Arbeit schlägt zur Beantwortung dieser Fragen ein entwicklungstheoretisches Argument fiir die Herausbildung von konterhegemonialen Strömungen an der Peripherie vor. Mit "konterhegemonialen Strömungen" sind eigenständige, originelle Ansätze gemeint, die aus der soziologischen Beschäftigung mit lokal spezifischen gesellschaftlichen Problembereichen, abgekoppelt vom internationalen, nordatlantisch dominierten "Mainstream", entstehen. 335 Hie335 I Auf diese Möglichkeit weist Polanco hin: "Pour evaluer Je developpement d'une communaute scientifique dans un pays de Ia peripherie, deux positions s'opposent actuellement apartir de l'utilisation de Ia bibliometrie: ceux qui mesurent Je developpement d'une communaute scientifique nationale par son degre d'integration et de participation dans la science mainstream, et dorre par l'emploi de Ia linguafranca, de Ia communication scientifique, en l'occurrence l'anglais; l'autre position est representee par ceux qui estiment que cette fa.yon de mesurer Je deve-

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raus können - über längere Zeiträume betrachtet - autonome Traditionen im SinneS. H. Alatas entstehen. 336 Bevor dieser Gedanke weiter ausgefiihrt wird, soll daraufvetwiesen werden, dass diese Hypothese zur erfolgreichen Entwicklung von konterhegemonialen Strömungen einer herkömmlichen Annahme aus der Wissenschaftsforschung widerspricht, die unter anderen Gaillard aufgrund seiner langjährigen empüischen Untersuchungen vertritt. Da das hier formulierte Argument dem seinen entgegengesetzt ist, sollen seine Überlegungen zunächst kurz wiedergegeben werden. Jacques Gaillard begann 1987 mit einer Untersuchung zu Wissenschaftlerkarrieren im Süden, im Rahmen derer er die Idee "gespaltener wissenschaftlicher Gemeinschaften" entwickelte. Forscherinnen im Süden stünden vor der Entscheidung, ob sie eine "autozentrierte Strategie" verfolgen wollten oder eine "internationale": "Les chercheurs des PED (pays en developpement, W. K.) sembleut se situer au centre d'un conflit permanent entre une volonte de participer Ia resolution de problemes locaux et l'attirance des modeles et des systemes de reference vehicules par Ia communaute scientifique internationale laquelle ils voudraient bien egalerneut participer." 337 Gaillard optiert ftlr eine Entwicklungsstrategie in enger Anlehnung an internationale Trends. Denn auch wenn er selbst feststellen konnte, dass die Forscherlnnen, die im Ausland studiert hatten und verstärkt in internationalen Kreisen agieren, auch diejenigen sind, die am stärksten durch okzidentale Themenstellungen, Modelle und Methoden beeinflusst seien, dass sie oftmals den Kontakt zu den täglichen Problemen ihres Landes verloren hätten, und dass sie die ersten Kandidatinnen für eine Emigration in bessere ökonomische und forschungstechnische Verhältnisse seien ("brain drain"), so meint er doch, dass dieser Personenkreis die erfolgversprechendste Wissenschaft im Süden betriebe:

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loppement d'une communaute scientifique nationale de Ia peripherie constitue un ,reductionnisme' qui conduit a identifier l' institutionnalisation de Ia recherche dans un pays par son intemationalisation, ce qui ne represente qu'une strategie possible, un choix parmi d'autres; en outre, ils denoncent l'ideologie de ,l'ethos scientifique', selon laquelle Ia bonne recherche est celle qui est ,certifiee et validee' par Je mainstream du centre, qui fait ici figure d' instance internationale de certification et de Validation de Ia recherche." Polanco, Xavier (1990b), S. 45. Er erkennt damit auch die Schwierigkeiten, die empirische Untersuchungen zu solch konterhegemonialen Strömungen mit sich bringen. 336 I Alatas, Syed Husseirr (2006b); Alatas, Syed Husseirr (2006a): "The idea of autonomaus sociology - reflections on the state of the discipline", in: Current Sociology 54 Nr. 1, S. 5-6. 337 I Gaillard, Jacques (1987), S. 138. Diese Position verfocht der Autor im Jahre 1994 erneut: "La principale conclusion de l'etude ( ... ) est que !es scientifiques des pays en developpement se trouvent confronte a un dilemme. Participer a Ia solution des problemes locaux, ou suivre !es modeles et systemes de reference plus ou moins imposes par Ia comrnunaute scientifique intemationale." Gaillard, Jacques ( 1994), S. 225.

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"Notre experienee de la pratique de la reellerehe dans les PED nous suggere que les chercheurs les plus produetifs, eeux qui obtiennent les resultats les plus prometteurs, eeux qui stimulent la formation de groupes de ehereheurs aetifs autour d'un programme mobilisateur, eeux qui participent a la mise en plaee d'institutions seientifiques performantes, sont aussi eeux qui ont eu la possibilite d'effeetuer Ia plus grande partie de leur f01mation a l'etranger et qui ont su s'assurer et entretenir le plus grand nombre de eontaets personnels avee des ehercheurs experimentesdes pays oeeidentaux !es plus avanees."338 Gaillard schließt aus dieser Beobachtung, was er bereits für "allgemein akzeptiert" hält: dass an der Peripherie sich wissenschaftliche Gemeinschaften nur dann entwickeln können, wenn sie sich durch dauerhaften Kontakt über neueste Entwicklungen in der Metropole auf dem Laufenden halten. Das Vorhaben einer (zeitweiligen) Abkoppelung von der nordatlantisch dominie11en "internationalen Gemeinschaft" schätzen Gaillard und Schlemmer auch zehn Jahre später eindeutig als nachteilig ein: "Nous voudrions seulement souligner Je risque paye par le developpement d'une seienee plus nationale, plus endogene, eelui d'un divoree avee la eommunaute seientifique, e'est-a-dire, reeonnaissons-le, Ia eommunaute scientifique teile que definie par !es ehereheurs des pays riehes. On peut en effet penser que, de plus en plus sans formation identique et pmiagee, les ehereheurs formes au Sud - et pour le Sud - iront progressivement vers une rupture de eette adhesion eommune aux memes valeurs." 339 Eine Abwendung vom "Mainstream" ließe eine Verschlechterung der Lage im Süden erwarten: Qualitätsverlust in der Ausbildung, Unterbrechung internationaler Kommunikation und damit Verlust des Anschlusses an allgemeine Entwicklungen, Ausschluss aus "der wissenschaftlichen Gemeinschaft". Diese Befürchtungen unterstellen jedoch, dass Bahn brechende Erkenntnisse immer und ausschließlich in1 Norden hervorgebracht werden. Die Möglichkeit theoretisch relevanter Alternativen im Süden schließen Jacques Gaillard und Bemard Schlemmer anscheinend von vornherein aus. In der Folge ergäbe sich ihrer Meinung nach die Zurückweisung der Wissenschaft in den südlichen Ländern durch den Norden, durch "die wissenschaftliche Gemeinschaft", die, "erkennen wir es an, von den Forschern des Nordens definiert wird" und damit verbunden eine Einstufung des Südens als zweitrangige, untergeordnete, "subalterne" W issenschaft340. Das sei aufgrund des ungleichen "K.räfteverhältnisses" nicht wünschenswert. Gaillards und Schlemmers Lösungsvorschlag für die Wissenschaftsentwicklung im Süden ist daher: mehr augewandte als Grundlagenforschung, mehr Praxis als Theorie, mehr Deduktion als Induktion. Mit 338 339 340

Gaillard, Jaeques (1987), S. 12. Gaillard, Jaeques/Sehlemmer, Bernard (1996), S. 132. Gaillard, Jaeques/Sehlemmer, Bernard (1996), S. 132.

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diesen Rezepten, so meinen sie, könne der Anschluss an internationale Entwicklungen erreicht werden. Die nordatlantisch beherrschte Internationalisierung und Globalisierung könne auch als Chance für den Süden gesehen werden, beispielsweise ermögliche sie die Herausbildung von Diaspora-Netzwerken mit Kolleginnen, die in der Metropole eine Anstellung gefunden haben ("brain gain"). In einer Abkehr von internationalen Trends dagegen sehen die beiden Autoren den Untergang der gesamten südlichen Wissenschaft sowie die Unmöglichkeit einer echten "globalen wissenschaftlichen Gemeinschaft": "Finalement, allons-nous assister a Ia chronique d'une mort annoncee, celle de la capacite du Sud a se maintenir dans Je mouvement de Ia science mondiale, ou a l'emergence d'une vraie ,communaute scientifique globale', dans laquelle communautes scientifiques nationales trouveraient a s'inserer, et ayjouer de leurs points de force." 341 Diese Einschätzung bedeutet jedoch nichts anderes, als dass die einzige denkbare Wissenschaft die nordatlantische ist und der einzig gangbare Weg ftir den Süden das "Aufholen", das heißt der Anschluss an deren Hegemonie. Gaillard und Schlemmer betrachten in ihren Arbeiten überwiegend den Bereich der Naturwissenschaften. Hier mögen ihre Einschätzungen unter Umständen diskutabel sein: Das Objekt der Naturwissenschaften unterliegt in der Regel weniger der partikularen gesellschaftlichen Konditionierung, der die Sozialwissenschaften ausgesetzt sind, so dass zwischen der Arbeitsweise und den erzielten Forschungsergebnissen wissenschaftlicher Gemeinschaften in ganz unterschiedlichen Erdteilen weniger große Unterschiede zu erwarten sind als in jenen. Die Möglichkeit lokaler Alternativen zum bisherigen "Mainstream" ist in den per se stärker kontextabhängigen Disziplinen daher anders einzuschätzen. Die Frage, ob für die Naturwissenschaften Gaillards und Schlemmers Ausblick gerechtfertigt ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Einer möglichen Übertragung auf die Sozialwissenschaften muss aber in mehreren Punkten widersprochen werden: Erstens geben die Autoren selbst zu, dass "die wissenschaftliche Gemeinschaft" von den Akteuren des Nordens definiert wird. Die Möglichkeit lokal integrierter, abgekoppelter wissenschaftlicher Gemeinschaften, die dennoch zu theoretisch relevanten, das heißt die Disziplin als Ganzes bereichemden Erkenntnissen gelangen, ziehen sie kaum in Erwägung. Insofern ist die Zurückweisung des Südens als zweitrangige Wissenschaft nicht erst nach der möglichen und von den Autoren befürchteten Konzentration auf eigene Probleme zu erwarten, wie die beiden unterstellen, sondern bestimmt die internationalen Beziehungen ohnehin seit Langem. Empfehlungen wie "mehr augewandte als Grundlagenforschung", "mehr Praxis als Theorie" und "mehr Deduktion als Induktion" stärken die bisherige Marginalität und Unterordnung in der internationalen Arbeitsteilung durch lokal beschränkte, auf Datensammlung und Fallstudien fixierte, 341

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Gaillard, Jacques/Schlemmer, Bernard (1996), S. 133.

II I. KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN- EINE KONZEPTUALISIERUNG

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von allgemeiner Theoriebildung in der Metropole ausgeschlossene und gleichzeitig häufig abhängige Wissenschaft. Zweitens sind daher die vorhergesehene "internationale Kommunikation" und der Anschluss an "internationale Entwicklungen" eine Chimäre. Es wurde bereits gezeigt, dass diese Kommunikation stark hierarchisiert bis einseitig verläuft, und dass "internationale Entwicklungen" bisher im Allgemeinen nach nordatlantischen Mustern und Vorgaben verliefen und damit nordatlantische Dominanz bedeuten. Was Gaillard und Schlemmer nur für den Fall einer Abwendung vom internationalen Geschäft prophezeien, hat sich längst vollzogen und stellt daher keine neue, zu meidende Gefahr dar, sondern im Gegenteil ein aktuelles, zu lösendes Problem. A. Akiwowo342 steht nicht alleine mit seiner Behauptung, die Besessenheit von "Akzeptabilität" und "internationalen Standards" unterd1ücke die Kreativität afrikanischer Soziologinnen, verleite sie dazu, sich gegenseitig zu ignorieren und hindere sie daran, ihrer "Berufung" nachzugehen. Die hier unterbreiteten Lösungsvorschläge scheinen also zumindest für den Bereich der Sozialwissenschaften kaum geeignet, die Lage des Südens zu verbessern, sondern verstärken vielmehr die Zentrum-Peripherie-Struktur. Es ist kaum zu erwarten, dass durch mehr Praxis, mehr angewandte Forschung und mehr Induktion die wissenschaftlichen Gemeinschaften des Südens sich in die internationale Runde als gleichberechtigte Mitglieder einreihen und derart "ihre starken Seiten" einbringen können, wie Gaillard und Schlemmer behaupten, denn den Status des Datenlieferanten nehmen sie ohnehin schon ein. Die Frage bleibt also, wie sich das ändern könnte.

Ausgangsvoraussetzungen, "öffentliche" und "angewandte Soziologien" -Argumente Hier soll nun ein Vorschlag formuliert werden, der verschiedene, in der Literatur verstreut auftauchende Ideen in Zusammenhang bringt und in eine Entwicklungsperspektive stellt. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass sozialwissenschaftliche Aktivität sich in den Bereichen entwickelt, die akute gesellschaftliche Fragen oder Probleme aufwerfen. So erldärte man sich die Schriften Ibn Khalduns zu Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen über die Tatsache, dass er selbst den Verfall großer Reiche und Dynastien erlebte. Ebenso darf in keiner Vorlesung über die Entstehung moderner Soziologie die Kontextualisierung in den gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts fehlen. Und auch heute noch geht avantgardistische Forschtmg in der Regel aus Bereichen neu aufkommender gesellschaftlicher Bewegungen oder ungelöster Probleme hervor. Alatas forderte "soziale Relevanz" für die südlichen Soziologien: die Orientierung an sozialen Fragen vor Ort, die möglicherweise anschließend die Ableitung praktischer Lösungen erlaubt. Seine Unterscheidung von so342

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Akiwowo, Akinsola (1980).

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zialer und theoretischer Relevanz kann hier übernommen werden. Mit sozialer Relevanz ist, wie gesagt, die Ausrichtung von Forschungsaktivitäten auf bestehende gesellschaftliche Probleme gemeint; mit theoretischer Relevanz dagegen der Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, den sie leisten. In diesem doppelten Sinne argumentierte Ly für mehr "pertinence" afrikanischer Sozialwissenschaften: "Tous ces problemes (des sciences sociales en Afrique, W. K..) peuvent etre organises autour de Ia notion de pertinence: pertinence de Ia rechereile africaine par rapport au milieu dans lequel elle evoJue et pertinence par rapport a SOll objet."343 In einem Kontext, in dem bisher noch wenig eigenständige Sozialwissenschaft produziert wurde, ist diese Orientierung hin zu bestehenden Problemen erst recht notwendig für die Entwicklung einer eigenständigen Soziologie.344 Diese Annahme überschneidet sich gewissermaßen mit Forderungen nach verantwortungsbewusster Sozialwissenschaft im Dienste von Volk, Nation, Revolution, Entwicklung, Demokratie oder anderen "guten" und 343 I Ly, Boubacar (1990), S. 190. Auch Obikeze unterstreicht in diesem Sinne die Bedeutung von Relevanz. Vgl. Obikeze, D. S. (1971): "Le processus d'echange. Une nouvelle approche de Ia recherche sociale en Arrique", in: Revue Internationale des Seiences Sociales 31 Nr. 4, S. 785-794. 344 I Die Idee einer sozialen Einbettung und Nutzung von Wissenschaft findet sich in der Diskussion um die Nachfrage nach und Verwertung von lokalem Wissen im wirtschaftlichen Sektor wieder, das heißt um die Verbindung von Wissenschaftsmit Produktionssystemen. Vgl. Sagasti, Francisco R. (1978/79); Sagasti, Francisco R. (1973). Hier geht es um die Frage der Interaktion zwischen Wissenschaft und außeruniversitären Akteuren, in der ersten Linie der Wirtschaft, aber auch der Politik. Dies betrifft aber vor allem bestimmte Bereiche der Natur- und Tngenieurwissenschaften, die rentables Wissen in Form von Innovationen und Patenten hervorbringen und ist in diesem Sinne nicht auf die Sozialwissenschaften übertragbar. Vgl. die Literatur zur "Triple Helix", insbesondere Etzkowitz, Henry!Leydesdorff, Loet (2000): "The dynamics ofinnovation: rrom national systems and ,Mode 2' to a TripIe Helix ofuniversity-industry-govemment relations", in: Research Policy 29 Nr. 2, S. I 09-123; Etzkowitz, Henry (1993): "Redesigning , Solomon ' s House': the university and the intemationalisation of science and business", in: Elisabeth Crawford/ TenyShinn!Sverker Sörlin (1993) (Hg.), S. 163-288; Shinn, Teny (2002): "Nouvelle production du savoir et Tripie Helice- tendances du pret-a-penser !es sciences", in: Actes de Ia Recherche en Seiences Sociales 141-142, S. 21-30. Vgl. auch Polanco, Xavier (1985); Kuramoto, Juana/Sagasti, Francisco (2002): "lntegrating local and global knowledge, technology and production systems: challenges for technical cooperation", in: Science, Technology and Society 7 Nr. 2, S. 145-147; sowie fiir ein konkretes Beispiel: Kreimer, Pablo/Lugones, Manuel (2002): "Rowing against the tide: emergence and consolidation ofmolecular biology in Argentina, 1960-90", in: Science, Technology and Society 7 Nr. 2, S. 285-311. Hierbei sollte die geringe kulturelle Einschreibung von moderner Wissenschaft in Gesellschaften wie den afrikanischen zu Zeiten des Aufbaus nationaler Wissenschaftsapparate berücksichtigt werden. So war die Popularisierung von Inhalten in einer Region des "wissenschaftlichen Analphabetismus", wie Waast ausfuhrt, recht schwierig. Vgl. Waast, Roland (200 1). Zudem bestanden in den jeweiligen Gesellschaften bereits Spezialisierungen und Wissenssysteme, die nicht mit der modernen Wissenschaft übereinstimmten, sodass die Position der "Gelehrten" nach okzidentalem Muster in breiten Kreisen der afrikanischen Gesellschaften sich zunächst kaum etablieren konnte.

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"höheren Sachen", wie sie im Rahmen der Theorie-Praxis-Debatte erhoben werden. Hier dreht sich das Argument vorrangig jedoch weder um das politische und moralische Problem der gesellschaftlichen Verantwortung der Sozialwissenschaften, noch um den Nutzen, den gesellschaftliche Akteure von dieser haben (könnten) - was in Zeiten knapper Finanzierung und antiintellektueller Tendenzen gerade in der Literatur aus den südlichen Kontinenten immer wieder hervorgehoben wird. Diese wenn auch spannende Fragestellung kann nicht weiter systematisch verfolgt werden. Vielmehr geht es hier um den Nutzen, den die Gesellschaftswissenschaften von einer Hinwendung zu gesellschaftlichen Problemen ziehen können. Diesen Zusammenhang sieht auch Claude Ake in seiner Besprechung afrikanischer Sozialwissenschaften, in der er gesellschaftliche Relevanz als "notwendige Bedingung für wissenschaftlichen Fortschritt" beschreibt: "D'une fa9on generale, le point de depart de taute recherche scientifique est le fait qu'il y ait un problerne a resoudre. Lorsqu'il n'y a pas de problemes, en particulier de problemes pratiques, il n'y a pas de progres scientifique, ou tres peu. On peut meme affirmer que des que Ia recherche scientifique se penche tout particulierement sur les problemes pressants qui se posent aux membres de Ia societe, toutes !es chances sont rennies pour que de grands progres soient accomplis. Ainsi donc, lorsqu'on exige que Ia science soit pertinente, on n'entend pas par Ia Ia mettre uniquement au service de l'homme; il s'agit d'assurer Ia presence d'une condition essentielle au progres scientifique. Felicitons !es specialistes africains en sciences sociales pour avoir compris que Ia pertinence est un critere pertinent."345 An dieser Stelle soll eine Unterscheidung verschiedener möglicher Ausrichtungen von Soziologie eingefiihrt werden, die herkömmliche Gräben wie theoretische versus empirische, induktive versus deduktive, quantitative versus qualitative oder verstehende versus positivistische Soziologie überspannt und für die hier verfolgten Zwecke recht dienlich ist. Michael Burawoy hat in seiner Funktion als Präsident der Amerikanischen Gesellschaft fiir Soziologie in den letzten Jahren die Diskussion und Kritik der hochgradig professionalisierten, in "esoterische" Selbstreferenz abgleitenden, US-amerikanischen Soziologie sowie die Förderung mehr gesellschaftlichen Engagements zum Programm gemacht. Der Jahreskongress 2004 stand denn auch unter dem Motto "For public sociology". Burawoy unterscheidet je nach Wissensmodus und je nach Zielpublikum vier Konstellationen fiir die Disziplin: Instrumentelles Wissen flir die wissenschaftliche Gemeinschaft bringt die typische "professionelle Soziologie" hervor. Instrumentell ist ihre Vorgeheusweise insofern, als es darum geht, die notwendigen theoretischen und methodologischen Mittel zu finden, um Forschungslücken mit neuen Erkenntnissen zu schließen. Doch innerhalb des akademischen Betriebs 345 I Ake, Claude (1980): "Sciences sociales et developpement", in: Africa Development 5 Nr. 4, S. 5-20, S. 10.

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PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

existiert daneben auch eine "kritische Soziologie", deren Wissensmodus nicht in erster Linie ein instrumenteller, sondern ein reflexiver ist. 346 Diese beschreibt Burawoy als "das Gewissen der professionellen Soziologie": sie decke metatheoretische Vorannahmen und Wertvorstellungen auf, die jener unterliegen und schlage Alternativen vor. Neben diesen beiden rein akademisch ausgerichteten Typen gibt es aber zwei weitere, die sich in erster Linie an ein außerakademisches Publikum richten. In diese Kategorie fällt die von Burawoy in seiner Präsidentschaftsrede geforderte "öffentliche Soziologie". Ähnlich wie die kritische Soziologie gilt sie als reflektierende, überprüfende Stimme, die jedoch nicht in erster Linie in akademische, sondern in politische, gesamtgesellschaftliche oder ethisch-moralische Debatten außerhalb der Universität eingreift. Michael Burawoy definiert sie als eine Soziologie, "die sich in öffentliche Debatten einmischt, sich auch mit außeruniversitären Akteuren auseinandersetzt, die öffentliche Meinung mitgestaltet"347 , "alternative Wertvorstellungen auf den Tisch bringt" und "die Existenz von Zwecken und die Eignung der Mittel hinterfragt"348 . Dies kann entweder in direkter Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Akteuren geschehen - er stellt insbesondere die Verbindung zu sozialen Bewegungen heraus - , oder aber vermittelt über öffentliche Medien.

Tabelle 10: Burawoys Konstellationen von Soziologie Academic audience

Extra-acadernie audience

Instrumental knowledge

Professional sociology

Policy sociology

Reflexive knowledge

Critical sociology

Public sociology

Quelle: Burawoy, Michael (2004b) Ebenfalls auf ein nicht-akademisches Publikum ausgerichtet ist die "policy sociology", hier als "angewandte Soziologie" übersetzt, womit nicht speziell empirische, sondern fiir die praktische Umsetzung, fiir die Anwendung bestimmte Soziologie gemeint ist. Sie steht damit im Dienst eines Auftraggebers etwa in Form von Politikberatung, Marktforschung oder "consulting" ftir Firmen, Organisationen und Einzelpersonen. Damit geht stets die Gefahr einher, dass die

346 I Dazu: Burawoy, Michael (2004a): "Public sociology: South African dilemmas in a global context", in: Society in Transition 35 Nr. 1, S. 11-26, S. 8. 347 I Burawoy, Michael (2004b): "Presidential Address: For public sociology". American Sociological Association Annual Conference, San Francisco, 15.8.2004. 348 I Burawoy, Michael (2004a), S. 7.

II I. KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN- EINE KONZEPTUALISIERUNG

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Autonomie der soziologischen Forschung eingeschränkt wird. In der unmittelbaren Verpflichtung gegenüber dem Auftraggeber sowie in der konkreten Begrenzung des zu untersuchenden Problems besteht der Hauptunterschied zur öffentlichen Soziologie: "The distinction between public and policy sociology is an important one. Policy sociology hires itself out to a client or is sponsored by a patron who defines a range of important problems, restricting the autonomaus input of the sociologist. Policy sociology applies expert knowledge to specific social problems, whereas public sociology stimulates open debate as to what the problems and how they might be tackled. Public sociology brings alternative values to the table. It is the conscience of policy sociology, questioning the givenness of ends and the appropriateness of means. One measure of its success is the galvanizing of social movements, which might in turn affect policy." 349 Für Burawoy halten sich die vier Typen idealerweise in einem arbeitsteiligen Gleichgewicht und sorgen so für eine reizvolle, engagierte, diskussionsfreudige Disziplin. Gleichzeitig stehen sie jedoch auch im Spannungsfeld zueinander, weil sie unterschiedlichen Legitimierungen und "Rechenschaftspflichten" ("accountability") unterliegen. Professionelle Soziologie sucht in erster Linie wissenschaftliche Legitimität und ist auf die wissenschaftliche Gemeinschaft ausgerichtet. Letzteres trifft auch auf die kritische Soziologie zu, der herkömmliches soziologisches Wissen, gekoppelt mit kritischem, moralischem Bewusstsein zugrunde liegt. In beiden macht sich der Zwang zur Veröffentlichung, zur Lehre und zur Karriereplanung bemerkbar. Öffentliche Soziologie dagegen ist dialogisch konstituiert im Verhältnis zu einem außerakademischen Publikum. Angewandte Soziologie sucht nach konkretem Wissen und ist durch ihre Effizienz legitimiert, Probleme zu lösen. Nicht zufällig waren Burawoys Kenntnisse über südafrikanische Entwicklungen offenbar ausschlaggebend ftir seine Forderung nach mehr "öffentlicher Soziologie" in der hyperprofessionalisierten US-amerikanischen Gemeinschaft, die er auch als Aufruf zur "Südafrikanisierung" formulierte350 . Die hiem1it erkannten Charakteristiken eines bedeutenden Teils der südafrikanischen Soziologie werden in der Fallstudie im zweiten Teil klar hervortreten. Sein Schema erlaube es, so Burawoy, Soziologiegeschichte nachzuvollziehen und nationale Soziologien miteinander zu vergleichen? 51 Hier ist seine Vierteilung jedoch nicht nur für rein historiegraphische Zwecke dargelegt worden, sondem sie soll in ein theoretisches Argument für die Entwicklung konterhegemonialer Strömungen an der Peripherie m zwe1 349 I Burawoy, Michael (2004a), S. 7. 350 I Vgl. Burawoy, Michael (o. J.): "South Africanizing U. S. sociology", Berkeley http://sociology.berkeley.edu/faculty/burawoy/workingpapers.htm (März 2006). 351 I Er gibt hierflir das folgendes Beispiel: "Thus, if American sociology is hyperprofessionalized, as I alluded earlier, we may say that Russian sociology has been hypermarketized, which means it is heavily weighted in the policy quadrant." Burawoy, Michael (2004a), S. 10.

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Phasen integriert werden. Ohne professionelle Soziologie können die anderen drei Typen nicht existieren, denn sie definiert Personen als Soziologinnen und reguliert den Zugang zur wissenschaftlichen Gemeinschaft. Die Ausübung öffentlicher und angewandter Soziologie hängt, so Burawoy, somit von einer starken professionellen Soziologie ab, die in den Universitäten verankert ist und die Autonomie der Forschung garantiert. Er bezieht dies freilich auf die US-amerikanische Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, deren hochgradige Professionalisierung er kritisiert. Was die Lage in Afrika und Lateinamerika betrifft, müssen zwei Dinge unterschieden werden. Aus dem Abschnitt über Entwicklung beziehungsweise Unterentwicklung ist hervorgegangen, dass eine gewisse materielle, infrastmkturelle und institutionelle Gmndlage sowie akademische Freiheit notwendig sind, nm Soziologie im herkömmlich akademischen Sinne überhaupt zu ermöglichen. Diese Basis ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem, was Burawoy als professionelle Soziologie bezeichnet. Denn am Beginn der peripheren Soziologieentwicklung stand keine eigenständige professionelle Soziologie. Diese ist hier immer zuerst eine nordatlantische. Sie scheint tatsächlich notwendig gewesen zu sein, um die Entwicklung der Disziplin überhaupt anzustoßen, ist jedoch angesichts des spezifischen lokalen Kontextes sowie der marginalen Kondition nicht geeignet, um dann autonome Traditionen hervorzubringen. So soll für diesen Fall die Burawoy'sche Logik umgedreht werden: Für die Ausbildung einer eigenständigen, das heißt nicht vollständig dependenten, professionellen Soziologie sind zunächst der öffentliche und der augewandte Typ notwendig. Hier schließt der Exkurs zu Burawoys vier Typen an das Argument für konterhegemoniale Strömungen an, denn diese beiden gesellschaftlich bedeutungsvollen Soziologien sind eher geeignet, in einem ersten Entwicklungsschritt die soziale Irrelevanz importierter Konzepte, Theorien und Methoden zu erkennen und nach Möglichkeiten zu ihrer Überwindung zu suchen. Dies ist eine schwerwiegende Behauptung, die herkömmlichen Ansichten wie der Gaillards widerspricht und eine gute Begründung erfordert. Sie soll in vier Argumentationsschritten gegeben werden und damit gleichzeitig die angenommene Entwicklung solch konterhegemonialer Strömungen in mehreren Phasen nachvollziehen. Erstens: Öffentliche und augewandte Soziologie nähern sich lokalen und regionalen Realitäten und Problemen an, konzeptualisieren diese und schaffen eine erste empirische Gmndlage für spätere Theoriebildung. Diese Annahme scheint sich bedenklich der weiter oben kritisierten Lokalität marginaler Soziologien anzunähern. In diesem ersten Entwicklungsschritt scheint dies gleichwohl unerlässlich, wobei es damm geht, Örtlichkeit nicht nur in der Thematik zu suchen, sondern darüber hinaus in der Art und Weise, diese zu problematisieren und zu konzeptualisieren. Nicht zuletzt geht es um Kommunikation und Diskussion im Rahmen lokaler Foren. Dies verhilft zum Aufbau integrierter Gemeinschaften, die das Lokale

II I. KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN- EINE KONZEPTUALISIERUNG

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so durchdringen, dass sie dann darauf aufbauend selbst Allgemeineres entwickeln können - im Gegensatz zur oben kritisierten Lokalität, die sich gewissermaßen darin fugt, im Interesse eines überseeischen Publikums Studien von geringer Reichweite zu betreiben. Dieses Argument für eine Verankerung in der eigenen Gesellschaft findet sich auch in Paulin J. Hountondjis Kritik an der "Extraversion", als deren Element Lokalität charakterisiert worden ist. 352 Zweitens: Die Suche nach sozialer Relevanz und nach Anschluss an lokale Realitäten lenkt vom internationalen "Mainstream" ab und erfordert einen Verzicht auf das Agieren in und das Streben nach Anerkennung durch prestigeträchtige internationale Kreise, denen man in einer frühen Phase wissenschaftlicher Entwicklung jedoch ohnehin nur hinterherhinken kann, ohne ihnen etwas Eigenes bieten zu können. Durch diese Abwendung von der nordatlantisch beherrschten "internationalen Gemeinschaft" und durch Hinwendung zu alternativen Diskussions-, Forschungs- und Handlungsarenen353 wird die Hegemonie nordatlantischer Ansätze im eigenen Arbeiten außer Kraft gesetzt. In diesem Sinne können die aus lokalen Kontexten heraus entstehenden, soziale Relevanz suchenden Soziologien als "konterhegemoniale Strömungen" bezeichnet werden. Eine Ausgangsposition in der eigenen gesellschaftlichen Realität - das heißt weder in der überseeischen Literatur noch in der Anerkennung durch die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft - nimmt, so die Annahme, bevorzugt eine öffentliche oder augewandte Soziologie ein. In der konterhegemonialen Arena entwickeln sich nach und nach integrierte und produktive wissenschaftliche Gemeinschaften, die für gegenseitige Anerkennung und Kritik sorgen. Ihre Stellung in der internationalen Gemeinschaft gilt ihnen zunächst nicht als entscheidend. Vielmehr bemühen sie sich um Mittel interner Kommunikation und Kooperation (Konferenzen, Arbeitsgruppen, Veröffentlichungsorgane), um die Heranbildung neuer Generationen von Spezialistinnen (Lehrpläne und -materialien, Studienprogramme und -abschlüsse) sowie um die Auseinandersetzung mit nicht-wissenschaftlichen Akteuren (Auftritte bei politischen Veranstaltungen, Debatten in der Presse, Auftragsforschung im Dienste wirtschaftlicher und sozialer Akteure und so weiter). Drittens: "Public sociology" oder "policy sociology" sind gezwungen, sich der eigenen gesellschaftlichen Realität auszusetzen und müssen das 352 I "Es ist nun hoch an der Zeit, endlich mit dieser skandalösen Extratour (der Außenorientiemng, W. K.) Schluss zu machen. Ein theoretischer Diskurs ist ohne Zweifel eine gute Sache und wünschenswert, aber unter den Bedingungen des heutigen Afrika müssen wir um jeden Preis zuerst und vor allem unsere Landsleute ansprechen. Die Theorie soll den Afrikanern selbst zur Bewertung und Diskussion vorgelegt werden. Nur so sind wir in der Lage, eine genuin wissenschaftliche Bewegung in Afrika in Gang zu bringen und den furchtbaren theoretischen Nichtigkeiten ein Ende zu setzen." Hountondji, Paulin J. (1983), S. 42. Mit "theoretischen Nichtigkeiten" ist hier die Ethnophilosophie gemeint. 353 I Die 1dee der "Arena" wird von Shinn übernommen, siehe Fußnote 218. Ygl. Shinn, Terry (2000).

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Risiko eingehen, Stellung zu beziehen. Damit ist soziale Verantwortung verbunden - für eine breite Öffentlichkeit oder flir Ergebnisse, die an spezifische Auftraggeber geliefert werden und zur Handlungsorientierung dienen werden. Adäquate Erfassung, Analyse und Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeiten ist also kein rein akademisches Vergnügen. Die lokalen gesellschaftlichen Realitäten und deren praktische Probleme werden zum Ausgangspunkt für sozialwissenschaftliche Projekte, die stärker induktiv ("evidence-lead") als deduktiv arbeiten, wie Befragte in der weiter unten ausgearbeiteten Fallstudie sehr häufig betonten. Hierfür ist auch die Popularisierungsfunktion förderlich, die öffentliche und angewandte Soziologien oftmals auf sich nehmen. Der Dialog mit der Öffentlichkeit, mit Kundinnen oder strategischen Partnerinnen und Gegnerinnen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hat Rückwirkungen auf die so praktizierte Soziologie, denn hier kann sich Widerstand und Widerspruch gegen herkömmliche Theorien und Konzepte regen. Politischer Anpruch an soziologische Arbeit fördert die Orientierung am Menschen und die Bereitschaft, Kategorien und Klassifizierungen angesichts der Kategorisierten oder Klassifizierten zu überdenken. Soziologie, die mit dem Engagement für eine gute Sache einhergeht, reflektiert die Position des Forschers und öffnet sich für die Integration nicht-wissenschaftlichen Wissens in soziologische Aussagen. Dies veranschaulicht Sitas, dessen soziologische Arbeiten stets auf der Grundlage intensiver Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Bewegungen entstanden, in folgender Passage mit einem netten Bild: "We have been convinced that the ,researched' is different from a piece of chalk. ( ... ) The ,researched' talked back, argued, resisted the classifications and pointed out that the researcher, professor sir or madam, was also part of the field, part of its domain."354 Engagierte Soziologie hält es eher für notwendig, die Sichtweise der Erforschten, ihr Wissen über ihre Gesellschaft zu integtieren. In dem Willen, den gesellschaftlichen Akteuren gerecht zu werden und deren Perspektive zu berücksichtigen, steckt die Bereitschaft, soziologische Aussagen abzuändern, umzuformen, oder ganz eigene hervorzubringen und entspricht vielleicht in etwa dem, was S. H. Alatas als "methodologische Blockfreiheit" bezeichnete355 . Das fördert die Entwicklung origineller Soziologie außerhalb der historischen nordatlantischen Hegemonie, in einem lokalen, konterhegemonialen Raum, der Rolle, Bedeutung und Ansehen soziologischen Arbeitens eigens definiert. Für die Soziologieentwicklung heißt das, dass eine sozial relevante Soziologie ihre Forschungs- und Erklärungsansätze an ihren Gegenstand anpassen muss. Es spielt eigentlich keine Rolle, woher Methoden, Theorien und Konzepte genommen werden, in der Anfangsphase allerdings, wie im 354 355

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Sitas, Ari (2004), S. 41. Alatas, Syed Hussein (1974), S. 695.

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historischen Überblick gezeigt worden ist, wohl meist aus dem klassischen Kanon. Durch die Konfrontation mit lokalen Realitäten werden rezipierte Theorien und Konzepte jedoch im ständigen Test an den Realitäten verworfen, falls unbrauchbar und abgeändert, sofern nötig. Wissenschaftliche Instrumente müssen abgestimmt werden, will man die gesellschaftliche Realität adäquat erfassen.356 Viertens: Es bedarf aber auch anhaltender wissenschaftlicher Neugier und der langfristigen Bewahrung akademischer Ambitionen, soll verhindert werden, dass soziologisches Arbeiten sich mit der Funktion des Gelderwerbs oder des politischen Aktivismus begnügt und das Projekt einer akademischen Disziplin aus dem Blick gerät. Nach und nach steigt der Grad der Professionalisierung. "Professionelle" und "kritische Soziologie" im Sinne Burawoys bilden sich langsam heraus und vervollständigen die Konstituierung der Disziplin vor Ort. Wie bereits dargelegt, soll die Entstehung origineller Soziologien im Süden hier in der Perspektive von wissenschaftlicher Entwicklung gedacht werden. Die vorgeschlagene Abfolge von Entwicklungsschritten ist dabei nicht zu verwechseln mit "Stadien der Entwicklung" im Rostow'schen Sinne: Wie bereits weiter oben gezeigt, kann sich wissenschaftliche Entwicklung auch umdrehen oder stagnieren. Dennoch ist Wissenschaft einer der gesellschaftlichen Bereiche, in denen Entwicklung zweifelsohne festgestellt werden kann. Der Fokus auf konterhegemoniale Strömungen bedeutet außerdem nicht, dass es keine Alternativen hierzu gäbe - doch scheint es sich um eine bisher vernachlässigte Möglichkeit zu handeln, die mehr Aufmerksamkeit verdiente. Der erste Schritt in dieser Entwicklung entspräche also, wollte man im eingangs gewählten Diskurs politischer Ökonomie bleiben, so etwas wie einer "Importsubstitution". Der Vergleich hinkt, denn das soll nicht heißen, dass klassische Theorie oder zeitgenössische Errungenschaften aus dem Zentrum ignoriert werden. Sie sind nur nicht mehr zentral flir das Selbstverständnis der Soziologlnnen im Süden. Einmal abgekoppelt von nordatlantischer Hegemonie beginnen sie dann allmählich mit der Herausbildung autonomer Traditionen, professionelle und kritische Soziologie ergänzen die Disziplin vor Ort.

356 I Diesen Vorgang, durch den Soziologie gesellschaftlich relevant gemacht wird, könnte man als lndigenisienmg vorhandener Ansätze bezeichnen. Das kann allerdings insofern irreführend sein, als es so wirkt, als geschähe dies nur in exotischen Ländern "bei den lndigenen". Dabei sollte sich diese Frage zu Anfang eines jeden Forschungsprojektes stellen - aus der Vielzahl vorhandener Theorien und Methoden müssen die dem Gegenstandsbereich und der gegebenen Fragestellung angemessenen Ansätze ausgewählt und eventuell an spezifische Kontexte angepasst werden. Gesellschaft wandelt sich und bringt ständig neue Phänomene hervor, ebenso muss sich die Wissenschaft von der Gesellschaft ständig aufs Neue überdenken.

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In einem weiteren Entwicklungsschritt tauchen diese lokal verankerten und in sich integrierten wissenschaftlichen Gemeinschaften auf internationaler Ebene auf und zeigen, dass sie originelle Ansätze entwickelt haben, die nicht nur lokale soziale, sondern auch theoretische Relevanz haben. Sie können zur Entwicklung der Disziplin im Allgemeinen beitragen, herkömmliche Theorien in Frage stellen, weiterentwickeln, verfeinern, durch Alternativen ausweiten oder ergänzen und neue Wege einschlagen. Aus der konterhegemonialen Strömung sind Herausforderungen und Neuerungen für die Disziplin erwachsen, die auch die vorherrschende nordatlantische Soziologie nicht mehr ignorieren kann, will sie ihrer eigenen Provinzialisierung entgehen.

Ableitung von Indikatoren für Fallstudien Konterhegemoniale Strömungen lassen sich nicht zureichend über die herkömmlichen makrosoziologischen und statistischen Mittel der Wissenschaftsforschung studieren. Im Gegenteil, statistische Indikatoren scheinen eher sogar geeignet, die Existenz derartiger Entwicklungen, die quantitativ nicht notwendigerweise ins Gewicht fallen müssen, zu verdecken. Insbesondere die Bibliometrie, für die in erster Linie "internationale Publikationen" als Kriterium für Originalität, ja fiir Wissenschaftlichkeit überhaupt dienen, kann hier geradezu irreführend sein. Um zu überprüfen, ob und falls ja, wie sich konterhegemoniale Strömungen nach dem hier angenommenen Muster entwickeln, sind vertiefende Fallstudien nötig, die stark auf qualitative Erhebungen setzen. Eine solche soll im zweiten Teil der Arbeit vorgestellt werden. Anhand der hier geleisteten Konzeptualisierung können zunächst aber einige Indikatoren abgeleitet werden, die für eine solche empirische Erhebung hilfreich sein werden. Als Indikator für konterhegemoniale Strömungen müsste zunächst die gesellschaftliche Verortung festgestellt werden. Um nordatlantischer Hegemonie gegenzusteuern, so hat es geheißen, ist die Auseinandersetzung mit außeruniversitären Akteuren von Bedeutung. Dies können Regierungen, politische Parteien und soziale Bewegungen, Gewerkschaften, das Unternehmertum, Kirchen, Gerichte, Nichtregierungsorganisationen, Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft, die Presse oder andere sein. Für ein solches lokales Publikum zu forschen und zu schreiben, soziologische Aussagen mit dessen Reaktionen zu konfrontieren oder mit den Ergebnissen einer Forschung Verantwortung für Handeln und Entscheidungen sozialer Akteure zu verbinden, begünstigt der Hypothese nach die Entwicklung von soziologischen Alternativen. Öffentliche Auseinandersetzung durch die Publikation von Ergebnissen in der Presse oder Auftritte in öffentlichen Veranstaltungen können Konterhegemonialität stützen, ebenso wie die Förderung der Kritik- und Analysefähigkeit und Urteilskraft gesellschaftlicher Akteure. Dies vermag auch in außeruniversitären Lehrangeboten oder in der Durchführung von Aktionsforschung vermittelt zu werden. Die konterhegemoniale Soziologie

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nimmt somit eine Popularisierungsfunktion wissenschaftlicher Inhalte ein. Gesellschaftliche Auseinandersetzung fördern aber auch institutionenübergreifende informelle oder institutionelle Netzwerke und Kooperationen sowie intersektorielle Mobilität zwischen universitären und außeruniversitären Tätigkeitsbereichen. Entsprechende Finanzierungsmodelle, wie etwa Kooperationen oder Auftragsforschung, mögen ebenfalls Aufschluss über die besagten Entwicklungen geben. Außerdem bilden solch konterhegemoniale Strömungen, so die Hypothese, lokale wissenschaftliche Gemeinschaften heraus, die sich allmählich professionalisieren. Diese sorgen für wissenschaftliche Kommunikation unter Spezialistinnen in Form von Konferenzen, der Gründung von Spezialzeitschriften, über persönliche Kontakte oder Forschungskooperationen. Sie mögen hierzu wissenschaftliche Vereinigungen, Arbeitsgruppen oder Ähnliches gründen. Die Institutionalisierung von Studiengängen und Abschlüssen vor Ort, die Entwicklung von Lehrplänen und -materialien und die Beteiligung von Studierenden an Forschungsprojekten sichern die Reproduktion einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die über lokal relevante Fähigkeiten verfügt. Schließlich sorgen diese Gemeinschaften für die Sammlung, Aufarbeitung, Verbreitung und Bereitstellung lokaler Daten und Informationen, etwa in Form von Archiven oder Datenbanken, um auf dieser Grundlage weiterhin kumulativ forschen zu können. Inhaltlich zeichnen sich konterhegemoniale Strömungen in erster Linie durch die Wahl eines spezifischen lokal relevanten Gegenstandsbereichs aus. Sie liefern dann eine kritische Diskussion herkömmlicher Konzepte und Methoden und entwerfen methodologische und theoretische Innovationen, zunächst auf geringem Abstraktionsniveau. Innerhalb der Gemeinschaft wird soziologisches Wissen akkumuliert, Forschungen bauen aufeinander auf und vertiefen, verbreitem und verfeinem die soziologische Analyse und Interpretation. Nach und nach sind so dann verallgemeinemde Aussagen möglich, die herkömmliche Theorien in Frage stellen oder erweitern beziehungsweise zu eigenständigen Ansätzen entwickelt werden. Im Laufe größerer Zeiträume entsteht eine autonome Tradition, die sich dann in die internationale Gemeinschaft und die allgemeinsoziologische Theoriebildung integrieren könnte.

"Cepalismus" und Dependenztheorieein historisches Beispiel für eine konterhegemoniale Strömung in Lateinamerika Ein historisches Beispiel für eine solche konterhegemoniale Strömung - und vielleicht die erste, über die sich große Teile der Sozialwissenschaften eines gesamten Kontinents von der nordatlantischen Vorherrschaft emanzipierten ist die Herausbildung des Cepalismus und in der Folge der lateinamerikanischen Dependenztheorie. Sie bestätigt, darf man der Literatur Glauben schenken, in etwa die hier formulierte Hypothese. In ihrem Fokus auf die Entwick-

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lungsproblematik, die etwa seit dem Zweiten Weltkrieg zur sozioökonomischen Kernfrage der Region avanciert war, spielten Cepalismus und Dependentismus politisch eine bedeutende Rolle und entwickelten theoretische Kritiken am bisher dominanten Modell der eurozentrischen Modemisierungstheorie. Lateinamerika sei demnach, so Heinz R. Sonntag, "eine Region der Dritten Welt, die einen eigenen Korpus an sozialwissenschaftlicher Erkenntnis über sich selbst und entsprechende Konzeptualisienmgen und Methoden hervorgebracht hat."357 So behauptet auch Edgardo Lander, die "originellsten intellektuellen Ausdrucksformen", die sich deutlich vom "intellektuellen Stil der Universitäten im Norden" unterschieden, seien in diesem Kontinent in den 1960er und 1970er Jahren aufgekommen. 358 Im historischen Teil ist bereits auf die vorhandene, einigermaßen stabile institutionelle Grundlage hingewiesen worden, auf die sich diese theoretischen Entwicklungen stützen konnten: CEPAL, CLACSO, FLACSO und ALAS. Denn sie boten der lateinamerikanischen Gemeinschaft seit den 1950er Jahren ein angemessenes, kontinentales Diskussionsforum und ermöglichten so eine gewisse räumliche Integration und zeitliche Kontinuität der Diskussion über Fragen, die tatsächlich den gesamten Kontinent betrafen. Mit dem Fokus auf entwicklungstheoretische und -politische Themen stellte sich die hier praktizierte Sozialwissenschaft gewissermaßen in den Dienst von Gesellschaft und Entwicklung, sie hatte einen ausdrücklich politischen Anspruch, hohe soziale Relevanz und stand mit politisch Handelnden in direkter Verbindung. 359 Der Kontakt zu außeruniversitären Akteuren beziehungsweise die politische Umsetzung theoretischer Analysen war bisweilen in den Protagonisten selbst verkörpert, wie etwa im Falle von Femando Henrique Cardoso, einem der bekanntesten Theoretiker, mehrmals Wirtschaftsminister und zeitweilig Präsident von Brasilien. Auch andere Sozialwissenschaftler sorgten durch ihre Aktivitäten in politi-

357 I Sonntag, Heinz R. (1988), S. 153. 358 I "EI momento de mayor rigor en el pensamiento academico de America Latina en el contexto universitario, no por azar corresponde a coyunturas hist6ricas de intensas luchas sociales; me refiero fundamentalment a los decenios de los aiios sesenta y setenta en Ia mayoria de nuestros paises, y lo que fue el ambiente intelectual que estuvo presente en buena parte de las universi-dades en esa epoca. Las expresiones intelectuales mas originales, distintas del estilo intelectual de Ia academia del Notte, ocurrieron en este continente precisamente en esa epoca. (Die Zeit größter Strenge im akademischen, universitären Denken Lateinamerikas fiel nicht zufallig mit historischen Konjunh.'tllren intensiver sozialer Kämpfe zusammen; ich beziehe mich in erster Linie auf die intellektuellen Entwicklungen der 1960er und 70er Jahre in vielen Universitäten in der Mehrheit unserer Länder und auf die Intellektuelle Stimmung, die in einem Großteil der Universitäten in dieser Zeit herrschte. Die originellsten intellektuellen Errungenschaften, die sich vom intellektuellen Stil der akademischen Kreise des Nordens unterscheiden, wurden auf diesem Kontinent genau in dieser Zeit erlangt)." Lander, Edgardo (2004), S. 175. 359 I Osorio, Jaime (1994), S. 297.

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sehen Kreisen für eine regelrechte Wechselwirkung zwischen ihren Analysen und der Gesellschaft360 : Auf der einen Seite bildeten die realen Strukturen und die Agierenden den Hauptfokus der wissenschaftlichen Analysen, auf der anderen Seite wirkten sie über ihre Anwendung und Umsetzung in Wirtschaft und Politik sowie im Rahmen verschiedener sozialer Bewegungen auf die realen Verhältnisse zurück. Jaime Osorio charakterisiert die lateinamerikanische Soziologie nicht von ungefahr als "hochgradig politisiert", insofern sie direkte Auswirkungen auf die Lösung der Probleme hatte, mit denen sich Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft befassten. 361 Sonntag erklärt daher auch den enormen theoretischen Einfluß des Cepalismus auf dem Kontinent vor allem durch dessen praktische Umsetzung und bestätigt so die Hypothese der stetigen "organischen Verbindung" von Theorie und Praxis in der Geschichte der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften. 362 Um die These der Konterhegemonialität zu stützen, sollte nochmals hervorgehoben werden, dass sich die Dependenztheorie ausdrücklich gegen 360 I Julio Echevenia spricht hierzu eine klare Sprache: "Si existe peculiaridad para las ciencias sociales latinoamericanas, esta es Ia de que siempre ... han estado vinculadas a procesos sociales emancipativos. (Wenn es eine Besonderheit der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften gibt, dann die, dass sie immer . . . an emanzipatorische soziale Prozesse angebunden waren)." (zit. in: Sonntag, Heinz R. [1989], S. 7.). Briceiio-Le6n bestätigt, dass viele Sozialwissenschaftlerinnen persönlich in der Politik tätig waren oder sind: "Sociologists have also been leading participants in the social struggles and in nation building - not only as theoreticians, contributing with their analyses and discourse, but also as citizens committed to the transfonnations they have wished for, or feared." Als Beispiele nennt er den Kolumbianer Camilo Torres, Akademiker und katholischer Priester, der in der Guerilla kämpfte und starb und heute zum Symbol ftir die Soziologie und ftir die christliche Linke in Lateinamerika geworden ist. Briceiio-Le6n, Roberto (2002), S. 9. 361 1 "Este rapido recuento pone de manifiesto Ia hip6tesis de que Ia sociologia latinoamericana ha estado fuertemente detenninada en su retlexi6n por acontecimientos sustantivos que emanan de Ia realidad de Ia zona. Esta es una caracteristica que supone que Ia reflexi6n que se ha desarrollado tiene implicaciones en el discurso politico y en las politicas para hacer frente a cada uno de los temas propuestos. En este sentido, Ia sociologia latinoamericana es una disciplina altamente politizada, en el sentido que tiene incidencia en problemas acuciantes y presentes en las preocupaciones de gobiemos y organismos que inciden en Ia cosa publica, llamense partidos, sindicatos, organismos no guber-namentales e instancias diversas de organizaci6n de la sociedad civil. (Dieser schnelle Überblick stärkt die Hypothese, dass die lateinametikanische Soziologie in ihrer Reflexion stark von substantiellen Ereignissen bestimmt war, die aus der Realität der Region hetvorgingen. Dieses Merkmal lässt darauf schließen, dass die Reflexion, die entwickelt wurde, Auswirkungen auf den politischen Diskurs und auf die praktische Politik zu den behandelten Themen hatte. 1n diesem Sinne ist die lateinametikanische Soziologie eine hochgradig politisierte Disziplin, insofern sie Auswirkungen auf dtingende und gegenwärtige Probleme hat, mit denen sich Regierungen und andere öffentlich tätige Organismen beschäftigen, seien es Parteien, Gewerkschaften, Nichtregiemngsorganisationen oder verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft)." Osorio, Jairne (1994), S. 300. 362 I Sonntag, Heinz R. (1988), S. 55.

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bestehende theoretische Richtungen aus dem nordatlantischen Raum richtete, in erster Linie gegen die Modemisierungstheorie. Die starke regionale Integration und Zusammenarbeit führte zur Abwendung von der dominanten Arena und zur Herausbildung eines alternativen, konterhegemonialen Kommunikationsraums. 363 Am Beispiel der Dependencia ist dabei besonders hervorzuheben, dass ihr der Sprung auf das internationale Podium gelang, und sie sich hier als eigenständiger Beitrag zur allgemeinen Theoriebildung Gehör verschaffte. Aufgrund ihrer "Reichhaltigkeit und Originalität" übe sie in den "großen Zentren kultureller Produktion, in Buropa und den USA Einfluss aus" und "drehe so den Fluss der Ideen um" : "La diffcil gestaci6n de una ciencia social crftica, centrada en Ia problematica de nuestras estructuras econ6micas, sociales, politicas e ideol6gicas, habia finalmente concluido. A partir de alli, Ia producci6n te6rica latinoamericana va a impactar, por su riqueza y originalidad, a los grandes centros productores de cultura, en Europa y Estados Unidos, revirtiendo el sentido del flujo de las ideas que habia prevalecido en el pasado."364 So wirken die Errungenschaften der Dependenztheorie bis heute in der Weltsystemtheorie fort. Doch ging im Laufe der 1980er Jahre die ruhmvolle Ära der lateinamerikanischen Tradition langsam zu Ende. Grund hierflir war unter anderem die Repression, mit der autoritäre Regime in einer Reihe von Ländern die Universitäten erschütterten. Doch auch darüber hinaus schien in den 80ern mit der Verunsicherung durch postmoderne und poststrukturalistische Theorien eine Paradigmenkrise um sich zu greifen, die sich nach 1989 aus bekannten Gründen noch vertiefen sollte. Die Idee der Existenz einer regionalen Einheit, auf der die Dependenztheorie gründete, sah sich seither radikal in Frage gestellt. 365 Neue Rich363 I "We agree with Oteiza, former secretary-general of the Latin American Social Science Council, that social science is different there in that it enjoys high Ievels of collaboration, when compared with other regions of the Third World ( ... ). The references are mostly to Latin American authors; and the analysis is guided by dependency theory ( ... )." Gareau, Frederick H. (1985), S. 106. 364 I "Die schwierige Entstehung einer kritischen Sozialwissenschaft, die sich auf die Problematiken unserer ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Strukturen konzentriert, war endlich erfolgt. Von diesem Zeitpunkt an hat die lateinamerikanische theoretische Produktion durch ihre Reichhaltigkeit und ihre Originalität die großen kulturellen Zentren in Europa und den USA beeinflusst und so den ldeenfluss, der in der Vergangenheit bestand, umgedreht." Marini, Ruy Maura (1994), S. 315. Vgl. fiir einen breiteren Überblick über die Position lateinamerikanischer Sozialwissenschaft in der internationalen Gemeinschaft: Valencia Valencia, Enrique ( 1994): "La teoria sociallatinoamericana: tradici6n i.ntelectual y problemas actuales", in: Juan Felipe Leal y Fernandez u. a. (1994) (Hg.), S. 317-323, S. 319, der die ,,Authentizität" und "Originalität" derselben besonders hervorhebt. 365 I "Se argumenta Ia existencia de una crisis te6rica total y absoluta, expresada basicamente por 1a caducidad de los paradigmas y por la insistencia equivocada de pensar a Ia regi6n como unidad. (Es wird fiir eine totale und absolute theoretische Krise argumentiert, die sich in erster Linie darin ausdrückt, dass die Para-

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tungen der 1990er Jahre schlossen nicht mehr an die Ansätze der voraufgegangenen Jahrzehnte an? 66 Den Bemühungen der letzten Zeit, die Tradition wieder zu beleben, scheint bisher nur mäßiger Erfolg beschieden.367 Einen weiteren, für das Argument der konterhegemonialen Strömungen bedeutenden Grund für den Niedergang der großen Theorien sehen einige Autorinnen in der Durchsetzung individualistischer Evaluierungsund Finanzierungssysteme, welche hegemoniale Tendenzen seit den 1980er Jahren stärkten. Dies bestätigten etwa mehrere Interviews mit Migrationsforscherinnen in Mexiko. Auch Lander erblickt hierin die Auferlegung eines "universitären Modells, das der Normalität des universitären europäischen und vor allem nordamerikanischen Lebens immer ähnlicher wird". Quantitative Evaluierungsverfahren "akzentuieren und radikalisieren" seiner Meinung nach "die koloniale Abhängigkeit und den Eurozentrismus": "( ... ) esto es, Ia imposici6n de un modelo universitario cada vez mas parecido a la normalidad del patr6n de vida universitario europeo y sobre todo norteamericano. Me refiero a un estilo intelectual donde predomina el trabajo encerrado en disciplinas, el metodo sobre las ideas, Ia noci6n de neutralidad y objetividad del conocimiento. A esto podemos agregar un fen6meno reciente en la universidad latinoamericana: el predominio del individualismo radical. Ya sea por Ia propia voluntad de los academicos, por predominio del estado o por iniciativas que se impulsan y financian desde el Banco Mundia!, se estan estableciendo sobre la universidad latinoamericana procesos de transformaci6n que son orientados fundamentalmente por el disefio de esquemas de evaluaci6n de acuerdo con los cuadigmen überholt seien, und dass irrtümlicherweise am Denken der Region als einer Einheit festgehalten werde)". Oliver, Lucio (1994): "Retlexiones sobre una relaci6n inevitable y dificil: sociedad y sociologfa en America latina", in: Juan Felipe Leal y Femandez u. a. (1994) (Hg.), S. 325-339, S. 327. 366 I "La sociologia de los movimientos sociales y de Ia democratizaci6n (o nueva sociologfa) no solo abandon6 las respuestas que formul6 Ia teoria de Ia dependencia y de Ia revoluci6n. Lo que nos parece mas grave es que tambien dej6 en el camino los problemas mismos, abriendose a la discusi6n de los nuevos actores sociales y de la democratizaci6n, pero dando por supuesto que en America latina los temas de la dependencia y de la revoluci6n ya no tenian sentido. (Die Soziologie sozialer Bewegungen und der Demokratie [oder neue Soziologie] hat nicht nur die Fragen aufgegeben, die die Theorie der Dependenz und der Revolution stellten. Was uns ernster erscheint, ist die Tatsache, dass sie, indem sie sich der Diskussion der neuen sozialen Akteure und der Demokratisierung öffnete, auch diese Probleme selbst auf der Strecke gelassen hat und somit annimmt, dass die Themen der Dependenz und der Revolution in Lateinamerika keinen Sinn mehr machen)." Osorio, Jaime (1994), S. 301. Vgl. auch Valencia Valencia, Enrique (1994), S. 321. 367 I Dies unternimmt das "Centro de Estudios Latinoamericanos" an der UNAM im Rahmen seines "Seminario Permanente", das mehrere Bände zu "Lateinamerikanischer Gesellschaftstheorie" herausgegeben hat. Vgl. die Beiträge in Estudios Latinoamericanos 2 Nr. 4, 1995 sowie die kurze Vorstellung des Projekts: "A prop6sito de La Teoria Social Latinoamericana" (1995): in: Estudios Latinoamericanos 2 Nr. 4, S. 259-166. Das Erbe der 1960er und 70er wiederzubeleben ist auch das Ziel von Oliver, Lucio (1994).

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les los resultados se miden en terminos de producto, lo cual significa el establecer indicadores cuantitativos para definir cuäl es Ia universidad que ,estä cumpliendo' y cuäl no. La otra cara de Ia moneda es fijar mecanismos de compensaci6n ante el radical deterioro salarial de Ia mayor parte del personal docente de las universidades latinoamericanas: se bonifica el rendi-miento de acuerdo con los mismos criterios cuantitativos de evaluaci6n. Esto ha significado una profunda transformaci6n de esto que hemos llamado el estilo intelectual en la producci6n de conocimiento, el cual acentUa y radicaliza Ia dependencia colonial y el eurocentrismo. ,a 68 In diese Richtung "der immer stärkeren Kolonialisiemng" wirke besonders der Zwang zu "internationalen Veröffentlichungen". Er erfordere eine Unterordnung unter die jeweiligen Herausgeberkollegien und damit unter die Maßstäbe des Nordens und bestimme zunehmend auch die Forschungsprioritäten. Besonders unter jungen Akademikerinnen haben sich unter dem Druck der Leistungsevaluierung Individualismus und Wettbewerbsdenken durchgesetzt, die "die Unmöglichkeit der Erkenntnis über Gesellschaft garantieren"369 . Inwiefern das Entsetzen über eine "Rekolonisierung" oder erneute intellektuelle Abhängigkeit Bestand hat, müsste freilich anhand qualitativer Analysen theoretischer Texte erhellt werden, was hier nicht geleistet werden kann. Die hier grob skizzierte historische Herausbildung der lateinamerikanischen Sozialwissenschaften als konterhegemonialer Strömung lässt sich auch auf nationaler Ebene verfolgen, beispielsweise am Fall der mexikani-

368 I "( ... )das heißt die Auferlegung eines universitären Modells, das immer mehr der Normalität des Lebens in europäischen und vor allem nordamerikanischen Universitäten gleicht. Ich meine einen intellektuellen Stil, in dem die in Disziplinen eingegrenzte Arbeit überwiegt, in dem die Methode über den Ideen steht, der Begriff der Neutralität und Objektivität über dem der Erkenntnis. Wir können dem ein weiteres, in letzter Zeit auftauchendes Phänomen an lateinamerikanischen Universitäten hinzufligen: das Vorherrschen eines radikalen Individualismus. Ob aus dem eigenen Willen der Akademiker heraus, aus dem Willen des Staates oder aus Initiativen, die von der Weltbank angeregt und finanziert werden, in den lateinamerikanischen Universitäten werden Transformationsprozesse in Gang gesetzt, die grundlegend durch die Errichtung von Evaluierungsschemata bestimmt werden, die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit als Produkte ansehen, was auch bedeutet, dass quantitative Indikatoren entwickelt werden, um zu definieren, welche Universitäten die Vorgaben einhalten und welche nicht. Die andere Seite der Medaille besteht darin, Ausgleichsmechanismen bereitzustellen angesichts der radikalen Verschlechterung der Gehaltssituation der Mehrheit des Lehrpersonals in lateinamerikanischen Universitäten: Leistungen werden aufgrund der gleichen quantitativen Evaluationskriterien belohnt. Dies hat zu einem tief greifenden Wandel dessen, was wir intellektuellen Stil in der Wissensproduktion genannt haben, geflihrt, der die koloniale Dependenz und den Eurozentrismus verstärkt und radikalisiett." Lander, Edgardo (2004), S. 177. 369 I Lander, Edgardo (2004), S. 179.

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sehen Soziologie.370 Bereits seit den 1920er Jahren hatte sich die Etablierung der Disziplin hier langsam angebahnt, institutionell wäre die Gründung des "Instituto de Investigaciones Sociales" 1930 hervorzuheben, das seit 1939 Lucio Mendieta y Nufiez leitete. Ihm kam in der nationalen Soziologiegeschichte eine ähnliche Rolle zu, wie sie Leopold von Wiese in Deutschland einnahm: Er setzte sich vor allem für die Institutionalisierung ein - regelmäßige soziologische Konferenzen, Gründung der "Asociaci6n Mexicana de Sociologia" und der "Revista Mexicana de Sociologia" - und sorgte so für steigende Akzeptanz seiner Disziplin, wenn auch nach europäischen Vorbildern. Auch spanische Flüchtlinge förderten die institutionellen und inhaltlichen Grundlagen in den 1930er Jahren durch die G1ündung der "Casa de Espafia", die 1943 in das "Colegio de Mexico" umgewandelt wurde, bis heute eine der bedeutendsten höheren Bildungseinrichtungen des Landes. Seit 1940 stand mit dem "Fondo de Ia Cultura Econ6mica" ein großer Verlag mit einer Abteilung für Soziologie zur Verfügung, der zunächst Pareto, von Wiese, Veblen, Simmel und andere Klassiker in spanischer Übersetzung herausgab. Bis Ende der 1950er Jahre schufen die mexikanischen Soziologlnnen vornehmlich essayistische Arbeiten ohne empirische Grundlage sowie deskriptive empirische Erhebungen. Die großen gesellschaftlichen Probleme des Landes wurden hier aber kaum behandelt. 371 Doch im Gegensatz zu dieser stark europäisch und nordamerikanisch geprägten Auslichtung sei, so Reyna, in den 1960er und 1970er Jahren "ein Prozess zu beobachten, den man als ,Lateinamerikanisierung' der Soziologie bezeichnen kann"372 . Mit dem Einfluss des Cepalismus und dann der 370 I V gl. fiir diesen Abschnitt Andrade Carrefio, Alfredo (1998) und Reyna, Jose Luis (1979): "La investigaci6n sociol6gica en Mexico", in: EI Colegio de Mexico (1979) (Hg.): Ciencias sociales en Mexico - desarrollo y perspectivas, Mexico, S. 49-73. Andrade Carrefio nennt bereits Vorläufer der mexikanischen Soziologie aus dem 19. Jahrhundert. 371 I "En resumen, a finales de los cincuentas y primeras afios de Ia decada siguiente, se dispone de una investigaci6n sociol6gica que empezaba tenuemente a considerar el dato y las tecnicas empiricas en Ia argumentaci6n. Se trataba, desde otro punto de vista, de una investigaci6n sociol6gica cuyo movimiento era casi independiente de Ia problematica del pais. (Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Ende der 1950er und Anfang des darauffolgenden Jahrzehnts die soziologische Forschung langsam anfing, empirische Daten und Techniken in ihre Argumentation einzubeziehen. Es handelte sich, um es von einem anderen Blickwinkel her auszudJiicken, um soziologische Forschung, die praktisch unabhängig von den Problematikendes Landes war)." Reyna, Jose Luis (1979), S. 62. für eine Übersicht über behandelte Inhalte, siehe die Analyse der in der "Revista Mexicana de Sociologia" veröffentlichten Artikel in: Andrade Carreiio, Alfredo (1998), S. 44 ff. 372 I "No se cuenta en Mexico con una ,tradici6n' sociol6gica- como en Europa o los Estados Unidas -, aunque si puede afirrnarse que una corriente ha tenido a predominar: aquella que privilegia el estudio de Ia estructura social. Por un Iargo periodo, el quehacer de Ia disicplina se vio influido, en gran medida, por corrientes te6ricas y metodol6gicas provenientes de esas regiones. En Ia ultima decada, sin embargo, es posible observar un proceso que podria denominarse de

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Dependencia, der nicht zuletzt auch von der Aufuahme von Flüchtlingen aus den Diktaturen Südamerikas und dem damit einhergehenden regen intellektuellen Austausch mit dem Rest des Kontinents getragen wurde, habe sich im Laufe der 1960er Jahre "die disziplinäre Identität neu definiert"373 . Dies sei, so Reyna, auch als R eaktion gegen die M ethoden und Perspektiven aus den USA zu verstehen, die bis dahin in Mexiko starkes Gewicht hatten.374 Dementsprechend charakterisierte man die bisherige Ideengeschichte als eine "koloniale" und "abhängige" und begann nun, die "Unangebrachtheit, Nutzlosigkeit, Ineffizienz und Fehlerhaftigkeit" der übernommenen Theorien und Konzepte zu durchschauen und diese in der Folge nach und nach zurückzuweisen. 375

,latinoamericanizaci6n' de Ia sociologia ( .. .). (Mexiko hat keine soziologische ,Tradition' -wie Europa oder die USA- dennoch war eine Richtung vorherrschend: diejenige, die die Erforschung der Sozialstruktur bevorzugt. Lange Zeit waren die Praktiken der Disziplin in starkem Maße von theoretischen und methodologischen Richtungen, die aus diesen Regionen stammten, beeinflusst. Im letzten Jahrzehnt jedoch ist ein Prozess beobachtbar, den man als ,Lateinamerikanisierung' der Soziologie bezeichnen kann [ ... ])." Reyna, Jose Luis (1979), S. 51. 373 I Andrade Carreiio, Alfredo (1998), S. 63. 374 I Die "Lateinamerikanisierung" sei "( ... ) una especie de ,reacci6n' contra los metodos y enfoques que provenfan, principalmente, de los Estados Unidos. ([ ... ] eine Art ,Reaktion' gegen die Methoden und Ansätze, die überwiegend aus den USA stammten)". Reyna, Jose Luis (1979), S. 67. Als Zeichen dafür, dass bisher empirische Ansätze aus den USA dominiert hatten, führt er die Veröffentlichung vieler US-amerikanischer Autoren in der "Revista Mexicana de Sociologfa" an. Andrade Carreiio, Alfredo ( 1998), S. 52/53. 375 I "En cierta medida estaba aconteciendo en America Latina lo que sucedia, bajo formas mas graves y agudas, en las colonias y ex colonias africanas y asiaticas de las potencias imperiales europeas. Mientras que en estos continentes los colonizados se veian a sf mismos a traves de Ia visi6n deformadora del colonizador, en America Latina los problemas del subdesarrollo y de Ia dependencia extema eran tratados bajo el prisma - a veces igualmente deformador - de los paises llamados desarrollados. La inadecuaci6n de tales esquemas y enfoques a las realidades latinoarnericanas comenz6 a hacerse patente a raiz de Ia segunda guerra mundial, y particularmente - en lo que a las ciencias sociales se refiere - a pattir de Ia decada de los sesentas. ( ... ) Asi, han ido cayendo una tras otra, no obstante su inercia y resistencia, las teorias y los conceptos sociocientificos que resultaron ser inadecuados, ineficientes, inutiles y equivocados para Ia comprensi6n de los fen6menos sociales de America Latina. (In gewissem Maße geschah in Lateinamerika das, was in schwerwiegenderen Fmmen in den afrikanischen und asiatischen Kolonien und ehemaligen Kolonien der europäischen Großmächte passiette. Während sich in diesen Kontinenten die Kolonisietten selbst aus der deformierenden Perspektive der Kolonisatoren betrachteten, wurden in Lateinamerika die Probleme der Unterentwicklung und Dependenz unter dem - bisweilen ebenso verzen enden - Prisma der sogenannten entwickelten Länder behandelt. Die mangelnde Adäquatheil dieser Schemata und Ansätze für die Erfassung der lateinamerikanischen Realitäten wurde seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich und- was die Sozialwissenschaften anbelangt -insbesondere seit den 1970er Jahren. [ ... ] So sind die sozialwissenschaftliehen Theotien und Konzepte, die sich fiir das Verständnis der sozialen Phänomene Lateinarnerikas als inadäquat, ineffizient, nutzlos und ineflihrend herausstellten, trotz

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Seit 1965 unternahm Gonzalez Casanova aus dieserneuen Perspektive heraus die Restrukturierung des ehemals von Mendieta y Nufiez geleiteten "Instituto de Investigaciones Sociales". Umfassende Studien zur Entwicklung des Landes, soziologische Grundlagen und empirische wie augewandte Forschung zu nationalen Problemen standen hier nunmehr im Vordergrund. Das "Centro Nacional de Productividad" in Mexiko gab in dieser Zeit eine Textreihe zu Anforderungen an eine national ausgerichtete mexikanische Wissenschaftspolitik heraus. Im Band zu Sozialwissenschaften und Anthropologie sprach Gonzälez Casanova von der ,,Notwendigkeit einer politischen Perspektive in den Sozialwissenschaften"376 . Zu diesem Zweck führte er eine Befragung unter Lokal- und Regionalpolitikern, Beamten und weiteren Akteuren der mexikanischen Politik und Gesellschaft durch, mit dem Ziel, deren Prioritätensetzung für die Sozialwissenschaften zu erfahren. Die Ausrichtung der Wissenschaft an den Bedürfnissen der Gesellschaft geht aus diesem Versuch klar hervor. Gonzalez Casanova förderte auch die Einrichtung von Studiengängen in Soziologie, eine Notwendigkeitangesichtsder Tatsache, dass bis zu Beginn der 1960er Jahre noch sämtliche Akademiker, die sich für die Förderung der Disziplin eingesetzt hatten, selbst keine Soziologen waren, sondern sich als Rechtsanwälte, Philosophen, Ärzte oder Anthropologen für diese interessierten. Mit dem einschlägigen Werk "La democracia en Mexico" (1965) lieferte er dann auch ein Vorbild für die neue Orientierung und ein Lehrstück flir nachfolgende Generation. In einer Kombination von theoretischer und empirischer Arbeit habe die mexikanische Soziologie erst in dieser Zeit begonnen, "die , wahre nationale Gesellschaft' zu entdecken"377 . Paradigmatisch flir das Aufkommen einer kontinentalen Perspektive und flir die Durchsetzung der lateinamerikanischen Theorien in Mexiko war auch der Text des mexikanischen Soziologen Rodolfo Stavenhagen, "Siete tesis equivocadas sobre America latina" ( 1965), in dem er im Zeichen der Dependenztheorie sieben herkömmliche, modernisierungstheoretische Annahmen zu Sozialstruktur und Klassenfrage, Bauerntum, Industrialisierung und Proletarisierung, Großgrundbesitz und Nationalismus kritisierte und korrigierte.378 Die ausdrückliche Distanzierung von europäischen tmd nordameri-

ihrer Zähigkeit und ihres Widerstands eine nach der anderen untergegangen)." Stavenhagen, Rodolfo (1971 ): Sociologia y subdesarrollo (1985), Mexico, S. 10/11. 376 I Gonzalez Casanova, Pablo (1968), S. 12, hervorgehoben im Original. 377 I "El uso del dato empirico inscrito en un espacio te6rico y la defmici6n mas precisa de los objetos de estudio, dieron a los resultados de estas investigaciones una relevancia casi inmediata. Puede decirse quese empezaba a descurbir la ,verdadera sociedad nacional.' (Die Nutzung empirischer Daten irmerhalb eines theoretischen Rahmens und die präzise Defmition des Objekts verliehen den Forschungsergebnissen eine beinahe unmittelbare Relevanz. Man kann sagen, dass die ,wirkliche nationale Gesellschaft' entdeckt wurde)." Reyna, lose Luis (1979), S. 65. 378 I Stavenhagen, Rodolfo (1965): "Siete tesis equivocadas sobre America Latina", in: Rodo1fo Stavenhagen (1971), S. 15-38. Für eine Reflektion über die

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kanischen Perspektiven geht auch aus einem damaligen Lehrbuchprojekt zur "Dekolonisierung der Lehre" hervor379 . In den 1980er Jahren, mit dem Aufkommen von Postmodeme und Poststrukturalismus, ging diese Glanzperiode kontinentaler konterhegemonialer Perspektiven dann auch in Mexiko langsam zu Ende. Die Soziologie diversifizierte sich und rezipierte verstärkt wiederum europäische Theoretiker - Foucault, Derrida, Deleuze, Lyotard, Rorty. 380 Auch hierbei scheinen sich einige Kolleginnen einig, dass in den letzten Jahrzehnten die Einführung individualistischer Evaluierungs- und Finanzierungssysteme hegemoniale Tendenzen wieder verstärkten. In Mexiko geschah dies über die Einrichtung des ,,Sistema Nacional de Investigadores" (SNI) seit 1984. Auch wenn dieses für eine formelle Anerkennung und Bewertung der Forschung sorge, erlege es den Wissenschaftlerinnen die Anpassung an einen allgemein gesetzten Standard auf: "It is clear that, although the creation of the SNI led to the formal establishment of a social, institutional and normative framework for recognition and validation of the activity and position of researcher, it also brought with it standard specific requirements with which the academic community is virtually compelled to identify ( ... )."381 Unter "Standard" führt Hebe Vessuri quantitative wie qualitative Produktivitätsindikatoren an, allen voran diejenigen, die sich an "internationalen Standards" ausrichten. Dies fördert den Aufbau eigener sozialwissenschaftlicher Traditionen anscheinend selbst in einem Kontinent wie Lateinamerika, wo ausreichende Infrastrukturen zur Herausbildung kontinentaler "internationaler Standards" durchaus bestünden, wenig. In Befragungen unter mexikanischen Migrationsforscherinnen führten viele die derzeitigen Probleme in ihrem Forschungszweig, insbesondere die mangelnde Integration der wissenschaftlichen Gemeinschaft, heutige Aktualität der "Sieben Thesen", siehe Zapata, Francisco (1995): "Las Siete tesis: treinta aiios despues", in: Estudios Sociol6gicos 8 Nr. 37, S. 181-188. 379 I "EI ensayo de texto escolar, que ahora se presenta, se aparta de las visiones tradicionales de Ia enseiianza de Ia Sociologia, con enfoques heredados del conocimiento sociol6gico producido en Europa y Norteamerica en el siglo pasado. La visi6n moderna de Ia Sociologia, Ia Nueva Sociologia, tiene que estar desmitificada, analizando criticamente las situaciones y las concecuencias de Ia dependencia y del subdesarrollo, de Ia dominaci6n y Ia crisis, en una actidud que tienda a descolonizar Ia enseiianza de Ia sociologia para el cambio liberador. (Der hier vorgelegte Versuch eines Lehrbuches weicht von den traditionellen Vorstellungen der soziologischen Lehre mit ihren von den europäischen und nordamerikanischen Ansätzen des letzten Jahrhunderts ererbten Ansätzen ab. Die moderne Vision der Soziologie, die Neue Soziologie, muss entmystifiziert werden und die Situation der Dependenz und Unterentwicklung, der Beherrschung und der Krise und ihre Auswirkungen aus einer Haltung heraus kritisch analysieren, die geeignet ist, die soziologische Lehre zu entkolonisieren und den befreienden Wandel herbei zu führen)." Sol6rzano Anguiano, Juan/Gonzalez G6mez, Andres (1979), S. 8. 380 I Andrade Carrefio, Alfredo (1998), S. 70 ff. Vgl. auch Juan Felipe Leal y Fernandez u. a. (1994) (Hg.). 381 I Vessuri, Hebe (1999a), S. 117.

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auf die enorme Konkurrenz um Veröffentlichungen zurück, um Einladungen zu überseeischen Konferenzen und um Gelder aus nationalen und vor allem aus US-amerikanischen Quellen wie den großen Stiftungen. Die Vorarbeiten für die erwähnte Fallstudie zu Migrationsforschung in Mexiko zeigten klar, dass eine solche Wissenschaftspolitik dem Gedeihen des untersuchten Forschungsbereichs in dieser Hinsicht wenig zuträglich war. Auf diese Problematik ist am Ende der Fallstudie zur Entwicklung einer spezifischen konterhegemonialen Strömung, den südafrikanischen "Labour Studies", zurückzukommen. An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass die Herausbildung der lateinamerikanischen Richtungen Cepalismus und Dependenztheorie historisch der Idee einer konterhegemonialen Strömung entspricht. Sie entstanden in direkter Auseinandersetzung mit den sozioökonomischen Realitäten des Kontinents und mussten diese so adäquat erfassen, dass sie auch in der wirtschafts- und entwicklungspolitischen Praxis umgesetzt werden konnten. Ferner waren sie ausdrücklich gegen modernisierungstheoretische Ansätze gerichtet. Nachdem die Instrumente zu Analyse und Verständnis konterhegemonialer Strömungen in diesem Abschnitt geschärft wurden, kann nun eine Fallstudie ins Auge gefasst werden. Die Wahl Südafrikas für diese Untersuchung, die viele Kommentatorinnen im Voraus zur abfälligen Bemerkung veranlasste, Südafrika sei ja "nicht richtig Afrika", soll hier kurz gerechtfertigt werden. Inwiefern das Land "Afrika ist" oder nicht, braucht hier nicht diskutiert zu werden. 382 Vielmehr bietet es optimale Voraussetzungen für die Erforschung der K.onterhegemonialität: Die materielle und institutionelle Infrastruktur hatte sich seit den 1920er Jahren aufgebaut, sodass mögliche Entwicldungsprobleme die Herausarbeitung der subtileren Dimensionen im ZentrumPeripherie-Modell - Marginalität, Abhängigkeit und Konterhegemonialität - kaum beeinträchtigen. Eine Isolation der Marginalisierungstendenzen und Schwierigkeiten mit intellektueller Abhängigkeit, um die es ja vornehmlich gehen soll, ist daher im südafrikanischen Kontext besser zu bewerkstelligen als in Ländern, wo die materielle und infrastrukturelle Lage so desolat ist, dass sich die drei hier analytisch getrennten Problembereiche stark überschneiden und Marginalität oder Abhängigkeit in erster Li382 I Siehe hierzu die Arbeiten Mamdanis, der sich fiir die historische und sozialwissenschaftliche Integration Südafrikas in den Kontinent bemüht - insbesondere Mamdani, Mahmood (1996); aber auch Mamdani, Mahmood (1997); Mamdani, Mahmood (1998)- sowie die Diskussion zum "südafrikanischen Exzeptionalismus", die er dadurch auslöste: "Mamdani Review Symposium" (1997) in: African Sociological Review 1, Nr. 2, S. 102-155, mit Beiträgen von Bill Freund (S. 102-104), Ran Greenstein (S. 105-116), Ulf Himmelstrand (S. 117-123), Martin Legassick (S. 123-135), Julius E. Nyang'oro (S. 136-140), Eddie Webster (S. 140-144), Mahmood Mamdani: Response to comments (S. 145155). Siehe ferner Copans, Jean (1998): "Review ofMahmood Mamdani, Citizen and Subject", in: Transformation 36, S. 102-105; Mamdani, Mahmood (1999): "Response to Jean Copans' Review", in: Transformation 39, S. 97-101.

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TEIL 1: ZENTRUM, PERIPHERIE UND KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNGEN

nie dem niedrigen Entwicklungsniveau zuzurechnen sind. Gleichzeitig bietet Südafrika eine einzigartige historische, politische und gesamtgesellschaftliche Konstellation, die die Herausbildung konterhegemonialer Soziologie begünstigte. Im Übrigen schien es von vomherein unmöglich, ein einzelnes Fallbeispiel zu finden, das als repräsentativ flir einen oder gar zwei ganze Kontinente gelten könnte. Vielmehr geht es hier darum, eine Möglichkeit für Soziologieentwicklung an der Peripherie aufzuzeigen, mit Sicherheit nicht die einzige und vielleicht nicht einmal eine sehr häufige, doch eine, die die Idee der konterhegemonialen Strömung angemessen veranschaulicht und damit für die Wissenschaftssoziologie und vielleicht auch für die Wissenschaftspolitik interessant erscheint. Schließlich sprachen aus pragmatischen Gründen bestehende Verbindungen zwischen den Universitäten Freiburg und Durban für die Durchführbarkeit der vorgesehenen Studie.

TEIL 2: Die südafrikanischen "Labour Studies" als konterhegemoniale Strömung

IV. Einleitung: Historische Entwicklung und aktuelle Tendenzen der Soziologie in Südafrika- ein Überblick

Das theoretische Argument für die Entwicklung konterhegemonialer Strömungen soll in diesem Abschnitt anhand einer empirischen Fallstudie veranschaulicht werden. Im ersten Teil wurde argumentiert, dass in der Entwicklung peripherer Soziologie zwei Schritte notwendig sind, der Exotisierung in der internationalen Arena zu entgehen und sich selbst von der Fixierung auf das Zentrum abzuwenden. Zunächst muss eine gewisse soziale Relevanz verfolgt werden. Eine "öffentliche Soziologie" nach Michael Burawoy 383 wird bevorzugt eine Ausgangsposition in der eigenen sozialen Realität einnehmen, das heißt weder in der überseeischen Literatur noch in der Anerkennung durch die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft. Alternativ kann soziale Relevanz aber auch durch "policy sociology", also durch augewandte oder Auftragsforschung, hergestellt werden. Denn dies regt die Auseinandersetzung mit realen Problemen an, sichert eine empirische Grundlage für die Forschung und zwingt die Forschenden dazu, ihre Konzepte, Kategorien, ja vielleicht ihre Methoden und gesamten Fragestellungen an diese anzupassen, unabhängig davon, woher die anfänglichen wissenschaftlichen Instrumentarien stammten. Dass die Charakteristik der "öffentlichen" und "angewandten Soziologie" im Falle der südafrikanischen "Labour Studies" gegeben ist, wird hier zu zeigen sein. Nicht zufällig lud Burawoy ftir die Jahrestagung der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft 2004, die er als Präsident derselben unter das Motto "For Public Sociology" (in den USA, versteht sich) stellte, Soziologlnnen aus Afrika, Indien und Lateinamerika ein, und zwar aus Südafrika genau die Vertreterinnen des Faches, von denen hier die Rede sein wird. 384 383 I Burawoy, Michael (2004b). 384 I Vgl. auch Burawoys Forderung nach "Südafrikanisierung" der US-ameJikanischen Soziologie: Burawoy, Michael (o. J.). Burawoy's Anstoß zur Debatte um "öffentliche Soziologie", insbesondere sein Text "South Africanizing" hat eine

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TEIL 2: SüDAFR. "LABOUR STUDIES" ALS KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNG

Auf die Suche nach Möglichkeiten, lokale gesellschaftliche Probleme zu erkennen, adäquat zu erfassen und zu erklären, folgt der zweite Schritt: eigene Konzepte werden erarbeitet und soziologische Aussagen gewinnen an theoretischer Abstraktion. Schließlich können bestehende Theorien begründeterweise in Frage gestellt, abgeändert oder erweitert und neue Theorien entwickelt werden. 385 Diesen Prozess durchlief, so die These, die südafrikanische Arbeits- und Industriesoziologie, die sich seit den siebziger Jahren entwickelt hat. 386 In einem historischen Kontext, in dem nach dem Verbot der politischen Oppositionsparteien als einzige breite gesellschaftliche Kraft gegen die Apartheid die schwarzen Gewerkschaften verblieben waren, suchten regierungskritische Sozialwissenschaftlerinnen in den liberalen weißen englischsprachigen Universitäten den Kontakt zur Gewerkschaftsbewegung. Ausgehend von praktisch und politisch motivierten Auftragsforschungen im Dienste der Arbeiterorganisationen und von Arbeiterbildungsveranstaltungen entstanden bald universitäre Forschungsprogramme und -einrichtungen. Empirische Daten über Gewerkschaftsentwicklung lebhafte Diskussion unter südafrikanischen Kolleginnen hervorgerufen, bei denen das Gefiihl entstand, "gelabelt" worden zu sein und darauf reagieren zu müssen. Besonders trat in diesen Diskussionen hervor, dass einige die Unterscheidung von "public" und "policy sociology" zur Beschreibung ihrer eigenen Aktivitäten fiir künstlich und unzutreffend hielten. Wie immer spannend diese Frage sein mag, so sind hier die Kriterien zur Unterscheidung der beiden Kategmien sowie die Notwendigkeit oder Möglichkeit ihrer Unterscheidbarkeil eher zweitrangig, da das gemeinsame Element - die Ausrichtung auf ein nicht-akademisches Publikum - im Vordergrund steht. Die Debatte verlief vor allem mündlich (persönliche Kommunikation Shireen Ally und Ari Sitas, August 2007). Für schriftliche Zeugnisse, vgl. etwa Adesinas Rede als SASA-Präsident: Adesina, Jlmi (2006): "Sociology beyond despair: recovery ofnerve, endogeneity, and epistemic intervention", in: South Afiican Review of Sociology 37 Nr. 2, S. 241-259; sowie: Uys, Tina (2005): "Tradition, ambition and imagination: challenges and choices for post-apattheid sociology", in: Society in Transition 36 Nr. 1, S. 113-120; Uys, Tina (2006): "South African sociology in transition: continental and global engagement", in: Sociological Bulletin 55 Nr. 1, S. 78-90; Jubber, Ken (2007): "Sociology in South Africa. A brief historical review ofresearch and publishing", in: International Sociology 22 Nr. 5, S. 527-546; Sitas, Ari ( 1997b): "The waning of sociology in South Africa", in: Society in Transition 28 Nr. 1, S. 12-19, hier: unveröffentlichtes Manuskript des Attikels. 385 I Diese Überlegungen beziehen sich auf die Entwicklung eigenständiger Soziologien in peripheren Kontexten. 1nwieweit sie auf das Zentrum des internationalen Wissenschaftssystems übertragbar sind, kann hier nicht diskutiert werden. 386 I Kolleginnen schlugen fiir die Analyse der Entwicklungen in den südafrikanischen "Labour Studies" auch drei weitere wissenschaftssoziologische Ansätze vor: den Kuhn'schen Paradigmenwechsel, die historische Genese einer Disziplin sowie den transversalistischen Ansatz (Shinn, Terry/Ragouet, Pascal [2005]: Contraverses sur la science - pour une sociologie transversaliste de l'activite scientifique, Paris). Wenn auch in Teilen der folgenden Analyse keiner dieser drei Ansätze gänzlich abwegig erschiene und sich unter Umständen mit dem hier vorgeschlagenen Rahmen kombinieren ließe, so leistete doch keiner der drei ein umfassendes Verständnis der historischen Entwicklung der "Labour Studies" im Spannungsfeld von Lokalität und 1nternationalität.

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und Streikereignisse, über Profit- und Inflationsraten wurden hier hervorgebracht, Arbeiterbiographien, eine Zeitschrift, Studienprogramme und Generationen von Studierenden, die im Land ihre Abschlüsse erlangten und hier als Spezialistinnen gefragt waren. Persönliche Netzwerke von Soziologinnen schufen eine produktive, integrierte wissenschaftliche Gemeinschaft in kritischer Auseinandersetzung mit sozial, politisch und wirtschaftlich bedeutsamen gesellschaftlichen Akteuren. Dass sich auf der Grundlage sozialer Relevanz auch eine theoretische Relevanz für die Soziologie der Arbeit im Allgemeinen entwickelt hat, zeigen die bisher letzten größeren Veröffentlichungen der Forschungsgemeinde. Die Entstehung und Entwicklung der südafrikanischen "Labour Studies" in ihrer konterhegemonialen Dimension soll hier empirisch belegt werden. Auch wenn in den letzten Jahren vermehrt selbstreflexive Beiträge über die eigene Vergangenheit entstanden sind, so mangelt es doch, was die Aktivitäten in den 1970er und 1980er Jahren angeht, an historischem Material. Aufgrund von politischen Umständen, Repression und Zensur wurden zentrale theoretische Debatten ebenso wie Diskussionen um Probleme in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften nie verschriftlicht. 387 Die Durchführung von Interviews e1wies sich daher gerade flir diesen Zeitabschnitt als unerlässlich, um so die "orale Geschichte" dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft festzuhalten. Aus diesem Grund soll auch auf den folgenden Seiten ausgiebig aus den Gesprächen zitiert werden. Eine Auflistung aller Interviews, die die Autorin privat archiviert hat, findet sich in Anhang 1. Der darauffolgende Anhang 2 enthält den Leitfaden, auf den sich der Gedankenaustausch mit Soziologinnen der Arbeit und der Industrie stützte. Weiterhin dienten Tätigkeitsberichte der wichtigsten Zentren, Vorlesungsverzeichnisse und Klausurfragen, Informationen über Personalbewegungen in den Forschungsinstituten und über die Veröffentlichungspraxis etwa in lokalen Zeitschriften sowie Angaben zu internationalen Aktivitäten (Vorträge bei Konferenzen, Newsletter des Forschungskomitees 44 zu Arbeiterbewegungen der ISA [RC44]) zur Erfassung der Realitäten. Auch biorapbische Angaben wie die Berufslaufbahnen einzelner Beteiligter fanden Berücksichtigung.388 Für die theoretische Dimension wurde eine klei387 I Zu den Beziehungen zwischen Akademikerinnen und Gewerkschaften bestätigt dies von Holdt: "This histmy doesn't exist. None of those people are alive anymore, not in the unions ( ... ). This stuffwas never written about because it was too sensitive." interview Karl von Holdt 8.4.2004. 388 I Die lnfmmationen zu einzelnen Personen wurden über die Interviews und über Materialien wie Forschungsberichte der besuchten Institutionen, biographische Angaben in den herangezogenen Zeitschriften und ähnliche Quellen erhoben. Das so erlangte Bild - insbesondere hinsichtlich der "Labour"-Spezialistlnnen, die nicht persönlich befragt werden konnten - wurde durch aufWendige Internetrecherchen ergänzt, die eine Fülle von Anhaltspunkten erbrachten. Dies gilt insbesondere fiir die Analysen der Zitierweise (siehe Kapitel Vlll.2), fiir die zu einer großen Anzahl von zitie1ten Autorinnen etwa die institutionelle Anhindung - nicht selten im Ausland - herausgefunden werden musste. Die Erhebungen erlaubten auch in ge-

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ne Auswahl von als bedeutend eingestuften Texten herangezogen. Dieser Teil der Arbeit befasst sich nun mit der Analyse dieser Materialien in Verknüpfung mit den Entwicklungsphasen der "Labour Studies" einerseits und dem theoretischen Rahmen dieser Arbeit andererseits. Ein Blick auf die Soziologiegeschichte vor 1970 wird den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext darlegen. Eingangs scheinen ein paar Worte zum Sprachgebrauch angebracht. Es bleibt auch heute nichts anderes übrig, als die durch die Apartheid definierte und in Südafrika nach wie vor gängige Einteilung der Bevölkerung nach Hautfarben zu übernehmen. Mit "coloured" - hier mit "Farbige" übersetzt - sind Nachkommen gemischtfarbiger Eltern gemeint, mit "Africans" - hier "Afrikanerinnen" - ist die schwarze afrikanische Bevölkerung gemeint. "Whites" - hier "Weiße" - sind europäische Einwandererinnen und deren Nachkommen. Weiterhin spielten in den industriellen Beziehungen besonders in der Region KwaZulu-Natal die "Indians" oder "Asians" - hier "Indischstämmige" - eine wichtige Rolle, vorwiegend aus Indien stammende Immigrantinnen und deren Nachfahren. "Black" - hier "schwarz"- wurde in der Antiapartheidsbewegung zur "politischen Farbe" aller Nicht-Weißen. Im deutschen Sprachgebrauch ist aus Gründen der biologischen und politischen Korrektheit der Rassebegriff diskreditiert und meist durch den Begriff der Ethnie ersetzt worden. Das Englische kennt diese Scheu vor dem Rassebegriff nicht. Da er durch die Apartheid auch rechtlich, politisch und wirtschaftlich äußerst relevant wurde und es im Text hier um eben diese Politisierung, Verrechtlichung und Ökonomisierung geht, wird er hier aus dem Englischen übernommen. Den deutschen Leserinnen mag diese Wortwahl auch die Brutalität der entsprechenden Abgrenzungs- und Ausbeutungsmechanismen vor Augen fUhren. Die südafrikanische Soziologiegeschichte sowie aktuelle Entwicklungen haben eine Reihe wissenschaftshistorischer und selbstreflexiver Arbeiten der dortigen wissenschaftlichen Gemeinschaft eingehend behandelt. 389 Es

wissem Rahmen eine Überprüfung der Angaben aus den Interviews und erbrachten ein weiteres Bild von bestehenden Netzwerken. Dabei ist allerdings zu beachten, dass durch den Rückgriff auf das Internet und auf schriftliche Dokumente die Akteurlnnen, die keine formelle Rolle innehatten, die weniger auf Schriftlichkeit setzten, oder die aufgrund der bestehenden Ungleichheiten in Südafrika eine weniger große Öffentlichkeit eneichten, dabei nicht in gleichem Maße betücksichtigt werden konnten, wie etwa die etablierten Akademikerinnen oder Politikerlnnen. 389 I lch verweise summarisch auf die Arbeiten von Cornie Groenewald, Bernard Makhosezwe Magubane, Ari Sitas und Eddie Webster. Weiterin: Ally, Shireen/Mooney, Katie/Stewart, Paul (2003): "The state-sponsored and centralised institutionalisation ofan academic discipline: sociology in South Africa, 1920-1970", in: Society in Transition34 Nr. 1, S. 70-104; Bozzoli, Belinda/ Delius, Peter (1990): "Radical hist01y and South African society", in: Radical History Review 46, Nr. 7, S. 13-45; Cilliers, S. P. (1984): "The origins of sociology in South Afiica", Paper presented to the 15th ASSA Conference, University ofthe Witwatersrand, Johannes-

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sollen hier lediglich anhand einiger Eckdaten die Herausbildung der Disziplin unter Berücksichtigung der fiir diese Arbeit wichtigen Gesichtspunkte kurz skizziert werden, um die Einordnung der "Labour Studies" in ihren historischen und zeitgenössischen Kontext zu erleichtern. Im internationalen Vergleich gesehen, begann die Geschichte der Disziplin in Südafrika recht früh. Ein Entschluss der 1903 gegründeten "South African Association for the Advancement of Science" forderte bereits 1918, die "eingeborene" Bevölkerung des Landes systematisch zu untersuchen. Dies entsprach den kolonialen Verhältnissen in Südafrika, die die Disziplin bis Anfang der 1990er Jahre in verschiedener Hinsicht entscheidend prägen sollten. Seit den 1920er Jahren boten die Lehrpläne für das Gmndstudium in Philosophie und in Anthropologie vereinzelt Veranstaltungen zur Soziologie an. 390 Diesen frühen Anfangen durch Verbindung mit der Sozialanthropologie zum Trotz setzte sich die Disziplin institutionell jedoch erst in den 1930er Jahren in Anhindung an die Sozialarbeit durch. Als Ausgangspunkt hierfür wird die US-amerikanische "Carnegie Commission on the Poor White Problem" angeführt, die soziologische Untersuchungen mit Programmen zur Sozialarbeit verband. 391 Landesweit entstanden universitäre Abteilungen für Sozialarbeit und Soziologie. burg, 2.-5.7.1984, hier in: A. P. R. Kellerne (1991) (Hg.): S. P. Cilliers- se1ected papers, Stellenbosch, S. 122-131; Crothers, Charles (1996): "Sociology and social research in South Africa", in: Teresa Cmz e Silva/Ari Sitas, (1996a) (Hg.), S. 43-57; Cmz e Silva, Teresa/Sitas, Ari (1996b); Gmndlingh, Albert (1994): "Structures for sociologists: a historical perspective on associations for sociologists in South Africa (1967-1991)", in: Norrna Romm/ Michael Sarakinsky (1994) (Hg.): Social Theory, Johannesburg, S. 52-76; Hindson, Douglas (1989): "Putting the record straight: the Association for Sociology in South Africa", in: South African Sociological Review 2 Nr. 1, S. 69-74; Lever, Henry (1981): "Sociology ofSouth Africa: supplementary comments", in: Annual Review of Sociology 7, S. 249-262; Masilela, Ntongela (2000): "Foreshadowings in the making of an ,African Renaissance"', in: Bemard Makhosezwe Magubane (2000) (Hg.), S. T-XVTJI; Meer, Fatima (1998): "Sociology in Apartheid society (1950-1980)". Paperheld at the World Congress of Sociology, Montreal, Canada, 25.7.-1.8.1998; Sekgobela, Elijah (1994): "A relevant sociology for South Africa", in: Norma Romrn/Michael Sarakinsky (1994) (Hg.): Social Theory, Johannesburg, S. 40-52; Taylor, Rupert (1990): "Sociology in South Africa: tool or critic of Apartheid?", in: South African Sociological Review 2 Nr. 1, S. 65-74. Vgl. auch die Debatte um Olzaks Bericht über südafrikanische Soziologie: Olzak, Susan (1990): ,,Report to the Human Seiences Research Council", in: South African Sociological Review 3 Nr. 1, S. 62-68; Bozzoli, Belinda (1990): "Response: from social engineering to bureaucratic socio1ogy: state, authority and the alienation ofthe intelligentsia in South African social sciences", in: South African Sociological Review 3 Nr. 1, S. 69-76; Joubert, Dian (1991): "Further comments on Susan Olzak's report to the HSRC", in: South African Sociological Review 3 Nr. 2, S. 91-92; Oosthuizen, Kobus (1991): "Response: the state of sociology in South Africa revisited", in: South African Sociological Review 3 Nr. 2, S. 93-99. 390 I Vgl. Cilliers, S. P. (1984). 391 I Vgl. Groenewald, Cornie J. (1987): "The methodology ofpoverty research in South Africa: the case of the first Camegie investigation 1929-1932", in: Social Dynarnics 13 Nr. 2, S. 60-74; Groenewald, Cornie J. ( 1991): "The con-

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Erst im Laufe der 1950er Jahre emanzipierte sich die Soziologie als eigenständige Disziplin, was S. P. Cilliers als Verdienst angerechnet werden muss, der auch als Schlüsselfigur der Soziologieentwicklung in der Phase nach 1950 gilt. 392 Nach seinem Studium bei Talcott Parsons in Harvard wurde er 1958 nach Stellenbosch berufen und brachte dessen Theorie nach Südafiika. Auf theoretischer Ebene war der von Cilliers importie1ie Parsansehe Ansatz konstitutiv ft.ir das disziplinäre Selbstverständnis, denn erst mit der Begründung einer eigenständigen kohärenten Theorie war die Trennlinie zur Sozialarbeit gezogen. Im Laufe der 1960er Jahre brachen im ganzen Land die ehemals für beide Fächer bestimmten Institute auseinander. Gleichzeitig hatte seit dem Beginn der Apartheid 1948 eine immer deutlichere Spaltung in eine englischsprachige, als liberal einzuschätzende, und eine afrikaanssprachige, eher apartheidsstützende Ausrichtung begonnen. Nachdem die Loslösung von der Sozialarbeit voranschritt, wurde beim 16. Treffen des "Joint University Committee for Sociology and Social Worlc" 1964 beschlossen, eine eigene soziologische Vereinigung zu gründen. 393 Nach kontroversen Diskussionen, die mittlerweile im kollektiven Gedächtnis der wissenschaftlichen Gemeinschaft mehrfach aufgearbeitet wurden 394 , wurde 1967 die "Suid-Afrikaanse Sociologiese Vereniging" (SASOV) ins Leben gerufen. Für heiße Debatten hatte der Beschluss gesorgt, über eine Klausel in der Verfassung schwarze Mitglieder auszuschließen. 395 Einige anfänglich Beteiligte distanzierten sich aus Protest umgehend und in den Folgejahren konzentrierten sich hier mehrheitlich die afrikaanssprachigen Kolleginnen. Parallel wurde 1971 in Mozambique die "Association for Sociology in Southem Africa", ASSA, ins Leben gerufen, welche sich durch ihre nichtrassische Ausrichtung mindestens ebenso auszeichnete wie durch ihre anfänglich regionale. Die ASSA zog verstärkt ein englischsprachiges, apartheidkritisches Publikum an. Somit war die Spaltung in zwei Lager vor dem Hintergrund der Rassentrennung auch institutionell vollzogen, was Ken Jubber dazu veranlasste, die südafrikanische Soziologie als "schizophren" zu bezeichnen396 . Auch in der inhaltlichen Produktion spiegelte sich die Zweiteilung wider (siehe unten). text of the development of sociology in South Africa: a response to Visser and Van Staden" in: South African Journal of Sociology 2 Nr. 22, S. 46-49. 392 I Webster, Eddie u. a. (2000), S. 9. 393 I Vgl. Cilliers, S. P. (1984), S. 129. 394 I Ally, Shireen/Mooney, Katie/Stewart, Paul (2003); Cilliers, S. P. (1984); Crothers, Charles (1996); Groenewald, Comie J. (1991); Grundlingh, Albert (1994); Hindson, Douglas (1989); Taylor, Rupert (1990); Webster, Eddie u. a. (2000); Webster, Eddie (2004): "Sociology in South Africa: its past, present and future", in: Society in Transition 35 Nr. 1, S. 27-41. hier: Manuskript; Webster, Eddie (1998b). 395 I Grundlingh, Albert (1994). 396 I Jubber, Ken (1983): "Sociology and its social context: the case ofthe Jise ofMarxist sociology in South Africa", in: Social Dynamics 8 Nr. 2, S. 50-64, S. 53.

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An den schwarzen Universitäten397 dagegen wurde Soziologie, beginnend mit Fort Hare, erst in den 1960er Jahren eingeführt und in der Regel von afrikaanssprachigem Personal vertreten. Bis in die 1970er Jahre scheinen sie keine nennenswerten Errungenschaften hervorgebracht zu haben. Und auch wenn im Rahmen von ASSA einige kritische schwarze Soziologlnnen Anschluss an laufende theoretische Debatten fanden, verhinderten die schlechte materielle und finanzielle Ausstattung, die geographisch gesehen gewollt periphere Lage dieser abfällig auch als "Busch-Unis" bezeichneten schwarzen Hochschulen sowie die harte staatliche Repression, der sie unterlagen, nennenswerte Fortschritte. Was die Arbeit in einer weißen Universität für eine schwarze Soziologin bedeutete, stellt Fatima Meer in ihrem Text "Sociology in Apartheid society" eindrücklich dar. 398 Bevor die Orientierungen der beiden soziologischen Vereinigungen kurz charakterisiert werden, muss auf zwei weitere Zeitumstände hingewiesen werden: die intellektuelle Gemeinschaft im Exil und der akademische Boykott. Die neue Generation von Sozialwissenschaftlerlnnen, die in den 1970er Jahren für einen Umschwung in Südafrikas Hochschulen sorgen sollte, war entscheidend von den Aktivitäten in Übersee geprägt. Nicht nur ausländische Afrikanistinnen analysierten und diskutierten die Lage am Horn von Afrika, sondern eine ganze Generation von Exilantlnnen nahm an dieser Auseinandersetzung über Vergangenheit und Zukunft der Region teil. 399 Insofern kann bezüglich der Rückkehrerinnen nicht von einer reinen Abhängigkeit vom Zentrum gesprochen werden: Ein bedeutender Teil der landeseigenen kritischen Intelligenz, darwlter viele politische Aktivistinnen, sammelten sich nach dem Verbot der politischen Opposition 1960 an Orten wie London, Oxford oder Sussex. 400 Aber auch das in Maputo nach der Unabhängigkeit gegründete Zentrum ftir Afrikastudien war eine Drehscheibe für diese delokalisierten Intellektuellen. Ray und Jade Simons, Mitglieder der Kommunistischen Partei, die weiter unten im Zusammenhang mit ihrem einflussreichen Werk "Class and color in South Africa 1850-1950" Erwähnung finden, hielten sich seit 1965 in Lusaka, dann in Manchester auf. Harold Wolpe an der University of Essex wird auch als "Dekan des südafrikanischen Marxismus" bezeichnet. 401 Leo Kuper hatte das Soziologie-Department an der "University of Natal" in Dur-

397 I Vgl. zur Geschichte der südafrikanischen Hochschulen: Adam, Kogi1a (1971): "Dialectic of higher education for the colonized: the case of non-white universities in South Africa", in: Heribert Adam (1971) (Hg.): South Africasocio1ogical perspectives, London, S. 197-213. 398 I Meer, Fatima (1998). 399 I Vgl. Bozzoli, Belinda/Delius, Peter (1990). 400 I Sitas schreibt ihnen dort sogar eine Vorreiterrolle zu:"( .. .) in England, at the Universities there, a critica1 schalarship pioneered by South Africans who bad left the countty ( ... ) inspired by new left debates." Sitas, Ari (1997b), S. 3. 401 I Vgl. Webster, Eddie u. a. (2000), S. 10.

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ban402 verlassen. Die Seminare von Stanley Trapido am "Oxford Institute of Commonwealth Studies", von Martin Legassick in Brighton, dann Oxford und schließlich in Warwiek und von Shula Marksam "London Institute of Commonwealth Studies" entfalteten in der Exilgemeinschaft große Wirkung. 403 In dieser Konstellation kam in Großbritannien die als "Revisionismus" bekannte Richtung auf, die in der Frage nach der Zukunft des Kapitalismus in Südafrika einen Paradigmenwechsel herbeiführen sollte. In den 1960er Jahren hatte sich in liberalen Kreisen des Landes die Ansicht verbreitet, die konservative, rückwärtsgerichtete Ideologie der Apartheid sei unvereinbar mit dem Kapitalismus. Das Fortschreiten der wirtschaftlichen Entwicklung könne früher oder später nur zum Fall dieses Regimes führen. Das zentrale Argument der südafrikanischen und überseeischen Revisionistinnen hiergegen war nun, dass die beiden Dinge durchaus kompatibel und einander zuträglich seien. Zu dieser Einsicht hatte ein grundlegendes Überdenken der zentralen Kategorien für die Analyse der südafrikanischen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse geführt - weg von Rassengesichtspunkten hin zu ökonomischen: zur Klassenfrage. Den Anstoß hierzu hatte der kanadische marxistische Afrikaspezialist Frederick A. Johnstone gegeben. Später kritisierten besonders schwarze Soziologinnen die Vernachlässigung der Rassenkategorie durch die Revisionistinnen heftig. Tatsächlich bedingte die Klassentheorie eine Zweitrangigkeit der Rassenfrage, was auch einige frühere Verfechterinnen der Richtung heute so sehen. 404 Die vom "Revisionismus" geprägte Lehre in England brachte eine ganze Generation von radikalisierten Absolventinnen hervor, die teilweise nach Südafrika zurückkehrten und aufneu geschaffenen Positionen an den englischsprachigen Hochschulen tätig wurden: Charles van Onselen, Belinda Bozzoli, Dan O'Meara, Eddie Webster, David Webster, Phi! Bonner, Colin Bundy, Duncan Innes, JeffGuy, D. W. Hedges, Henry Slater. Einer der für die nachfolgenden Entwicklungen bedeutendsten Remigranten hatte allerdings nicht in England studiert: Richard (Rick) Turner, der eine Dissertation über Sartre in Paris verfasst hatte, kam Ende der 1960er Jahre nach Durban zurück. Aufgrund der politischen Situation belegte die internationale Gemeinschaft Südafrika gegen Ende der 1960er Jahre mit einem akademischen Boykott. 405 Über dessen Auswirkungen gehen die Meinungen weit ausei402 I Die University of Natal wurde 2004 mit der University of DurbanWestville zusammengefiihrt und in University of KwaZulu-Natal umbenannt. 403 I Bozzoli, Belinda/Delius, Peter(1990), S. 20. 404 I Bozzoli, Belinda/Delius, Peter (1990), S. 20. 405 I Haricombe unterscheidet als Maßnahmen des akademischen Boykotts: "a) refusal by international scholars to travel to South Africa or to invite South Africans abroad; b) refusal to publish South African manuscripts intemationally; c) refusal of intemational scholars to collaborate with South African scholars; d) refusal by some publishers to provide access to information (e. g. books, computer software);

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nander. In den Interviews bestand weder Übereinstimmung darüber, wie sinnvoll und wie politisch legitim diese Maßnahme war, noch darüber, was sie tatsächlich bewirkt habe. Einige der Befragten waren der Meinung, dass der Boykott, gekoppelt mit der Zensur und dem Verbot von Schriften, zur Isolierung der wissenschaftlichen Gemeinschaften von wichtigen internationalen Entwicklungen geführt habe. 406 Gleichzeitig sorgte jedoch die Exilgemeinschaft ftir regen Kontakt auf politischer und auch auf sozialwissenschaftlicher Ebene. Es bestanden Programme flir Studien in Übersee, die verbannte Literatur zirkulierte dennoch rege und der "African National Congress" (ANC), der einerseits die Sanktionen vorantrieb, sorgte andererseits dafür, seine wissenschaftlich versierten Anhängerinnen in Hochschulen im Ausland unterzubringen. Die einzige systematische Erhebung über die Vergeltungsmaßnahme liefert leider rein statistische Ergebnisse und praktisch keine qualitative Analyse oder Interpretation derselben. 407 Die theoretischen Entwicklungen aus Übersee gelangten in Schriftform, über persönliche Kontakte und natürlich über die rückkehrenden Absolventinnen in die südafrikanischen Universitäten und ftihrten in der ersten Zeit zu einer regelrechten "Kopierkultur": "The new perspectives generated in England in these years were consumed with great eagerness in South Africa. Dog-eared copies of papers given at Oxford, Sussex or London soon circulated (surreptitiously in most cases) in Johannesburg and Durban. This ,photocopying culture' emerged, we suggest, in taudem with a series of major political and intellectual developments in South Africa towards the end of the repressive decade of the 1960s." 408 Was die soziologische Produktion in Südafrika selbst betrifft, so behauptet Elijah Sekgobela, dass trotz des akademischen Boykotts die Disziplin von ihren Anfangen an im Wesentlichen von europäischen und US-arnerikanischen Entwicklungen abhängig war. Dies erkläre auch die in den 1970er Jahren im Rahmen der ASSA aufkommende Kritik an der bisherigen Soziologie: Sie galt nunmelu· als größtenteils irrelevant für lokale soziale Fragen und Probleme, scheute sich, kontroverse und gesellschaftlich brisante Thematiken zu behandeln, konnte den beschleunigten sozialen Wandel der 1970er Jahre nicht adäquat erfassen und schon gar nicht erklären.409 Die ASSA entwickelte sich so bereits kurz nach ihrer Entstehung und verstärkt in den 1980er Jahren zu einem e) denial of South African participation at international conferences; f) denial of access to South African academics by certain institutions abroad." Hruicombe, Lorraine Jeanne (1992): The effect of an academic boycott on academics in South Africa, PhD Thesis, University of lllinois at Urbana-Champaign, S. 26. 406 I So beispielsweise Crothers, Charles (1996), S. 48; Webster, Eddie/Fakier, Khayaat (2001), S. 21. 407 I Haricombe, Lorraine Jeanne (1992). 408 I Bozzoli, Belinda!Delius, Peter (1990), S. 22. 409 I Sekgobela schreibt diese Eigenschaften vor allem der Vorherrschaft des Funktionalismus zu. Sekgobela, Elijah (1994), S. 45.

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Diskussionsforum flir gesellschaftlich und politisch engagierte Sozialwissenschaft - der Schwerpunkt lag auf der Soziologie, doch auch Nachbardisziplinen, insbesondere solche, die nicht über ein vergleichbares Iaitisches Forum verfügten, tummelten sich hier. Die Diskussion war einerseits vom "Marxismus" geprägt, andererseits bestimmt von den politischen Debatten um die aufkommende schwarze Gewerkschafts- und die "community"-Bewegung, die "Black Consciousness Movement" und Ähnliche.410 Als Gegenstück zur Relevanz und Originalität der in der ASSA praktizierten Soziologie charakterisiert Albert Grundlingh die Aktivitäten in der SASOV: "The SASA's failure tobe attuned to the dynamics of South African politics in the 1980s partl y explains the Iack of intellectual force in the organization. This was compounded by a conesponding Iack of theoretical renewal that stifled the emergence of new ways of conceptualizing South African reality."411 Dies hing vermutlich mit der anhaltenden funktionalistischen Orientierung zusammen, die nicht geeignet war, gesellschaftlichen Wandel zu erfassen. 412 Da die SASOV flir die "Labour Studies" kaum eine Rolle spielte, soll auf dortige Entwicklungen nicht weiter eingegangen werden. Das Umfeld für die südafrikanische Soziologie änderte sich grundlegend mit dem Ende der Rassentrennung. Das inhaltliche Spektrum diversi410 I Sekgobela fasst die unterschiedlichen Einflüsse in den 1970em - darunter zentral die Rückkehr aus dem Exil -zusammen, aus deren Zusammentreffen theoretische Neuerungen hervorgingen: "Upon their retum, they (the exi1es, W. K.) helped to develop a renewed interest in rethinking analyses of South Aftica. Under their intluence, the focus for sociological analysis began to shift to the controversial issues of apartheid. This led to a new awareness in sociological thinking in the 1970s ( ... ). This shift emerged partly in response to, inter alia, a series of strikes by non-unionized black workers in the early 1970s and the re-emergence of b1ack trade unions, the uprising by youth in 1976 and 1977 in Soweto and throughout the country and the change from passive po1itical protest to active resistance. In addition, the eyes ofthe world were becoming increasingly focused on the policies of apartheid and it became more and more difficult for sociologists to ,tum a blind eye' to the effects of apattheid. The limitations of the attempts of functionalism to explain the social upheaval of the 1970s led sociologists to search elsewhere for theories which were able to deal with social conflict and change. One such theory was Marxism." Sekgobela, Elijah (1994), S. 46/47. 411 I Grundlingh, Albert ( 1994), S. 69. SASA war die englischsprachige Abkürzung für SASOV, ist aber nicht mit der neuen "South African Sociological Association" (SASA) zu verwechseln, weshalb hier im Text das afrikaanssprachige Kürzel bevorzugt wird. 412 I "The membership ofthe two associations would not differ only politically but also according to theory and method in sociology. ASSA members used tobe more inclined to liberal interpretation. ln later years they drew more heavily on historical materialism and class analysis in explaining the South African complexities and changes ( ... ). SASOV members would be more inclined to apply functionalistic and pluralistic modes of analysis and would be more in defense of positivistic research methods. These observations obviously can be criticised as gross generalizations but they nevettheless serve to indicate a significant drive in the community of sociologists in South Africa." Groenewald, Comie J. (1991), S. 47.

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fizierte sich, postmoderne Strömungen fanden Einlass, und die bisher in erster Linie über ihre Kritik an der Apartheid definierten kritischen Richtungen gerieten in die Krise. Die beiden separaten Vereinigungen haben sich zur "South African Sociological Association" (SASA) zusammengeschlossen. Doch ftir diesen kurzen historischen Abriss ist vor allem der neue institutionelle Kontext von Bedeutung, der die Entwicklungen seit den 1990er Jahren entscheidend geprägt hat. Webster et al. charakterisieren diesen als ein Spannungsfeld zwischen vier institutionellen Anforderungen in den post-Apartheid Universitäten: Gleichstellung, Berufsorientierung, Kommerzialisierung und neue Prioritäten in der Forschungsfinanzierung.413 Ziel der Gleichstellungspolitik, gesetzlich geregelt in erster Linie über den "Employment Equity Act", ist es, die höheren Bildungseinrichtungen bezüglich Hautfarbe und Geschlecht demographisch repräsentativer zu machen. Der Transformationsprozess gestaltet sich zäh, führt zu heftigen Konflikten 414 und hat bisher trotz einiger Änderungen nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Über die Transformation des Hochschulsystems nach Gleichstellungsgesichtspunkten ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. 415 Diese Problematik kann im Folgenden nicht weiter berücksichtigt werden. Um die Berufsorientierung der Hochschulbildung zu stärken, ist die "South African Qualifications Authority", SAQA, mit der Koordinierung 413 I Webster, Eddie u. a. (2000), S. 12 ff. 414 I Vgl. Chachage, C. S. L. (1999); Webster, Eddie (1998a): "Wit's going on? Revisiting the Makgoba Affair. Review of M. W. Makgoba, Mokoko - the Makgoba Affair- a reflection on transformation, Vivlia, 1997", in: Southem Africa Report, S. 30-33. 415 I Zum Transformationsprozess, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität fur die große Anzahl derartiger Studien, vgl. etwa die Beiträge zu: Cloete, Nico u. a. (1997) (Hg.); sowie Cooper, David (2000): "The skewed revolution: the selective ,afiicanisation' of the student profile of histmically white universilies and technikans in South Africa in the 1990s". Paper presented at the Afiican Studies seminar at University of Cape Town, 2000 (Summary of chapters 2-6 of David Cooper/George Subotzky [2001]: The skewed revolution: trends in South African higher education 1988-1998, Johannesburg). Ferner: Balintulo, Marcus (2002): "The roJe of the state in the Iransformation of South African higher education ( 19942002): equity and redress revisited". Paper presented at the CODESRIA Conference on African Universities in the 21st century, Dakar, 25.-27.4.2002, http:// www.codes ria.org/Links/conferences/universities/Balintulo.pdf (August 2004); Chachage, C. S. L. (1999); Motala, Enver/Singh, Mala (2002): "1ntroduction", in: Enver Motala/John PampaHis (2002) (Hg.): The state, education and equity in post-apartheid South Aftica: the impact of state policies, Aldershot u. a., S. 1-13; Muller, Johan (2004): "Responsiveness and innovation in higher education restructuring: the South African case", in: Sverker Lindblad/Thomas S. Popkewitz (2004) (Hg.) Educational restructuring: international perspectives on travelling policies, Connecticut, S. 143-165. Mit einem Fokus auf das Wissenschaftssystem: Mouton, Johann (1995): "Human sciences research at South African universities", in: Directory of human sciences organisations and professional associations in South Africa, Pretoria, S. 11-3 7; Mouton, Johann (2002): "Post apartheid science: South Aftican science in transition", in: Johann Mauton/Roland Waast/F. Ritchie (2002) (Hg.), S. 62-77.

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von Bildung und Forschung mit anderen Sektoren - allen voran dem produktiven - beauftragt. Die SAQA hat dementsprechend Strukturen der Evaluierung universitärer Bildung errichtet, in denen akademische und außerakademische Akteure aus Regierung, Wirtschaft und Gesellschaft Empfehlungen zur Lehrplangestaltung geben, die Leistungen der universitären Einrichtungen überprüfen und an der formellen Anerkennung von Qualifikationen oder Abschlüssen beteiligt sind. Die Forderung nach berufs- und anwendungsorientierter Bildung ("outcome based education") wird von vielen als Reduzierung von Studium und Lehre auf ein marktorientiertes Angebot kritisiert. 416 Als Kommerzialisierung wird die Tatsache bezeichnet, dass der Diskurs vom Wettbewerb, von finanzieller Autonomie und Profit in den Universitätsverwaltungeil Einzug gehalten hat. Die Restrukturierung hat den Druck innerhalb der Institutionen hin zur Verwertbarkeit und Vermarktung von Soziologie erhöht, die zunehmend kundenorientierte "service courses" sowie "consulting"-Leistungen anbietet.417 Nachfrage nach derartigen soziologischen Dienstleistungen besteht im lukrativen privaten wie auch im öffentlichen Sektor, in die viele Akademikerinnen abwanderten. Dies sollte auch Auswirkungen auf die "Labour Studies" haben, wie sich weiter unten zeigen wird. Die Auswirkungen der verstärkten Berufsorientierung und Vermarktung auf die Disziplin hängen schließlich mit der staatlichen Finanzierungspolitik zusammen. Die "National Research Foundation" (NRF)418 ist in den letzten Jahren vermehrt zu individuellen Evaluierungs- und Leistungsanreizsystemen übergegangen. 419 Dies wird von vielen bisher stark gemeinschaftlich orientierten sozialwissenschaftliehen Instituten kritisch hinterfragt und hat etwa Webster und Fakier dazu veranlasst, Alternativen flir ihre Disziplin zu erkunden und zu entwerfen. 420 An dem NRF-System ha416 I Sitas, Ari (o. J.b) "Continuous discontinuity", unveröffentlichtes Dokument, University ofKwaZulu-Natal, Durban. 417 I Webster, Eddie u. a. (2000), S. 13. 418 I Ehemals finanzierte die "Foundation for Research and Development" die Naturwissenschaften und das "Centre for Scientific Development" die Sozialwissenschaften. Diese getrennten Einrichtungen wurden nun mit dem Ziel, mehr interdisziplinäre Arbeit anzuregen, zusammengeführt in der "National Research Foundation". Unter den Sozialwissenschaftlerinnen ist die Ansicht verbreitet, dass ihre Disziplinen in diesem neuen Finanzierungsmodell zu k.'llrz kommen, da die Regienmg das Augenmerk aufNatmwissenschaften und Technologieentwicklung lege. 419 I Crothers, Charles (1996), S. 55. 420 I "However by adopting a developmental approach we hope that the benchmarking system that we are proposing will not simply reproduce the legacy of the North but begin to foreground social knowledge produced in the South ( ... ) The precise details on how a less Western-dominatedsystem ofbenchmarking would actually work will need to be speit out by the stakeholder. In the meantime we suggest that this system of benchmarking be based on the following broad principles: That the aim of the evaluation be to develop the research capacity of the members of the entity ( . . .); that the question of equity is central

IV.

EINLEITUNG: SOZIOLOGIE IN SüDAFRIKA- EIN ÜBERBLICK

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ben sie in erster Linie auszusetzen, dass dieses, indem es "internationale Maßstäbe" setze, nordatlantische Dominanz stärke.

to the goal of excellence and that the ability of the entity to produce a new generation of researchers be a key component of the evaluation; that teaching and research entities, rather than individuals, be assessed; ( ... ) that the assessment be undertaken by peers nominated by the South African Sociological Association with the final decision being made by the NRF; ( ... ) that only those entities that whish tobe part ofthe rating system be evaluated. ln other words, it is a voluntary system ( . ..)." Webster, Eddie/Fakier, Khayaat (2001), S. 23/24.

V. "South African Labour Studies" von der Gründungsphase bis zum Ende der Apartheid

Vor dem Hintergnmd des vorangestellten historischen Abrisses kann nun die Entwicklung der südafrikanischen "Labour Studies" in zwei Phasen unterteilt werden. Von der Gründungsphase bis zum Ende der Apartheid, das heißt in den 1970er und 80er Jahren, prägten gnmdlegend andere Rahmenbedingungen den Forschungszweig als in dem Zeitraum von den 1990er Jahren bis um Beginn des 21. Jahrhunderts.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort: "All these issues, resistance, trade unions and so on were in the air" Die südafrikanischen "Labour Studies" entstanden zu Beginn der 1970er Jahre. Studierende und Lehrende in den weißen, englischsprachigen Universitäten erkannten damals die hohe politische und gesellschaftliche Relevanz der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung421 und machten sie zum Ziel ihres Engagements gegen die Apartheid sowie zum Objekt ihrer wissenschaftlichen Arbeit422. Viele Beteiligte erinnern sich an die aufgeheizte, nach Aktion und Mo-

421 I Es handelte sich um eine gemischtrassische Arbeiterbewegung. Da jedoch weiße Gewerkschaften seit jeher bestanden und die nach 1973 aufkommende Bewegung übetwiegend auf Initiative von Schwarzen entstand und von ihnen getragen wurde, werden sie häufig als "schwarze Gewerkschaften" bezeichnet. Die Verwendung dieses Begriffs ist nicht mit einer rassischen Beschränkung gleichzusetzen. 422 I Taylor stellt diese neu entstehende Richtung der bisherigen südafrikanischen Soziologie gegenüber, die sich stets gescheut habe, dringende gesellschaftliche Probleme zu behandeln. Taylor, Rupert (1990), S. 68. Für die Geschichte des Fachbereichs siehe auch: Webster, Eddie (1985b): "The rise of a new labour studies in South Africa - a brief report on cutTent labour research activities". Department of Sociology, University ofthe Witwatersrand, Johannesburg.

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bilisierung rufende Stimmung, die "in der Luft lag": "I studied at Wits in the 1970s. All these issues, resistance, trade unions and so on were in the air. The student body was highly politicised. The students themselves were involved in support programs for the ernerging trade unions."423 Die gleiche Wortwahl trifft Karl von Holdt, der Ende der 1970er Jahre in der Erwachsenenalphabetisierung in Kapstadt mit dem Paulo-Freire-Ansatz experimentierte, an der Studentenbewegung ebenso beteiligt war wie an Kapitallesegruppen und an Diskussionen um die trotzkistische "Unity Movement" in Kapstadt "(... ) all those ( ... ) things, it all kind of came together, butit was sort of, in the air ( ... ). " 424 Viele der späteren "Labour Studies"-Spezialistlnnen waren in dieser Zeit wie von Holdtin unterschiedlichen Kreisen aktiv: "It was very vibrant at that time. I was also involved in creative work, with the Junction Avenue Theatre Company, so we had a Iot of contact with communities, trade unions and so on ( ... ). So it was a Iot of activities in other words, it wasn't just one thing. Everybody was doing lots of things."425 Die akademischen Verpflichtungen standen für engagierte Studierende hinten an: "I was involved in the community action support group, which in the late '70s started getting all the resistance movements tagether in Johannesburg. So it was community Organisations, trade unions, everybody and from that all range of other actions followed, boycotts, and anti-republic day ( ... ) and also (theatre) plays that moved from community to community. So it was before the UDF, the United Democratic Front, it was before ( ... ) the main social mass movement started. And I was also involved with Eddie Webster on a project in the metal industry, which gradually became my PhD. But most ofthe time J would be involved in non-university matters." 426 Hinzu kamen die aus Großbritannien Zurückkehrenden, mit marxistischer Theorie und neulinkem 68er Gedankengut gerüstet, die Posten in den sozialwissenschaftlichen Abteilungen der englischsprachigen Universitäten einnahmen: "They were the main influences. Then they became the junior staff in the departments and drawing a Jot of enthusiasm and, but you know, that was( ... ) the right time, the right place: the workers, the trade unions, ( .. .), ANC, PAC (Pan Africanist Congress, W. K.) underground all those things. lt was a conjectural thing, all this came together, so. The academics were teaching, they were active, they were accepted, they were seen as being relevant, so everything just blossomed."427

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Interview Ari Sitas 13.2.2004. Interview Karl von Holdt 8.4.2004. Interview Ari Sitas I3.2.2004. Interview Ari Sitas 13.2.2004. Interview Ken Jubber 5.3.2004.

V. VON DER GRÜNDUNGSPHASE BIS ZUM ENDE DER APARTHEID

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Diese unterschiedlichen Einflüsse und Bewegungen sollen hier, auch wenn das aufgmnd der vielfältigen Verquickungen und deren Veränderungen über die Jahre nicht einfach ist, getrennt aufgezeigt werden.

Vorgänger der "Labour Studies": Kommunistische Partei, Industriepsychologie und der "Durban Moment" Fast alle Befragten waren sich einig, dass Eddie Webster in Johannesburg die "Labour Studies" begründet hatte, nnd dass ferner Johann Mareein Kapstadt und Ari Sitas in Durban zu dieser ersten Generation von Institutsgründem zählten.428 Devan Pillay allerdings, selbst ein Schüler von Harold Wolpe, einem prominenten Intellektuellen der Kommunistischen Partei und jahrelang vom Exil aus aktiv429, nuanciert diese Darstellung. Er weist darauf hin, dass bereits sehr viel früher Schriften zur Arbeiterbewegung in Südafrika entstanden, und dass außerdem Rick Turner mit dem "Institute for Industrial Education" in Durban den Grundstein fiir den politischen Aktivismus ebenso wie fiir den Fachbereich legte.430 428 I Einige rechneten Ari Sitas bereits zur zweiten Generation, weil er seine Promotion im Land (Wits University, betreut von Eddie und David Webster) abschloss, während Eddie Webster und Johann Maree ihren Doktortitel in England erworben hatten. 429 I Ein Nachruf in "Transformation" ehrte Wolpe als "revolutionären" und einflussreichen Theoretiker des Landes: "His significance as a writer on South Afiica lay less in the empirical richness ofhis analysis than in the importance ofintroducing a new set of conceptual prisms through which to view the concrete problems of the society. Most ofthe left intellectuals who succeeded him and built their reputation partly in critique and empirical reworking of the relationship between race, class and the articulation of modes of production, stood on his shoulders whilst doing so. In this most important sense, Harold was a revolutionary thinker of our time." Transformation (1995): "Editorial obituary for Harold Wolpe", in: Transformation 28, S. 97-98. 430 I "Weil, certainly Eddie, Ari and Johann Maree ( ... ) were the three that were very intimately involved in introducing industrial sociology to South Afiica. The fact that they are still practicing sociologists now is [... ] quite interesting, I suppose. But the father of perhaps all of them is Rick Turner, ( .. .) perhaps one should start with Rick Turner. Oh no, actually we must ( ... ) go further back than that ( .. .). Rick Turner certainly for this latest expression of industrial sociology in this country, 1 think he would have been the inspiration for it, because he introduced a radical perspective within the university environment and he was very much a product of the new left Marxist thinking, in the late 1960s. And he came into South Africa, the University of Natal, and introduced that [ .. .)strand ofthinking into the university and people like Eddie Webster and others spread that to other parts ofthe university. They weren't the only Matxists, ( ...) first of all, they were building on the preceding generation of Cornmunist Party activity in the country and the role of people like Jack Sirnons at the University of Cape Town. ( ... ) He was a leading theoretician in the Communist Party. And him and his wife Ray Simons, Ray Alexander, wrote one ofthe seminal works on labour history called ,Class and colour in South Africa', recording the history of the working class movement in South Africa after the 1950s ( ... ). So people like them, Communist Party intellectuals, really paved the way. ( ... ) he ( ... ) and his wife were based in the trade union movement, which was in the '40s, '40s and '50s. ( .. .) So, he was one of the first, and then you had people like Eddie

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Devan Pillay kann auch erklären, warum die intellektuelle Verbindung zu früheren Aktivitäten der Kommunistischen Partei von der Studierelidenbewegung ebenso wie von Akademikerinnen in der Gründungsphase der "Labour Studies" kaum erwähnt wurde: "The National Union of South African Students with the encouragement ofpeople like Rick Turner who was introducing radical perspectives in this country, and some of these intellectuals had studied overseas as weil, the new Marxist perspective which they added to what Rick Turner had produced, they tumed their attention towards the trade union movement ( ... ). So( ... ) there was a break with the Communist Party tradition. ( ... ) this new generation, there wasn't an overt link to the Communist Party tradition although some people in various spheres may have had, it was very dangeraustobe linked with the Communist Patty, first of all. The Communist Party had deep underground and if anyone had an association with Communist Party or the ANC, you were going to go to jail. So, for that reason, 1 think it was a self preservation reason as well as for intellectual reasons they went another way altogether. They distanced themselves completely as weil as intellectually from the Communist party for those two reasons, a combination of those two reasons. And they wanted to build a working class movement in the country that could survive, that was built with a strong foundation, worker democracy etc. ( ... ) that wave of intellectual activity focussed on the trade union movement, did not have an overt link to the Communist Party. However, they did draw on that history, but very critically and the big thing that they wanted to avoid was the mistakes of SACTU. It was very prominent ( ... ) amongst labour historians. Phil Banner and Ari Sitas wrote with much passion that we didn' t want to Subordinate trade unians to the nationalist movement, because when the Apartheid regime did clamp down the trade union was smashed. So, in that sense they introduced a new fresh perspective to worker organisation on the shop floor and they imported a Iot of that from the British experience ( ... )."431

Die Schriften aus den 1950er und 60er Jahren- am häufigsten genannt wurden Eddie Roux, "Time Ionger than rope" (1948) sowie Jack und Ray Simons, "Class and colour in South Afiica" (1969) - beschäftigten sich zwar mit der Arbeiterbewegung. In diesem Sinne gingen ihre Inhalte auch in die "Labour Studies" Anfang der 1970er Jahre ein, wie die Analyse von "Essays in South-

Roux, he was also a Communist Patty activist and he wrote another seminal book called ,Time Langer than Rope' which recorded the history of resistance in South Africa up until the 1950s." Interview Devan Pillay 25.3.2004. Zur Geschichte der SACP vgl. die Darstellung auf der offiziellen Internetseite der Partei: History of the SACP 1912-1990, o. J., o. 0., http://www.sacp.org.za!docslhistory/sacp 1912-1990. htrnl (Dezember 2005). 431 I Interview Devan Pillay 25.3.2004. Die komplexen politischen Debatten etwa um reformistische versus revolutionäre Strategie, die Rezeption des Marxismus und ähnliches können im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter ausgebreitet werden. Ebenso verhält es sich mit der südafrikanischen Gewerkschaftsgeschichte.

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ern African labour history" (Kapitel VIIT.2t32 zeigt. Eddie Webster rechtfertigte aber seine Gtünderposition, indem er diese Schriften als Verteidigung der Arbeiterldasse, mehr denn als einen sozialwissenschaftliehen Versuch einschätzt, diese als Bewegung zu erfassen und zu verstehen. Ein akademisches Programm fur Forschung und Lehre, also "Labour Studies" im heutigen Sinn des Wmies, hätten erst er und seine Kolleginnen an der "University of the Witwatersrand", in Durban und Kapstadt verfolgt: "( ... ) there were books written on labour, by people within the communist division, but fundamentally, what distinguishes them from what we call labour studies, was that those projects were not located in the university. They were writing as outside of that. The time they were writing, they weren 't basically developing labour studies, in the university, in the way that we understand it now. They were directly linked to the Communist Party( ... ). Let me put it in terms oflabour as an actor on its own, not the Communist Party, labour on its own, in the university, looked at socio-scientifically. That was essentially in the '70s."433 Diese an Gewerkschaften als eigenständigem, parteiunabhängigem sozialen Akteur und als sozialer Bewegung orientie1ie Haltung spiegelt das Erbe der Neuen Linken wider, das Webster aus seiner Zeit in England mitgebracht hatte. Die Idee fur ,,new labour studies" stammte ursprünglich wohl von Robin Cohen in Großbritannien und Peter Waterman in den Niederlanden und begann sich über die Zeitschrift "Newsletter of international labour studies" 1979 am "Institute of Social Studies" in Den Haag als neue Richtw1g zu etablieren. Ronaldo Munck forcierte die Entwicklung 1989 mit der Herausgabe von "The new international labour studies" in London. Webster übertrug die Idee nach Südafrika. "The rise of new labour studies in South Africa - a brief report on current labour research activities" (1985) kann gewissermaßen als Manifest des neuen Forschungszweigs gelten.434 Das soll nicht heißen, dass sich in den Universitäten niemand sonst mit dem Gegenstandsbereich Arbeit und Industrie beschäftigte. Das bereits im Jahre 1946 gegründete "National Bureau for Personnel Research" (später "National Institute of Personnel Research", NIPR), eine Unterabteilung des staatlich geförderten "Council for Scientific and Industrial Research" (CSIR) befasste sich mit solch industriesoziologischen Fragestellungen wie Evaluierung, Selektion und Training zur effektivsten Nutzung der Ar-

432 I Vgl. Webster, Eddie (1978a) (Hg.): Essays in Southem African labour history, Johannesburg. Vgl. auch Webster, Eddie (1985b): "The rise of a new labour studies in South Africa - a brief report on current labour research activities". Department of Sociology, University ofthe Witwatersrand, Johannesburg. 433 I Interview Eddie Webster 5.4.2004. 434 I Vgl. Webster, Eddie (1985b). Der Begriff "Labour Studies" wird hier spezifisch auf den betrachteten Forschungsbereich und die zugehörige wissenschaftliche Gemeinschaft bezogen, auch wenn bisweilen abweichende Bezeichnungen gewählt werden, wie die "lndustriesoziologie" an der UCT zeigt.

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beitskraft, insbesondere der schwarzen Arbeiterlnnen. 435 Die Industriesoziologie setzte sich dann angesichts der zunehmenden Industrialisierung und Modemisierung des Wirtschaftssystems in den späten 1960er Jahren in den Universitäten durch. Sie hatte sich seither in zwei Richtungen entwickelt. Auf der einen Seite konzentrierte sie sich mit Elton Mayo's "Human Relations"-Ansatz auf Fragen von Produktivität, Leistungsmotivation und ähnlichem. Das 1977 gegründete "Institute of Industrial Relations" arbeitete an Möglichkeiten, für harmonische Beziehungen zwischen Unternehmensleitung und Arbeiterschaft im Betrieb zu sorgen. 436 Diese bereits vorhandene Industriesoziologie war einerseits wenig originell, andererseits fanden die Vertreterinnen der neuen Richtung sie zu sehr im Dienste des Kapitals stehend. 437 In den afrikaanssprachigen Universitäten gelang es dieser mehr managementorientierten Industriesoziologie sich zu halten. Hiervon kann Andries Bezuidenhout berichten, der nach seinem Masterstudium an der afrikaanssprachigen Universität von Pretoria an die "University of the Witwatersrand" kam: "Al ready then I' d decided that the action was here at Wits. I mean, if you're serious about labotlr studies in South Africa, the Afrikaans universities had industrial sociology programmes, but they were very managerialist Especially towards my Masters here I got frustrated. ( ... ) They were very managerialist And 435 I "Several of the early investigations were ,concemed with the important question of scientifically testing the aptitude of the native for industrial work both as an operative and in more responsible position' ." Dies wollte man etwa über physische Leistungstests herausfinden. Council for Scientific and Industrial Research, Second Annual Report, 1947-47, S. 26, zitiert in: Webster, Eddie (1981 ): "Servants of apartheid? A survey of social research into industry in South Africa", in: John Rex (1981) (Hg.): Apartheid and social research, Paris, S. 85-113, S. 90/91. Webster präsentiert in einer Tabelle die zentralen Forschungsthemen des NIPR zwischen 1946 und 1978 in Prozentanteilen: "selection and training" 30%, "productivity/efficiency" 12%, ,job evaluation/classification" 11%, "attitude towards housing/work" 10%. Alle weitere Themen nahmen weniger als 10% des Forschungsaufwandes ein, am schwächsten vertreten waren "industrial relations" 1%, "organizational sociology" 1%, "trade unions" 0%, "industrial conflict" 0%. Vgl. Webster, Eddie (1981), S. 91. 436 I "The main objective ofthe Institute is, therefore, tobring representatives oflabour and managementtagether to promote their joint interests by expanding the opportunities for communication and cooperation between them and by increasing their industrial relations skills, so that they may develop a sense of common purpose and ability to resolve constructively and effectively any conflicts which may arise." Institute of lndustrial Relations, zitiert nach Webster, Eddie (1985b), S. 5. 437 I "Henry Lever, for example, in his lnaugural Lecture in 1971 as Chair of Sociology at the University of the Witwatersrand was clearly excited by the idea of sociology serving industry in the way it had served social work. The concems ofmanagement dictated much ofthe syllabus, focusing on factors affecting productivity such as labour tumover, morale and monotony in industry." Webster, Eddie (1991): "Taking labour seriously: sociology and labour in South Africa", in: South African Sociological Review 4 Nr. 1, S. 50-73, S. 53.

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typically a person who studied there would go and work for the industrial relations department of a company or human resources. The track was towards management and the methodology was generally quantitative positivist. So the research approach in Afrikaans universities was linked in positivist, structuralfunctionalist American sociology specifically. The textbook I did in my first year was an American textbook, it was made for the American market and we studied that. The approach was, there are three approaches in sociology: conflict theory, interactionism and functionalism and everything, the family, the state, the labour you basically did, part of those three, which is a very simplistic way of approaching sociology. lt also didn't take cognizance of anything remotely postmodern, or post-structuralist, and it horded conflict theories from Barbarian to Marxism into one very simplified way ( ... ). But already from my honours year, l started attending the breakfast seminars at Wits. ( ... ) lfyou read anything about the South African Labour Bulletin, you knew this was the place where the action was; this was where the researchwas taking place."438 Weiterhin verfugten auch die englischsprachigen Universitäten häufig über Programme für Industriepsychologie - hier ist die von Gerhard Mare vertretene UnterscheidLmg aufschlussreich, nach der Industriesoziologie für "Unterstützung für Arbeiterinnen" steht, Industriepsychologie dagegen für ,,Kontrolle über Arbeiterinnen" - und für "Industrial Relations" und verwandte Bereiche an den Fakultäten für Wirtschaftswissenschaften. Doch auch diese Ausrichtungen, die über entsprechende Veröffentlichungsorgane verfügten, wurden nicht zum Kreis der "Labour Studies" gerechnet. 439 Diese definierten sich über ihren Anspruch, "die Arbeiterschaft ernst zu nehmen" ("Taking labour seriously"), Arbeiterinnen nicht mehr als abstrakte Kategorie zu fassen, sondern als Menschen an der Arbeit und mit einem sozialen Leben außerhalb des Arbeitsplatzes. Das hieß zunächst, die subjektive Erfahrung am Arbeitsplatz zu ergründen. Weiterhin war das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen beziehungsweise das Begreifen von Arbeiterorganisationen als politische und soziale Bewegung, verbunden mit dem Willen, diese zu unterstützen, zentral: "Firstly, the new labour studies is concemed with labour not as a commodity but with labour as a social and political force. Whereas the traditional industrial relations approach is concemed with the important task

438 I Interview Andries Bezuidenhout 30.3.2004. 439 I "And on the more management-oriented side, ( ... ) you have the South African Journal of Labour Relations, but it is in a different tradition, ( ... ) more in the human resources tradition. Nevertheless, some of us would also publish in this one. And also the Industrial Relations Journal of South Africa, it started in the early '80s, but collapsed in the mid-90s. lt was founded by a German scholar, with a strong management orientation. They are generally located in industrial psychology rather than industrial sociology, where we have more of a worker orientation. This divide is quite important in the organisation of research and teaching." Interview Johann Maree 3.3.2004. Die Industriepsychologie besteht bis heute an vielen Universitäten neben den "Labour Studies" weiter.

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of bringing labour and management together, the new labour studies is concerned with developing the labour movement as a social force." 440 Mit der Entstehung der "New Labour Studies" fand demnach eine Spaltung statt in die traditionelle Industriesoziologie, die vor allem an den afrikaanssprachigen Universitäten fmtbestand einerseits, und in die "neuen Labour Studies" andererseits. Insofern wäre das hier zu untersuchende Feld von Forschung und Lehre abgegrenzt gegenüber verwandten Bereichen in den Universitäten ebenso wie gegenüber theoretischen und politischen Vorgängern wie der Kommunistischen Partei. An der Entstehungsphase der "Labour Studies" im hiesigen Sinne waren Studierende ebenso wie Lehrende der Sozialwissenschaften beteiligt. 441 Die Studierenden in Durban und Johannesburg, häufig über die Studierendengewerkschaft NUSAS 442 organisiert, engagierten sich zu Beginn der 1970er Jahre in Unterstützungsprogrammen für die aufkommenden schwarzen Gewerkschaften: "But the university-based academics' efforts started in the late '60s, when most ofthe radical white students in what we used to call liberal white universities began to organize support work for black workers through what they called wage committees ( ... ). As kind of informal, non-organisational, non-political offices, if you like, advice centres around workplace issues."443 Das "Institute for Irrdustrial Education" war ein solches Projekt, ins Leben gerufen von progressiven Studierenden und Akademikerinnen der Universität Natal, darunter der gerade von seinem Studium in Paris zurückgekehrte Dozent in der Politikwissenschaft, Rick Turner, der 1978 von den Sicherheitskräften ermordet werden sollte. Das Institut entstand im Zuge der Streikwelle von 1973, bekannt als die Durban-Streiks, die das Land in seinen Grundfesten erschütterten. Zeit und Ort werden in der kollektiven Erinnerung als "Durban Moment" bezeichnet. Das Institut machte sich Arbeiterbildung und die Bereitstellung von Materialien zur Aufgabe444 440 I Webster, Eddie (1985b), S. 8. 441 I "( .. . ) some were students at tbe bigher stage oftbeir learning processes ( ... ) but were to then fmish tbeir studies and tben find employment in particular departments, especially tbe sociology department. I tbink tbe sociology department became tbe power basis for tbe trade union support work by those academics. Wben tbe workers began to organize, subsequent to tbe 1973 strikes in Durban, tbese academics and students ( ... ) offered some of tbe [... ] strategic support for nurturing tbose organizations. ( ... )."Interview Betbuel Maserumule 1.4.2004. 442 I Beim Interview mit Jobarm Mareein dessen Büro fiel etwa eine Photographie auf, die eine Gruppe von NUSAS-Mitgliedem zeigt, darunter er und Webster. 443 I Interview Betbuel Maserumule 1.4.2004. 444 I Über die Gründung des IIE schreibt Webster: "On 30d1 May 1973, three montbs after tbe wave of spontaneous mass action by 100 000 black workers, a group of sympathetic trade unionists, students and academics ( ...) met ( ... ) in Durban to inaugurate the Institute for lndustrial Education (IIE). Harriet Bolton, Secretaty ofthe Garment, Textile and Furniture Unions operred the meeting and explained how the project bad come about. Sbe said that workers lacked fotmal knowledge of trade unionism as they had neitber tbe time nor the money to study. She said a

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und gab bereits 1974 ein Buch mit Titel "The Durban Strikes" heraus, das bisweilen als erstes Werk südafrikanischer "Labour Studies" bezeichnet wurde. Allerdings handelte es sich um eine rein empirische Darstellung der Streikereignisse. Die politische Intention des Projektes wurde "verwässert" ("watered down"445 ) um der Zensur durch die Apartheid zu entgehen. 446 Es scheint unklar, wer genau Urheber von "The Durban Strikes" war. Die Angabe eines Autorenkollektivs erklärt sich aus der im repressiven Klima der frühen 1970er Jahre geborenen Vorsicht: Rick Turner war bereits verbannt, konnte also nicht als Autor fungieren, weitere Beteiligte waren vermutlich Halton Cheadle und David Hemson, in späteren Jahren ebenfalls in ihrer Arbeit gerichtlich beschränkt, Gerhard Mare, der heute noch im Durbaner Soziologiefachbereich forscht und lehrt, sowie Foszia Fisher und Kaarel Tip, Mitbegründerinnen des "South African Labour Bulletin" (siehe dazu Kapitel VII.5). 447 Auch Kollegen, die man aufgrund ihrer anderweitigen Spezialisierung als "neutrale Beobachter" ansehen könnte, heben die Bedeutung des ,,Institute for Industrial Education", als Grundstein für die Beziehungen zwischen "Labour Studies" und Gewerkschaftsbewegung sowie für die Entwicklung

school should be formed which would educate workers about their rights. Foszia Fisher, who was later to become the secretary of the IIE, then proposed: a) that a correspondence course be established to help workers understand the social and economic situations in which they operate; b) that a resource centre be established to provide the unians with background material and infom1ation." Minutes of the IIE sub committee, 30'h July 1973, zitiert in: Webster, Eddie (1984). 445 I Ari Sitas, Gespräch 10.2.2004. 446 I Eine Absicht des Buches war die Zurückweisung der in Regierungskreisen und in der Öffentlichkeit geäußerten Vermutung, die Streikwelle sei von aufwieglerischen Intellektuellen angestoßen worden, sowie die Gegendarstellung der Ereignisse als Aktionen der Arbeiterschaft. Weiterhin geht es um die Auswirkungen des Streiks auf Politik und Wirtschaft und um die Verteidigung von Gewerkschaftsrechten fiir schwarze Arbeiterinnen. Jubber, Ken (1976): "Book Review: Institute for lndustrial Education: The Durban Strikes 1973, Johannesburg, 1973", in: Social Dynamics 2 Nr. 1, S. 72-73, S. 72/73. Den Status als erstes Werk verlieh ihm etwa Sitas: "( ...) the frrst text oflndustrial Sociology: The Durban Strikes, (1974) produced by the HE involving surveys, fieldwork, argument and a Iiterature review resonating with the writings ofthe new intellectual formation; there: its cautious prose as the authors were conscious ofpossible Apartheid-linked repercussions. This too was the first collaborative book between academics and the social movement, the trade unians that inspired it." Sitas, Ari (1997b), S. 5. Zur Intention des Buches: "While radical in the sense oflocating its critique of capitalism in terms of the inequality of power relationships, it presents, in the last chapter, a ,reformist' solution. ,Trade unions, with the right to organize freely, and the use ofthe strike weapon as a last resort, organized on democratic lines, and possessing their own sanctions over members, are the pre-conditions for stable industrial peace in South Africa.' ( ... )No attempt is made to develop a systematic Marxist analysis. The South African Labour Bulletin could possibly be sirnilarly classified." Webster, Eddie (1981), S. 101, zitiert aus: Institute oflndustrial Education (1974): The Durban Strikes 1973. 447 I Jubber, Ken (1976), S. 72.

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des Forschungszweigs hervor. 448 Das Institut kann auch als Vorbild für die in der Folgezeit sich etablierenden "Labour Service Organisations" angesehen werden. Unter den früh aktiven Dozentinnen waren vor allem solche, die in Übersee studiert hatten und vom dortigen neulinken Marxismus geprägt waren, wie Eddie Webster. Neben den Absolventinnen aus Großbritannien blieben nach und nach viele Aktive aus der Studentenbewegung, wie Ari Sitas, als Soziologlnnen an der Universität. Von ihrem Aktivismus und dem Anwachsen der Arbeiterorganisationen begeistert, lockten sie mehr Studierende in Lehrveranstaltungen als jede andere Unterdisziplin der Soziologie oder der Fachbereich als solcher: "The National Union of South African Students ( ... ) decided to set up wage commissions, working about the workers' living conditions, wages and so on. They then started the organisation of workers that grew into trade unions. ( ... ) Now all those intellectuals who were involved in the organisation of the workers' movement werein sociology departments, mostly in Durban, Wits and here. And they then started teaching what they were involved in, what they were experiencing. This attracted a Iot of students, a Iot of radical, committed students came into industrial sociology. During the '80s, the unions grew and this attracted even more students."449 "Labour Studies" entwickelten sich in drei Zentren des Landes: an der "University ofthe Witwatersrand" in Johannesburg, an der "University ofKwaZulu-Natal" in Durban sowie an der "University of Cape Town" in Kapstadt Diese geographische Verteilung ist keineswegs zufällig. Es handelt sich um die weißen, englischsprachigen Universitäten in den drei größten industriellen Zentren des Landes, in denen sich folglich auch starke Gewerkschaftsbewegungen entwickelten. So erklärt Sitas die Lokalisierung: "( ... ) firstly, because ( ... ) of the growth of the trade unions. Secondly, because of these universities paying lip service to freedom of expression, whereas the other universities were much more authoritarian in their approach and much more ready to please the state. Partly because they were in the industrial heartlands of the country. Durban is like the cradle of the trade union movements that were started in the new period in 1973. And, ( .. .) for instance at Rhodes, which has a similar kind of pseudo-liberal approach, it's very rural there, it wasn't in the 448 I "Sociologists such as Eddie Webster of the University of the Witwatersrand proceeded to pursue some of the ideas of Rick Turner. Webster, who had been acquainted with Turnerbefore the latter was assassinated in 1978, was particularly interested in the development of trade unions. He played a significant part in shifting the focus from management studies in industrial sociology to the labour process and union movements. As a result, contacts that had been established in the labour movement were beneficial in an academic reconceptualization ofindustrial sociology." Gmndlingh, Albert (1994), S. 63. 449 I Interview Johann Maree 3.3.2004.

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middle of anything. And if you go to Port Elizabeth which is industrial, the university was very apartheid-linked. So, it introduced industrial sociology, which would be an extension of managerial type of studies. Whereas we started from the social movements and spread upwards. So that's the difference. ( ... ) So that explains the three places. Now, Rand Afrikaans University is beginning to have a strong industrial sociology. Free State is making noises that way."450

Die historische Entstehung der "Labour Studies" in diesen drei Zentren spricht also bereits ftir ihre Einbindung in die gesellschaftlichen Realitäten des Landes und ftir ihre Orientierung auf diese hin. Zu den drei klassischen Zentren gesellt sich seit einigen Jahren die "Rand Afrikaans University" in Johannesburg. Hier übernahm Tina Uys die Leitung des Soziologiedepartments und krempelte die herkömmliche afrikaanssprachige Ausrichtung wn, etwa indem sie Peter Alexander, einen britischen Soziologen, einstellte. Alexander führte dort seit Ende der 1990er Jahre "Labour Studies" ein und erntet fiir seine Bemühungen bereits einige Anerkennung aus den Reihen der Spezialistlnnen.

Die Strategie des "Trojanischen Pferdes" als politische Motivation für das Aufkommen der "Labour Studies" Um die frühen Ansätze und die Ausrichtung der "Labour Studies" seit ihrem Entstehen zu begreifen, ist die Kenntnis der politischen Strategie notwendig, die sie verfolgten und die in der Anfangsphase vermutlich bedeutender war als jede akademische Ambition. Deun nicht nur hatte die Politik in diesen Jahren Vorrang vor der Wissenschaft, vor allem können die frühen Seilliften und die Kommunikation über das Mediwn der Zeitschriften nicht angemessen eingeschätzt werden ohne diesen Hintergrund Die politische Strategie bestimmte sodann maßgeblich die Beziehungen zu den Gewerkschaften und damit die Positionierung der wissenschaftlichen Gemeinschaft in der südafrikanischen Gesellschaft, ferner die Auftragsforschung, in die ein Großteil an Zeit, Finanzen und Energie floss. Entwicklung und Wandel der schwarzen Gewerkschaften gingen Hand in Hand mit Entwicklung und Wandel in den "Labom Studies". Dies lag verständlicherweise daran, dass die Disziplin versuchte, die zentralen Prozesse in der Arbeiterbewegung zu reflektieren, konzeptuell und theoretisch zu erfassen. Aber auch der Anspruch, beratend tätig zu werden, verlangte eine Ausrichtung an den jeweiligen Realitäten. Nicht zuletzt hingen die Akademikerinnen bis zu einem gewissen Grad auch von der Nachfrage nach Wissen und Forschung aus den Gewerkschaften sowie von den Geldern ab, die sie fiir Aktivitäten zur Unterstützung derselben erhalten kmmten. In den ersten Jahren fanden schließlich der Aufbau von gewerkschaftsinternen Forschungsapparaten und die institutionelle Ausdifferenzierung zusammen mit der nun stetig zunehmenden Professionalisierung der "Labom Studies" statt. Aus diesen Gründen ist es notwendig, einen Blick auf die politischen Intentionen des "Labour

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Interview Ari Sitas 13.2.2004.

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Studies"-Projektes zu werfen und seine Beziehungen zur Arbeiterbewegung zu verfolgen. Eddie Webster umreißt die gewählte Strategie - über die es mit Gewißheit damals wie heute Differenzen gab, denen hier aber nicht im Detail nachgegangen werden kann - am eindeutigsten: "We conceptualised it very clearly ( ... ). The way to challenge Apartheid was not to take the state head on, but was to build intermediate institutions. So that's a sociological concept, institutions. Spaces where inside the economy, inside the factories, inside the workplace, where- and that's the Trojan horse idea- where your cadre of worker Ieaders would be accountable directly to the workforce. That's why we focused araund struggles at the factory. ( ... ) And the concept I developed later to describe this was radical reform. lt was a reformist strategy. So you operated in the law, you struggle for recognition in society by the law, you register those institutions, ( ... ), you build up your blocks inside the institutions, you build up your power. lncrementally, that's a reformist strategy. lt's a classic, that's why it would be seen as social democracy at one Ievel, because ( ... ) initially you' re building up the power of the workers peacefully and nonviolently. Non-violence, that's another important point. Their power being their capacity to withdraw labour, which is a non-violent strategy. lt's a collective process. It's a democratic process, because you're winning support voluntarily, showing that your Ieaders can win incremental games, so it's not the big issues you take. Somebody has been abused racially, you go on strike and you demand reinstatement. If somebody has been dismissed because they arrived late and they weren't given an opportunity to hear their case and there weren't the proper proceedings to allow for a hearing, you down tools and you demand reinstatement and you demand the right for a fair hearing and a fair dismissal. So what you're building up is the rule oflaw ( ... ) you're building up the rights ofworkers. The rights to a fair hearing, the rights to have access to a union, the right to a voice. Ultimately, the right to a voice. So you struggle araund ( .. .) principles of democracy, freedom of association, freedom of speech. Those are alllegal rights, so you work closely with the law, not agairrst the law ( ... ). And as you build up your power, you stretch it to the community. As you extend it to the community, you start to take on more political questions and as you draw in more political questions, you start to take on the state. And your vision is radical. Your vision is one of a more egalitarian society, a non-racial society. You separate out your vision, which is radical, but your strategy, which is tactically flexible."451 Im Gegensatz zur stark (partei)politisch orientierten SACTU - dem Dachverband der 1960er Jahre, dessen Niedergang man nun nochmals als das Versäumnis, eine starke Basis im Betrieb aufzubauen, analysierte452 - soll dieser 451 I Interview Eddie Webster 15.3.2005. 452 I Der Dachverband SACTU, unter dem sich vornehmlich schwarze Gewerkschaften zusammengeschlossen hatten, entschied sich um 1955 flir eine Allianz mit dem ANC, nahm also sehr früh eine stark allgemeinpolitische Orientierung an: "Faced by a weak power base in the factmies and a hostile state and employers, SACTU chose to engage politically with nationalism as a means of

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Ansatz zur Stärkung der Gewerkschaften durch den Einsatz flir legale Belange am Arbeitsplatz hier als arbeiterzentriert ("workerist") bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund dieser politischen Strategie wird das sozialwissenschaftliche Interesse an der Organisation am Arbeitsplatz und an Fragen von Arbeitsprozess und Arbeiterkontrolle verständlich. Seit den Durban Streiks von 1973, die hier der Einfachheit halber als Ausgangspunkt für die erneut aufkommende schwarze Gewerkschaftsbewegung angesehen werden können, bis in die 1980er Jahre war die Konzentration auf Belange der Arbeiter auch die Strategie des Dachverbandes FOSATU. Damit war eine Trennlinie zur "Black Consciousness"-Bewegung gezogen, die mit den Aufständen in Soweto 1976 aufkam und die Idee nationaler Befreiung durch die Stärke und den unabhängigen und ausschließlichen Zusammenschluss von Schwarzen vertrat. Als das Tagesgeschehen seit den frühen 1980er Jahre von ständigen Streikaktivitäten453 und der Entstehung der populären Widerstandsbewegung "United Democtratic Front" (UDF) im Jahre 1983 bestimmt war, stand jedoch die Frage erneut zur Diskussion, wie sich die Arbeiterorganisationen zum populären und allgemeinpolitischen Widerstand, nun in Form der UDF, verhalten sollten. Faktisch nahm der Widerstand der Arbeiterbewegung nun zunehmend politische Dimensionen an, die über den Arbeitsplatz hinausreichten. Im November 1984 schlossen die Gewerkschaften neue politische Bündnisse mit "community"- und Studierendenorganisationen, näherten sich so der UDF an, und seit dem Aufstand in Soweto 1976 kam es erstmals wieder zu gemeinsamen politischen Aktionen. Mit der Neugründung FOSATUs als "Congress of South African Trade Unions" ( COSATU) 1985 änderte sich die politische Linie auch auf der höchsten Ebene der Arbeiterorganisationen, wo nun unterschiedliche Traditionen vereint waren. 454 Angesichts dieses erstarkenden Bündnisses und transforming its small factory base." Webster, Eddie (1988): "The rise of socialmovement unionism. The two faces of the black trade union movement in South Africa", in: Philip Franke1/Noam Pines/Mark Swilling (1988) (Hg.): State, resistance and change in South Africa, London/New York/Sydney, S. 174-196, S. 177. Bis 1964 wurde diese Gewerkschaftsbewegung, die sich nicht auf eine solide Basis auf Betriebsebene verlassen konnte, von staatlicher Seite zerschlagen. Das nächste Jahrzehnt galt als Ära "industriellen Friedens", wobei die schwarze Arbeiterschaft zahlenmäßig weiter zunahm. Vgl. Webster, Eddie (1988), S. 177 ff. 453 I "( ... ) rent strikes, bus boycotts, school boycotts, anti-Constitution campaigns and stayaways became permanent features of the politica1 terrain from 1983 onwards." Webster, Eddie (1996): The intellectual's dilemma - to serve or to criticize. Department of Sociology Occasiona1 Paper Series Nr. 8, University ofthe Witwatersrand, Johannesburg, S. 5. 454 I Ende 1984 bestanden tatsächlich drei Gewerkschaftsgruppierungen nebeneinander: die in FOSATU zusammengeschlossenen industriellen Kemgewerkschaften; und zwei allgemeine Föderationen, eine auf UDF-Linie (SAAWU) und die andere auf "Black Consciousness"-Linie ("Azanian Confederation of Trade Unions", AZACTU). Die wichtigsten industriellen und allgemeinen Gewerkschaften schlossen sich 1985 zu COSATU zusammen und vereinten hier die

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der erfolgreichen UDF-Strategie in den Townships flir "Unregierbarkeit" zu sorgen, rief die Regierung 1986 den nationalen Ausnahmezustand 455 aus. Der COSATU suchte also die Annäherung an die Kongressbewegung, und die mehr populistisch ausgerichtete Strömung um den ANC kritisierte am arbeiterzentrierten Ansatz zunehmend, dass er in seiner Betonung der Klassendimension die Realitäten der Arbeiterschaft in einer rassisch strukturierten kolonialen Gesellschaft ignoriere. Wie komplex die Beziehungen und Zusammenhänge in der politischen Szene bisweilen waren, und welche Wirkung sie auf die Arbeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft haben konnten, zeigt David Coopers Erinnerung an die Finanzierungsfragen einer universitär verankerten Forschungseinrichtung, die er in den 1980er Jahren ins Leben rief. Die ,,Intemational Labour Research and Information Group" (ILRIG) hatte sich Forschungen, Veröffentlichungen und Bildungsaktivitäten zur intemationalen Arbeiterbewegung zum Ziel gesetzt: "( ... ) we applied in '82 to a European, mainly church-linked funding agency. And 1 didn't know yet that the agency asked the ANC if they had accepted our application. ( ... ) at that moment the ANC was very supportive with the building of the trade union movement, there hadn't been that clash where the unians conflicted ( ... )so they were still very suppmtive. And ( ... ) we said we were academics producing work for the unions. Later on some of them: ,There was too much stress on class and not enough on identity and race.' And in actual fact, some people set about to cut our funding off. ( ... ) when l was traveling, 1 met some of them in London and I said: ,( ... ) our focus is on worker education. Clearly there is a political agenda but we're not anti-ANC and we're actually not trying to build up an Opposition.' And they said: , Why do you do the Brazilian book? Aren't you supporting the Workers' Party ideal in opposition to the union?' You know, it was quite difficult to work. And some of the people said: ,You're just being naive, everybody thinks like that, you can't say you're just doing worker education, nobody does. They all have an agenda' ." 456 In der Diskussion standen sich nicht nur jeweils Gewerkschafterinnen und Akademikerinnen tmtereinander gegenüber, sondem sie betraf auch das Verhältnis von weißen, akademisch gebildeten, marxistisch geprägten Intellektuellen einerseits, und schwarzen, politisch über den Arbeitsplatz hinaus denkenden und agierenden Arbeiterinnen und Gewerkschaftsintellektuellen andererseits.

"arbeiterzentrierte" und die "populistische" Tradition. Nur die "Black Consciousness"-Ausrichtung gliederte sich dem Dachverband nicht ein, sondern bildete den "National Council ofTrade Unions" (NACTU). Vgl. Webster, Eddie (1988). 455 I Für die Situation in den Provinzen KwaZulu und Natal war außerdem die Organisierung des konservativen schwarzen Kleinbürgertums in "lnkatha" von Bedeutung, die seit Mitte der 1980er Jahre in Auseinandersetzung mit der Gefolgschaft des ANC bürgerkriegsähnliche Zustände provozierte. 456 I Interview David Cooper 5.3.2005.

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Es ist nicht leicht, der komplexen Situation gerecht zu werden, doch Kar! von Holdt fasst sie recht differenziert: "The group that controlled FOSATU and, 1 mean, it's very emde to say that, FOSATU had strong democratic stmctures and stuff like that, but it is tme that when there's a group of intellectuals who are gatekeepers, who control access to the organization, that you can talk about that as a form of control. They were a very strong form of influence. (... ) And the intellectuals, basically the line was: ,We don't get involved in politics, because we've got a long-term strategy. We've got to build up the union on union issues and build for the long term. ' Because the problern with the populists and SACTU in the 1950s isthat they got too political before they got strong enough on the factory floor. So FOSATU emphasized this factory floor issue, which was very important, 1 mean, it's a fundamental( ... ) conttibution to our labour movement and to change in South Africa that they did that. But they wanted to exclude these political issues and of course they had a different political agenda. There was talk of a workers' patty being formed, but then the UDF came up and the same people would have said: ,Jt's populist, it's dangeraus for unions, we'll get cmshed by the state, it's adventurous, it's opportunistic ( ... ).' And then ( ... ) the popular movement became so powerful in the townships, that the shop stewards and black officials got more and more involved in this popular movement and the civic organizations and the youth. ( ... ) So there was a shift taking place and the very democratic stmctures that bad been established by FOSATU became the means through which this new group actually took over the unions, because they said that workers must be involved in the political stmggle. So there was this stay-away (the first joint FOSATU/ UDF stay-away in 1985, W. K.) which was a real tuming point ( ... ). And then the process continued, and then with the launch of COSATU in ' 85 later, ( ... ) just after tbat stay-away. And the new leadership that was elected and the first thing they did after they were elected, ( ... ) they went to see the ANC in Lusaka. Now, FOSATU would never have done that."457 Die Kritik traf nicht alle Akademikerinnen gleichermaßen, lilld es mag bezeichnend sein fur die Realität der "Labour Studies", dass im akademisch definierten Feld die überlebten, die der COSATU-Linie nicht ßl'lilldlegend widersprachen. Auch der Wechsel von Studierenden der Fachrichtlillg in die Gewerkschaften gestaltete sich nlill schwieriger: "1 did my Honours in industrial sociology ( ...) with Eddie, because that had histo-

rically been the way that a Iot of people had gotten into unions, through industrial sociology and through that programme. But at that time the union movement was changing dramatically because COSATU was launched. ( ... ) the academics, that was Eddie Webster, ( .. .)Phi! Bonnerand Duncan lnnes bad bad quite a Iot of work, contact with the COSATU unions. ( ... ) The COSATU leadership was much more aligned towards the ANC, towards the congress tradition, and they didn't like the line of the academics. Not so much Eddie, but Eddie wasn't [... ]. They (... ) regarded the academics as workerists ( ... ) there was a real skepticism 457

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Interview Kar) von Holdt 8.4.2004.

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about ( ... ) people coming out of the university, because they were regarded as having a particular political line which was hostile to the national democratic tradition, the political tradition in South Africa. ( ... ) Eddie was much more ( ... ) sympathetic to a congress tradition. But people like Duncan lnnes and Phi! Bonner ( ... ) had run seminars ( ... ) critiquing the freedom charter, criticizing SACTU, arguing for an independent workers' movement, all that so1t of stuff for a class based movement as opposed to a populist movement, etc., etc., etc. So just when I had the good fortune of doing industrial sociology, it no Ionger was a way to get close to, butthat wasn't a problem, because I was developing relationships with COSATU people anyway, through politicallinks."458

Bevor im Einzelnen betrachtet werden kann, inwiefern der Kontakt zu den Gewerkschaften an sich zur Konterhegemonialität der "Labour Studies" beitrug, ferner durch welche Besonderheiten der Fachbereich sich vor diesem Hintergrund auszeichnete, sollen - schon um ein allzu romantisches und schlüssiges Bild gerade der frühen Jahre zu entzaubern - noch ein paar Worte über das intensive, oftmals aber auch konfliktgeladene Verhältnis zwischen weißen universitären Intellektuellen und der schwarzen Arbeiterbewegung gesagt werden.

"Rebels without a cause of their own" 459 über das "kritische Engagement" weißer Akademikerinnen in der schwarzen Arbeiterbewegung Das viel gepriesene kritische Engagement ("critical engagement") in Verbindung zu den Arbeiterorganisationen war nicht immer einfach. Karl von Holdt erfuhr ein gewisses Misstrauen gegenüber Außenseitern bereits Ende der 1970er Jahre in Kapstadt, als er Erwachsenenbildung stärker mit gewerkschaftlichen Formen der Organisation verbinden wollte. 460 Sakhela Buhlungu, der selbst nach Studium und Arbeit ftir die universitär verankerte Forschungsorga458 I Interview Karl von Holdt 8.4.2004. 459 I Sakhela Buhlungu, der sich eingehend mit der Frage weißer Funktionärinnen in den schwarzen Gewerkschaften befasst hat, veröffentlichte einen Aufsatz mit diesem Titel - "Rebels without a cause of their own: The contradictory location of white officials in black trade unions, 1973-2000" - in den Blättern des Instituts ftir Soziologie der "University of Johannesburg", Nr. 2002/5. Dieser stand hier leider nicht zur Verfügung. 460 I "( ... ) our (the ,Adult Literacy Project', W. K.) critique of Freire ( ... ) was that ( ... ) (raising) peoples' consciousness, their understanding oftheir social conditions through literacy ( .. .) Ieads to action of some so1t or another. Now, we said that action needs organization, so you should link literacy to organization. Organization doesn't come easily form a literacy group, so 1 wanted us to work more and more closely with the unions. And they were at first very sceptical because it was a ve1y repressive period and they didn't want outsiders ( ... ). They wanted to control the access of intellectuals, the intellectuals who were in the unions wanted to control the access of intellectuals who weren't in the unions. But then ( ... ) we built up credibility over time and then we started working closely with the General Workers' Union and groups in the township hostels for migrant workers." Interview Kar! von Holdt 8.4.2004.

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nisation ILRIG im Jahre 1987 Gewerkschaftsfunktionär ftir die CEPPWAWU wurde und erst Anfang der 1990er Jahre einen Posten an der Universität annahm, reflektierte das schwierige Verhältnis zwischen Akademikerinnen und Gewerkschaften eingehend: "J got in there (CEPPWAWU) and things were happening there and J just, J was there. The links were happening. ( .. .) this was a moment of confidence, when the labour movement were, people were doing things and there was a kind of subtle view, sometimes very strongly expressed, that the university-based intellectuals: ,Fine, they want to theorize about our suffering, we're doing the thing, we're fighting. So Iet them stand back a little bit, they want to control, they want to write about it' and so on (... ) and so forth, ,We're doing it! Let's do our own thing! ' And so, it was at that time, and I can talk about cycles within the labour movement, like when it needs intellectuals, when it thinks it needs intellectuals and when it doesn' t. ( ... ) the times when the labour movement is very confident ( ... ) and ( ... ) on the top, they don't really need intellectuals. You get that kind of rejection of inputs, of intellectual inputs. But when it's on the decline, then it wants intellectuals, it wants their inputs ( ... ). J think South Africa has gone through some ofthose cycles as well."461

Dass die Sprachbarriere fur die Konflikte ebenso wie fur die Forschungsmethodologie eine entscheidende und bisher vollkommen unterschätzte oder willentlich heruntergespielte Rolle spielte, bezeugten von Holdt und Buhlungu gleichermaßen: "There were all those things happening in the '70s and '80s and not one of these whites could speak more than two words of Zulu or Xhosa or Sotho or whatever."462 Buhlungu: "1 wrote an article about white officials in the union movement, and very few people thought it was an issue. I said: ,Good God! What sociology'- J didn't say this to anybody, but J thought to myself- J said: ,What sociology did you do?' The sociology that I did teils me that this is an important issue for debate ( ... ). Basically I was posing the question about their contradicto1y location within the black labour movement. The labour movement was essentially black (.. .) and here people are ( .. .) coming from a white society, in a polarized society, they are going into a black movement, and they get accepted. How does it come? So J'm posing that question. And J'm posing the question ofthe contradictoriness of their location within this movement. That they don't simply dissolve and become absorbed and integrated into this movement in an unproblematic way. Some of the contradictions remain and ( ... ) some of the issues become thorny and then they do empt from time to time. ( ... ) part of me raising some of those question now, I attribute to that five years I spent in the movement, because J knew some of the debates, ( ... ) that people kind of kept pushing under the carpet. And I keep tapping into those things. Now, which brings me to a bigger question about the labour studies community. ( ... ) to a !arge extent, people 461 462

Interview Sakhela Buhlungu 30.3.2004. Interview Kar! von Holdt 8.4.2004.

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TEIL 2: SüDAFR. "LABOUR STUDIES" ALS KONTERHEGEMONIALE STRÖMUNG

who've been dominant in the field of labour studies are people who are kind of removed, far removed from the experience of labour. From the experience of black workers, from the experience ofthe black labour movement. Now, this is a general statement l'm making here. This is a big general statement [... ]. They are removed from the experience, it is an alien experience, we come form a divided society. And many of them get into it, purely through studying it at university. Now, I mean it's conceivable, no, (...)I wouldn't say that about my colleagues, many ofmy colleagues. Tt's conceivable that a person could go far in labour studies without ever having met and have a meaningful interaction with a real worker. ( ... ) because the worker is someone who comes and eieans your house in the morning. The worker is someone who comes and does your garden. And then you go to university and you pontificate about the black working class and that kind of thing. You've never met one. As an equal, as a person."463 Buhlungu reflektierte auch, dass dies mit Hinsicht auf die Methodologie verheerende Folgen haben dürfte: "None of these people (in labour studies, W. K.) speak any of the workers' languages. ( ... ) I' m not talking about some kind of pidgin Zulu or pidgin Sotho, or pidgin this or that, T'm talking fluent command of any of the workers' languages. So what it means then is that all this process of labour studies that we're talking about here is always filtered, it's mediated by translations and translators at various stages of the process. And that is a problem! I mean if we' re talking sociology then that is a problem. ( ... )Nobody would write about it! This is, so, labour studies itself, it's got its own, look, this is strong now, l'm using a strong term here. Every discipline has its skeletons in the cupboard. I wouldn 't call it skeletons in the cupboard, this is a bit too strong here, but it's got its own issues under the carpet. This is one of our issues as a labour studies community under the carpet. We're not talking about it. Because ( ... ) it is uncomfortable, entire careers could come tumbling down ifyou pose this thing in a strong way." 464 Damit einher geht auch Buhlungus l